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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 1. November 1999 Betr.: Titel, Big Brother, SPIEGEL ONLINE eder Handgriff hat im deutschen Gesundheitssystem Jseinen Preis, und weil das so ist, verschlingt das Ge- schäft mit der Krankheit immer mehr Geld – allein in die- sem Jahr rund 550 Milliarden Mark.Wochenlang haben die SPIEGEL-Redakteure Jan Fleischhauer, 37, und Alexander Jung, 33, den bürokratischen Wildwuchs des angeblich besten Gesundheitswesens der Welt durchforstet.Am Ende erkannte Fleischhauer: „Das System selbst hängt am Tropf und wird ohne radikale Therapie bald kollabieren.“ Die jetzt anstehende Reform des Gesundheitswesens jeden- falls kuriert allenfalls an Symptomen. Das mag mit an den SPIEGEL 38/1999 beiden Protagonisten des rot-grünen Reformprojektes lie- gen. „Ministerin Andrea Fischer und SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler können einfach nicht miteinander“, sagt SPIEGEL-Autor Hans- Joachim Noack, 59. Sein Kollege Hans Halter, 61, selbst Arzt, liefert für den Titel Beispiele aus dem medizinischen Alltag; Wissenschaftsredakteur Harro Albrecht, 38, ebenfalls Mediziner und vor einigen Jahren als Krankenhausarzt in England tätig, nutzt seine Erfahrungen für einen europäischen Vergleich. SPIEGEL-Korrespon- dentin Michaela Schießl, 37, beschreibt den amerikanischen Weg. Es ist das zweite SPIEGEL-Titelstück zu diesem Thema innerhalb kurzer Zeit, und zweimal stand auch die in Danzig geborene Magdalena Strahl, 26, Modell – in Heft 38/1999 für neue Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge, diesmal als Opfer in den Klauen des Me- dizinkartells (Seite 32).

eorge Orwells Roman „1984“ Ghat SPIEGEL-Redakteur Claus Christian Malzahn, 36, im Schul- unterricht gelesen – jetzt holte er das vergilbte Stück über den „Big Bro- ther“ aus gegebenem Anlass wieder hervor: In den Niederlanden besuch- te Malzahn eine gleichnamige Reality- Show, bei der sich ein paar junge Leu-

te rund um die Uhr von 24 Kameras / HOLLANDSE HOOGTE FLYMEN C. v. filmen lassen. Anders als in Orwells Roemer, Malzahn Diktatur tun sie dies aber freiwillig und gegen Bezahlung. Die täglich eine halbe Stunde lang ausgestrahlte TV-Show „Big Brother“ ist ein Quotenknüller. SPIEGEL-Mann Malzahn durfte sich in dem mit Sta- cheldraht, Sichtblenden und von Wachleuten gesicherten Komplex der Aufnahme- studios umsehen und mit Produktionsleiter Paul Roemer sprechen, der die Kameras dirigiert. „Mit der guten alten Fernsehwelt von Rudi Carrell hat diese Show so viel zu tun wie ein Sofa mit einem Nagelbett“, beschreibt Malzahn den bizarren Gipfel des Voyeurismus.Vorbereitungen für eine deutsche Ausgabe laufen bereits (Seite 136).

as Internet entwickelt sich explosionsartig – auch als journa- Dlistisches Medium. Fünf Jahre nach seinem Start erreicht SPIE- GEL ONLINE mehr als 1,14 Millionen User pro Monat. Mit einem Plus von 252 000 Anwendern gewann die SPIEGEL-Tochter laut „Allensbacher Computer- und Telekommunikationsanalyse ’99“ im Vergleich zum Vorjahr mehr neue Nutzer als jede andere Online-Ausgabe von Zeitschriften. „Im kommenden Jahr werden Nachrichten von SPIEGEL ONLINE auch per Handy zu empfangen sein“, verspricht ONLINE-Chef Hans-Dieter Degler.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 44/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Gesundheitssystem vor dem Infarkt ...... 32 Seiten 22, 28, 160 Kostentreiber Krankenhaus ...... 40 Kampf um den linken Weg Wer hat in Europa das beste Was ist sozialdemokratisch? Die Gesundheitswesen?...... 47 Sozialistische Internationale strei- Die amerikanische Zwei-Klassen-Medizin ...... 54 Gesundheitsministerin Andrea Fischer und tet über den richtigen Weg ins SPD-Gesundheitsexperte Rudolf Dreßler nächste Jahrhundert. Traditio- liefern sich ein Dauer-Duell...... 58 nalisten wie in Frankreich stehen gegen das Dritte-Weg-Duo Gerhard Kommentar Schröder und Tony Blair. Linke Rudolf Augstein: Er kuscht ...... 24 Rede, rechtes Handeln scheint der- Deutschland zeit die Devise zu sein. Der Kanz- Panorama: Bezahlter Beamten-Protest / ler hat damit, nach einer Emnid- Wem gehört Schindlers Liste? ...... 17 Umfrage für den SPIEGEL unter Regierung: Der Bruch wird sichtbar ...... 22 SPD-Mitgliedern, seine Partei un- Umfrage: Die Meinung der SPD-Mitglieder über Gerhard Schröder erwartet geschlossen hinter sich und die Zukunft der Regierung...... 28 gebracht. Seine rot-grüne Regie- CSU: Wie Edmund Stoiber als rung aber steht nach dem heftigen

Zukunfts-Kanzler durch Amerika tourt ...... 62 AP Panzerkampf mit Joschka Fischer Zwangsarbeiter: Druck auf Fischer, Schröder so zerrüttet wie noch nie da. zahlungsunwillige Firmen...... 64 Naturschutz: Aufruhr am Wattenmeer ...... 68 Gewalttäter: Raue Sitten unter Amateur-Fußballern...... 72 Schmiergelder: Abkommen gegen Korruption verunsichert deutsche Unternehmen ...... 78 Tiere: Wildschwein-Plage in Berlin...... 84 Regierung: Experten ohne Einfluss Seite 116 Gesundheit: Hepatitis-Opfer kämpft Wirtschaftsbosse rebellieren gegen die Berliner Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie wis- gegen Blutindustrie...... 88 Urteile: Haftung für Jahr-2000-Fehler ...... 110 sen: Die Regierung kann auf exzellente Berater zurückgreifen – aber sie tut es kaum. RAF: Spur nach Italien ...... 111 Männer wie Staatssekretär Tacke, einst Krisenmanager in Niedersachsen, und Staats- sekretär Mosdorf, Internet-Experte und Stratege, liefern Konzepte, die keiner nutzt. 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (6) „Rücktritt ist Fortschritt“ – Millionenprotest gegen Krenz ...... 91 Porträt: Markus Wolf – der Mann mit tausend Gesichtern...... 104 Seite 78 Analyse: Zensur ohne Zensor...... 108 Schlag gegen die Korruption Wirtschaft Ein globales Abkommen verun- Trends: Schnelles Aus für das sichert deutsche Unternehmen. AKW Obrigheim? / Springer & Jacobi-Gründer Bisher durften sie hohe Schmier- kritisiert die Phantasienamen gelder zahlen, um Geschäfte im der Fusionskonzerne ...... 113 Ausland zu machen. Künftig müs- Geld: Analysten setzen auf Handy-Aktien / sen Manager auch daheim mit Wer profitiert vom Weihnachtsgeschäft Strafe rechnen, wenn sie – wie im Internet?...... 115 Wirtschaftspolitik: Die machtlosen Thyssen beim Panzer-Export – Berater im System Schröder...... 116 schmutzige Tricks anwenden. Ein Ex-Lafontaine-Berater über das Chaos

im Regierungsapparat...... 118 Thyssen-Panzer „Fuchs“ BMVG Autoindustrie: Boomender Handel mit gefälschten Ersatzteilen...... 120 Asien: Immobilienkrise in Schanghai...... 122 HypoVereinsbank: Der tiefe Fall des Eberhard Martini ...... 124 Biotechnik: Forscher drängen Seite 150 ins Management ...... 126 Der Tod eines Schnulzensängers Risikokapital: Deutsche Bank beteiligt Tiefbraune Haut, lakritzschwarze Haare, sich am Formel-1-Imperium...... 130 tadelloser Anzug – 40 Jahre lang ver- Medien suchte Rex Gildo, sein Image als schöner Trends: Die internen Quotenvorgaben Frauenschwarm zu konservieren. Nach der ARD / Verona Feldbusch und Gildos tödlichem Fenstersturz kritisieren die „Bild“-Auflage ...... 133 nun Kollegen die Gnadenlosigkeit des Fernsehen: Sensationelle Erfolgsquote für „Arche Noah“ / Start der umstrittenen Showgeschäfts. Der frühe Erfolg des Polit-Satire „Wie war ich, Doris?“ ...... 134 Schlagersängers („Fiesta Mexicana“) ver- Niederlande: Die „Big Brother“- blasste, die Plattenverkäufe schrumpften, Fernsehshow macht die Holländer Gildo musste bei Betriebsfeiern und zu einem Volk von Voyeuren...... 136 Stadtfesten auftreten. Schlagzeilen mach- Journalisten: Die Watergate-Enthüller BISCHOFF te er zuletzt vor allem mit persönlichen in der Kritik ...... 140 Schlagerstar Gildo (1995) Zeitschriften: Der neue Markt mit Blättern Krisen und Misserfolgen. für Computerspiele ...... 145

6 der spiegel 44/1999 Gesellschaft Szene: Modemacher setzen auf wattierte Abendroben / Sachbuch über die Regeln des guten Gesprächs ...... 149 Stars: Der Todessturz des Sängers Die Geheimnisse Rex Gildo und das Schlagergeschäft...... 150 Fortpflanzung: Ein US-Fotograf offeriert der Osterinsel Seite 218 Eizellen von schönen Models ...... 154 Sie errichteten monumentale Stein- Ausland figuren, feierten obskure Kultfeste Panorama: Neue Großmachtpläne und entwickelten ein eigenes Schrift- aus Belorussland / Nordkoreas C-Waffen...... 157 Sozialdemokratie: Showdown zwischen system – abgeschottet vom Rest der Europas Erneuerern und Traditionalisten...... 160 Welt, schufen die Bewohner der Frankreichs Europaminister Osterinsel ein fernes Fantasia. Jetzt Pierre Moscovici über den Richtungsstreit ..... 164 glaubt ein Bremer Sprachforscher, SPIEGEL-Gespräch mit Anthony Giddens die Rätselschrift der im letzten Jahr- über seine Vision einer hundert untergegangenen Hoch- modernen Sozialdemokratie ...... 168 kultur im Südpazifik entziffert zu Tschetschenien: Feldzug gegen Zivilisten .... 174 USA: Geisterflug in den Tod ...... 176 haben. Handeln die aus Strichmänn- Balkan: Hombachs unmögliche Mission ...... 180 chen zusammengesetzten Geheim- Schweiz: Rechter Volkstribun untergräbt texte von rauschenden Sexritualen? Parteienkonsens ...... 182 Wurden auf einem Zeremonien- Rumänien: Leprakolonie am Donaudelta ...... 183 Felsen die geschlechtsreifen Mäd- Kroatien: Tudjmans Stern verblasst...... 194 chen des Inselvolks zwangsweise ent- Malta: Der zaudernde EU-Kandidat...... 198 jungfert? Sport Fechten: Emil Becks rüde Methoden ...... 204

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Steinskulpturen auf der Osterinsel Staatsanwaltschaft ermittelt in wegen Betrugs und Urkundenfälschung...... 206 Wissenschaft • Technik Risse im Fechtimperium Seiten 204, 206 Prisma: Weltkarte der Artenvielfalt / Kunstnase riecht Bakterien ...... 215 Die Erfolge seines Fechtzentrums in Tauber- Ethnologie: Rätseltexte und Sexrituale – bischofsheim zogen Politiker an und spülten För- geheimnisvolle Hochkultur der Osterinsel ..... 218 dergelder in die Kasse. Doch jetzt kommen skan- Medizin: Blutdruckmittel als Pille dalöse Details aus dem Sportim- für den Mann ...... 226 perium des Emil Beck ans Licht: Debatte: Teilchenforscher Hans Graßmann über den Ausverkauf der modernen Physik.... 232 Über Jahre hat der Trainer seine Umwelt: Großbrände in Chinas Sportler schikaniert und unter Kohleflözen...... 238 Druck gesetzt. Obendrein wird Automobile: Der neue Lamborghini Diablo... 246 wegen Betrugs und Urkunden- Computer: Droht zu Silvester fälschung ermittelt. der Atomkrieg aus Versehen?...... 248 Kultur Beck, Fechterinnen Fichtel, Funkenhauser, Bau HORSTMÜLLER (li.); FOCUS / AG. (re.) MÜLLER-ELSNER Szene: Kuriose Attacke auf Kunstwerk in London / Johnny Depp spielt Kokain-Dealer .. 253 Autoren: Tagebücher aus der Nazi-Zeit machen Furore...... 256 Schilderungen einer Freiburger Jüdin ...... 260 Sprache: Interview mit dem Irrwege der modernen Physik Seite 232 Schimpfwort-Experten Hans-Martin Gauger über die Kunst des Fluchens in Europa ...... 263 Die Chaostheorie verbreitet in vielen bunten Büchern nur Inhaltloses; das Hambur- Geschichte: Wie Bayernkönig Ludwig II. ger Großforschungszentrum Desy produziert nur irrelevante und uninteressante seine Geld- und Liebesnöte beklagte ...... 266 Ergebnisse – mit diesen Thesen provoziert der deutsche Physiker Hans Graßmann, Schriftsteller: Die Exil-Kubanerin Daína selbst Mitentdecker des Top-Quarks, in einem Beitrag für den SPIEGEL. Chaviano und ihr Roman „Havanna Blues“ ... 272 Bestseller ...... 273 Film: Pedro Almodóvars Melodram „Alles über meine Mutter“ ...... 274 Kino: Frankreich im Jeanne-d’Arc-Fieber ...... 276 Pop: Interview mit den Rock-Veteranen Ludwigs Lust-Postillen Seite 266 Crosby, Stills und Young über die Wiederkehr ihrer legendären Band ...... 278 Er schätzte Wagner-Musik, wohlgebaute Männerkörper und üppig ausstaffierte Schlösser. Bayernkönig Ludwig II. war Briefe ...... 8 ein triebhafter Verehrer des Schönen und deswegen stets Impressum...... 14, 284 in Geld- und Liebesnöten. Das Ausmaß seiner Pein bele- Leserservice ...... 284 gen Briefe, die nun versteigert wer- Chronik...... 285 Register ...... 286 König Ludwig II. den – Skandalstoff für Royalisten. AKG Personalien...... 288 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 290

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pen von Kindern, Jugendlichen und Er- „Wer eine handfeste, www-freie wachsenen gibt, die durch entsprechende Medieneinflüsse „hörgeschädigt, sehbe- Bildung in den Kernfächern hindert, gewalttätig, psychomotorisch un- genossen hat und nicht allzu terentwickelt“ und anderweitig geschädigt sind, darüber kann sich jeder, der nur will, verkrampft auf das Wort in entsprechenden Veröffentlichungen in- Computer reagiert, kommt auch formieren. Augsburg Prof. Dr. Werner Glogauer spielend im Cyberspace klar Universität Augsburg und schafft es, das Übermaß an Pädagogen und Psychologen sollten nicht Informationen zu filtern.“ unschuldigen Kindern ihre Naivität und Markus Schlobohm aus Kiel zum Titel „Kinder im Netz“ damit auch ihre Kreativität und ihre Kind- SPIEGEL-Titel 42/1999 heit entreißen, sondern vielmehr in einer Selbststudie die verhaltensverändernden Wirkungen der audiovisuellen Medien am Internet. Die Aufgabe unseres Seminars ist eigenen Leibe beobachten. Hort der Ausbeutung es, das Cyberland aktiv und passiv zu nut- Herdecke (Nrdrh.-Westf.) Benjamin Schubert Nr. 42/1999, Titel: Kinder im Netz zen und auszubauen beziehungsweise Räume zu gestalten.Wir denken nicht, dass Der tiefere Sinn des Internet ist die totale Man muss kein wertkonservativer Fort- von uns erstellte und genutzte Räume wie Kommerzialisierung. Selbst das Letzte, das schrittsfeind sein, um die Vereinnahmung die Kuschelhöhle, der Hexenraum oder die man bisher noch ziemlich kostenlos und von Teilen insbesondere der heutigen Ju- Gruft unsere Internet-User, in diesem Fall ohne zeitliches Limit haben konnte wie: gend und die Art und Weise, wie sie mit die Jugendlichen, psychisch ge- oder ohne Begeisterung „auf Linie“ („on- fährden. Die beste Seite an dem line“), auf den Kurs des technisch-ökono- Projekt ist, dass wir, die Ju- misch dominierten Zeitgeistes konditio- gendlichen, selbst bestimmen niert wird, zu den größten Gefahren für können, wie das Cyberland aus- unsere westliche Kultur und Zivilisation sieht und dass es auch in Zu- und für ein gesundes zwischenmenschli- kunft von Jugendlichen organi- ches Miteinander in unserer Gesellschaft siert und verwaltet wird. zu rechnen. Berlin Das Cyber-Team Merzenich (Nrdrh.-Westf.) Werner Mainz Wollte Karl Marx die heutige Die Thesen von Clifford Stoll treffen genau gesellschaftliche Realität be- den Punkt. Computer und Fernsehen als schreiben, er müsste das Inter- vorherrschender Lebensinhalt stehlen Le- net als einen Hort der Ausbeu-

benszeit. Ein spielerischer Lerneffekt ist tung wenig wissender Men- GAMMA / STUDIO X zwar zu erwarten, aber nur in Bezug auf schen durch wenige wissende Schulkinder am Computer den noch perfekteren Umgang mit der Menschen entlarven.Allerdings Unerwünschte Personen einfach wegbeamen Technik, die längst zum Selbstzweck ver- wird dabei nicht etwa die Ar- kommen ist. Ein Leben oder Lernen findet beitskraft der Mitbürger rücksichtslos als Leute sehen, mit ihnen sprechen und vor den Screens nicht statt. Ware vereinnahmt, sondern deren Seele. mehr … das alles wird jetzt in kleinlichen Witten Dr. Ronald Kroczek Clifford Stoll sei Dank, dass er uns die- Zeiteinheiten abgerechnet. Der eigentliche sen faustischen Zusammenhang deutlich Knackpunkt, warum der Umgang mit dem Viele Pädagogen gehören in Deutschland macht. Computer so bestechend ist: Auf jeden ein- mit zum Konservativsten, was dieses Land Hann. Münden Helmut Strunz zelnen Schritt folgt sofort das Feedback. zu bieten hat. Im Bereich Medienpäda- Und das kann der User umgehend beein- gogik wird auch von professionellen Ich habe mich über Mediennutzung und flussen. Man kann unerwünschte Perso- Pädagogen immer wieder mit dem gesun- -wirkung in meinen Veröffentlichungen nen und Infos einfach wegbeamen – wie in den Menschenverstand argumentiert. So keinesfalls in der Diktion von Propheten den Science-Fiction-Movies oder früher werden Süchte, die Ursachen von Gewalt, geäußert, sondern Fakten aus empirischen in den Märchen. Das Argument, das Den- Unruhe, motorische Störungen pauschal Forschungen dargestellt beziehungsweise ken in größeren Zusammenhängen ginge den Medien zugeschrieben. Die audio- mich mit diesen kritisch auseinander verloren, zieht auch nicht: Wem hatte visuellen und interaktiven Medien sind gesetzt. Dass es schon längst größere Grup- das bis zum Erscheinen des Internet ge- der potenzielle mächtige Gegner vieler Pädagogen. Bei näherer Betrachtung der Ausbildung von Pädagogen fällt auf, dass Vor 50 Jahren der spiegel vom 3. November 1949 der Anteil von Medienpädagogik in der Bonn und Frankfurt buhlen um den Regierungssitz Heikles Thema. Ausbildung verschwindend gering ausge- 12 Todeskandidaten hoffen in der Festung Landsberg noch auf Gnade fallen ist, falls es überhaupt einen Anteil Hat es Misshandlungen während des Verfahrens gegeben? Amerikas gab. Dies grundlegend zu ändern dürfte Marinechef ging in der „Schlacht um das Pentagon“ über Bord eine der Bildungsaufgaben des nächsten Die Luftwaffe siegte beim Kompetenzgerangel. „Bund der Steuerzah- ler“ gegründet Streng föderalistisch und Finger weg von der Politik. Jahrhunderts ein. Der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun schildert Melzingen (Nieders.) Michael Kobbeloer die Jahre 1945 bis 1948: „Auf überwucherten Pfaden“. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Das „Cyberland“ ist eine von Jugendlichen Titel: Der britische Film-Aristokrat Alexander Korda für Jugendliche gemachte virtuelle Welt im

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Werbeseite Briefe nutzt? Trotz Erkennens der tollsten Zu- sammenhänge ist in den letzten Jahrtau- Hervorragende Ergebnisse senden alles Unheil dieser Welt geschehen. Nr. 42/1999, Medizin: Aber nicht nur das Unheil. Kassen sollen für umstrittene Krebstherapie zahlen Isernhagen (Nieders.) Regin Reuschel Das Lamentieren der Krankenkassen über Es wurden keine Alternativen zum üb- die Kosten der Tumorvakzine ist höchst lichen Umherklicken aufgezeigt. Es gibt unverständlich, da beim Nierenkrebs er- nämlich sehr wohl Projekte, die einen Ge- weislich unwirksame Strahlen- und Che- genpol zu Ballerspielen und Klickibunti motherapien bezahlt werden, obwohl die- schaffen können. se Methoden weitaus kostspieliger sind, da Berlin Frank Rosengart

Wenn Internet als Lernobjekt und Lern- subjekt breit an Schulen eingeführt wird, bekommen wir nicht nur Computerfreaks, die sich als megalomane Nichtskönner pro- filieren, sondern wir bekommen auch ach- telgebildete Klickfreaks, die die Maus für ein Lebewesen und den Bildschirm für ihren Lebens-Interaktionspartner halten. Lernen heißt sich verändern und nicht ein von einem viertelgebildeten Programmie-

rer vorgedachtes Programm abnudeln kön- N. MICHALKE nen. Im Internet kann man nichts lernen! Laboruntersuchung in der Urologie Denken und Intelligenz ist gefragt, nicht Lamentierende Krankenkassen dumpfes Tastaturbedienen, Bildschirm- glotzen und affenartiges Nachvollziehen sie in der Regel das Zehnfache einer sinnloser Operationen. Computer schaffen ASI-Therapie kosten. Es konnte zu den in eine Kunstwelt, die genauso rudimentär die Rechtsstreitigkeiten mündenden Leis- ist wie künstliche Intelligenz gegenüber tungsablehnungen durch die Krankenkas- menschlicher Intelligenz. sen nur kommen, weil die Krankenkassen Kelkheim (Hessen) Henning Pawlik die Versicherten im Unklaren darüber ge- lassen haben, dass autologe Tumorvakzine Mit Clifford Stoll endlich auch eine kriti- als verordnungs- und verkehrsfähige Arz- sche Stimme gegen die Bertelsman(n)ie! neimittel auf Kassenrezept verschrieben Nur: Die Interaktivität der Programme als werden können. Lüge zu entlarven und die Okkupation der Bad Schwartau (Schl.-Holst.) Joachim Ludewig Phantasie als Gleichschaltung zu erkennen Boris Ludewig trifft nicht den Kern. Weit wichtiger ist die Rechtsanwälte Erziehung zur Folgenlosigkeit des eigenen Handelns am Schirm – Klick: Löschen, Die Befürchtung „renommierter deutscher Klick: Neues Spiel – das permanente Nicht- Krebsärzte“ und Krankenkassen, das be- Verantwortlichsein. richtete Urteil des LSG Celle könnte zwei- Bielefeld Heinrich Bauersfeld felhaften Therapiemethoden Tür und Tor öffnen, ist unbegründet. In einer Studie an Das Denken in Zusammenhängen nach ei- Brustkrebspatientinnen waren über fünf nem Ursache-Wirkung-Prinzip wird immer Jahre nach Operation und ASI-Nachbe- mehr in den Hintergrund gedrängt. Ein handlung nur 5 von 32 Patientinnen ver- möglicher Ansatz, dem entgegenzuwirken, storben, während in einer Kontrollgruppe wäre eine Neuausrichtung der Mediener- mit ähnlichem Risiko 16 von 31 Patientin- ziehung in der Schule. Schwerpunkt dabei nen verstarben. Basierend auf den hervor- sollte nicht die Anwendung der Neuen Me- ragenden Ergebnissen der ersten klinischen dien sein, sondern die historische Entste- Studie wird nun eine größere Studie euro- hung der Medien, ihr Einfluss auf die Mei- paweit an 600 Patientinnen durchgeführt. nungsbildung und Auswirkungen auf die Heidelberg Dr. Thorsten Ahlert Gesellschaft. Mit einer solchen Grundlage würde ein ganz neuer Bezug im Internet hergestellt. Rot und rüstig Thornbury (England) Jesko Horaczek Nr. 42/1999, PDS: Der unaufhaltsame Aufstieg der SED-Nachfolger Internet-User werden von Mr. Stoll in das Licht kontaktgestörter Techno-Zombies Nur keine Angst: Die Prozentrechnungen gerückt, die den PC dazu missbrauchen, täuschen, weil sie die zweitstärkste Partei, das eigene Gehirn abzuschalten. Wie die Nichtwähler, einfach fortlassen. In ab- schnell Lerneffekte via Net und moderner soluten Zahlen und im Vergleich mit der Technik entstehen können, beobachten wir letzten Wahl, nämlich zum Bundestag vor täglich. einem Jahr, sieht alles anders aus. In den Frankfurt am Main Marcus Rheker drei neuen Ländern hat die PDS ein Fünf-

12 der spiegel 44/1999 tel ihrer Wähler verloren, in Berlin gerade mal 13000 Stimmen dazugewonnen – die CDU mit 175000 fast 14-mal mehr! Die SPD hat sich in Berlin dramatisch halbiert, von ihrem Verlust gingen aber maximal nur 3 Prozent zur PDS, die gerade mal 11,5 Pro- zent aller Wahlberechtigten für sich gewin- nen konnte. Im Funktionärsghetto des Be- zirks Marzahn und einem der beiden Mit- te-Wahlkreise, dem Regierungswohnviertel der SED, erlebte die PDS ihren Rekord: Sie gewann dort freilich nicht einmal die Hälf- te der Wahlberechtigten. Für Jungwähler war die PDS, die sich als ,,rot, radikal, rüs- tig“ vorgestellt hatte, nun wirklich nicht at- traktiv, weshalb sie beim nächsten Mal laut einem Bundesvize für die Legalisierung von Hasch werben will. Berlin-Charlottenburg Jürgen Rüdiger

Defekt an der Ölpumpe Nr. 43/1999, Zeitungen: Der neue Berlin-Teil der „FAZ“

Es freut mich, dass Andreas Lebert die neu- en Berliner Seiten der „Frankfurter Allge- meinen Zeitung“ gefallen. Jedoch erfindet er in seinem Artikel ein paar Dinge, die der Richtigstellung bedürfen. Die Behaup- tung, ich hätte für die Berliner Seiten das „FAZ“-Magazin sterben lassen, ist unwahr. Die Schließung des „FAZ“-Magazins hat mit der Gründung der Berliner Seiten nichts zu tun. Vielleicht können ja in der Wochenzeitung „Die Zeit“, deren Redak- tion „Leben“ Andreas Lebert betreut, ein- zelne Herausgeber Zeitungsteile nach Be- lieben öffnen oder schließen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geht das nicht. Lebert schreibt, er habe ir- gendwo zwischen Restau- rant Borchardt und dem S-Bahnhof Friedrichstraße gehört, es sei wegen einer Glosse von mir über den Feuilletonchef der „Berli- ner Zeitung“ mit der Redaktion der Berliner Seiten zu einem Streit ge- kommen und der Druck-

DPA termin verpasst worden, Schirrmacher so dass die Ausgabe vom 30. September nicht er- scheinen konnte. Kein Wort ist wahr. We- der habe ich je eine solche Glosse ge- schrieben noch angeboten. Noch gab es Streit, noch ist der Andrucktermin verpasst worden. Der liegt für die Berliner Seiten bei Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt be- fanden sich die Redakteure der Berliner Seiten schon auf dem großen Fest von An- dreas Lebert und der „Zeit“. Die Berliner Seiten vom 30. September konnten, wie den Berliner Lesern mitgeteilt, wegen eines Defekts an der Ölpumpe in der Druckerei in Potsdam nicht erscheinen. Frankfurt am Main Dr. Frank Schirrmacher Herausgeber der „FAZ“

der spiegel 44/1999 Briefe

und Überwälzung es drehen und wenden, wie er will: Sabine von sechs Milliarden Christiansen macht ihre Sache gut. Sehr Mark zusätzlicher gut sogar. Pensionslasten auf Amriswil (Schweiz) Julia Onken den Bund. Ab 2000 übernimmt der Bund Ich hätte mich an dem Gespräch nicht be- außerdem weitere teiligt, wenn ich gewusst hätte, dass es nur 2,5 Milliarden Mark das Feigenblatt für eine Anti-Christiansen- pro Jahr. H. G. Bern- Aktion ist. So weit, so schlecht: Häme als rath ist jetzt als Ge- Gesellschaftsspiel, man lernt dazu und ist neralbevollmächtig- gewarnt. ter der Deutschen Mainz Ruprecht Eser Post AG eingekauft. „Halb 12“-Moderator Wenn er nun dank politischer Kontakte Um in der ihr vertrauten Fliegersprache sicherstellt, dass der zu bleiben: Frau Christiansen fühlt sich in

J. MODROW J. Post-Vorstand so wei- ihrer Sendung jeden Sonntagabend wie Briefzentrum (in Hamburg): Aktienoptionen für den Vorstand? termachen darf wie eine Chefpilotin im Cockpit, entpuppt sich bisher – und Hans aber leider für die hoch überlegenen Gäste Eichel fleißig wegschaut – und sogar noch rasch als überfordertes Bodenpersonal. Rote Zahlen eine Verlängerung des Briefmonopols er- Neuss Frank-Michael Rall Nr. 42/1999, Post: Gefahr für den Börsengang reicht, ist der Senior sicher sein Geld wert. Mögliche Aktienoptionen winken für den Die einzige in Deutschland vorzeigbare Vergleicht man die Zahlen von 1995 mit Vorstand, aber für künftige Aktionäre und Talkshow ist die von Sabine Christiansen. den Zahlen von 1998 und berücksichtigt die Beschäftigten sieht die Welt leider nicht Ihr breit gestreuter Erfolg wird durch dabei die Steuerersparnis von mindestens so rosig aus. Millionen von Zuschauern jeden Sonntag- 1,5 Milliarden Mark, dann zeigt sich, dass Stuttgart Monika Schäfer abend bestätigt. Diese widerliche Neidmas- die Deutsche Post AG ihr Ergebnis nicht turbation ist zum Kotzen.Von so viel Brei- um 1,1 Milliarden Mark verbessert, son- tenwirkung, wie sie Sabine Christiansen dern um 315 Millionen Mark verschlechtert Gequältes Aufjaulen erzielt, kann ein Printjournalist eben nur hat. Bisher hat es die Deutsche Post AG Nr. 42/1999, Talkshows: Wie Oskar Lafontaine die träumen. nicht geschafft, den Paketdienst aus den Christiansen-Runde beherrschte; SPIEGEL-Gespräch Berlin Dr. Detlef R. Peters roten Zahlen herauszubringen. Weitere mit Sabine Christiansen und Ruprecht Eser rote Zahlen sind durch die vielen Zukäu- Selten habe ich einen so treffenden Artikel fe von Unternehmen und den Erwerb von Die Plaudertasche Sabine Christiansen im SPIEGEL gelesen wie die Beschreibung Beteiligungen an Unternehmen im Aus- sollte ihre Ansprüche herunterschrauben: der Christiansen-Talkshow mit dem Erz- land zu befürchten.Von einem Börsengang Ihre Polit-Talker gehen eben nicht über die Egomanen Lafontaine. Solchen Personen der Deutschen Post AG im nächsten Jahr gestanzten Antworten hinaus, die man in- sollte die Möglichkeit, sich immer wieder kann wohl nicht die Rede sein. und auswendig kennt. Vielleicht wär’s ja in Szene zu setzen, verwehrt werden. Zu- anders, wenn die Frau ihre Sendung Offenbach Wilhelm Hübner DVPT – Deutscher Verband für Post nicht nur zur Selbstdarstellung nut- und Telekommunikation e. V. zen, sondern ihre Gäste schlicht und einfach ausreden lassen würde. Wieso ist der Börsengang der Post extrem Kirchdorf (Bayern) Heinz Mettig gefährdet? Der Vorstandsvorsitzende hat doch alles getan, um aus einem „staubigen Gute Interviews oder Moderationen Beamtenapparat“ ein dynamisches Unter- setzen ausreichende handwerkliche nehmen zu machen: Verkauf des milliar- Kompetenzen voraus. Bevor Modera- denschweren Familiensilbers, Reduzierung toren aber Kurse in Vulgärpsycholo- der Mitarbeiter von 308 500 (1995) auf gie besuchen, sollten sie es zunächst 243 000 (1999), Schließung von Filialen, einmal mit zwei Grundregeln versu-

Preiserhöhung im Monopolbereich Brief, chen: Fragen mit dem Ziel des Infor- PRESS ACTION mationsgewinns und nicht zur Eigen- Moderatorin Christiansen, Buchautor Lafontaine profilierung zu stellen, ferner sich auf Nichts als gestanzte Antworten die Antworten der Gesprächspartner VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, zu konzentrieren anstatt schon gedank- mal noch in einer Sendung, die oft genug Regierung, Umfrage, Zwangsarbeiter, Urteile: Michael Schmidt- Klingenberg; für Titelgeschichte, Trends, Geld,Wirtschaftspolitik, lich die nächste Frage vorzubereiten und von der an sich sympathischen Sabine Autoindustrie, Asien, HypoVereinsbank, Biotechnik, Risiko- damit Ansatzpunkte zum Nachhaken zu Christiansen peinlich unjournalistisch nur kapital, Journalisten, Zeitschriften, Chronik: Gabor Steingart; für CSU, Naturschutz, Gewalttäter, Schmiergelder, Tiere, Gesund- verpassen. moderiert statt geleitet wird. heit, RAF, USA: Clemens Höges; für 100 Tage im Herbst: Münster Prof. Dr. Hanko Bommert Pforzheim Heide Bentner Jochen Bölsche; für Fernsehen, Szene, Stars, Fortpflanzung, Fachbereich Psychologie Uni Münster Autoren, Sprache, Geschichte, Bestseller, Kino, Pop: Wolfgang Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Höbel; für Niederlande, Panorama Ausland, Sozialdemokratie, schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Tschetschenien, Schweiz, Rumänien, Kroatien, Europa: Dr. Olaf Matthias Matussek mag Frauen nicht. Ganz Ihlau; für Fechten: Alfred Weinzierl; für Prisma, Ethnologie, Medizin, Debatte, Umwelt, Automobile, Computer: Olaf Stampf; besonders aber gehen ihm die Erfolgrei- für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, chen auf die Nerven. Jedoch, die Demon- Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Post- Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel: Gudrun tage von Sabine Christiansen ging dane- karte der Firma Deutsche Telekom, Bonn, beigeklebt. In Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Rainer Sen- einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beila- newald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: ben. Eigentor! Zu viel gequältes Aufjaulen gen der Firmen Akademische Arbeitsgemeinschaft, Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) eines Missgünstigen, der den Erfolg einer TITELFOTO: Monika Zucht Mannheim, Handelsblatt/WiWo, Düsseldorf, FED EX, Kollegin kaum verkraftet. Matussek kann Kelsterbach, und Hewlett Packard, Böblingen, bei.

