48Mittwoch, 21.April 2004  Nr.92 ZÜRCHER KULTUR NeuöZürcörZäitung

Riecht gut – Vom Roman zur Bühne im Schiffbau Steps «Romane/Stücke/Autoren» titelt die Schauspielhaus-Institution «Salon in Ereignishaftes Tanzen der Box» im April, nachdem sie 2004 Das Aterballetto im Theater Casino Zug im Januar mit einem Musikschwer- Kaum hatte die Vorstellung der Compagnia punkt eröffnet worden ist. Es geht um Aterballetto aus Reggio Emilia im Zuger Theater neue Stücke, junge Dramatiker und, Casino begonnen, gab es auch schon lebhaften vor allem, um den Versuch, Romane Szenenapplaus, so präsent und formklar war der an sich unspektakuläre Auftakt zu William For- auf die Bühne zu bringen. Daniela sythes «Steptext» getanzt worden. Und in allen Kranz und Jenke Nordalm installieren drei Stücken der Aufführung bewährte sich durch- im Atrium im Schiffbau Virginia gehend eine unglaubliche tänzerische Dynamik in Woolfs «To the Lighthouse». der überlegenen Beherrschung spannungsvoller Formen einer freien, modern klassischen Bewe- Kennen gelernt haben sich die beiden Deut- gungsgestaltung. schen am Theater , bei Stefan Pucher. Ein Glücks-Treffer für die jungen Regisseurinnen, die Bewegungssprache nun schon seit vier Jahren zusammenarbeiten. Die den Abend beschliessende «Cantata» «Wir trennen uns, sobald wir einander beschrän- wurde so zu einem reinen Tanzfest. Mauro Bi- ken statt befruchten – aber zurzeit sieht es nicht gonzetti, der zugleich der künstlerische Leiter der danach aus», lacht Daniela Kranz (*1968), die Truppe ist, hat zu «originaler und traditioneller gerne in aller Ruhe noch etwas nachschiebt, wenn Musik aus Süditalien» (temperamentvoll live auf die flinke Jenke Nordalm (*1972) ihr Antwort- der Bühne dargeboten vom Gruppo Musicale gebäude bereits bis in die letzte Dachschindel er- Die Regisseurinnen Daniela Kranz (l.) und Jenke Nordalm vor ihren Proben in Zürich. (Bild Ruckstuhl) Assurd) eine Choreografie geschaffen, die keiner- richtet hat. Bei Pucher haben sie sich in die Pro- lei platte Folklore nachahmt. Mit Formen, die jektarbeit verliebt und gelernt, Textschnipsel, sinnlich miterleben, das fiktionale Fenster-Bild über das vielleicht eher Kaspar-Hauser'sche zum Teil jeglichem Volkstanz völlig fremd sind, Filmausschnitte zu Theatercollagen zu verbinden. verwandelt sich in eine konkrete Zuschauererfah- Leserglück hinausgeht. lässt er seine Truppe eine hoch stilisierte Bewe- Heute begeistern sie sich einerseits für Worttrun- rung und die Stimme im Kopf in einen Knopf im gungssprache tanzen, die aber durchgehend die kenheiten auf der Bühne, anderseits für Themen- Ohr. Es entsteht ein quasimusikalischer Kosmos: Schrumpfen, erweitern Vitalität und Spontaneität von elementarem Tanz theater. «Virginia Woolf beschäftigt uns schon seit «Dazu schneiden wir Originaltöne der Autorin ausstrahlt und sich nach einigen klug gesetzten zwei Jahren», erzählt Kranz, «denn sie verbindet Aber warum dann überhaupt Prosa? Warum hinein, Graham Valentine spielt als native speaker nicht gleich aus der reichen Dramenliteratur stillen Momenten von fast ritueller Strenge zu beides: eine sehr musikalische Sprache mit dem mit, und auch aus der englischen Hörbuchversion einem wirbelnden Finale voller Freudenschreie Ringen um ein Dasein als Künstlerin und Frau.» schöpfen, die ja für theatrale Unmittelbarkeit und übernehmen wir Passagen.» So werde Reflexion Dreidimensionalität geschaffen wurde? «Zum steigert, in welche das Publikum am Schluss be- Ursprünglich hätten sie denn auch Woolfs Roman fühlbar und mäanderndes Bewusstsein Live-Thea- geistert einstimmte. «Orlando» mit seiner androgynen Titelfigur im einen suchen wir uns Stoffe und Figuren, die uns ter. Diese Art der Annäherung schafft Intimität fesseln – unabhängig von der Form, in der sie vor- In der Mitte stand «Les Noces». Strawinsky Auge gehabt. Doch dann haben sie sich gemein- und Distanz zugleich, einen