26.01.2012

Gericht Asylgerichtshof

Entscheidungsdatum 26.01.2012

Geschäftszahl D14 302667-1/2008

Spruch D14 302667-1/2008/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Windhager als Vorsitzenden und durch die Richterin Mag. Riepl als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX auch XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 26.05.2006, FZ. 05 17.994-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.09.2011 zu Recht erkannt:

I. Die Beschwerde wird gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 (AsylG 1997) hinsichtlich Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß §§ 8 Abs. 1 iVm. 10 Abs. 3 AsylG 1997 wird festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von XXXX in die Russische Föderation nicht zulässig ist.

III. Gemäß §§ 8 Abs. 3 iVm. 15 Abs. 2 AsylG 1997 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte in der Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

Text Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

I.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau, XXXX und den drei gemeinsamen minderjährigen Kindern XXXX (Beschwerdeführer zu den Zlen. D14 302668-1/2008, D14 302669-1/2008, D14 302670-1/2008 und D14 302671-1/2008) am 25.10.2005 illegal in das Bundesgebiet ein und stellten sie gemeinsam am selben Tag Anträge auf Gewährung von Asyl.

Am XXXX wurde im Bundesgebiet die minderjährige Tochter XXXX (Beschwerdeführerin zu D14 313331- 1/2008) geboren und wurde für diese am 27.02.2007 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Der Beschwerdeführer wurde am 03.11.2005, am 08.11.2005 und am 04.05.2006 niederschriftlich einvernommen.

Im Rahmen seiner Einvernahme vor der Grenzbezirksstelle Neusiedl am See am 25.10.2005 gab der Beschwerdeführer an, im Februar 2005 mit seiner Familie XXXX verlassen zu haben und nach Moskau gereist zu sein. Über Weißrussland seien sie nach Polen gereist, wo sie sich bis Oktober 2005 in einem Flüchtlingslager aufgehalten hätten. Am 01.10.2005 hätten sie Polen Richtung Slowakei verlassen, wo sie um Asyl ansuchen hätten müssen. Am 24.10.2005 hätten sie das Flüchtlingslager in der Slowakei verlassen und hätten sie zu Fuß www.ris.bka.gv.at Seite 1 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 die Grenze nach Österreich überquert, wo sie von Soldaten des österreichischen Bundesheeres aufgegriffen worden seien.

Der Beschwerdeführer habe demnach in Polen und in der Slowakei Asylanträge gestellt.

Zu den Gründen für die Ausreise aus dem Herkunftsstaat befragt, verwies der Beschwerdeführer auf den in Tschetschenien herrschenden Kriegszustand. Der Beschwerdeführer sei mehrmals im Rahmen von Säuberungen festgenommen worden. Er habe Angst um sein Leben und um jenes seiner Familie.

In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der Erstaufnahmestelle Ost am 03.11.2005 brachte der Beschwerdeführer vor, sich körperlich und geistig in der Lage zu fühlen, die Befragung zu absolvieren.

Danach befragt, schilderte der Beschwerdeführer neuerlich von seiner Ausreise aus Tschetschenien sowie von seinen Aufenthalten in Polen und in der Slowakei, wo er Asylanträge gestellt habe.

Der Reisepass des Beschwerdeführers befinde sich bei einem Bekannten in Polen.

Zu seinem Verfahren in Polen erklärte der Beschwerdeführer, dass dieses abgeschlossen sei und er - wie auch seine Familienangehörigen - eine Aufenthaltsberechtigung erhalten habe.

Nach Aufforderung, die Gründe für das Verlassen seines Herkunftsstaates darzulegen, erklärte der Beschwerdeführer, von maskierten und uniformierten Männern verfolgt worden zu sein.

Der Beschwerdeführer sei im Mai 2004 von diesen Männern zuhause aufgesucht und geschlagen worden. Die Männer seien auf der Suche nach dem Bruder des Beschwerdeführers gewesen, der Kämpfer gewesen sei und an Kriegshandlungen teilgenommen habe. Im Sommer 2004 seien die Männer immer wieder gekommen und hätten nach dem Beschwerdeführer gesucht. Der Beschwerdeführer habe sich jedoch mit seiner Frau und seinen Kindern bei Verwandten seiner Ehefrau versteckt. Dass er gesucht werde, habe er über Verwandte erfahren.

Laut ärztlicher Untersuchung im Zulassungsverfahren am 04.11.2005 leide der Beschwerdeführer an keiner krankheitswertigen psychischen Störung. Im Rahmen der Untersuchung erklärte der Beschwerdeführer betreffend seinen Fluchtgrund, dass sein Leben in Gefahr wäre, da sein Bruder verfolgt worden sei. Er sei zwei Mal von Männern aufgesucht worden, die ihn vor seiner Ehefrau und den Kindern geschlagen hätten.

Im Jahr 2002 habe jemand vor seinen eigenen Augen seinem kleinen Bruder eine Granate ins Hemd gesteckt und sei davongelaufen.

Im Zuge der Einvernahme vor der Erstaufnahmestelle Ost am 08.11.2005 wurde der Beschwerdeführer auf Konsultationen zwischen den österreichischen und polnischen Behörden iSd. der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates verwiesen.

Mit Aktenvermerk vom 29.11.2005 wurde das Asylverfahren des Beschwerdeführers und seiner Familie zugelassen.

Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 04.05.2006 durch das Bundesasylamt, Außenstelle Graz, niederschriftlich einvernommen.

Der Beschwerdeführer erklärte, sich bis zum Tag seiner Ausreise in XXXX aufgehalten zu haben. Der Beschwerdeführer sei bei der Ausreise aus Tschetschenien im Zug von Personen in Zivil kontrolliert worden.

Der Beschwerdeführer erklärte, sowohl über einen russischen Reisepass als auch über einen Inlandspass zu verfügen. Der Pass sei in XXXX "unter der Hand" gegen Bezahlung von viel Geld ausgestellt worden. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, beide Pässe vorzulegen.

Der Beschwerdeführer habe bis zum zweiten Krieg als Automechaniker gearbeitet. Zuhause habe er gelegentlich Autos repariert. Offizielle Arbeit habe es keine mehr gegeben.

Zu seinen Fluchtgründen schilderte der Beschwerdeführer, dass in seiner Wohnstraße in XXXX beinahe alle Wohnhäuser zerstört worden seien. Am Tag würden die Russen kommen und kontrollieren. In der Nacht würden nicht näher bekannte Maskierte kommen. Im Mai 2004 seien sie in der Nacht gekommen und hätten den www.ris.bka.gv.at Seite 2 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Beschwerdeführer bedroht, geschlagen und misshandelt. Dabei hätten sie nach dem Bruder des Beschwerdeführers gefragt.

Sein Bruder habe an Kriegshandlungen teilgenommen. Er sei in XXXX in Gefangenschaft gewesen und aufgrund einer Amnestie entlassen worden. Er werde jedoch trotzdem von irgendwelchen Leuten inoffiziell gesucht. Nach Mai 2004 habe der Beschwerdeführer nicht mehr zuhause übernachtet, sondern sich bei Verwandten seiner Ehefrau aufgehalten. Im Juli 2004 seien sie erneut an seine Wohnadresse gekommen, wo seine Mutter gelebt habe, die zu jenem Zeitpunkt alleine zuhause gewesen sei. Von seiner Mutter sei ihm mitgeteilt worden, dass er gesucht werde.

Im Mai 2002 habe jemand seinem jüngeren Bruder eine Granate ins Hemd gesteckt. Sein jüngerer Bruder sei dabei ums Leben gekommen. Die Polizei habe zwar den Fall aufgenommen, ihn in der Folge jedoch eingestellt. Der Beschwerdeführer habe bereits nach diesem Vorfall in Zusammenhang mit der Untätigkeit der Polizei nicht bleiben wollen, es sei eine frühere Ausreise mangels Geld jedoch gescheitert.

Der Beschwerdeführer habe mit seiner Ehefrau zum Schwager nach Russland gehen wollen. Während seine Ehefrau sich bei ihrem Bruder aufgehalten habe, sei dieser umgebracht worden. Deshalb sei auch ein Umzug nach Russland nicht in Frage gekommen.

Im Übrigen erklärte der Beschwerdeführer, dass die Mutter seiner Ehefrau im Jahr 1996 in XXXX bei einem Angriff getötet worden sei.

Da der Bruder des Beschwerdeführers unverändert Widerstandskämpfer sei, wäre eine Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich.

Konkret zum 04.05.2004 befragt, schilderte der Beschwerdeführer, dass um ca. zwei oder drei Uhr in der Nacht fünf Leute ins Haus gekommen seien, die Russisch und Tschetschenisch gesprochen hätten. Der Beschwerdeführer habe die Frauen schreien gehört. "Sie" hätten Taschenlampen gehabt, hätten den Beschwerdeführer vom Bett auf den Boden geworfen. Die Ehefrau des Beschwerdeführers sei im Zimmer herumgelaufen. Die Mutter habe geweint. Er sei von den fünf Leuten beschimpft worden, diese hätten ihn mit ihren Stiefeln getreten, ständig zum Bruder befragt und auch seine Mutter gestoßen.

Plötzlich seien die Männer aufgebrochen und hätten den Beschwerdeführer im Zimmer zurückgelassen.

Beim nächtlichen Vorfall im Juli 2004 sei der Beschwerdeführer nicht in der Wohnung gewesen. Er sei lediglich am Tag zuhause gewesen. Sie seien genauso gekommen wie beim ersten Mal. Die Ehefrau und die Kinder des Beschwerdeführers hätten sich zu der Zeit mit ihm bei den Schwiegereltern aufgehalten. Der gesuchte Bruder des Beschwerdeführers komme manchmal nachhause und gehe dann wieder.

Nach Juli 2004 habe es keine den Beschwerdeführer persönlich betreffende Vorfälle gegeben. Unmittelbar zum Beschwerdeführer und zu seiner Familie seien sie nicht mehr gekommen. Er habe sich bei Kontrollen immer versteckt.

Befragt, wann er wieder zu seiner Wohnadresse zurückgekehrt sei, meinte der Beschwerdeführer, dass er manchmal am Tag gekommen sei, um seiner Mutter zu helfen, wenn er zuvor mitgeteilt bekommen habe, dass es keine Kontrollen geben würde. Er habe nicht mehr ständig dort gewohnt. Aus Angst habe er jedoch nicht mehr zuhause übernachtet.

Der Beschwerdeführer sei manchmal - ca. drei oder vier Mal für ungefähr einen halben Tag, zwei Mal im Herbst 2003 und zwei Mal im Frühjahr 2002 oder 2003 - von der Straße zu offiziellen Kontrollen mitgenommen worden. Er sei jedoch nicht offiziell festgenommen worden.

Auf Vorhalt seiner Schilderungen in der vorangehenden Einvernahme über weitere Besuche der maskierten Männer nach Mai 2004 erklärte der Beschwerdeführer, dass es für ihn keine Bedeutung habe, wie oft sie gekommen seien. Er habe jene Fälle gemeint, bei welchen sie hereingekommen wären. Das andere komme ständig vor.

Der Beschwerdeführer habe an keinen Kampfhandlungen teilgenommen.

Sein Inlandspass sei im Jahr 2002 in XXXX ausgestellt worden.

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Sein Bruder sei im Dezember 2001 aus der Haft entlassen worden. Der Beschwerdeführer könne nicht angeben, wer nach seinem Bruder suche.

Der Vorfall im Mai 2004 habe den Beschwerdeführer letztlich zur Ausreise bewogen.

Der Beschwerdeführer verfüge über keine weiteren Angehörigen in anderen Teilen der Russischen Föderation.

Nach Vorhalt der Lage für ethnische Tschetschenen in der Russischen Föderation erklärte der Beschwerdeführer, dass die Ausführungen nicht der Wahrheit entsprechen würden. Der Beschwerdeführer sei an vielen Orten in der Russischen Föderation gewesen und habe immer Probleme gehabt.

Der Beschwerdeführer erklärte schließlich auf Nachfrage, dass seine Kinder nicht unmittelbar bedroht worden seien. Auch sei nicht gedroht worden, seine Kinder zu entführen.

Der Beschwerdeführer habe nur mehr einen Bruder.

Im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat habe der Beschwerdeführer Angst, gefoltert zu werden. Er habe um sich und seine Familie Angst.

Am 18.05.2006 legte der Beschwerdeführer seinen russischen Inlandspass (ausgestellt am 16.04.2002) und seinen russischen Reisepass (ausgestellt am 03.02.2005) vor.

I.2. Mit dem nun angefochtenen Bescheid vom 26.05.2006, Zl. 05 17.994-BAG, wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen, zugleich die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt II) und der Beschwerdeführer in Spruchpunkt III aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Die belangte Behörde bewertete das Vorbringen des Beschwerdeführers - aus näher dargelegten Gründen - als unglaubwürdig. Das Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich bei Vergleich mit dem Vorbringen seiner Ehefrau widersprüchlich gestaltet. Gegen die Glaubwürdigkeit würden schließlich der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat und die Ausstellung eines Reisepasses im Jahr 2005 sprechen. Auch sei der Beschwerdeführer legal mittels öffentlicher Verkehrsmittel ausgereist. Auch die widersprüchlichen Ausführungen zum Aufenthalt nach dem fluchtkausalen Ereignis im Mai 2004 hätten gegen eine Verfolgung des Beschwerdeführers gesprochen.

Am 13.06.2006 wurde dagegen fristgerecht berufen (nunmehr: Beschwerde erhoben), wobei sich in der inhaltsleeren Berufung keine fallbezogenen Ausführungen finden.

Laut Strafanzeige vom 17.07.2007 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen eines Ladendiebstahls (Uhu- Alleskleber, Wert ¿ 1,69) ermittelt.

Mit E-Mail vom 03.09.2007 gab der Beschwerdeführer bekannt, mit seiner Vertretung einen Rechtsanwalt beauftragt zu haben.

Mangels Entscheidung im Rechtsmittelverfahren vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat wurde am 30.08.2007 Säumnisbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof erhoben.

Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 01.10.2007, Zlen. 2007/19/0812 bis 0816-6, wurde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht die Frist zur Erlassung des versäumten Bescheides bis 17.09.2008 verlängert.

Der Beschwerdeführer brachte am 22.01.2009 einen Fristsetzungsantrag beim Präsidenten des Asylgerichtshofes ein.

Mit Faxeingabe vom 12.03.2009 wurde die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses zum Rechtsvertreter bekanntgegeben.

Der Fristsetzungsantrag vom 22.01.2009 wurde mittels Beschluss des Präsidenten des Asylgerichtshofes vom 16.07.2009, Zl. D14 302667-1/2008/14Z, zurückgewiesen.

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Am 18.05.2010 langte beim Asylgerichtshof eine Vollmachtsbekanntgabe ein, wonach der Beschwerdeführer mit seiner Vertretung einen Rechtsanwalt beauftragt hat.

Am 28.06.2010, 09.05.2011, 20.06.2011 und 16.09.2011 übermittelte der Rechtsvertreter Unterlagen zur Integration sämtlicher Familienangehörigen.

Betreffend die Ehefrau wurden fachärztliche Stellungnahmen des XXXX vom 16.06.2010 und 09.06.2011 übermittelt.

Auch wurde ein Internetauszug (Chechen Press) betreffend den Bruder des Beschwerdeführers (XXXX) übermittelt.

I.4. Am 20.09.2011 fand vor dem Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei der der Beschwerdeführer und seine Ehefrau ergänzend einvernommen und im Rahmen dieser Verhandlung zur Aktualität ihrer Fluchtgründe, zum gesundheitlichen Zustand und insbesondere zu einer mittlerweile erfolgten Integration befragt wurden (OZ 24Z). Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurden weitere Unterlagen zur Integration sowie ein Befund des XXXX vom 14.09.2011 betreffend die Ehefrau vorgelegt. Darin werden bei der Ehefrau PTBS mit wahnhaftem Erleben, paranoide Schizophrenie und Diazepammissbrauch diagnostiziert.

Mit Verfahrensanordnung vom 06.10.2011 wurden allgemeine Länderberichte zur Russischen Föderation/zu Tschetschenien zur Stellungnahme übermittelt. Gleichzeitig erging die Aufforderung sich abschließend zum Verfahrensgegenstand, insbesondere zur Integration des Beschwerdeführers im Bundesgebiet zu äußern.

Mit Eingabe vom 21.10.2011 langte eine entsprechende Stellungnahme ein, welche sich betreffend die allgemeine Lage in Tschetschenien sowie betreffend die Verfolgung von Familienangehörigen und Unterstützern von Widerstandskämpfern auf die übermittelten Länderinformationen des Asylgerichtshofes stützt.

Zu den übermittelten Länderfeststellungen zur medizinischen Föderation wird ausgeführt, dass diese die tatsächliche Situation in Tschetschenien nicht wiedergeben würden. Vielmehr würde eine Behandlung in der Realität an der Finanzierung scheitern.

Betreffend die Ehefrau wurde ein weiterer Befund des XXXX vom 19.10.2011 übermittelt.

Darüber hinaus wurde ein Konvolut an Unterlagen betreffend die gute Integration der Familie des Beschwerdeführers in Vorlage gebracht.

I.5. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

Einsicht in den dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesasylamtes betreffend den Beschwerdeführer zu Zl. 05 17.994-BAG, beinhaltend die niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt sowie die Beschwerde, die Einvernahme des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof (OZ 24Z), Einsicht in die im Verlauf des Beschwerdeverfahrens übermittelten Eingaben, Einsicht in die Verwaltungsakten der Ehefrau und der minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers, Zlen. 05 17.995-BAG, 05 17.996-BAG, 05 17.997-BAG, 05 17.998-BAG und 07 02.120-BAG sowie durch Einsichtnahme in die Länderfeststellungen bestehend aus folgenden Quellen:

Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland, Stand Jänner 2011;

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 22.08.2011 betreffend Amnestien in Tschetschenien;

Analyse der Staatendokumentation vom 20.04.2011, Russische Föderation, Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien;

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.09.2010 betreffend die Behandlungsmöglichkeit von schizoaffektiven Störungen;

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 10.08.2010 betreffend diverse Erkrankungen sowie

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Anfragebeantwortung der IPO "Vesta" vom 08.08.2008.

