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MUSIKSTUNDE mit Trüb Montag, 23. 4. 2012

„Der diplomatische Komponist: Friedrich von Flotow“ (1)

MUSIK: INDIKATIV, NACH CA. ... SEC AUSBLENDEN

Eines der schönsten Grabmale auf dem Alten Friedhof zu Darmstadt ist das des Friedrich von Flotow, der am 27. April seinen 200. Geburtstag hat, also am Ende dieser Musikstundenwoche. Aha. Aber wer war, bitteschön, dieser Friedrich von Flotow? Das prächtige Darmstädter Grab ist nämlich so ziemlich das Markanteste, was von ihm übrigblieb. Nun, da diese Sendung Musikstunde heißt, können Sie sich denken, dass Friedrich von Flotow Komponist war. Und zu seiner Zeit, dem 19. Jahrhundert, durchaus auch hoch geschätzt und oft gespielt. Aber heute kennt ihn kaum einer. Ich fragte keine Menschen vom Fach, die hätten's wahrscheinlich gewusst, aber Liebhaber der klassischen Musik schon – und da herrschte eitel Ratlosigkeit, die sich in Scherzen wie „Ach, Friedrich von Flötotto!“ oder „Flowtex“ oder „Blockflötow“ nervös entlud. Die Recherche bei der Deutschen Nationalbibliothek ergab 266 Treffer, Tonträger, Noten und Libretti; aber zwei Drittel davon bezogen sich auf nur ein einziges Werk, auf die Oper „“. Immerhin ein Viertel auf eine zweite Flotow-Oper, „“. Bei dem Versandhändler Amazon das gleiche Bild: In 129 Einträgen gab es vor allem Martha, Martha, Martha, dann noch ein bisschen Alessandro und Stradella – sowie einmal den Operetten-Einakter „Die Witwe Grapin“. Ja, sogar die Oper „Martha“, also immer noch Flotows präsentestes Werk, ist zu 80 Prozent vertreten mit nur einer einzigen Arie, einem einzigen Highlight. Und wissen Sie was? Das stammt nicht einmal von Friedrich von Flotow selber, das hat er geklaut; oder, wenn man es freundlicher sagen will: Das zitiert er.

MUSIK: FLOTOW, LETZTE ROSE, TRACK 9 (6:13)

... ist das nicht ein irisches Volkslied, „The Last Rose of Summer“? Nun, „irisch“ stimmt, und „Lied“ auch; nur „Volks“ stimmt nicht. Diese „Letzte Rose“ wurde 1805 gedichtet von Thomas Moore, der sich gerne auch Anacreon Moore nannte, nach dem altgriechischen Poeten des Trinkliedes. Und die Musik, diese seither so berühmte Melodie, stammt von Sir John Stevenson, ebenfalls einem Iren. In seiner Oper „Martha oder Der Markt zu Richmond“ zitiert Friedrich von Flotow „The Last Rose of Summer“ an diversen Dreh- und Angelpunkten, die Melodie wird fast zum Leitmotiv der altbekannten, häufig variierten Handlung: Aus purer Langeweile verdingt sich eine Adlige als einfache Magd. Damit steht also im Zentrum von Flotows bekanntestem Bühnenstück ein pseudo-folkloristischer Ohrwurm, ein Hit sämtlicher Wunschkonzerte. Auch davon muss sich das Werk immer wieder aufs Neue erholen. In unserer Aufnahme eben sang Montserrat Caballé die Martha, und es war hörbar ihre allerletzte Rose; pikanterweise stand ihr Duopartner, der Tenor Javier Palacios, ihr nicht nach, was nahezu unverständliches Deutsch angeht. Eigentlich mag ich ja Caballé. Aber bei dieser SWR-Aufnahme muss ich an einen genialen Satz des viel zu früh verstorbenen Musikkritikers der Badischen Neuesten Nachrichten denken, Ulrich Hartmann; Caballé trat im Ettlinger Schlosshof auf mit ihrer Tochter Montserrat Marti. „Durch den nächtlichen Schlosshof“, schrieb Hartmann in seiner Kritik, „wehten die Gespenster zweier Stimmen: einer, die nicht mehr ist; und einer, die nie sein wird.“ Doch zurück zum Wunschkonzerts-Ohrwurm.