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Werbeseite Panorama Deutschland M. DARCHINGER Großkundgebung des Öffentlichen Dienstes in Berlin

BEAMTE aufgerufen hatte, nahmen am 19. Oktober mehr als 50000 Mit- arbeiter des Öffentlichen Dienstes teil. Der DGB hat nach ei- genen Angaben keinen Protestlohn gezahlt. Protest auf Spesen Geradezu luxuriöse Bedingungen bot hingegen der Landes- bund Bremen des DBB: Er charterte einen Airbus A 320. Eine emonstrieren lohnt sich: Für den Beamtenprotest gegen die Anfahrt per Bus, schrieb der Landesvorsitzende Thomas Stitz DSparpolitik der Bundesregierung am 19. Oktober in Berlin vor der Demonstration an seinen Vorstand, sei „einfach zu zeit- hat der Deutsche Beamtenbund (DBB) seinen Mitgliedern nicht aufwendig“. Der Rückflug solle erst gegen 20 Uhr erfolgen: nur eine kostenlose Anreise geboten, demonstrationswillige „Somit wäre noch ein kurzes Shopping in Berlin möglich.“ Beamte wurden auch mit einem „Tagegeld“ von 50 Mark gekö- Nach „Rücksprache mit der Bundesgeschäftsstelle“, versprach dert. Geboten wurden die Spesen nicht nur DBB-Mitgliedern, Stitz, gebe es sogar höhere Tagegelder, die von den Teilnehmern sondern auch deren mitreisenden Angehörigen. Damit gebe aber gegen die Flugkosten aufgerechnet werden müssten. der Beamtenbund lediglich Beitragsgelder an seine Mitglieder Wie viel Geld der DBB insgesamt ausgezahlt hat, konnte Be- zurück, rechtfertigt Beamtenbund-Sprecher Rüdiger von Woi- amtenbund-Sprecher Woikowsky nicht sagen. Von den De- kowsky die Prämie. An der Protestaktion in Berlin, zu der monstranten hätten aber „viele“ kein Geld haben wollen: Die außer dem DBB auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seien „aus Idealismus gekommen“.

KLIMAPOLITIK gen, mit dem das Ziel, den CO2-Ausstoß che“ Verkehrspolitik entwerfen, mit bis 2005 um ein Viertel zu senken, doch „Verkehrsvermeidung“ als oberstem Goldene Worte noch erreicht werden kann. Dazu fordern Ziel. Nach einer auf der Konferenz vor- beide Fraktionen den „Abbau ökologisch gestellten britischen Studie stoßen Pkw, ach Gerhard Schröders überraschen- kontraproduktiver Subventionen“. Der Lkw und Flugzeuge durch Zunahme des Nder Ankündigung auf der Klimakon- Anteil der Klima schonenden Kraft-Wär- Verkehrs im Jahr 2010 fast 40 Prozent ferenz in Bonn, schon bis Mitte nächsten me-Kopplung soll deutlich erhöht, der mehr Treibhausgase aus als 1990. Jahres eine „umfassende nationale Min- Anteil erneuerbarer Energien bis 2010 Schröders Rede wird besonders im Um- derungsstrategie für die Treibhausgase“ verdoppelt werden. Außerdem müsse die weltministerium hoch erfreut zur Kennt- vorzulegen, wollen SPD und Grüne am Bundesregierung eine „klimafreundli- nis genommen („Der will jetzt Action se- kommenden Freitag im Bundestag we- hen“). Trittins Fachbeamte sentliche Eckpunkte fixieren. In einem waren bislang regelmäßig gemeinsamen Antragsentwurf fordern vom Wirtschafts- und dem die Regierungsfraktionen die „zügige Ra- Verkehrs- und Bauministe- tifizierung“ des Kyoto-Protokolls, damit rium hingehalten worden. die darin enthaltenen Pflichten zur Redu- „Die Rede“, freut sich ein zierung der Klimagase bald wirksam Ministerialrat, „ist für uns werden. Gold wert.“ Spätestens im Mai müsse die Bundesre-

gierung ein Klimaschutzprogramm vorle- M. SCHARNBERG / VISUM Autoverkehr (in Hamburg) 17 Panorama

KIRCHE Machtkämpfe im Vatikan ber dunkle Machenschaften im Vati- Ükan berichtet ein Enthüllungsbuch, das in dieser Woche auf Deutsch er- scheint. Um die italienische Original- ausgabe hatte es bereits so viel Wirbel ge- geben, dass der Berliner Aufbau-Verlag sich schon auf rechtliche Schritte des Vatikans einstellt. Verfasst hat das Werk eine anonyme Gruppe von Vatikan-Insi- dern. Einzig bekannt gewordener Autor der Textsammlung mit dem Titel „Wir kla- gen an. Zwanzig römische Prälaten über die dunklen Seiten des Vatikan“ ist der Ex-Abteilungsleiter der Ostkirchen-Kon- gregation, Monsignore Luigi Marinelli, der mehr als 35 Jahre im Vatikan tätig war. Die Autoren berichten von Erpressung und Vetternwirtschaft im Umfeld des Papstes,

von Machtdenken und Seilschaften unter REUTERS Kardinälen und Bischöfen. Marinelli plä- Ernennungszeremonie für Kardinäle auf dem Petersplatz (1998). diert deswegen für eine Reform der Kurie. Das oberste römische Kirchengericht „Sacra Rota“ hat ihn mitt- halb eine zivile Verleumdungsklage des Vatikans.Auf der Buch- lerweile vorgeladen und ihm untersagt, das Buch weiterzuver- messe in Frankfurt fanden die ersten Vorabexemplare bereits breiten und in andere Sprachen zu übersetzen. In der Regel wird reißenden Absatz: Sie wurden fast alle geklaut. Auch „eine die Rota nur auf Anordnung des Papstes tätig. Zivilrechtlich hat Nonne“, so ein Verlagsangestellter, ließ das Buch verschämt sie keine Autorität. Betroffene Klerusangehörige verlangen des- unter ihrem Obergewand mitgehen.

INNERE SICHERHEIT trag an seinen Grünen-Fraktionsvor- ASYLBEWERBER stand hat der Bundestagsabgeordnete Vom Sparen verschont Christian Ströbele gefordert, die Etats Kurz halten der Sicherheitsbehörden deutlich zu re- er rot-grünen Koalition droht ein duzieren. Der Fraktionsarbeitskreis it drastischen Worten kritisiert der Dweiterer Konflikt: Teile der Grü- Recht und Innen hat dem bereits zuge- Mbaden-württembergische Städte- nen-Fraktion wollen Kürzungen bei der stimmt. tag, dass Asylbewerber, die länger als Inneren Sicherheit und bei den Ge- drei Jahre in Deutschland leben, vom 1. heimdiensten durchsetzen. Trotz des Juni 2000 an rund 20 Prozent mehr Spargebots will Finanzminister Hans Geld bekommen. Dies sei eine „Sub- Eichel die Etats von Bundesgrenzschutz vention des organisierten Men- und Bundeskriminalamt im Jahr 2000 schenhandels aus Steuertöpfen“ und um 2,5 bis 3,5 Prozent ansteigen lassen. bringe nur mehr Kapital in das illegale Die Grünen erbost besonders, dass Schleusergeschäft. Gleichzeitig werde auch für das Bundesamt für Verfas- es lukrativer, eine Ausreise hinauszu- sungsschutz ein Zuwachs von 3,57 Pro- schieben, fürchtet Städtetagssprecher zent vorgesehen ist. Das hatte es nicht Manfred Stehle. Landesinnenminister einmal in der Kohl-Ära gegeben. Innen- Thomas Schäuble (CDU) will auf der minister Otto Schily (SPD) nennt die Innenministerkonferenz Mitte Novem- Zuwächse in diesen Bereichen den ber die Erhöhung stoppen. Dabei hatte „wichtigsten Punkt“ seines Haushalts- der Bundestag genau diese Regelung plans. 1997 mit den Stimmen der CDU be- Auch der Bundesnachrichtendienst soll schlossen: Damals wurden die Leistun- finanziell profitieren: Den rund 1000 gen für Asylbewerber in den ersten drei Mitarbeitern, die in den kommenden Jahren ihres Aufenthaltes unter den So- Jahren aus München in die Haupt- zialhilfesatz gesenkt – mit dem Argu- stadt umziehen, sind die besonders üp- ment, in dieser Zeit bestehe ein „gerin- pigen finanziellen Leistungen entspre- ger Bedarf“. Nach 36 Monaten sollte

chend den Gesetzen zum Bonn-Berlin- M. DARCHINGER wieder der höhere Satz gelten, um eine Umzug zugesagt worden. In einem An- Schily bessere Integration zu ermöglichen.

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BUNDESWEHR Kokott: Die deutsche Regelung, die Frauen generell vom „Dienst mit der Frauen an die Waffen Waffe“ ausschließt, ist kaum zu halten. Der Gesetzgeber tut gut daran, sich Professorin Juliane jetzt schon darauf vorzubereiten. Kokott, 42, Expertin für SPIEGEL: Im Grundgesetz steht aber, Europarecht und Frauen dürfen „auf keinen Fall“ Dienst deutsches Verfassungs- mit der Waffe leisten. recht, über die Kokott: Es war schon immer fraglich, ob Gleichberechtigung in das auch für Frauen gilt, die sich freiwil- den Streitkräften lig melden, wenn auch die deutschen Gerichte das bisher so gesehen haben. SPIEGEL: Der Europäische Gerichtshof Europäisches Recht hat hier aber jeden- (EuGH) hat im Fall einer britischen Klä- falls Vorrang vor innerstaatlichem gerin entschieden, dass Frauen auch in Recht, auch vor der Verfassung. den Streitkräften prinzipiell mit den SPIEGEL: Muss also nicht einmal das Männern gleich zu behandeln sind. Be- Grundgesetz geändert werden? trifft das auch die Bundeswehr? Kokott: Eigentlich nicht. Natürlich wer- Kokott: Ja. Die zentralen Aussagen die- den es Frauen schwer haben, sich schon ses Urteils gelten auch für die deut- jetzt, ohne Änderung der Gesetze, für schen Streitkräfte. Ausnahmen von der kämpfende Truppen zu bewerben – Gleichbehandlung sind nur möglich, aber sie haben das Recht auf ihrer Seite. wenn das Geschlecht „unabdingbare SPIEGEL: Die Wehrpflicht gilt nur für Voraussetzung“ für eine Tätigkeit ist. Männer – müsste sie zur Gleichbehand- Dies ist nach dem Urteil aber ganz eng lung nun auch für Frauen gelten? auszulegen. Kokott: Nach europäischem Recht ist es SPIEGEL: Noch steht der Fall der deut- durchaus problematisch, dass nur Män- schen Bundeswehr-Bewerberin Tanja ner zum Wehrdienst gezwungen wer- Kreil beim EuGH zur Entscheidung an. den. Allerdings hat die europäische Was gilt bis dahin? Gleichbehandlungsrichtlinie eher frau- enfördernde Ziele. Der Vorteil, dass Frauen nicht zum Bund müssen, wird ja in der Regel immer noch dadurch ausgegli- chen, dass sie es bei der Karrie- re schwerer haben. SPIEGEL: Könnte die Wehrpflicht ganz abgeschafft werden? Kokott: Natürlich, verfassungs- rechtlich spricht da einiges dafür: Denn die Gewissensprü- fung für Verweigerer ist ebenso heikel wie die Tatsache, dass ja gar nicht alle Männer zum Wehrdienst herangezogen wer- den. Bei einer Berufsarmee

A. GRIESCH / AG. ANNE HAMANN A. GRIESCH / AG. hätte man diese Probleme Bundeswehr-Sanitäterinnen bei einer Übung nicht.

DIÄTEN der Sonderbeitragszahlungen“ Auskunft gibt. Die Listen wurden bei den Kandi- Pranger für Grüne datenanhörungen in Essen und Düssel- dorf öffentlich ausgehängt. Besonders ie grünen Kandidaten für die Land- schlecht schnitt dabei der Fraktions- Dtagswahl in Nordrhein-Westfalen sprecher Roland Appel ab – sein Erfül- im Mai kommenden Jahres müssen sich lungsgrad liegt bei null Prozent. Er gibt einer peinlichen Prozedur unterziehen. an, für fünf Personen sorgen zu müssen Jeder der 77 Bewerber musste vor der und sich auch einen auf 1500 Mark re- Kandidatenvorstellung schriftlich er- duzierten Spendenbetrag nicht leisten klären, ob er im Fall einer Wahl bis zu zu können. Seit Monaten versuche er 2100 Mark im Monat aus seinen Diäten mit der Diätenkommission seiner Par- an die Partei abführen werde. Für die 24 tei, eine gerechte Lösung zu finden. Als Politiker, die bisher schon im Landtag Salär erhält ein Abgeordneter 8875 sitzen, wurde zusätzlich eine Liste er- Mark plus steuerfreie 2306 Mark allge- stellt, die über den bisherigen „Stand meine Kostenpauschale.

der spiegel 44/1999 19 Panorama Deutschland

SCHINDLERS LISTE Zeitung“ keine anders lautenden Bele- Am Rande ge vorlegt, gilt es daher auch als un- Koffer für die Witwe? wahrscheinlich, dass Schindler den Kof- fer schon vor dem Eingriff an Staehr Gütiger Himmel mmer mehr deutet darauf hin, dass verschenkt hat. IOskar Schindlers berühmte Liste mit Wenn Schindler zu Lebzeiten seine Do- den Namen von Juden, die er vor dem kumente aber gar nicht verschenkt hät- Holocaust rettete, seiner Witwe Emilie, te, dann gehörte die Liste nach Ein- 92, zusteht. Neue Indizien dafür liefert schätzung von Rechtsexperten zum ausgerechnet Annemarie Staehr, Schindlers letzte Gefährtin. Sie hatte einen Koffer Schindlers mit den Listen nach seinem Tod im Oktober 1974 an sich genommen, ihr Sohn hat das Material jetzt der „Stuttgarter Zeitung“ übergeben. Derzeit werden die Dokumente uf die Frage, was ein nackter im Koblenzer Bundesarchiv auf AMann, ein Kleiderschrank, Mikrofilm kopiert. ein paar Pinguine und die evan- Die 1988 verstorbene Staehr gelische Kirche gemeinsam schrieb im Dezember 1974 an eine haben, fällt wahrscheinlich nie- Schindler-Nichte, der „liebe mandem etwas halbwegs Sinn- Oskar“ habe zwar nach einer

volles ein – außer Pfarrer Werner Operation noch 16 Tage gelebt, DPA Rohrer von der Evangeliums- sei aber nach der Narkose nicht Schindler-Foto, Namenslisten mehr „richtig zum Bewusstsein“ kirchengemeinde in Berlin-Rei- gekommen. Damit scheint ausgeschlos- Nachlass – und damit den Erben. Unter- nickendorf. sen, dass Schindler den Koffer nach lagen über den tatsächlichen Willen Der startet nämlich am Refor- dem Eingriff an Staehr verschenkt hat. Schindlers sind offenbar schwer beizu- mationstag eine Plakatkampa- Schindler, so die Freundin, habe daran bringen. In Staehrs Brief heißt es: „In gne, und in der steht ein nackter geglaubt, dass ihm die „an sich harmlo- seiner Wohnung, an einem genau be- Mann im Kleiderschrank und se Operation“ Besserung bringen wer- schriebenen Platz, sollte ich nach allen wirbt für die christliche Ehebe- de; sogar „Pläne für danach“ habe er Verfügungen suchen und ausführen – ratung: „Willkommen in der Kir- geschmiedet. Solange die „Stuttgarter aber dieser Platz war leer.“ che“. Auf einem anderen Motiv illustrieren besagte Pinguine den Satz „Einen Frack braucht nie- gericht keinen Bestand hätte. Thierses mand im Gottesdienst zu tragen“. Verwaltung erwägt nun, das Hausverbot Nun sind in der Tat viele Gottes- gegen die beiden Ex-Spitzel auszudeh- dienste so leer, das sie ohne wei- nen und ihnen damit den Zugang zu teres in einem handelsüblichen ihrem Arbeitsplatz zu untersagen. Kleiderschrank stattfinden könn- ten – und wenn die Gemeinde ein bisschen zusammenrückt, M. DARCHINGER M. URBAN VERFASSUNGSSCHUTZ könnte auch der eine oder ande- Gysi Thierse re Ehebrecher noch Unterschlupf Anonyme Faxe finden. SPITZEL Trotzdem: Muss das sein? Und in hochrangiger Beamter des Bun- welche frohen Botschaften blü- Gysi kontra Thierse Edesamtes für Verfassungsschutz hen uns Christenmenschen dann (BfV) hat Klage gegen die Bundesregie- noch? Das Plakat mit einer Do- er PDS-Fraktionschef legt sich mit rung eingereicht. Der Leitende Regie- DParlamentspräsident Wolfgang rungsdirektor war von BfV-Präsident mina, dazu der Spruch: „Mal wie- Thierse (SPD) an. In einem Brief an Peter Frisch im Januar 1999 zum Bun- der niederknien? – Bei uns ist es Thierse lehnt es Gregor Gysi ab, zwei desverwaltungsamt abgeschoben wor- billiger. Ihre Kirche“? umstrittene Fraktionsmitarbeiter zu ent- den. Der langjährige Leiter des Sicher- In Hamburg hängt derzeit ein lassen. Die beiden waren 1998 wegen heitsreferats wird von Frisch bezichtigt, Plakat, auf dem eine Nonne ihren „geheimdienstlicher Agententätigkeit für anonyme Telefaxe an Spitzenpolitiker nackten Po zeigt. Und was sagt eine fremde Macht“ auf Bewährung ver- geschickt zu haben, in denen ihm vorge- uns die Nonne? „Einen Frack urteilt worden. Deswegen hatte Thierse worfen wird, private Feiern und den braucht niemand im Gottesdienst im Oktober deren Entlassung verlangt Umbau seines Hauses aus Amtsmitteln und verfügt, dass die beiden nicht mehr bezahlt zu haben. Frisch bestreitet sol- zu tragen“? den Bundestag, sondern nur noch PDS- che Vorwürfe, sein Ex-Untergebener de- Nein, die Hamburger Nonne Fraktionsräume in einer Außenstelle be- mentiert, Verfasser der Faxe zu sein. wirbt für eine Sexmesse. treten dürfen. Die PDS argumentiert, Der will mit der Klage erreichen, dass dass eine Kündigung vor einem Arbeits- er ins Bundesamt zurückkehren darf.

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Werbeseite Deutschland AP ACTION PRESS ACTION Rot-grüne Konfliktthemen Umwelt, Waffenlieferungen, Ausländer, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Atomkraft*: Wie viel Prinzipien verträgt

REGIERUNG Panzerschlacht im Kanzleramt Nach einem Jahr ist die rot-grüne Koalition an der Spitze zerrüttet. Kanzler Schröder zwingt dem grünen Vize Fischer beim Panzergeschäft mit der Türkei seinen harten Kurs auf. Weitere Zumutungen stehen den Grünen bevor: beim Export von Waffen und Atomanlagen.

ls der Außenminister eintraf, be- Formal rettete sich die Koalitionsrunde sozialdemokratischen Zwillingsbruder- fasste sich das Kabinett gerade mit im Kanzleramt mit einem vagen Kompro- schaft Oskar und Gerd ist nun die Ko- Adem Thema Straßenbau. Kanzler miss über die Zeit. Bei der Lieferung des sovo-kriegsgehärtete Männerfreundschaft Gerhard Schröder, von Joschka Fischer lei- Testpanzers, die gegen die Stimme des Schröder und Fischer zerbrochen. se begrüßt, konnte das unter Normalität Außenministers beschlossen worden war, Die Frage, wer in dieser Koalition „Koch verbuchen. Denn inzwischen ist es fast üb- bleibt es. Doch soll der „Vorbereitungs- und wer Kellner ist“ (Schröder), hatten der lich, dass der Langläufer Fischer in Berlin ausschuss“ des Bundessicherheitsrates un- Kanzler und Fischer bisher zu spät kommt: Das verschaffe ihm jeweils ter Beteiligung von Experten aus beiden immer nur spöttisch ab- einen Sonderauftritt im Fernsehen, spotten Fraktionen die Richtlinien für den Export gehandelt. Fischer leistete Ministerkollegen. von Kriegswaffen „unter Berücksichtigung keinen Widerstand, wenn Am Mittwoch vergangener Woche aber der tatsächlichen und überprüfbaren Fort- Schröder den grünen Um- wollte Fischer genau das Gegenteil errei- schritte in der Menschenrechtslage“ noch weltminister Jürgen Trittin chen. Der verspätete grüne Vizekanzler einmal überarbeiten, bevor über die Lie- demütigte. Am Montag aber musste nicht vor Fotografen und Kamera- ferung der 1000 Panzer entschieden wird. wurde es ernst. Plötzlich er- leuten mit seinem Freund und Kanzler In der Sache aber machten Kanzler und lebten die Grünen in der Ko- Schröder demonstrativ schön tun. Vizekanzler schon jetzt unmissverständlich alitionsrunde einen Außen- Zwischen den Anführern der rot-grünen deutlich, dass sie über ein grundsätzliches Ja minister, wie sie ihn sich lan- Koalition stehen die Zeichen auf Sturm. (Schröder) oder Nein (Fischer) nicht wirk- ge gewünscht hatten. Gewiss, ein Panzer macht noch kein De- lich mit sich reden lassen wollen. Aufgebracht hatte Fischer bakel. Aber der Streit um die Lieferung Mit der Panzerschlacht im Kanzleramt hingenommen, wie Schröder von 1000 Tanks vom Typ „Leopard 2“ an drängen die Lebenslügen der Koalition ans seine Bedenken gegen den die Türkei beschädigt das regierende Bünd- Licht der Öffentlichkeit. Politisch geht es Leopard-Export öffentlich als nis von Sozialdemokraten und Grünen um das Selbstverständnis der Berliner Re- „weit hergeholt“ verhöhnte. schon jetzt stärker als jeder andere Konflikt publik in der Außenpolitik und darum, wer Als der Kanzler in der Kri- zuvor. deren Richtlinien bestimmt, der Kanzler senrunde auf den Koalitions- Genau ein Jahr nach Amtsantritt ist – oder der Außenminister. vertrag pochte und darauf obwohl sich konjunkturell ein zager Sil- Symbolisch steht der Konflikt – festge- verwies, dass der „Men- berstreif zeigt – ein vorzeitiges Scheitern macht an den Reizwörtern „Waffen“ und schenrechtsstatus“ als „zu- der Regierung Schröder-Fischer wahr- „Türkei“ – für die Frage, wie viel Moral sätzliches Entscheidungskrite- scheinlicher als ein neuer Anfang. und Prinzipien die propagierte Normalität rium“ nur für den Rüstungs- Wieder einmal hat sich die Koalition fahr- einer deutschen Bundesregierung zulässt, export außerhalb der Nato lässig in eine selbstverschuldete Krise ver- die nicht gegen die Wirtschaft gerichtet und vorgesehen sei, nicht aber für rannt. Zunächst gab ein halböffentliches nicht von der Vergangenheit dominiert das Nato-Mitglied Türkei, Machtwort das andere. Dann entluden sich werden soll. hielt der Vizekanzler dagegen. Wut und Frust von Kanzler und Vizekanz- Vor allem geht es einmal mehr darum, Immer sei die Türkei „ein ler – beide Medienstars an der Spitze von wer in der ersten regierenden Nachkriegs- Sonderfall“ gewesen. Er wer- zwei Parteien im freien Fall der Wählergunst generation das Sagen haben soll – nach der de jedenfalls dem Rüstungs- – am Montag vergangener Woche in einem export nicht zustimmen, so- Schreiduell. Fischer erregt: „Dann gehen * Oben: Stau vor Hannover, Leopard-Panzer auf dem Truppenübungsplatz Klietz, Asylbewerber im Lager wir eben im Dissens auseinander.“ Schröder Kronberg, Soldaten im Kosovo, Atomkraftwerk in der Partner Schröder, Fischer* brüllend: „Ihr wollt die Kapitulation.“ Ukraine; unten: auf dem EU-Gipfel Anfang Juni in Köln. „Ihr wollt die Kapitulation“

22 der spiegel 44/1999 M. DARRYL HIRTHE M. DARRYL S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV (li.); FOTOARCHIV S. BOLESCH / DAS ( re.) HLOBIL P. die propagierte Normalität der Bundesregierung?

lange Ankara die Kriterien der Europäi- spätere Exportgenehmigung von den EU- gierung „auf die Realität“ einlassen, sti- schen Union für einen Beitritt nicht erfüllt Beitrittsgrundsätzen „abhängig“ machen zu chelte er – eine Mahnung, die der Ober- habe: „Garantie für Demokratie und wollen. Denn damit wären alle Export- grüne oft genug an die Adresse seiner Par- rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der chancen verspielt. Wer könnte in absehba- tei gerichtet hatte. Menschenrechte sowie die Achtung und rer Zeit von der Türkei eine „Garantie“ für Der empfand das Argument aber als der Schutz von Minderheiten“. Rechtsstaat und Demokratie erwarten? tückisch. „Du meinst, es geht um Realpoli- Aber gegen die Kurden in ihren bergigen In Schröders Verständnis hatten sich die tik“, brauste Fischer auf. „Da täuschst du Rückzugsgebieten, belehrte Verteidigungs- Grünen mit der Forderung einmal mehr dich.“ Schnörkellos gab er zu Protokoll: minister Rudolf Scharping die Grünen, sei- als Traumtänzer enttarnt, die noch immer, „Du triffst die falsche Entscheidung.“ Schrö- en die Panzer doch gar nicht einsatzfähig. so ein Kanzlerberater, „dem Nirwana der der: „Wohin willst du das treiben lassen? Die grüne Fraktionssprecherin Kerstin Illusionen“ einer Oppositionspartei nach- Willst du die Koalition kaputtmachen?“ Müller hatte den Koalitionsvertrag eben- hängen. Er glaubt überdies, dass Fischer Fischer: „Bist du verrückt?! Du weißt falls anders gelesen als der Kanzler. Er und seine Leute die Panzer-Frage benutzen doch, dass ich den Erfolg will. Aber ich schreibe die Menschenrechte als „Leitlinie wollten, um den psychologischen Schock habe eine Fraktion. Wenn es da keine für die gesamte internationale Politik der des Kosovo-Krieges zu lindern – denn die Mehrheit gibt, dann habe ich ein Problem Bundesregierung“ fest. Sie kam mit ihrer Teilnahme daran unter rot-grünem Regi- und die Koalition auch.“ Argumentation nicht weit. „Drittes Semes- ment quält noch immer die grüne Seele. Nachhilfe, so Fischer, brauche er im ter Jura“, fuhr Schröder dazwischen. Listig versuchte Schröder zunächst, Fi- Übrigen nicht. „Du tust so, als ob ich ein Der Kanzler explodierte vollends, als die scher mit dessen eigenen Waffen zu schla- Fundamentalist wäre.“ Spitz empfahl er: Fischer-Truppe dennoch darauf bestand, die gen: Die Grünen müssten sich in der Re- „Da musst du mit Heidi reden.“ Die Ent- R. UNKEL Kommentar

wicklungsministerin Heidemarie Wieczo- rek-Zeul hatte im Bundessicherheitsrat nicht nur den Export des Panzers, sondern auch den von Minensuchbooten abgelehnt. Er kuscht Bis kurz vor Mitternacht dauerte die Sit- zung. „Mit Druck und Gedröhne“ (so ein RUDOLF AUGSTEIN Teilnehmer) versuchte Schröder den klei- nen Partner noch kleiner zu kriegen. ine Lüge folgt der anderen. Wie bei der EU-Altautoverordnung Schließlich fiel das Machtwort: „Es muss Manch interessierter Zeitgenos- muckten die Grünen viel zu wenig auf. sein. Ich nehme das auf meine Kappe. Es Ese wird kaum wahrgenommen Der ehemalige Pazifist Joschka im Bun- geht gar nicht anders.“ haben, dass die Berliner Regierung ei- dessicherheitsrat: Flau, flau. Mit schneidender Kälte ließ SPD-Frak- nen Bundessicherheitsrat hat. Der ist Die Lieferung von sechs Minensuch- tionschef Peter Struck bei der nächtlichen aber doch wohl mit Fachleuten be- booten an die Türkei kam sogar mit dem Verkündung der Ergebnisse die Grünen stückt? Mitnichten. Votum Fischers zustande, wohl seinem dann auch öffentlich ihre Ohnmacht Ein Grüner sitzt drin, die restlichen Vorgänger Hans-Dietrich Genscher fol- spüren, ganz im Sinne des Kanzlers. Ein- Mitglieder vertreten SPD-Interessen – gend: „Alles was schwimmt, geht.“ Ab- stimmigkeit der Beschlüsse im Bundessi- in der Regel Leute, denen Rüstungs- stimmungsergebnis im Bundessicher- cherheitsrat? „Darüber wurde nicht ge- fragen fremd sind. Ein Scheingremium heitsrat: vier zu eins. Einzige Gegen- sprochen.“ Das Parlament beteiligen? also, dazu bestimmt, arglosen Gemü- stimme: die unverdrossene rote Heidi. „Nein, eindeutig Sache der Exekutive.“ tern Ehrfurcht einzuflößen. Man kann diese Deals nicht besser Seine koalitionsbedrohliche Brisanz be- Der Retter und Heiland der SPD, der ausdrücken, als Heribert Prantl es in zieht der Konflikt aus der Tatsache, dass die ehemalige Verkehrsminister und künf- der „Süddeutschen Zeitung“ getan hat: Kontrahenten, zumal die Spitzenleute, sich tige Generalsekretär Franz Müntefe- „Panzer als aktive Sterbehilfe für die nach einer Serie verlorener Wahlen schwach ring, als Organisator berühmt, musste Grünen“. Ja, genauso ist es. und geschlagen fühlen und entsprechend die Sache als einer der Ersten verne- Prantl erinnert an die wüsten Protes- gereizt und nervös reagieren. Selbsterhal- beln: Im Fernsehen ließ er verlauten, te der Grünen gegen den damaligen tungsreflexe schalten Reflexion aus. Es war die Entsendung eines Testpanzers vom Außenminister Klaus Kinkel, als ein kein Zufall, dass sich Jürgen Trittin, der von Typ „Leo 2“ bedeute an und für sich Foto veröffentlicht wurde, auf dem ein Schröder inzwischen schon gewohnheits- gar nichts. (Und was sollte die Welt aus Deutschland stammender Panzer mäßig traktierte Umweltminister der Grü- wohl auch denken, wenn das größer einen Kurden zu Tode schleifte. Das nen, in der Schreirunde am Montag zu Wort gewordene Deutschland nicht einmal Außenministerium tat so, als zeige es meldete und meinte: „Das ist in Art und einen Testpanzer hätte?) die humanitäre Verbringung eines toten Ton jetzt nicht angemessen.“ Es wird so getan, als sei der Test- Kurden zum Friedhof. Trittin kennt Schröders Stil aus Nieder- panzer für eine Weltausstellung be- Nun ist, wenn es um die Vernichtung sachsen. Den hat der Regierungschef ohne stimmt, die Expo in Hannover etwa. der Grünen geht, Kinkels Nachfolger, Nuancierung auf die Bundespolitik über- Sicher ist, der Testpanzer wird nicht in Außenminister Joschka Fischer, nicht tragen. Wenn der Kanzler in Konflikt liegt die Türkei verschifft, um als Schaustück weit. Der hat heute stets einen Nagel mit der SPD, dann reagiert er den Grünen zu dienen, sondern um ein handfestes zur Hand, um den Sargdeckel über den gegenüber mit Machtworten. So war es im Milliardengeschäft einzufahren. Bündnisgrünen zu schließen. Dass er Dezember vergangenen Jahres, als es um In zwei Jahren will man 1000 solcher selbst mit im Sarg liegen würde, kommt den Atomausstieg ging, und so war es bei Panzer an die Türkei verkaufen. Es geht ihm nicht in den Sinn. Er ist ja Welt- der Altauto-Verordnung im Juni. Damals um 6000 Arbeitsplätze, und das ist politiker geworden und hat die Macht hatte es Trittin getroffen. ehrenwert. Freilich widerspricht es allen geschmeckt. Die Grünen ihrer Sub- Jetzt, glauben die Grünen, kriegen sie deutschen Beteuerungen, in Kriegs- und stanz völlig zu berauben und zu einer Schröders Zorn über Scharping und Walter Krisengebiete keine Waffen zu liefern. leeren Parteienhülse zu machen, dient Riester zu spüren, und Fischer zudem des Natürlich musste der im Geheimen Wendehals Fischer offenbar als Ein- Kanzlers Neid auf die hohen Popularitäts- tagende Bundessicherheitsrat nun über stiegskarte in die große Welt. werte des Obergrünen. Dem Außenminister den Türöffner Testpanzer befinden, und Die „Bild“-Zeitung, die, wie be- ist nicht verborgen geblieben, dass Michael wie stimmte diese hochgemute Institu- kannt, nie lügt, schrieb: „Fischer kuscht Steiner, Schröders außenpolitischer Bera- tion wohl diesmal ab? Im Einklang mit und schweigt.“ Tatsächlich, der grüne ter, ihm in einem Hintergrundgespräch dem Kanzler natürlich. Das Auffallen- Außenminister ist ein Rattenfänger, von „chaotische Politik“ vorgeworfen hat. Und de an dem Ergebnis: Bundesaußenmi- dem man nicht weiß, in welches Rat- Fischer glaubt nicht, dass sich Steiner, der nister Joschka Fischer und Heidemarie tenloch er seine grünen Kinder füh- ihm gegenüber eingeräumt hat, sich „un- Wieczorek-Zeul stimmten zwar dage- ren will. heimlich“ bei den Waffenlieferungen zu gen, jedoch ohne Erfolg. Einer Partei, der ich als zahlende fühlen, ungeschützt vorwagt. Um vor seiner Partei das Gesicht zu Karteileiche noch immer angehöre, Fischer ist aus vielen Gründen irritiert. wahren, drängte Fischer dann darauf, habe ich vor vielen Jahren einmal das Zum einem kriegt er jetzt aus der eigenen die Waffenexportregeln nachträglich zu Sterbeglöckchen geläutet. Vorsichtig Partei die Frage zu hören, ob er sich recht- verschärfen. Man beachte das Wort geworden, sage ich nun, die Bündnis- zeitig und entschieden genug dem Leopard- nachträglich. grünen sind nur noch ein orientie- Export widersetzt habe. Zum anderen Eine Verschärfung der künftigen rungsloser „Haufe“, und im nächsten ärgert ihn, dass in den Reihen des Koali- Richtlinien für den Waffenexport war Bundestag werden lediglich noch die tionspartners die Schadenfreude groß ist. bereits im Sommer abgelehnt worden, CDU, die SPD und die PDS sitzen. Vor allem Verteidigungsminister Scharping, und zwar deshalb, weil der Kanzler Das türkische Militär, mit Fried- mit dem Fischer Seite an Seite im Kosovo- darauf drängte. Man zeigte sich wieder fertigkeit bestens vertraut, wird seine Krieg stand, verfolgt sichtlich amüsiert, wie exportfreudig. Säbel in der Waffenkammer abgeben. Schröder den Kabinettsdarling drangsaliert. Die Grünen rätseln allerdings über das Ziel des Kanzler-Crashkurses. Schließlich