I.6.1. Zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig. Er führt den im Spruch angeführten Namen. An seiner Identität haben sich infolge der Vorlage unbedenklicher identitätsbezeugender Dokumente keine Zweifel ergeben.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers sowie seine vier minderjährigen Kinder (Beschwerdeführer zu den Zlen. D14 302668-1/2008, D14 302669-1/2008, D14 302670-1/2008, D14 302671-1/2008 und D14 313331-1/2008) halten sich gemeinsam im Bundesgebiet als Asylwerber auf.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten ausgesetzt und drohen ihm solche auch in Zukunft nicht. Das Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend eine Verfolgung im Herkunftsstaat war nicht glaubwürdig.

Der Beschwerdeführer ist Ehemann der XXXX (Zl. D14 302668-1/2008), der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag, Zl. D14 302668-1/2008/26E, der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Gleichlautende Erkenntnisse ergingen an die vier minderjährigen Kinder.

I.6.2. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

Der Asylgerichtshof trifft auf Grund der im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vorgehaltenen Quellen folgende entscheidungsrelevanten Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland

(Stand Jänner 2011)

Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut. Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.

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Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten.

Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, )

Allgemeine Sicherheitssituation

Präsident Ramzan Kadyrow hat in Tschetschenien ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheitsals auch bei der Menschenrechtslage hatte sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wurde von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben. Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs reagierten die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Die Entführungszahlen stiegen wieder an: Memorial hat 74 Entführungsfälle für die erste Jahreshälfte 2009 registriert (im Gesamtjahr 2008 waren es im Vergleich 42). Die Entführungen wurden größtenteils den (vor allem republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden (nach Informationen von Memorial) - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.

Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.

(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)

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Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.

Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)

Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.

Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet werden. Dadurch konnte die Sicherheitslage in Tschetschenien weitgehend stabilisiert werden. Andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5)

Verfolgungsgefahr

Zivilbevölkerung

Glaubwürdigen Berichten von NROs, internationalen Organisationen und der Presse zufolge haben sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)

Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt: Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die www.ris.bka.gv.at Seite 8 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.

In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Bisher gibt es nur sehr wenige Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Im Juni 2007 verhängte dasselbe Gericht in der "Sache Ulman" Haftstrafen zwischen neun und 14 Jahren gegen vier Offiziere wegen der Erschießung von sechs tschetschenischen Zivilisten im Dezember 2002. Ulman und Mittäter waren zuvor zwischen 2002 und 2005 zweimal von Geschworenengerichten freigesprochen worden, bis der russische Verfassungsgerichtshof diese Freisprüche kassierte und eine erneute gerichtliche Prüfung des Falls anordnete. Drei der Verurteilten sind allerdings untergetaucht. Für Aufsehen sorgte die vorzeitige Entlassung von Ex-Oberst Budanow. Er war 2003 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er im Jahr 2000 eine 18-jährige Tschetschenin getötet hatte, und ist im Januar 2009 vorzeitig aus der Haft entlassen worden.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19)

Eine Gefahr für Zivilisten stellen nicht nur die Kämpfe zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften dar, sondern auch die in der Republik verbreiteten Anti-Personenminen. Rund 14.000 Hektar, etwa 1% des gesamten Territoriums sollen weiterhin vermint sein. 2008 starben 39 Personen, zwischen 2005 und 2008 insgesamt 171 Personen durch Anti-Personenminen und Blindgänger. Die Zahl der Todesfälle ging in diesen drei Jahren mit jedem Jahr zurück. Des Problems der Minen ist man sich bewusst, zuletzt sprach sich Präsident Medwedew im August 2010 für weitere Minenräumungen in Tschetschenien aus. (Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 19-20)

Die Rebellen

Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Dokku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.

Die Anführer der einzelnen Gruppen ("Dschamaat") nennen sich "Emir". Das traditionelle Rückzugsgebiet in den Wäldern der schwach besiedelten Bergregion im Süden des Landes wird nach wie vor genutzt. Insbesondere die Grenzgebiete zu den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan sind von Bedeutung. Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Dokku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.

www.ris.bka.gv.at Seite 9 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)

Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Vorfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Sowohl bei den Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.

(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14)

Eine weitere Strategie, Rebellen zu bekämpfen, besteht darin, Angehörige vermeintlicher Rebellen unter Druck zu setzen, um diese zur Aufgabe zu bewegen. Nachdem dieses Vorgehen Menschenrechtsorganisationen zufolge in den letzten Jahren zurückgegangen war, wird seit 2008 wieder vermehrt über solche Repressalien berichtet. So etwa dokumentierte die NRO Human Rights Watch zwischen Juli 2008 und Juli 2009 über zwei Dutzend Fälle, bei denen tschetschenische Sicherheitskräfte Häuser von Familien angeblicher Untergrund-kämpfer angezündet haben - als Strafe dafür, dass ein Sohn oder Enkel Widerstandskämpfer sei. Seit Sommer 2009 erhielt Human Rights Watch weitere Berichte über Haus-Niederbrennungen, zuletzt im März 2010 in Schali. Hochrangige lokale Politiker wie Ramzan Kadyrow oder der Bürgermeister von Grosny Muslim Chutschijew sprachen sich explizit für diese Art der kollektiven Bestrafung aus. Des Weiteren gibt es Berichte, denen zufolge Sicherheitskräfte Rebellen zu vergiften versuchen.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 12)

Das Vorgehen der Rebellen

In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Tschetschenische Kämpfer begannen zunehmend auf Terrorakte zu setzen, wie etwa die Geiselnahme im Moskauer Theater Dubrowka 2002, die Geiselnahme an der Schule von Beslan 2004 oder der Angriff auf Naltschik 2005. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.

Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können. Die kleine Gruppengröße (Berichten zufolge fünf bis zehn Kämpfer pro Gruppe) erleichtert es, flexibel zu bleiben, die Standorte häufig zu wechseln und die Infiltration durch Gegner zu erschweren. Regelmäßig - aus Medienberichten zu schließen mehrmals monatlich - kommt es zu Angriffen gegen staatliche Einrichtungen und Sicherheitskräfte, ebenso wie gegen vermeintliche Gegner der Rebellen. Seit 2008 führt die islamistische Rebellenbewegung im Nordkaukasus wieder vermehrt Selbstmordattentate durch, die insbesondere auf lokale Sicherheitskräfte abzielen, jedoch auch zahlreiche zivile Opfer fordern. Nachdem sich im Jahr 2001 die erste so genannte "Schwarze Witwe" in die Luft gesprengt hatte, kam es nicht zuletzt durch die Gründung des Selbstmordkommandos "Riyadus Salihin" ("Gärten der Tugendhaften") durch Schamil Bassajew regelmäßig zu Selbstmordanschlägen. 2004 riss diese Reihe ab, nach einer ungefähr vierjährigen Pause kam es zu einer Wiederbelebung der Riyadus Salihin durch Said Buryatsky (Alexandr Tichomirow) Ende 2008. Im Jahr 2009 kam es ab dem Sommer in Tschetschenien zu mindestens zehn Selbstmordanschlägen. Danach ging deren www.ris.bka.gv.at Seite 10 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Häufigkeit zwar wieder zurück, dennoch kam es auch 2010 zu, je nach Quelle, ein bis zwei Selbstmordanschlägen.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)

Schwächung der Rebellenbewegung

Im letzen Jahr kamen zahlreiche Anführer des Kaukasus Emirats ums Leben, darunter auch tschetschenische. Zuletzt wurde am 21. August 2010 der "Emir von Grosny", Chamsat Schamilew, bei einem Sondereinsatz getötet. Gerade in Tschetschenien selbst gelang es im Gegensatz zu Dagestan, Inguschetien und Kabardino- Balkarien aber nicht, auch bedeutende Führungspersönlichkeiten wie Dokku Umarow, festzunehmen oder zu liquidieren. Ob die Tötung von Führungspersönlichkeiten zu einer Schwächung der tschetschenischen Rebellenbewegung führen würde ist fraglich. Das Beispiel der anderen Republiken zeigt, dass dies zumindest kurzfristig nicht zu einer entscheidenden Schwächung der einzelnen Dschamaat führt. 2009 wurden den offiziellen Angaben zufolge 148 Kämpfer "liquidiert", 290 Kämpfer und Unterstützer wurden verhaftet. Jedoch scheint der Zulauf zur Rebellenbewegung weiterhin stabil zu sein.

Die nordkaukasische Widerstandsbewegung wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert. Radikal- islamisches Gedankengut findet jedoch in Tschetschenien kaum Sympathien in der Bevölkerung, die Islamisten können sich durch den hohen Repressionsdruck nicht frei in der Öffentlichkeit bewegen. Obwohl die radikal- islamische Ausrichtung einige Männer abschrecken soll sich den Kämpfern anzuschließen, scheint die nordkaukasische Rebellenbewegung keine Probleme zu haben, neue Mitglieder zu rekrutieren. Dabei soll es sich um eine neue Generation vor allem junger Männer handeln, die aufgrund des gewalttätigen Vorgehens der lokalen Sicherheitskräfte gegen vermeintliche Rebellen und ihre Angehörige radikalisiert werden. Aber auch junge Frauen schließen sich vereinzelt der Rebellenbewegung an. Dazu kommen sozioökonomische Gründe: Bei der hohen Arbeitslosenrate fehlt vielen jungen Tschetschenen die Perspektive. Das radikal islamistische Gedankengut spielt bei der Rekrutierung eine untergeordnete Rolle, viele werden erst als Mitglied der Untergrundbewegung indoktriniert.

Obwohl die Rekrutierung neuer Mitglieder kein Problem darstellt, gehen den tschetschenischen Kämpfern einigen Beobachtern zufolge zusehends die Ressourcen aus, da es Kadyrow und russischen Sicherheitskräften gelungen sei, ihre Versorgungslinien abzuschneiden. Am 1. August 2010 wurde ein Video von Dokku Umarow veröffentlicht, in dem er seinen Rücktritt erklärte. Am nächsten Tag erklärte er in einem weiteren Video, dass ersteres gefälscht gewesen wäre und er nicht zurücktrete. Seitdem ranken sich die Gerüchte über die Gründe für diese widersprüchlichen Aussagen, zum Beispiel wird gemutmaßt, ob es einen Putsch jüngerer Emire gegeben hat, die Umarow zum Rücktritt gezwungen hatten oder ob Umarow unter Druck stand, weil er als schlechter militärischer Stratege betrachtet wird oder ihm die Schuld an der Schwächung des tschetschenischen Flügels des Emirats gegeben wurde.

Anderen Spekulationen zufolge hatten einige Emire der anderen Republiken nach dem Rücktritt Umarows dessen von ihm ernannten Nachfolger Aslanbek Wadalow (Emir Aslanbek) nicht anerkannt, was Umarow zu diesem "Rücktritt vom Rücktritt" zwang. Einer wiederum anderen Interpretation der Ereignisse zufolge handelte es sich um einen von langer Hand geplanten Coup des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), um Umarows Position als Anführer des Kaukasus Emirats zu unterminieren. Der tschetschenische Emir Aslanbek selbst trat Mitte August als Stellvertreter Umarows (naib), zu dem er erst im Juli 2010 ernannt worden war, zurück. Er und Husein Gakajew, ebenfalls erst im Juli zum Emir des Gebiets Tschetscheniens des Kaukasus Emirats ernannt, erklärten Umarow nunmehr nicht die Treue halten zu können. Dem folgten auch die beiden bekannten, in Tschetschenien aktiven Emire Tarchan und Muchannad, wenngleich sich alle als dem Kaukasus Emirat weiterhin verpflichtet erklärten. Andere Emire des in Kabardino-Balkarien und Karatschajewo- Tscherkessien tätigen Jarmuk Dschamaat und des inguschetischen und des Dagestan Dschamaat hingegen erklärten Umarow weiterhin ihre Loyalität. Diese jüngsten Vorgänge werden vielfach als Spaltung innerhalb der Rebellenbewegung interpretiert.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16-18)

Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen www.ris.bka.gv.at Seite 11 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)

Die Rebellenbewegung erfuhr durch den Verlust hunderter Kämpfer und hochrangiger Kommandeure durch Tod oder Überlaufen eine Schwächung, die sich ab 2003 bemerkbar machte. Dies führte aber aufgrund des nicht abzubrechen scheinenden Zulaufs zur Rebellenbewegung nicht zu einer Ausmerzung dieser, Angriffe auf Sicherheitskräfte werden regelmäßig durchgeführt. Am 29. August 2010 wurde die Heimatstadt Ramzan Kadyrows, Zenteroi, von einer Gruppe von 30 bis 60 islamistischen Kämpfern angegriffen. Überraschend war hier vor allem, dass eine so große Einheit angriff. Der Angriff zeigt aber auch, dass die Rebellen zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind, schließlich gilt Zenteroi als die am besten bewachte Stadt Tschetscheniens.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 18)

Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen

Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Klanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)

Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Tschetschenische Parlamentsabgeordnete, die eine Geiselnahme fürchteten, flüchteten in den zweiten Stock. Russische Parlamentarier, die aus der Ural-Region Swerdlowsk angereist waren, wurden evakuiert. Tschetschenische Polizisten verließen mit blutenden Köpfen das Gebäude. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind. Kadyrow, das von Putin eingesetzte Oberhaupt Tschetscheniens, versuchte den Vorfall herunterzuspielen. Seine Sicherheitskräfte hätten nur 20 Minuten gebraucht, um den Angriff auf das Parlament abzuwehren. Doch nach Medienberichten dauerten die Feuergefechte über eine Stunde.

(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)

Am 6. Juli forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.

(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)

Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:

Der Mord an einer Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial im Juli 2009 zeigt, dass geäußerte Bedenken in Hinblick auf Rechte und Sicherheit der NRO Mitarbeiter derzeit nicht unbegründet sind. Am 15. Juli 2009 wurde Natalja Estemirova nach Inguschetien verschleppt und erschossen. Erwähnt sei auch der Mord an der NRO Mitarbeiterin Salema Sadulaeva ("Let¿s Save the Generation") und ihrem Ehemann Alik Dzhabrailov am 11. August 2009. Die beiden waren in einem Vorort von Grosny erschossen aufgefunden worden. Ob ihr Tod aber tatsächlich mit der Tätigkeit Sadulaevas in der NRO zusammenhängt ist unklar, da auch Vermutungen bestehen, dass der Mord aus Rache an ihrem Ehemann passierte. Unabhängig von den Mordmotiven scheint eine Aufklärung der Morde in allen drei Fällen unwahrscheinlich. www.ris.bka.gv.at Seite 12 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Bereits im Jänner 2009 waren in Moskau auf offener Straße Stanislav Markelov, ein prominenter Menschenrechtsanwalt der zahlreiche Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vertreten hatte, und Anastasiya Baburova, eine junge Praktikantin für die Zeitung "Novaya Gazeta", für die bereits Anna Politkovskaya bis zu ihrem Tod gearbeitet hatte, erschossen worden. Im August 2008 starb der inguschetische Journalist und Anwalt Magomed Yevloev in einem Polizeiauto, nachdem er für eine Einvernahme festgenommen worden war. Somit kann bei Personen, die sich aktiv für Menschenrechte in Tschetschenien oder das Aufzeigen von dort begangenen Menschenrechtsverletzungen einsetzen, davon ausgegangen werden, dass diese im Allgemeinen einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind.

(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 6, 12 und 13)

Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen offiziellen tschetschenischen Einheiten, insbesondere zwischen solchen unter der Kontrolle Kadyrows und jenen unter der Kontrolle von Personen, die gemeinhin als seine persönlichen Gegner bezeichnet wurden, wie zum Beispiel der mittlerweile ermordete Sulim Jamadajew und der nunmehr aus Tschetschenien vertriebene Said-Magomed Kakijew. Bei diesen Zusammenstößen kam es auch zu Todesfällen.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 10)

Versorgungslage

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den Jahren seit 2007 deutlich verbessert. Einige Indizien hierfür liefern die offiziellen Statistiken: Die Durchschnittslöhne in Tschetschenien liegen spürbar über denen in den Nachbarrepubliken. Das laufende föderale Hilfsprogramm zum Aufbau Tschetscheniens sieht 111 Mrd. Rubel (2,5 Mrd. ¿) für die Jahre 2008-2011 vor. Damit sind die Staatsausgaben in Tschetschenien pro Einwohner doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19 und 20)

Wohnsituation

Im Juli 2003 führte die Regierung Kompensationszahlungen ein. Im Rahmen dessen sollten Personen, deren gesamtes Eigentum zerstört worden war, 350.000 Rubel bekommen. Der föderalen Regierung zufolge hatten bis Ende 2004 39.000 Personen solche Kompensationszahlungen erhalten. Zusätzlich zu Regierungsprogrammen unterhalten humanitäre Organisationen Programme zur Beschaffung von Unterkünften. Zwischen 2000 und 2007 wurden in Tschetschenien rund 20.000 Häuser mit der Hilfe humanitärer Organisationen repariert oder aufgebaut.

