SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (13 und Schluss) Die Woche vom 18. 12. 1989 bis zum 22. 12. 1989 »Macht das Tor auf« Während der Einfluss der Regierung Modrow schwindet, wird der DDR-Besucher gefeiert wie ein Befreier. BND-Agenten erbeuten Stasi-Dateien. Die Öffnung des Brandenburger Tors kurz vor Heiligabend gerät zum Volksfest. REUTERS DDR-Besucher Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden

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CHRONIK »Nun freue dich, « nun abermals um den Stadtfrieden ver- ten ziehen 150 000 Menschen über den Montag, 18. Dezember 1989 dient. Ring. Mit flackernden Lichtern in Lam- Gemeinsam mit Gewandhaus-Kapell- pions und Joghurtbechern schiebt sich die Leipzig meister Kurt Masur hat Magirius dazu auf- Menge von der Magiriusschen Nikolai- Friedrich Magirius, 59, Superintendent und gerufen, die letzte Montagsdemonstration kirche, wo im September die friedliche Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, war der in diesem Jahr als Schweigemarsch zu ge- Revolution begonnen hat, bis zur „Run- Stasi so verdächtig, dass sie seinen Namen stalten.Auf Transparente und Sprechchöre den Ecke“, dem berüchtigten Gebäude- auf eine schwarze Liste zu „isolierender“ soll verzichtet werden. komplex der Stasi. Oppositioneller setzte – Überschrift: „Im Superintendent und Dirigent fürchten, Der stille Umzug im Kerzenschein bie- Rahmen des Vorbeugungskomplexes zuzu- dass sich sechs Tage vor Heiligabend ereig- tet deutsch-nationalen Sprücheklopfern führende Personen, die dem politischen Un- nen könnte, was sich eine Woche zuvor an- kaum Gelegenheit zur Selbstdarstellung – tergrund zuzuordnen sind“. gebahnt hat: ein Zusammenstoß zwischen obwohl deren Auftritte republikweit zu- So wie der Geistliche dazu beigetragen zunehmend militanten Einheitsverfechtern nehmen. Westdeutsche Rechtsextremisten hat, dass es bei der historischen Montags- und Gegnern einer „BRDigung der DDR“. hätten Gesinnungsgenossen in der DDR demonstration am 9. Oktober nicht zu ei- Der Appell wird erhört. Mit Symbolen gezielt zu Gewaltaktionen aufgestachelt, nem Blutbad gekommen ist, macht er sich statt Sprüchen, Kerzen statt Transparen- hat der Stasi-Nachfolgedienst aus mit-

T. HÄRTRICH / TRANSIT Schweigemarsch in Leipzig: Symbole statt Sprüche, Kerzen statt Transparente

120 der spiegel 51/1999 Wahlen gestellt hat; dort Abgesandte der 45, im Frühjahr wegen eines im Wes- Opposition, demokratisch ebenfalls nicht ten veröffentlichten Buches („Der vor- legitimiert. mundschaftliche Staat“) aus der SED Beide Fraktionen – und das macht den ausgeschlossen und mit Berufsverbot be- Frontverlauf unübersichtlich – sind durch- legt, verlangt für die Opposition nicht setzt von Agenten der Staatssicherheit. Die bloß Mitsprache, sondern Regierungsteil- Spitzel wiederum wissen in aller Regel habe. nicht, welche Tischgenossen außer ihnen Das Modrow-Kabinett, argumentiert er, selbst sonst noch der Geheimpolizei ver- sei nicht aus freien und geheimen Wahlen pflichtet sind. hervorgegangen, sondern vom alten SED- Absurde Szenen spielen sich ab. SDP-Ver- Politbüro bestimmt worden. Deshalb müs- treter Martin Gutzeit fordert, der Runde se es, so Henrich in einem vorbereiteten Tisch möge die von der Stasi „eingeschleus- Positionspapier, „zur Übergangsregierung ten Personen“ aufdecken. In merkwürdiger erklärt“ werden und dem Runden Tisch Eintracht wenden sich Stasi-Agenten wie ein umfassendes Kontroll- und Vetorecht Stasi-Opfer gegen die Aufforderung zum einräumen. Kurzum: Die Opposition soll „Stasi-Spitzel-Jagen“, wie sich Reinhard künftig an den Sitzungen des Ministerrats Schult vom Neuen Forum (NF) empört. teilnehmen dürfen. Als der Gutzeit-Antrag schließlich zur Der überraschende Vorstoß verblüfft Abstimmung gestellt wird, enthalten sich nicht nur den neuen SED/PDS-Vorsitzen- zwei Drittel der Anwesenden, zehn stim- den Gregor Gysi und dessen Stellvertreter men mit Nein, nur zwei votieren für die Wolfgang Berghofer, die ihre Durchhalte- Forderung: Antragsteller Gutzeit und, aus- strategie zur Bewahrung der Macht in Ge- gerechnet, dessen SDP-Genosse Ibrahim fahr sehen. Auch die neuen Polit-Gruppie- Böhme alias IM „Maximilian“. rungen, die, anders als bislang üblich, dies- Wenig später wird der vermeintliche ra- mal nicht vorab informiert worden sind,

