<<

SWR2 Oper : „

Sendung: Sonntag, 07. März 2021, 20.03 Uhr Redaktion: Bernd Künzig

SWR2 können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App oder als Podcast hören:

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?

Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

Die SWR2 App für Android und iOS

Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app 2

Heute mit dem letzten Teil unserer Reihe „Shakespeare singt“ und Musiktheaterversionen nach Theaterstücken des englischen Dichters. Im Mittelpunkt heute Aribert Reimanns Oper „Lear“ aus dem Jahr 1978. Und der Anlass ist ein doppelter. Am 4. März wurde Aribert Reimann 85 Jahre alt. Er ist nicht nur einer der wichtigsten deutschen Nachkriegskomponisten, sondern vielleicht neben der bedeutendste Vertreter des zeitgenössischen Musiktheaters im deutschsprachigen Raum. Dabei kommt dem „Lear“ eine besondere Stellung im Werk des Komponisten zu. Nach der Vertonung von August Strindbergs „“ und der „“ nach einem Text von Yvan Goll ist der „Lear“ Reimanns dritter Beitrag für das Musiktheater. Ihm sind bis zu „L’Invisible“ nach aus dem Jahr 2017 noch sechs weitere Opern gefolgt nach Texten von , noch einmal Strindberg, Kaka, Lorca und Grillparzer. Die Domäne Reimanns ist also die sogenannte , die Vertonung eines partiell wörtlich übernommenen literarischen Stoffes für die Opernbühne. ist dabei singulär im Schaffen Reimanns geblieben. Und mit der späten Tragödie des „König Lear“ hat sich Reimann nicht nur einem der finstersten und abgründigsten Stoffe des Dramatikers gestellt, sondern sich auch an ein Stück herangewagt, an dem ein Komponist wie Giuseppe Verdi im 19. Jahrhundert gescheitert ist. Der Italiener hat diesen Plan zur Vertonung des „König Lear“ lange gehegt und versucht, ihn um 1850 auch zu realisieren. Doch die musikalische Sprache seiner späten Shakespeare-Vertonungen „Otello“ und „Falstaff“ steht ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Verfügung, um der psychologischen Gewalt des Stoffes gerecht zu werden und so gibt Verdi nach einigen Versuchen ernüchtert auf. Einige der Skizzen verarbeitet er aber in seiner Oper „Ein Maskenball“.

Für Reimann war „König Lear“ nicht die erste Wahl. Seine beiden vorangegangenen Opern „Ein Traumspiel“ und „Melusine“ sind eher von einem geheimnisvollen bis stillen Lyrismus geprägt. „König Lear“ dagegen ist eine gewalttätige und abgründige Angelegenheit, ein Stück über die Torheit des Alters und eine Reise in Tod und Wahnsinn. Es zählt zu den späten Stücken Shakespeares. Neben „Macbeth“ gilt „König Lear“ als schwärzestes Stück des Dichters. Zu Beginn geht es um eine fast märchenhafte Konstellation. Ein alternder König bittet seine drei Töchter um Zeugnisse ihrer Liebe. Während Regan und Goneril ihm blumige Liebesbekundungen vorsäuseln, gibt ihm Cordelia zur Antwort, sie liebe ihn so, wie es sich für eine liebende Tochter gehört. Der enttäuschte Lear teilt daraufhin sein Reich unter den schmeichelnden Töchtern auf und verbannt Cordelia. Nur sein Narr hält ihm die Torheit seiner Alterseitelkeit vor und ahnt, welche Katastrophe er damit auslöst. Die Töchter werden ihn enteignen, Lear wird in den Wahnsinn abdriften und alle werden sich bis in den Untergang zerfleischen.

Das ist harter Tobak, an dem, wie erwähnt, selbst Verdi im 19. Jahrhundert gescheitert ist. Reimanns Zögern wiederum kann man verstehen. Denn neben seiner Komponistentätigkeit ist er ein erfolgreicher Liedbegleiter. Das Dramatische liegt ihm zwar im Blut, aber er wählt dennoch bevorzugt Stoffe, in denen auch eine gewisse Intimität vorliegt. Schließlich ist es der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, den Reimann seit Jahren als Liedsänger begleitet und für den er auch Stücke komponiert, der den Anstoß gibt. Er wünscht sich schon lange eine Oper aus der Feder des Komponisten. Hören wir Aribert Reimann selbst zur Entstehungsgeschichte der Oper.