(BAA - ÖIF, Soziale Infrastruktur in Tschetschenien; August 2009, Seite 9)

Wohnraum bleibt ein großes Problem. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden während der kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1994 über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten, oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Verschiedene Schätzungen, u.a. des ehemaligen www.ris.bka.gv.at Seite 13 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Menschenrechtsbeauftragten des Europarates Gil Robles, gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 20)

Nahrungsversorgung

Der Bazar in Grosny wurde wiedereröffnet und es ist praktisch alles erwerbbar, allerdings nicht immer zu leistbaren Preisen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat seine Aufmerksamkeit weg von Hilfsleistungen hin zum Aufbau von eigenständiger Versorgung gelenkt. So wurden Projekte für die Förderung der Eröffnung von kleinen Geschäften - z.B. Schuhreparaturwerkstätten, Bäckereien, Verarbeitung von Wolle und Herstellung von Kleidung - ins Leben gerufen.

Auf Grund zahlreicher Landminen und der bestehenden Bodenverschmutzung ist es in Tschetschenien nur schwer möglich, Landwirtschaft oder Viehzucht zu betreiben. Haupteinnahmequelle ist der Handel, viele Familien leben auch davon, dass Familienangehörige Geld aus anderen Teilen Russlands oder dem Ausland nach Tschetschenien schicken. Berichten des World Food Programm zu Folge ist die Versorgungslage in Tschetschenien jedoch nach wie vor schlecht. Etwa 80% der Betroffenen würden unter der Armutsgrenze der Russischen Föderation leben. Überdies seien 10% der Kinder akut unterernährt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010)

Das Notfall- und Rehabilitationsprogramm im Nordkaukasus soll für die Ernährungssicherheit und Ernährung durch "Empowerment" gefährdeter Bevölkerungsgruppen sorgen. Diese Ziele sollen dadurch erreicht werden, indem man die landwirtschaftliche und die auf Viehzucht basierende Produktion wiederaufnimmt und gleichzeitig verstärkt neue Kenntnisse über Ernährung und Klein-Farmbetriebe anwendet.

Die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation) nahm am Inter-Agency-Transitional-Arbeitsplan für den Nordkaukasus 2007 teil, der die Durchführung von Aktivitäten zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und Stärkung ländlicher Existenzmöglichkeiten in der Region beabsichtigt. Insbesondere gehören zu den wichtigsten Zielen der FAO im Bereich der Wiederaufnahme der landwirtschaftlichen Produktion die Wiedereingliederung von sozial benachteiligten Gruppen, die Bereitstellung von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln für Einkommen schaffende Maßnahmen, der Wiederaufbau der wichtigen landwirtschaftlichen Infrastruktur, die Gewährung von Dienstleistungen sowie die Stärkung der institutionellen Kapazitäten in der Landwirtschaft.

Landwirtschaftliche Projekte wurden in der Region durch die 2006 von der FAO errichtete Emergency and Rehabilitation Coordination Unit (ERCU) umgesetzt. Laufende FAO-Aktivitäten beinhalten derzeit die Förderung der Gewächshausproduktion und die Vermarktung von hochwertigen Nutzpflanzen. Die FAO realisiert gerade zwei Projekte, die sich mit Gewächshausproduktion beschäftigen, von denen ein Projekt auch eine kleine Imkerei beinhaltet. Diese Projekte zielen auf Grundversorgungsempfänger ab, die vom Konflikt betroffen sind, mit dem Ziel der Verringerung der Abhängigkeit von externer Hilfe in Tschetschenien und Inguschetien durch vielversprechende Ertragsmöglichkeiten und der Gründung der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Die Herangehensweise der FAO, die sich daran orientiert Klein-Agrarbetriebe zu errichten, stimuliert lokale kleine landwirtschaftliche Märkte.

(Homepage der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation), Zugriff am 11. Jänner 2011, http://www.fao.org/countries/55528/en/rus/)

Arbeitslosigkeit und soziale Lage

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den Jahren seit 2007 deutlich verbessert. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme. Wichtigstes soziales Problem ist die Arbeitslosigkeit und große Armut weiter Teile der Bevölkerung. Nach Schätzungen der UN www.ris.bka.gv.at Seite 14 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 waren 2008 ca. 80% der tschetschenischen Bevölkerung arbeitslos und verfügen über Einkünfte unterhalb der Armutsgrenze (in Höhe von 2,25 USD/Tag). Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum, weil die Industrie überwiegend zerstört ist. Minen verhindern die Entwicklung landwirtschaftlicher Aktivitäten. Geld wird mit illegalem Verkauf von Erdöl und Benzin verdient; zahlreiche Familien leben von Geldern, die ein Ernährer aus dem Ausland schickt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19 und 20)

Heute erreicht die Arbeitslosenrate in Tschetschenien 30 Prozent. Putin rief dazu auf, die Wirtschaft der Nordkaukasus-Region anzukurbeln. Um den Rückstand gegenüber anderen Regionen aufzuholen, brauche der Nordkaukasus laut Aussagen Putins rund zehn Prozent Wirtschaftswachstum jährlich und sei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit äußerst wichtig. Innerhalb von zehn Jahren sollen laut Putin mindestens 400.000 neue Arbeitsplätze im Nordkaukasus entstehen. Beim Wiederaufbau gibt es bereits Erfolge zu verzeichnen. In den vergangenen zwei Jahren sind in Tschetschenien beispielsweise 53 Schulen und 35 medizinische Einrichtungen in Betrieb genommen worden, deren Bau der Staat finanziert hat.

(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 4)

Medizinische Versorgungssituation

Die Gesundheitsversorgung stellt auch in dem "Zielprogramm für den sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau 2008-2011" einen Schwerpunkt dar. Insbesondere seit 2006 zeigen sich im Gesundheitssektor erste Anzeichen einer Erholung. Diese Erholung ist an verschiedenen Kennzahlen ersichtlich: Auf 10.000 Einwohner kamen im Jahr 2007 73,2 Krankenhausbetten, 22,5 Ärzte, sowie 66,7 weiteres medizinisches Personal. Insgesamt gab es 2007 62 Krankenhäuser, 79 ambulant behandelnde Polikliniken, 185 Stellen für ärztliche Betreuung und Geburtshilfe und fünf Zentren für ansteckende Krankheiten. Dies stellt in jedem der Bereiche einen signifikanten Anstieg im Vergleich zum Jahr 2006 dar.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, medizinische Versorgung vom 30.11.2009, Seite 6)

Zur aktuellen Lage der medizinischen Versorgung liegen unterschiedliche Einschätzungen vor. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt Grosny - waren medizinische Einrichtungen weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Nach Angaben der VN-Entwicklungshilfeorgansiation UNDP entspricht die Dichte der Polikliniken in einigen Bezirken nur 20 % des russischen Durchschnitts. Dabei treten einige stressbedingte Krankheiten laut tschetschenischem Gesundheitsministerium zehn- bis fünfzehnmal häufiger auf als vor dem Krieg. Nach Angaben des IKRK soll die Situation der Krankenhäuser für die medizinische Grundversorgung dank internationaler Hilfe inzwischen aber ein Niveau erreicht haben, das dem durchschnittlichen Standard in der Russischen Föderation entspricht. Problematisch bleibt jedoch auch laut IKRK die Personallage im Gesundheitswesen, da viele Ärzte und medizinische Fachkräfte Tschetschenien während der beiden Kriege verlassen haben.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 20f)

Diverse Erkrankungen wie Hepatitis C, Coronare Herzkrankheiten, Posttraumatische Belastungsstörungen und sogar DES-Stent-Implantationen etc. können laut Anfragebeantwortung der Staatendokumentation in der Russischen Föderation (und in der Tschetschenischen Republik) behandelt und nachversorgt werden. In Tschetschenien ist die Versorgung mit medizinischen Spezialisten noch immer unzureichend und komplizierte Fälle werden für die Behandlung und Nachsorge von ihren örtlichen Kliniken in die nächsten Städte (Krasnodar, Rostov-on-Don, Machatschkala) überwiesen.

(Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 10.08.2010, Seite 2)

Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist weiterhin sehr einfach, jedoch ist es vor allem seit 2002 zu umfassendem Wiederaufbau durch Regierungsprogramme und Programme Internationaler Organisationen gekommen, die insbesondere seit 2006 auch tatsächlich merkbar sind.

www.ris.bka.gv.at Seite 15 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Die offiziellen Statistiken zeigen, dass der Wiederaufbau der Infrastruktur für medizinische Versorgung in den letzten Jahren fortgeschritten ist. Krankenhäuser und Polikliniken wurden wieder aufgebaut. Auch psychologische Behandlungsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich, wobei bei der Betreuung von traumatisierten Kindern besonders UNICEF engagiert tätig ist. Internationale Organisationen stellen mittlerweile nicht mehr nur Nothilfe zur Verfügung, sondern fachmedizinische Versorgung sowie auch Schulungsmaßnahmen für medizinisches Personal vor Ort. Einzelne von Organisationen unterstützte Programme, wie etwa das Tuberkuloseprogramm von Ärzte ohne Grenzen, werden schrittweise an lokale Stellen übergeben. Diese nachhaltigen Maßnahmen sind weitere Hinweise darauf, dass sich die Lage in gewissen Bereichen auch nach Einschätzung dieser Organisationen mittlerweile soweit gebessert hat, dass solch nachhaltige Maßnahmen bzw. sogar ein Rückzug ihrerseits möglich sind.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, medizinische Versorgung vom 30.11.2009, Seite 10)

Durch die Erhöhung der Quoten auf medizinischen Bildungseinrichtungen versucht man dem Personalmangel entgegenzuwirken. Auch die von elf Internationalen Organisationen durchgeführten Schulungsmaßnahmen können zu einer sukzessiven Besserung des Personalmangels beitragen. Zumindest die medizinische Grundversorgung hat bereits wieder das Vorkriegsniveau erreicht. Dies ist in Anbetracht der Tatsache, dass Monate nach Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges - also vor weniger als zehn Jahren - rund 70% der medizinischen Infrastruktur als zerstört galten, nicht unbeachtlich. Die medizinische Versorgung hat in Tschetschenien noch starken Aufholbedarf, wobei die medizinische Grundversorgung bereits als positives Beispiel für gelungenen Wiederaufbau genannt werden kann. Die diesbezüglich bereits erfolgten Fortschritte sind einerseits auf Unterstützungsleistungen Internationaler Organisationen, andererseits auch auf staatliche Investitionen zurückzuführen. Weitere zukünftige Investitionen sowie positive Entwicklungen zur Linderung des Personalmangels, die sich unter anderem durch erhöhte Quoten in Bildungseinrichtungen abzeichnen, können, sofern sie weitergeführt werden mittel- bis langfristig zu einer Rückkehr zum Vorkriegszustand führen.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, medizinische Versorgung vom 30.11.2009, Seite 10-11)

Psychologische Betreuung in Tschetschenien

Der Nichtregierungsorganisation Vesta zufolge können psychische Erkrankungen beispielsweise in dem Republiksambulatorium für Neuropsychologie (Grosny), in dem Republikskrankenhaus "Samaschkin" (Zakan- Jurt im Bezirk Atschchoi-Martan) und im Darbachin-Republikskrankenhaus (Braguny im Bezirk Gudermes) behandelt werden. Auch Internationale und Nichtregierungsorganisationen sind im Bereich der psychiatrischen Versorgung tätig: UNICEF entwickelte in Tschetschenien Ende 2005 ein neues Programm, um Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und ihren Familien zu behandeln.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, medizinische Versorgung vom 30.11.2009, Seite 9)

Rückkehrer

Derzeitige Situation von Rückkehrern

Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Ebenso liegen dem Auswärtigen Amt keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob Russen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst ist, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren.

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen hat etwas abgenommen, wenngleich russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit berichten. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden statt, haben aber an Intensität abgenommen. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes sind keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen www.ris.bka.gv.at Seite 16 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt. Kontrollen von kaukasisch aussehenden oder aus Zentralasien stammenden Personen erfolgen seit Jahresbeginn 2007 zumeist im Rahmen des verstärkten Kampfes der Behörden gegen illegale Migration und Schwarzarbeit. Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen wirken sich im Zusammenhang mit anti- kaukasischer Stimmung besonders stark auf die Möglichkeit von aus anderen Staaten zurückgeführten Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird von Regierungsseite nahegelegt.

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u.a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 30 und 31)

Mittlerweile sind von den nach Kriegsausbruch weit über 200.000 Flüchtlingen, die vor allem nach Inguschetien geflüchtet waren, die meisten nach Tschetschenien zurückgekehrt. Auch von den innerhalb Tschetscheniens vertriebenen Personen sind die meisten wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Laut UNHCR konnten seit dem Jahr 2002 zehntausende Binnenflüchtlinge aufgrund der Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage und der bereits erfolgten und laufenden Wiederaufbauprogramme in ihre Häuser zurückkehren. Anfang 2009 schätzte das Flüchtlingshochkommissariat die Zahl der weiterhin Binnenvertriebenen auf 79.000.

Auch ein Anstieg der Anzahl freiwilliger Rückkehrer aus Österreich in die Russische Föderation ist festzustellen. 2008 kehrten in den ersten zehn Monaten 1.196 Personen aus Europa in die Russische Föderation zurück (hiervon 173 aus Österreich). Zwischen 2003 und 2007 kehrten insgesamt 1.485 Personen zurück. Hierbei handelt es sich allerdings nur um mit der Unterstützung der IOM (International Organisation for Migration) zurückgekehrte Personen, die tatsächliche Gesamtzahl liegt vermutlich höher. 75% der (durch IOM unterstützten) Rückkehrer in die Russische Föderation kehrten 2008 nach Tschetschenien zurück, 17% gingen nach Dagestan, 3% nach Inguschetien. Tschetschenen kehren derzeit auch aus Moskau und anderen Teilen der Russischen Föderation nach Tschetschenien zurück. Mit Unterstützung von IOM kehrten 2009 insgesamt 918 Personen aus Österreich in die Russische Föderation zurück. Aus Österreich kehrten darunter mit Unterstützung des VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) 2008 69 Personen, 2009 303, und in den ersten vier Monaten des Jahres 2010 64 Personen nach Tschetschenien zurück.

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010)

Frauen als Rückkehrer

Frauen, die nach Tschetschenien zurückkehren, können mit sozialen Beihilfen im Rahmen der Gesetzgebung der Russischen Föderation rechnen. Sozialhilfe und staatliche Zuwendungen stellen neben offiziellen Arbeitslöhnen und Einkommen aus semi-formellen, privaten oder unregelmäßigen Beschäftigungsformen eine wichtige Einkommensquelle für tschetschenische Haushalte dar. Dies gilt insbesondere für die sozial schwächsten sozialen Gruppen, zu denen unter anderem Familien ohne Männer gehören. Neben der auf föderaler Ebene geregelten Sozialversicherung (Renten, Krankenversicherung, Mutterschutz, Arbeitslosigkeit) bestehen auch regional implementierte, beitragsfreie Sozialhilfeprogramme, beispielsweise Kinderbeihilfe, Wohnbeihilfe oder Beihilfen für Invalide. Im Rahmen dieser beitragsfreien regionalen Programme besteht auch eines für Familienmitglieder von Kriegsveteranen und verstorbenen Soldaten, diese Empfängergruppe umfasste 2008 3.163 Personen. Für das letzte Quartal 2008 lag das offizielle Mindestexistenzlevel in der Republik Tschetschenien bei 3.842 Rubel pro Person. Für die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter betrug das Minimum 4.202 Rubel, für Kinder war das Minimum bei 3.594 Rubel festgesetzt.

www.ris.bka.gv.at Seite 17 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19)

Soziale Lage der Kinder

Die soziale Lage der Kinder und Jugendlichen in Russland hat sich - auch aufgrund besserer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen - seit den 90er Jahren kontinuierlich verbessert. Das VN-Kinderhilfswerk UNICEF weist darauf hin, dass es in ganz Russland derzeit zwischen 20.000 und 100.000 "Straßenkinder" gebe. In den letzten Jahren ist ein Rückgang der Zahl der Straßenkinder zu verzeichnen. Nach aktuellen, nach Einschätzung der Botschaft glaubhaften, Schätzungen von UNICEF gibt es in Russland mehr als 730.000 Kinder ohne elterliche Fürsorge, von denen 180.000 Kinder in staatlichen Einrichtungen wohnen. Die öffentliche materielle Fürsorge für diese Kinder ist unzureichend. Über Zwangsarbeit von Kindern in Russland ist dem Auswärtigen Amt nichts bekannt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 15)

In Tschetschenien "gehören" bei Scheidungen bzw. im Falle des Todes eines Mannes dessen Kinder den Bräuchen folgend ihm bzw. seiner Familie. Es besteht jedoch in der Praxis die Möglichkeit für Frauen, sich an Gerichte zu wenden, die im Normalfall zu Gunsten der Frau entscheiden. (Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Seite 4-5)

Grundsätzlich gilt in Tschetschenien die allgemeine Schulpflicht. Bis auf wenige Ausnahmen besuchen alle Kinder die Schulen. Es fehlt jedoch an Schulmaterialien, häufig können keine warmen Mahlzeiten ausgegeben werden, die Klassen sind zu groß, weil immer noch viele Schulgebäude zerstört sind. Im Moment werden jedoch 142 von 437 Schulen renoviert.

(Gesellschaft für bedrohte Völker: Die Menschenrechtslage in den Nordkaukasusrepubliken, Juni 2010, Seite 14)

Innerstaatliche Fluchtalternative

Die Reise bzw. der Aufenthalt von Personen aus den Krisengebieten im Nordkaukasus in andere Teile der Russischen Föderation ist grundsätzlich möglich, wird aber sowohl durch Transportprobleme als auch durch fehlende Aufnahmekapazitäten erschwert. Wer dazu die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch nehmen muss, kann bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür begegnen. In großen Städten (z.B. in Moskau und St. Petersburg) wird der Zuzug von Personen restriktiv reguliert. Dies beschränkt im Zusammenhang mit der antikaukasischen Stimmung besonders stark die Möglichkeit zurückgeführter Tschetschenen, sich legal dort niederzulassen. Der Botschaft Moskau sind Fälle von Tschetschenen in Moskau bekannt, die gegenüber ihren Vermietern ihre Volkszugehörigkeit verheimlichten und sich stattdessen als Tartaren ausgaben, weil sie sich dadurch weniger Schwierigkeiten bei ihrer Registrierung erhofften. Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Tschetschenen landesweit, insbesondere in den Großstädten, häufig die Registrierung verweigert wird. In seinem Jahresbericht 2008 kritisiert er das noch ungelöste Problem von tschetschenischen Pensionären, deren Arbeitsdokumente während der Tschetschenien- Kriege oder im Rahmen von Terrorbekämpfungsmaßnahmen in Tschetschenien verloren gegangen sind, und die vor allem außerhalb Tschetscheniens daher keine Rentenansprüche nachweisen können.