Erlebnisraum, der sam mit der Schauspielhaus-Chefdramaturgin Ste- liegen.» Zum andern biete das offenere Material hat die Partitur für einen genau festgelegten fanie Carp für «To the Lighthouse» («Zum auch freiere Zugänge. Die Trauer, das Abschieds- Handlungsablauf komponiert. Erzählender Tanz Leuchtturm») entschieden. gefühl in «To the Lighthouse» können – und aber liegt ausserhalb der Gestaltungsmöglichkei- Literaturwoche im «Salon in der Box» dürften – als freie Adaptation auf der Bühne weit ten des Aterballettos und seines Leiters. Bigon- ked. Romanumsetzungen: «The Cocka Hola gefasst werden: «Wir haben über 200 Seiten Text zetti kann damit nicht dem an sich vorgegebenen Neue Seiten alter Romane Company» von Matias Faldbakken, Regie: Robert auf vier Szenen eingedampft. Dafür öffnen wir die Ablauf folgen. Die Musik wird so bloss zum wun- «Einen Roman auf die Bühne zu bringen, be- Lehniger, 24.4.; «To the Lighthouse» von Virgi- Szenen für biografische und aktuelle Lesarten. derbar wirkungsvollen Klangteppich für ein Tanz- deutet immer, ihn zu reduzieren», räumt Jenke nia Woolf, Regie: siehe oben, 26.4.; «Pong» von Wir lassen die Lebensgeschichte Virginias durch- geschehen, in dem nur das weisse Kleid einer jun- ein. «Aber wir legen auch Schichten frei, die beim Sibylle Lewitscharoff, Regie: Christiane Pohle, schimmern und, beispielsweise und andeutungs- gen Frau Assoziationen an Hochzeit ermöglicht, stillen Lesen nicht wahrgenommen werden.» Ihre 28.4.; «Dämonen» von Fjodor Dostojewski, ein weise, den Abschied der Marthaler-Crew vom das sonst aber nur weiter nicht definierte inten- allererste Zusammenarbeit galt daher auch genau Film von Frank Castorf, kommentiert von Volks- Schauspielhaus und von Zürich», skizziert die ge- sive Begegnungen von Mann und Frau bringt, dieser Form der «Entdeckung von Prosa», die sie bühnen-Dramaturg Carl Hegemann, 27.4. bürtige Sauerländerin (Nordalm) den Horizont hoch sinnlich und formstreng zugleich, ebenso gleichzeitig als «Entdeckung von Theater» ver- Romanlesung: «Melancholie» von Jon Fosse, der Romaninstallation. «Für unser ‹Forschungs- lasziv verführerisch wie stolz distanziert. stehen, als neue Lektüre zweier Kunstformen. Vor gelesen von Nikola Weisse, Peter Brombacher und interesse› – die Frage nach der Entwicklung von drei Jahren zeigten die Wahlberlinerinnen im hie- Sebastian Rudolph, 25.4. Bewusstsein, die Frage nach perspektivischen Formschönheit sigen Theater an der Winkelwiese ihren Erstling Autorenabende: «Jürg Halter, Händl Klaus, Blindheiten – hätte es ausserdem kaum einen bes- Höhepunkt der Aufführung war aber «Step- «Giftmörderinnen» nach dem Roman von El- Guy Krneta, Raphael Urweider – ‹Tour des seren Text gegeben», doppelt ihre norddeutsche text», die vielschichtige Choreografie von For- friede Czurda. «‹To the Lighthouse› wiederum ist Alpes›, Berner Autoren zu Gast im Salon», 29.4.; Kollegin nach. Dass die Struktur dieses Romans sythe, in der unmittelbar spannungsvoll für sich fast ein philosophischer Essay. Während die «Lange Nacht der Autoren» unter anderem mit heimlich dem klassischen Dreiakter-Aufbau folge, sprechender Tanz zugleich eine Reflexion über Hauptfigur am Fenster sitzt, fliesst die Zeit, Erin- Peter Stamm, Roland Schimmelpfennig und En- sei sozusagen das Sahnehäubchen obendrauf. die verschiedenen Elemente eines Balletts und ihr nerungen kommen und gehen, und die Wirklich- semblemitgliedern, Präsentation und Diskussion Trotzdem soll, unterstreichen die beiden Regis- Verhältnis zueinander szenisch erlebbar macht. keit ist eine Stimme im Kopf», resümiert die stu- neuster Texte. Ausserdem als Nonstop-Hörspiel seurinnen, jede Prosainstallation bei allen Hori- Und die Interpretation durch Stefanie Figliossi, dierte Theaterwissenschafterin (Nordalm). Eigent- Silvio Huonders jüngste Arbeit, «Kino», und die zonterweiterungen, allen Forschungsreisen ins Thibaut Cherradi, Valerio