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und Munition. „Offen“ ist Schröder, nach dem Eindruck des Partners und trotz aller Dementis, auch für einen Leopard-Export nach Saudi-Arabien, den der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zweimal, unter Helmut Schmidt und unter Helmut Kohl, verhinderte. Vergangene Woche wurde zudem pu- blik, dass die Bundeswehr dem türkischen Militär beim Aufbau eines Chemiewaffen- labors geholfen hat. Das Labor versetze die Türkei lediglich „in die Lage“, so die Erklärung aus Scharpings Ressort, „sich auf die Abwehr von C-Angriffen einzu- stellen“. Noch in diesem Monat wird voraus- sichtlich der nächste Konflikt mit hoher Symbolkraft die Rot-Grünen wieder ein- holen: der Streit um „K2R4“. Unter diesem Kürzel firmieren die zwei Atomkraftwerke sowjetischer Bauart, die das deutsch-französische Konsortium Sie- mens-Framatone in der Ukraine fertig stel-

E. BAILLY len will. Die Regierung in Kiew fordert, Alternative Aktivisten 1981* dass die G-7-Staaten 1,8 Milliarden Dollar vorstrecken.An dem Kredit wäre die Bun- desrepublik mit 450 Millionen Dollar be- teiligt. „Wir können da nicht mit dem Kopf durch die Wand“, erklärt Michaele Hu- stedt, energiepolitische Sprecherin der Grünen, „aber wir kämpfen weiter.“ Die Basis lässt Entschuldigungen aus der Hauptstadt nicht länger gelten. Beim Län- derrat in Magdeburg, dem kleinen Grü- nen-Parteitag, ging der Hauptvorwurf am vorvorvergangenen Wochenende an die Adresse der Berliner Regierung – aus den unterschiedlichsten Gründen. Die Fraktion lasse das Engagement für soziale Gerech- tigkeit vermissen, beklagte ein Teil der Kri- tiker. Anderen dagegen ist sie „nicht neo- liberal genug“. Die Partei werde gänzlich ihr Profil verlieren, befürchtet die Düssel- dorfer Umweltministerin Bärbel Höhn, „wenn wir noch normaler werden“. Noch immer aber leiden viele Friedens- freunde – das sehen die Schröder-Leute richtig – vor allem an dem Kosovo-Trauma.

R. UNKEL „Ohne Kosovo“, sagt auch Trittin, „sind Prominente Grüne 1999* die Wählerverluste nicht zu erklären.“ Grüne Politiker: Die Hälfte der Wähler ist weg Bei allem Verständnis für die Verteidi- gung der Menschenrechte wirkt sogar die hat Schröder nach seinen eigenen Worten Die Regierungsbeteiligung hat die einst Osttimor-Expedition der Bundeswehr jetzt keine Alternative zur rot-grünen Koalition. alternative Partei in eine Existenzkrise ge- verwirrend. Wollen wir jetzt überall dabei Intern gab er klipp und klar zu verstehen: stürzt. Deshalb ist immer auch politisches sein?, fragen skeptisch viele Grüne.Wollen „Nur mit dieser Koalition, jede andere nur Überleben gemeint, wenn Joschka Fischer die Deutschen etwa eine neue Rolle in der ohne mich.“ von Prinzipien und Werten redet. Welt übernehmen? Die Sorge, dass der desolate Zustand der Dass die Zeit der Zumutungen noch In einem Brief des Kreisverbandes Bie- Regierung beide Parteien bei den Landtags- längst nicht vorbei ist, wissen die Grünen. lefeld konnte der Außenminister lesen, dass wahlen in Schleswig-Holstein und Nord- Sie hegen den Verdacht, der Kanzler sei die Zeit für Zumutungen vorbei sei – und rhein-Westfalen noch tiefer ins Desaster bereit, Rüstungsexporte wie Frankreich diese Auffassung ist unter den Grünen weit stürzt, plagt alle Beteiligten. Seit Regie- und Großbritannien ohne hohe moralische verbreitet. Kosovo, das Sparpaket, den rungsantritt hat die SPD katastrophale Ver- Anwandlungen und historische Skrupel Streit um den Atomausstieg, alles hätten sie luste zu beklagen. Den Grünen ist fast die ganz an nationalen Interessen auszu- mit einiger Geduld ertragen, schrieben die Hälfte ihrer Wähler abhanden gekommen. richten. Bielefelder. Aber: „Wir werden eine Pan- Noch nicht entschieden ist neben dem zerlieferung an die Türkei nicht rechtferti- Panzer-Export in die Türkei die Lieferung gen. Verlasst Euch nicht mehr auf uns.“ * Oben: Auf der Bundesversammlung in Offenbach; un- ten: Fraktionsspitze Müller, Schlauch, Umweltminister von „Fuchs“-Transportpanzern, „Tiger“- Horand Knaup, Jürgen Leinemann, Trittin während einer Kabinettssitzung Anfang März. Helikoptern, Granatwerfern, Gewehren Paul Lersch

der spiegel 44/1999 25 Werbeseite

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Werbeseite Umfrage

Der Kanzler der Genossen Schädlicher Autor „Hat Oskar Lafon- SPIEGEL-Umfrage unter SPD-Mitgliedern über die Zufrieden- taine mit seinem Buch ,Das Herz heit mit dem Parteichef und die Zukunft der Regierung schlägt links‘ Ihrer Ansicht as Herz der Partei schlägt viel- sammeln – im Einzelnen reagieren sie nach der SPD leicht links, aber nicht mehr für durchaus skeptisch auf ihn. „Mangelnde geschadet?“ DOskar: Gerhard Schröder ist bei Glaubwürdigkeit“ des Kanzlers geben 53 seinen Genossen weit angesehener und Prozent der Mitglieder als eine der Haupt- beliebter, als der kühle Empfang bei Be- ursachen für die Niederlagen bei den Land- triebsräten, auf Gewerkschaftstagen oder tagswahlen der vergangenen Monate an. ja etwas nein Parteiversammlungen erwarten lässt. Das Besonders die Parteijugend wirft Schrö- 63 23 14 belegt eine Umfrage für den SPIEGEL, der die Glaubwürdigkeitslücke vor. Drei in der erstmals nach dem Regierungs- von vier Genossen unter 30 begründen da- antritt die Meinung in der SPD erforscht mit die Wahlniederlagen – ein Trend, der wurde. Das Emnid-Institut befragte in sich auch in den schlechten Ergebnissen persönlichen Interviews 760 Mitglieder, der SPD bei Jungwählern widerspiegelt. Lafontaines Eigentor die repräsentativ für die 760 000 Genos- Der Rivale Lafontaine, einst der Liebling „Hat Oskar Lafontaine sich selber da- sen sind. der Partei, hat seinen Kredit verspielt. Mit mit geschadet, dass er ausgerechnet in Für 55 Prozent von ih- seinem Buch, davon sind Zeitungen publiziert hat, die zum nen verkörpert nach dem 63 Prozent der befragten Axel-Springer-Konzern gehören?“ Abgang Lafontaines der Sozialdemokraten über- Parteivorsitzende Schrö- zeugt, habe er der SPD ja nein der überzeugend die so- großen Schaden zuge- zialdemokratischen Wer- fügt. Weitere 23 Prozent 70 29 te. Erstaunlicherweise sind meinen, er habe der Par- es die eher traditionellen tei zumindest „etwas“ ge- Schichten – Arbeiter, An- schadet.Vor allem die Äl- gestellte sowie Rentner teren unter den Mitglie- und Pensionäre –, die den dern sowie die Arbeiter Richtige Kritik Parteichef keineswegs als und Beamten fürchten „Hat Oskar Lafontaine mit Genossen der Bosse se- nach der publikumswirk- seiner vorgetragenen Kritik hen.Aber auch 67 Prozent sam inszenierten Buch- am Regierungskurs Recht?“ jener SPD-Mitglieder, die veröffentlichung um das sich selbst zur neuen Mit- Ansehen der Partei. jateilweise nein te zählen, glauben, dass Es ist in erster Linie die 1656 28 der Vorsitzende ein guter DPA Form, die Widerspruch Sozialdemokrat ist. SPD-Parteitag (in Bonn) hervorruft. In der Sache Statussymbole wie teu- Keine Probleme mit Zigarren dagegen gibt eine große re Kleidung und dicke Zi- Mehrheit dem scharfzün- garren irritieren die Basis keineswegs so, gigen Kritiker Recht: Fast drei Viertel der wie Schröders Image-Berater neuerdings SPD-Mitglieder finden Lafontaines Ein- fürchten. Fast zwei Drittel aller SPD-Mit- wände gegen den Regierungskurs ganz glieder stören sich nicht an Havannas und oder zumindest teilweise richtig. Brioni-Anzügen. Von den Sozialdemokra- Am stärksten lehnen Beamte, Rentner ten aus jenen Jahrgängen, die Kriegsende und Mitglieder der neuen Mitte seine The- und Wirtschaftswunder noch selbst erlebt sen über die angeblich falsche Politik der haben, zeigen sogar drei Viertel Verständ- Regierung Schröder ab. Skeptisch zeigen nis für das Bedürfnis des Kanzlers nach sich aber auch die Bezieher kleiner und Wohlstandsattributen. Arbeiter sehen mittlerer Einkommen – also gerade jene, DPA/LBN Schröders Hang zum Luxus allerdings kri- die laut Lafontaine die Verlierer des Schrö- tischer als der Durchschnitt der Parteibasis der-Kurses sein sollen. Bleiberecht für Oskar oder gar die Selbständigen. Die Sozialdemokratie teilt sich nach ih- „Sollte Oskar Lafontaine Ihrer Schröders Versuche, auf die Partei zuzu- rer Selbsteinschätzung recht gleichmäßig je Meinung nach aus der SPD gehen – durch stärkere Betonung des The- zu einem Drittel in Traditionalisten, neue ausgeschlossen werden?“ mas soziale Gerechtigkeit und eine organi- Mitte und keiner Richtung zugehörige Mit- satorische Verstärkung der Parteiführung –, glieder. Oft weisen die Flügel nur geringe ja nein scheinen sich zu lohnen: Immerhin drei Meinungsdifferenzen auf. Deutlicher wer- 28 71 Viertel aller Mitglieder gestehen ihm zu, den die Unterschiede, wenn man die Be- dass er sich um die Zustimmung seiner Par- fragten nach Alter, Berufsgruppe oder Ein- tei bemühe. Nur jeder Fünfte meint, Schrö- kommen unterteilt. Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober, 760 befragte SPD- der möge die SPD nicht. Während beispielsweise zwei Drittel der Mitglieder, alle Angaben in Prozent, So solidarisch sich die Genossen im All- SPD-Mitglieder mit einem Einkommen un- an 100 fehlende Prozent: keine Angabe gemeinen hinter ihrem Vorsitzenden ver- ter 1500 Mark nicht das Sparpaket, son-

28 der spiegel 44/1999 Starke Flügel „In den öffentlichen Diskussionen ist immer wieder zu hören, dass es inner- halb der SPD unterschiedliche Flügel gibt. Halten Sie sich eher für einen ‚Traditionalisten‘ oder einen Vertreter Altersgruppen Berufsgruppen der ‚neuen Mitte‘?“ 18 bis 29 30 bis 44 45 bis 59 60 Jahre Jahre Jahre Jahre und älter Schüler/Studen- Befragte SPD-Mitglieder Arbeiter Angestellte Beamte ten/AzubisHausfrauen SelbständigeRentner Traditionalist 34 17 30 37 40 32 42 23 26 37 17 47

neue Mitte 30 25 25 27 39 27 30 53 27 21 35 29

weder noch 36 57 45 36 21 41 28 23 47 42 48 24

Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober; 760 befragte SPD-Mitglieder; Wie sozialdemokratisch ist Schröder? alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe „Was halten Sie von Gerhard Schröder Berufsgruppen Partei-Flügel als Parteivorsitzenden?“

Schüler/ Arbeiter Angestellte Beamte Stud./AzubisHausfrauenSelbständigeRentner weder traditionell neue Mitte noch Gerhard Schröder 10 34 39 36 54 62 52 43 32 44 33 55 verkörpert nicht trifft sehr zu die sozialdemokra- trifft eher zu trifft sehr/eher zu tischen Werte 22 33 60 64 46 38 48 57 68 55 67 45 trifft überhaupt trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu nicht zu

Schüler/ weder Arbeiter Angestellte Beamte Stud./AzubisHausfrauenSelbständigeRentner traditionell neue Mitte noch trifft 415eher zu 18 16 30 21 17 10 23 20 21 16 Er mag seine trifft sehr zu trifft sehr/eher zu Partei nicht 48 32 82 83 70 74 83 89 76 80 78 83 trifft überhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu

Schüler/ weder Arbeiter Angestellte Beamte Stud./AzubisHausfrauenSelbständigeRentner traditionell neue Mitte noch Er bemüht sich 33 43 80 84 59 71 75 86 87 79 80 70 um Zustimmung trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu F. HELLER/ARGUM F. der Partei 320trifft eher nicht zu 20 16 37 29 22 13 13 20 20 29 trifft überhaupt trifft überhaupt nicht/eher nicht zu nicht zu

Schüler/ weder Ein sozialdemokrati- Arbeiter Angestellte Beamte Stud./AzubisHausfrauenSelbständigeRentner traditionell neue Mitte noch scher Kanzler hätte 13 20 25 36 21 52 38 45 37 39 24 34 die Bundeswehr trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu nicht in den Kosovo- Krieg schicken 39 27 75 64 75 48 62 55 60 59 76 66 dürfen trifft überhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu

Ein sozialdemokrati- Schüler/ weder Arbeiter Angestellte Beamte Stud./AzubisHausfrauenSelbständigeRentner traditionell neue Mitte noch scher Kanzler sollte 18 19 nicht teure Zigarren 45 34 29 46 22 25 36 40 25 44 rauchen und teure trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu modische Anzüge 39 23 tragen 55 66 71 54 78 74 64 60 75 56 trifft überhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu

der spiegel 44/1999 29 Umfrage dern eine generelle Reformunwilligkeit der der Partei rechnen, wenn Schröder abtre- nur 28 Prozent seinen Ausschluss aus der Deutschen für die Wahlniederlagen der ten müsste. SPD. Ein denkbarer Nachfolger Schröders SPD verantwortlich machen, urteilen fast Die größte Zustimmung findet mit 37 aber wäre er nur noch für 12 Prozent. ebenso viele Bezieher mittlerer und höhe- Prozent Rudolf Scharping; besonders die Doch vorerst glaubt die Mehrheit der rer Einkommen genau umgekehrt: Die Beamten (55 Prozent) können sich den Ver- SPD-Mitglieder, dass der Kanzler sich im schlechten Wahlergebnisse seien die Quit- teidigungsminister gut im Kanzleramt vor- Amt hält. 68 Prozent sind überzeugt, dass tung für den Sparkurs der Regierung; re- stellen. Für einen Kanzler Franz Müntefe- die rot-grüne Regierung die gesamte Le- formunwillig aber seien die Deutschen ring dagegen mögen sich nur 24 Prozent gislaturperiode überdauert. Skeptischer nicht. der SPD-Mitglieder erwärmen. sehen das allerdings die neueren Mitglieder Zu einem Kanzler Schröder gibt es für Lafontaine hat keine Chance mehr, dass der SPD. Von denen, die noch keine die Sozialdemokraten keine wirkliche Al- ihn die Partei in der Not als Kanzler ruft. fünf Jahre in der Partei sind, glaubt gut je- tenative. Kein anderer Kandidat könnte Zwar befürworten nach der öffentlichen der zweite, dass die Koalition vor 2002 derzeit auf Anhieb mit einer Mehrheit in Abrechnung des ehemaligen Parteichefs platzt. Susanne Fischer

Ersatz für den Kanzler Stabile Koalition „Wenn Gerhard Schröder nicht mehr Parteiflügel „Glauben Sie, dass die Kanzler wäre, wer könnte ihn ersetzen?“ rot-grüne Regierung bis 2002 durchhält?“ traditionell neue Mitte weder noch Rudolf Scharping 37 38 42 31

Franz 29 26 19 nein Müntefering 24 31 ja Oskar Lafontaine 12 12 12 13 68

ein anderer 20 15 15 28 ? Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober, 760 befragte SPD- Mitglieder, alle Angaben in Prozent, Schuld an den Schlappen an 100 fehlende Prozent: keine Angabe „Bei den letzten Landtagswahlen hat die SPD teils deutliche Altersgruppen Verluste hinnehmen müssen. Schuld an den Niederlagen war... 18 bis 29 30 bis 44 45 bis 59 60 Jahre Jahre Jahre Jahre und älter

...der Sparkurs der 20 38 62 73 57 44 Regierung“ trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu 12 29 38 27 42 55 trifft über- trifft eher trifft überhaupt nicht/eher nicht zu haupt nicht zu nicht zu

...die mangelnde Glaubwürdigkeit 20 33 77 61 44 49 des Kanzlers“ trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu 17 30 22 38 56 51 trifft über- trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu haupt nicht zu

...der Rücktritt Oskar Lafontaines 16 28 63 38 44 46 von allen Ämtern“ trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu 24 30 37 61 56 53 trifft überhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu

...die Reformunwilligkeit 19 32 70 40 58 47 der Deutschen“ trifft sehr zu trifft eher zu trifft sehr/eher zu 17 32 30 60 42 53 trifft über- trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht/eher nicht zu haupt nicht zu

30 der spiegel 44/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel

Operation im Kernspintomo- graphen

System ohne Steuerung

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor dem Infarkt – es ist unflexibel, uneffektiv, unbezahlbar. Ärzten, Klinikbetreibern und der Pharmaindustrie gerät das Wohl der Patienten mehr und mehr aus dem Blickfeld. Eine Totalreform ist überfällig.

s gibt zwei Sorten von Gesundheits- Rat gebeten, die in den diversen Beiräten heilvolle Wirkung heute niemand mehr ministern: die reformeifrigen Neu- und Sachverständigenkommissionen seit bestreitet. Elinge mit dem großen Plan – und die Jahren jede Windung des Gesundheitswe- Das Ziel ist also klar, die Aufregung im Dienst Zermürbten, die am Ende nur sens seziert haben. Und natürlich hat sie dennoch gewaltig. Kaum ein Wochenende, froh waren, wenn sie wieder aus dem Amt auch die ganze Schar der „Leistungser- an dem sich nicht irgendwo in der Republik scheiden konnten. bringer“ zum Gespräch geladen, wie sich die Standesvertreter der Gesundheits- T. PFLAUM / PLUS 49 VISUM T. Ehemalige wie Horst Seehofer, der wie die Ärzte, Krankenhauslobbyisten oder berufe samt ihrer Helferheere zu einer kaum ein anderer die Begehrlichkeit des Pharmahersteller vornehm nennen. Demonstration versammeln und Trans- deutschen Gesundheitsunwesens kennt, Das Ergebnis der Fleißarbeit umfasst 347 parente hochhalten, auf denen sich „Herz- blicken ohne jede Nostalgie zurück. All Seiten, heißt „Gesundheitsreform 2000“ infarkt“ auf „Sarg“ reimt und „Therapie“ seine Gesetze zur Kostendämpfung, das und soll nun mit Hilfe von über 200 Ände- auf „nie“. weiß er heute, bewirkten im Normalfall rungen und Ergänzungen bestehender Pa- Von „umstürzlerischen Planungen“ nichts, im besten Fall brachten sie einen ragrafen ein System ins Gleichgewicht spricht die Kassenärztliche Vereinigung, vor Zeitaufschub. „Und deshalb weiß ich ge- bringen, dessen Kosten seit Jahren ins Maß- einem „Marsch in die Zwei-Klassen-Medi- nau“, sagt er, „Frau Fischer wird scheitern, lose wachsen. Zentraler Baustein ist ein so wie auch ich gescheitert bin.“ genanntes Globalbudget, das die Ausgaben Andrea Fischer, der Neuling, verbreitet für die nächsten Jahre von Staats wegen Teure Gesundheit noch jene Ich-pack-das-Stimmung, mit der festlegt und alle im Gesundheitswesen Be- 140 auch Seehofer gestartet war. Und selbst- schäftigten zur strikten Einhaltung ver- verständlich hat sie das getan, was all ihre pflichtet. 130 Leistungsausgaben Vorgänger auf dem Posten des Gesund- Es geht nicht nur um Sparsamkeit, es der gesetzlichen heitsministers ebenfalls getan haben. geht auch um die Bekämpfung der Ar- Krankenversicherung Sie durchforstete in endlosen Nachtsit- beitslosigkeit. Denn jede zusätzliche Bei- 120 zungen riesige Aktenberge, versuchte sich tragsmark treibt die Lohnkosten in die dabei das Vokabular eines Experten anzu- Höhe und damit die Zahl der Arbeitslosen, 110 eignen, für den Geld nicht mehr Geld was wiederum das Fundament der Bei- heißt, sondern „Sonderentgelt“, „Fallpau- tragszahler ausdünnt – und die Übrig- schale“ oder „Leistungskomplexgebühr“. gebliebenen noch stärker belastet. Eine Sie hat all die professionellen Helfer um Spirale ist in Gang gekommen, deren un- 1982=100 1983 1984 1985 19

32 der spiegel 44/1999 240 Auswirkung der zweiten Seehofer- 230 Reform 220

210

Klinikum Aachen: Das große Geld fließt automatisch Auswirkung der Seehofer-Reform 200 zin“ warnt der Verband der Kranken- 1998 verschlangen die Leistungsausgaben hausärzte. Die Verbitterung ist so groß, der gesetzlichen Krankenversicherung dass die Mediziner ihre Praxen mittlerwei-

M. LINKE / LAIF 234,1 Milliarden Mark, davon für le zu regelrechten Propagandazentralen 180 aufgerüstet haben. An der Eingangstür Unterschriftenlis- ten, an den Wän- Auswirkung der 170 den des Warte- Blüm-Reform zur Krankenhaus- zimmers Plakate Kostendämpfung 160 behandlung mit dem Konter- im Gesundheits- wesen 85,1 150 sonstige Leistungen 16,6 Kuren 4,8 51,6 Krankengeld 13,8 Arznei-, Heil- und Hilfsmittel 21,2 Zahnersatz, 40,8 zahnärztliche ärztliche zum Vergleich Bruttoinlandsprodukt ärztliche Behandlung Behandlung

ab 1992 Gesamtdeutschland

986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998

der spiegel 44/1999 33 Titel

fei eines Patienten, der so aussieht, als ob So viel Fatalismus war nie. Ist das der was die Gegner sofort als „Zwei-Klassen- er einem Schlägerkommando in die Quere Frust der Gescheiterten? Oder tut sich aus- Medizin“ diffamieren? gekommen ist. gerechnet im Gesundheitswesen, jenem Oder soll man im Gegenteil, nach engli- Noch gibt sich Fischer zuversichtlich, Teil des Staates, der den Menschen mehr schem Vorbild, das Regelsystem auswei- dass sie und ihre Kabinettskollegen der ra- als alles andere bedeutet, eine Kluft zwi- ten, indem jede medizinische Leistung nur biaten Ärztekampagne widerstehen kön- schen dem Möglichen und dem Nötigen noch streng nach gesetzlich festgeschrie- nen, dass ihr Gesetzeswerk nicht nur, wie auf, die unüberbrückbar ist? Für die Poli- benen Normen vergeben wird, um so we- geplant, in der kommenden Woche das Par- tiker zumindest stellen sich die Fragen nigstens für stabile Preise zu sorgen? „Ra- lament passiert, sondern auch, einiger- existenziell: Wie viel Sanierungsarbeit tionierung“ werden die anderen rufen und maßen intakt, den Vermittlungsausschuss verträgt die empörte Wählerschaft? Ist ein auf überfüllte Wartezimmer, verstörte Pa- im Bundesrat. tienten und den einen oder anderen Andere sind da pessimistischer. rätselhaften Todesfall verweisen. „Ich habe diesen Feldversuch schon Die Bürger stehen dem Treiben hinter mir“, sagt jener Mann, den ratlos gegenüber.Was sollen sie von sie einst den „Drachentöter“ nann- dem Getöse der organisierten Ärz- ten. Und der nun mitleidig, ja gera- teschaft halten, dem zufolge eine dezu mitfühlend auf die Bemühun- strenge Ausgabenbegrenzung das gen seiner Nachfolgerin blickt. Wohl der Kranken gefährdet? Was Sechs Jahre lang war der CSU- ist dran an dem Gegenargument der Abgeordnete Seehofer Gesund- Gesundheitsministerin, Geld sei ge- heitsminister in Bonn, viele meinen, nug vorhanden, es müsse nur besser der erfolgreichste, den die Republik und effizienter eingesetzt werden? je hatte. Die besonders aufrühreri- Wie lässt sich dem scheinbar selbst- schen Zahnärzte hat er besiegt, den tätigen Wachstum des Gesundheits- Kosten für Arzthonorare und Kli- wesens Einhalt gebieten und damit nikbetten einen Deckel verpasst und dem stetig steigenden Kostendruck? sogar der Pharmaindustrie ein paar Denn dass da irgendwas nicht

Milliarden abgenommen. Nur kurz SKOTT stimmt, dass Anspruch und Wirk- hielt die Wirkung, dann sprengte Ärzte-Karikatur: „Radikal-Kur“ kölner stadt-anzeiger lichkeit sich inzwischen kaum der aufgestaute Druck in den Aus- mehr berühren, spüren viele. Kei- gabentöpfen die sorgsam verschraubten Erfolg beim Begrenzen, Deckeln, Budge- ne andere Nation in Europa gibt heute, Deckel wieder davon, erst bei den Arznei- tieren überhaupt möglich – und, wenn ja, gemessen an der Wirtschaftsleistung, mehr mitteln, dann in den Krankenhäusern und nur um den Preis des Machtverlusts? Geld für Gesundheit aus, rund 550 Mil- schließlich auch bei den Praxen. Denn die Rezepte, die da im Angebot liarden Mark werden es voraussichtlich in Heute steht für den braven Katholiken sind, schrecken alle derart ab, dass eine auf diesem Jahr sein. Doch glaubt man den fest: „Wir können so viel reglementieren breite Zustimmung angewiesene Parteien- Ärzten, reicht diese Summe hinten und und budgetieren, wie wir wollen, es wird demokratie sich kaum trauen darf, sie zu vorne nicht. nichts nutzen, unser Gesundheitswesen debattieren. Soll man wirklich, wie See- Die angebliche Leistungsbilanz liest sich wird davon allenfalls schlechter und hofer nun leise vorschlägt, konsequent auf wie eine konzertierte Aktion wider die teurer.“ marktwirtschaftliche Steuerung setzen, Volksgesundheit: Deutsche werden dop-

Geteilte Macht Akteure im deutschen Gesundheitswesen Bundesärzte- Bundesministerium kammer für Gesundheit 357700 Mitglieder Gesetzliche in 17 Landesärzte- schafft zwar die gesetzlichen Krankenkassen 2200 Kliniken Rahmenbedingungen, hat aber kammern. Kümmert keine wirksamen Instrumente Von 50,6 Millionen Versicherten rechnen direkt mit den sich um die Standes- zur Durchsetzung von und den Arbeitgebern wurden Krankenkassen über ethik und sorgt für Fall- oder Tagespau- die Lobbyarbeit. Kostensenkungen. 1998 243 Mrd. Mark Kassenärztliche an die gesetzlichen Kranken- schalen ab. Die gesetz- kassen gezahlt. lichen Krankenkassen und kassenzahn- zahlten 1998 ärztliche Bundes- Apotheken 85 Mrd. Mark. vereinigung stellten den Private Kranken- Die örtlichen Organi- gesetzlichen versicherungen sationen sorgen für Pharmaindustrie Krankenkassen 7,2 Millionen Mitglieder 112700 die Honorarverteilung Umsatz 1998: 1998 für niedergelassene der Kassenärzte, zahlten 1998 Beiträge in 31,9 Mrd. Mark. Arzneimittel Höhe von Ärzte 1998 insgesamt 800 Millionen verordnete 33,4 Mrd. Mark 33,5 Mrd. Mark. 56 Mrd. Mark. in Rechnung. 51988 Packungen rechneten niedergelassene die Krankenkassen ab. Heilberufe Zahnärzte Derzeit sind rund 40000 Masseur, Logopäde, verschiedene Medika- Diätassistentin..., mente auf dem Markt. über 80 Heilberufe arbeiten im Gesund- Patienten heitswesen. 550 Mrd. Mark kostet in diesem Jahr die Gesundheits- versorgung der 82 Millionen Einwohner Deutschlands. Quellen: BMG, KBV, ZKBV