Es ist darauf hinzuweisen, dass aus den Nordkaukasusrepubliken stammende Personen auch bei Übersiedlung in andere Teile Russlands grundsätzlich weiterhin dem Zugriff der Behörden ihrer Herkunftsregion unterworfen sind. Den regionalen Strafverfolgungsbehörden ist es möglich, auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Föderationssubjekten Personen in Gewahrsam zu nehmen und in ihre Heimatregion zu verbringen. Nach glaubhaften Berichten von Menschenrechts-NGOs wie Memorial wird diese Möglichkeit regelmäßig genutzt; z.B. haben tschetschenische Ermittler am 05.11.2009 in Moskau Arbi Chatschukajew, Leiter der NGO "Prawo" (Recht), in Gewahrsam genommen und zwangsweise zu einer Vernehmung nach Grosny verbracht; am 06.11.2009 wurde er wieder freigelassen. Ihm wurde Nichterscheinen bei einem Vernehmungstermin als Zeuge eines Raubüberfalls vorgeworfen; Menschenrechtsverteidiger sehen hingegen eine Verbindung zu der kurz zuvor erfolgten Tötung seines Bruders als mutmaßlicher Rebell bei einer Milizaktion.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 23 und 24)

www.ris.bka.gv.at Seite 18 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Nichtregierungsinstitutionen berichten auch, dass Registrierungsbehörden vereinzelt nicht kooperieren, wenn Tschetschenen sich in ihrem Kreis registrieren lassen oder dort wohnen möchten. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Praxis der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Ihr Lebensstandard hängt stark davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Es kommt immer wieder zu Festnahmen wegen fehlender Registrierung oder aufgrund manipulierter Ermittlungsverfahren.

Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens vor allem in den nordkaukasischen Nachbarrepubliken Dagestan und Kabardino-Balkarien sowie in Südrussland (Regionen Krasnodar, Stawropol, Rostow, Astrachan). Dort ist eine Registrierung grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil dort Wohnraum, was eine Registrierungsvoraussetzung darstellt, erheblich billiger ist. Eine Registrierung ist in vielen Landesteilen oft erst nach Intervention von Nichtregierungsorganisationen, Duma- Abgeordneten, anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung möglich. Eine Registrierung als Binnenflüchtling (IDP, internally displaced person) und die damit verbundene Gewährung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungen wie Wohnung, Schule, medizinische Fürsorge, Arbeitsmöglichkeit wird in der Russischen Föderation nach glaubhaften Berichten von amnesty international und des UNHCR regelmäßig verwehrt. Es ist für russische Staatsbürger grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor - wenn auch in stark verringerter Zahl - Kontrollposten der föderalen Truppen oder der sog "Kadyrowzy", die gewöhnlich eine "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. Sie beträgt für Bewohner Tschetscheniens in der Regel zehn Rubel (also ungefähr 25 Cent); für Auswärtige - auch Tschetschenen - liegt sie höher, z.B. an der inguschetisch-tschetschenischen Grenze bei 50 - 100 Rubel (etwa 1,25 - 2,50 Euro).

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 31 und 32)

Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass, ob eine Ansiedlung in anderen Teilen der Russischen Föderation möglich ist, bei Fehlen staatlicher Verfolgung im Einzelfall zu prüfen ist. Dabei spielen angesichts von möglichen Schwierigkeiten bei der Registrierung ein Netzwerk von Verwandten und Bekannten sowie die Möglichkeit der Kontaktierung von NGOs eine Rolle. Nicht registrierte Tschetschenen können allenfalls in der tschetschenischen Diaspora innerhalb Russlands überleben, wobei wiederum Faktoren wie Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse relevant sein können.

Das deutsche Bundesverwaltungsgericht sieht eine inländische Fluchtalternative an einem verfolgungsfreien Ort dann als gegeben an, wenn die betreffende Person an diesem Ort durch eigene (allenfalls wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende) Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite - allenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten - das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann (Beschluss v. 21.5.2003, BVerwG 1 B 298.02). Nicht zumutbar ist hingegen eine entgeltliche Erwerbstätigkeit für kriminelle Organisationen, die in der fortgesetzten Begehung oder der Teilnahme an Verbrechen besteht (Beschluss v. 17.5.2006, BVerwG 1 B 100.05).

Eine zumutbare Fluchtalternative liege dann vor, wenn die Person am Ort der Fluchtalternative - auch ohne förmliche Gewährung eines Aufenthaltsrechtes und ohne Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen in zumutbarer Weise - etwa im Rahmen des Familienverbandes (oder der sog. "Schattenwirtschaft") ihre Existenz sichern kann. Ein Leben in Illegalität, das jederzeit die Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung in sich birgt, stellt hingegen keine zumutbare Fluchtalternative dar (Urteil v. 1.2.2007, BVerwG 1 C 24.06).

Das Schweizer Bundesverwaltungsgericht sieht eine Rückkehr in die Russischen Föderation - ganz allgemein - auch für Tschetschenen (die eine persönliche Verfolgung nicht glaubhaft machen können) für zumutbar an, weil dort kein Bürgerkrieg herrscht und auch nicht von einer Situation allgemeiner Gewalt gesprochen werden kann (Urteil vom 18.5.2007, D-5420/2006).

Analyse der Staatendokumentation vom 20.04.2011: Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien

1. Einleitung

www.ris.bka.gv.at Seite 19 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Die Verfolgung von Familienmitgliedern und Unterstützern von Widerstandskämpfern ist in der Russischen Föderation eine der Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus im Nordkaukasus. Es besteht die Möglichkeit, Unterstützer des Widerstands auf Grundlage des Bundesgesetzes über Maßnahmen gegen den Terrorismus strafrechtlich - also legal - zu verfolgen. In der Republik Tschetschenien werden aber auch Unterstützer und Familienmitglieder durch gesetzlich nicht geregelte Kollektivbestrafung - also illegal - verfolgt. 2009 wurde daher in einer Analyse der Staatendokumentation eine Gefährdungseinschätzung getroffen, inwieweit Familienmitglieder und Unterstützer des Widerstands in der Republik Tschetschenien behördlicher Verfolgung ausgesetzt sein können.2 Zusammengefasst wurden folgende Schlussfolgerungen getroffen: Eine staatliche Verfolgung von Personen allein aufgrund der Tatsache, dass diese mit Widerstandskämpfern des ersten Tschetschenienkrieges oder der ersten Jahre des zweiten Krieges verwandt sind oder zu dieser Zeit den Widerstand unterstützten, sei unwahrscheinlich. Diese Personen mussten und müssen aber Achmad und RamsanKadyrow ihre Loyalität erklären und beweisen. Dies gelte auch für die ehemaligen Kämpfer selbst. Viele dieser Kämpfer wurden amnestiert und die meisten davon wurden hierauf verpflichtet - sicher nicht immer freiwillig - in den lokalen Sicherheitskräften zu arbeiten. Personen, die aktuell den tschetschenischen Widerstand unterstützen oder mit 2009 noch aktiven Kämpfern verwandt sind können nur auf Verdacht hin behördlicher Druckausübung und Repressalien ausgesetzt sein. Im Folgenden sollen etwaige Änderungen der letzten eineinhalb Jahre aufgezeigt werden, um beurteilen zu können, inwieweit die im September 2009 getätigten Einschätzungen weiterhin Gültigkeit besitzen.3 Hierzu wird zunächst auf die Möglichkeiten der strafrechtlichen Verfolgung eingegangen, und hernach auf Formen der Kollektivbestrafung. Die Einschätzung einer Gefahr behördlicher Verfolgung bezieht sich ausschließlich auf die Republik Tschetschenien, nicht auf das Gebiet der gesamten Russischen Föderation. Inwieweit bei einer etwaigen Verfolgung in Tschetschenien eine Innerstaatliche Fluchtalternative im restlichen Russland offen steht, wird in der vorliegenden Analyse nicht behandelt.

2. Unterstützer und Familienmitglieder

Obwohl "Familienmitglieder" ja gleichzeitig "Unterstützer" von Widerstandskämpfern sein können und vermutlich oft sind, wird in der vorliegenden Analyse zwischen diesen beiden Gruppen unterschieden. Die Unterscheidung erscheint zweckmäßig, da sich in der Analyse 2009 zeigte, dass von einer bestimmten Art der Verfolgung, nämlich der Kollektivbestrafung, vorwiegend "Familienmitglieder" betroffen sind, ganz ungeachtet dessen, ob diesen eine bestimmte, unter Umständen sogar strafrechtlich relevante Hilfeleistung an die Rebellen nachgewiesen - oder zumindest vorgeworfen - wird. Im Gegensatz hierzu ist in Berichten in Zusammenhang mit Verhaftungen, die in strafrechtlicher Verfolgung münden können, zumeist von "Unterstützern" oder "Helfern" die Rede. In Nebensätzen erwähnt wird freilich gelegentlich, dass diese "Unterstützer" Verwandten im Wald helfen. "Familienmitglieder" soll den engeren Familienkreis bezeichnen, womit die Eltern, Onkeln und Tanten und Cousins des (mutmaßlichen) Widerstandskämpfers gemeint sind. Auch Ehegattinnen zählen zu den Familienmitgliedern; diese leben in Tschetschenien üblicherweise in oder in der unmittelbaren Nähe des Hauses der Eltern des Mannes. "Unterstützer" meint hier Personen, die den Rebellen unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen nicht-militärisch Hilfe zukommen lassen, etwa durch die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung oder Medikamenten und Verbandsmaterialien, und denen aufgrund dieser (mutmaßlichen) Hilfeleistung strafrechtliche Verfolgung droht.

3. Das Bundesgesetz über Maßnahmen gegen den Terrorismus und die Amnestien

In der Russischen Föderation kann auf gesetzlicher Grundlage gegen Unterstützer des tschetschenischen/nordkaukasischen Widerstands vorgegangen werden. Die Beihilfe zum Terrorismus ist durch Bundesgesetz unter Strafe gestellt.4 Gesetze und Rechtsnormen, sowie die aufgrund dieser verhängten Strafen im Detail zu analysieren liegt nicht im Rahmen der Möglichkeiten dieser Arbeit. Lediglich in Grundzügen soll dargestellt werden, welche rechtlichen Möglichkeiten grundsätzlich bestehen und ob diese auch genutzt werden.

3.1. Das Bundesgesetz über Maßnahmen gegen den Terrorismus

Gemäß Art. 3 (2) e) und f) des Bundesgesetzes über Maßnahmen gegen den Terrorismus gelten als terroristische Betätigung unter anderem die "informatorische oder andere Unterstützung zur Planung, Vorbereitung oder Umsetzung eines terroristischen Aktes" und die "Popularisierung terroristischer Ideen, und die Verbreitung von Materialien oder Informationen, die zu terroristische Betätigung aufstacheln oder die Ausübung solcher Betätigungen begründen oder rechtfertigen.5 Im Strafgesetzbuch wird das Strafmaß geregelt.

Im Juli 2010 schickte Präsident Medwedew ein Gesetz zur Bewilligung an die Staatsduma, demgemäß im Strafgesetzbuch das Strafmaß für Terroristen und ihre Komplizen ausgeweitet werden sollte. Zudem sollte die Verurteilung von Personen, die angeklagt sind Terroristen direkt zu unterstützen oder öffentlich unterstützende Aussagen treffen, erleichtert werden. Von Experten wurde heftig kritisiert, dass aufgrund des großen Definitionsspielraumes des Begriffs "Beihilfe" Medienvertreter relativ einfach als Terrorhelfer abgeurteilt www.ris.bka.gv.at Seite 20 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 werden könnten. Ungeachtet dessen unterzeichnete Medwedew im Dezember 2010 das Bundesgesetz, das somit gültig ist. Das derzeitige Strafgesetzbuch sieht nunmehr in Art. 205.1 Abs. 3 für die "Beihilfe zur Begehung einer der im Artikel 205 genannten Straftaten", also die Beihilfe zu terroristischen Akten ein Strafmaß von 8 bis 20 Jahren Freiheitsentzug vor. Als "Beihilfe" versteht man in dem Artikel vorsätzliche Beteiligung an der Begehung einer Straftat durch - Ratschläge, Hinweise oder das Zur Verfügung Stellen von Informationen, Mitteln oder Waffen für die Begehung der Straftat oder durch das Beseitigen von Hindernissen für die Begehung der Straftat, aber auch - das Versprechen, den Straftäter, Mittel oder Waffen zur Begehung der Straftat, Spuren der Straftat oder Gegenstände, die auf kriminellem Wege beschafft wurden, zu verbergen und auch als das Versprechen, diese Gegenstände zu erwerben oder zu veräußern.

3.2. Festnahmen und Verurteilungen

In den letzten Jahren kommen aus Tschetschenien, sowie auch aus anderen Republiken des Nordkaukasus, regelmäßig Berichte über die Festnahme von Personen, die den Widerstand unterstützt haben sollen. Einige der Festgenommenen sollen für die lokalen Sicherheitskräfte tätig gewesen sein.9 Zu den Vorwürfen zählen sowohl das Unterstützen der Rebellen mit Nahrungsmitteln, Kleidung oder Unterkunft, als auch mit Feuerwaffen und Sprengstoffen. In den ersten elf Monaten 2010 wurden Zeitungsberichten zufolge in Tschetschenien 180 Helfer von Rebellen festgenommen. Im Jänner und Februar 2011 sollen es 38 Personen gewesen sein, die für die mutmaßliche Teilnahme an oder Beihilfe für "Illegale bewaffnete Formationen" - so die Bezeichnung der Behörden für die Widerstandsgruppen im Nordkaukasus - festgenommen wurden, und auch im März kam es zu Festnahmen. Die Angaben über die Anzahl der Festnahmen variieren teilweise deutlich, je nachdem ob sie von tschetschenischen oder russischen Behörden stammen. In den deutsch- und englischsprachigen Quellen wird nicht ausdrücklich berichtet, auf welcher gesetzlichen Grundlage diese Unterstützer verhaftet wurden, sondern lediglich, dass ein "Straffall eröffnet" wurde. Vermutlich werden aber die beiden oben genannten Gesetze als Grundlage für etwaige Strafverfahren herangezogen. Inwieweit diese Personen mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen können oder wie viele davon letztendlich verurteilt wurden, konnte nicht eruiert werden. Einzelne Berichte belegen jedoch, dass es zu Verurteilungen kommt. So wurde etwa 2010 ein Hacker für die Komplizenschaft mit den Rebellen zu zweieinhalb Jahren Haft und einer Geldstrafe von 35.000 Rubel verurteilt wurde.

3.3. Beschwerdemöglichkeiten

In Terrorismusfällen sind keine Geschworenengerichte möglich. Die russischen Richter sind trotz mehrfacher Gehaltserhöhungen korruptionsanfällig und trotz der Stärkung ihrer Stellung durch Strafprozessreformen in den letzten Jahren weiterhin dem Druck der Exekutive und Sicherheitskräfte ausgesetzt. Vor allem in ländlichen Gegenden ist der unzulässige Einfluss von Politik und Prozessparteien auf die Strafprozesse besorgniserregend. 2010 wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in 84 Fällen eine Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren festgestellt.

4. Exkurs: Amnestien

Die lokal erlassenen Amnestien können ebenfalls zu den Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung gezählt werden, die Unterstützer und Familienmitglieder direkt oder indirekt betreffen können. Offiziell wurden zwischen 1997 und 2006 viermal offizielle Amnestien für Widerstandskämpfer erlassen, die teilweise auch von Unterstützern des Widerstands genutzt wurden. Zusätzlich gewährten Achmad und Ramsan Kadyrow Kämpfern inoffiziell persönlich Amnestien, was den Kadyrows nicht nur die Loyalität dieser "Zurückgekehrten" sicherte, sondern von ihnen auch zum Auffüllen der (privaten und offiziellen) Truppen genutzt wurde. Nachdem Ramsan Kadyrow im Mai 2009 nach einem Anschlag auf das Innenministerium in Grosny erklärte, reuigen Rebellen ab sofort keine Amnestie mehr zu gewähren, sprach er sich im Sommer 2010 wiederum für Amnestien aus.16 Berichte über offizielle Straferlässe in Tschetschenien gab es seither keine. Dennoch ist vorstellbar, dass Kämpfern weiterhin "graue" Amnestien gewährt werden. Diese gehen vermutlich auch mit dem bereits 2009 dokumentierten Zwang, den offiziellen Sicherheitskräften beizutreten, einher. Relevant sind diese Amnestien für Unterstützer und Familienmitglieder in zweierlei Hinsicht: Einerseits hatten in früheren Jahren auch Unterstützer Amnestien in Anspruch genommen. Andererseits wird aufgrund des Kollektivdenkens - hierzu sogleich im nächsten Kapitel - angenommen, dass ein Kämpfer der einen Straferlass in Anspruch nimmt auch die Loyalität seiner Familienmitglieder zu gewährleisten hat. Daher kann davon ausgegangen werden, dass Familienmitglieder nicht für die vergangenen Taten eines amnestierten Verwandten von Behörden zur Verantwortung gezogen werden. Fälle von Blutrache, die sich zwar im privaten abspielen, teilweise von Sicherheitskräften unter dem Deckmantel ihrer offiziellen Position ausgeübt werden, können deshalb aber nicht ausgeschlossen werden.