O-Ton: Aribert Reimann zur Entstehung des Lear (2:02)

Soweit Aribert Reimann. Ursprünglich ist der „Lear“ ein Auftrag der Hamburgischen Staatsoper unter der Intendanz von Rolf Liebermann. Sein Nachfolger August Everding übernimmt diesen mit großer Begeisterung und als er 1977 als Intendant an die Bayerische Staatsoper in München wechselt, nimmt er den Auftrag mit. So kommt es also am 9. Juli 1978 zur Uraufführung in München. Zehn Jahre hat Reimann bis dahin mit dem Stoff

2

3 verbracht. Der Erfolg der Uraufführung ist überwältigend. Das Stück steht mehrere Spielzeiten auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper und sehr rasch entschließen sich auch andere Häuser, das Stück nachzuspielen. Im Vergleich mit dem Münchner Haus sind es auch wesentlich kleinere Spielstätten und selbst dort gelingt die Umsetzung des Werks mit großem Erfolg. Denn der Aufwand des Stückes ist erheblich. Die Besetzung des Orchesters ist groß, den Schlagwerkapparat, den Reimann hier zur Darstellung extremer Gewalt und eines Sturms von kosmischen Dimensionen nutzt, ist enorm. In einigen Opernhäusern passt das Schlagwerk nicht in den Orchestergraben und muss in den Seitenlogen positioniert werden. Nichtsdestotrotz wird der „Lear“ zu einem der meistgespielten Opernwerke des 20. Jahrhunderts und gilt neben Alban Bergs „Wozzeck“ und Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ als der bedeutendste Beitrag zum Musiktheater im vergangenen Jahrhundert. Und das liegt nicht zuletzt an der emotionalen Sogwirkung und der bildgewaltigen Direktheit, die das Stück auch beim bloßen Zuhören ausübt. Das hat sich bereits bei der ersten Aufführung mit dem kongenialen Uraufführungsinterpreten Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie gezeigt. Wir hören heute Abend deshalb auch die nach der Uraufführung entstandene Aufzeichnung der Münchner Produktion im Oktober 1978.

Die Oper hebt sozusagen nackt an. Kein Orchestervorspiel, keine Orchesterbegleitung. Nur die Stimme Lears. Hier entblößt sich der König schon zu Beginn. Und Reimann und sein Librettist Claus H. Henneberg haben den König nicht ohne Grund aus dem Titel gestrichen. Für die ungemein geschickt eingekürzte gewaltige Tragödie Shakespeares greift Henneberg nicht auf die Übersetzung Wolf Heinrich von Baudissins aus der klassischen Schlegel-Tieck- Ausgabe zurück, sondern auf die ältere, Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Übertragung von Johann Joachim Eschenburg. Diese Fassung ist wesentlich kantiger, entschlackter, direkter und schonungsloser als der partiell romantisch verklärende Tonfall der Übersetzung Baudissins. Der König ist also herrschaftsmüde und will sein Reich unter seinen Töchtern aufteilen. Es kommt, wie es kommen muss: er hört auf die schmeichlerischen Worte von Regan und Goneril und verbannt Cordelia. Nur der König von Frankreich hat Mitleid mit ihr und nimmt sich ihrer an. Lears Vertrauter Kent kritisiert den König und wird ebenfalls geächtet. Regan und ihr Mann, der Herzog von Cornwall und Goneril mit dem Herzog von Albany teilen sich das Erbstück Cordelias auf.

Parallel zur Alterstragödie Lears findet die des Herzogs von Gloster statt. Der hat zwei Söhne. Zum einen den aus seiner Ehe stammenden Edgar und den Bastard Edmund. Der intrigiert bei seinem Vater gegen Edgar mit einem gefälschten Brief. Daraufhin verjagt Gloster seinen Sohn. Edgar beschließt, verkleidet als armer Tom, seine schützende Hand über den Vater zu halten. Der Narr verspottet indes seinen abgedankten König Lear, der immer noch nicht wahrhaben will, dass er töricht gehandelt hat. Sein Diener Kent verdingt sich bei ihm in Verkleidung. Goneril und Regan werden immer herrschsüchtiger. Sie zwingen ihren Vater, sein Personal zu entlassen, da es ihnen zu teuer wird. Kent wird von ihnen in den Stock geschlagen. Als der Vater sich empört, jagen die Töchter ihn aus dem Haus. In der Zwischenzeit zieht ein apokalyptischer Sturm auf, in dem Lear durch die Heide irrt. Sein Verstand beginnt sich einzutrüben. Als der Sturm nachlässt, treffen Lear, der Narr und Kent auf den nackten und klagenden Edgar in der Heide. Er bringt den wahnsinnig gewordenen Lear mit dem Narren und Kent in seiner Hütte unter. Dort findet ihn Gloster, der seinen Sohn Edgar in seiner verwilderten Nacktheit nicht erkennt. Er lässt Lear nach Dover bringen.