DPA dikale Stasi-Gegner Böhme von der Runde fühlen sich überrumpelt. Leipziger Pfarrer Magirius (1990) mit einem wichtigen Amt betraut.Als „Ein- Trotzig erwidert SED-Mann Berghofer, „Dem Untergrund zuzuordnen“ berufer“ soll der Spitzenagent eine „Ar- die Regierung sei „bis zum 6. Mai“, dem beitsgruppe ,Sicherheit‘“ aufbauen, der die Tag der geplanten demokratischen Volks- geschnittenen Ferngesprächen heraus- Kontrolle der Stasi-Auflösung obliegt. kammerwahl, „im Amt“. Drohend fügt er gehört. Immerhin kommt ein Beschluss zu Stan- hinzu: „Wenn wir sie heute stürzen, dann Die braunen Brüder im Osten sollen die de, mit dem der Runde Tisch klar auf Ge- sehe ich am 6. Mai keine Wahlen.“ Sicherheitskräfte zu harten Reaktionen genkurs zum Kabinett Modrow geht: Die Schützenhilfe erhält der SED-Vertreter provozieren, um so Gewalttätigkeiten auf Regierung möge den Aufbau eines Verfas- vom Ost-CDU-Vorsitzenden Lothar de der Straße auszulösen. „In Besorgnis erre- sungsschutzes bis nach den ersten freien Maizière, 49, der seit langem mit der Fähig- gendem Umfang“ hätten sich „Erschei- Wahlen im Frühjahr „aussetzen“. (Einen keit begabt ist, mehreren Herren zu Diens- nungen rechtsextremistischen, insbeson- Monat später wird Modrow diese Forde- ten zu sein: Als IM „Czerni“ hat sich der dere neofaschistischen, antisemitischen rung erfüllen, um ein Auseinanderbrechen Kirchenanwalt von der Stasi abschöpfen und ausländerfeindlichen Inhalts und seiner Regierung zu vermeiden.) lassen; als Minister für Kirchenfragen ist er Charakters“ verstärkt, heißt es in einer Ein zweiter Vorstoß, der die Macht der Stellvertreter des Wiedervereinigungsgeg- „Orientierung“ der Nachrichtendienstler. Modrow-Regierung begrenzen soll, schei- ners Modrow; als Partner der Bonner CDU Bei der Leipziger Montagsdemo vertei- tert an der Uneinigkeit und Unterwande- bringt er seine einstige Blockpartei derzeit len jedoch nur ein paar kahlnackige Neo- rung der Opposition. auf Kohlschen Einheitskurs. nazis aus dem Westen importierte NPD- Der Eisenhüttenstädter Anwalt und Keine hundert Tage, bevor der Mann mit Flugblätter und -Aufkleber. Einige „Repu- Neue-Forum-Mitbegründer Rolf Henrich, dem kleinen Wendekreis zum ersten (und blikaner“ grölen großdeutsche Parolen. Neonazis in Leipzig: „Besorgnis erregender Umfang“ Empörte Marschierer sprechen Polizis- ten an, die den Zug begleiten, sie sollten et- was gegen die Rechten unternehmen. Doch die Vopos halten sich zurück. „Nee“, antwortet ein Offizier, „wir ha- ben keinen Polizeistaat mehr.“

Ost-Berlin Weihnachtsmänner mit Wattebart beleben wie in jedem Jahr zur Adventszeit die Straßen . Ein Weihnachtsstern aus Glanzpapier leuchtet gülden im tannen- geschmückten Dietrich-Bonhoeffer-Haus. Darunter fetzt sich das sonderbarste Gre- mium, das je in Deutschland politische Macht besaß. Adventsstimmung will nicht aufkommen in der zweiten Sitzung des Zentralen Run- den Tisches. Zu unterschiedlich sind die Interessen der Kontrahenten: Hier Vertre-

ter der alten Macht, die sich nie freien PIEL / GAMMA STUDIO X P. 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

Einen allerletzten deutsch-deutschen Agentenaustausch bespricht Priesnitz in Vogels Anwaltskanzlei im Stadtteil Friedrichsfelde. Die Abmachung betrifft einerseits 25 Mitarbeiter des Bundesnach- richtendienstes, des westdeutschen Verfas- sungsschutzes und der amerikanischen CIA, die in der DDR noch inhaftiert sind, andererseits 4 Westdeutsche, die für das sowjetische KGB spioniert haben und in bundesrepublikanischer Haft ein- sitzen. Zu den KGB-Agenten zählt Margret Höke, eine ehemalige Sekretärin im Bun- despräsidialamt, die im August 1987 zu acht Jahren Haft verurteilt worden ist. Sie war einem Stasi-Romeo in die Falle ge- gangen und hatte 14 Jahre lang geheime Nato-Dokumente nach Moskau geliefert. Nun hat ihr früherer Chef, Bundesprä- sident Richard von Weizsäcker, die Be- gnadigungsurkunde unterschieben – recht- liche Bedingung für den humanitären Menschenhandel. Im Gegenzug gibt die DDR zudem hun- dert Gefangene frei, die aus politischen