MUSIK: STEVENSON/ANDERSON, LAST ROSE OF SUMMER, TRACK 5 (3:58)

„The Last Rose of Summer“ als Wunschkonzert-Hit, hier bei einer „Irish Night of the Pops“ aus Boston, dirigiert von Arthur Fiedler. Hört man diesen Breitwandkitsch, arrangiert von Leroy Anderson, dann kann man sich freuen über Friedrich von Flotows zuchtvolle, geradezu diplomatisch disziplinierte Art der Anverwandlung eines vermeintlichen „Volksliedes“, in der Oper „Martha“. Er reduziert gleichsam die Sentimentalität auf ihren Ursprung, nämlich das Sentiment – man könnte auch sagen: die Übertreibung zurück auf die Echtheit. Flotows „Letzte Rose“ hat, um einen der berühmtesten Filmtitel Luis Bunuels zu paraphrasieren, den diskreten Charme der Diplomatie.

Friedrich Adolf Ferdinand Freiherr von Flotow sollte tatsächlich zuerst einmal Diplomat werden. Der Spross eines uralten mecklenburgischen Adelsgeschlechts (Nr. 258 der „Geschlechtszählung“) wuchs schließlich in einer Zeit auf, als die Künste durchaus noch nicht überall „standesgemäß“ waren, am wenigsten die Schauspielerei, aber auch das Komponieren überließ man gerne Domestiken wie Joseph Haydn, im Jahrhundert zuvor. Dass mit Ludwig van Beethoven längst die bürgerliche Emanzipation der Kunst begonnen hatte, hatte sich anscheinend noch nicht herumgesprochen bis ins hinterste Mecklenburg. Jedenfalls war Flotows Vater, ein Rittergutsbesitzer und Husarenoffizier, entsetzt darüber, dass Sohn Fritz nicht die Staatskunde erlernen wollte – sondern stattderen die Musik. „Kunst“ hatte noch den Ruch von „Bohème“, und Bohème war der Krankheitskeim, der – wie der belgische Graf de Lavallée es einmal formulierte - „die Nobilität von innen her aufweicht und zerstört“. Als „Hobby“ wie bei Friedrich dem Großen das Flötenspiel war sie völlig in Ordnung; aber als Beruf? Unstandesgemäß; oder standesungemäß, was es auch nicht besser macht.

MUSIK: MOZART, LE NOZZE DI FIGARO, TRACK 7 (2:24)

Mozart, „Die Hochzeit des Figaro“, des Titelhelden Cavatina im 1. Akt, worin die Klassenspannung der Zeit auf den Punkt kommt: In ohnmächtiger Wut fordert der eifersüchtige Domestik Figaro seinen Herrn, den Grafen Almaviva, zum „Tanz“ heraus – gemeint wohl eher: zum Schlagabtausch - , weil der Susanna nachstellt, Figaros Verlobter, und auf das Adelsprivileg des „Rechtes der ersten Nacht“ pocht. Friedrich von Flotow liebte diese Mozartoper über alles; es ist wahrscheinlich, dass sie seinen Entschluss, Komponist zu werden, mit beförderte. In unserer Aufnahme sang Alastair Miles, das Scottish Chamber Orchestra spielte, der Dirigent war Sir Charles Mackerras.

Im Jahr 1828 – da war Flotow 16 – machte der junge Freiherr sich dann auf zu seiner wahren Bestimmung: Mit der Postkutsche reiste er dreieinhalb Tage lang vom mecklenburgischen Teutendorf ins damalige Mekka der Musik, nach Paris. Ein angeheirateter Onkel namens Gabillon hatte ihm, über das lebensspendende Vitamin B (wie „Beziehung“), einen Studienplatz am dortigen Conservatoire verschafft, bei dem damals gefragtesten Professor für Kontrapunkt, Fuge und Satztechnik, dem Böhmen Anton Reicha. Erstaunlicherweise begleitete der Vater den Sohn auf der Reise, offenbar hatte er sich zeit- und standesuntypisch abgefunden mit Fritzens Berufswahl. Anton Reicha, der von Onkel Gabillon ausgeguckte Lehrer, war einer der prominentesten Vertreter jenes Volksstammes, der im 17., 18. und 19. Jahrhundert so viele seiner besten Musiker nach Westen abwandern sah – die berühmte „Mannheimer Schule“ der Vorklassik beispielsweise bestand fast nur aus Exil-Böhmen. Wenn man die Reicha-Recherche im Internet beginnt, stolpert man bei Wikipedia allerdings über einen etwas unglücklich formulierten Satz: „Reichas Vater war Stadtpfeifer in Prag, verstarb allerdings bereits zehn Monate nach seiner Geburt.“ Da fragt man sich doch unwillkürlich, wie er noch als Säugling der Stadt Prag heimblasen konnte, ganz zu schweigen davon, dass er einen Sohn zeugte, bevor er im Alter von zehn Monaten bereits verschied ...