Longo und Alexis Oli- lich kein Stoff fürs Theater. Und doch liege gerade Installation «Worttheater» (Letztere in Probe- Private und ins Allgemeinmenschliche eins in der veira war funkelnd präzise in den dauernden darin ein dramatisches Potenzial des Romans, bühne 3 ab 22Uhr), 30.4. Nase behalten wie den Lieblingskuchenduft aus blitzschnellen Wechseln von Positionen und versichert die studierte Regisseurin (Kranz): Im Alle Salon-Abende starten um 19.30 Uhr. der Kindheit: den «Geruch des Romans». Richtungen und gleichzeitig von perfekter Form- Atrium lässt sich der Übergang von Tag zu Nacht Alexandra Kedveˇs schönheit in den fliessend plastischen Posen. Richard Merz Zug, Theater Casino, 19.April. Zürich, Stadthof11, 30.April. An der Seele gezupft – Hopkinson Smith bei «Barock in Zürich» Im Rahmen des Zyklus «Barock in Zürich» treten im ZKO-Haus ab Donnerstag mit Adaptation für Laute von Bach selber und auf die Nüchterner Neubeginn der Schweiz verbundene Musiker aus zwei Generationen auf, deren Namen für eine rege Transkriptionspraxis der Zeit entwickelte lebendige Auseinandersetzung mit älterer Musik stehen. Im Zentrum stehen Werke von Smith in mehreren Schritten einen eigenen Vera Kaa mit einem neuen Album Notentext. Er bringt damit Bachs Musiksprache gz. Zweiflerisch benannte Vera Kaa ihr letztes J.S. Bach. Der Lautenist Hopkinson Smith spielt Werke von John Dowland, mit dem in einer überraschenden Weise zu Gehör – über- er sich in einer nächsten Schaffensphase auseinandersetzen will. Album «Irgendwie wird's guet». Fünf Jahre spä- raschend in der Instrumentalisierung, aber auch ter veröffentlicht sie nun die neue CD «Wotsch- in der Klarheit und nüchternen Lebendigkeit, mit In den Sälen und Kammern der Renaissance chend: Dessen Resonanz gab ihm Hinweise auf mi» – und diese wurde überraschend gut. Die seit der hier Bachs Stücke in ungekünstelter Art er- langem in Zürich wohnende Luzernerin hat sich kam der Laute eine Bedeutung zu, die mit jener die adäquaten Spielweisen. klingen. Das ist in der Interpretationsgeschichte des Klaviers für die Salons der Romantik ver- von der schwermütigen Befindlichkeitsanalyse Für jeweils ein Projekt bleibe er einem Instru- keine neue Lauten-Mode, sondern eine Weg- des letzten Werks lösen können und präsentiert gleichbar ist. Im Laufe der Jahrhunderte ent- ment aus der Lautenfamilie so treu wie möglich. marke. wickelten sich die Bauarten, die Zahl der Saiten, sich nun selbstbewusst offen und optimistisch. Während mehr als zehn Jahren war das nun die Was Bach den Violinisten als eine kräfte- Besonders stark zeigt sich das in ihrem Gesang. die Stimmungen und die Spieltechniken immer Barocklaute, mit der er die Sonaten und Partiten weiter, so dass eine ganze Instrumentenfamilie raubende Kunst der Illusion abverlangt, das Glaubte sie früher ihre Texte mit forcierter Emo- für Solovioline von J.S. Bach für sein Instrument mehrstimmige Spiel, kann auf der Laute gleich- tionalität unterstützen zu müssen, so macht sie entstand. Diese war schliesslich im Ballett des transkribiert, eingeübt und eingespielt hat (Au- französischen Hofes gleichermassen zu Hause wie sam «humanisiert» werden, erklärt Smith. Das nun eher das Gegenteil. Fast schon teilnahmslos vidis / Na¨ıve E8678). Das Resultat ist auf eupho- Instrument ermöglicht von sich aus das poly- klingt ihre oft zum Sprechgesang neigende in der ausgelassenen bürgerlichen Runde auf der rische Beachtung gestossen. Gestützt auf eine Gasse. phone Spiel, die physische Bewegung steht mit Stimme – was die Aussagen verstärkt und oft für der seelischen in Übereinstimmung. Ein Aspekt, einen erfrischend ironischen Unterton sorgt. Aber wer wusste noch davon, um das Jahr 1970 der für Smith zentral zu sein scheint: Er legt Wert herum? Die historisch adäquaten Interpretatio- Die Texte sind allerdings auch weniger persön- auf das Geistige, auf die seelische Schwingung in lich, befassen