5. Kollektive Verantwortung

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Das Kollektiv spielt in der tschetschenischen Kultur eine wichtige Rolle. Clanzugehörigkeit und Familienehre werden traditionell sehr hoch gehalten. Jeder Einzelne hat die Familienehre aufrechtzuerhalten und kann durch eine Entgleisung Schande über die gesamte Familie bringen. Wenngleich es kriegsbedingt zu einem gewissen Sittenverfall gekommen sein mag, kommt Clans und persönlichen Banden weiterhin große Bedeutung zu; aus dem Denken kollektiver Verantwortung entstandene Bräuche haben weiterhin Gültigkeit. So können bei der heute noch ausgeübten Blutrache auch (männliche) Verwandte eines Täters für dessen Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Kollektivstrafen sind in Tschetschenien auch in einem weiteren Zusammenhang nicht unbekannt: Im Verlauf der Eroberung des Nordkaukasus und später als dieser bereits Teil des Russischen Reiches/der Sowjetunion war, wurde von russischer Seite Kollektivbestrafung angewandt wurden. Die Deportation hunderttausender Tschetschenen 1944 für deren angebliche Kollaboration mit den deutschen Nationalsozialisten wird oftmals als Beispiel solcher Kollektivstrafe genannt. Ferner wurden während der beiden jüngsten Kriege in Tschetschenien Personen für Vergehen von Verwandten bestraft. Und auch heute brechen Berichte über Repressionen gegenüber Unterstützern und insbesondere gegenüber Familienmitgliedern von Widerstandskämpfern nicht ab.19 In den letzten Jahren wurde die Tradition kollektiver Verantwortung immer wieder hervorgekehrt, und Kollektivbestrafung wiederholt und in aller Deutlichkeit von hochrangigen Mitgliedern der tschetschenischen Lokalregierung, darunter auch dem Republiksoberhaupt Kadyrow selbst, gefordert. Republiksoberhaupt Kadyrow hat seiner bereits in der Analyse 2009 zitierten Aussage,

[W]e must resort to Chechen customs-in the past, such people were cursed and ousted [from society]. It's normal. They [relatives] pass on information to their family members in the woods ... They warn them ... They bring them food, help them, and the rebels kill our policemen and burn our houses. There is not a single family that does not maintain connections with their relatives in the woods ... So, those families that have relatives in the woods are all collaborators in the crime; they are terrorists, extremists, Wahhabis, and devils. Some of them publicly renounce their relatives [insurgents] in hope to be left alone [by us] but they continue helping them in secret. bislang nichts entgegengestellt, sondern ganz im Gegenteil wiederholt öffentlich ausgesagt, dass die Familien von Rebellen Bestrafung zu erwarten hätten, wenn sie ihre Verwandten nicht zur Aufgabe bewegen könnten. Auch die im September 2009 getroffene Aussage,

"Kadyrov wies Polizei und Verwaltung an, "in diese Richtung zu arbeiten". Solche Stellungnahmen können nicht als direkte Anweisungen an Sicherheitskräfte verstanden werden, ermutigen aber zu gewissen Handlungen und vermitteln stark, dass mit Straffreiheit gerechnet werden kann" kann somit als weiterhin gültig betrachtet werden.

Nicht ausgeschlossen werden kann, wie selbst der Ombudsmann der Republik, Nurdi Nuchaschijew unlängst indirekt ansprach, dass in einigen Fällen Formen der Kollektivbestrafung nicht nur ausgeübt werden um Rebellen zur Aufgabe zu zwingen, sondern auch von tschetschenischen Sicherheitskräften aus Gründen persönlicher Rache.

5.1. Repressive Maßnahmen im Rahmen der Kollektivstrafen

Insbesondere zu Beginn der 2000er Jahre wurden in Tschetschenien nach Anschlägen von Widerstandskämpfern Familienmitglieder der vermeintlichen Täter im Zuge von Säuberungsmaßnahmen (den so genannten Satschistki) von russischen - und später auch tschetschenischen - Sicherheitskräften bedroht, geschlagen und gefoltert. Gegen ganze Heimatdörfer der Rebellen wurden militärische Vergeltungsschläge geführt. Außerdem wurden zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges Verwandte von Kämpfern festgenommen und teilweise gefoltert, um deren Rückkehr aus dem Wald zu erzwingen. Diese Strategie war vielfach erfolgreich, einige der so aus dem Aufstand gezwungenen Personen übernahmen danach sogar hochrangige Positionen in der tschetschenischen Regierung. Über derartige groß angelegte Militäraktionen oder die Entführung ganzer Familien wird im Rahmen der Kollektivbestrafung gegenwärtig nicht berichtet. Berichten aus 2009 und 2010 zufolge werden Familien zunächst unter Druck gesetzt, ihre(n) vermeintlich in den Reihen der Aufständischen tätigen Verwandten, vor allem Söhne oder Neffen, zu einer Rückkehr zu bewegen. Dieser Druck wird zunächst ausgeübt, indem staatliche (Sozial)Leistungen wie Pensionszahlungen entzogen werden, oder Eltern gezwungen, sich von ihren angeblich im Widerstand kämpfenden Kindern loszusagen, was dann im lokalen Fernsehen übertragen wird und die Personen zu Gemiedenen macht.

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Zudem wurde über Festnahmen im Entführungsstil berichtet, bei denen Personen - zumeist Männer - von Sicherheitskräften, die sich nicht auswiesen, festgenommen wurden. In einigen Fällen wurde den Personen ein Sack über den Kopf gestülpt, oder diese ohne Vorwarnung in Autos gezerrt. Nach einer Befragung zu Söhnen, Brüdern oder anderen Verwandten auf der Polizeiwache oder im Freien, oft begleitet von Schlägen und anderen Schikanen, unmenschlicher Behandlung bis hin zu Folter, werden die Personen wieder freigelassen. Eine seit 2009 sehr bekannt gewordene Maßnahme ist das Niederbrennen des Wohnhauses der Familie des mutmaßlichen Widerstandskämpfers. Betroffene durften zwar das Haus vor dem Niederbrennen verlassen, aber keinerlei Eigentum mitnehmen. Zwischen Juli 2008 und Juli 2009 wurden von der NRO Human Rights Watch 30 Fälle von Hausniederbrennungen verzeichnet, bei denen offenbar tschetschenische Sicherheitskräfte involviert waren. Zwischen Sommer 2009 und 2010 kam es zu weiteren Fällen. Diese Maßnahmen betreffen weniger (nicht verwandte) Unterstützer, sonder vor allem Familienmitglieder. Aber auch Unterstützer sollen gelegentlich der willkürlichen Bestrafung von lokalen Sicherheitsbehörden zum Opfer fallen. In einem besonders aufsehenerregenden Fall im Sommer 2009 kam es zu einer außergerichtlichen Hinrichtung eines Mannes durch Sicherheitskräfte, die ihn beschuldigt hatten, den Rebellen ein Schaf gegeben zu haben.

5.2. Beschwerdemöglichkeiten

Bis Mitte 2010 war niemand für eine Hausniederbrennung zur Verantwortung gezogen worden, und auch im letzten halben Jahr finden sich keine Berichte, dass dem so gewesen wäre. Betroffene, die versucht hatten sich an Sicherheits- oder Justizbehörden zu wenden berichteten, dass ihnen von diesen weitere "Probleme" angedroht worden waren, für den Fall dass sie tatsächlich eine Anzeige erstatten würden. In mehreren Fällen wurden vom EGMR Menschenrechtsverletzungen im Zuge von früheren Säuberungsaktionen festgestellt.28 Vielfach wurde bei den Urteilen auch das Fehlen tatsächlicher und effektiver Untersuchungen bemängelt. Die beim EGMR behandelten Beschwerden beziehen sich jedoch auf die ersten Jahre des zweiten Tschetschenienkrieges, insbesondere die Jahre 1999 bis 2004. Die Urteile werden von der Russischen Föderation nur insofern umgesetzt, als die vom EGMR festgelegte finanzielle Kompensation an die Opfer ausbezahlt wird. Die geforderten Untersuchungen finden nicht statt. Beschwerden beim EGMR gegen Kollektivbestrafungen der letzten Jahre sind nicht bekannt.

6. Conclusio

In deutsch- und englischsprachigen Medien und Berichten von russischen und anderen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen finden sich keine Hinweise, dass in den letzten Jahren oder derzeitig Personen, die den Widerstand in den Jahren vor der letzten offiziellen Amnestie 2006 unterstützt oder selbst gekämpft und eine Amnestie in Anspruch genommen haben, oder die mit einer solchen Person verwandt sind, nunmehr allein deshalb verfolgt würden. Betroffen sind hauptsächlich Unterstützer und Familienmitglieder gegenwärtig aktiver Widerstandskämpfer. Um unbehelligt leben zu können müssen sich amnestierte Kämpfer und Unterstützer und deren Familien Ramsan Kadyrow gegenüber sicherlich weiterhin loyal zeigen. Ein Austritt aus den lokalen Sicherheitskräften, in denen viele der Amnestierten nunmehr arbeiten (müssen) wird nur bedingt möglich sein. Grundsätzlich können Personen, die den Widerstand in Tschetschenien unterstützen - sei es dadurch Rebellen Lebensmittel, Kleidung oder Schlafstätten zur Verfügung zu stellen oder sei es durch Waffen - in der Russischen Föderation strafrechtlich verfolgt werden. Es kommt regelmäßig zu Verhaftungen aufgrund von Hilfeleistung an die Rebellen. Ob Personen, die unter diesem Vorwurf vor Gericht gestellt werden mit einem fairen Verfahren rechnen können ist aufgrund der im Justizbereich verbreiteten Korruption und der bekannten Einflussnahme der Exekutive auf richterliche Entscheidungen fraglich. Das Strafmaß beträgt 8 bis 20 Jahre Freiheitsentzug. Obwohl eine strafrechtliche Verfolgung von Unterstützern des Widerstandskampfes möglich ist, greifen die tschetschenischen Sicherheitskräfte in ihrem Kampf gegen den Terrorismus weiterhin auf Mittel ohne rechtliche Grundlage zurück. Einerseits gibt es vereinzelte Berichte, dass Unterstützer ohne jegliches Verfahren für ihre vermeintliche Hilfeleistung "bestraft" werden. Andererseits finden sich zahlreiche Reporte über Formen der Kollektivbestrafung von Familienmitgliedern (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer. Betroffen ist vorwiegend der engere Familienkreis, also Eltern, Onkeln, Cousins und Ehefrauen. Die tschetschenischen Behörden gehen aufgrund der traditionell sehr engen Familienbande davon aus, dass Familien ihre im Wald lebenden Angehörigen unterstützen, vor allem aber davon, dass diese Familien im Stande sind ihre Angehörigen zu einer Rückkehr aus dem Wald zu bewegen. Die Verfolgung beginnt mit dem Einsatz von Druckmitteln wie der Streichung von Sozialbehilfen, und führt bis zur Niederbrennung der Wohnhäuser der betroffenen Familien. Offizielle Beschwerden oder Anzeigen hiergegen sind kaum möglich. Mittlerweile werden die Familien mutmaßlicher Widerstandskämpfer auch in anderen Republiken des Nordkaukasus wie Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien als Mittel zum Zweck des Kampfes gegen den Terrorismus herangezogen. Aus dem letzten halben Jahr gibt es keine Zeitungsberichte in deutsch- und englischsprachigen Medien oder von NRO, dass Kollektivstrafen weiterhin angewendet werden. Aufgrund der höchstrangigen Billigung dieser Vorgehensweise auf lokalpolitischer Ebene kann dies aber nicht als Hinweis betrachtet werden, dass dem nunmehr Einhalt geboten ist. Wie einleitend erwähnt bezieht sich diese Gefährdungseinschätzung auf das Gebiet der Republik Tschetschenien. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden www.ris.bka.gv.at Seite 23 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Unterstützter und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann.

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 22.08.2011 betreffend Amnestien in Tschetschenien

1. Wie ist die aktuelle Situation von Amnestierten in Tschetschenien?

2. Gibt es Berichte, dass Amnestierte umgebracht werden?

RIA Novosti: Kämpfe im Kaukasus: Putin bietet Terroristen Amnestie an - "Nesawissimaja Gaseta", 15.07.2010, http://www.de.rian.ru/security_and_military/20100715/127115044.html, Zugriff 01.06.2011

Der russische Regierungschef Wladimir Putin will Terroristen eine Amnestie gewähren, um die hochexplosive Lage im Nordkaukasus zu normalisieren, berichtete die Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" am Donnerstag.

Inguschetiens Präsident Junus-Bek Jewkurow sprach sich für regelmäßige Amnestierungen handeln. Auch der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow forderte, dass Untergrundskämpfer amnestiert werden müssten. Noch vor einem Jahr war er einer komplett anderen Meinung: für die Terroristen sollte es keine Schonung geben. Nach den Amtsantritt Jewkurows im Oktober 2008 wurden die Familien der Extremisten gebeten, ihre Söhne zu beeinflussen. Dann folgte der Anschlag auf seinen Autokonvoi im Juni des Vorjahres, bei dem er schwer verletzt wurde. Nachdem er wieder auf dem Weg der Genesung war, wurde der Dialog wiederaufgenommen. Zudem gab es Sonderoperationen gegen jene, die keine Annäherung an die Behörden wollen. Jewkurow unterstrich, dass es regelmäßige Amnestien geben muss: "Man muss ihnen immer eine Chance geben."

Ihm zufolge hat sich die Situation in der Region im vergangenen Jahr verbessert. Sonderoperationen und erfolgreiche Gespräche mit den Familienangehörigen der Verdächtigen täten ihr Übriges, so Jewkurow. "Dank umfassenden Maßnahmen wurden die Spannungen deutlich abgebaut", betonte Jewkurow.

Jewkurow hatte seit Jahren immer eine Amnestie für die Extremisten gefordert. Die Meinung seines tschetschenischen Amtskollegen Kadyrow war immer wechselhaft. Kadyrow verkündete nach einem Selbstmordanschlag in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny im Mai des Vorjahres, dass die Terroristen nicht davonkommen würden. Mittlerweile hat er seine Position geändert. Wie Kadyrow am 7. Juli verkündete, war er vorher fest davon überzeugt gewesen, dass er die Terroristen nicht mehr aufrufen wird, die Waffen niederzulegen. Laut den Familienangehörigen der Terroristen haben sich ihre Kinder "verlaufen", eine falsche Entscheidung getroffen und bedauern dies. Selbst Extremistenführer Doku Umarow, könne mit der Amnestie rechnen, so Kadyrow.

Die Situation in beiden Teilrepubliken ist angespannt. Seit Anfang dieses Monats hat es in Inguschetien einige Gefechte zwischen den Sicherheitskräften und den Extremisten gegeben. Es gibt Tote und Verletzte. Seit Anfang dieses Jahres sind wegen der Extremistenanschläge 14 Sicherheitskräfte ums Leben gekommen und 97 verletzt worden. In Tschetschenien gibt es ebenfalls zahlreiche Zusammenstöße mit vielen Opfern. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden in Tschetschenien über 100 Personen festgenommen, die wegen der Mithilfe der Extremisten angeklagt werden.

Die unerwartete Ankündigung Kadyrows und die neuen Versprechungen Jewkurows folgten den Worten des russischen Regierungschefs Putin. Am 6. Juli forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man Frieden mit allen Mitteln erreichen will.

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty: Caucasus Report - 's Kadyrov Urges Militants To Surrender, 08.07.2010, http://www.rferl.org/content/Chechnyas_Kadyrov_Urges_Militants_To_Surrender/2094633.html, Zugriff 03.06.2011

Bei einem Treffen mit Journalisten in Grosny am 7. Juli sagte das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow, dass mit sofortiger Wirkung jeder Rebell, der die Waffen niederlegen und in ein ziviles Leben zurückkehren möchte, die Behörden durch seine Familie von seinem Wunsch informieren soll.

Kadyrow sagte, sein Angebot erstrecke sich über alle Mitglieder des islamischen Aufstandes, auch Doku Umarow, den selbsternannten Anführer des Nordkaukasusemirats. Er sagte, dass Umarow, wenn er von dem www.ris.bka.gv.at Seite 24 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Angebot Gebrauch machen würde, "wie es nur gerecht wäre" vor Gericht gestellt und lebenslang eingesperrt würde. Aber diejenigen Kämpfer, die keine "schweren Verbrechen" begangen hätten, könnten ins zivile Leben zurückkehren und würden Arbeit erhallten. Kadyrow fügte hinzu, dass diese jungen Männer, die vom falschen Konzept Wahhabismus desillusioniert wurden, bemitleidet und nach Hause gebracht werden sollten.

Tatsächlich verabschiedete die russische Staatsduma im November 1999 und dann 2003 ein Gesetz, das tschetschenischen Kämpfern, die ihre Waffen niederlegten, eine Begnadigung bot. Statistiken russischer Medien zufolge wurden unter der ersten solchen Amnestie 150 Kämpfer entlastet und etwa 200 Kämpfer nutzten das wiederholte Angebot. Die Duma verkündete 2006 eine dritte Amnestie, zwei Jahre nach dem Tod von Ahmed Kadyrow. Die tschetschenischen Sicherheitskräfte geben an, dass zwischen 430 und 470 Kämpfer im Zuge der drei Amnestien aufgaben. Im May 2009 in Folge der ersten Serie von Selbstmordanschlägen in Grosny erklärte Kadyrow, dass es "keine weiteren Amnestien für diese Unmenschen, die unsere Brüder und Schwestern töten" geben werde und dass die Terroristen entweder eingesperrt oder zerstört werden sollten.