H. P. STIEBING H. P. Gründen inhaftiert worden waren. Dar- Passkontrolle in Berlin im Dezember 1989*: Absurde Szenen unter dem Weihnachtsstern unter sind Menschen wie Bodo Strehlow, 32, ehemaliger Obermaat bei der Grenz- letzten) frei gewählten Ministerpräsiden- Auf der Tagesordnung steht der Aus- brigade „Küste“, der 1979 versucht hat, ten der untergehenden DDR aufsteigt, tausch und Freikauf von Gefangenen – ein über die Ostsee in die Bundesrepublik lehnt er brüsk den Henrich-Vorstoß ab, die Gegengeschäft nach der Formel Freiheit zu fliehen. Auf einer Patrouillenfahrt Opposition an der Regierungsmacht zu be- gegen Bananen. zwang er mit der Waffe seine Kamera- teiligen. Maizière: „Das wäre dann das Südfrüchte im Wert von 15 Millionen den unter Deck, wo er sie einsperrte. Ende.“ Mark will Bonn in die DDR liefern lassen Während er gen Westen schipperte, Natürlich wolle die Opposition die Re- – eine seit 1963 gebräuchliche Gegenleis- konnten sich die Marinesoldaten jedoch gierung nicht stürzen, besänftigt, freundlich tung für die Freilassung von Häftlingen befreien. Sie überwältigten Strehlow, der lächelnd, der Kirchenhistoriker Wolfgang (siehe Analyse Seite 130). Diskret vermit- bei dem Kampf schwere Verletzungen Ullmann, Vertreter von Demokratie Jetzt, telt worden ist der Deal auch diesmal von davontrug. die Machthaber. Die Regierung müsse al- den Kirchen, unterzeichnet wird der Nahezu taub und auf einem Auge er- lerdings ihre Kooperationszusage einhal- Vertrag in der Kanzlei von CDU-Chef de blindet, wurde Strehlow ins Gefängnis ten und die wirtschaftliche Situation offen Maizière am Treptower Park. Bautzen II gesperrt; dort haben ihn die Ge- legen. Berghofer schlägt einen scheinheiligen Kompromiss vor, dem sich das Neue Forum nicht entziehen kann, wenn Henrichs Ini- tiative nicht völlig folgenlos verpuffen soll. In einer kleineren „Arbeitsgruppe“, meint Berghofer, könne mit Modrow durchaus über Zusammenarbeit und Reformen ge- sprochen werden. So bleibt fürs Erste in der Schwebe, ob der Runde Tisch machtbewusste Gegenre- gierung oder unverbindliche Palaverrunde sein will. Seine Arbeit gleicht weiterhin, wie DDR-Bürger spotten, der „Quadratur des Kreises“. TEUTOPRESS (li.);TEUTOPRESS M. WESSEL (re.) Ost-Berlin Ausgetauschte Häftlinge Höke (um 1985), Strehlow (1992): Freiheit gegen Bananen Walter Priesnitz, 57, Staatssekretär im Bun- Dabei kann die untergehende DDR kei- fangenen während der Streiktage Anfang desministerium für Innerdeutsche Bezie- nen Anspruch mehr darauf erheben, dass des Monats zu ihrem Sprecher gewählt. hungen, führt in der Hauptstadt der DDR ihr die Bundesregierung Gefangene abkauft. In ihrem goldfarbenen Privat-Mercedes Verhandlungen, die ebenso bizarr wie ana- Denn Ende November hat DDR-Anwalt bringen Vogel und seine Ehefrau Helga chronistisch anmuten. Wolfgang Vogel in einem Vermerk für Egon noch vor Weihnachten Strehlow und die Krenz festgehalten: „Seit dem 9. 11. 1989 ist anderen Haftentlassenen nach und nach der Freikauf nicht mehr erforderlich, weil ins West-Berliner Bundeshaus. * Trotz Wegfall der Visumpflicht für Westdeutsche finden an den Grenzübergängen weiterhin Pass- und Zollkon- es Freizügigkeit und keine Strafurteile aus Anschließend meldet der Advokat in ei- trollen statt. politischen Gründen mehr gibt.“ nem Telex nach Bonn Vollzug: „Ab dem

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24.12.89 gibt es in den Gefängnissen der DDR den Untersuchungshäftling tot in der Zel- zende von Armbanduhren, dazu „59 Teile keinen einzigen politischen Häftling mehr.“ le 107 des Polizeipräsidiums an der Ost- Anzug“ und „30 Herrenoberhemden (ein- Berliner Keibelstraße: Der Oberst hatte geschweißt)“. sich mit seinem Gürtel am Fenstergitter Kein Fahnder kommt auf die Idee, auch Dienstag, 19. Dezember 1989 erhängt. den kleinen Lada zu durchsuchen, den Fahnder durchsuchten Wenzels Dienst- Wenzel vor seiner Festnahme in einem Ost-Berlin stelle, wo sie auf Reste von vernichteten Hinterhof nahe seiner Dienststelle geparkt Zehntausende Stasi-Männer sehen einer Akten stießen, und seine Privatwohnung. hat. Das holt nach Wenzels Verhaftung des- ungewissen Zukunft entgegen. Vergebens Dort lagerten teure Stereoanlagen, dut- sen Stellvertreter nach. sind ihre Bemühungen gewesen, Im Kofferraum findet Koch die Wende aufzuhalten, linkisch das Paket mit den Disketten, das ihre Versuche, im letzten Augen- er sofort an sich nimmt und spä- blick selbst noch die Kurve zu ter einem Agenten des Bundes- kriegen. nachrichtendienstes (BND) über- Nun – auch die Stasi-Nach- gibt. „Wer die Disketten liest“, folgeorganisation Nasi wird be- preist Koch seinen Schatz an, reits aufgelöst – sondieren die „weiß alles, was wir wussten.“ Gerissensten unter den Tsche- „Bis zu einer Million Mark“ kisten von einst, ob sie nicht habe der BND plauderwilligen von der demokratischen Revo- Stasi-Leuten offeriert, erzählt lution profitieren können. Denn im Nachhinein Werner Groß- sie verfügen über geheimes Wis- mann, Chef der Hauptverwal- sen, das westliche Dienste in tung Aufklärung (HVA) – eine West-Mark und Dollar aufwie- Angabe, die übertrieben sein gen könnten – so etwa ein dürfte. Schlitzohr namens Willy Koch. Alles in allem, rechnet später Als Vize in der Hauptabtei- BND-Präsident Hansjörg Gei- lung XVIII/8 ist Koch einge- ger einem geheimen Bonner weiht in die illegalen Ost-West- Gremium vor, habe sein Dienst Geschäfte der Stasi: Entgegen „Befragungen“ von etwa 200 den strengen westlichen Em- MfS-Bediensteten vorgenom- bargobestimmungen hat die men. Dafür seien aus „operati- DDR im Westen für drei Mil- ven Mitteln“ der Pullacher liarden Mark Hightechprodukte Behörde lediglich 480000 Mark gekauft; behilflich waren den geflossen, für „Reisekosten und Geheimdienstlern korrupte, er- Aufwendungen“. presste oder einfach profitgie- Mindestens ein halbes Dut- rige Spitzenmanager bundes- zend hochrangiger Offiziere deutscher Firmen. wechseln ab Dezember die Seit 14 Tagen ist Koch im Be- Front. Für einige spielt Geld kei- sitz von 92 Computerdisketten, ne oder nur eine untergeordne- auf denen, wie er weiß, „das ge- te Rolle. Karl-Christoph Groß- samte operative Wissen der mann etwa – zwecks Unter- Hauptabteilung XVIII/8“ ge- scheidung vom „großen Groß- speichert ist: eine Datensamm- mann“, dem HVA-Chef, amts- lung mit den Namen von 13000 intern der „kleine Großmann“ Personen, die ausgedruckt 80 genannt – muss nicht mit Ba- Leitz-Ordner mit jeweils 500 rem geködert werden. Mit der Seiten füllen würde. „Firma“ hat er längst innerlich Die Disketten sind Koch auf gebrochen. höchst abenteuerliche Weise in Wenzel-Haftzelle: Der Stasi-Oberst erhängte sich am Fenstergitter Ende 1987 wurde der Vize- die Hände gefallen. Als Kochs chef der Abteilung IX (Gegen- Vorgesetzter Artur Wenzel am Abend des spionage) nach 32 Dienstjahren vorzeitig in 4. Dezember seine Dienststelle am Alex- den Ruhestand geschickt. Die Mielke-Trup- anderplatz mit zwei verdächtig aussehen- pe, die ihren eigenen Mann zuvor über ein den Koffern verlassen wollte, lief er Bür- Jahr lang „unter operativer Kontrolle ge- gerrechtlern in die Arme, die Aktenver- halten“ hatte, erklärte ihn wegen „Über- nichtungen vorbeugen wollten und das heblichkeit, Schwatzhaftigkeit und Prahl- Gepäck kontrollierten. sucht sowie … unmoralischem Lebens- In Wenzels Aktenkoffern fanden sich wandel“ zum „Sicherheitsrisiko“. neben 150000 Ost-Mark zwei Goldbarren Defätistisch äußerte sich Großmann vor und dicke Umschläge, voll gestopft mit alten Kameraden am 8. November, als er Devisen: Insgesamt 730 000 Mark West im Café Moskau an der Ost-Berliner Karl- zählten die verblüfften Volkspolizisten, Marx-Allee, einem beliebten Agententreff, die den sich heftig wehrenden Geheim- seinen 60. Geburtstag feiert: „Das Rad der dienstler schließlich aufs Revier verfrach- DDR-Geschichte ist abgelaufen.“ teten. Bei Vernehmungen schwieg Wenzel Großmann trifft sich im Grand-Hotel an eisern. Zwei Tage später, am Morgen des Wenzel-Aktenkoffer der Friedrichstraße mit John O. Koehler, 6. Dezember, entdeckte ein Wachmann Goldbarren und Devisen einst Ronald Reagans Pressechef, von dem