34 der spiegel 44/1999 me, von 36 000 auf heute 112000 nahezu verdreifacht. π Die Krankenkassen sollen den Kostendruck dämpfen – und tun das Gegenteil. Ihr Verwaltungsaufwand ist im vergangenen Jahr schon wieder um 5 Prozent ge- stiegen, auf insgesamt 13 Milliarden Mark. Ihre An- gestellten, die nicht von un- gefähr „Sofas“ heißen (die Abkürzung von Sozialver- sicherungsfachangestellte), kümmern sich kaum um po- litische Vorgaben. π Allen Sparbemühungen und Budgetvorgaben zum Trotz rekrutiert die weiße Armee immer neue Helfer und Heiler, und die Politik lässt sie gewähren. Erst wurden

ARIS die Freunde der Naturheil- Protestdemo gegen die Gesundheitsreform*: Die Bürger stehen dem Treiben ratlos gegenüber verfahren an die öffent- lichen Geldtöpfe gelassen pelt so häufig geröntgt wie die Niederlän- Ökonomen gern etwas despektierlich ge- und nun, seit 1. Januar, auch die Heer- der, gehen dreimal öfter zum Arzt als die nannt wird. Das entspricht 12 Prozent al- schar der freischaffenden Psychologen. Schweden und schlucken in ihrem Leben ler Erwerbstätigen. Allein in Berlin dürfen seit Anfang des zweimal so viel an Medikamenten wie ein Allein bei den 582 gesetzlichen Kran- Jahres 1147 Psychotherapeuten über die Norweger. kenkassen sind über 145000 Menschen be- Kassen abrechnen. „Eine Therapiedich- Kein Wunder, denn die Megamaschine schäftigt, auf immerhin 10000 Angestellte te wie in einem Woody-Allen-Film“, wie verlangt nach Opfern, die hier zu Lande Pa- bringt es inzwischen selbst die Kassenärzt- der „Tagesspiegel“ spöttisch anmerkt. tienten heißen: Über 287000 Ärzte bieten liche Vereinigung, die in erster Linie die Ho- π Seit Jahren versuchen die Gesundheits- ihre Dienste an; 2200 Kliniken haben Tag norarverwaltung ihrer Mitglieder besorgt. politiker vor allem die explodierenden und Nacht ihre Pforten geöffnet, ebenfalls Und wo ehemals Arzt, Krankenschwester Pharmakosten unter Kontrolle zu brin- Europa-Rekord. In kaum ei- und Apotheker reichten, bie- gen, indem sie zum Beispiel so genann- nem anderen Land der Welt ten heute über 80 Heilberufe te Bagatellmedikamente wie Husten- wartet ein so eindrucksvoller ihre Dienste an. tropfen oder Grippemittel aus dem Gerätepark an Kernspinto- Das große Geld für diesen Erstattungskatalog strichen. Doch die mographen, Linearbeschleu- Reparaturbetrieb fließt auto- Pharmaindustrie ist stets schneller: Be- nigern, Linksherzkatheter- matisch – zu gut 90 Prozent reits in den ersten sechs Monaten dieses Messplätzen auf neue kranke aus Sozialversicherungsbei- Jahres sind die Arzneimittelausgaben um Kundschaft. Es gilt das Mot- trägen und Steuern, also aus gut 12 Prozent in die Höhe geschnellt. to: Niemand ist gesund, nur Geldern, die dem Einzelnen Wie krank das Gesundheitswesen in viele sind unzureichend un- zwangsweise abverlangt wer- Wahrheit ist, zeigt sich schon bei der In- tersucht. den und auf deren Verwen- formation über Leistungen und Preise, also Was einst als ein Gewerbe dung er keinen Einfluss hat. genau der Form von Transparenz, die aus

begann, das allenfalls Linde- DPA Dem 550-Milliarden-Markt Verbrauchern erst Kunden macht und aus rung bei Schmerz und Siech- Reformer Seehofer fehlt so ziemlich alles, was Versorgern Dienstleister und die deshalb tum versprach, hat sich zu einen Markt ausmacht. Er ist für einen funktionierenden Markt unab- einer Industrie entwickelt, die für zweite wettbewerbsfeindlich, undurchsichtig und dingbar ist. Herzen und dritte Zähne ebenso sorgt wie kundenfern. Er bestraft Qualitäts- und Weder der Patient noch seine Kasse ver- für künstliche Gelenke, neue Brüste oder Kostenbewusstsein, fördert Verschwen- mögen zu sagen, welche Qualifikation sich gerade Nasen – und deren ökonomische dung und Durchstecherei und tendiert hinter dem Arztschild verbirgt, ob der gute Bedeutung die von Automobilbau oder wie jedes staatlich gelenkte System zu Doktor also beispielsweise beizeiten eine Energiewirtschaft weit übersteigt. einer gigantischen Fehlsteuerung seiner Fortbildung besucht hat (wie dies bei Luft- Der Anteil der Gesundheitsfürsorge an Mittel. hansa-Piloten selbstverständlich ist) oder der gesamten Volkswirtschaft ist in den Langsam beginnt sich auch unter den ob er noch immer auf Grundlage seines in vergangenen Jahren beständig gestiegen, Patienten herumzusprechen, was Gesund- Studententagen erworbenen Wissens labo- seit 1970 von 6,3 auf nunmehr 10,7 Pro- heitsökonomen längst in aller Deutlich- riert (was die Standesordnung ausdrücklich zent. Damit liegt die Bundesrepublik – keit nachgewiesen haben: Das deutsche gestattet). nach den USA – weltweit an der Spitze. Gesundheitswesen hat sich gründlich Bis heute fehlt eine Übersicht aller im Und auch als Jobmaschine ist das Ge- übersteuert, ihm droht der Infarkt. Die Handel erhältlichen Arzneimittel, deren schäft mit der Gesundheit längst konkur- Liste der Unzulänglichkeiten und Wi- genaue Zahl deshalb nicht einmal das zu- renzlos. Rund 4,2 Millionen Menschen ar- dersprüche ist lang: ständige Bundesamt angeben kann (sie beiten heute im medizinisch-industriellen π Immer mehr Mediziner buhlen um die wird auf etwa 40000 geschätzt), geschwei- Komplex, wie der Gesundheitssektor von Patienten, allein die Zahl der niederge- ge denn, welche etwas taugen. Den Apo- lassenen Ärzte hat sich seit 1977, dem thekern wiederum ist es verwehrt, Preis- * Am 22. September in Berlin. Geburtsjahr des Begriffs Ärzteschwem- nachlässe zu gewähren, und weil sie keine

der spiegel 44/1999 35 Titel

Tagamet Magen-Darm-Mittel, 50 Tabletten Voltaren Emulgel Aspirin Schmerzmittel, 20 Tabletten Spanien 17,38 Mark* Antirheumatikum, 100-Gramm-Tube Frankreich 4,46 Mark Großbritannien 24,80 Mark* Deutschland 11,79 Mark Spanien 4,59 Mark Deutschland 26,73 Mark Frankreich 12,20 Mark* Österreich 5,00 Mark Italien 30,10 Mark Österreich 16,21 Mark Deutschland 7,45 Mark Frankreich 30,80 Mark Großbritannien 21,28 Mark *Packungsgröße umgerechnet *Packungsgröße umgerechnet Italien 8,08 Mark

Filialen oder gar Ketten besitzen dürfen, Nicht einmal zur einfachsten Form der leiden, dass nicht zu wenig geschnitten, ge- sind auch Großhandelsrabatte weitgehend Leistungskontrolle, der Rechnungsstellung, spritzt und kuriert wird, sondern zu viel. ausgeschlossen. konnte sich das Kartell der Kassierer bis- Erst kürzlich hat die Deutsche Röntgen- Selbst den Krankenkassen, die doch lang durchringen. Nach wie vor haben ge- gesellschaft sachlich-kühl vermeldet, dass miteinander konkurrieren sollen, ist Wett- setzlich Versicherte keine Ahnung, wie viel auf gut die Hälfte der jährlich 100 Millio- bewerb untersagt. Weder dürfen sie sich ihre Behandlung eigentlich kostet, abge- nen Röntgenuntersuchungen verzichtet bei den angebotenen Leistungen nen- rechnet wird zwischen dem behandelnden werden könnte, ohne dass den Patienten ir- nenswert unterscheiden noch direkt Arzt, seiner Standesorganisation und der gendein Schaden entstünde. Für 20 Pro- miteinander messen. „Aus wettbewerbs- Krankenkasse. Und weil der die entspre- zent der aufwendigen Gefäßerweiterungen rechtlichen Gründen dürfen wir keine chenden Daten lediglich auf Anfrage ge- lässt sich bei näherer Betrachtung kein trif- Beitragsvergleiche anstellen“, heißt es in liefert werden und auch dann nur in kom- tiger Grund erkennen. Von den derzeit im einer Broschüre der Betriebskrankenkas- primierter Form, kann niemand beurtei- Klinikbetrieb besonders beliebten Eier- se Zollern-Alb, dabei wäre gerade dieser len, ob der Arzt tatsächlich dreimal den stock- oder Eileiteroperationen gilt jede Vergleich für die Versicherten aufschluss- Verband gewechselt hat, wie von ihm an- vierte als überflüssig, von den Blinddarm- reich: Der Beitragssatz der schwäbischen gegeben – oder nur einmal, ob Kasse liegt derzeit bei 11,9 Prozent, mithin er wirklich ein Ultraschallgerät 3 Prozentpunkte niedriger als etwa bei der eingesetzt hat – oder doch nur Berliner AOK, einer der teuersten Asse- seine Hände. kuranzen. Aufwand und Ertrag stehen Und wofür die Beiträge der Versicher- schon lange nicht mehr in einem ten, die der Arbeitgeber automatisch an vertretbaren Verhältnis. Allen die Kassen abführt, überhaupt verwendet verfügbaren Studien zufolge las- werden, bleibt ebenfalls undurchsichtig. sen die hohen Gesundheits- Regelmäßig moniert der Sachverständi- kosten keinen direkten Zusam- genrat, der den Gesundheitsminister bei menhang mit den messbaren allen Gesetzesvorhaben beraten soll, den Zahlen der Volksgesundheit er- völligen Mangel „aussagekräftiger Indika- kennen. Weder werden die toren“, die zwingend notwendig wären, Deutschen älter als ihre Nach- um „die äußerst komplexen Prozesse und barn, die zum Teil deutlich we- Ergebnisse gesundheitlicher Leistungser- niger in ihr Gesundheitswesen stellung repräsentativ und entscheidungs- investieren, noch ist ihr Wohl- relevant abzubilden“. befinden erkennbar höher. Auch beim Krankenstand be- legen die Bundesbürger mit 16 Fehltagen pro Jahr einen Spit- zenplatz unter den Industriena- tionen. Und gemessen an har- ten medizinischen Indikatoren wie Säuglings- und Mütter- sterblichkeit, postoperativen Komplikationen oder Lebenser- wartung bei Krebsbehandlung liegen sie im internationalen Serevent Vergleich bestenfalls im Mittel- Antiasthmatikum, Dosierspray, 120 Sprühstöße feld. Frankreich 63,24 Mark Tatsächlich drängt sich schon Spanien 78,05 Mark nach einem flüchtigen Blick in die medizinischen Fachzeit- Deutschland 84,99 Mark schriften und Bulletins der Ein- Großbritannien 86,37 Mark druck auf, dass die Deutschen Österreich 97,07 Mark nicht an einer Unter-, sondern

eher an einer Überversorgung FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL Operation per Roboter

36 der spiegel 44/1999 überhaupt vertragen“, sagt Norbert Klu- auch sind, so einig zeigen sie sich in der sen, Chef der Hamburger Techniker Kran- Diagnose der Ursachen seiner Fehlfunk- kenkasse. tionen. Im Gegensatz zu jedem anderen Dass Kosten und Nutzen gerade im Wirtschaftsbereich gilt im Gesundheitswe- Gesundheitswesen eklatant auseinander sen nicht das Prinzip von Angebot und klaffen, dafür hat auch die zahlende Kund- Nachfrage, nicht einmal theoretisch. Aus- schaft mittlerweile ein ausgeprägtes Ge- gerechnet im milliardenschweren Medi- Cilest Verhütungsmittel, 63 Tabletten spür. Nur 13 Prozent fühlen sich im Krank- zinbetrieb ist der entscheidende Steue- Großbritannien 19,39 Mark heitsfall „sehr gut versorgt“, 57 Prozent rungsmechanismus des Wirtschaftslebens, „eher gut“, doch immerhin 23 Prozent der Preis, außer Kraft gesetzt. * Italien 23,94 Mark „eher schlecht“ und 7 Prozent sogar „sehr Wer einmal seinen Beitrag in die Kran- Deutschland 26,38 Mark schlecht“. Vor vier Jahren betrug die Zahl kenversicherung entrichtet hat, kann fortan Frankreich 49,71 Mark derer, die mehrheitlich zufrieden oder gar jede Leistung unbegrenzt in Anspruch neh- sehr zufrieden sind, noch 91 Prozent. men, auf Wunsch auch mehrfach. Eine fa- Österreich 51,78 Mark *Packungsgröße umgerechnet So uneinig sich die Fachleute in der The- belhafte Ausgangslage, auf die sich die rapie des maladen Gesundheitssystems weiße Zunft ihrerseits kostentreibend ein- operationen bei Frauen sogar jede dritte. „Medizinisch nicht indiziert“ heißt es dazu in den entsprechenden Klinikstudien, die Nebenwirkungen gibt es gratis dazu. Und dass von den jährlich 800 Millio- nen verordneten Medikamentenpackun- gen nach Durchsicht des Beipackzettels schätzungsweise 20 Prozent unangebro- chen bleiben, mithin Arzneimittel für vier Milliarden Mark im Müll landen, ist aus Sicht der Profis nur von Segen für die All- gemeinbevölkerung: „Ich wundere mich manchmal, wie gesund unsere Patienten sein müssen, dass sie all die Medikamente B. NIMTSCH / DAS FOTOARCHIV B. NIMTSCH / DAS Landarzt (auf der Insel Hiddensee) Jeder Handgriff wird in Rechnung gestellt

gestellt hat, schließlich ist zwar das Preis- regulativ außer Kraft gesetzt, nicht aber der Erwerbstrieb der „Leistungserbringer“. Was liegt näher, als einer Schwangeren außer regelmäßigem Ultraschall auch ei- ne Fruchtwasserentnahme zu empfehlen? „Z.A.“ (zum Ausschluss von) oder „V.a.“ (Verdacht auf), diese Kürzel auf der Kran- kenakte rechtfertigen heutzutage fast jeden Aufwand: von der ausführlichen Labor- untersuchung über EKG und EEG bis hin zur wöchentlichen Röntgenkontrolle und, bei besonders empfindsamen Seelen, auch zu psychotherapeutischen Sitzungen oder homöopathischer Schüttelmedizin. „Z.A.“ können natürlich noch diverse Fachkollegen herangezogen werden, der Internist, der Kardiologe, der Hals-Nasen- Ohren-Spezialist, die sich dann gern re- vanchieren. Solche Ringüberweisungen sind zwar verboten, in der Regel aber kaum zu erkennen, es sei denn, man stellt sich so dreist an wie jüngst ein Berliner Allgemeinmediziner, der mit zwei Kollegen der Einfachheit halber nur die Überwei- sungsformulare tauschte, Diagnose inklu- sive. Gerichtsnotorisch wurde dieses Ver- fahren, als der Doktor einen bevorstehen- 37 Titel den Praxisumzug versehentlich per Com- dienten, waren den Medizinern prompt zu Derjenige hingegen, der die Differenzial- puterbrief auch dem Teil seiner Kunden vergüten. diagnostik beherrscht, Krankheitsbilder annoncierte, der seine Praxis nie von innen Die finanziellen Folgen der nun einset- also genau zu deuten und damit auch zu gesehen hatte. zenden Dauerkonjunktur des Medizinbe- behandeln weiß, minimiert durch Effizienz Das Risiko, bei der „Optimierung“ sei- triebs ließen nicht lange auf sich warten. automatisch sein Einkommen. Ein Prinzip, ner Abrechnung aufzufliegen, wie die Beliefen sich die Ausgaben der Kranken- an dem sich bis heute nichts geändert hat. Manipulation in der Fachsprache heißt, ist kassen 1960 noch auf vergleichsweise be- Und weil die Einzelleistungsvergütung gering, denn es gibt keine wirksamen Sank- scheidene 9 Milliarden Mark, schnellten das klärende Wort oder die klassische Ab- tionen. Was kümmert einen Klinikdirek- sie bis Mitte der Siebziger auf 61 Milliarden klopfmethode weitaus schlechter stellt als tor, dass im Schnitt 20 Prozent seiner Bet- Mark steil in die Höhe. den Befund mittels Elektrokardiogramm, ten fehlbelegt sind, wenn seine Finanziers, Und nicht nur die Zahl der Medizinstu- Sonographie oder Röntgengerät, gleichen die Krankenkassen, per Gesetz zur Über- denten begann rapide zu steigen, was an- heute selbst mittelprächtige Landarztpra- nahme aller Kosten verpflichtet sind? War- gesichts der verlockenden Aussicht auf xen ausgewachsenen Hochtechnologie- um wiederum soll ein Kassenchef dem einen Job, der die Vorzüge einer freiberuf- zentren. Von allen Zulieferindustrien des Medizinbetriebs verzeichnet keine so heftige Umsatzsprünge wie das Die falsche Therapie 287 032 Spezialgewerbe der Großgeräte- hersteller. Viele Ärzte bewirken... Allein zwischen 1988 und 1992 Zahl der berufstätigen stiegen die erstattungspflichtigen Ärzte in Deutschland Ausgaben für Sonographie um 85, die für Kernspintomographie um sage und schreibe 434 Prozent – die 1990 1992 1994 1996 1998 teuren Apparate müssen schließlich 237 750 ausgelastet werden. ... noch kein langes Leben Da trifft es sich gut, dass mit Lebenserwartung neuen Geräten und Diagnosetech- Ärzte auf je 10 000 Einwohner Männer Frauen niken auch neue Volkskrankheiten Spanien 41,0 74,6 82,0 auftauchen, die Osteoporose etwa,

H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV / DAS H. CHRISTOPH auch Knochenschwund genannt. Chefarzt-Visite im Krankenhaus (in Hannover) Deutschland 34,1 74,1 80,3 Insgesamt 30 Millionen Mark ge- Wie eine Lizenz zum Gelddrucken ben die Kassen pro Jahr für die Frankreich 29,2 74,6 82,3 Knochendichtemessung aus, ein Krankenhausmanagement auf die Füße tre- Niederlande 25,6 75,2 80,6 aufwendiges, nur leider ziemlich ten, wenn er sich doch jederzeit bei den nutzloses Verfahren. Da es bisher Beitragszahlern schadlos halten kann? Und USA 23,1 72,7 79,4 keine wirksame Therapie gibt, wer- welches Interesse sollte ein Patient haben, den die meisten Patienten mit der seine Versicherung zu schonen, wenn für Japan 16,5 77,2 83,8 Aufforderung nach Hause ge- all seine Ansprüche stets die Allgemein- Quelle: Bundes- schickt, künftig drei Gläser Milch ärztekammer, heit geradestehen muss? Großbritannien 15,1 OECD 74,3 79,4 zu trinken. Den Grundstein für das heutige Ge- Mitunter steckt der Grund für sundheitssystem legte der Deutsche Reichs- die unvermutete Zunahme Besorg- tag im Juni 1883 mit seinem „Gesetz be- lichen Tätigkeit mit denen einer quasi be- nis erregender Massenbefunde, ganz pro- treffend die Krankenversicherung“, der er- amtenrechtlichen kombiniert, noch leicht fan, im Einheitlichen Bewertungsmaßstab sten Sozialreform, die Reichskanzler Otto einsehbar war. Auch das Einzelhonorar (EBM), der Abrechnungsbibel der Medizi- von Bismarck auf den Weg brachte. Ge- verdreifachte sich binnen eines Jahrzehnts ner. So hat sich die Zahl der Frauen, bei de- dacht war zunächst an eine Grundabsi- von 66526 Mark (1965) auf 213104 Mark nen eine Risikoschwangerschaft diagnosti- cherung gegen schwere Krankheiten und (1975); nimmt man die Kosten hinzu, die ziert wurde, in Deutschland deutlich er- Beschwernisse, entsprechend moderat wa- jeder Doktor durch Verschreibungen, La- höht – und zwar just seit dem Tag, an dem ren die Beiträge. Knapp drei Prozent des borstudien oder die Konsultation von im Honorarschlüssel eine entsprechende Bruttolohns mussten die Versicherten in Kollegen verursacht, liegen die jährlichen Abrechnungsziffer auftauchte. die neu gegründeten Ortskrankenkassen Ausgaben pro Kassenarzt heute bei durch- Auf Betreiben der Fachärzte wurde jene einzahlen, ein Drittel der Kosten trugen schnittlich einer Million Mark. Ziffer, die für eine Kniespiegelung gilt, die Arbeitgeber. Als besonders verhängnisvoll erwies sich per EBM besser gestellt – Zunahme der Schnell wuchs der Kreis der Versicher- dabei im Rückblick die 1955 auf Druck der Arthroskopie binnen eines Jahres: 84 Pro- ten, nach den Arbeitern wurden auch An- Ärzteschaft ebenfalls eingeführte Einzel- zent. Und dass selbst eher handwerklich gestellte zugelassen, dann alle Familienan- leistungsvergütung. Hatten die Ärzte bis orientierte Berufsstände wie die Orthopä- gehörigen, und mit zunehmender Mitglie- dato pro Patient und Quartal gegen Vorla- den neuerdings gehäuft eine gründliche derzahl stiegen die Kassen zu mächtigen ge des Krankenscheins eine Pauschale be- Aussprache in Rechnung stellen, lässt sich Organisationen auf, denen die Ärzte zu- kommen, einen Fixbetrag, der alle Be- nach Ansicht der Experten nur so erklären, nächst keine wirklich starke Lobby entge- handlungsschritte abgalt, konnten sie nun dass auch die Vergütung der so genannten genzusetzen hatten. jeden einzelnen Handgriff in Rechnung sprechenden Ziffern angehoben wurde. Stolz verkündete die Kassenärztliche stellen. Die Approbation glich damit einer So schafft sich das Angebot seine eigene Vereinigung ihre Gründung im Jahre 1933, Lizenz zum Gelddrucken. Nachfrage, „ökonomische Indikation“ nen- doch erst 1955 gelang der Ärzte-Genos- Nur langsam dämmerte den politisch nen die Fachleute diese Form der Heil- senschaft mit dem so genannten Sicher- Verantwortlichen, welche absurden Effek- kunst, und nicht einmal Ärzte behaupten, stellungsauftrag der entscheidende Durch- te gerade diese Neuregelung zeitigte. So das alles zum Wohle des Patienten ge- bruch: Alle Leistungen, die der „bedarfs- verdient der Doktor am meisten, der sei- schähe. Befragt, welcher der von ihnen so gerechten Versorgung“ der Bevölkerung nen Patienten förmlich auf den Kopf stellt. eifrig angepriesenen Therapien sie sich sel-

38 der spiegel 44/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel „Radikale Normalisierung“ Wie sich Krankenhäuser auf den beginnenden Wettbewerb um Patienten einstellen. outineeingriffe im Krankenhaus Damit wird es möglich, den Aufwand von heute: Herzschrittmacher wer- für jeden einzelnen Fall zu bestimmen, er Rden implantiert, künstliche Hüft- wird ins Verhältnis gesetzt mit dem Auf- gelenke eingesetzt, Kopfschmerzen per wand für einen Durchschnittspatienten, Computertomograf untersucht. der den Wert „1,00“ zugeordnet be- In Kliniken geht es inzwischen wie in kommt. Bei dem New Yorker Hospital, Hightech-Zentren zu, die Methoden zur das als Vorbild diente, wird zum Beispiel Diagnose und Therapie werden immer eine Blinddarmoperation mit 0,81 be- aufwendiger. Je mehr Medizintechnik im wertet, während die langwierige Leukä- Einsatz ist, desto steiler steigt die Nach- mie-Behandlung 11,7 Punkten entspricht. frage nach ihr. Denn automatisch wächst Nun kann Lohmann verfolgen, wie

die Zahl der Nebenbefunde, die aufge- PRESS C. AUGUSTIN / ACTION weit jedes seiner acht Krankenhäuser von klärt sein wollen – wer einmal anfängt zu Gesundheitsmanager Lohmann diesen Werten abweicht und damit ihre untersuchen, der findet auch etwas. Leistung vergleichen. „Wir haben damit Kein Wunder, dass die Behandlung im Teurer, nicht besser ein Benchmark-System im eigenen Un- Krankenhaus der bei weitem größte Pos- ternehmen“, sagt Lohmann. ten in der Bilanz der gesetzlichen Kran- Kosten bei Herzkranken in Mark Die meisten Kliniken in Deutschland kenversicherung ist. Die Ausgaben haben sind noch nicht so weit. Die stationären sich seit 1980 von 25,5 Milliarden auf 85,1 Herztransplantation Behandlungen werden nach wie vor Operation: 109 173 Mark, Milliarden Mark mehr als verdreifacht. Medikamente/Untersu- 548 793 überwiegend über Pflegesätze abgerech- Mit 66 Betten pro 10 000 Einwohner chungen: 43 962 Mark net, die sich nach den anfallenden Kosten verfügen Deutschlands Kliniken über so jährlich Konservative orientieren, nicht nach der Leistung. Da- viel Kapazität wie fast nirgendwo sonst Behandlung mit verpuffte bislang der von Seehofer auf der Welt. Jedes Jahr erhöhten sie ihre 153 135 Kleinere operative Ein- erhoffte Spareffekt durch so genannte griffe, Medikamente, Etats und hoben die Pflegesätze an Untersuchungen Fallpauschalen und Sonderentgelte. gemäß dem Gesetz, das der amerikani- Wenn ein Krankenhaus hier Verluste er- sche Gesundheitsökonom Milton Roe- zielt, kann es sie wieder ausgleichen: Es 165 500 mer schon 1959 aufgestellt hat: „A built 16 550 muss nur den Pflegesatz anheben. bed is a filled bed and a billed bed“ („Ein Quelle: UKE, Hamburg Lohmann schwebt daher vor, das gebautes Bett ist ein belegtes Bett und ein DRG-Verfahren nicht nur im Hamburger abgerechnetes Bett“). 12345678910Jahre Landesbetrieb, sondern bundesweit zum Bislang zahlten die Kassen anstandslos Einsatz zu bringen. Bei Gesundheitsmi- jeden Preis für den Fortschritt. Seit etwa betrieb bundesweit – auf Wettbewerb zu nisterin Andrea Fischer habe diese Um- einem Jahrhundert hätten Krankenhäu- trimmen. Damals standen 100 Millionen stellung höchste Priorität, sagt er. So kön- ser im Grunde immer unter den gleichen Mark Verlust in den Büchern der LBK. ne man herausfinden, wie wirtschaftlich Verhältnissen gearbeitet, sagt Heinz Loh- Die Kassen hielten sich erstmals strikt jedes Krankenhaus arbeitet. mann, Vorstandssprecher des Landesbe- an die Budgetierung, die der damalige Dann werden wohl überraschende Er- triebs Krankenhäuser (LBK) in Hamburg: Gesundheitsminister Horst Seehofer ein- gebnisse ans Tageslicht kommen. Herz- „wie in einem Naturschutzpark“. geführt hatte. Das Budget des LBK war chirurgen des Universitätskrankenhauses Nun aber beobachtet Lohmann, wie um neun Prozent gekürzt worden, des- Eppendorf in Hamburg (UKE) haben in der Branche eine „radikale Normali- sen Ausgaben aber waren um sechs Pro- kürzlich ihre Erfahrungen mit unter- sierung“ beginnt: Krankenhäuser kon- zent gestiegen. Lohmann setzte einen schiedlichen Behandlungsmethoden der kurrieren um Patienten, weil nicht mehr schmerzhaften Prozess in Gang. 2000 Ar- Patienten ausgewertet, die seit 1983 zur alles, was medizinisch machbar ist, auch beitsplätze wurden abgebaut, zwei Kli- Herztransplantation vorgestellt wurden finanzierbar sei. Wie andere ehemals niken fusionierten, eine wurde geschlos- und nicht einen sofortigen Eingriff staatsnahe Bereiche, Telekommunika- sen. In der Folge schrumpfte das Defizit, benötigten, um zu überleben. Ergebnis: tion oder Energieversorgung, breche nun im kommenden Jahr soll der Haushalt UKE-Patienten, die konservativ, also mit der Krankenhaussektor auf in eine zu- wieder ausgeglichen sein. Medikamenten oder konventionellen nächst reglementierte Marktwirtschaft, Helfen bei der Schrumpfkur wird ein chirurgischen Maßnahmen behandelt glaubt Lohmann: „Es wird einen Aus- neues Abrechnungssystem. Mit „Diagnos- wurden, hatten eine vergleichbare Le- leseprozess geben.“ tic Related Groups“ (DRG) will Lohmann benserwartung wie Patienten, denen ein Bis 2010, schätzt der Manager, werden herausfinden, wie wettbewerbsfähig je- neues Herz transplantiert wurde. Die 20 bis 30 Prozent der Kliniken in de einzelne Dienstleistung seiner Kran- Prognose für die nur mit Medikamenten Deutschland nicht mehr existieren: „Kein kenhäuser ist. Dazu werden alle behandelten Patienten sei „tendenziell Mensch kann das alte System bewahren.“ Leistungen in 641 einzelne Diagnose-Fall- sogar besser“. Vor gut vier Jahren hat Lohmann be- Gruppen unterteilt und Durchschnitts- Der Unterschied zwischen beiden Me- gonnen, sein Unternehmen – mit über werte der Behandlung ermittelt. Sie thoden: Nach zehn Jahren kostet die Me- 13000 Beschäftigten, die 400000 Patien- kennzeichnen unter anderem die durch- dikamenten-Behandlung 165 500 Mark, ten im Jahr versorgen, größter Arbeitge- geführte Operation oder das Alter und die Transplantation dagegen 548 793 ber Hamburgs und größter Gesundheits- Geschlecht des Patienten. Mark – das sind 232 Prozent mehr.