BAA Staatendokumentation: Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer von (ehemaligen) Widerstandskämpfern, 09.09.2009

Am 22. September 2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13.12.1999 und dem 23.09.2006 im Nordkaukasus begangen wurden. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen als auch für Soldaten. Nicht erfasst sind schwere Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub, beziehungsweise für Soldaten auch der Verkauf von Waffen an Rebellen. Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees hatten sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt, davon 470 allein in Tschetschenien. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben. Zuvor waren schon mindestens dreimal Amnestien für Tschetschenien angeboten worden, 1997 für Verbrechen, die während des Ersten Tschetschenienkrieges begangen worden waren (ca. 5.000 Personen); 1999 für Personen, die in der Anfangszeit des Zweiten Tschetschenien-Krieges die Waffen niederlegten (ca. 2.500 ergaben sich, 750 wurden amnestiert); 2003 für Verbrechen begangen zwischen dem 12.12.1993 und dem 1.8.2003.

Daneben begnadigten Achmad und jahrelang übergelaufene Freischärler. Nach übereinstimmender Schätzung der Menschenrechtsorganisation Memorial und offiziellen tschetschenischen Quellen profitierten von diesen "grauen" Amnestien zwischen 2001 und 2007 mindestens weitere 7.000 Personen. Davon wurden nach offiziellen tschetschenischen Angaben rund 5.000 in staatliche Strukturen und die Sicherheitskräfte integriert.

Bereits Achmad Kadyrovs Strategie war es, die Rebellenbewegung zu teilen. Jene, die überzeugt oder gekauft werden konnten, wurde eine Amnestie angeboten und ein Arbeitsplatz in den tschetschenischen Sicherheitskräften. Die anderen sollten gejagt und umgebracht werden. Vor allem Ramzan Kadyrov nutzte dann die Amnestien zur Auffüllung seiner Truppen, viele der Menschen die die Anmestien 2003 und 2006 in Anspruch genommen haben, arbeiten nun in der tschetschenischen Miliz und der Leibwache Kadyrovs. Im Grunde war die Bedingung für eine Amnestierung die Zustimmung des Kämpfers, sich diesen Truppen anzuschließen. Offiziell waren von beiden Amnestien Personen ausgeschlossen, die "schwere Verbrechen" begangen hatten. In einer Reihe von Fällen wurde jedoch die Entscheidung über eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung "unter Erwägung der Zweckdienlichkeit" getroffen. Unter den Truppen Ramzan Kadyrovs, den so genannten "Kadyrovzy", befinden sich also auch viele, die von Amnestien ausgenommen gewesen wären. Eine Rückkehr in ein nicht-militärisches Leben war im Rahmen der Amnestien kaum möglich.

BFM: Focus Russland - Zur Amnestie in Tschetschenien, 19.03.2007 Das russische Parlament erließ am 22. September 2006 den Beschluss "Über die Verkündung einer Amnestie für Personen, die Verbrechen begangen haben in der Periode, als konterterroristische Operationen durchgeführt wurden auf dem Territorium von Subjekten der Russischen Föderation im Südlichen Föderativen Kreis" sowie die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen. Am folgenden Tag wurden sie im russischen Amtsblatt "Rossijskaja Gazeta" publiziert und traten damit in Kraft. Zuvor waren schon mindestens dreimal Amnestien für Tschetschenien angeboten worden:

¿ im März 1997 für Verbrechen, die während des Ersten Tschetschenienkrieges begangen worden waren (9.12.1994-31.12.1996; ca. 5'000 Personen); www.ris.bka.gv.at Seite 25 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

¿ im Dezember 1999 für Personen, die in der Anfangszeit des Zweiten Tschetschenen-Krieges die Waffen niederlegten (1.8.-16.12. 1999; ca. 2'500 ergaben sich, 750 wurden amnestiert);

¿ am 6.6.2003 zur Feier der Annahme einer neuen tschetschenischen Verfassung für Verbrechen begangen zwischen dem 12.12.1993 und dem 1.8.2003. Daneben begnadigten seit Jahren Achmad Kadyrow, der unter Moskaus Aufsicht gewählte Präsident Tschetscheniens, sowie sein Sohn und Nachfolger, Ramsan Kadyrow, übergelaufene Freischärler. Nach übereinstimmender Schätzung der Menschenrechtsorganisation "Memorial" und offizieller tschetschenischer Quellen profitierten von dieser "grauen" Amnestie seit 2001 mindestens 7.000 Personen. Davon wurden nach offiziellen tschetschenischen Angaben gegen 5'000 in staatliche Strukturen und die Sicherheitskräfte integriert.

Council of Europe: Legal remedies for human rights violations in the North-Caucasus Region, 04.06.2010 Svetlana Gannushkina von Memorial erzählte über einen Brief, den sie am 12. Jänner 2010 an Präsident Medwedew sandte, in dem sie einen Fall in Bezug auf die Entführung von Alikhan Markuyev am 28. Juli 2009 beschreib, dem eine Amnestie gewährt wurde, nachdem er sich freiwillig den Behörden auslieferte und die illegale bewaffnete Fraktion verlassen hatte.

BBC News: Chechen problem far from over, 16.04.2009, http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7974652.stm, Zugriff 01.06.2011

2003 wurde Achmed Kadyrow Präsident von Tschetschenien. Seine Strategie war, die Rebellenbewegung zu teilen. Denjenigen, die überredet - oder gekauft - werden konnten, wurde eine Amnestie angeboten, und ein Job in den tschetschenischen Sicherheitskräften. Die anderen würden gejagt und getötet werden.

Anfragebeantwortung durch VESTA vom 08.08.2008

1) Gibt es in der Tschetschenischen Republik die Möglichkeit einer Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen?

In der Tschetschenischen Republik gibt es die die Möglichkeit einer Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen, obwohl das Zentrum, welches Behandlungen dieser Art durchführt, sich im Stadium der Wiedererrichtung befindet. In Grosny gibt es die Republiksfürsorgestelle für Psychoneurologie, wo einmal wöchentlich an Freitag der Oberarzt Dzhamurzaev Ali Usamovitsch Kranke empfängt.

2) Gibt es Krankenhäuser, welche Therapien solcher Art durchführen?

Ja, in der Tschetschenischen Republik gibt es 2 Spitäler, die Therapien dieser Art durchführen. Es ist dies das Republikskrankenhaus in Samaschki (befindet sich in Zakan-Jurt, Bezirk Atschchoj-Martan) und das Republikskrankenhaus in Darbanchinsk (befindet sich in Braguny, Bezirk Gudermes).

3) Wer erhält Zugang zu einer Behandlung dieser Art?

Niemand wird für den Erhalt einer Behandlung dieser Art ausgegrenzt. Alle, die eine Behandlung oder eine Untersuchung benötigen können die nötige Behandlung oder medizinische Hilfe erhalten. Jedoch ist die Anzahl der arbeitenden Ärzte nicht ausreichend, um einen solchen Zulauf von Patienten zu meistern. In Grosny gibt es nur 3 Ärzte-Psychiater, die Kranke empfangen. Einige Ärzte arbeiten in den Bezirken der Republik.

4) Wer trägt die Kosten hiefür? Bis zu welchem Ausmaß muss der Patient die Kosten tragen?

Offiziell muss der Patient keine Kosten für die Behandlung tragen, besonders wenn die Behandlung stationär ist.

5) Gibt es auch ambulante Behandlung?

Ja, gibt es.

6) Gibt es in der Tschetschenischen Republik Zentren für die Behandlung von psychischen Traumata oder psychologische Dienste? www.ris.bka.gv.at Seite 26 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Zentren als solche nicht; 2 vorhandene Spitäler beschäftigen sich mit der Behandlung von psychischen Traumata. Psychologische Dienste gibt es in der Tschetschenischen Republik. In jedem Ambulatorium arbeiten Ärzte-Psychologen.

7) Im Falle einer positiven Antwort auf Frage 6: wer leitet diese?

Der Leiter der 2 existierenden Spitäler: Elzhurkaev Adam leitet das Republikskrankenhaus in Samaschki, Sataev Gelani leitet das Republikskrankenhaus in Darbanchinsk.

8) Hat die gesamte Bevölkerung Zugang zu diesen Einrichtungen?

Alle mit dem Profil eines psychischen Traumas und medizinische Hilfe benötigend, haben Zugang zu diesen medizinischen Anstalten. Jedoch kommt die kleine Anzahl an Ärzten, die in der Republik arbeiten, mit dem Zufluss an Patienten nicht zurecht.

9) Unterliegt die Therapie in diesen Zentren als solche einer Zahlung durch jede

Einzelperson?

Offiziell unterliegt eine in diesen Zentren erhaltene Therapie keiner Zahlung.

10) Hat die Bevölkerung Zugang zu Psychopharmaka, die zum Zwecke einer

Behandlung verschreiben werden?

Ja hat sie, wenn diese von einem Arzt verschrieben werden.

11) Sind diese Arzneien von jedem Patienten zu zahlen?

Der Arzt stellt das Rezept aus, nach welchem der Patient die kostenlosen Arzneien erhalten kann. Auch können Invaliden-Begünstigte, welche auf das Sozialpaket nicht verzichtet haben, kostenlose Medikamente erhalten. Allerdings werden in der Regel den Patienten teure Medikamente selten als kostenlose verschrieben. Allerdings ist die Lage so, dass sogar ihnen vom Arzt verschriebene Medikamente nicht in die Hand gegeben werden, da psychotrope Medikamente zu Narkotika gehören.

12) Im Falle einer positiven Antwort auf Frage 11: wie hoch sind die Kosten?

Die Kosten variieren je nach Präparat.

13) Bieten internationale Organisationen humanitärer Hilfe in der Tschetschenischen

Republik oder den Nachbarrepubliken psychologische Hilfe an?

Nur die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" führen Aufnahmen von Patienten in einigen ihrer Ambulatorien durch.

14) Wie sind die Möglichkeiten für Tschetschenen psychologische Hilfe in anderen

Regionen der RF zu finden?

Die Möglichkeiten für Tschetschenen sind die gleichen wie für andere Russen.

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Behandlungsmöglichkeit einer schizoaffektiven Störung vom 06.09.2010

1. Ist eine schizoaffektive Störung - manisch (ICD 10 F 25.0) in der Russischen Föderation medikamentös behandelbar? Anfragebeantwortung von IOM Moskau per E-Mail vom 02.09.2010 Ja, schizoaffektive Psychosen www.ris.bka.gv.at Seite 27 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 können in der Russischen Föderation medikamentös behandelt werden. In den meisten Fällen beginnt die Behandlung einer schizoaffektiven Störung stationär in psychiatrischen Anstalten. Nach der Linderung der akuten Symptome werden die Patienten in ambulanten Abteilungen von psychoneurologischen Einrichtungen geheilt.

2. Ist eine derartige Behandlung auch leistbar?

Anfragebeantwortung von IOM Moskau per E-Mail vom 02.09.2010 Gesundheitsdienste sind in der Russischen Föderation für alle russischen Staatsbürger mit obligatorischer Krankenversicherung kostenlos. Alle stationären Behandlungen sind von dieser Versicherung gedeckt. Während der ambulanten Behandlung erhalten die Patienten nur die Medikamente kostenlos, die auf einer speziellen Liste der Munizipalbehörden stehen. Die monatlichen Kosten für die medikamentöse Behandlung von schizoaffektiven Psychosen in stationärer Behandlung betragen für Menschen, die keine russischen Staatsbürger sind:

Rispolept, 4 - 6 mg/Tag, RUB 4,500 - 5,000 (ca. US-$ 150 - 180)

Zyprexa, 5 - 15 mg/Tag, RUB 4,400 - 6,000 (ca. US-$ 150 - 200)

Depakine Chronospere, 500 - 1,000 mg/Tag, RUB 600 (ca. US-$ 20)

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Behandlungsmöglichkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung vom 10.08.2010

Der Ast. leidet unter folgenden Erkrankungen: Posttraumatische Belastungsstörung, Troponin T Dynamik, KHK-Myokardinfarkt, Diabetische Polyneuropathie, Hepatitis C, DES-Stent implantation, Rezidivprolaps, Coronare Herzkrankheit, Laparoskopischer Cholezystektomie, Subakuter Posterolateralinfarkt. Er benötigt die folgenden Medikamente: Thrombo ASS 100, Plavix 75 / Clopidogrel, Diamicron MR 30, Concor Cor 2,5mg, Lisinopril 5mg, Sortis, Zantac 300mg, Neurotin 300mg, Ixei 50mg, Novalgin Tropfen.

1. Sind die Krankheiten in der Russischen Föderation - in Tschetschenien - behandelbar bzw. gibt es postoperative Versorgung?

Alle erwähnten Zustände können in der Russischen Föderation (und in der Tschetschenischen Republik) behandelt und nachversorgt werden. Doch in Tschetschenien ist die Versorgung mit medizinischen Spezialisten noch immer unzureichend und komplizierte Fälle werden für die Behandlung und Nachsorge von ihren örtlichen Kliniken in die nächsten Städte (Krasnodar, Rostov-on-Don, Machatschkala) überwiesen.

2. Mit welchen Kosten sind diese Behandlungen verbunden?

Die Behandlung und Nachsorgeüberwachung (Konsultation von Spezialisten, Untersuchungen, Labortests, stationäre Behandlung) sind für russische Staatsbürger mit obligatorischer Krankenversicherung kostenlos.

3. Sind die oben erwähnten Medikamente erhältlich? Wenn nein, gibt es vergleichbare Medikamente in der RF - Tschetschenien?

Alle erwähnten Medikamente sind in der Russischen Föderation erhältlich.

4. Wieviel kosten die Medikamente und wer trägt die Kosten?

Für die Patienten, die als behinderte Personen von einer speziellen Kommission in der örtlichen Klinik am Ort der permanenten Registrierung der Patienten, registriert sind, ist die medikamentöse Behandlung kostenlos. Nicht alle Medikamente stehen auf der Liste der kostenlosen Medikamente. Medikamente zur Behandlung von Hepatitis C sind nicht kostenlos (die geschätzten monatlichen Kosten für die Behandlung von Hepatitis C betragen USD 600, wenn einheimische Medikamente verwendet werden). Kostenlose medikamentöse Behandlung erfordert Beharrlichkeit des Patienten und seiner Verwandten und Wartezeit.

I.7. Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus folgender Beweiswürdigung:

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Der erkennende Senat des Asylgerichtshofes kommt nach Einvernahme des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau im Rahmen der Beschwerdeverhandlung am 20.09.2011 zum klaren Ergebnis, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau nicht den Tatsachen entspricht.

Das vom Beschwerdeführer erstattete Fluchtvorbringen, das durch seine Ehefrau ergänzt wurde, stellt sich zusammengefasst wie folgt dar:

Der Beschwerdeführer soll im Mai 2004 von unbekannten, maskierten und uniformierten Männern in der Nacht zuhause aufgesucht worden sein. Die Männer hätten den Beschwerdeführer zu seinem Bruder befragt und ihn gleichzeitig beschimpft und misshandelt. Auch seine Ehefrau und seine Mutter seien bei diesem Übergriff anwesend gewesen. Sein Bruder soll aufgrund der Beteiligung am Widerstand zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt und im Dezember 2001 aus der Haft entlassen worden sein.

Die Männer seien schließlich unverhofft weggegangen, ohne den Beschwerdeführer mitzunehmen. Bis zur Ausreise im Februar 2005 habe sich der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau und seinen Kindern versteckt gehalten. Es sei nach ihm gesucht worden, es habe jedoch bis zur Ausreise keine Übergriffe auf ihn und seine Familienangehörigen gegeben.

Aufgrund zahlreicher Widersprüche in den Ausführungen des Beschwerdeführers in seinen unterschiedlichen Befragungen vor den Asylbehörden und insbesondere auch aufgrund der massiven Widersprüchlichkeit zum Vorbringen seiner Ehefrau ist eine pointiertere Zusammenfassung des Fluchtvorbringens nicht möglich, da sich je nach Version massive Abweichungen ergeben. Diese Widersprüchlichkeit ist es auch, warum das Fluchtvorbringen in den entscheidenden Punkten als erfundenes Konstrukt gewertet werden muss. Der belangten Behörde war sohin zu folgen, wenn sie das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers als nicht glaubwürdig erachtet.

Vorweg war auszuführen, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau im Zuge ihrer Einvernahmen vor dem Bundesasylamt jeweils erklärt haben, den jeweils beigezogenen Dolmetscher verstanden zu haben. Nach entsprechender Rückübersetzung des jeweiligen Einvernahmeprotokolls haben der Beschwerdeführer und seine Ehefrau auch die Richtigkeit des Inhalts jeweils durch ihre Unterschrift bestätigt. Schließlich sind auch sonst keine Unregelmäßigkeiten hinsichtlich Einvernahmeleiter und Dolmetscher in den Einvernahmen vor dem Bundesasylamt erkennbar, weshalb die Ausführungen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau in ihren Einvernahmen vor dem Bundesasylamt der Entscheidung zu Grunde zu legen waren. Betreffend die Ehefrau war in diesem Zusammenhang noch festzuhalten, dass sich ihr Krankheitsbild einer PTBS erst in den letzten Jahren um paranoide Schizophrenie und Wahnvorstellungen erweitert hat. An der Einvernahmefähigkeit der Ehefrau zum Zeitpunkt ihrer Einvernahmen vor den Behörden erster Instanz am 03.11.2005, am 08.11.2005 und am 04.05.2006 war demnach in keiner Weise zu zweifeln und wurde Derartiges auch nie behauptet.