sich vielmehr mit der allgemeinen nen alter Musik hatten zwar ihren Siegeszug der Musik. So ist er nun der emotionalen Rheto- durch die Konzertsäle gerade angetreten, galten Lebenslage einer gereiften «Lady». Im gleich- rik des John Dowland auf der Spur, des Kompo- namigen Lied singt die 44-Jährige mit nüchterner aber erst als Ereignisse in einer Nische des Be- nisten des elisabethanischen England, an dessen triebs. Hopkinson Smith, damals in seinen späten Liedern er Finessen der sprachähnlichen Artiku- Zwanzigern stehend und ausgebildet an der klas- lation studiert, um sie ins Lautenspiel zu übertra- sischen Gitarre, entdeckte durch seinen Lehrer an gen. «Wieder ein Genie, eine komplizierte NZZ Online der Harvard-Universität das Repertoire des Persönlichkeit, ein schnelles, aber verletzbares Netzstoff 16.Jahrhunderts – und durch ein aus einer Bos- Temperament», beschreibt Smith seine neue Lei- Eine Auswahl von Hintergrundartikeln toner Sammlung ausgeliehenes Instrument die denschaft. Zartheit und Sinnlichkeit gezupfter Lautenklänge. zum Thema Internet 1973 kam er nach Europa, zum Lautenisten Mit zusammen hatte Smith in den www.nzz.ch/netzstoff an die Basler Schola Cantorum siebziger Jahren das Ensemble Hesperion XX ge- und zum Katalanen . Damals hat er gründet, unter Nikolaus Harnoncourt unter ande- sich diesem Instrument «gewidmet», wie er heute rem am legendären Zürcher Monteverdi-Zyklus – unter Anspielung auf den doppelten Sinn des mitgewirkt. Später entschied er sich für die solis- und doch unverkennbarer Stimme, sie wolle nicht Wortes – sagt. tische Laufbahn. Eine Entscheidung sei notwen- nochmals 20 sein. Für Illusionen vergiesst sie keine Tränen mehr, statt «Glanz und Gloria» An das berufliche Risiko, das ein solcher Schritt dig gewesen, sagt er, denn die Grenzenlosigkeit der Lauten-Welt bringe es mit sich, dass es mehr (Songtitel) anzustreben, gibt sie sich mit «echli bedeuten konnte, habe er um jene Zeit noch nicht Glimmer» zufrieden. Gelöst und poppig frisch gedacht, räumt Smith ein. Wenn man sich ver- zu tun gibt, als in einem einzelnen Leben bewäl- tigt werden kann. Und auf die Intimität des solis- klingt auch wieder die Musik, die von Simon liebe, frage man sich auch nicht, wer später Kistler und Remo Kessler (Schmetterband) ge- kochen und wer putzen werde. Es sei ein Schritt tischen Musizierens, die durch die Feinheit des Lautenklangs noch intensiviert wird, möchte er prägt ist, die neu als ihre hauptsächlichen Song- ins Grenzenlose gewesen. Seither hat er sich als writer, Musiker und Produzenten wirkten. Zahl- weltweit gefragter Lautensolist und als Lehrer an nicht mehr verzichten. Eine Stille nach dem letz- ten Ton, wie sie in Schülerkonzerten zuweilen reiche Stilelemente von Chanson über Jazz bis zu der Basler Schola etablieren können. Das hat er Reggae verleihen dem Album zwar einen Anstrich massgeblich der Insistenz zu verdanken, mit der aufgetreten sei, fasse er als das grössere Kompli- ment auf als einen Applaus. von Beliebigkeit, darunter sorgt Raffinement im er sich wichtige Teile des Repertoires der Lauten- Arrangement jedoch meistens für Eigenart. Eini- familie von der Renaissance bis zum späten Peter Stücheli-Herlach gen Songs fehlt diese Verfeinerung, weshalb sie Barock aneignete – auf wachsende Erfahrungen, ZKO-Haus, Zürich Tiefenbrunnen, Reihe «Barock in klar abfallen. sich erweiternde musikhistorische Kenntnisse Zürich», 22. bis 25.April, mit Capriccio Basel (Leitung: Domi- Vera Kaa: Wotschmi (BMG Ariola). – Konzerte: 23.April: bauend und, wie er immer wieder betont, auf die Der Lautenist Hopkinson Smith in seinem Garten nik Kiefer), Maurice Steger, John Holloway, Hopkinson Smith, Kulturrampe Bubikon, 13. und 14.Mai: Casinotheater Winter- intime Zwiesprache mit seinem Instrument hor- in Basel. (Bild Roy Stähelin) Karl-Andreas Kolly, Martina Schucan (www.zko.ch). thur, 7.Juni: Corsotheater Zürich.