124 der spiegel 51/1999 er weiß, dass er für die CIA gearbeitet hat. Beide kennen sich aus gemeinsamen Dresdner Schultagen. Großmann, so Koehler, erzählt „von zahlreichen Amerikanern, die hoch sensi- ble US-Militärgeheimnisse an die Stasi ver- raten hatten“. Ein westdeutscher Journalist führt Großmann schließlich in einem ita- lienischen Ristorante an der U-Bahn- Station in Moabit dem West-Berliner Ver- fassungsschutz zu. Der lässt den Informanten wiederholt unauffällig zu Hause abholen und im Audi zu einer konspirativen Schöneberger Woh- nung oder in die Dependance Potsdamer Straße chauffieren. Großmann erhält den Kodenamen „Kardinal“ und reist nach ei- genen Angaben „vielleicht zehn Mal“ zum Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nach Köln, das ihm rund 18000 Mark Spe- sen erstattet. „Kardinal“ gibt, neben kleineren Lich- tern, zwei westdeutsche Spitzenspione preis: Klaus Kuron,Abwehrspezialist beim

Ost-Berliner Spitzenagenten Gast, Kuron Verraten für 18000 Mark

BfV, und Gabriele Gast, promovierte Poli- tologin beim BND; die beiden werden spä- ter zu zwölf beziehungsweise sechsdrei- viertel Jahren Haft verurteilt. Unter Stasi-Veteranen kursiert das Gerücht, Großmann habe sein West-Ho- norar in ein Café investiert, das sein Sohn am Müggelsee eröffnet. Wenig später wird das Etablissement abgefackelt. Ähnlich gesprächig wie Großmann ist der ehemalige Stasi-Oberst Eberhard Leh- mann, der den Tarnnamen „Glasschüssel“ bekommt. Lehmann wirkte bis 1986 in der Hauptabteilung II (Spionageabwehr), anschließend war er Resident des KGB in Karlshorst. Auch Lehmanns Amtsnachfol- ger bei der Stasi, Rainer Wiegand, dient sich dem BND an. Das Insider-Wissen sollte sich für die westdeutschen Geheimdienste spätestens am 15. Januar 1990 auszahlen – jenem Tag, an dem Aktivisten der Bürgerbewegung das weitläufige Areal des Ministeriums für Staatssicherheit an der Normannenstraße erobern. Die Masse der Demonstranten stürzt durch das Tor geradewegs auf ein Gebäu- de zu, in dem die Kantine untergebracht

der spiegel 51/1999 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF« war, und auf eine Kaufhalle, in Die Straßen zur Innenstadt, der auch knappe Artikel ange- die BRD-Kanzler und DDR-Pre- boten wurden, die im Politbüro- mier im Volvo zurücklegen, sind Reservat Wandlitz keine Abneh- gesäumt von zehntausenden – mer gefunden haben. Die Wut Arbeitern, die blaumachen, und über das Luxusleben der Mäch- Schülern, die schwänzen. Vor tigen verstellt den Blick auf dem Kulturpalast am Altmarkt, wichtigere Objekte. einem Klotz aus Glas und Be- Ein kleinerer Trupp weiß bes- ton, wird dem Besucher ein tri- ser Bescheid, wo was zu finden umphaler Empfang zuteil. ist. Zielsicher dringt er in das Nur vereinzelte Einheitsgeg- Gebäude der Spionageabwehr ner stören die ergreifende Stim- ein und bricht dort die Stahl- mung. „Grüß Dich, Helmut“ – schränke auf. mit grünen Buchstaben auf ei- Den Tipp soll Wiegand gege- nem weißen Bettlaken heißen