Dieser Antonius Josephus Rejcha, der in Paris dann zu Antoine-Joseph Reicha (sprich: Räschá) mutierte, war von Hause aus eigentlich Flötist, als solcher begann er seine Karriere in der Bonner Hofkapelle, und zwar zur selben Zeit, als dort ein gewisser Ludwig van Beethoven die Bratsche spielte. Die beiden Musiker wurden Freunde, und das lebenslang. Sogar als er bereits ein hochangesehener Kompositionslehrer am Pariser Conservatoire war, fuhr Reicha mindestens einmal im Jahr nach Wien, um Freund Beethoven zu besuchen; erst als dessen fortschreitende Taubheit musikalisches Disputieren unmöglich machte, blieb Reicha zuhause. Man fragt sich ohnehin, worüber der Titan und der Verfasser munter gedrechselter Bläserquintette sich unterhielten. Aber da verkennt man Anton Reicha: In der Tiefe seines Herzens war er ein musikalischer Revolutionär. Er experimentierte als vermutlich erster mit Polyrhythmik, Polytonalität und Mikrointervallik – aber weil all das damals natürlich keinen Hund hinterm Ofen vorlockte oder ein Publikum in den Konzertsaal, tat Reicha es nur im Stillen, selbst von seinem Lehrzimmer im Conservatoire hielt er diese Experimente fern. Mit seiner Kammermusik für Bläser hatte er eh den Erfolg des Tages, mehr wollte er gar nicht; alles weitere hätte die Hörer nur verschreckt.

MUSIK: REICHA, BLÄSERQUINTETT G-DUR, BAND 1 (8:53)

Anton Reicha, Lehrer des Friedrich von Flotow, mit dem quirligen Andante-Allegro zu Beginn seines Bläserquintetts G-dur op. 99/6; das Danzi-Quintett spielte. Sechs Jahre jünger als Friedrich von Flotow war der Pariser , der „Ein- Meisterwerks-Meister“ der Oper „Faust“, die in Deutschland lange Zeit, aus verklemmter Goethe- Devotion, nur „Margarethe“ heißen durfte. 1830 wurde Gounod ebenfalls Schüler von Anton Reicha, aber da er damals zwölf Jahre alt war, hatte er noch nicht das Mindestalter fürs Conservatoire und studierte privat bei dem Böhmen. Vier Jahre lang liefen sie einander nicht über den Weg, Flotow und Gounod, aber als Gounod sechzehn wurde und zu Professor Reicha ans Conservatoire überwechselte, wurden sie die dicksten Freunde. Ihre Ästhetik war eine sehr ähnliche: Auch von Gounod gibt es wenig Musik außer Opern und Oratorien, und wenn er für den Konzertsaal komponierte, schlug Charme allemal die Grübelei, „Form“ war zweitrangig, Unterhaltung Trumpf. So verkehrten auch die beiden Freunde; trieben eine Menge Schabernack, lachten viel, aßen gern gut und tranken manchmal etwas zu viel, waren jedenfalls selten ernst. Lediglich die Tatsache, dass Gounod streng katholisch war – von ihm stammt Inno e Marcia Pontificale, die Nationalhymne des Vatikanstaats – und den mecklenburgischen Protestanten Flotow immer mal wieder bekehren wollte zum „alleinseligmachenden“ Glauben: Das sorgte dann doch manches Mal für leise Verstimmung innerhalb dieser wunderbaren Freundschaft. Musikalisch aber waren sie ein Herz und eine Seele. Gounods 1. Symphonie D-dur – von insgesamt zweien – klingt jedenfalls so, als hätte auch Flotow sie komponieren können: leicht wie ein Soufflé.

MUSIK: GOUNOD, SYMPHONIE NR. 1, TRACK 1 (6:23)

Das könnte Friedrich von Flotow gewesen sein – es war aber der Kopfsatz der ersten Symphonie D- dur von seinem Freund und Mitschüler bei Anton Reicha, Charles Gounod. Den sehr leichten und charmanten Stil aber teilten die beiden Freunde. Christopher Hogwood dirigierte das Saint Paul Chamber Orchestra.