40 der spiegel 44/1999 ber unterziehen würden, waren die Dok- Wirkstoffe enthalten, dafür toren deutlich reserviert. Bei einer gutar- aber den Vorteil haben, als tigen Prostatawucherung zum Beispiel Originalpräparate aus der so würden lediglich knapp 40 Prozent der Me- genannten Festpreisbindung diziner das Gewebe bei sich selbst entfer- entlassen zu sein. nen lassen, normale Patienten hingegen Ganze Bataillone von Phar- werden zu über 80 Prozent operiert. mareferenten sind damit be- Begünstigt wird die Vielgeschäftigkeit schäftigt, dem Absatz vor Ort („Polypragmasie“) durch den Umstand, aufzuhelfen, und nicht immer dass jede langfristige Beobachtung und Be- belassen es die Außendienst- wertung neuartiger Behandlungsmethoden ler bei guten Worten. Mal

fehlt. Für einen Großteil der gängigen The- S. ELLERINGMANN / BILDERBERG werden den Medizinern Rei- rapieverfahren existiert bis heute kein Medizinische Forschung*: Kostenschub durch Fortschritt sen spendiert, wenn sie ein Nachweis ihrer Wirksamkeit. neues Produkt an den Patien- Seit Jahren schlagen Experten deshalb über 7000 Einzelbestimmungen verab- ten bringen, mal locken Prämien für so ge- vor, Leitlinien zu entwickeln, die ein sach- schiedet, darunter so wohlklingende wie nannte Qualitätsstudien. gerechtes und stufenweises Vorgehen vor- das „Gerechtigkeitsfestigungsgesetz“ oder, Und schon haben die Ärzte ein neues schreiben. Doch bislang sind all diese zuletzt im Dezember vergangenen Jahres, Betätigungsfeld ausgemacht, das Kompen- Vorschläge am Verweis auf die „Thera- das „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in sation für entgangene Gewinne verspricht: piefreiheit“ gescheitert, auch wenn ent- der gesetzlichen Krankenversicherung“. die von Ministerin Fischer als besonders sprechende Modelle wie etwa in der Doch so schnell sich das Gesetzesrad förderungswürdig erkannte Vorsorgeunter- Schweiz zeigen, dass sich bei einer solchen auch drehte, das Beharrungsvermögen des suchung. „Lichtblick: freie Fahrt für Präven- Leitlinien-Medizin die Qualität der Be- Systems war stärker. Entweder wurden die tion“, verkündet die deutsche „Medical handlung eindeutig verbessert. ministeriellen Anordnungen trickreich um- Tribune“ frohgemut und listet sogleich all All dies haben die politisch Verantwort- gangen – oder einfach ignoriert. die „Check-ups“ auf, die von den Kassen lichen natürlich erkannt, und so ist die Ge- So erwies sich die von Seehofer erlasse- „außerhalb der gedeckelten Gesamtvergü- schichte der Kostenexplosion im Gesund- ne Großgeräteverordnung als reine „Luft- tung zu bezahlen sind“: „Krebsvorsorge, heitswesen auch eine Geschichte der nummer“, wie der Initiator freimütig ein- Schwangerschaftsvorsorge, alle Kindervor- Kostendämpfung. Seit der seinerzeit zu- räumt. Keinerlei Wirkung zeigte die Andro- sorgen sowie die Schutzimpfungen“. ständige SPD-Sozialminister Herbert Eh- hung eines empfindlichen Regresses für Ohnehin weist jede Ausgabenbegren- renberg 1977 dieses Wort erfand, hat der Ärzte, die zu viele Rezepte ausstellen; An- zung einen grundsätzlichen Mangel auf: Deutsche Bundestag rund 50 Gesetze und fang des Jahres sah sich Andrea Fischer zu So führt das Budget zwar zunächst dazu, einer Generalamnestie genötigt. Und als dass sich die Betroffenen nur noch unter- die Krankenkassendirektoren für eklatan- einander um einen möglichst großen Teil Globale Konzerne tes Missmanagement per Gesetz in Haf- vom Kuchen balgen; es tritt eine Art Pharma-Umsatz 1998 in Milliarden Dollar tung genommen werden sollten, schlossen Hamsterradeffekt ein, wie er derzeit be- die auf Kosten der Versicherten einfach sonders gut bei den niedergelassenen Ärz- 1. Merck & Co. 15,5 entsprechende Zusatzversicherungen ab. ten zu beobachten ist. Da jede Mehrarbeit 2. Glaxo Wellcome 13,3 Auch die Pharmaindustrie hat längst ge- die Menge der zu vergütenden Leistungen lernt, flexibel auf staatliche Preisregulatio- vergrößert, die auszuschüttende Gesamt- 3. Astra Zeneca 12,8 nen zu reagieren: Da werden kurzerhand summe aber stabil ist, sinkt der Punktwert 4. Pfizer 11,8 die Packungsgrößen geändert oder neue des einzelnen Handgriffs immer weiter Arzneimittel auf den Markt gebracht, die ab, und dies umso stärker, je mehr sich 5. Bristol Meyers Squibb 11,4 lediglich Variationen längst bekannter die Ärzte bemühen, den Einnahmeverlust 6. Novartis 11,1 durch weitere Arbeit aufzu- Pharmafabrik (in Leverkusen): Milliarden für den Müll fangen. 7. Roche 9,9 Gerade dieser Verteilungs- kampf aber, der ja der ei- 12. Hoechst 7,8 gentliche Grund für die hef- tigen Proteste der Ärzte- 16. Bayer 4,8 schaft ist, hat auch für das Gesamtsystem höchst unan- genehme Folgen. So veran- lasst der anhaltende Preis- verfall die Ärzte nicht nur, möglichst viele Patienten un- ter Einsatz von möglichst viel Technik durch ihre Praxen zu schleusen – eine von allen Gesundheitspolitikern zu Recht beklagte Form der Ra- tionalisierung, die der Qua- lität der Gesundheitsversor- gung nachweisbar schadet. Die Sprechstunde nach Stoppuhr treibt auch das

* Bioreaktor zur Erforschung der

DPA künstlichen Leber.

41 Werbeseite

Werbeseite Titel

Kostentreiber Kasse: Insgesamt geben die 582 Krankenversicherungen 13 Milliarden Mark jährlich für die Verwaltung aus

Techniker Krankenkasse Kaufmännische Krankenkasse KKH Deutsche Angestellten-Krankenkasse FOTOS: D. KRUSE Barmer Ersatzkasse Innungskrankenkasse Hamburg Betriebskrankenkasse der Stadt Hamburg

Arzneimittelbudget in die Höhe. Je weni- wird die Zahl der 20- bis 60-Jährigen bis heitsleistungen im Wert von rund 7000 ger Zeit ein Arzt nämlich seinem Patienten zum Jahr 2040 voraussichtlich von heute Mark, mithin sechsmal so viel wie ein Ju- widmen kann, desto eher ist er geneigt, 46,7 Millionen auf 36,2 Millionen sinken, gendlicher. den Rezeptblock zu zücken. Die Ver- die Zahl der Rentner aber, die im Schnitt Die Behandlungskosten der Rentner schreibung dient ihm gewissermaßen als nur den halben Beitragssatz eines Aktiven erhöhen sich zudem laufend, weil die me- Leistungsnachweis, mit einem dann nur entrichten, auf Grund stetig steigender Le- dizinische Eingriffsschwelle stetig sinkt. schwer korrigierbaren Gewöhnungseffekt benserwartung um gut 5 Millionen zuneh- Heute werden auch Gebrechen und Ab- beim Kunden. men. Ein Doppeleffekt, der das ohnehin nutzungen, die noch vor einer Generation Statt Anreize zu setzen, sich kostenbe- angeschlagene System dann vollends aus als lästige, aber eben unvermeidliche Be- wusst zu verhalten, verstärken Budgets der Balance bringt. gleiterscheinungen des Alters galten, auf- also nur die Verschwendungssucht. Und Verschärft wird diese Krise noch, weil wendig diagnostiziert und therapiert – weil kein Gesundheitsminister den Versi- ältere Menschen nicht nur weniger ein- selbst wenn eine Heilung kaum in Aussicht cherten einen Verzicht auf neue Heilme- zahlen als jüngere, sondern auch weitaus steht. Versicherungstechnisch gesehen ist thoden zumuten kann, sah sich noch jeder höhere Kosten verursachen. Aller Erfah- das Alter, ebenso wie Schwangerschaft und Amtsinhaber nach kurzer Zeit gezwungen, rung nach nimmt der Bedarf an medizini- Geburt, keine natürliche Lebensphase Geld nachzuschießen und neue Ausga- scher Betreuung ab dem 40. Lebensjahr mehr, sondern eine Krankheit. bentöpfe zu eröffnen – „Ausdeckelung“ kontinuierlich zu, vor allem die Neigung Die Publizistin und Ärztin Heidi Schül- heißt dafür das Fachwort. zu chronischen und damit behandlungsin- ler hat am Beispiel ihres Vaters eindrucks- So zweifelhaft die bisherigen Bemühun- tensiven Leiden steigt mit dem Alter. Ein voll gezeigt, wie aus einem etwas alters- gen der Politik sind, das malade System 80-Jähriger verbraucht im Jahr Gesund- schwachen, aber doch rüstigen Rentner bei mit immer neuen Vorschriften, Gesetzen genauer Begutachtung ein Tod- und Verordnungen stabilisieren zu wollen, kranker wird. Das gelegentliche so unbestritten ist auch die Pflicht des Ge- IWG- Knacken in den Gelenken – klares Preis der Prognose 17,5 setzgebers, endlich vorausschauend und 2030 Zeichen von „Arthrose“; der nächt- entschieden zu handeln. Gesundheit liche Harndrang – „Prostata- Es sind vor allem zwei Entwicklungen, Durchschnittliche Beitragssätze zur adenom mit Miktionsstörung“; der die eine grundlegende Neuorientierung in Gesetzlichen Krankenversicherung Hang zu längeren Verschnauf- der Gesundheitspolitik erzwingen werden, in Prozent des Bruttolohns, pausen – eindeutiges Indiz für wenn die Beiträge zur Krankenversiche- Arbeitgeber- und 13,5 „Herzinsuffizienz“ und „Belas- rung nicht schon bald auf 20 oder gar 25 Arbeitnehmeranteil 12,8 tungsdyspnoe“. Prozent des Bruttolohns steigen sollen: der Ostdeutschland Welchen zusätzlichen Kosten- demografische Wandel, also die Tatsache, 11,4 13,9 schub der medizinische Fortschritt dass den Jungen immer mehr Alte ge- auslösen wird, das ist unter den For- genüberstehen, und der medizinisch-tech- schern noch umstritten. Nur dass nische Fortschritt. ein wirksames Aids-Medikament Welche zusätzlichen Belastungen gerade oder eine neue Krebstherapie die die Überalterung der Gesellschaft für die 8,2 Versicherungen auf einen Schlag gesetzliche Krankenversicherung bringen mit einem zweistelligen Milliar- wird, hat der Trierer Wirtschaftsprofessor 1970 1980 1990 1999 denbetrag belasten und damit je- Eckhard Knappe im Detail erforscht. So des Budget sprengen werden, das

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Auch für den Krankenhaus- betrieb raten Gesundheitsöko- nomen zu einer Umstellung der Honorarstruktur. Statt wie bis- lang nur gut 20 Prozent der Ein- griffe über Pauschalen abzu- rechnen, sollten künftig, so ihr Vorschlag, alle im Zusammen- hang mit einer Operation anfal- lenden Leistungen gebündelt und mit einem Gesamthonorar vergütet werden. Vorzug dieser Lösung: Erstmals wäre die Kos- tenstruktur transparent und leicht vergleichbar; die Ärzte wären gehalten, effizienter und vor allem sauberer zu arbeiten. Bislang nämlich bedeutet auch jede Komplikation für das Hos-

S. ELLERINGMANN / BILDERBERG pital einen geldwerten Vorteil. Entspannungstherapie: Das Angebot schafft sich eine eigene Nachfrage Vor allem aber muss die Poli- tik mehr Wettbewerb zulassen, ist heute schon sicher. Und wenn, wie Ex- erwünschten Nebenwirkungen auf dem also dafür sorgen, dass die Krankenkassen perten vermuten, demnächst genetisch ver- Arbeitsmarkt zu minimieren. endlich in der Lage sind, ihrem gesetzli- änderte Schweineherzen in den Menschen Als Nächstes wäre zu fragen, welche chen Auftrag nachzukommen, die ihnen eingesetzt werden können, ohne Ab- Steuerungsinstrumente geeignet sind, für anvertrauten Gelder „ausreichend, zweck- stoßungsreaktionen hervorzurufen, dann einen besseren Einsatz der Mittel zu sor- mäßig und wirtschaftlich“ einzusetzen. gibt es in Deutschland nicht 500, sondern gen. Denn solange die Politik keine Anrei- Warum beispielsweise, so fragen sich die pro Jahr 10 000 Herztransplantationen, ze setzt, wird sich auch an der irrwitzigen Wissenschaftler, wird dem einzelnen Ver- Kosten pro Fall derzeit 500000 Mark. Überproduktion nichts ändern. sicherungsunternehmen nicht endlich das Keine Frage also: Eine Reformdebatte Zu prüfen ist beispielsweise, ob anstelle Recht zuerkannt, dem Kunden eine Liste ist überfällig – über den gezielteren Ein- der Punktwerttabellen nicht künftig wieder ausgewählter Ärzte an die Hand zu geben, satz der Mittel und effizientere Kontrol- eine Art Fallpauschale gelten sollte, wie mit denen zuvor Sonderverträge geschlos- len, über das richtige Verhältnis markt- sie vor Einführung der Einzelleistungsver- sen wurden? Die Idee dabei ist simpel: Die wirtschaftlicher Elemente und staatlicher gütung existierte, ein Vorschlag, den der Vertragsärzte verpflichten sich auf die Ein- Regularien, über eine moderne Gesund- ehemalige Berliner Ärztekammerpräsident haltung bestimmter Standards und er- heitspolitik also. Ellis Huber mehrfach gemacht hat. Für die klären sich zudem bereit, alle Abrechnun- Womöglich wird auf Anhieb nicht der Mediziner hätte diese Regelung den Vor- gen laufend kontrollieren zu lassen; der große Wurf gelingen, vielleicht werden teil, dass sie verlässlich kalkulieren könn- Patient wird an den eingesparten Kosten Politiker, Bürger und all die am Gesund- ten und nicht erst nach Monaten wissen, über einen Bonus beteiligt. heitswesen Beteiligten einen mühsamen, wie viel sie verdient haben. Und endlich Solch ein „Einkaufsmodell“ lässt sich manchmal auch frustrierenden Weg der entfiele der Anreiz, aus der Sprechstunde selbstverständlich auf die Klinikwirtschaft kleinen Schritte gehen. Reformvorschläge ein Geschäft mit der Krankheit zu machen. übertragen und würde dort, davon sind die jedenfalls gibt es zuhauf, sie müssen Fachleute überzeugt, ebenfalls segensreich nur endlich aus den Expertenzir- wirken. Bislang nämlich müssen die Kran- keln und Fachdebatten den Weg Die häufigsten Erkrankungen kenkassen alle Verträge „gemeinsam und vors große Publikum finden. Arbeitsunfähigkeit nach Krankheitsarten einheitlich“ abschließen, eine Regelung, So wäre zunächst darüber zu re- 1998 in Prozent die dazu führt, dass es auch auf das Votum AUSFALLTAGE den, wie viel den Deutschen ihre ERKRANKUNG der Kassen ankommt, denen zum Beispiel Gesundheit künftig wert ist. Soll der gewerkschaftliche Organisationsgrad auch weiterhin das Prinzip der Bei- 14,3 einer Klinik bedeutsamer erscheint als tragssatzstabilität gelten, was eine Atemwege 24,7 effizientes Management. Rationierung besonders teurer Und dass gerade bei der Wirtschaftlich- Leistungen auf Dauer wohl unum- 26,8 keit gewaltige Unterschiede zwischen den gänglich macht? Oder sind die Bür- Muskel/ einzelnen Krankenhäusern bestehen, kön- ger nicht vielleicht sogar bereit, Gelenk/ 19,1 nen die agileren unter den Krankenkas- mehr Geld für ein Gut zu investie- Knochen sen, die Innungen oder die Techniker, an- ren, das Umfragen zufolge selbst 7,4 hand eines mittlerweile ziemlich ausge- vor „Sicherheit“ und „Wohlstand“ Verdauung 12,8 feilten Controllings gut erkennen – nur rangiert – vorausgesetzt, sie gewin- 15,6 genützt hat ihnen diese Erkenntnis bislang Verletzung/ nen den Eindruck, dass mit ihren 12,4 wenig. Im Zweifel kann der Klinikdirektor Unfall 8,0 Beiträgen auch vernünftig gewirt- Herz/Kreislauf immer auf ein paar Freunde auf der Ge- schaftet wird? 5,0 5,3 genseite setzen, die er aus dem Sportclub Psyche 2,8 Und wenn dem so ist, muss man oder dem örtlichen Parteiverein kennt. dann nicht endlich zur Kenntnis 22,6 Wie paradox mitunter die politischen nehmen, was die Fachleute seit Jah- Sonstige 23,2 Vorgaben sind, zeigt auch der so genannte ren fordern: nämlich den Beitrag Risikostrukturausgleich. Gedacht war die- zur Krankenversicherung vom ses Finanzinstrument zunächst, um die un- Lohn zu entkoppeln, um so die un- Quelle: Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen terschiedlichen Kosten der Kassen auf

44 der spiegel 44/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel

Grund ihrer Mitgliederstruktur auszuglei- genbeteiligungen oder den so genannten chend günstiger. Es ist ja ohnehin ein weit chen. Die reichere Kasse, die viele junge Selbstbehalt, wie ihn die privaten Versi- verbreiteter Irrglaube, dass sich Versiche- Versicherte hat („gute Risiken“), muss der cherungen seit Jahren erfolgreich anbie- rungssysteme für den Kunden immer loh- ärmeren, zu deren Patientenstamm über- ten: Bis zu 1000 Mark an Arztkosten trägt nen. Die Ökonomen unterscheiden zwi- durchschnittlich viele Alte und Kinderrei- der Patient selbst, gegen entsprechend schen unvorhergesehenen Risiken, gegen che zählen („schlechte Risiken“), finan- günstigere Prämien, erst dann zahlt die die ein Versicherungsschutz dringend ge- ziell beistehen. Versicherung. boten ist, und so genannten planbaren In der Praxis ist der Strukturfonds zu Gerade die rot-grüne Regierung hat es Operationen, also Kosten, die in jedem Fall einer Umverteilungsmaschine ausgeartet sich zum Ziel gesetzt, die Selbstbestim- auf einen zukommen und damit über- und bestraft die Sparsamen. Wer clever mungsrechte des Patienten zu stärken. schaubar sind. Der Zahnersatz ist eine sol- wirtschaftet, indem er beispielsweise die Warum die Autonomierechte nicht erwei- che planbare Operation, und weil auch die Verwaltungskosten senkt oder ein moder- tern, den mündigen Bürger also auch die Assekuranzen wissen, dass der Schadens- nes Vertragscontrolling aufbaut, muss mitt- Entscheidung treffen lassen, welchen Kran- fall mit nahezu hundertprozentiger Si- lerweile einen Großteil seiner Überschüs- kenversicherungstyp er für angemessen cherheit eintritt, müssen die Beiträge die se abführen. hält? erwartete Schadenssumme abdecken, zu- Und auch die Gesundheitspolitiker be- Wie ein solches Stufenmodell aussehen züglich Verwaltungsgebühr. Woraus folgt: trachten den Finanzausgleich als einen könnte, hat der Sachverständigenrat für Wer beizeiten das Geld zurücklegt, fährt fi- großen Verschiebebahnhof. nanziell gesehen auf keinen So will Gesundheitsministe- Fall schlechter, meist sogar rin Fischer nun die Not lei- deutlich besser. denden Ost-AOK mit zu- Selbstbeteiligungssysteme sätzlich 1,3 Milliarden Mark sind bei jenen Bürgern, de- alimentieren lassen – ein nen sie bislang offeriert wur- Koppelgeschäft, das ihr die den, durchaus beliebt: Von Zustimmung der Ostländer den neuen Kunden der pri- im Bundesrat sichern soll. vaten Krankenversicherung Am Ende freilich werden schließen über 90 Prozent die politisch Verantwortli- einen entsprechenden Ver- chen nicht umhinkommen, trag ab – und das, obwohl auch die Patienten in die der Arbeitnehmer, der einen Pflicht zu nehmen. Gerade Teil des Kostenrisikos selbst weil die Segnungen der trägt, einen geringeren Kran- Spitzenmedizin weiterhin je- kenkassenzuschuss vom Ar-

dermann zur Verfügung ste- DPA beitgeber erhält. hen sollen, bedarf es einer Säuglinge auf der Entbindungsstation*: Besonders förderungswürdig Und auch mit dem Stu- Unterscheidung zwischen fenmodell haben die Privat- dem, was die Bürger selbst tragen können, die konzertierte Aktion im Gesundheits- versicherungen gute Erfahrungen gemacht. und dem, was nur solidarisch zu finanzie- wesen anschaulich beschrieben. Die Basis Viele wählen bei entsprechendem Ange- ren ist. ist demnach eine Pflichtversicherung, die bot den so genannten Elementartarif. Sie Keine Frage, dass diese Grenze gerade der gesamten Bevölkerung auferlegt, sich sparen dabei 30 Prozent des normalen Bei- im Gesundheitswesen besonders schwie- gegen alle ernsthaften Erkrankungen ab- tragssatzes und verzichten dafür auf gän- rig zu ziehen ist. In keinem Markt fällt es zusichern, die den Schutz einer Solidar- gige Versicherungsleistungen wie Psycho- den Verbrauchern naturgemäß so schwer, kasse unabdingbar machen. therapie, Brille oder die Behandlung bei ei- die Notwendigkeit empfohlener Leistun- Hinzu kämen mehrere Aufbaustufen, nem Heilpraktiker. gen zu bewerten. Selbst den strengen Be- mit Zusatzleistungen wie Kuren oder Mas- Gerade weil die Medizin am Beginn ei- fürwortern des Wettbewerbs ist klar, dass sagen, die zudem die Möglichkeit einer ner Entwicklung steht, die ganz neue Tech- zwischen Praxis und Autowerkstatt ein ge- kleineren oder größeren Selbstbeteiligung niken und Heilungsmöglichkeiten eröffnet, waltiger Unterschied besteht, dass man bieten und gesunde Lebensführung hono- braucht das Land eine neue Gesundheits- sehr wohl auf den Wechsel des Vergasers rieren. Dies heißt ja nicht, dass der Einzel- politik. Die Zeit, da alles bezahlbar war, verzichten kann, weil in diesem Monat nun ne auf gefährliche Sportarten oder den was technisch machbar ist, gehört der Ver- mal das Geld fehlt, nicht aber auf den Ein- übermäßigen Genuss von Alkohol ver- gangenheit an. Die Gesellschaft – und auch bau einer neuen Niere. zichten müsste, er kann nur nicht länger er- jeder Einzelne – muss sich entscheiden. Doch ebenso klar ist: Eine Reform, die warten, dass die erhöhten Kosten, die aus Wie viel Risiko trägt die Allgemeinheit? diesen Namen auch verdient, muss das Ge- seinem Lebenswandel erwachsen, von der Was ist uns unsere Gesundheit wert? Und sundheitsbewusstsein der Bürger stärken Solidargemeinschaft automatisch kom- ist das Machbare auch tatsächlich das Wün- und sie dazu anhalten, nicht mit jeder pensiert werden. schenswerte? Kleinstbeschwerde zum Arzt zu laufen, Der Vorteil dieses „Zwiebelmodells“ Einen nutzlosen Streit über „Wirt- nicht bei jedem Unwohlsein Pille oder liegt auf der Hand. Er baut nicht nur der schaftlichkeitsreserven“, „Globalbudget“ Spritze zu verlangen. „Nulltarif-Illusion“ vor, wie Ökonomen oder „Zwei-Klassen-Medizin“ jedenfalls Zudem lässt sich ja fragen, ob alle die weit verbreitete Annahme nennen, dass kann sich das Land am allerwenigsten Venensalben, Einlagen oder Stützstrümp- alle Gesundheitsgüter scheinbar kostenlos leisten. Gerade von einer rot-grünen Re- fe, wie heute üblich, überwiegend von zu haben sind. Erstmals hätten es die Ver- gierung darf die Republik mehr Mut zur der Allgemeinheit zu zahlen sind, ja so- sicherten auch in der Hand, ihr Gesund- Debatte erwarten. Es gilt – auch und viel- gar teure Behandlungsmethoden, von heitsbudget selbst zu steuern. Wer das leicht gerade in der Gesundheitspolitik – denen sich bestenfalls sagen lässt, dass Rundum-Sorglos-Paket wünscht, zahlt den jener Satz von Willy Brandt, mit dem er sie die Gesundheit nicht ernsthaft be- normalen Beitragssatz; wer mit weniger den Wahlkampf 1972 siegreich bestand: einträchtigen. auszukommen glaubt, steht sich entspre- Wer morgen sicher leben will, muss heute Die entsprechenden Instrumente sind für Reformen kämpfen. bekannt und gut erprobt: Zuzahlungen, Ei- * Im Elisabethkrankenhaus in Leipzig. Jan Fleischhauer, Alexander Jung

46 der spiegel 44/1999 Tee und Keks im Wartezimmer Deutsche Medizin ist teuer, britische günstiger, Schweizer und Schweden leben länger. Wer aber hat das beste Gesundheitssystem?

ürde ein Schweizer mit Herzinfarkt ins Wbritische Maidstone Hospital eingeliefert, erlitte er womöglich gleich eine zweite Herzattacke. Kinder weinen, Frauen stöhnen, Ärzte reani- mieren geräuschvoll einen kol- labierten Lastwagenfahrer. Schutz vor der beängsti- genden Geräuschkulisse zwi- schen einem Dutzend Patien- ten aller Fachdisziplinen bie- ten allein ein paar luftige Vorhänge. Im „Accident & Emergency“-Department am Rande der Landeshauptstadt von Kent, südöstlich von Lon- don, geht es zu wie in einer amerikanischen Notarztserie. 800 Kilometer südlich, in Zürich, kann der kardiale Not- fallpatient dagegen das ruhige Wunder der Hochleistungs-

medizin erleben. Vermutet REX FEATURES schon der Hausarzt einen Notfalleinsatz in Großbritannien: „Mit begrenzten Mitteln exzellente Medizin“ Herzinfarkt, wird der Patient im speziell eingerichteten „Kardiomobil“, Diagnose zweifelsfrei fest, rollt er direkt den Schränken. Kein Mangel soll im „bes- der „Rettungssanität mit Notarzt“, ins durch zur Intensivstation. ten Gesundheitssystem der Welt“, wie städtische Waidspital transportiert. Über Zehn Minuten für die Aufnahme, nach manche Eidgenossen es nennen, die Ge- den gepflegten Flur gleitet der Patient auf weiteren fünf Minuten baumeln alle not- danken trüben. seiner Trage vorbei an Ein- und Zweibett- wendigen Infusionen am Arm des Patien- Wer in Maidstone, Zürich oder Stock- zimmern in den Schockraum. Steht die ten. Alles, was gut und teuer ist, steht in holm aufs Krankenlager muss, macht höchst unterschiedliche Erfahrungen. Und was Schweizer oder Deutsche rebellieren ließe, wird von britischen Patienten schein- bar gelassen ertragen. Geduldig warten sie, Großer Aufwand, großes Wohlbefinden? eine Schwester reicht Tee und Keks, da- Gesundheitsausgaben in Veränderung Zufriedenheit der Bürger mit zwischen wirbeln Ärzte und machen das Prozent des Bruttoinlands- gegenüber dem jeweiligen Gesundheits- Beste aus den knapp bemessenen Res- produkts 1997 1980 in Prozent system in Prozent sourcen. Deutschland 10,7 +21,6 66,0 Möglicherweise erst Stunden später wird der Patient in Maidstone nach der Akut- Frankreich 9,6 +26,3 65,1 versorgung aus seinem Lazarett erlöst, fin- det auf der Coronary Care Unit, einer In- Schweden 8,6 –8,5 67,3 tensivstation nur für Infarkt-Patienten, die Niederlande 8,5 +7,6 72,8 ersehnte Ruhe. Um den Herzinfarkt-Mess- wert „Troponin“, im Waidspital hoch ge- Dänemark 8,0 –14,0 86,4 schätzt, wissen die britischen Ärzte zwar, aber solche diagnostischen Spezialitäten Belgien 7,6 +16,9 70,1 galten hier bislang als unerschwinglich. Italien 7,6 +8,6 16,3 Sollte für den schwierigen Kasus eine aufwendige Herzkatheterbehandlung not- Finnland 7,4 +13,8 86,4 wendig werden, müsste der Patient nach London, ins 60 Kilometer entfernte Großbritannien 6,8 +21,4 48,1 „St. Thomas’s“-Hospital. Quelle: OECD Stefan Christen, 37, Leiter der Kardio- logie im Zürcher Waidspital, empfindet

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Mitleid für die „armen Teufel“ im König- dass jeder zweite britische Bürger mit dem den Nationalen Gesundheitsdienst SSN ab- reich. „Aber mit ihren sehr begrenzten Gebotenen prinzipiell zufrieden ist. In löste, die eigenen Landsleute offenbar nicht Mitteln“, sagt er anerkennend, „machen Griechenland und Italien dagegen halten überzeugt. sie eine exzellente Medizin.“ acht von zehn Bewohnern das eigene Heil- Dabei ist „Sozialstaat“ nicht gleichbe- Nichts ist schwieriger als ein Vergleich wesen für schlecht, zahlen aber gleich- deutend mit unbegrenzter, freier Medizin- der Gesundheitssysteme. Hat jeder das wohl mehr. Eine Gemeinsamkeit hat das versorgung. Das zeigt das Beispiel Schwe- Recht auf einen „Zustand vollkommenen Komitee gefunden, die das auffällige Nord- den. Vor zwei Jahren machte Frank Ulrich physischen, psychischen und sozialen Süd-Frustgefälle erklärt: In Staaten, in de- Montgomery, der Präsident der Hamburger Wohlbefindens“, wie es der Genfer Welt- nen eine Sozialversicherung Bismarckscher Ärztekammer, damit Bekanntschaft. Mont- gesundheitsorganisation WHO vorschwebt? Prägung die Grundbedürfnisse befriedigt, gomery, verheiratet mit einer schwedischen Hängt das Glück am vollständigen Gebiss, wie Frankreich, Deutschland oder die Ärztin, musste in Schweden mit seinen prompter Versorgung, teurem Hightech- Schweiz, konzentriert sich das Zufrieden- beiden Kindern, die unter Scharlach litten, Gerät oder zuvorkommendem Personal? heitsniveau im Mittelfeld. zum niedergelassenen Kollegen. Zweimal Wie steht es mit den Risiko- verlangte der behandelnde faktoren? Wie viel wird ge- Mediziner 130 Kronen, um- trunken, geraucht, gearbei- gerechnet 30 Mark. In einem tet, und wie gesund wohnen Wohlfahrtsstaat mit angebli- die Menschen? cher „Vollversorgung zum Mehr Geld jedenfalls be- Nulltarif“ habe er das nicht schert nicht zwingend ein erwartet. längeres Leben. Betrug der Die Höhe des Obolus Anteil der Gesundheitsaus- wird von den Kommunen gaben am Bruttoinlandspro- festgesetzt und muss, bis zu dukt 1997 in der Schweiz einer variablen Obergrenze 10,0 und in Deutschland 10,7 um 2000 Kronen pro Jahr, Prozent, waren es in Finn- bei jedem Besuch bezahlt land nur 7,4 Prozent. Wäh- werden. Der direkte Besuch rend aber 1996 in Deutsch- eines Facharztes ist teurer, land im Schnitt fünf Säug- als wenn der Patient zu- linge auf tausend Lebend- nächst den Hausarzt auf- geburten starben, waren es sucht. in Finnland nur vier. Und hat Die Tatsache, dass dieses das finnische Kind überlebt, System seit Jahren funktio- darf es wie ein deutsches niert – und in den letzten gleichermaßen auf rund 77 zehn Jahren sogar rückläu- Jahre Lebenszeit hoffen, das fige Gesundheitsausgaben im Schweizer Neugeborene lebt Verhältnis zum Bruttoin- im Schnitt sogar noch zwei landsprodukt verzeichnete –, Jahre länger. zeige, so Montgomery, dass Im Vereinigten Königreich man die Restriktionen den arbeitet man, das ist offen- Menschen begreiflich ma- kundig, unter ärmlichen Be- Rettungsfahrzeuge in Zürich: Alles, was gut und teuer ist chen kann. Was den deut- dingungen. 1997 wurden nur schen Ärztefunktionär aber 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für In der Schweiz beispielsweise, mit ei- besonders beeindruckte, war die Kompe- Gesundheitsleistungen ausgegeben. Der nem Versicherungsmodell ähnlich dem tenz der Mediziner und die „großartige ap- Lebenserwartung schadet dies kaum: Nur deutschen, wurde vor drei Jahren die Kopf- parative Ausstattung“. „Das sah appetitlich 0,3 Jahre büßt ein Brite gegenüber einem prämie eingeführt. Ob arm oder reich, ge- aus“, sagt Montgomery, „da habe ich mich Deutschen ein – eine Abweichung, die man sund oder krank, jeder bezahlt dasselbe, fast für deutsche Praxen geschämt.“ unbesehen eher den Ernährungsgewohn- und jeder darf die Krankenkasse wechseln. Das muss deutsche Doktoren schmer- heiten zuschreiben kann. Nur um die 250 Franken muss der Ver- zen. Denn immer wenn es bei Diskussio- Doch diese Fakten hindern deutsche sicherte für die Grundleistungen berappen nen hier zu Lande um Gesundheitsrefor- Ärzte nicht daran, im 50 Jahre alten staat- – allerdings auch jedes weitere Familien- men geht, verteidigen die Funktionäre das lichen britischen National Health Service mitglied. Dass die Prämien pro Person „hohe Versorgungsniveau im deutschen (NHS) das Reich des Bösen zu wähnen, für deutsche Verhältnisse vergleichsweise Gesundheitswesen“. eine sozialistische Plan-Medizin mit ein- gering anmuten, liegt an speziellen Eigen- In Wahrheit wird viel Geld für überflüs- geschränkter Arztwahl, jahrelangen War- arten des Systems: Krankenhausbehand- sige Untersuchungen ausgegeben. Über- tezeiten, haarsträubenden Rationierungen, lungen werden zur Hälfte vom Bund sub- gründlich sind die Kardiologen etwa bei rudimentärer Zahnversorgung und brö- ventioniert, Patienten tragen je nach Tarif teuren Herzkatheteruntersuchungen. 4647 ckelnder Bausubstanz (SPIEGEL 37/1999). jährlich begrenzte Eigenleistungen, Er- Eingriffe auf eine Million Einwohner zähl- Unter der Knute des NHS degeneriere, so wachsene müssen für Zahnbehandlungen te im vergangenen Jahr der „10. Bericht die gängige Meinung, der Doktor zur Exe- selbst bezahlen. des Krankenhausausschusses der Arbeits- kutive übergeordneter Instanzen. Innova- In steuerfinanzierten Sozial- und Ge- gemeinschaft der Obersten Gesundheits- tive Eigeninitiative verdorre ohne finan- sundheitssystemen wie Dänemark oder behörden der Länder“. In Schweden, kei- zielle Anreize zur Beamtenmentalität.Von Großbritannien ist die Zufriedenheits- neswegs Land des epidemischen Herzver- segensreicher Therapiefreiheit deutscher spannbreite nach oben und unten sehr viel sagens, waren es nur halb so viel. Fasson keine Spur. größer: Das nach NHS-Vorbild konstruier- Auch die Deutsche Röntgengesellschaft Gleichwohl zeigt das „Eurobarometer“ te dänische Modell begeistert die Kund- musste auf ihrem Jahreskongress im Mai der vereinigten europäischen Ärztevertre- schaft, während Italien, das 1978 das so- unnützen und strahlenbelastenden Dia- tungen Committee of European Doctors, ziale Krankenversicherungssystem durch gnostik-Einsatz einräumen. Auf die Hälf-