ben haben. Der kommt 1996 bei AP junge Leute den Gast scheinbar einem Verkehrsunfall in Portugal Modrow, Kohl in Dresden: „Sache gelaufen“ willkommen. Doch als das an ums Leben. Ballons hängende Tuch auf- Angetrunken prallt er bei einem leicht- Ährenkranz kreisrund herausgeschnitten steigt, kann Kohl die höhnische Botschaft sinnigen Überholmanöver mit einem ent- haben. lesen: „Nimm es nicht so schwer, wir blei- gegenkommenden Lkw zusammen. Trotz- „Schlagartig“ wird dem Christdemo- ben DDR.“ dem hält sich in Ost-Berlin lange Zeit das kraten beim Anblick der jubelnden Mas- Die Mehrheit ist erkennbar anderer Mei- Gerücht, der „Verräter“ sei einem Rache- sen bewusst, dass die Tage der DDR ge- nung. „Deutschland“, brüllt die Menge, akt zum Opfer gefallen. zählt sind: „Dieses Regime ist am Ende, „einig Vaterland“, echot es von den die Einheit kommt“, schildert er seine Ge- Spruchbändern. Im Chor reimt das Volk: danken später einem seiner Memoiren- „SED – das tut weh. Helmut Kohl – das tut Dresden schreiber. wohl.“ Kurz nach 9 Uhr landet Helmut Kohl Als der Staatsgast auf der untersten Stu- , der gute Mensch von mit einem zweistrahligen Jet der Bun- fe der Gangway steht, zehn Meter von dem Dresden, ist Luft für seine Landsleute. desluftwaffe auf dem Flughafen Dresden. aschfahlen Modrow entfernt, der zu seiner Neben dem kolossalen Kohl duckt sich Das Gelände ist voller Menschen, die Begrüßung angetreten ist, dreht sich Kohl der schmächtige Premier, als wolle er sich schwarzrotgoldene Fahnen schwenken – zu seinem Amtschef Rudolf Seiters um und selbst unsichtbar machen. Mit zusammen- teils DDR-Flaggen, aus denen sie das raunt ihm zu: „Rudi, die Sache ist ge- gekniffenen Lippen trottet er hinter sei- Spalteremblem Hammer und Zirkel im laufen.“ nem Gast her, der sich mit ausladenden G. LINZENMEIER / PLUS 49 VISUM Kohl-Empfang in Dresden: „Dieses Regime ist am Ende, die Einheit kommt“

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Armbewegungen durch die jubelnde ly, dass ich das noch erlebe“, strahlt Masse schiebt. eine Frau um die 50. Blumensträuße Kohl hat eigentlich gar nicht vor, fliegen, Fahnen flattern. eine Rede zu halten. Doch nach die- Der Sozialdemokrat , sem Empfang steht für ihn fest, dass neuer Superstar auf beiden Seiten der er zu den Menschen sprechen muss. bröckelnden Mauer, begeistert einen Aber wo? Dresdens Oberbürger- Tag nach seinem 76. Geburtstag die meister Berghofer hat die Idee, der Magdeburger. Die Menge singt „Hap- Kanzler solle vor der Ruine der am py Birthday“ und fordert den Jubilar 13. Februar 1945 von britischen Bom- auf: „Willy, sag, wo’s langgeht.“ bern zerstörten Frauenkirche reden. Seit dem Mauerfall steht der Se- Während die Vorbereitungen für nior, der im Hader mit seinen Ge- den Auftritt anlaufen, konferiert nossen vor zwei Jahren den Partei- Kohl im Hotel Bellevue unter vier vorsitz abgegeben hat, wieder im Augen mit Modrow. Danach, im Rampenlicht. Über die Parteigren- größeren Kreis, liest der Ostdeut- zen hinweg gilt er als Autorität und

sche im Salon „Ludwig Richter“ G. LINZENMEIER / PLUS 49 VISUM Berufungsinstanz. verkrampft vom Blatt ab, was ihm Pro-Kohl-Parolen in Dresden: „Das tut wohl“ Der Altkanzler gibt die von ihm seine Leute aufgeschrieben haben: erwarteten Empfehlungen. „An den Er sei besorgt über die Lage; die Diskus- geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit Hammelbeinen vor den Kadi ziehen“ sol- sion über die Wiedervereinigung nehme unserer Nation.“ len die Ostdeutschen die Verantwortlichen exzessive Dimensionen an; die Grenze zur Aber er verkündet auch als „Ziel, dass für staatliches Unrecht, doch „einbinden“ Gewalt drohe überschritten zu werden. die Lebensverhältnisse hier in der DDR so die Mitläufer und Verführten. Brandt: Das Land brauche jetzt innere Stabilität. schnell wie möglich verbessert werden“: „Kein Hass!“ Dann erläutert Modrow die wirtschaft- „Wir wollen, dass die Menschen sich hier Am Tag zuvor hat der Patriarch den liche Situation der DDR und fordert einen wohl fühlen, wir wollen, dass sie in ihrer SPD-Delegierten beim Parteitag in West- „Lastenausgleich“ in Höhe von 15 Milliar- Heimat bleiben und hier ihr Glück finden Berlin die Seelen gewärmt. Die Entwick- den West-Mark für 1990/91 – denselben Be- können.“ lung im Osten hat die westdeutschen Lin- trag hatte auch schon Schalck für Krenz er- Als Kohl seine Rede mit dem Satz ken, nicht nur in der SPD, konfus gemacht beten. Kühl lässt Kohl ihn abblitzen: Dafür „Gott segne unser deutsches Vaterland“ – ein geeintes Deutschland liegt noch im- müsse die DDR erst mal „die Rahmenbe- beendet, steigt eine ältere Frau zu ihm aufs mer weit außerhalb ihrer Vorstellungswelt. dingungen schaffen“. Podium, umarmt den Kanzler und sagt mit Der anerkannte Internationalist Brandt Der versammelten Weltpresse verkün- tränenerstickter Stimme: „Wir alle danken hingegen, sonst als Meister des Sowohl-als- det Modrow, Kohl neben sich, gleichwohl Ihnen.“ auch verschrien, stellt sich ohne Wenn und tapfer, er sehe „in der DDR die Chance Die Mikrofone sind noch offen, das Pu- Aber an die Spitze der Rufer nach deut- und die Möglichkeit, dass wir unseren Weg blikum kann mithören. scher Einheit: Es könne „nun auch als si- weitergehen“. Aber zur Rede an das Volk, cher gelten“, erklärt er den hingerissenen das sich in der Dämmerung vor der Rui- Genossen in West-Berlin, dass Deutschland nenkulisse zusammendrängt, lässt er sei- Magdeburg der Einheit näher sei, „als dies noch bis vor nen Gast lieber allein gehen. Während Kohl noch in Dresden spricht, kurzem erwartet werden durfte“. Der weiß: Die Stimmung ist gefährlich. wird sein Vorvorgänger in Magdeburg wie Brandt widerspricht vehement jenen Alles, „was als Ausbruch nationalistischen ein Revolutionsheld gefeiert. „Mensch,Wil- Linken, namentlich Günter Grass, die mei- Überschwangs“ gedeutet werden könnte, würde „der Sache der Deutschen gewiss schweren, wenn nicht verheerenden Schaden“ zu- fügen. Kohl ist „klar, dass es eine der schwierigsten, wenn nicht die schwierigste Rede über- haupt“ in seinem Leben werden würde. Was tun, wenn die Menschen plötzlich im nationalen Taumel die erste Strophe des Deutschlandlieds singen? Vorsorglich lässt der Kanz- ler nach einem Kirchenkantor su- chen, der im Ernstfall „Nun danket alle Gott“ anstimmen soll – was sich dann aber als nicht nötig erweist, Gott sei Dank. Kohl spricht 17 Minuten. Er hält die Balance zwischen Mahnung und Versprechen. So fördert er die Hoff- nung der Menschen, dass die Wie- dervereinigung eines Tages kommen werde: „Mein Ziel bleibt, wenn die