Die einzelnen Widersprüche stellen sich folgendermaßen dar:

Der Beschwerdeführer schilderte am 04.05.2006 vor dem Bundesasylamt den Übergriff am 04.05.2004 durch die unbekannten maskierten Männer dermaßen, dass ca. um zwei oder drei Uhr in der Nacht ca. fünf Männer ins Haus und ins Schlafzimmer gekommen seien. Der Beschwerdeführer sei vom Bett auf den Boden geworfen worden. Seine Ehefrau und seine Mutter seien auch im Zimmer gewesen. Neben Beschimpfungen und Misshandlungen sei der Beschwerdeführer zu seinem Bruder befragt worden (AS 99). Der Beschwerdeführer verneinte auch nach mehrmaliger konkreter Nachfrage, dass gedroht worden sei, die Kinder zu entführen. (AS 103) Die Männer sollen sich letztlich plötzlich dazu entschlossen haben, aufzubrechen und seien schließlich auch abrupt aufgebrochen (AS 99).

Die Ehefrau wiederum schilderte den Übergriff im Jahr 2004 völlig abweichend. Diese erklärte im Rahmen ihrer Einvernahme am 04.05.2006, dass die maskierten Männer Anfang Frühling 2004 gegen Mitternacht gekommen seien. Sie hätten die Tür aufgebrochen und hätten sie alle auf die Knie müssen. Der Beschwerdeführer sei in den Gang und dann in den Hof geschleppt worden. Er sei geschlagen und nach dem Bruder gefragt worden. Sie hätten letztlich gemeint, dass sie wiederkommen würden. (AS 159 im Verwaltungsakt der Ehefrau) Die Ehefrau hat im Übrigen im Gegensatz zu ihrem Ehemann behauptet, dass im Zuge des Vorfalls gedroht worden sei, die Kinder zu entführen. (AS 161 und 163 im Verwaltungsakt der Ehefrau)

Wurde sohin das zentrale fluchtauslösende Ereignis widersprüchlich geschildert, haben sich auch zum weiteren Aufenthalt im Herkunftsstaat nach diesem Übergriff Widersprüche im Vorbringen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau ergeben.

www.ris.bka.gv.at Seite 29 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Der Beschwerdeführer erklärte, dass er sich nach dem Vorfall im Mai 2004 bei Verwandten versteckt gehalten habe. An seine Meldeadresse, an der sich auch seine Mutter aufhalte, sei er manchmal am Tag gekommen. Er habe jedoch aus Angst nie mehr zuhause übernachtet. (AS 99) Seine Ehefrau gab im Gegensatz dazu - selbst nach Vorhalt der widersprüchlichen Ausführungen des Beschwerdeführers - an, dass sie nach dem Vorfall im Mai 2004 gelegentlich mit dem Beschwerdeführer an der Meldeadresse gewesen sei und dort mit diesem auch übernachtet habe. Erklärend fügte sie hinzu, dass der Beschwerdeführer in der Nacht gekommen sei und es nicht so wie sie gemacht habe, die den ganzen Tag mit der Mutter verbracht habe. (AS 161 des Verwaltungsaktes der Ehefrau)

Der Beschwerdeführer hat im Übrigen am 03.11.2005 nach der Frage, was zwischen Mai 2004 und seiner Ausreise im Februar 2005 passiert sei, erklärt, dass die maskierten und uniformierten Männer im Sommer 2004 immer wieder gekommen seien und nach ihm gesucht hätten, wobei er nicht zuhause gewesen sei, sondern sich mit seinen Familienangehörigen bei Verwandten versteckt habe (AS 33). Im Gegensatz hiezu erwähnte der Beschwerdeführer am 04.05.2006 ausdrücklich nur einen Vorfall im Juli 2004 (AS 99). Auf Vorhalt seiner widersprüchlichen Ausführungen meinte er, dass sie ja Tag und Nacht wiederkommen hätten können. Er habe damals den Vorfall gemeint, bei dem Tür aufgebrochen worden sei. (AS 101) Dies ist aber keine taugliche Erklärung, weshalb der Beschwerdeführer am 03.11.2005 ausdrücklich erklärt hat, dass "sie" im Sommer 2004 immer wieder gekommen seien.

Bereits diese Widersprüchlichkeit macht hinreichend deutlich, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entsprechen kann.

Es haben sich jedoch weitere Indizien ergeben, die gegen die behauptete Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers - und damit auch jener seiner Familienangehörigen - sprechen.

Die widersprüchlichen Ausführungen zum Aufenthalt nach dem behaupteten Vorfall im Mai 2004 lassen bereits ernste Zweifel daran aufkommen, dass der Beschwerdeführer mit seinen Familienangehörigen - wie behauptet - seit Mai 2004 bis zur Ausreise versteckt gelebt hat.

Der Beschwerdeführer erklärte in diesem Zusammenhang, dass er sich gelegentlich unter Tags zuhause - an seiner Meldeadresse - aufgehalten habe. Gleichzeitig meinte er, dass es tagsüber Kontrollen durch die Russen und nachts Hausdurchsuchungen durch die unbekannten maskierten und uniformierten Männer gegeben habe. Wenn der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang meint, dass er an seine Meldeadresse gegangen sei, wenn er die Mitteilung gehabt habe, dass es keine Kontrollen geben würde (AS 99), muss diese Erklärung als Schutzbehauptung gewertet werden. Dieses Verhalten, das wiederholte Zurückkehren an jenen Ort, an welchem intensive Verfolgung befürchtet wird, ist nicht nachvollziehbar, zumal nach Mai 2004 weiterhin an der Meldeadresse nach ihm gefragt worden sein soll.

Der Beschwerdeführer hat am 04.05.2006 eingangs auf ausdrückliche Befragung erklärt, sich bis zum Tag der Ausreise aus Tschetschenien an seiner Meldeadresse aufgehalten zu haben. (AS 95) Auf Vorhalt dieser klaren Angabe versuchte der Beschwerdeführer sich dahingehend zu rechtfertigen, dass wenn man in Russland gefragt werde, wo man wohne, man die Meldeadresse angebe. Diesem Rechtfertigungsversuch steht jedoch seine klare Antwort auf eine klare Frage gegenüber. Er erklärte im Übrigen auch, dass er sich ja immer wieder an der Meldeadresse aufgehalten habe.

Die behaupteten Probleme des Beschwerdeführers sollen im Mai 2004 begonnen haben. Die Ausreise des Beschwerdeführers ist jedoch erst im Februar 2005 erfolgt, nachdem dem Beschwerdeführer und seinen Familienangehörigen Reisepässe ausgestellt worden sind. Der Beschwerdeführer ist schließlich mit seinen Familienangehörigen mit der Bahn ausgereist, wobei es bei der Ausreise aus Tschetschenien Kontrollen gegeben haben soll. Nach Vorhalt dieser Umstände - die wohl als Indizien gegen eine Verfolgung im Zusammenhang mit der Widerstandsbewegung gewertet werden können - in der Beschwerdeverhandlung, meinte der Beschwerdeführer, dass er die Reisepässe gegen Geld erhalten habe und er im Übrigen vor dem Bundesasylamt erzählt habe, dass er einen Schlepper gehabt habe. (S. 5 und 6, Verhandlung 20.09.2011) Dahingehend war vorerst auf die hinreichend deutlichen Ausführungen des Beschwerdeführers am 04.05.2006 zu verweisen, wo er erklärte bei der Ausreise aus Tschetschenien im Zug kontrolliert worden zu sein. Leute in Zivil hätten ihn und seine Familienangehörigen zur Zugbegleitung gebracht, wo sie vollständig kontrolliert worden seien. Auch das Geld sei durchgesehen worden. (AS 97) Unter Zugrundelegung dieses Vorbringens steht hinreichend fest, dass der Beschwerdeführer und seine Familienangehörigen problemlos ausreisen haben können. Wie die Reisedokumente letztlich ausgestellt worden sind, kann demnach dahingestellt bleiben.

Das vom Beschwerdeführer und seiner Ehefrau versteckte Leben im Zeitraum von Mai 2004 bis zur Ausreise im Februar 2005 ist bei Zusammenschau all dieser Aspekte nicht nachvollziehbar. Bei der dargelegten Furcht vor www.ris.bka.gv.at Seite 30 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Verfolgung nach dem Übergriff im Mai 2004 erscheint die behauptete Reisetätigkeit zwischen der Meldeadresse und den Verwandten der Ehefrau vollkommen lebensfremd. Am Rande wird darauf hingewiesen, dass sich der Beschwerdeführer und seine Ehefrau auch betreffend die zeitliche Einordnung der Aufenthalte im Jahr 2004 bis zur Ausreise widersprochen haben.

Letztlich konnte der Beschwerdeführerin auch in keiner Weise glaubhaft den Grund für das Interesse an seiner Person darlegen.

Der Beschwerdeführer erklärte am 04.05.2006, dass sein Bruder aufgrund seiner Teilnahme an Kriegshandlungen zu einer Haftstrafe verurteilt worden sei. Im Dezember 2001 sei der Bruder aufgrund einer Amnestie aus der Haft entlassen worden. Der Beschwerdeführer wisse nicht wer seinen Bruder suche. (AS 97 und 101)

Zu diesem Bruder erklärte er zudem, dass dieser manchmal nachhause gekommen sei und dann wieder gegangen sei.

Im Mai 2002 sei dem jüngeren Bruder des Beschwerdeführers eine Granate ins Hemd gesteckt worden. Dabei sei dieser ums Leben gekommen. Die Polizei habe den Fall aufgenommen, der Fall sei später jedoch eingestellt worden. (AS 97 und 99)

Der Beschwerdeführer sei im Jahr 2002 und 2003 zu nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten auf der Straße zur Kontrolle mitgenommen worden. Dabei sei er offiziell kontrolliert und nach einem halben Tag wieder freigelassen.

Im Jahr 2002 sei ihm sein Inlandspass in XXXX ausgestellt worden (AS 101).

Die soeben dargelegten Ausführungen waren nicht geeignet, plausibel eine Verfolgung darzulegen. Der Bruder des Beschwerdeführers soll verurteilter Widerstandskämpfer sein. Ende des Jahres 2001 soll er amnestiert worden sein. Im Jahr 2002 soll der jüngere Bruder - im Zusammenhang mit dem Bruder XXXX - getötet worden sein. Der Beschwerdeführer hat sich trotz der Tötung seines jüngeren Bruders weiterhin an der Meldeadresse - an der im Übrigen auch sein Bruder XXXX gemeldet gewesen sein soll - aufgehalten, habe einen Inlandspass in XXXX ausgestellt bekommen und sei darüber hinaus auch in den Jahren 2002 und 2003 in allgemeine Kontrollen geraten, bei denen er jedoch nicht weiter belangt worden sein soll. Zu guter letzt soll auch der amnestierte Bruder immer wieder an die Meldeadresse des Beschwerdeführers gekommen sein.

Bei dem tatsächlich behaupteten Interesse am amnestierten Bruder bereits nach dessen Haftentlassung, ist bereits der weitere unbehelligte Aufenthalt im Herkunftsstaat bis ins Jahr 2004 nicht nachvollziehbar, zumal der jüngere Bruder des Beschwerdeführers im Jahr 2002 im Zusammenhang mit XXXX getötet worden sein soll. Auch im Rahmen von allgemeinen Kontrollen wurde der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit seinem Bruder nicht belangt. Daraus ergibt sich einmal mehr, dass das im Jahr 2004 plötzlich einsetzende Interesse am Beschwerdeführer nicht geglaubt werden kann, wenn nicht einmal davor zurückgeschreckt worden sein soll, den Bruder in diesem Zusammenhang bereits im Jahr 2002 zu töten.

In der Beschwerdeverhandlung blieben die Ausführungen des Beschwerdeführers zu seinem Bruder XXXX ebenfalls vollkommen vage und unbestimmt.

Der Beschwerdeführer verharrte in den oberflächlichen Ausführungen, die er bereits vor dem Bundesasylamt getätigt hat. Sein Bruder habe die gleiche Meldeadresse wie seine Mutter gehabt, wo die Mutter heute noch lebe. Der Bruder sei Anfang des Jahres 2000 im Zuge von Kriegshandlungen gefangen genommen worden und sei aufgrund seiner Teilnahme am Kampf verurteilt worden. Ausdrücklich danach befragt, ob er seinen Bruder nach der Freilassung noch gesehen habe, meinte der Beschwerdeführer, dass dieser nach der Freilassung verschwunden sei. Der Beschwerdeführer glaube, dass XXXX weiter seine Tätigkeit fortgesetzt habe. Er habe ihn in den Jahren bis zur eigenen Ausreise nur ganz kurz getroffen, das seien aber keine längeren Zusammenkünfte gewesen.

Der Beschwerdeführer vermeinte auch, dass er den Bruder nie gefragt habe, was er nach der Freilassung gemacht habe. Er habe seinen Bruder bis zur Freilassung unterstützt, danach aber zu diesem eigentlich überhaupt keinen Kontakt gehabt. Er habe sich von ihm verabschiedet und seien ihre Gespräche nur kurz gewesen.

Der Beschwerdeführer hat aus ausdrücklich Nachfrage auch nicht angeben können, was aus

www.ris.bka.gv.at Seite 31 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 dem Bruder nach der Ausreise geworden sei. Er wisse nicht, ob er in Tschetschenien geblieben sei, oder ob er auch ausgereist sei. Der Beschwerdeführer erklärte, dass dessen Ausreise, aber auch eine zeitweise Rückkehr im Bereich des Möglichen liege. Der Beschwerdeführer wisse es letztlich nicht.

Nach dem aktuellen Wissen des Beschwerdeführers zu seinem Bruder bzw. einer aktuellen Gefährdung seines Bruders im Jahr 2011 befragt, meinte der Beschwerdeführer, dass er es nicht wisse. Er könne nicht angeben, was sein Bruder heute mache. Er wisse nicht, ob sein Bruder sich irgendwie gegen das Regime heute noch betätige. Auch wisse er nicht, was sein Bruder in den letzten Jahren gemacht habe bzw. heute mache. (S. 4 und 5, Verhandlung 20.09.2011)

Bei einer tatsächlichen Verfolgung im Zusammenhang mit dem Bruder ist das vollkommene Desinteresse an diesem bzw. die Unwissenheit über dessen Aufenthalt und dessen Tätigkeiten völlig unplausibel, zumal bereits im Jahr 2002 der jüngere Bruder in diesem Zusammenhang ums Leben gekommen sein soll. Der Bruder soll in der Folge weiterhin kurzzeitig an der Meldeadresse des Beschwerdeführers aufhältig gewesen sein, was bei dem dargelegten Interesse an diesem Bruder in keiner Weise nachvollziehbar ist.

Zu erwähnen bleibt in diesem Zusammenhang ein Schreiben der Ehefrau des Beschwerdeführers aus August 2007, in dem sie darlegt, dass sie aus sporadischen Kontakten mit der Schwiegermutter erfahren habe, dass im Mai 2007 Männer in Uniform und im August 2007 ein Polizist in Zivil zu dieser nachhause gekommen seien, um sie zum Beschwerdeführer und den amnestierten Bruder zu befragen. Auch erklärte die Ehefrau in diesem Zusammenhang, dass sich der amnestierte Bruder in Georgien befinde.

Der Beschwerdeführer erklärte in der Beschwerdeverhandlung, dass er mit seiner Mutter in XXXX telefoniere. (S. 5, Verhandlung 20.09.2011). Unter dieser Prämisse ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer weder eine weitere Suche nach ihm und seinem amnestierten Bruder erwähnte noch irgendwelche konkreten Ausführungen zum Aufenthalt seines Bruders tätigen konnte. Seine Rechtfertigung, wonach er mit seiner Mutter nicht über den Bruder spreche und die Frauen meist mehr als ihre Männer wissen würden, muss in diesem Zusammenhang als offensichtliche Schutzbehauptung gewertet werden, zumal davon auszugehen ist, dass die Mutter den Beschwerdeführer über das unverminderte Interesse am Beschwerdeführer im Herkunftsstaat sowie den Verbleib des eigenen Bruders informiert hätte.

Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang im Übrigen auch die zeitliche Komponente im Zusammenhang mit der neuerlichen Suche nach dem Beschwerdeführer. Im Jahr 2002 soll - wie erwähnt - der Bruder im Zusammenhang mit der Suche nach dem amnestierten Bruder getötet worden sein. Im Jahr 2004 gibt es neuerlich ein Interesse am Beschwerdeführer. Danach soll es wiederum nach mehreren Jahren - im Jahr 2007 - eine weitere Nachfrage nach dem Beschwerdeführer und dem amnestierten Bruder gegeben haben. Das alle paar Jahre kurz aufflammende Interesse am Beschwerdeführer und seinen Bruder ist vollkommen unplausibel bei einem Verdacht einer Involvierung in die Widerstandsbewegung. In diesem Zusammenhang war noch kritisch zu erwähnen, dass bislang lediglich eine inoffizielle Suche nach dem Beschwerdeführer behauptet wurde und der Beschwerdeführer sogar offizielle Kontrollen problemlos überstanden haben soll, in dem Schreiben aus 2007 im Gegensatz dazu eine Nachfrage durch die Polizei und das Militär behauptet wird. Unabhängig vom Schreiben der Ehefrau bleibt im Übrigen vollkommen im Dunkeln, von wem der Beschwerdeführer überhaupt verfolgt worden sein soll.