Friedrich von Flotows zweiter Musiklehrer war das, was man damals schon einen „Tastenlöwen“ nannte: der Mannheimer Johann Peter Pixis, ebenfalls Professor am Pariser Conservatoire. Halb begeistert, halb ernüchtert schrieb Flotow seinem Vater: „Der professeur besitzt die rasend=flinksten Finger, die ich je gesehn (...), und ich muss sagen, meine Klavierkünste haben sich bereits entscheidend verbessert! (...) Als Komponist taugt er weniger, seine Klavierpiècen sind ganz charmant, aber als er mir einmal seine Oper zeigte, 'Bibiana oder Die Kapelle im Walde', musste ich doch sehr an mich halten, um ihm nicht geradeheraus meine ehrliche Meinung zu sagen ... Ich beließ es zumeist bei einem vagen Aha! und Ei so!, was Zustimmung ebenso meinen hätte können wie Ablehnung ...“ Pixis' wohl größtes Verdienst war es, den Freiherrn von Flotow mit Franz Liszt bekannt zu machen - „das ist ein Musiker nach meinem Gusto!“ jubelte der hernach. Und in einem Brief an einen Schulfreund klagte er: „Nun bin ich einmal mit M. Pixis geschlagen, während es einen Liszt gibt ... Andererseits, Liszt ist so furchteinflößend virtuos, dass ich ahne: Aus Flotows Fritz wird nimmermehr ein großer Pianist herauswachsen!“ Der Stern des Johann Peter Pixis in Paris verblasste denn auch rasch, gegen Franz Liszt kam er wirklich nicht an; seine Abendjahre übrigens verbrachte er hier in Baden-Baden: Noch bald 30 Jahre lang gab er Klavierunterricht in der Lichtenthaler Allee.

MUSIK: PIXIS, BRILLANTE VARIATIONEN ÜBER EIN BELIEBTES THEMA AUS DER OPER „DER TEMPLER UND DIE JÜDIN“, FUNKBAND (9:00)

Das waren von Johann Peter Pixis „Brillante Variationen über ein beliebtes Thema aus der Oper 'Der Templer und die Jüdin' für das Pianoforte zu vier Händen“, gespielt von Marlott Persijn-Vautz und Monica von Saalfeld. Ich habe Ihnen das nicht nur präsentiert, weil Pixis der Klavierlehrer des Friedrich von Flotow war; der nämlich liebte auch ganz besonders die Oper „Der Templer und die Jüdin“ seines Landsmannes Heinrich Marschner. Heute ist sie allerdings gründlich vergessen. Doch zurück zu „Martha oder Der Marktplatz zu Richmond“. Diese Oper war ein Dauerbrenner bis etwa in die Mitte des 20. Jahrhunderts; allein in Wien wurde sie über 500mal am Stück gegeben. Und die Romanze des Lyonel, des Arbeitgebers und Möchtegern-Gschpusis der „Magd“ Harriet alias Martha, auf deutsch „Ach, so fromm, ach, so traut“, war die einzige deutsche Opernpartie, die der große Enrico Caruso im Repertoire hatte – wenn auch auf italienisch. Hört man diese Aufnahme, staunt man allerdings, wie intonationstrüb der Tenorissimo manches Mal klingt ...

MUSIK: FLOTOW, M'APPARÌ TUTT'AMOR, TRACK 19 (3:26; ACHTUNG! BITTE AUF ZEIT FAHREN!) MUSIKLAUFPLAN

1) FLOTOW, Martha; Caballé, Palacios, SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern, Collado; RCA/BMG 74321 62975 2 (LC 0316) 2) STEVENSON/ANDERSON, The Last Rose of Summer; Boston Pops, Arthur Fiedler; RCA GD60746 (LC 0316) 3) MOZART, Le nozze di Figaro; Miles, Scottish Chamber Orchestra, Mackerras; Telarc/in-akustik CD-80388 (LC IN-AKUSTIK!) 4) REICHA, Bläserquintett G-dur; Danzi-Quintett; Funkband 570 5861 5) GOUNOD, Symphonie Nr. 1 D-dur; The Saint Paul Chamber Orchestra, Christopher Hogwood; Decca 430 231-2 (LC 0171) 6) PIXIS, Variationen über „Der Templer und die Jüdin“; Persijn-Vautz, von Saalfeld; Funkband 500 3386 7) FLOTOW, M'apparì tutt'amor (Martha); Enrico Caruso; RCA 5911-2-RC (KEIN LC!)