* Mit Parteifreunden Rudolf Scharping, Ger- DPA hard Glogowski und Gerhard Schröder. Brandt in Magdeburg*: „Willy, sag, wo’s langgeht“

128 der spiegel 51/1999 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF« nen, Auschwitz schließe einen mehrheitsfähig gilt, präferiert der deutschen Einheitsstaat für im- SDP-Bezirk Berlin den eleganten mer aus: „Noch so große Schuld Kirchenjuristen Manfred Stolpe; einer Nation kann nicht durch der, so heißt es, beherrsche eine zeitlos verordnete Spaltung „mediengerechtes Auftreten“ und getilgt werden.“ verfüge über einen „hohen Be- Nicht wenige wünschen sich, kanntheitsgrad“; außerdem sei er dass Brandt bei der Bundes- eine „integre Person“. tagswahl 1990 noch einmal als Das bezweifeln andere. Zwar Kanzlerkandidat antreten könnte. weiß noch keiner von Meckels „Wär der Willy doch nur“, sagt Parteifreunden, dass der Konsis- einer wehmütig, „zehn Jahre jün- torialpräsident mit dem Deckna- ger – das wär’s.“ men „IM Sekretär“ ohne Wissen Unter dem Dach des Interna- seiner kirchlichen Vorgesetzten tionalen Congress Centrums klat- vielfach mit Stasi-Führungsof- schen ergriffen auch junge So- fizieren zusammengetroffen ist. zialdemokraten aus der DDR: Manch einer aber wirft Stolpe vor, „Ja“, versichert in ihrem Namen dass er noch im Oktober das un- Pfarrer Markus Meckel, SDP-Mit- ruhige DDR-Volk öffentlich dazu begründer und nachmaliger aufgerufen hat, „jetzt von nicht Außenminister der DDR, „wir genehmigten Demonstrationen werden für den deutschen Eini- auf den Straßen abzusehen“. gungsprozess eintreten.“ So wird 1990 schließlich je- Doch der Rauschebart offen- mand Spitzenkandidat der Ost- bart auch seinen Zorn darüber, SPD, der, anders als Stolpe, nicht dass die Partei allzu lange auf durch SED-Nähe korrumpiert ihren Exklusivpartner SED fixiert scheint: Ibrahim Böhme, der Dun- gewesen ist: Die West-SPD habe kelmann, der als „IM Maximi- zu zögerlich „das Gespräch mit lian“ die SDP bereits verraten den oppositionellen Gruppen ge- hat, bevor sie überhaupt gegrün- sucht“. det war. Tatsächlich hat etwa West-Ber- lins Bürgermeister Walter Mom- per noch im August gespottet: Mittwoch, 20. Dezember

„Mit Parteigründungen durch DPA kleine Gruppen kann in der DDR Sozialdemokraten Meckel, Momper: Zorn über Zögerlichkeit Ost-Berlin jetzt gar nichts bewegt werden.“ Kaum hat Kohl die DDR verlas- Momper oberschlau: „Die SED sen, rückt der nächste Staatsgast hat in der DDR tatsächlich die an. Doch anders als der Bonner Macht, und sie wird sie in abseh- Kanzler, der aufs Einheitstempo barer Zeit behalten.“ drückt, will François Mitterrand, Und SPD-Chef Hans-Jochen der französische Staatspräsident, Vogel hat im Herbst dem Mos- möglichst lange eine eigenstän- kauer KP-Führer Michail Gorba- dige DDR erhalten. tschow sogar schriftlich versi- Die Visite ist ein Affront ge- chert, dass seine Partei die DDR- gen Mitterrands Männerfreund Opposition „weder organisieren Kohl, der 1984 über den Grä- noch finanzieren“ werde. Und bern von Verdun so symbol- natürlich war es der SDP auch trächtig seine Hand ergriffen versagt, den Namen SPD zu hatte. Als erster und einziger führen. Staatschef der westlichen Sie- Ein Kurswechsel bahnte sich germächte stattet der Franzose