Wir hören im ersten Teil von Aribert Reimanns Oper „Lear“:

König Lear: Dietrich Fischer-Dieskau König von Frankreich: Karl Helm Herzog von Albany: Hans Wilbrink Herzog von Cornwall: Georg Paskuda Graf von Kent: Richard Holm

3

4

Graf von Gloster: Hans Günter Nöcker Edgar, Sohn Glosters: David Knutson Edmund, Bastard Glosters: Werner Götz Goneril, Tochter Lears: Helga Dernesch Regan, Tochter Lears: Colette Lorand Cordelia, Tochter Lears: Julia Varady Narr: Rolf Boysen Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper. Es dirigiert .

Musik: Aribert Reimann „Lear – 1. Teil (81:31)

Im SWR2 Opernabend heute zum Abschluss unserer Reihe „Shakespeare singt“ Aribert Reimanns Oper „Lear“ nach dem Trauerspiel von William Shakespeare. Der 1978 in München uraufgeführte „Lear“ ist Reimanns dritte Oper nach der Vertonung von August Strindbergs „Ein Traumspiel“ und Yvan Golls „Melusine“. Es ist sein größter Erfolg geblieben. Dem folgen dann noch die „Gespenstersonate“ nach August Strindberg, die Antikriegsoper „“ in Franz Werfels Bearbeitung des Euripides, Franz Kafkas „Das Schloss“, Federico Garcia Lorcas „“, die „“ in der Version von und zuletzt mit „L’Invisible“ eine herzzerreißende Vertonung dreier Einakter Maurice Maeterlinks. Allesamt sogenannte Literaturopern, die Vertonung literarischer Vorlagen also. Ein für ihn geschriebenes Originallibretto hat Reimann nicht vertont. Die Wahl der literarischen Stoffe ist allerdings nie voraussetzungslos und war es auch nicht im Falle des „Lear“, wie Reimann selbst bekennt:

O-Ton: Aribert Reimann zu seinen Opern und Lear (5:48)

Soweit Aribert Reimann zu seinen Opern. Seine Shakespeare-Oper „Lear“ ist vielleicht sein größter Erfolg auf der Opernbühne geblieben, in seinem Gesamtwerk nimmt er aber eher eine Ausnahmestellung ein. Heitere Stoffe finden sich zwar in Reimanns Werk nicht, aber der abgrundtief finstere Pessimismus der Vorlage Shakespeares ist auch bei ihm singulär. Das Stück ist letztlich hoffnungslos. Für die Bühne, auch die Sprechbühne, ist und bleibt dieses Stück eine extreme Herausforderung. Schon Shakespeares Sicht auf das Alter ist radikal: Wir haben es mit einem alternden, machtmüden Gewaltherrscher zu tun, dessen Stolz schließlich von seinen noch fürchterlicheren Töchtern gebrochen wird. Mitleid verhallt hier im Tod. Cordelia, Shakespeares vielleicht überirdisch reinstes Geschöpf, das er jemals erfunden hat, wird einfach erwürgt. Es muss nicht weiter verwundern, dass einige das Stück schlichtweg für unaufführbar halten. Gewalt gibt es insbesondere beim frühen Shakespeare zu Hauf. Dort ist es aber oft eine geile Anschauungslust für das Publikum. Das ist Action Kino bevor es Film überhaupt gibt. Kein Wunder, dass Regisseure wie Quentin Tarantino sich mit ihrem blutrünstigen Spektakelkino wie „Reservoir Dogs“ gerne auf Shakespeare berufen. Aber wohl kaum auf „König Lear“. Denn hier ist die Gewalt nicht mehr Mittel zum Zweck, nicht einmal sadistische Lust, wie in Rachestücken vom Format eines „Richard III.“ oder dem „Titus Andronicus“, hier ist sie zum weltbeherrschenden Gesetz geworden, dem nichts mehr entgegenzusetzen ist. Sie ist letztlich eine Naturgewalt wie der apokalyptische Sturm, der in diesem Stück tobt.