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Werbeseite Titel te der 100 Millionen Röntgenun- tersuchungen pro Jahr könne ver- zichtet werden, ohne die Qualität ärztlichen Handelns einzuschrän- ken – und nebenbei würden 800 Millionen Mark eingespart. Da aber jeder approbierte Arzt mit kurzer Zusatzausbildung röntgen dürfe, sei dies eben schwer zu ver- hindern. Wenn in solchem Zusammenhang über Richtlinien und Kassenaufsicht zur Qualitätssicherung debattiert wird, winden sich die Ärztefunk- tionäre. Auf dem 102. Ärztetag im Juni bestanden sie weiterhin auf dem Mediziner, der „in beruflicher Unabhängigkeit nach medizinischen Kriterien frei entscheiden könne“. Verbindliche Leitlinien, wie Andrea Fischers Reformentwurf es vorsieht, produzierten nur „gegängelte Ärz- te“. Dies führe, heißt es drohend in der Entschließung zum Ärztetag, zwangsläufig zu „gegängelten Pa- tienten“. In anderen europäischen Län- dern, allen voran Großbritannien, hat man längst akzeptiert, dass

angesichts von 25 000 Fachzeit- TEUTOPRESS schriften umfassende Kenntnis il- Ärztefunktionär Montgomery: „Fast geschämt“ lusorisch ist. „Klinische Freiheit“, so fasste es ein britischer Kardiologe nal Institute for Clinical Evidence“. Nice knapp zusammen, könne im besten Fall soll nicht nur bewerten, ob ein medizini- als Deckmantel für Ignoranz gelten, im sches Verfahren nutzt, sondern auch, ob es schlimmsten als Entschuldigung für kosteneffizient arbeitet. Quacksalberei. Auch der schwedische Ärztefunktionär Als Wegweiser durch die Informations- Anders Milton hält eine größere Unifor- massen, auch für den Durchschnittsarzt, mität, Konsequenz des in der norma- bietet sich die Evidence-Based Medicine len Betriebswirtschaftslehre so genannten (EBM) an. Die an der McMasters-Univer- Benchmarking, in der Behandlung für sität in Kanada entwickelte Methode setzt möglich. In 75 Prozent der Fälle handele es auf die konsequente Anwendung statisti- sich um die immer gleichen Dauerbren- scher Methoden. EBMler sichten akribisch ner. Bei Bluthochdruck, Rückenbeschwer- auch abgelegene wissenschaftliche Infor- den und Fettstoffwechselstörungen müsse mationen und bereiten sie in so genannten doch eine weitgehend vereinheitlichte Cochrane Collaborations für die prakti- Therapie möglich sein. Außerdem sei nicht sche Arbeit von Ärzten auf. alles sinnvoll, was machbar ist. „Bei Der Nutzwert von Vorsorgeuntersu- 80 Prozent aller 80-Jährigen ist die Au- chungen steht genauso auf dem Prüfstand genlinse eingetrübt, aber sie haben kaum wie gewohnheitsmäßige Blutuntersuchun- Probleme damit“, sagt Milton und fragt: gen. Immer wieder fragen sich die Ärzte: „Sollen wir alle operieren?“ Halten die Verfahren wirklich das, was sie Auch Stefan Christen und seine Kollegen versprechen? im Waidspital haben Gefallen an der prag- Auf diese Weise entlarvte im vergange- matischen englischen Methode gefunden. nen Jahr die Londoner Cochrane Injuries Nicht blinder Aktionismus steuert mehr Group am Institute of Child Health den ihr Handeln, sondern Vergleichsprogram- Gebrauch von Eiweißlösungen auf Inten- me, mit denen die Briten das meiste aus sivstationen als gefährlich. Obwohl seit dem wenigen holen. Vor allem verhindere über 50 Jahren eingesetzt, war den Prakti- die Methode eins, sagt Kardiologe Chris- kern offenbar entgangen, dass mehr Men- ten: „Teure Routine.“ schen durch die „Albumin“-Lösungen ver- Mittlerweile wird auch im Waidspital auf starben als überlebten. das standardmäßige, aber oft überflüssige Im Mangelsystem Großbritannien geht Röntgenbild vom Brustkorb verzichtet, inzwischen nichts mehr ohne EBM. Be- ebenso wie auf Rundumuntersuchungen sonders unter Kostengesichtspunkten will des Blutbilds. „Jede Maßnahme wird über- der National Health Service das gesamte legt entschieden“, sagt Christen, „das geht Gesundheitswesen mit EBM durchdringen. inzwischen so weit, dass es schon pene- Neueste Erfindung ist „Nice“, das „Natio- trant ist.“ Harro Albrecht

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Werbeseite Titel LIAISON / GAMMA STUDIO X „Betty Ford“-Luxusklinik bei Palm Springs (Kalifornien): Nur ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde

teufelt wie die Phalanx der Krankenkas- sen. Das System der „managed care“, das in den vergangenen zehn Jahren die tradi- Geld oder Leben tionelle Krankenversicherung weitgehend verdrängt hat, steht unter dringendem Ver- Die amerikanische Idee, Kostendämpfung im Gesundheitswesen dacht, sich mehr für Profite zu interessie- ren als für Patienten. mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu erreichen, scheitert Während die Kunden immer mehr am Profitstreben von Pharmaindustrie und Krankenkassen. Eigenanteil für immer weniger Leistung bezahlen müssen, treiben die Macher der abitha Walrond aus der Bronx war Uniklinik Las Vegas, vier Uhr nachts. großen börsennotierten Health Mainte- 19 Jahre alt und hatte keine Erfahrung Eine Frau wird mit Magenbluten eingelie- nance Organizations (HMOs) mit brutalen Tmit Kindern, als ihr Sohn Tyler auf fert. Sie ist krankenversichert. Dennoch Einsparungen und Beitragserhöhungen den die Welt kam. Doch dass der Neugebore- weigert sich der herbeigerufene Spezialist, Kurs ihrer Unternehmen nach oben. 1996 ne trotz Stillens nicht an Gewicht zunahm, ohne das Okay der Kasse zu operieren. verdiente die oberste Garde der Kassen- beunruhigte sie. Zweimal trug sie ihn zum Über eine Stunde lang versucht er, die Ver- manager durchschnittlich zehn Millionen Arzt, zweimal wurde sie abgewiesen: Der sicherung zu bewegen. Der Frau wird in- Dollar Jahresgehalt. Versicherungsnachweis für den Kleinen sei zwischen die vierte Blutinfusion verpasst. Mittlerweile sind die Privatkassen so noch nicht angekommen, sagte man der Als ihr Zustand sich lebensgefährlich ver- teuer, dass viele sich diesen Luxus nicht Sozialhilfeempfängerin. schlechtert, droht der Arzt, die Presse zu mehr leisten können. 1998 mussten 44,3 Zwei Monate später verhungerte der verständigen. Die Kasse gibt nach. Millionen Amerikaner ganz auf Kranken- Säugling, keine fünf Pfund schwer, im Ta- Horrorgeschichten von abgewimmelten versorgung verzichten, eine Million mehr xi auf dem Weg zur Notaufnahme. Eine Kranken und verweigerten Medikamenten als 1997. Im Land der Hightech-Industrie frühere Brustverkleinerung seiner Mutter sind in den USA Alltagsgespräch. Nur die sind 16,3 Prozent der Bevölkerung unver- hatte das Stillen beeinträchtigt. Sie wurde Tabakindustrie wird derzeit ähnlich ver- sichert. im Mai wegen fahrlässiger Tötung verur- Dabei waren die ersten teilt. HMOs in den sechziger Jah- Matthew Cerniglia aus Sterling in Virgi- ren angetreten mit dem heh- nia war zwölf Jahre alt, als ein aggressiver ren Ziel einer besseren, bil- Krebs festgestellt wurde. Die Standard- ligeren Medizin für alle. behandlung dafür ist eine elfmonatige Kleine Gruppen schlossen Chemotherapie. Doch die Nebenwirkun- sich damals zu gemeinnüt- gen würden den geschwächten Jungen um- zigen Organisationen zu- bringen, sagten die Ärzte. Seine einzige sammen, denen Patienten Überlebenschance: eine kurze hoch do- beitreten konnten. Die Mit- sierte Chemotherapie und eine Stammzel- glieder bezahlen einen Jah- len-Transplantation. resbeitrag. Die Health Main- Diese teure Behandlung sei in seinem tenance Organizations ih- Gesundheitsplan allerdings nicht vorgese- rerseits stellt Ärzte gegen hen, teilte Matthews Krankenversicherer ein Festgehalt an. HealthKeepers mit. Präsidentin Ellen Har- Anders als bei herkömm-

rison schrieb: Es handele sich um „eine AP lichen Kassen schränken reine Vertragsangelegenheit“. Gesundheitsreformerin Clinton: Vorstoß gescheitert HMOs die freie Wahl von

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Ärzten, Medikamenten und Dienstleistun- daten von der PBM gespeichert werden. gen ein. Der Weg zum teuren Facharzt Fortan kann die Firma kontrollieren, be- führt nur über einen Allgemeinarzt. Das obachten und eingreifen. Ein Agent be- senkt unnötige Kosten und ermöglicht auch sucht dann den überraschten Arzt, um mit Ärmeren, die sich bislang keine Versiche- ihm die Behandlung eines Patienten zu rung leisten konnten, einen Schutz. diskutieren oder ein neues Medikament Der Durchbruch für dieses Modell kam vorzuschlagen. Ende der achtziger Jahre. Diejenigen Un- So sinnvoll das sein kann im Einzelfall, ternehmen, die in den USA die Kranken- als Nebenwirkung bleibt das Orwellsche versicherung für ihre Angestellten bereit- Gefühl der totalen Überwachung. Zumal stellen, flohen vor den hohen Kosten der die intimen Daten auch den Arbeitgebern Hightech-Medizin zu den günstigen Health zugänglich gemacht werden. Mehrere Mit- Maintenance Organizations. arbeiter, so wurde etwa der Geschäfts- Der plötzliche Ansturm rief die großen Versiche- rungsgesellschaften auf den Plan. Aus den Non-Profit- Organisationen wurden in Windeseile profitorientierte Unternehmensgiganten, die sich mehr ihren Investoren verpflichtet fühlen als ihren Patienten. Knapp sieben Jahre nach- dem Hillary Clintons Vor- stoß für eine gesetzliche Krankenversicherung für alle scheiterte, ist weniger

als die Hälfte der 180 Mil- C. NACKE lionen Privatkassen-Kunden Notfallabteilung in US-Klinik: Alltäglicher Horror zufrieden mit der jetzigen Lösung. Eine staatliche Grundversorgung führung von Motorola gemeldet, nehmen existiert nur für die 39 Millionen Menschen regelmäßig Antidepressiva ein. Die HMO über 65 (Medicare) und die knapp 36 Mil- empfehle ein spezielles Pflichtprogramm lionen Sozialschwachen (Medicaid). für die Betroffenen. Die im Grunde positive Kostendämp- Die Geschäftsführung von Motorola fung der Kassen nahm mit zunehmender wollte die Namen der Betroffenen nicht Konkurrenz groteske Züge an. Teure Pati- wissen. Im Prinzip jedoch sind die so er- enten werden möglichst abgeschoben, nur langten Personendaten dem Arbeitgeber ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde. frei zugänglich. Das Verweigern von Leistungen wurde Die Sparmethoden der Kassen ließ vor zum beliebtesten Sparinstrument. Hospi- drei Wochen das US-Repräsentantenhaus talaufenthalte verkürzten sich dramatisch, reagieren. Mehrere republikanische Ab- manche HMOs schicken niedergekomme- geordnete stimmten mit den Demokraten ne Frauen bereits nach acht Stunden wie- für ein neues Patientenrecht. Darin wird der nach Hause. Ärzte erhalten Prämien, Notwehr festgeschrieben: Patienten dür- wenn sie Patienten nicht behandeln. Auf fen in Zukunft ihre HMO verklagen, wenn keinen Fall sollen sie ihren Patienten von diese ihnen notwendige Leistungen vor- kostspieligen Therapien erzählen. enthält. Viele Patienten misstrauen bereits ihren Denn obgleich die Vereinigten Staaten zwangsverordneten Ärzten und weichen das medizinisch fortgeschrittenste Land auf Mischmodelle aus, die die HMO-Ver- der Welt sind, liegt die Gesundheit von US- sorgung etwa mit freier Arztwahl koppeln Bürgern durchschnittlich unterhalb des Le- – natürlich gegen kräftige Zuzahlung. vels anderer Industriestaaten. Nur Ameri- Dabei sind die Ärzte den HMOs ähnlich kaner, die sich die teure Vollversicherung ausgeliefert wie die Patienten. Verschreibt leisten können, genießen die beste Kran- ein Arzt zu viel teure Medizin, wird er zur kenversorgung der Welt. Rede gestellt. Fällt er als Wiederho- In diesem Jahr rechnen US-Unterneh- lungstäter auf, ist sein Job gefährdet. men mit einer Kostensteigerung für ihre Geradezu gespenstisch aber mutet an, Krankenversicherung von neun Prozent, wie die HMOs die Medikamentenkosten nach einer über sechsprozentigen Er- dämpfen. Sie beauftragen Kontrollfirmen, höhung im vergangenen Jahr. Die Patien- so genannte Pharmacy Benefit Manage- ten sind auf „ihre“ Kasse allesamt nicht ment Companies (PBM). Diese Agenturen gut zu sprechen. sammeln, über die computerisierten Mit- Als Helen Hunt im Oscar-gekrönten gliederkarten, Daten über deren Medi- Film: „Besser geht’s nicht“ ihre HMO als kamentenkonsum. Wer per Karte seine profitgierige Organisation beschimpfte, gab Arznei abholt, muss weniger Eigenanteil es in den Kinos des Landes stehende Ova- zahlen – nicht ahnend, dass die Rezept- tionen. Michaela Schießl

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ARIS Gesundheitspolitiker Fischer, Dreßler: „Verdammt noch mal, ich bin hier die Chefin“ Frau Fischer und „die Firma“ Die grüne Gesundheitsministerin und ihr roter Schattenmann, der SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler, befehden einander mit wachsendem Misstrauen. Von Hans-Joachim Noack

uf einer Fachtagung von Spitzen- Andrea Fischer drohen die Gesichtszü- Koalition dringend nötig hat, wird von kräften aus der Pharmaindustrie, ge zu entgleisen, aber dann fängt sie sich. wachsendem Argwohn umstellt. Adie ins feine Berliner Hotel Adlon Wortreich redet die Politikerin so lange Mitunter flüchten sie sich noch in das eingeladen haben, schlägt sie sich besser als über den spannenden Kernpunkt der News bekannte Erklärungsmuster, eine auf Per- erwartet. Allen zur geplanten „Gesund- hinweg, bis die Frage irgendwie in Verges- sonalien fixierte Journaille habe halt ihren heitsreform 2000“ formulierten Einwürfen senheit gerät. Spaß an solchen Geschichten. „Hier die begegnet die zuständige Ministerin Andrea Erst nach der Konferenz lässt sie ihrem unerfahrene Frau, da der alte Kämpfer“, Fischer mit halbwegs plausiblen Antworten mühsam gebändigten Groll freien Lauf: analysiert die Ministerin, eine im behaup- – nur einmal muss sie passen. „Ich fass es nicht.“ teten Rollenspiel „wunderbar idealtypi- Sichtlich verlegen zupft die 39-jährige Kann man derart mit einer wichtigen sche Besetzung“. Grüne am gebauschten Halstuch und ord- Novelle umgehen, die vorweg bei den chro- Und der stellvertretende Vorsitzende der net fahrig die zur Widerspenstigkeit nei- nisch entnervten Arzneimittelproduzenten SPD-Fraktion, Rudolf Dreßler, der in sei- genden Locken. Die scheinbar beiläufig eh schon den härtesten Widerstand her- ner Partei für den „Bereich Gesundheit eingestreute Anmerkung eines Disputanten ausfordert? Wie viel Glaubwürdigkeit und Pflege“ verantwortlich zeichnet, stößt macht ihr arg zu schaffen. bleibt da noch, wenn bereits die Schlüssel- ins selbe Horn. Natürlich geht es ihm strikt Was sie davon halte, wie sich der sozial- figur der Mehrheitspartei im regierenden um die Sache – „Fischer, Meier, Müller“, demokratische Gesundheitsexperte Rudolf Bündnis öffentlich hinausposaunte „Er- fügt er dann allerdings so grimmig hinzu, Dreßler neuerdings zu Wort melde? Der satzstrategien“ feilbietet? dass die Distanz zum Problem wird, „in- hatte per Interview kurzerhand empfoh- Zwischen der grünen Ressortchefin und teressiert mich nicht“. len, die von der CDU/CSU angekündigte ihrem roten Partner auf einem Sektor, der Die Sache gebietet ein Mindestmaß an Blockade des umstrittenen Gesetzes auf in der Bundesrepublik mit überschlägig Gleichklang, und gewiss wäre der zu den ziemlich ungewöhnliche Weise zu konter- 500 Milliarden Mark mehr Geld bewegt, als ehrgeizigsten Rot-Grün-Projekten zählen- karieren: Die Koalition soll nach seiner die Etats aller Ministerien ausmachen, häu- de Entwurf kaum das Papier wert, auf dem Vorstellung „parallel“ einen Entwurf erar- fen sich die Unstimmigkeiten. Das kom- er gedruckt ist, gäbe es schon bei den viel beiten, der im Bundesrat keine Zustim- plizierte Gesamtkunstwerk, dessen Verab- zitierten Essentials grobe Differenzen. Für mung benötigt. schiedung die imagegeschädigte Berliner beide Politiker scheint in Sonderheit das

58 der spiegel 44/1999 berühmte Globalbudget, das die gesetzli- zierter Job ziemlich versauert wird. Nicht Andrea Fischer, eine hoch impulsive chen Kassen vor dem denkbaren Kollaps nur der starke Mann des großen Bünd- Frohnatur, der auf Grund gelegentlicher, schützen soll, ebenso außer Frage zu ste- nispartners saß der Gesundheitsministerin von Tränen begleiteter Wutausbrüche der hen wie die geforderte Krankenhaus-Um- vom Start weg im Nacken – Andrea Fi- Spitzname „Vulkan“ anhaftet, scheint sich finanzierung. scher stand zugleich unter verschärfter Be- tatsächlich freigeschwommen zu haben. Als sakrosankt gilt darüber hinaus – folgt obachtung ihres mächtigen Namensvetters „Verdammt noch mal, ich bin hier die Che- man ihren Beschwörungen – die latent ge- Joschka F.: Der hielt sie schlichtweg für zu fin!“, prustet sie munter drauflos, als sie fährdete Beitragsstabilität. Um den Kos- weinerlich. von einem Vorstoß Dreßlers erfährt, das tenrahmen zu sichern, möchten Fischer Kein Spaß, sich angesichts solcher Um- aus Sicht der Ärzte skandalöse Global- und Dreßler stattdessen „Ressourcen“ in stände in eine Materie einzuüben, die im budget zu entschärfen. zweistelliger Milliardenhöhe erschließen, jahrzehntelangen Hickhack um geeignete Was die beiden trennt, sind zunächst die im gegenwärtigen System angeblich Lösungsansätze schon ganz andere Kali- einmal Stilfragen. Um den Menschen ein noch vorhanden sind. ber verschliss.Wo immer die Nachfolgerin Mammutgesetz von erheblicher Wirkungs- Doch selbst wenn es denn zuträfe, dass des vergleichsweise robusten, aber am kraft nahe zu bringen, bedarf es nach dem das ungleiche Gespann programmatisch Ende ebenso gestrandeten Horst Seehofer Verständnis des jüngsten Mitglieds im Kri- näher beieinander stünde, als es aussieht, in den ersten Monaten auftrat, spürte sie sen-Kabinett Schröder einer zielstrebigen bleiben die im Psychischen wurzelnden Brüche. Die verschlungenen politischen Biografien der grünen Aufsteigerin und ih- res sozialdemokratischen Schattenmanns erweisen sich als kaum kompatibel. Dass der 58-jährige Wuppertaler Rudolf Dreßler in einer von der SPD geführten Regierung ins Kabinett eintreten würde, gehörte bei seiner Vita eigentlich zu den si- cheren Tipps – aber die Verhältnisse waren nicht so. Der „Modernisierer“ Gerhard Schröder mochte dem ungeliebten, weil eher den „Traditionalisten“ verbundenen Parteifreund weder das Arbeitsministe- rium anvertrauen noch das Gesund- heitsressort. Berufen wurde statt seiner eine in Ber- lin lebende junge Dame aus dem sauer- ländischen Arnsberg, die sich als Talent in Renten- und Steuerfragen entpuppt hatte. Für den altgedienten Sozi, dem selbst kon- servativ geprägte Geister hervorragendes Know-how bestätigen, fast schon eine Ka- tastrophe. Charaktere aus weniger hartem Holz

hätten den Bettel wohl hingeschmissen – A. SCHOELZEL doch der zähe Genosse, obschon er seit Grünen-Delegierte Fischer (1989): Vorliebe für komplexe Systeme zwei Jahren an den Folgen eines grässli- chen Verkehrsunfalls laboriert, dachte nicht eine Skepsis, die sich in ihrem Inneren zu Sympathiewerbung – und sie verhält sich daran. Das Political Animal auf dem Feld einem einzigen, das labile Selbstgefühl pei- entsprechend. Kaum eine Woche geht da- des Sozialen fühlte sich zwar gleich in dop- nigenden Satz verdichtete: „Ah, da ist sie hin, in der sich die kontaktfreudige Grüne pelter Weise verletzt, aber es verharrte im ja, die dumme Nuss.“ nicht mehrmals einem möglichst großen angestammten Revier. Hinzu kam, dass ihre Couleur in der Ge- Publikum stellt. In der Bundestagsfraktion (und am An- sundheitspolitik nur vage Vorstellungen an- Auf dem Bädertag in Bad Saarow wie im fang noch mit kräftiger Unterstützung zubieten hatte, während die SPD aus ei- Kulturzentrum der anatolischen Aleviten seines später desertierten Parteichefs nem im Laufe der Oppositionszeit erar- in ihrem Berliner Wahlbezirk Kreuzberg Oskar Lafontaine) laufen wie eh und je beiteten beträchtlichen Fundus schöpfte. präsentiert sich eine wacker um Vermitt- alle Fäden bei ihm zusammen. Erst was Wie sehr der aktuelle Entwurf, etwa bei der lung bemühte Frau von solider Bandbrei- von Rudolf Dreßler „quer geschrieben“ ins Auge gefassten Krankenhaus-Reform te. Ihre meistens von leisen Tönen beglei- worden ist, sagt ein Insider anerkennend, oder der Neuordnung des Medikamenten- teten Auftritte strahlen fast durchgehend trägt den „unerlässlichen sozialdemokra- markts, eine „sozialdemokratische Hand- eine in der Politik seltene Mütterlichkeit tischen TÜV-Stempel“. schrift“ trägt, will die grüne Ministerin gar aus, doch sie kann auch hinlangen. Doch zugleich werfen ihm Kritiker vor, nicht verhehlen. Der „Gegenspieler“ („Frankfurter All- er vermenge die erlittenen Kränkungen mit Aber nach einer Phase, in der ihr „der gemeine“) Rudolf Dreßler, der im medizi- seinen inhaltlichen Offerten. Den nimmer- Boden unter den Füßen schwankte“, ge- nisch-industriellen Komplex nahezu jeden müden Kärrner, der sich rühmt, seit 1982 wann sie auch selbst an Kontur. Zug um der Lobbyisten persönlich kennt, kungelt „mehr ins Gesetzblatt gebracht zu haben Zug nahm die ehemalige Offsetdruckerin lieber. „Sozialpolitik“, weiß er, „ist ver- als die Hälfte der Minister des Kabinetts und diplomierte Volkswirtin von einem mintes Gelände“, und wer denn im Namen Helmut Kohl“, treiben erkennbar auch an- schwierigen Haus Besitz, dem sie sich „der Firma“ – gemeint: der SPD – ein or- dere Gelüste. längst gewachsen fühlt. Ihre Vorliebe – was dentliches Gesetz abzuliefern gedenke, Auf alle Fälle glaubt er es besser zu kön- sie hinlänglich ja schon auf dem Renten- müsse das mit allen Beteiligten versuchen. nen als „diese Frau“, jene Newcomerin aus sektor bewies – gilt den „Funktionsweisen Nein, über die Ministerin „als solche“ der Ökopartei, der ihr ohnehin kompli- komplexer Systeme“. von ihm keine Stellungnahme. Nur einmal

der spiegel 44/1999 59 Titel ist er ihr, wie die „taz“ rügte, „in den ja auch die amtierende Gesundheitsminis- Rücken gefallen“, aber den Vorwurf hält er terin für sich in Anspruch. für „Kokolores“. Die Grüne hatte nach ein Sie habe nie behauptet, sagt Andrea Fi- paar Verbalinjurien der erbosten Ärzte den scher betont salopp, „dass ich hier ’ne Jahr- Abbruch der Gespräche verfügt – der in hundertreform hinkriege“. Den objektiven zwei Jahrzehnten kampferprobte Sozi er- Sachzwang gibt es nach Auffassung der un- hob dagegen Widerspruch. dogmatischen Grünen nicht („ … alles Po- Alles bloß Scharmützel, die im Wesent- litik“), weshalb sie lediglich „die Weichen lichen die unter Stress übliche Reizbarkeit richtig zu stellen“ beabsichtigt. spiegeln, doch den harten Kern kaum Von Glaubenskrieg zwischen den Koali- berühren? Die Zweifel daran, dass Fischer tionären keine Spur – freilich, wo das meis- und Dreßler manchen Missklängen zum te verhandelbar ist, wächst zugleich das Trotz noch am gleichen Strang ziehen, Misstrauen. Fischers Leute mutmaßen, der nähren sie zunehmend selber. sozialdemokratische Rivale könnte ange- Das Ziel der rot-grü- sichts der herrschenden nen Regierung, in der Mehrheitsverhältnisse der erodierenden gesetzli- Union so weit entgegen- chen Krankenversiche- kommen, dass er der ei- rung das Solidarprinzip genen Partei peu à peu neu zu verankern, ver- das Wasser abgräbt. treten die beiden Prota- Die von der Ministerin gonisten gleichermaßen – bis zuletzt zäh verteidig- nur um welchen Preis? te Linie, den Ärzten für Ihre Mitarbeiter bezich- den Fall gravierender tigen die jeweils andere Budgetüberschreitungen Seite, „Neben- und Hin- kollektive Haftung auf- tergedanken“ zu hegen. zuerlegen, hat Dreßler Denn die schönen Ta- bereits unterlaufen – ge, als der Bundeskanzler doch ansonsten wittert er noch im Juni dieses Jah- seinerseits Gefahren. Er res in helles Entzücken lässt streuen, die bei den geriet („Ein wirklich gro- Eckpunkten des Geset-

ßer Wurf, den Frau Fi- / MELDE PRESS B. WOLFGARTEN zes weniger involvierten scher da vorgelegt hat“), Ärzte-Demo*:„Vermintes Gelände“ Grünen seien verführbar sind einstweilen verflo- genug, mit der Opposi- gen. Spätestens seit die Vorsitzenden der tion anzubändeln. Scheitere die Reform, Christenunion nach ihrer Siegesserie bei gibt der rote Stratege vorgeblich an die den Landtagswahlen kraftstrotzend Fun- Adresse der Parteichristen zu Protokoll, damentalopposition ankündigten, reicht es trage „die SPD“ keinerlei Verantwortung. bestenfalls zum Kompromiss. Andrea Fischer glaubt, dass sie in ihrem Und den scheint die grüne Ministerin Gewerbe hinreichend bewandert ist, um ebenso zu wollen wie der rote Sozialpapst. diesen Halbsatz auf sich beziehen zu dür- Dass Gerhard Schröder ein in den Grund- fen: „Der Beginn einer Dolchstoßlegen- zügen SPD-eigenes Konzept demonstrativ de“, entfährt es ihr empört. der Kabinettsdame des Bündnispartners Ganz so leicht allerdings will sie es dem gutschrieb, soll er selbst mit sich ausma- trickreichen „Übervater“ – ein Begriff, den chen. Dreßler geht es zuvörderst darum, sie mit ironischem Unterton aus der Pres- seiner an „tornadomäßigem Identitätsver- se übernimmt – nun doch nicht machen. lust“ leidenden Partei die verbliebene Wer in einem Gemeinschaftswerk die Rol- Restsubstanz zu retten. le des Spiritus Rector für sich reklamiert, So spricht der Linke, der sich mit eini- soll gefälligst Flagge zeigen, statt schon vor gem Recht insbesondere als eine Art Ober- der Abstimmung die parteipolitischen An- experte empfindet. Vor Internisten in der teile zu zergliedern. Heimatstadt Wuppertal ruft er so ein- Ungewohnt bescheiden sagt der Abge- drucksvoll seine Fachkenntnisse ab, dass ordnete Rudolf Dreßler, er rede ja nur „im die aufgebrachten Ärzte bald verstummen. Namen der Firma“.Wenn sich die Opposi- Passagenweise freihändig aus der Koali- tion denn dazu bereit erklärt, wird die tionsvereinbarung zu zitieren – etwa „Sei- Stunde der Wahrheit nach seiner Progno- te 24, vierter Spiegelstrich, den Missbrauch se im Vermittlungsausschuss schlagen – ein der Patienten-Chipkarte betreffend“ – be- Gremium, in dem die „Süddeutsche Zei- reitet ihm keinerlei Schwierigkeiten. tung“ den Genossen zum „heimlichen Der vermeintliche Ideologe, ein Etikett, Gesundheitsminister“ aufsteigen sieht. Die das er bei seiner schon früher vorgeführten allgemeine Erwartung, das vorgelegte Fi- Beweglichkeit in der Rentenfrage oder der scher-Konzept sei dort chancenlos, kom- Pflegeversicherung „empirisch widerleg- mentiert er lakonisch: „Kann so sein, muss ten Quatsch“ nennt, sucht pragmatische aber nicht.“ Lösungen. Aber diesen Maßstab nimmt Die reale Ressortchefin hält noch kei- neswegs für entschieden, ob er zu dieser * Am 22. September in Berlin. Runde überhaupt Zugang hat. ™

60 der spiegel 44/1999 Werbeseite

Werbeseite CSU Welch ein Vergnügen Innenpolitisch angeschlagen, reist Bayerns Ministerpräsident Stoiber in die USA – und gibt sich dort wie der Kanzlerkandidat der Union.