erst an, als in Bonn das Gerücht K.-B. KARWASZ der dahinsiechenden DDR einen aufkam, die SED werde sich um- SPD-Parteitagsredner Vogel in Berlin: Kurs drastisch korrigiert Staatsbesuch ab – so wie er, benennen in „Sozialistische Par- ebenfalls exklusiv, zwei Jahre zu- tei Deutschlands“, abgekürzt SPD. Um das rupte stalinistische Partei, die SED ist vor Erich Honecker in Frankreich emp- zu verhindern, erklärte Bundesgeschäfts- kaputt … Das ist für uns erledigt.“ fangen hatte. führerin Anke Fuchs am 8. Dezember Klar, dass die SPD die armen Brüder im Schon die Art, wie der Élyséepalast am eilig, die SPD würde es nunmehr „sehr Osten von nun an mit allem versorgt, was 21. November Mitterrands Besuch in Ost- begrüßen“, wenn die DDR-SDP „unseren sie braucht – seien es kampagnenerfahre- Berlin angekündigt hat, vergrätzte Bonn: Namen übernehmen“ würde. ne Wahlkampfmanager und Sekretärinnen Der Termin war, wie Kohl-Berater Horst Zugleich korrigiert die SPD drastisch ihr oder auch nur Klarsichthüllen für die Tür- Teltschik schmollt, nicht mit der Bundes- Verhältnis zur SED. Anke Fuchs geht mit schilder im Berliner Parteibüro. regierung abgesprochen worden. der reformgeneigten Modrow-Partei, Kon- Ihren Spitzenkandidaten allerdings müs- Um eine Retourkutsche für den Zehn- kurrentin bei der bevorstehenden Wahl, so sen die Ost-Genossen demnächst ganz al- Punkte-Plan, den Kohl ebenfalls ohne Kon- hart ins Gericht, wie es kaum je ein So- lein aufstellen. Und dabei können sie nach sultation verkündet hat, kann es sich nicht zialdemokrat gegenüber der autoritären Lage der Dinge nur Fehler machen. handeln – auch wenn Mitterrand, wie des- Greisengarde der Honecker-Ära gewagt Weil der rustikale Pfarrer Meckel – Voll- sen Vertrauter Jacques Attali notiert, da- hat. Fuchs plötzlich: „Die SED ist eine kor- bart über Sakko ohne Schlips – nicht als mals tobte: „Er hat mir nichts gesagt!

130 der spiegel 51/1999 Überhaupt nichts! Das werde ich ihm nie vergessen!“ Aber das war am 28. Novem- Freitag, 22. Dezember 1989 ber, nach seiner Reiseankündigung. Mitterrand, kein Zweifel, findet zwei Ost-Berlin deutsche Staaten kommoder als einen. Seit gut einem Monat haben sich vor dem Deshalb ist er am 6. Dezember zu Mi- Brandenburger Tor Hundertschaften von chail Gorbatschow nach Kiew gefahren, Reportern auf hydraulischen Hebebühnen um sich zu vergewissern, dass er in dem und Kränen mit Übertragungswagen und Kremlherrn einen Verbündeten gegen die Satellitenantennen postiert – den nächsten Wiedervereinigung hat. Deshalb auch bie- historischen Augenblick wollen sie auf kei- tet er Modrow einen 300-Millionen-Francs- nen Fall verpassen. Kredit an, um die DDR zu stützen. Der klassizistische Bau mit den zwölf Hinter verschlossenen Türen tröstet Mit- dorischen Säulen hat hohen Symbolwert. terrand die niedergeschlagenen SED-Ka- 1933 zogen nach Adolf Hitlers Machter- der, „alle Länder“ hätten „zu bestimmten greifung die Braunen mit lodernden Zeiten ihre Krisen zu bewältigen“. Dem Fackeln durch den Triumphbogen. Im Mai amtierenden Staatsratsvorsitzenden Man- 1945 hissten Soldaten der siegreichen So- fred Gerlach versichert er, „dass die DDR, wjetarmee die rote Fahne, am 17. Juni 1953 wenn sie ihr politisches Gleichgewicht wie- holten aufständische Ost-Berliner Arbei- derfindet, in der Zukunft große Chancen ter die Flagge herunter. haben“ werde, „einen gewichtigen Platz Das Kuratorium Unteilbares Deutsch- in Europa einzunehmen“. Quel erreur! land startete 1959, nach Nikita Chru- schtschows Berlin-Ultimatum, die Aktion „Macht das Tor auf“: Mit Sammelbüchsen Donnerstag, 21. Dezember 1989 gingen Politiker und Prominente auf die Straße und verkauften 14 Millionen An- Leipzig stecknadeln mit dem Bauwerk. Auch der DDR-Jugend trichtert Mitterrand Tage- und nächtelang wartete nach dem seine These von der deutschen Zweistaat- 9. November der Journalistenpulk darauf, lichkeit ein. dass auch an dieser Stätte ein Durchlass Im überfüllten Hörsaal 19 der Karl- geschaffen werde. Doch Egon Krenz, da- Marx-Universität in Leipzig spricht der So- mals noch SED-Generalsekretär, zeigte sich scheinbar wendehals- starrig: Das sei, sagte er sechs Tage nach der Mau- eröffnung, „eine Symbol- handlung, an der ich im Augenblick nicht interes- siert bin“. Dabei war es, wie sich später herausstellen wird, Kohls Wunsch, dem sich Krenz gebeugt hat. Über die Hintergründe hat der in den Westen ge- flüchtete Devisenbeschaf- fer Alexander Schalck- Golodkowski gegenüber dem Bundesnachrichten-