Der Vollständigkeit halber bleibt zum Tod seines jüngeren Bruders auszuführen, dass sich in der Beschwerdeverhandlung dahingehend nichts Erhellendes und schon gar kein Zusammenhang mit dem amnestierten Bruder ergeben hat. Der Beschwerdeführer stellte auch lediglich die Vermutung auf, dass sein jüngerer Bruder wegen XXXX umgebracht worden sei. Er berichtet zudem von erfolglosen Ermittlungen der Polizei, wobei der Beschwerdeführer auf ausdrückliche Befragung erklärte, nie bei der Polizei nachgefragt zu haben. Er habe seine eigenen Vermutungen. Er glaube, dass die Verwandten für alles verantwortlich gemacht werden würden. Er meine damit, dass sein jüngerer Bruder nach XXXX befragt worden wäre, jedoch nicht die Fragen beantwortet hätte. (S. 8 und 9, Verhandlung 20.09.2011) In diesem Zusammenhang haben sich weitere Zweifel am erwähnten Übergriff im Jahr 2004 ergeben, zumal die maskierten Männer unverrichteter Dinge und abrupt wieder abgezogen sein sollen. Ein derartiges Vorgehen spricht wohl entscheidend gegen einen zielgerichteten Zugriff auf den Beschwerdeführer. Sein Rechtfertigungsversuch, wonach sie womöglich per Funk abgezogen worden seien (S. 5, Verhandlung 20.09.2011), überzeugt in diesem Zusammenhang in keiner Weise.

Es hat sich für den erkennenden Senat sohin insgesamt hinreichend ergeben, dass eine Verfolgung des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau im Herkunftsstaat weder in der Vergangenheit noch aktuell glaubhaft dargelegt werden konnte. Vielmehr ist aufgrund der aufgezeigten Ungereimtheiten und Widersprüche im Vorbringen des Beschwerdeführers in Zusammenhalt mit den zahlreichen Indizien, die gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens sprechen hinreichend deutlich geworden, dass es sich beim Vorbringen um ein www.ris.bka.gv.at Seite 32 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Konstrukt handelt. Daran vermag auch der Internetausschnitt aus der vom XXXX nichts zu ändern. Diesen Internetausschnitt legte der Beschwerdeführer vor der Beschwerdeverhandlung am 13.09.2011 ohne weitere Erklärung vor. In der Beschwerdeverhandlung erklärte er zu diesem Artikel, dass darin sein Bruder XXXXerwähnt sei und zu Beginn dieses Artikels stehe, dass die darin genannten Personen in Gefahr seien. Befragt zu dieser Liste, erklärte er, dass ihm Leute in Österreich empfohlen hätten, diese Internetseite aufzumachen. Wieso sein Bruder gefährdet sein soll, gehe aus dem Artikel nicht hervor. Dazu stehe nichts im Artikel. (S. 5, Verhandlung 20.09.2011) Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer selbst bestätigte, dass aus dem Bericht nicht hervorgehe, wieso der Bruder des Beschwerdeführers gefährdet sein soll, fehlt diesem wenig aussagekräftigen Bericht einer Internetzeitung aus dem Jahr 2008 jeglicher aktueller Bezug und ist letztlich auch nicht nachvollziehbar, wieso der Beschwerdeführer diesen Bericht nicht bereits früher vorgelegt hat. Auch ist im Bericht bloß der Name XXXX vermerkt, wobei damit überhaupt nicht gesagt ist, dass damit der Bruder des Beschwerdeführers gemeint ist, zumal es sich um einen in Tschetschenien gebräuchlichen Namen handelt.

Selbst wenn der Bruder auf einer derartigen Liste aufscheint, ist noch einmal darauf zu verweisen, dass - wie umfassend dargelegt - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass der Beschwerdeführer jemals im Zusammenhang mit seinem Bruder Verfolgung ausgesetzt gewesen ist. Dieser soll im Jahr 2001 amnestiert worden sein und konnte der Beschwerdeführer überhaupt kein konkretes Vorbringen zum Bruder nach dessen Amnestie vortragen. Es ist auch noch einmal darauf zu verweisen, dass aus dem Artikel überhaupt nicht hervorgeht, weshalb die genannten Personen gefährdet sein sollen.

Das unverhoffte und zufällige Auftauchen der vorgelegten Liste aus dem Internet, vermag an der Einschätzung, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung droht, nichts zu ändern. Vielmehr war das Vorbringen des Beschwerdeführers insgesamt nicht geeignet, irgendein hervorgehobenes Interesse im Herkunftsstaat darzulegen. Es ist sohin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass zum heutigen Zeitpunkt nach dem Beschwerdeführer gefahndet oder gesucht wird.

Die Feststellungen zur Russischen Föderation bzw. zu Tschetschenien wurden zusammenfassenden aktuellen Dokumentationen des Asylgerichtshofes, in denen die bezughabenden Originalquellen zitiert wurden (wobei es sich um eine ausgewogene Zusammenstellung verschiedener Quellen handelt) entnommen. Diese beruhen auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen und bieten dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche, weshalb kein Anlass dazu besteht, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Die rechtsfreundliche Vertretung hat in der abschließenden Stellungnahme zu den im Rahmen des Parteiengehörs vorgelegten Länderberichten diesen auch nichts entgegengehalten, sondern sich selbst auf diese bezogen bzw. einzelne Passagen daraus wiedergegeben.

Aus den vorgelegten Länderberichten kann das Vorliegen einer Gruppenverfolgung der Einwohner Tschetscheniens nicht gefolgert werden. Das Bestehen einer medizinischen Grundversorgung ergibt sich aus den Quellen eindeutig.

Der Asylgerichtshof verkennt nicht, dass die Menschenrechtslage im Nordkaukasus und in Tschetschenien im Speziellen problematisch ist und dass weiterhin mannigfaltige Bedrohungsszenarien bestehen und (auch schwere) Menschenrechtsverletzungen geschehen können. Diese Szenarien rechtfertigen in vielen Fällen die Gewährung von Asyl und dies entspricht der ständigen Praxis der entscheidenden Richter des Asylgerichtshofes. Im Ergebnis ist die aktuelle Situation in Tschetschenien daher dergestalt, dass weder von vorneherein Asylgewährung generell zu erfolgen hat, noch dass eine solche nunmehr regelmäßig auszuschließen sein wird. Die allgemeine Lage in Tschetschenien erlaubt die Erlassung von negativen Entscheidungen zur Abschiebung in Fällen, in denen eine solche individuelle Verfolgung nicht besteht.

Anhaltspunkt für eine solche individuelle Verfolgungsgefahr ist laut den vorliegenden Länderinformationen insbesondere ein konkret dargelegter Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt, der sich in den letzten Jahren auch auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan ausgeweitet hat. Im Blickfeld der Behörden stehen insbesondere Rebellen und deren Angehörige bzw. Gegner des bestehenden politischen Systems, wobei hiebei wiederum auf eine gewisse Ausprägung der Involvierung abzustellen ist.

In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass - selbst wenn dem Vorbringen betreffend der Verurteilung und Amnestie des Bruders im Jahr 2001 gefolgt wird - davon auszugehen ist, dass aufgrund des amnestierten Bruders keine Verfolgung mehr resultiert. Dahingehend wird in den Länderfeststellungen die Relevanz von Amnestien für Familienmitglieder von Kämpfern dargelegt. Aufgrund de Kollektivdenkens wird nämlich angenommen, dass ein Kämpfer, der einen Straferlass in Anspruch nimmt, auch die Loyalität seiner Familienmitglieder zu gewährleisten hat. Daher kann davon ausgegangen werden, dass Familienmitglieder nicht für die vergangenen Tage eines amnestierten Verwandten zur Verantwortung gezogen werden. In deutsch- und englischsprachigen Medien und Berichten von russischen und anderen Menschenrechts- und www.ris.bka.gv.at Seite 33 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Nichtregierungsorganisationen finden sich im Übrigen keine Hinweise, dass in den letzten Jahren oder derzeitig Personen, die den Widerstand in den Jahren vor der letzten offiziellen Amnestie 2006 unterstützt oder selbst gekämpft und eine Amnestie in Anspruch genommen haben, oder die mit einer solchen Person verwandt sind, nunmehr allein deshalb verfolgt würden. Betroffen sind hauptsächlich Unterstützer und Familienmitglieder gegenwärtig aktiver Widerstandskämpfer. Wie bereits erwähnt, konnte der Beschwerdeführer zu seinem Bruder nicht darlegen, was aus diesem nach der Amnestie geworden ist. Vielmehr hat er erklärt, dass dieser sich zeitweise an der Meldeadresse bei seiner Mutter und beim Beschwerdeführer aufgehalten hat. Eine Verfolgung aufgrund des Bruders scheidet sohin auch unter Berücksichtigung der Länderinformationen aus.

Im vorliegenden Verfahren konnten individuelle Fluchtgründe, wie unter der Beweiswürdigung aufgezeigt, nicht glaubhaft gemacht werden. Die allgemeine Situation in Tschetschenien ist so, dass dem unpolitischen Beschwerdeführer eine gefahrlose Rückkehr zumutbar sein wird. Wäre eine Situation einer systematischen Verfolgung weiter Bevölkerungsschichten derzeit gegeben, wäre jedenfalls anzunehmen, das vor Ort tätige Organisationen, wie jene der Vereinten Nationen, diesbezügliche Informationen an die Öffentlichkeit gegeben hätten. Eine allgemeine Gefährdung von allen Rückkehrern wegen des Faktums ihrer Rückkehr lässt sich aus den Quellen ebenso wenig folgern.

Gewichtiges Indiz gegen eine allgemeine Verfolgungsgefahr in Tschetschenien ist im Übrigen der Umstand, dass sich seine Mutter und Angehörige seiner Ehefrau nach wie vor in Tschetschenien aufhalten. Zu seiner Mutter steht der Beschwerdeführer in telefonischem Kontakt.

Letztendlich lässt sich aus den allgemeinen Berichten zur Russischen Föderation bzw. zu Tschetschenien für den Beschwerdeführer und seine Ehefrau keine sonstige Gefährdungslage im Fall der Rückkehr feststellen.

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

II.1.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BG BGBl. I Nr. 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 01.07.2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I 100/2005, außer Kraft.

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem AsylG 2005 nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

§ 61 AsylG 2005 lautet wie folgt:

(1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

(2) Beschwerden gemäß Abs. 1 Z 2 sind beim Asylgerichtshof einzubringen. Im Fall der Verletzung der Entscheidungspflicht geht die Entscheidung auf den Asylgerichtshof über. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesasylamtes zurückzuführen ist.

(3) Der Asylgerichtshof entscheidet durch Einzelrichter über Beschwerden gegen

1. zurückweisende Bescheide a) wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4; b) wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5 c) wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG, und

2. die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung

www.ris.bka.gv.at Seite 34 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

(4) Über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde entscheidet der für die Behandlung der Beschwerde zuständige Einzelrichter oder Senatsvorsitzende.

II.1.2. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005 idgF sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 mit der Maßgabe zu Ende zu führen, dass in Verfahren, die nach dem 31.03.2009 beim Bundesasylamt anhängig sind oder werden, § 10 idF BGBl. I Nr. 29/2009 mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass eine Abweisung des Asylantrages, wenn unter einem festgestellt wurde, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Asylwerbers in seinen Herkunftsstaat zulässig ist, oder eine Zurückweisung des Asylantrages als Entscheidung nach dem Asylgesetz 2005 gilt. § 44 AsylG 1997 gilt.

Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge und Asylerstreckungsanträge, die bis zum 30.04.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 126/2002, geführt.

Gemäß § 44 Abs. 3 AsylG 1997 sind die §§ 8, 15, 22, 23 Abs. 3, 5 und 6, 36, 40 und 40a in der Fassung BGBl. I Nr. 101/2003 auch auf die Verfahren gemäß Abs. 1 anzuwenden.

Gemäß der Übergangsbestimmung des § 75 Abs. 8 AsylG 2005 idgF, ist § 10 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 38/2011 auf alle am oder nach dem 01.01.2010 anhängigen Verfahren nach dem AsylG 1997 mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine Ausweisungsentscheidung nach dem AsylG 1997, die vor dem 01.01.2010 erlassen wurde, als eine Ausweisungsentscheidung nach § 10 AsylG 2005, die Zurückweisung eines Asylantrages nach dem AsylG 1997 als Zurückweisung nach § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 und die Abweisung eines Asylantrages nach dem AsylG 1997, mit der festgestellt wurde, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat zulässig ist, als Abweisung nach § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 gilt.

Da der Beschwerdeführer seinen Asylantrag am 25.10.2005 gestellt hat und der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes vom 26.05.2006 datiert, ist das Verfahren nach dem AsylG 1997 idF AsylG-Novelle 2003 fortzuführen. Für die Ausweisungsentscheidung gilt § 10 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 38/2011. Im gegenständlichen Fall handelt es sich um ein Beschwerdeverfahren, das gemäß § 61 Abs. 1 AsylG 2005 von dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat zu entscheiden ist.

II.2. Zu Spruchpunkt I.:

II.2.1. Gemäß § 7 AsylG 1997 hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK (idF des Art. 1 Abs.2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z.B. VwGH v. 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH v. 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH v. 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH v. 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH v. 25.01.2001, Zl. 2001/20/011). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH v. 26.02.1997, Zl. 95/01/0454; VwGH v. 09.04.1997, Zl. 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - www.ris.bka.gv.at Seite 35 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH v. 18.04.1996, Zl. 95/20/0239; vgl. auch VwGH v. 16.02.2000, Zl. 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.

Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH v. 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH v. 09.09.1993, Zl. 93/01/0284; VwGH v. 15.03.2001, Zl. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH v. 16.06.1994, Zl. 94/19/0183; VwGH v. 18.02.1999, Zl. 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH v. 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; VwGH v. 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. zB VwGH 24.3.1999, 98/01/0352 mwN; 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht (VwGH vom 27.01.2000, 99/20/0519, VwGH vom 22.03.2000, 99/01/0256, VwGH vom 04.05.2000, 99/20/0177, VwGH vom 08.06.2000, 99/20/0203, VwGH vom 21.09.2000, 2000/20/0291, VwGH vom 07.09.2000, 2000/01/0153, u.a.).

Kriminelle Machenschaften reichen als Begründung eines Asylantrages jedoch nicht aus (VwGH vom 08.06.2000, 99/20/0111, 0112, 0113; VwGH vom 26.07.2000, 2000/20/0250).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).

II.2.2. Gemessen an dieser Rechtslage erweist sich der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt, wie beweiswürdigend dargelegt, als nicht geeignet, um eine Furcht vor Verfolgung aus den Gründen, die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannt sind, glaubhaft zu machen.

Es bestehen darüber hinaus auch keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation respektive in Tschetschenien eine aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität in Folge einer der in der Genfer Flüchtlinskonvention genannten Gründe drohen würde.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides abzuweisen.

II.3. Zu Spruchpunkt II:

II.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 hat die Behörde, im Fall einer Abweisung des Asylantrages von Amts wegen bescheidmäßig festzustellen, ob eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat zulässig ist.

§ 8 AsylG verweist durch die Übergangsbestimmung des § 124 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) auf § 50 FPG.

www.ris.bka.gv.at Seite 36 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012

Gemäß § 50 Abs.1 FPG ist die Zurückweisung, die Hinderung an der Einreise, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK, BGBl. Nr. 210/1958 oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen der innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre.

Gemäß Abs. 2 leg.cit. ist die Zurückweisung oder Zurückschiebung Fremder in einen Staat oder die Hinderung an der Einreise aus einem Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppen oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z. 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Gemäß Abs. 3 leg. cit. dürfen Fremde, die sich auf eine der in Abs. 1 oder Abs. 2 genannten Gefahren berufen, erst zurückgewiesen oder zurückgeschoben werden, nachdem sie Gelegenheit hatten, entgegenstehende Gründe darzulegen. Die Fremdenpolizeibehörde ist in diesen Fällen vor der Zurückweisung vom Sachverhalt in Kenntnis zu setzen und hat dann über die Zurückweisung zu entscheiden.

Der Prüfungsrahmen des § 50 Abs.1 FPG wurde durch § 8 AsylG auf den Herkunftsstaat des Fremden beschränkt.

Der Asylgerichtshof hat somit zu klären, ob im Falle der Verbringung des Asylwerbers in sein Heimatland Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 (Verbot der Folter) oder das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtssprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen Bedrohung der relevanten Rechtsgüter, hinsichtlich derer der Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu bieten, glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, 95/18/1291; 17.7.1997, 97/18/0336).

Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.9.1993, 93/18/0214).

II.3.2. Wie bereits oben unter Punkt I.5. festgestellt, ist der Beschwerdeführer Ehemann der XXXX (Zl. D14 302668-1/2008), der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag, Zl. D14 302668-1/2008/26E, der Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 zuerkannt wurde. Da im gegenständlichen Fall der Ehefrau des Beschwerdeführers subsidiärer Schutz gewährt wurde und überdies keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem Beschwerdeführer ein Familienleben mit dem antragstellenden Angehörigen in einem anderen Staat möglich wäre, war dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 10 Abs. 3 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 subsidiärer Schutz zu gewähren.

II.4. Zu Spruchpunkt III:

Der Asylgerichtshof hat mit gegenständlicher Entscheidung erstmals festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Partei unzulässig ist, sodass eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 3 AsylG zu erteilen war.

Gemäß § 15 Abs. 2 erster und zweiter Satz leg. cit. ist die befristete Aufenthaltsberechtigung für höchstens ein Jahr und nach der ersten Verlängerung für höchstens fünf Jahre zu bewilligen. Die Aufenthaltsberechtigung behält bis zur Entscheidung über die Verlängerung durch das Bundesasylamt Gültigkeit.

Die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung liegt innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens und war im erfolgten Ausmaß zu bewilligen, da eine Änderung der Sachlage in nächster Zukunft nicht zu erwarten ist.

II.5. Zu Spruchpunkt IV:

Aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten war die im angefochtenen Bescheid ausgesprochenen Ausweisung gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997, wonach eine Entscheidung, so der Asylantrag

www.ris.bka.gv.at Seite 37 von 38 Asylgerichtshof 26.01.2012 abzuweisen war und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat als zulässig festgestellt wurde, mit einer Ausweisung zu verbinden ist, ersatzlos zu beheben.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

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