Zu Vertonen war das vor Reimann offensichtlich nicht. Verdi ist daran gescheitert, Berlioz nicht über eine Ouvertüre hinausgekommen und Debussy verharrt in zwei Fragmenten. Das Kino war da schon glücklicher. Der russische Regisseur Grigori Kosinzew verfilmt 1971 „König Lear“ eindrücklich, indem er ihn in die russische Steppe mit Wintersturm verlagert.

4

5

Dmitri Schostakowitsch komponiert dafür eine seiner eindringlichsten Begleitmusiken. 1985 folgt Akira Kurosawa mit einer nicht weniger eindringlichen japanischen Filmversion. Aus den Töchtern sind dort drei Söhne geworden und das Geschehen spielt sich in einer Samurai- Gesellschaft ab, die schon von den Portugiesen importierte Gewehre kennt. Der Titel dieses Films heißt „Ran“, was so viel bedeutet wie Chaos. Und es ist dieser Zustand, in dem die Welt sich befindet. In Kurosawas Sichtweise auf Shakespeares Stück befinden wir uns nicht in einer geordneten Welt, sondern in einer chaotischen. Die Ordnung ist ein vorübergehender Zustand ohne Bestand. Reimann nimmt in seiner Vertonung in merkwürdiger Übereinstimmung genau diesen Sachverhalt vorweg. In der Tat errichtet er ein musikalisches Ordnungssystem. Denn nur in dieser Oper arbeitet Reimann mit der Reihentechnik in der Tradition der sogenannten Kompositionsmethode von zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen, wie sie Arnold Schönberg einst entwickelt hat. Reimann ordnet den einzelnen Figuren solche Tonreihen zu. Das funktioniert zum Beispiel folgendermaßen: Die Reihe für Cordelia besteht also aus zwölf aufeinander folgenden Tönen der chromatischen Tonstufen, bei denen sich kein Ton wiederholt. Reimann teilt nun die Reihe in der Mitte. Die letzten sechs Töne dieser Reihe bilden dann die ersten sechs Töne der Reihe für Edgar, die letzten Töne der Reihe für Edgar entsprechen den ersten sechs Tönen der Reihe für Cordelia. Es ist sozusagen eine klangliche Spiegelachse, die die Verwandtschaft der guten Charaktere Edgar und Cordelia anzeigt. Das ist also ein Ordnungsprinzip.

Zu hören ist das nun allerdings kaum und muss es auch nicht. Reimann nutzt die Reihen für ein Klangbett des Orchesters. Hier werden die Reihen dann um Mikrointervalle verschoben, im Viertel- und Sechzehnteltonabstand. Das Klanggewand nähert sich zunehmend dem Geräuschhaften an, verstärkt durch das von Fellinstrumenten dominierte Schlagzeug. In der ersten Hälfte des ersten Teils baut Reimann im Orchester ein gewaltiges sich über fast eine Stunde ziehendes Crescendo auf, eine anwachsende Dynamik, die dem herannahenden Sturm entspricht, der auf dem Höhepunkt mit apokalyptischer Wucht und blanker Kakophonie über die Welt hereinbricht. Das ist organisiertes Chaos, ganz im Sinne wie es Kurosawa später in filmischen Bildern bannen sollte. Hier ist es pure Klanggewalt. In der Szene auf der Heide fällt dieses orchestrale Chaos in sich zusammen, reduziert sich zu einer Musik der Stille, aus der lediglich die Soloflöte herausragt, als irre eine einsame Seele über die Heide. Der klangliche Charakter dieser Flötenstimme ist japanisch geprägt, Reimann imitiert hier den Klang der japanischen Bambusflöte Sakuhachi. Dazu singt Edgar mit der Falsett- und Kopfstimme des . Stimmlich gleicht ihn Reimann also dem Sopran von Cordelia wie Bruder und Schwester an. Zugleich ist es stimmlich natürlich ein Klangbild der Verstellung, das demjenigen der Rolle gleicht. Denn Edgar verstellt sich auf der Heide als armer Tom, um nicht erkannt zu werden. Die Stimmführungen sind deklamatorisch, äußerst textverständlich und damit nicht mit den großen zackigen, Intervallsprüngen der Zwölftonreihen organisiert. Auf der Bühne geht es Reimann um äußerste Textverständlichkeit. Der Narr wird sogar mit einem Schauspieler besetzt, in unserem Mitschnitt der großartige Rolf Boysen. Um das durchhörbar zu machen, wird die Partie nur von einem Streichquartett begleitet. Boysen wird 1992, einige Jahre nach Reimanns Oper, selbst ein legendärer Darsteller des Lear in einer Inszenierung Dieter Dorns an den Münchner Kammerspielen werden.