P. PIEL / GAMMA STUDIO X P. dienst ausgepackt. In ei- DDR-Besucher Mitterrand: Affront gegen den Männerfreund nem Vernehmungsproto- koll („Geheim / amtlich zialist vor rund tausend Studenten. Zwar geheim gehalten“) heißt es über die Aus- gehe die Einheit „zunächst die Deutschen“ sagen des Überläufers mit dem BND-Deck- an, räumt er ein.Aber zwei deutsche Staa- namen „Schneewittchen“: ten hätten ihre „souveräne Existenz“, und Als „Schneewittchen“ bei Minister SEI- „auch ihre Nachbarn“ müssten über deren TERS war, bat SEITERS „Schneewitt- „Stabilität wachen“. chen“, KRENZ anzurufen und sicherzu- Am nächsten Tag reist Mitterrand wie- stellen, dass eine Öffnung nicht ohne der ab – kurz bevor Kohl nach Berlin Bundeskanzler erfolgen dürfte. „Schnee- kommt, um einen neuen Grenzübergang wittchen“ rief aus dem Büro von SEITERS am Brandenburger Tor zu eröffnen. KRENZ an und richtete dies aus. Barsch weist der Franzose den Vorschlag zurück, mit dem Kanzler gemeinsam durch In privaten Notizen hatte Schalck schon das symbolträchtige Stadtportal zu gehen: am 15. November festgehalten, der Kanz- „Selbst wenn ich eingeladen worden wäre, leramtsminister habe ihm erklärt, es wür- würde ich es nicht machen.“ Er wolle sich, de „die offiziellen Verhandlungen mit der giftet Mitterrand, nicht beteiligen an der „In- Bundesregierung außerordentlich er- besitznahme der DDR“ durch den Kanzler. schweren, wenn eine etwaige Öffnung des

der spiegel 51/1999 133 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

Brandenburger Tores als neuer Grenz- blutige Straßenschlachten auf. Armee und übergang ohne vorherige Kenntnis der Geheimpolizei richten ein Massaker an. Es Bundesregierung mit anderen Parteien und gibt über tausend Tote. Politikern erfolgt“. In Ost-Berlin geben alle am Runden Eifersüchtig wachte der CDU-Kanzler Tisch versammelten Parteien und Grup- darüber, dass nicht ein anderer im Allein- pen eine gemeinsame Erklärung ab: „Wir gang mit den neuen DDR-Regenten das solidarisieren uns mit dem rumänischen Brandenburger Tor aufmacht: der Sozial- Volk und seinem Befreiungskampf.“ demokrat , der populäre Die Grußadresse unterschreibt selbst die West-Berliner Bürgermeister mit dem ro- SED. Noch im Juni hat sie das Gemet-

ten Schal, dem Kohl das Pfeifkonzert am PRESS / SIPA L. DELAHAYE zel der chinesischen Militärs auf dem Platz 10. November vor dem Schöneberger Rat- Hingerichteter Ceau≠escu 1989 des Himmlischen Friedens in Peking gut- haus persönlich verübelt. „Herrschaft des Bösen“ geheißen – als einzige europäische kom- Nun also ist es so weit, der Termin munistische Partei neben der rumäni- dem Kanzler genehm. Schweres Gerät hat die nach der Machtergreifung 1933 mit schen. rechts und links von dem 20 Meter hohen Fackeln und Stiefeln durch das Tor gezogen Nun fällt die letzte Bastion des Stalinis- Säulenportal zwei fünf Meter breite Bre- waren – doch die nachdenklichen histori- mus in Europa. Per Hubschrauber fliehen schen in den bis zu drei Meter dicken und schen Reminiszenzen des DDR-Minister- Ceau≠escu, 71, und Ehefrau Elena, 70, aus drei Meter hohen Schutzwall geschlagen, präsidenten will keiner hören. dem Bukarester Präsidentenpalast; wenig der an dieser Stelle für die Ewigkeit gebaut Während Krack spricht, gähnt Kohl. Bei- später werden sie festgenommen, zum zu sein schien. fall brandet indes auf, als Momper die Tode verurteilt und unverzüglich hinge- Die ersten Schaulustigen kommen schon Nachricht vom Sturz des rumänischen Dik- richtet. morgens um neun, sechs Stunden vor dem tators Nicolae Ceau≠escu überbringt. „Die Rumänen“, rühmt die polnische angekündigten Staatsakt. Kurz nach zwei Noch Ende November hat der rote Des- Solidarnos´c´, hätten bewiesen, „dass es in drängeln sich tausende von Berlinern an pot, der sein Volk 24 Jahre lang drangsa- Europa keine Völker gibt, die sich mit der den Absperrgittern, Volksfeststimmung lierte, in einer sechsstündigen Parteitags- Herrschaft des Bösen und der Dummheit kommt auf. Dann hält King Kohl Einzug. rede die Veränderungen in den sozialisti- abfinden“. Neben dem großen Kanzler trippelt wieder schen Staaten ringsum als „Verirrungen“ Vor dem Brandenburger Tor detonieren der kleine Modrow, beide flankiert von den abgetan. Das rumänische Volk hingegen verfrühte Silvesterknaller, Leuchtkugeln Berliner Stadtoberhäuptern Walter Mom- bleibe „auf ewig dem Kommunismus schießen empor, und Momper hebt die per (West) und Erhard Krack (Ost). treu“. Stimme: „Nun freue dich, Berlin.“ In strömendem Regen schreitet das Doch die Ewigkeit währt nur drei Wo- Die Menge reagiert mit „Deutschland, Quartett unter der Quadriga hindurch. chen lang. Dann ereignet sich in Transsyl- Deutschland“-Rufen. Nur ein paar Linke, Kohl winkt, Modrow nicht. Die Redner be- vanien, was den Kerzen-Revolutionären kaum zu verstehen, schreien: „Scheiße, steigen ein kleines Holzpodest. der DDR erspart geblieben ist. Scheiße.“ Der DDR-Premier hält die Begrüßungs- Nach einer friedlichen Demonstration Jochen Bölsche; ansprache. Modrow erinnert an die Nazis, für einen regimekritischen Pastor flammen Markus Dettmer, Norbert F. Pötzl DPA Festredner Kohl, Krack, Modrow, Momper am Brandenburger Tor: „Öffnung darf nicht ohne Bundeskanzler erfolgen“

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