er Mann ist richtig stolz. Es sei „schon beeindruckend“, findet der DCSU-Vorsitzende, wie gut seine D. DRENNER Gesprächspartner über den Freistaat im Amerika-Bewunderer Stoiber (in Washington): Elf Termine in 36 Stunden fernen Deutschland und dessen „vorbild- liche Politik“ informiert seien. Außerdem Elf Gesprächstermine absolvierte der präsentieren. Er, so Stoibers Botschaft, sei habe man ihn, den Nachfolger des auch in CSU-Mann jetzt allein während 36 Stun- in Germany der Mann der Zukunft, nicht den USA legendären Franz Josef Strauß, den seines Washington-Aufenthalts, welch der Noch-Kanzler Gerhard Schröder. „sehr, sehr herzlich“ in Washington auf- ein Vergnügen. Denn die Kratzer am Immer und überall spricht Stoiber von genommen. Image, die ihm die Millionenverluste der der Globalisierung, dem weltweiten Wett- Mit besonderer Begeisterung erzählt der Landeswohnungs- und Städtebaugesell- bewerb. Einmal, nach einer Besichtigung bayerische Ministerpräsident Edmund Stoi- schaft Bayern GmbH (LWS) beigefügt ha- des BMW-Werks in Spartanburg, fasst der ber, 58, am vorvergangenen Donnerstag ben, interessieren in den USA niemanden. CSU-Mann seine Ziele zusammen: Er wol- kurz vor dem Abflug aus der US-Haupt- Hier kann Stoiber noch wie ein Mann le „mein Land vorbereiten für das 21. Jahr- stadt in Richtung Spartanburg im US-Staat mit Zukunft auftreten. Als möglichen hundert, das andere Anforderungen haben South Carolina von seiner Begegnung mit Kanzlerkandidaten der Opposition für das wird als das gegenwärtige“ – „mein Land“ Notenbankchef Alan Greenspan, dem Jahr 2002 hatten ihn Beamte der deutschen meint dabei offenkundig nicht nur Bayern. mächtigsten Wirtschaftslenker der Welt. Botschaft gewünschten Gesprächspartnern Dass „die Anderen“ das nicht können, Der habe ihn „auf unser Steuermodell an- schmackhaft gemacht. Mit Erfolg. macht Stoiber allen klar. Schröder und gesprochen“ und zu verstehen gegeben, Handelsminister William Daley, die stell- Freunde seien „viel zu altbacken“ und hin- solch drastische Tarifsenkungen, wie von vertretenden Minister für Finanzen und gen „dem alten Denken“ nach, so der der CSU vorgeschlagen, seien „das, was Verteidigung, Stuart Eizenstat und John CSU-Mann nach Gesprächen mit den Deutschland braucht“. Hamre, Außenstaatssekretär Thomas Chefs der Software-Riesen Sun und Oracle Es ist Stoibers erster Besuch in den USA Pickering sowie der Sprecher des Reprä- im Silicon Valley. „Nicht mehr nur Okto- als Ministerpräsident – und sein dritter sentantenhauses Dennis Hastert und gar berfest, Lederhosen und König Ludwig“ überhaupt. 1991 war er als bayerischer noch der republikanische Mehrheitsführer verbänden Amerikaner mit Bayern, son- Innenminister hier, um über Kriminalität im Senat Trent Lott nahmen sich Zeit für dern „Hightech und attraktive Standort- zu diskutieren. Und einmal kam er, vor den Gast aus München. Das ist nach Wa- bedingungen“.Auch darum hätten sich 450 über 20 Jahren, als Funktionär der Jun- shingtoner Usancen sehr viel der Ehre für US-Firmen inzwischen dort angesiedelt. gen Union. einen Provinzpolitiker. „Ein beachtliches Wo immer er auch hinkommt, in den Programm“, wie auch Stoiber findet. aus seiner Sicht vorbildlich auf die Globa- Mit Genugtuung wird in seiner Delega- lisierung eingestellten USA erblickt Stoiber tion verbreitet, CDU-Chef Wolfgang Bilder aus einem wirtschaftlich blühenden Schäuble habe seine geplante Washington- Land, hört Zahlen von traumhaftem Reise absagen müssen, weil er auf ameri- Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit. kanischer Seite keine angemessenen Ge- Die Schattenseiten des Systems, Armut, sprächspartner gefunden habe. Rassismus, Kriminalität, oft nur wenige Ki- Prompt gibt sich Stoiber diplomatischer lometer von Stoibers Zielen entfernt, sieht und korrekter als daheim. Beim einzigen er nicht. Dafür fehlt die Zeit. Thema, das US-Journalisten an Stoiber Natürlich will Stoiber, wie er sagt, „kei- wirklich interessiert, seine Meinung über ne amerikanischen Verhältnisse“. Aber den österreichischen Rechtsaußen Jörg darauf hinweisen, dass „unser Sozialsys- Haider, findet der Bayer in der Fremde tem in einer globalisierten Welt dringend ganz andere Töne. verändert werden muss“, das darf man Haider sei „für mich kein akzeptabler wohl schon. Oder feststellen, dass „uns die Politiker“, gibt der Gast aus München zu Amerikaner auslachen wegen unserer so- Protokoll. Der FPÖ-Chef habe sich „abso- zialen Standards“. lut disqualifiziert“ durch seine „Agitation Die „Förderung und Forderung unserer gegen Ausländer“. Die umstrittene Emp- Eliten“, predigt der CSU-Mann im Silicon fehlung an die ÖVP, eine Koalition mit der Valley, sei notwendig, „damit wir uns künf- FPÖ einzugehen, wiederholt Stoiber nicht. tig das Sozialsystem noch leisten können, Stoiber will sich dem Freund und Bünd- das wir uns leisten wollen“. Welche sozia-

W. HEIDER-SAWALL / AGENTUR FOCUS / AGENTUR HEIDER-SAWALL W. nispartner, egal ob Demokraten oder Re- len Standards sich sein globalisiertes Land USA-Besucher Stoiber (in Houston) publikaner, vor allem als Antreiber der konkret noch leisten soll, darüber schweigt Diplomatischer als daheim „notwendigen Erneuerung Deutschlands“ Stoiber. Wolfgang Krach

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wagen. Die 19 anderen Firmen hingegen bestehen auf Anonymität oder sind – wie der Automobilzulieferer Bosch – allenfalls zu einer vagen Zusage bereit: Man erwä- ge, sich zu beteiligen. Viele Unternehmen, die nachweislich bis Kriegsende Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, äußern sich gar nicht erst – wie etwa der Energieversorger RWE, der Phar- mahersteller Merck oder die Kleiderfirma Hugo Boss. Das Gros der deutschen Wirtschaft will eine Entschädigung offenbar verschleppen, bis die letzten der im Durchschnitt schon fast 80 Jahre alten ehemaligen Zwangs- arbeiter verstorben sind. Jene Unterneh- men, die sich – etwa wegen eines hohen Exportanteils – schlechte Publicity im Aus- land nicht länger leisten können, machen nun gegen die knickerigen Konkurrenten mobil. Am selben Tag, an dem Porsche vor dem Stuttgarter Landgericht einen Vergleich mit einem ehemaligen Zwangsarbeiter ablehn- te – am Mittwoch vor drei Wochen –, ging

DPA beispielsweise VW-Vorstandsmitglied Klaus Unterhändler Eizenstat, Lambsdorff*: Angebot von sechs Milliarden Mark Kocks in die Offensive. Die Industrie solle endlich konkrete Zusagen machen, erregte er sich und stellte namentlich die chemi- ZWANGSARBEITER sche Industrie an den Pranger, die sich bis- lang „wenig großzügig“ gezeigt habe. Knickern und knausern Dass es ausgerechnet der VW-Mann war, der sich lautstark zu Wort meldete, ist kein Nur wenige Konzerne wollen bisher die Opfer Zufall. Kocks unterhält ausgezeichnete Be- ziehungen zum ehemaligen VW-Aufsichts- von Sklavenarbeit in der Nazi-Zeit entschädigen. Nun machen ratsmitglied Gerhard Schröder. Der Kanz- sie Druck auf die zahlungsunwillige Konkurrenz. ler hatte intern angekündigt, er wolle jetzt den Druck auf Drückeberger erhöhen. eit vier Monaten bettelt der Finanz- Denn obwohl sich nach Angaben des Zu spüren bekommen das auch Bahn chef von DaimlerChrysler in frem- Washingtoner Opferanwalts Michael Haus- und Post. In Gesprächen drängt die Regie- Sden Vorstandsetagen um Geld. Man- feld mindestens 2000 deutsche Firmen und rung die ehemals staatlichen Betriebe fred Gentz appelliert als Sprecher der Betriebe als Sklavenhalter der NS-Kriegs- dazu, ihren hinhaltenden Widerstand auf- „Stiftungsinitiative der deutschen Wirt- wirtschaft betätigten, haben sich dem ver- zugeben und sich am Fonds zu beteiligen. schaft“ für ehemalige Zwangsarbeiter an meintlichen „Gesamtanliegen der deut- Eigentlich wollte der Kanzler schon zum Moral und Verantwortung und sendet schen Wirtschaft“ (Gentz) bislang nur 35 1. September, dem 60. Jahrestag des deut- per Post die eindringliche „Bitte um akti- Unternehmen angeschlossen. 16 von ihnen schen Einfalls in Polen, die ersten Opfer ve Teilnahme“ am Milliardenfonds. geben sich öffentlich zu erkennen: Allianz, entschädigen. Zur nächsten Verhandlungs- Doch die Kollegen Vorstände geben BASF, Bayer, BMW,Commerzbank, Daim- runde Mitte November in Bonn haben die nichts. Porsche-Chef Wendelin Wiedeking lerChrysler, Degussa-Hüls, Deutsche Bank, Deutschen die wohl letzte Chance, eine ließ ausrichten, sein Unternehmen sehe sich Deutz, Dresdner Bank, Hoechst, RAG, Sie- einvernehmliche Lösung zu finden. Beim keinesfalls in der Nachfolge jenes Kon- mens, VEBA, Thyssen-Krupp und Volks- Treffen in Washington mit seinem ame- struktionsbüros, das unter dem Namen Por- rikanischen Pendant Stuart sche KG Zwangsarbeiter beschäftigte – das Eizenstat Anfang dieses Porsche aber ansonsten gern als „Grund- Monats hatte der deutsche stein“ für das heutige Unternehmen preist. Unterhändler Otto Graf Babcock Borsig, MAN oder Schering ver- Lambsdorff sechs Milliarden trösteten Gentz mit dem Hinweis, die Sache Mark angeboten: Vier Mil- erst einmal gründlich prüfen zu müssen. liarden sollen die Unter- Die deutsche Wirtschaft ist im Begriff, nehmen, zwei Milliarden ihr weltweites Ansehen nachhaltig zu rui- der Bund zahlen. In Wirk- nieren. Viele Firmen ducken, tricksen, ar- lichkeit trägt der Steuerzah- gumentieren sich aus der Verantwortung. ler noch zwei Milliarden Längst hat sich der Ruf deutscher Unter- mehr. Denn die Unterneh- nehmen als unhistorische Knauser ver- men können ihre Beteili- selbständigt – selbst wenn doch noch eine gung etwa zur Hälfte als Einigung zu Stande kommt. Betriebsausgaben von der Steuer absetzen. Daran wird REUTERS * Oben: am 7. Oktober in Washington; unten: am 5. und REUTERS auch der SPD-Bundestags- 6. Oktober in der „New York Times“. Anzeigenkampagne*: Schlechte Publicity abgeordnete Wilfried Pen-

64 der spiegel 44/1999 ner nichts ändern, der dies abschaffen möchte. Die Offerte von sechs Milliarden Mark stimmt hinten und vorn nicht. Denn die bisherigen Fonds-Mitglieder halten die Summe für zu hoch: „Mit den derzeit be- teiligten Firmen ist das nicht zu stemmen“, sagt Wolfgang Gibowski von der Stiftung. Andererseits reicht der Betrag nicht für eine anständige Entschädigung aller noch Überlebenden. Bereits im Juli hatte der Historiker Lutz Niethammer von der Uni- versität Jena Lambsdorff vorgerechnet, worum es wirklich geht: zehn Milliarden Mark. Damit könnten 232000 ehemalige KZ-Insassen mit jeweils 15000 Mark und weitere 643 000 Industriezwangsarbeiter mit 10000 Mark entschädigt werden. Moralische Argumente fördern die Zah- lungsbereitschaft der Konzerne kaum – eher schon wirtschaftliche. „Die Ver- wundbarkeit auf dem US-Markt steht in direktem Zusammenhang mit der Bereit- schaft, in die Tasche zu greifen“, bestätigt ein Sprecher des Chemiekonzerns Bayer. W. v. BRAUCHITSCH W. Porsche-Chef Wiedeking Verantwortung bestritten

Die Folge: Ein Exportgigant wie Bayer will zahlen, der Bundesverband mittel- ständische Wirtschaft („keine konkreten Fälle bekannt“) hingegen vorerst nicht. Doch auch wer sich verantwortlich be- kennt, verklausuliert dies zwischen vielen Wenn und Aber. Bevor Geld fließt, so for- dern beispielsweise die Vertreter von Con- tinental, Hochtief,Varta, Bahlsen oder Ger- resheimer Glas, müsse zunächst die Rechts- lage geklärt werden, etwa ob eine Beteili- gung am Stiftungsfonds vor Entschädi- gungsklagen in den USA schützt. Immerhin hat US-Präsident Bill Clinton ein „Statement of Interest“ angeboten: Soll- te es zu einer zufrieden stellenden Ent- schädigung kommen, will er weitere Pro- zesse gegen Zwangsarbeiterfirmen ab- schmettern lassen mit dem Hinweis, sie stör- ten das außenpolitische Interesse der USA. Doch wirklich helfen wird auch Clin- tons Erklärung den zögerlichen Zah- lern aus Deutschland im Zweifelsfall nicht, weiß der Unterhändler Lambsdorff: „Für die Gerichte ist sie unverbind- lich.“ Alexander Neubacher

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DÄNEMARK Wal- Sylt schutz- gebiet DEUTSCHLAND Föhr Amrum H. TEUFEL Touristenattraktion Wattenmeer: Tabuzonen in der Matschecke Pell- worm Husum

NATURSCHUTZ Neue National- Tönning parkgrenze Deichen oder weichen Alte National- parkgrenze Nationalpark Schleswig- Holsteinisches Die Kieler Regierung hat den „Nationalpark Wattenmeer“ Wattenmeer vergrößert – gegen massiven Widerstand der Friesen. Nun hofft die CDU bei der Landtagswahl auf ein Debakel von Rot-Grün.

ür Postkarten-Fotografen wäre der Deutschlands Matschecke verschiedene noch meistens von der Ostsee kamen, die- Mann genau richtig: Vollbart, stahl- Zonen, die für den Menschen tabu sind ser „Pfütze“ (Friesen-Hohn). Fblaue Augen und unter dem Woll- oder, so fürchten zumindest die Einheimi- Höhepunkt der Proteste war Ende Au- pullover ein Brustkorb wie ein Fass. Seit 27 schen, ganz schnell tabu werden könnten. gust die bislang größte Fischkutter-De- Jahren tuckert Jürgen Sörns, 44, mit seinem Die Gesetzesnovelle hat an der Westküs- monstration. 150 bunte Kutter tuckerten Kutter „Theodor Storm“ durch das schles- te einen Sturm der Entrüstung entfacht. durch den Nord-Ostsee-Kanal gen Kiel, um wig-holsteinische Wattenmeer, zwischen Drei Jahre lang wurde gestritten und ge- direkt vor Landtag und Staatskanzlei gegen Halligen und Inseln, zwischen Sandbän- zetert. Ministerpräsidentin Heide Simonis die Pläne zu demonstrieren. Zwischen den ken und Küste. Immer hin und her und (SPD) und ihr grüner Umweltminister Masten flatterten Transparente („Stoppt immer auf der Jagd nach Crangon cran- Rainder Steenblock mussten sich mit Eiern den Öko-Wahn“, „Alles Rainder Blöd- gon, der Nordseegarnele, im Volksmund: bewerfen lassen. Entlang der gesamten sinn“), die grüne Fraktionschefin Irene Krabbe. Küste zwischen Elbmündung und däni- Fröhlich wurde als „blöde Schlampe“ titu- Das Tierchen ist nicht nur schwer zu pu- scher Grenze wurden Mahnfeuer entfacht, liert. len, sondern auch äußerst sensibel: „Die in Tönning brannten Strohpuppen mit Na- Nur wenige Monate vor der Landtags- können beispielsweise keinen Schnee ab“, mensschildern „Heide“ und „Rainder“. wahl, der „Schicksalswahl“ (Steenblock) sagt Fischer Sörns, und sein Helfer Harry Überall stritten die Bürger mit Umwelt- im Norden, die als Weichenstellung für die Rogalli, 51, wiegt schweigend den Kopf. So schützern und Beamten, die dann auch Wahl in Nordrhein-Westfalen gilt, nahm treiben die Krabbenschwärme heute die CDU unter ihrem Spitzenkandi- hier und morgen dort. Die Fischer hal- daten Volker Rühe den Kampf ums ten mit: „Wir sind ja so was von flexi- Watt dankbar auf. bel. Da, wo die sind, da fahr’n wir Der Zugereiste Rühe, der hinterm hin.“ Deich bei Tönning seine neue Heimat Aber nicht mehr lange: Wenige Mo- gefunden haben will, kündigte prompt nate vor der Landtagswahl am 27. Fe- an, die Novelle sofort nach seinem bruar verabschiedete die rot-grüne Wahlsieg zu kassieren. Der Ex-Vertei- Mehrheit jetzt im Kieler Landtag ein digungsminister wird nicht müde, von neues Gesetz für den „Nationalpark Hallig zu Hallig zu touren und in ram- Schleswig-Holsteinisches Watten- melvollen Gemeindesälen seine Bot- meer“. Geschützt werden sollen unter schaft zu verkünden. Auf der Insel anderem die Schweinswale, eine etwa Pellworm blieb er sogar über Nacht, einen Meter lange Delfin-Art. was CDU-Bürgermeister Jürgen Fed-

Die Wahl vor Augen, den Wal im M. ZAPF dersen, 55, als besondere Ehre sieht: Kopf, bestimmten die Koalitionäre für Partner Simonis, Steenblock: Strohpuppen brannten „Jau, das war schon super.“

68 der spiegel 44/1999 Der Streit um das Wattenmeer wurde in den Augen der Friesen zum Symbol für eine Politik, die über die Köpfe der Men- schen hinweggeht. Künftig reicht Deutschlands größter Na- tionalpark bis an die Drei-Seemeilen-Gren- ze. Er wird damit um 60 Prozent ver- größert. Westlich von Amrum und Sylt wird zudem das erste europäische Wal- schutzgebiet eingerichtet. Hier ist lediglich das Fischen mit großen, engmaschigen Schleppnetzen verboten, wie es nur die Dänen und Holländer betreiben. Südlich des Hindenburgdamms gen Sylt wird es jedoch eine Nullnutzungszone ge- ben, die etwa so groß ist wie die Inseln Föhr und Amrum zusammen. Hier soll die Natur ohne jeden menschlichen Einfluss gedeihen. Die zentralen Schutzzonen für Seevögel werden zudem zusammengefasst und vergrößert. Damit sind sie während der Mauserzeit für die Fischerei gesperrt. Grund genug für Krabbenfischer Sörns, um in Kiel bei der Kutter-Demo seinem Ärger Luft zu machen. Er sieht durch den Nationalpark seine Existenz bedroht. Die Schutzzone sei außerdem der „allergröß- te Quatsch“: Er habe in 27 Jahren „höchs- tens“ zehn Wale gesehen. Das Misstrauen sitzt tief an der Westküs- te. „Die Verselbständigung des Natur- schutzes und der Wissenschaft macht hier Angst“, sagt Rüdiger Kock, 36, Geschäfts- führer des holländischen Krabbenmultis Heiploeg in Husum. Wenn die Fischer aus dem Watt vertrieben würden, müssten sie auf hoher See gegen die Hightech-Kon- M. AUGUST CDU-Kandidat Rühe* Kampf ums Watt kurrenz aus Holland und Dänemark an- schippern. „Und das überleben die nicht.“ Der Streit um den Nationalpark dreht sich weniger um die Frage, wie man das Wattenmeer schützen soll. Was die Lan- desregierung nun beschlossen hat, wird die Krabbenfischer auch keineswegs in den Bankrott treiben. Stattdessen geht es vor allem um die Frage, wer bestimmt, wie man schützen kann – die Einheimischen oder die Obrigkeit von der Ostküste? Noch halten sich die Friesen für die al- leinigen Kenner des weltweit einzigartigen Ökosystems hinter ihren Deichen. Hans-

* Im August auf dem Weg nach Pellworm.

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benskampf. „Wer nicht dei- Tatsächlich hat Umweltminister Steen- chen will, muss weichen“ ist block ein Problem mit seinen Wählern. zum Grundsatz friesischer Spätestens seit er den brennenden Holz- Existenz geworden. frachter „Pallas“ hilflos ins Watt treiben Dieser uralte Kampf zwi- ließ – eine wesentlich derbere Um- schen Mensch und Meer weltsünde als die Krabbenfischerei –, gilt lässt keinen Platz für die Er- er als politisch schwer angeschlagen. kenntnisse von Umwelt- Schon als er beim umstrittenen Bau der schützern, Biologen oder Ostseeautobahn A 20 durch das Wake- Ministerialen. Wenn WWF- nitztal bei Lübeck vor der SPD einknick- Biologe Rösner beruhigend te, zog er sich den Unmut der grünen sagt, die küstennahe Kutter- Basis zu. fischerei sei doch „genau Als ebenso schwach beurteilen Um- das, was wir wollen“, weil weltschützer und Beamte aus dem eige- sie nachhaltig sei und kei- nen Haus die Performance in Sachen Na- nen ökologischen Schaden tionalpark: „Man möchte ihn immer trös- anrichte, glaubt ihm das nie- ten“, sagt ein Beamter mitleidsvoll. Da mand mehr. kommt die Wattenmeer-Novelle gerade Zwischen 1996 und 1999 recht, um die aufgebrachte grüne Klientel fanden 15 öffentliche An- zu befrieden. hörungen und mehr als 200 Gegen solch angeschlagene Gegner hat Informationsveranstaltungen die CDU leichtes Spiel, den Widerstand der Landesregierung statt. der Westküste zu mobilisieren. „Natur- Auch als Steenblock ein schutz eignet sich offenbar als wunderba- Stück nachgab und sich von rer Prügelknabe“, sagt Wattenmeer-Ex- der Ausdehnung der Schutz- perte Rösner. „Eine sachliche Debatte war zone auf Strände und Dünen in dieser emotionalisierten Atmosphäre verabschiedete – was ihm un- überhaupt nicht mehr möglich.“ ter anderem Rücktrittsforde- Dass der Nationalpark auch große Mög- rungen der Umweltschutz- lichkeiten für den Tourismus berge, sei verbände einbrachte –, ließen überhaupt nicht mehr vermittelbar gewe- die Friesen nicht locker. sen, sagt Helmut Grimm, 58, vom Natio- Neue Tourismuskonzepte nalpark-Amt in Tönning: „Hier herrschen und Naturschutz, Nachhal- Ängste vor Veränderung. Der Park stellt tigkeit oder gar Biosphäre doch eine große Chance für die Region da. sind an der Westküste kein Das kann man doch vermarkten!“ Thema mehr. „Rot-grün Dass das funktioniert, zeigt das „Multi-

W. STECHE / VISUM W. wird es hier nicht mehr mar Wattforum“ in Tönning, das Heide Si- Kutter-Demonstration*: „Das überleben die nicht“ schaffen“, sagt Muschelfi- monis Anfang Juni eröffnete. Inzwischen scher Wagner. Ulrich Rösner, 41, vom Husumer „Pro- Der Husumer CDU-Landrat Olaf Bas- jektbüro Wattenmeer“ der Umweltstiftung tian, 47, der von der Zeitschrift „natur“ WWF hält dagegen: „Ein Nationalpark ist schon den „Hammer des Monats“ für sein eine Angelegenheit von nationaler Bedeu- Engagement gegen die Windkraft verlie- tung. Das kann man nicht einer Region hen bekam, macht hoch erfreut Stimmung überlassen.“ gegen die Gesetzesnovelle: „Man fühlt Seit Jahrhunderten leben die Nordfrie- sich von der Landesregierung gelinkt.“ sen gegen das Meer an. Meterhohe Deiche Weder sei die Erweiterung ausreichend sollen vor der unbeherrschbaren Kraft der begründet worden, noch gebe es genügend Nordsee schützen, mit Entwässerungen ho- Argumente für ein Nullnutzungsgebiet: len sich Bauern Hektar für Hektar verlo- „Das ist eine reine Prestige-Fläche“, pol- renes Land zurück. tert Bastian in Anspielung auf die flaue

Dort, wo heute Ebbe und Flut wechseln, Bilanz von vier Jahren grüner Umwelt- / KOHLBECHER V. FOTOS: LAIF wo der Wattschlick Zugvögel und Touris- politik in Kiel. Krabbenfischer Sörns ten anzieht und wo Schafe auf „Allergrößter Quatsch“ Deichen grasen, war immerhin einst Festland: Vor allem die ka- haben rund 80000 Besucher die Aquarien tastrophalen Sturmfluten von und Multimedia-Simulationen des Watten- 1362 und 1634 hatten ganze meers bestaunt. Draußen hinterm Deich Landstriche mit sich gerissen. sollen Wattführer den Touristen das Ge- „Die Leute hier sind stolz auf heimnis von Ebbe und Flut erklären. ihre Deiche, das versteht kaum Krabbenfischer wie Jürgen Sörns haben einer“, beschreibt Muschelfi- davon allerdings erst mal wenig: „Nur scher Paul Wagner, 57, aus Wyk wenn Volker Rühe einhält, was er verspro- auf Föhr den ständigen Überle- chen hat, können wir bis zur Rente fi- schen“, sagt er und hofft auf die Wahl – wenn auch ein bisschen zaghaft. Schließlich * Oben: Ende August im Nord-Ostsee- Kanal auf dem Weg nach Kiel; unten: beim ist Rühe ja kein Einheimischer, zudem Abkochen von Krabben. Fischer Rogalli*: Furcht um die Existenz „eben auch nur Politiker“. Florian Gless

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Werbeseite linquent mit vier Wochen Jugendarrest noch gut bedient – die Mindeststrafe bei ei- ner solchen „Unverschämtheit“, wie Rich- terin Maria Biesel den schweigenden Tür- ken in der Urteilsbegründung wissen ließ. „Zustände wie in Wildwest“ beklagt mittlerweile Reinhold Wolfinger, stellver- tretender Rechtswart im hessischen Fuß- ballkreis Friedberg, eine „massive Zunah- me der Gewalt“ der Duisburger Spruch- kammer-Vorsitzende Gerd Cotta. Sein Bochumer Kollege Achim Rendelsmann verhandelt pro Saison inzwischen 20 Spielabbrüche – „früher waren es zwei oder drei“. Und Berlins oberster Fußball- jurist Franz-Peter Mertens notierte in der vergangenen Spielzeit sogar 92 Partien, die es nicht bis in die 90. Minute schafften – 9 mehr als 1997/98. Ob in Städten mit 20

J. GÜNTHER J. Prozent Arbeitslosigkeit oder in Dörfern Auseinandersetzung in der Kreisliga*: „Klar, dass die Jungs sich wehren“ mit Heile-Welt-Struktur, landauf landab wird am Wochenende geprügelt, als gehe es am Ball ums nackte Überleben: GEWALTTÄTER π Da legte etwa der Torwart des Voerder Kreisligisten Yesilyurt Möllen den Schiedsrichter beim Stand von 1:7 mit „Zustände wie in Wildwest“ der Faust flach, bohrte ihm anschließend wuchtig die Fußspitze in den Unterleib Auf den Fußballplätzen der Amateurligen und beeindruckte später vor Cottas Spruchkammer mit anatomischer Fein- nehmen Pöbeleien und Prügeleien rapide zu, gliederung: Er habe dem Pfeifenmann immer mehr Spiele enden vor Gericht. keineswegs in den Unterleib, sondern nur in den Bauch getreten. enn sein Gedächtnis nicht trügt – länderquote. Nach einer noch unveröffent- π In der Superaltliga Bochum für gereifte wofür so ein Kurzkoma schon mal lichten Studie der Universität Paderborn, Herren ab 50 drosch ein Frührentner von Wsorgen kann –, dann lief gerade die Sport-Urteile in Duisburg, Münster und Rot-Weiß Stiepel seinem Gegenspieler die 62. Spielminute, als es dem Schiedsrich- Wuppertal ausgewertet hat, machen die den Fußballschuh so stramm ins Gesicht, ter Karl-Heinz Mundinger zuerst die Spra- Ausländerteams in den dortigen Kreisligen dass sein Opfer mit einem Jochbein- che, dann die Trillerpfeife verschlug. nur 10 bis 30 Prozent aus. Ihr Anteil an Trümmerbruch wochenlang im Kran- „Du Schwein“, pöbelte ihn Kreisliga- Spruchkammer-Verfahren erreicht dagegen kenhaus lag. Kicker Nihat S. vom Türkischen Sportver- 40 bis 70 Prozent. Für die Paderborner π Ebenfalls in Bochum wunderte sich der ein Waldkirch an. Und während ein ande- Sportwissenschaftler Marie-Luise Klein und Spruchkammer-Vorsitzende Rendels- rer TSV-Spieler dem Schiri noch sein Wort Jürgen Kothy steht fest: Auch wenn die mann eines Tages, warum die Zeugen für drauf gab, dass er ihn erst beim Abpfiff in meisten Begegnungen immer noch fried- einen Spielabbruch gegen den FC Koso- 28 Minuten „totmachen“ werde, beschloss lich enden, hat die Zahl und Schärfe der va II die Verhandlung schwänzten. Kein der Sportkamerad S., die geplante Rest- „interethnischen Konflikte im Fußball be- Wunder, wie sich herausstellte – die Zeu- laufzeit des Referees sofort auf Null zu unruhigend“ zugenommen. Das Klima bei gen hatten vorher Anrufe bekommen: Re- verkürzen. „Plötzlich bekam ich einen den Amateuren sei dadurch „stark belas- den ist Sterben, Schweigen ist Gold. Schlag ans Kinn, dann war Nacht“, erin- tet“, und das nicht nur in den Metropolen, Beim Deutschen Fußball-Bund gibt es nerte sich Mundinger in der Spielverlän- sondern auch auf dem Land. Als Ursachen trotzdem keine Strategie gegen die Gewalt gerung – die fand jetzt vor dem Waldkir- orteten die Sozialforscher – dort verweist man auf die cher Amtsgericht statt. „Männlichkeitsrituale“, die Zuständigkeit der Regio- Wie in der südbadischen Kleinstadt en- in Verbindung mit „Ge- nal- und Landesverbände den inzwischen immer mehr Fußballspie- fühlen nationaler Selbstbe- für die Amateurklassen. So le aus den unteren Amateurklassen im Ge- hauptung“ geradezu „ex- doktert jede Fußball-Pro- richtssaal. Was vor zweieinhalb Jahren plosiv“ wirkten. vinz auf ihre Art an den noch als Spezialproblem des Multikulti- In Waldkirch kam der Problemen herum. Der Schmelztiegels Berlin Schlagzeilen mach- Mann in Schwarz noch Verband Mittelrhein in te (SPIEGEL 11/1997), hat sich zu einem glimpflich davon: „Wenn Köln etwa versucht es mit bundesweiten Hauen und Stechen ausge- der mich an der Schläfe einer Postkartenaktion wachsen. Kein Wochenende, an dem nicht trifft, bin ich tot“, ahnt „Der Gewalt die Rote Kar- irgendwo in der Republik Partien abge- Karl-Heinz Mundinger. So te“ und einer „Hennefer brochen werden, in denen es statt um Kön- blieb es bei zehn Tagen Erklärung“. Die Unter- nen und Kraft um Kopf und Kragen geht. Breikost, weil sein Mund zeichner verpflichten sich Auffällig oft mit im Clinch: Ausländer- nach dem Bruch des linken damit, Rasenrüpeln im Be- vereine oder deutsche Clubs mit hoher Aus- Kiefergelenkfortsatzes ver- darfsfall ihre Missbilligung drahtet werden musste. kundzutun.