Abgesehen einmal davon, dass das Stück dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau von Anfang an auf den Stimmleib komponiert wurde, stand die übrige Besetzung der Münchner Uraufführung recht früh fest. So ist es Reimann auch möglich, den Stimmmöglichkeiten der Sängerinnen und Sänger nicht weniger gerecht zu werden als denjenigen der Titelpartie. Letztlich ist Reimann damit ein ausgewiesener Praktiker des Musiktheaters und setzt auf Unmittelbarkeit der Wirkung. Das ist das oberste Ziel aller eingesetzten Mittel. Sie sind so ungemütlich, wie es dieses Stück aus der Feder William Shakespeares ist. Ein weiteres Beispiel für die Klangwucht des organisierten Chaos ist Reimanns Umgang mit dem groß besetzten Streicherapparat. Er umfasst insgesamt 48 Stimmen. Und sie setzt

5

6

Reimann nun weitestgehend solistisch ein. Die einzelnen Streicher sind dabei nicht mehr heraushörbar und bilden clusterartige Klangflächen, die sich wie ein klebriger Sumpf an die Stimmen anhaften. In diesem orchestralen Abgrund versinken die Figuren zunehmend im Laufe des Stücks. Das Ende ist ein offener, nach oben zum Licht strebender Klang, der wie eine unbeantwortete Frage in der Luft hängen wird. Trostlos wie tröstlich zugleich in einer Welt, die in einem schwarzen Loch der Selbstvernichtung verschwindet.

Zu diesem Bild des Verschwindens gehört auch die Partie des Narren. Er taucht in der zweiten Hälfte nicht mehr auf. Auch Shakespeare lässt ihn in der Vorlage nach der Hälfte, am Ende des Sturms von der Bühne verschwinden. Erst später gibt es eine Andeutung Lears, dass auch der arme Narr getötet worden sei. In seiner Textfassung hat Henneberg diese Andeutung weggelassen. Es bleibt auch bei Shakespeare ein Rätsel, warum diese Rolle zur Mitte des Stücks getilgt wird. Es ist, als hätte sich der letzte Teil Vernunft, die ausgerechnet der Narr verkörpert, nach dem apokalyptischen Sturm endgültig aus dem Staub einer vollkommen verrückten, aus den Fugen geratenen Welt gemacht.

Die musikalische Organisation in dieser Oper dient letztlich der dramatischen Eindringlichkeit. Denn Reimanns „Lear“ ist vor allem eines: ein großartiges, alle Hör- und Körperfasern ansprechendes Klangdrama. Bei einem Großteil des Publikums und der Kritik hat diese dramatische Direktheit den großen Erfolg bewirkt. Und das bis heute in den zahlreichen Aufführungen, die der Uraufführung gefolgt sind. Allerdings – und mit diesem Kuriosum wollen wir vor dem zweiten Teil schließen – nicht alle haben das dem Intendanten August Everding und dem Komponisten gedankt. Bei traditionsverhafteten Opernbesuchern mag ein solches Stück zeitgenössischen Musiktheaters vielleicht zu viel sein. Aber auch Shakespeares Pessimismus muss man als Wahrheit aushalten können. Jedenfalls erreicht den Intendanten der Bayerischen Staatsoper August Everding am 13. Oktober 1978 folgendes Einschreiben mit Durchschrift an den Komponisten Aribert Reimann: „Sehr geehrter Herr Everding, leider bin ich gezwungen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass meine Ehefrau nach dem Besuch oben genannter Oper einen Nervenzusammenbruch (unter dem 1. Akt) erlitten hat. Diese Zumutung einer disharmonischen Musik (Lärm) können sie einem psychisch normalen Publikum nicht anbieten. Falls die psychiatrische Behandlung meiner Frau viel kosten sollte, werde ich ihnen die Rechnung zusenden und unter Umständen einen Musterprozess anstreben. Hochachtungsvoll“. Letztlich sollten Shakespeare und Reimann mit ihrem „Lear“ also recht behalten: Die Welt ist aus den Fugen.

Zu Beginn des zweiten Teils haben Goneril und Regan das Schloss von Gloster besetzt. Sie wissen, dass er ihren Vater nach Dover hat bringen lassen. Daraufhin lassen sie Gloster blenden, allerdings erst, als sie ihm offenbart haben, dass sie sich mit Edmund verbündet haben. Jetzt erkennt Gloster die gleiche Torheit Lears bei sich. Goneril beginnt gegen ihre Schwester zu intrigieren und versichert sich Edmunds Zuneigung. Ihr Mann Albany ruft sie vergeblich zur Mäßigung auf.

Nachdem sie vom Schicksal ihres Vaters erfahren hat, ist Cordelia wieder mit Truppen ihres Mannes, des Königs von Frankreich, nach England zurückgekommen. Sie will ihren Vater suchen und ihn nach Frankreich bringen. Edgar bringt seinen geblendeten Vater nach Dover. Gloster will sich von der Klippe stürzen, doch Edgar führt ihn nur zu einem kleinen Hügel. Der wahnsinnige Lear trifft auf Gloster und erkennt ihn nicht. Ein Ritter aus Glosters Gefolge bringt Lear ins Lager der Franzosen. Dort erkennt Lear langsam seine Tochter und bittet sie um Verzeihung. Cordelia verspricht, ihn wieder in seine Königswürde einzusetzen. Doch Edmund gelingt es, Cordelia und Lear gefangen zu nehmen. Er befiehlt, Cordelia zu erwürgen. Albany wird dies alles zu extrem und er beginnt sich mit Edmund zu streiten. Indessen will Goneril ihre Schwester durch Gift aus dem Weg räumen. Nun stürmt Edgar das Lager und fordert seinen Halbbruder zum Duell auf. Edgar fällt und die verzweifelte Goneril

6

7 ersticht sich. Lear nun wieder bei klarem Verstand kommt mit seiner toten Tochter in den Armen herein. Er verflucht ihre Mörder und während er ihren Tod beklagt, bricht sein Herz.

Wir hören im zweiten Teil von Aribert Reimanns „Lear“:

König Lear: Dietrich Fischer-Dieskau König von Frankreich: Karl Helm Herzog von Albany: Hans Wilbrink Herzog von Cornwall: Georg Paskuda Graf von Kent: Richard Holm Graf von Gloster: Hans Günter Nöcker Edgar, Sohn Glosters: David Knutson Edmund, Bastard Glosters: Werner Götz Goneril, Tochter Lears: Helga Dernesch Regan, Tochter Lears: Colette Lorand Cordelia, Tochter Lears: Julia Varady Bedienter: Markus Goritzki Ritter: Gerhard Auer Das Bayerische Staatsorchester wird von Gerd Albrecht geleitet.

Musik: Aribert Reimann „Lear“ – 2. Teil (61:37)

Das war Aribert Reimanns Oper „Lear“ im SWR2 Opernabend. Dies war der letzte Teil unserer Reihe „Shakespeare singt“. In der Aufnahme aus der Bayerischen Staatsoper aus dem Jahr der Uraufführung 1978 hörten Sie:

König Lear: Dietrich Fischer-Dieskau König von Frankreich: Karl Helm Herzog von Albany: Hans Wilbrink Herzog von Cornwall: Georg Paskuda Graf von Kent: Richard Holm Graf von Gloster: Hans Günter Nöcker Edgar, Sohn Glosters: David Knutson Edmund, Bastard Glosters: Werner Götz Goneril: Helga Dernesch Regan: Colette Lorand Cordelia: Julia Varady Bedienter: Markus Goritzki Ritter: Gerhard Auer

Das Orchester der Bayerischen Staatsoper spielte unter der Leitung von Gerd Albrecht.

Redakteur des Opernabends war Bernd Künzig.

7