* Bei der Partie VfR Bockenheim – Sportfreunde 04 Unbelastet von jeder Reue, / ZEITENSPIEGEL BARTH T. In Berlin fuhr der Ver- Frankfurt am vergangenen Sonntag. war der 20 Jahre alte De- Prügel-Opfer Mundinger band in der vergangenen

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Woche für ein „Anti-Gewalt-Hearing“ Pro- Polizei mit zwei Mannschaftswagen zu ei- minenz von Hertha, Tennis Borussia und ner Massenschlägerei anrücken musste. Senatsmannschaft auf. In den Fußballbe- „Die Vereine sind froh um jeden Trainer, zirken der Hauptstadt sollen künftig eine den sie bekommen“, beschreibt der hessi- Plakataktion und Sozialarbeiter den sche Oberliga-Spieler und Jugendtrainer Sportsgeist vor brachialen Ballermännern Boris Zielinski das Dilemma, „da kann retten.Von Strafen allein erwartet man sich man sich nicht noch den Luxus der Aus- dagegen keine Besserung, seit 1998 nicht wahl leisten.“ mal der Ausschluss der berüchtigtsten Tre- Der Sportfreunde-Vorsitzende Erhard tertruppe FC Jugoslavija abschreckende Heeg, der den Ausländeranteil in sei- Wirkung hatte. nem Verein aus dem Frankfurter Gallus- viertel auf 75 Prozent schätzt, hält die Hand über Team und Trainer. „Die Zuschauer hatten uns damals als Kanaken und Ausländerschweine be- schimpft, da ist klar, dass die Jungs sich wehren.“ Zwar beobachtet auch Heeg, dass seit Balkankrieg und Kurdenkonflikt mehr Aggressivität im Spiel ist; bei neun von zehn Gewalt- Exzessen, glaubt der Ober- Sportfreund, komme der Auslöser aber von der

FOTOS: C. DITSCH / VERSION FOTOS: Außenlinie. Vorgestellte Plakataktion „Seid fair zueinander“ „Nazi-Schwein“ oder „Bimbo“: Egal wer zuerst Hass zwischen Ausländern und Deutschen sät – sobald die Nationalität auf dem Platz zu Schimpf und Schande wird, „werden die üblichen Stufen der Eskala- tionstreppe mit einem Satz übersprungen“, berichtet die Sportwissenschaftlerin Angelika Ribler von der Sportjugend Hessen. Ribler ist Projektleiterin für ein Modell der Sport- jugend des Hessischen Fuß- Innensenator Eckart Werthebach, Verbandspräsident Otto Höhne ballverbandes und des Lan- Berliner Anti-Gewalt-Hearing: Brachiale Ballermänner dessportbundes, das den Täter-Opfer-Ausgleich aus In anderen Verbänden sieht man die dem Jugendstrafrecht auf den Fußball Lage weniger dramatisch: Peter Cyran, Ge- übertragen will. Nach einem Jahr Vorbe- schäftsführer des Württembergischen Fuß- reitung hat vor zwei Wochen der erste von ballverbandes, will die 11 000 Sportge- zwölf eigens ausgebildeten „Mediatoren“ richtsfälle pro Saison an der Zahl von mit der praktischen Arbeit begonnen. „Wir 474000 Mitgliedern im Südwesten gemes- wollen das Gerappel auf den Sportplätzen sen wissen – dieses Verhältnis findet er in den Griff kriegen“, sagt Ribler; nach noch nicht „Furcht erregend“. Doch Hand- Ausschreitungen sollen die Schlichter greiflichkeiten, gibt Cyran zu, nähmen rechtzeitig zum Rückspiel die Gegner aus- auch in seinen Stadien zu; der Fußball sei söhnen. eben ein Spiegelbild der Gesellschaft. Der Wille ist löblich, doch der Glaube Selbst in den Jugendklassen kann Ger- fehlt anderenorts schon lange. Was haben hard Müller, Vorsitzender des Schieds- sie in Bochum nicht alles versucht – Sit- richterausschusses in Berlin, keine ge- zungen mit allen ausländischen Vereinen, pflegteren Sitten mehr ausmachen. Im und sogar den Ausländerbeauftragten ha- hessischen Hanau musste bereits ein ben sie eingeschaltet. Und was hat es ge- F-Jugendspiel für Knirpse bis zu acht Jah- nutzt? Auf die Frage, was man noch ma- ren nach einem wilden Handgemenge chen kann, fällt dem Spruchkammer-Vor- abgepfiffen werden. sitzenden Rendelsmann nur ein, dass ihm Der A-Jugend-Trainer der Sportfreunde dazu nichts mehr einfällt. Bis ihm endlich 04 Frankfurt verließ vor drei Jahren sogar doch noch ein Wort über die Lippen in Handschellen den Platz, nachdem die kommt: „Ohnmacht“. Jürgen Dahlkamp

der spiegel 44/1999 75 Werbeseite

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SCHMIERGELDER Rückkehr zur Ehrlichkeit? Mit einem neuen Abkommen, das Bestechung im Ausland unter Strafe stellt, haben die Industrieländer einen globalen Feldzug gegen die Korruption begonnen. In deutschen Konzernzentralen herrscht Alarmstimmung. AFP / DPA Staudamm in Lesotho: Zwei Millionen Dollar für den Projektleiter

gierung seit Monaten für einen fegt wird“. Pieth: „Da hat ein weltweiter Feldzug mobilisiert, der die inter- Umdenkungsprozess begonnen.“ nationale Geschäftswelt irritiert: Vor allem deutsche Manager, aber auch Die Aufdeckung und Verfolgung Ermittler und Finanzbeamte werden ganz von grenzüberschreitender Kor- gewaltig umdenken müssen. Jahrzehnte- ruption soll zur Waffe im globalen lang haben die Deutschen ordentlich mit- Wettbewerb werden. geschmiert und zugleich mit einer Mi- Von der Öffentlichkeit bislang schung aus Mitleid und Hochmut auf die kaum wahrgenommen, haben sich korrupten Staaten geschaut. seit dem 15. Februar dieses Jahres „Man muss sehen, dass es Weltgegen- im internationalen Geschäftsver- den gibt, in denen es zum normalen Usus

C. STACHE kehr die Spielregeln grundlegend gehört, dass Geschenke verteilt und Zu- Airbus-Produktion*: Zocken um große Aufträge verändert. An dem Tag trat eine wendungen gemacht werden. Sie bekom- Konvention in Kraft, mit der sich men dort keinen Auftrag, wenn Sie sich ie Aufforderung zur Denunziation die Mitgliedstaaten der OECD, des Clubs nicht an diese Gepflogenheiten halten“, ist unmissverständlich. „Wenn Sie der Wohlstandsnationen, verpflichtet ha- rechtfertigte etwa Arnold Willemsen vom Deine Beschwerde über Bestechung ben, künftig die Bestechung von Amtsträ- Bundesverband der Deutschen Industrie im Ausland haben, lassen Sie es uns wis- gern und vom Staat beauftragter Privatfir- (BDI) die Praxis. Ohne Schmiergelder sen“, lockt die Website des US-Wirt- men nicht mehr nur zu Hause, sondern „läuft in vielen Ländern keine Zollab- schaftsministeriums und verweist auf das auch im Ausland mit harten Strafen zu be- wicklung, keine Planungsgenehmigung und „einfach zu handhabende“ elektronische legen. Auch dürfen Schmiergelder steuer- keine Visa-Erteilung“, assistierte der Ver- Formular, das sofort per Mausklick ver- lich nicht mehr als Betriebskosten aner- treter des Deutschen Industrie- und Han- fügbar ist. Die Experten der jüngst einge- kannt werden. delstages, Jürgen Möllering. richteten „Bestechungs-Hotline“, so versi- „Dieses Abkommen“, so preist der Bas- Darum hatte die Kohl-Regierung jahre- chert die amerikanische Behörde, „wer- ler Rechtsprofessor und Leiter der zustän- lang die Forderung abgelehnt, wenigstens den baldigst und angemessen reagieren“. digen OECD-Projektgruppe, Mark Pieth, die steuerliche Absetzbarkeit der so ge- Das ungewöhnliche Internet-Angebot ist „ist der ganze große Durchbruch.“ Wer nannten nützlichen Aufwendungen, Steu- Teil einer Kampagne, mit der die US-Re- künftig im internationalen Geschäft noch er-Chiffre für Bestechung, abzuschaffen. besteche, „riskiert, dass er mit der An- Ein „steuerliches Abzugsverbot“, mahnte * In Hamburg-Finkenwerder. wendung des neuen Rechts vom Markt ge- das Wirtschaftsministerium, würde „deut-

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di-Arabien im Jahr 1991. Noch bevor der Vertrag über das dreistellige Millionen- Mark-Geschäft überhaupt unterschrieben war, trafen sich Thyssen-Manager mit Vertretern des Finanzamts Duisburg-Hamborn. Die „Erteilung der Aufträ- ge“ müsse „gegen starken in- ternationalen Wettbewerb“ durchgesetzt werden, ver- merkt das Protokoll. Dies setze „nicht unbeträcht- liche Provisionszahlungen“ voraus: „Rund 40 Prozent der Gesamtauftragssumme“ müssten an „mehrere Fir- men und Personen“ verteilt

AFP / DPA werden. Das war auch Unterzeichnung des OECD-Abkommens gegen Korruption*: „Wer jetzt besticht, wird vom Markt gefegt“ Schreibers Aufgabe. Die Her- ren vom Finanzamt hatten sche Unternehmen bis hin zur Gefährdung Deutschen Finanzbehörden ist das keine Einwände – schließlich waren die von Arbeitsplätzen benachteiligen“. Zocken mit großem Geld um große Auf- „Empfänger keine im Inland steuerpflichti- Wenig überraschend war daher die Stel- träge durchaus geläufig. So auch im Fall des gen natürlichen oder juristischen Personen“. lung, welche die Anti-Korruptions-Orga- von Schreiber vermittelten Verkaufs von Die Schreiber-Affäre belegt auch, wie naiv nisation Transparency International (TI) 36 Panzern von Thyssen Henschel an Sau- die Vorstellung war, trotz schmutziger Ge- in ihrem neuesten Bericht Deutschland auf schäfte in Übersee bleibe die Heimat sauber. dem globalen Korruptionsmarkt zuwies. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass Per Umfrage bei Wirtschaftsführern und Hitliste der Korruption Strauß-Sohn Max Josef sowie Thyssen-Ma- Regierungsbeamten in den Schwellenlän- Nach einem von Transparency International nager an Schreibers Geschäften mitverdien- dern des Südens ließ TI ermitteln, wer am entwickelten Punktesystem von 0 (durchgängig ten. „Kick-back“ nennen Fahnder solche korrupte Geschäftspraktiken) bis 10 (korrekte häufigsten schmiert. Demnach rangiert Geschäftspraktiken) wurden Unternehmen aus Rückflüsse, deren Existenz in diesem Fall Deutschland in Europa gleich hinter 19 führenden Exportländern bewertet. alle Beschuldigten jedoch bestreiten. Frankreich, Spanien und Italien (siehe Die Durchschnittswerte: Heute würde Airbus- oder Thyssen-Obe- Grafik). ren wegen Auslandsbestechung wohl der Wie üblich üppige Provisionszahlungen PLATZ Prozess gemacht. Und Schreiber könnte für die Akquise von Auslandsaufträgen bei 1 China 3,1 Provisionen nicht mehr einklagen: Das der deutschen Industrie bislang waren, Oberlandesgericht Hamm entschied im zeigt der Fall Karlheinz Schreiber. Die Ar- 2 Südkorea 3,4 Juni, finanzielle Vereinbarungen mit beitsweise des Intimus des verstorbenen 3 Taiwan 3,5 Schmiergeldboten seien sittenwidrig. bayerischen Ministerpräsidenten Franz Jo- Dass die neuen Gesetze greifen, dafür sef Strauß, gegen den die Staatsanwalt- 4 Italien 3,7 dürfte schon der Zorn von Konkurrenzun- schaft Augsburg Haftbefehl erlassen hat, ternehmen sorgen, die sich durch korrup- 5 Malaysia 3,9 gilt als typisch. te Praktiken ihrer Wettbewerber benach- Zumeist machen sich die Industrie-Ma- 6 Japan 5,1 teiligt sehen. Denn das OECD-Abkommen nager nicht selbst die Finger schmutzig, verschafft allen beteiligten Staaten die sondern schalten Vermittler ein. Als sol- 7 Frankreich 5,2 Möglichkeit, mittels gezielter Hinweise in cher fädelte Schreiber nach Überzeugung 8 Spanien 5,3 den Heimatstaaten der belasteten Firmen der Augsburger Staatsanwälte unter ande- Ermittlungsverfahren zu erzwingen. rem Geschäfte für den Airbus- und den 9 Singapur 5,7 Dieser Mechanismus werde demnächst Thyssen-Konzern in Kanada, Saudi-Arabi- in vielen Staaten eine Welle von Verfahren en und Thailand ein. Zweistellige Millio- 10 Deutschland 6,2 auslösen, prophezeit OECD-Experte Pieth. nensummen sollen geflossen sein, um lu- 10 USA 6,2 Die US-Kampagne jedenfalls scheint er- krative Aufträge an Land zu ziehen. In folgreich zu laufen. „Wir haben inzwischen Thailand sahnte nach Erkenntnissen der 11 Belgien 6,8 über zahlreiche Fälle verwertbare Hinwei- Ermittler ein ehemaliger Sonderberater des se erhalten“, bestätigt Peter Clark, Vize- 12 Großbritannien 7,2 thailändischen Kabinetts ab, weil er beim Chef des Betrugsdezernats im US-Justiz- Kauf von 17 Airbus-Maschinen für die Luft- 13 Niederlande 7,4 ministerium. „In mehreren Staaten“ wer- waffe und die staatliche Fluggesellschaft de man demnächst um Ermittlungen und Thai Airways hilfreich war. 14 Schweiz 7,7 Rechtshilfe nachsuchen. Für den deutschen Fiskus waren solche 15 Österreich 7,8 Die neue Lage versetzt denn auch viele Praktiken bislang nie ein Problem. Die deutsche Spitzenmanager in Alarmstim- Schmiergelder wurden ja stets auf die Rech- 16 Kanada 8,1 mung. Auf Wirtschaftsrecht spezialisierte nungen geschlagen, so dass sich „im Inland Anwaltskanzleien verzeichnen einen Auf- keine Ergebnisminderung“ ergebe, befand 16 Australien 8,1 tragsboom. Oft quälen die Konzerne Sün- das Bundesamt für Finanzen noch 1994. 18 Schweden 8,3 den der Vergangenheit. Selbst für schon vor Jahren unterschrie- Quelle: Transparency International e.V., Berlin 1999 * Am 17. Dezember 1997 in Paris. bene Verträge werden jetzt noch Schmier-

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Werbeseite Deutschland gelder fällig. Noch ist völlig ungeklärt, ob Zürcher Bankriesen UBS. Von diesem Rieger, „wer verliert schon gern wegen in solchen Altfällen straflos weiter gezahlt Konto (Nummer: 942/7675) sollen rund Korruption einen Auftrag?“ werden darf, weil die „Unrechtsvereinba- 20 Millionen Franken an spanische Regie- Anders als früher hat sich denn auch der rung“ bereits vor Inkrafttreten des Ab- rungsbeamte geflossen sein. Noch schwe- BDI mittlerweile dem Konzept gegen die kommens getroffen wurde. Die Unterneh- rer wiegt, dass nach Perraudins Erkennt- Korruption verschrieben. Er sei da, so men fürchten Staatsanwälte, die aus jeder nissen der Gesamtumsatz auf dem Konto Hauptgeschäftsführer Ludolf-Georg von neuen Zahlung eine neue Tat konstruieren. über 600 Millionen Franken beträgt. Nach Wartenberg, „voll engagiert“. Gemeinsam Dieser Falle ist der Baukonzern Züblin Perraudins Meinung sei dort wohl die mit Franz, Rieger und weiteren zwölf In- vielleicht nur knapp entgangen. Das Stutt- „Kriegskasse“ des Konzerns geführt wor- dustrieführern hatte er 1997 einen Appell garter Unternehmen baut gemeinsam mit den, es handele sich um ein „Korrupti- für einen schnellen Abschluss des OECD- einem Dutzend weiterer Firmen im süd- onskonto“. Wofür das Geld verwendet Abkommens unterzeichnet. Der Druck der afrikanischen Bergstaat Lesotho eine Ket- wurde, darüber wahrt das Siemens-Ma- Industrie, gepaart mit der zunehmenden te von Staudämmen für die Wasserversor- nagement jedoch eisernes Schweigen, der Zahl von Korruptionsfällen im Inland, ließ gung von Johannesburg. Ende Juli wurde Konzern mag dazu keine Stellung neh- auch die Bundesregierung einschwenken. der staatliche Projektleiter angeklagt, bis men. Dass es zu dieser Wende kam, ist ganz 1998 rund zwei Millionen Dollar Schmier- Das ist riskant. Denn die Führung wesentlich das Verdienst einer Organisa- geld kassiert zu haben, großenteils über schwarzer Kassen kann auch jenseits des tion, die inzwischen weltweiten Ruhm er- Schweizer Konten. Dabei sollen 819 862 Strafrechts teuer werden – am Kapital- langt hat: Transparency International. De- Mark von Züblin überwiesen worden sein. markt. Das erfuhr zuletzt der italienische ren Vorsitzender Peter Eigen, früher Welt- Züblin-Chef Manfred Nußbaumer de- Mischkonzern Montedison.Vor drei Jahren bankdirektor für Ostafrika, hatte TI 1993 mentiert. Weil in diesem gegründet, weil er nicht län- Jahr kein Schmiergeld mehr ger mit ansehen wollte, wie floss, von wem auch im- der wirtschaftliche Fort- mer, braucht er die Nach- schritt der Entwicklungslän- frage deutscher Staatsanwäl- der im Korruptionssumpf te diesmal noch nicht zu versackte. fürchten. Mittlerweile ist TI eine Die Finanzämter sind für einflussreiche Lobby mit Fi- künftige Fälle jedoch ange- lialen in 77 Ländern. In wiesen, vor allem nach über- Deutschland zählen neben höhten Provisionszahlungen Siemens inzwischen auch zu fahnden, in denen sich ABB, Bosch, der Bauriese Schmiergelder verstecken Philipp Holzmann und die können. „Für die deutsche Lufthansa zu den Förderern. Industrie wird es jetzt sehr Zumindest in der Theorie ist ernst“, sagt der SPD-Bun- die Wirtschaft auf Linie. destagsabgeordnete Frank Ob das auf Dauer funk- Hofmann, ein ehemaliger tioniert, mahnt TI-Chef Ei- Kriminaloberrat aus dem gen, „darüber entscheidet

Bundeskriminalamt. „Die ARIS die Geschäftspraxis der in- müssen zurück zum System Anti-Korruptionsstreiter Eigen: „Das Risiko wird untragbar“ ternational tätigen Unter- des ehrlichen Kaufmanns.“ nehmen“. Um diesen den Das ist aber gar nicht so einfach. Beim wurde bekannt, dass die Firma 270 Millio- Umstieg zu erleichtern, wollen TI-Grup- Weltkonzern Siemens etwa gehen im nen Dollar Bestechungsgelder abgezweigt pen demnächst versuchen, Großprojekte Schnitt pro Arbeitstag Aufträge im Wert haben soll, die in den Konzernbilanzen als in aller Welt mit einem „Integritätspakt“ von einer halben Milliarde Mark ein. „Die Kredite verzeichnet waren. Daraufhin korruptionsfest zu machen. Dabei sollen Umstände der Auftragsvergabe können wir eröffnete die US-Börsenaufsicht ein bis die konkurrierenden Firmen vorab einen gar nicht zentral kontrollieren, das müs- heute anhängiges Verfahren wegen Be- zivilrechtlichen Vertrag schließen, der je- sen wir an Mitarbeiter vor Ort delegieren“, trugs- und Bilanzfälschungsverdachts. Der des Unternehmen schadenersatzpflichtig sagt Bernd Stecher, Leiter der Zentralab- Kurs der in New York notierten Montedi- macht, das irregulärer Praktiken überführt teilung für Auslandsbeziehungen in der son-Werte brach ein. wird. „Das Risiko, erwischt zu werden, Münchner Konzernzentrale. Trotz der Risiken verbinden viele Indu- wird damit untragbar“, glaubt TI-Fach- Zu diesem Zweck hat Siemens „Verhal- strielle die neuen Anti-Korruptionsregeln mann Michael Wiehen, „das schafft Si- tensgrundsätze“ zum Bestandteil der Ar- aber auch mit großen Hoffnungen. „Wir cherheit.“ Beim Bau einer international beitsverträge gemacht. „Kein Mitarbeiter sind froh, dass die Konvention endlich in ausgeschriebenen U-Bahn-Linie in Buenos darf sich oder Dritten unberechtigt Vortei- Kraft ist“, meint Hermann Franz, Ex-Auf- Aires soll das Modell jetzt erstmals voll- le verschaffen oder anderen gewähren“, sichtsratschef von Siemens und graue Emi- ständig umgesetzt werden. heißt es da. Die über 5000 leitenden An- nenz des Konzerns. „Nun haben wir die Eigentlich sollte der Testfall schon ver- gestellten mussten zudem ein „Revers“ un- Chance, dass in vielen Ländern gleichzei- gangenes Jahr in Deutschland stattfinden: terschreiben, wonach ihnen bei Anwen- tig gegen Korruption vorgegangen wird“, TI wollte den Bau des neuen Großflugha- dung korrupter Praktiken Haftungspflicht ergänzt Chefstratege Stecher. fens in Berlin-Schönefeld nach dem glei- und Kündigung drohen. „Jetzt wächst endlich der Mut, nein zu chen Muster absichern. Die Landesregie- Das war wohl nicht immer so: Im sagen, wenn Schmiergeld gefordert wird“, rungen von Berlin und Brandenburg lehn- Zusammenhang mit dem Korruptions- hofft auch Harald Rieger, Vorstandsmit- ten empört ab – so etwas sei „nicht nötig“. skandal um die mit Siemens-Technik er- glied beim Frankfurter MG-Konzern, des- Das war ein Irrtum. Das Ausschrei- richtete spanische Expresszugstrecke Ma- sen Tochtergesellschaft Lurgi beim Bau von bungsverfahren droht wegen zahlreicher drid–Sevilla stieß der Genfer Untersu- Raffinerien oder Stahlwerken weltweit um Dirty Tricks zu platzen, die Staatsanwalt- chungsrichter Paul Perraudin auf ein ge- Milliardenaufträge ringt. „Die Unterneh- schaft ermittelt. tarntes Nummernkonto von Siemens beim men waren ja selbst die Leidtragenden“, so Georg Mascolo, Harald Schumann

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Werbeseite Deutschland FOTOS: ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN FOTOS: Berliner Wildschweine (in Wannsee): „Ich befinde mich nicht in Afrika, wo ich mit wilden Tieren leben muss“

dafür, dass ein „Mobiles Einsatzkomman- Berlin-Mitte. Bei ihm suchen Opfer nächt- TIERE do“ der Polizei, eine „schnelle Eingreif- licher Randalen Hilfe. truppe“ mit „Jagdscheinen und Geweh- Auch die Polizei nimmt fast täglich Be- Galopp ren“, in der Stadt Streife geht und das schwerden über vagabundierende Sauban- Borstenvieh zur Strecke bringt. den entgegen. Denn nach einem Besuch Ein Überangebot an Eicheln hatte ver- der bis zu 1,80 Meter langen und 200 Kilo- in die Rabatten gangenes Jahr zu einer Geburtenexplosion gramm schweren Schweine sehen Obst- bei den Sauen geführt. Der extrem heiße gärten, Kleingartenkolonien und Kom- Futtermangel im Wald treibt Berliner Sommer dieses Jahres trocknete posthaufen wie Kriegsschauplätze aus. jedoch den Wald aus und trieb die Keiler Dahin ist dann nicht nur der ideelle Wert Wildschweine in und Bachen mitsamt Anhang, Frischlinge des liebevoll gehegten Gartens. Nach Pa- Rotten nach Berlin. Sie ver- genannt, massenhaft in die Stadt. ragraf 37 des Landesjagdgesetzes gibt es wüsten Gärten, Beliebtestes Ziel in Berlin sind die wald- nach einer Schweineinvasion auch keinen Fußballplätze und Friedhöfe. nahen Villengebiete mit aufwendigen Gar- Schadensersatz. tenanlagen zwischen Grunewald und Wann- Lediglich wenn wie kürzlich in Wannsee ie Stadt, in der die Menschen woh- see. Nirgendwo sonst finden die Allesfresser und Spandau Schweine in Villen-Pools er- nen, ist dem Gesetz nach „befrie- ein so delikates Nahrungsangebot. trinken, birgt die Feuerwehr kostenlos die Ddetes Gebiet“, hier „ruht die Jagd“. Im Schweinsgalopp geht es bevorzugt Kadaver. Das ist dann, so steht es im Ge- Niemand weiß das besser als die Wild- nachts in die Rabatten, wo sich die Tiere, setz, „höhere Gewalt“. schweine von Berlin. Auf der Suche nach Engerlingen, In Horden, fachkundig Rotten genannt, Mäusen und Würmern in der Erde fallen die schwarzen Borstentiere derzeit in schändete ein Trupp Schwarz- die Hauptstadt ein. Denn dort, das haben kittel jüngst gar rund 200 Gräber die hoch begabten Paarhufer offenbar auf dem Onkel-Tom-Friedhof in schnell gemerkt, lebt sich’s wie im Paradies. Zehlendorf. Ein andermal tobten Der Jäger, seit dem Aussterben des deut- die Schweine über den Übungs- schen Wolfs einziger natürlicher Feind des platz des Fußball-Zweitligisten „Sus scrofa“, darf ihm hier nur mit Aus- Tennis Borussia am Olympia- nahmegenehmigung auf die Schwarte stadion. rücken. Auch Polizisten ist lediglich im Kurz darauf trat die Borsten- Notfall, „bei Gefahr in Verzug“, gestattet, Korona bei der Bundesliga an und auf die Borstentiere anzulegen.Von Rechts durchpflügte das Trainingsfeld von wegen gelten Wildschweine in der Stadt Hertha BSC.

als „herrenlos“. Sie haben freie Bahn – WINKLER / BERLINER KURIER U. Wie kaum eine andere Spezies und wissen das zu nutzen. Hertha-BSC-Übungsplatz: Randalierende Saubanden gehören Wildsauen zu den Wen- „Eine Spur der Verwüstung“ hätten die degewinnern. Zu Mauerzeiten gab Tiere durch seinen Bezirk gezogen, zürnt vor Vergnügen grunzend, mit Blumen- es auch für Ostschweine kein Durchkom- der CDU-Bürgermeister von Zehlendorf, zwiebeln, Schnecken und Gemüsen voll men in den goldenen Westen. Klaus Eichstädt, 59, und spricht von einer fressen. Zäune sind kein Hindernis, auch Heute überqueren die exzellenten „Zuständigkeitslücke“, die geschlossen geschlossene Behälter vermögen die Sau- Schwimmer mitunter in Kohorten von werden müsse. en zu knacken. Brandenburg aus die Havel, stoppen kurz Eichstädt, sonst ein besonnener Mann, „Berlins beliebteste Mülltonnen, gefüllt für ein Picknick im Park der Sommerresi- ist mit seiner Geduld am Ende und hat mit Bioabfällen aus Küche und Garten, ste- denz Friedrich Wilhelms III. auf der ehe- jetzt zu „Mord und Totschlag“ („Frank- hen in Heiligensee“, ermittelte Förster Hu- mals West-Berliner Pfaueninsel, 1821 an- furter Allgemeine“) aufgerufen. Er kämpft bert Wehner, 29, von der Jagdbehörde in gelegt von Peter Joseph Lenné („Betreten

84 der spiegel 44/1999 der Rasenflächen verboten!“), um dann gestärkt zum Sturm auf Berlin anzutreten. Manche Eltern, die der Idylle wegen an den Stadtrand zogen, lassen heute ihre Kin- der nicht mehr allein auf den Spielplatz ziehen. Berufstätige wagen sich morgens nicht ins Auto, weil es von grunzenden Wildschweinen umzingelt ist. Hundebesitzer wie die Wannseerin Eva Abel, 62, fürchten um das Leben ihrer Getreuen. Als Abels Schäferhund „Ba- ron“ sein Frauchen tapfer vor der Verfol- gung durch eine Wildsau schützen wollte, wurde er von einem bulligen Keiler auf- gespießt, durch die Luft geschleudert und schwer am Hinterlauf verletzt. Not- operation. „Ich befinde mich nicht in Afrika, wo ich mit wilden Tieren leben muss“, fordert die Tierärztin Martina Rauch-Ernst, 38, aus Heiligensee den Senat in einem Schreiben „eindringlich“ zum Handeln auf. Normalerweise ist das Schwarzwild mit dem großen Kopf und den kurzen Beinen menschenscheu und durch Lärm leicht zu vertreiben. Doch gibt es immer weniger echte Wildschweine. Viele der Sauen sind bereits in der Stadt geboren und folgen statt dem Rhythmus der Natur der Pausenglocke der Berliner Schulen. Dort lagern sie, ganz auf die Fünf- Tage-Woche eingerichtet, von montags bis freitags und betteln bei den Kindern um Fütterung, beobachtete der Berliner Forst- amtsleiter Roland Grund. Wie an ein Gru- newalder Pausenbrot zu kommen ist und sich andere Nahrungsquellen erschließen lassen, wird dann in den Schweinefamilien von Generation zu Generation weiter- gegeben, fand der Gießener Wildbiologe Karl Kugelschafter heraus. Fast blind, aber mit einem hervorragen- den Geruchssinn ausgestattet, unterschei- den die Tiere instinktsicher Freund und Feind. Während der unbewaffnete Vorort- bewohner sofort als harmlos ausgemacht wird, mag er lärmen, pfeifen, schreien, könnten Schweine den todbringenden Jä- ger „am Schritt“ erkennen, behauptet CDU-Mann Eichstädt. So erobern die cleveren Wildsauen im- mer weitere Teile der Stadt. Eine Rotte residiert inzwischen permanent in der so genannten Fließwiese im urbanen Char- lottenburg. Eine andere flaniert tagsüber öfter durchs Haupttor des Spandauer Friedhofs „In den Kisseln“, um dort Blu- mengebinde zu speisen. Obwohl offenkundig eine Plage mit großer Zerstörungskraft, haben auch die Schweine eine Lobby. In Zehlendorf wer- den die Tiere – trotz Androhung eines Buß- geldes von bis zu 10000 Mark – gern von alten Damen gefüttert. Und unlängst bil- dete sich gar eine Menschenkette, um ei- ner Rotte, die exekutiert werden sollte, das Leben zu retten. Als der Förster zur Tat schreiten wollte, war keine Sau mehr da. Susanne Koelbl

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Tausende von Patienten ha- GESUNDHEIT ben sich in den achtziger Jah- ren durch Spenderblut oder Beerdigung Blutkonserven verschiedener Hersteller mit den todbrin- genden Hepatitis-C-Viren an- inklusive gesteckt. Die meisten ergaben sich still ihrem Schicksal. Eine Patientin, durch Doch seit bekannt geworden ist, dass die Industrie mögli- Blutpräparate mit Hepatitis C cherweise fahrlässig verseuch- infiziert, verklagt die Firma te Blutprodukte in Verkehr ge- Hoechst. Die Branche fürchtet bracht hat (SPIEGEL 33/1999), eine Prozesslawine. begehren viele Opfer auf. Immer mehr Infizierte wol- ür gewöhnlich reagieren Unterneh- len gegen die Firmen klagen. men unnachgiebig, wenn sie durch Die Blutbranche fürchtet des- Fein mangelhaftes Produkt ihres Hau- halb eine Prozessflut. Am ses öffentlich ins Gerede kommen – be- Ende könnte sie mit Forde- sonders dann, wenn Leib und Leben der rungen auf Schadenersatz und Konsumenten bedroht sind. Schmerzensgeld in dreistelli- So war es auch bei Hoechst: Der Frank- ger Millionenhöhe konfron- furter Pharma-Riese antwortete zunächst tiert werden. reflexartig, als ihm eine junge Frau vor Der Prozess, der zur Zeit

zwei Jahren vorwarf, verseuchtes Blut ver- vor der 22. Zivilkammer des PRESS SIPA kauft zu haben; weil sie an Hepatitis C er- Landgerichts Frankfurt läuft, Gefrorene Blutkonserve, Hoechst-Zentrale in Frankfurt: krankt ist, forderte die Patientin 200 000 hat Pilotfunktion. Die heute Mark Schmerzensgeld. Umgehend konter- 30-jährige Hessin leidet an dem so ge- Die Haftpflichtversicherung der Beh- te der Chemiemulti, jeder Anspruch ent- nannten Willebrand-Jürgens-Syndrom: Bei ringwerke zahlte der jungen Frau in einem falle, weil das Risiko einer Infizierung nicht akuten Verletzungen treten als Folge dieser außergerichtlichen Vergleich 75000 Mark, vermeidbar gewesen sei. Gerinnungsstörung unstillbare Blutungen Beerdingungskosten inklusive. Dieser Deal Inzwischen liegt eine Klage der Frau auf, sie braucht dann Gerinnungspräparate. folgte zentral geführten Verhandlungen der bei Gericht, und die Rechtsvertreter von Im Sommer 1984 stürzte das damals 15- Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG): Hoechst sind unerwartet zurückhaltend ge- jährige Mädchen im Schwimmbad. Es erlitt Alle HIV-infizierten Bluter in Deutschland worden. Ein ums andere Mal halten sie einen Bluterguss am Hintern. Bei der Be- wurden Ende der achtziger Jahre auf die- vom Richter gesetzte Fristen nicht ein und handlung in der Universitätsklinik erhielt se Weise abgefunden. riskieren somit, dass ihre Argumente vom die Verletzte in den folgenden Tagen Plas- Doch die Heranwachsende litt zuse- Gericht wegen Verspätung nicht berück- makonzentrate der Behringwerke, einer hends darunter, dass sie sich bei der Blut- sichtigt werden. damaligen Hoechst-Tochter. transfusion nicht nur mit HIV, sondern Für diese Nachlässigkeit könne es eine Schon einige Tage danach stiegen die auch noch mit Hepatitis C infiziert hatte. Erklärung geben, meint Christoph Kremer, Leberwerte des Teenagers dramatisch an, Wegen ihrer angegriffenen Leber konnte der Frankfurter Anwalt der infizierten das Mädchen musste wieder ins Kranken- sie einige Medikamente, die der Aids-Pro- Frau: „Die fürchten ein Urteil, das meiner haus. Die Ärzte stellten fest, dass sie sich phylaxe dienen, nicht einnehmen. Die Ab- Mandantin in der Sache Recht gibt.“ mit HIV und Hepatitis C infiziert hatte. iturientin schloss zwar die Schule mit dem zung reichte die Firma einen Schriftsatz logen haben“, schimpft Egon Stachel aus ein. Richter Stefan Ostermann rügte die Baunatal-Rengershausen, der sich 1980 bei Versäumnisse und meinte, der Prozess kön- einer Nierenstein-Operation infiziert hat. ne für Hoechst allein aus diesem Grunde Der CSU-Bundestagsabgeordnete Gerhard verloren gehen. Scheu fand bei Recherchen für seine juris- Der Anwalt der klagenden Frau vermu- tische Doktorarbeit heraus, dass der Wis- tet Strategie hinter der Bummelei: Verliert senschaftliche Beirat der Bundesärzte- Hoechst nun in Frankfurt, müsste der Kon- kammer bereits im November 1976 einen zern nur an die kranke Hessin zahlen.Wür- so genannten ALT-Test als Standard bei de das Unternehmen hingegen ein regulä- Gerinnungspräparaten verbindlich vorge- res Urteil kassieren, könnten sich andere schrieben hatte. Mit diesem Verfahren hät- Hepatitis-Infizierte darauf berufen. te sich schon vor mehr als 20 Jahren fest- Weil es sich um ein laufendes Verfahren stellen lassen, ob ein Blutspender an den handele, wollte Hoechst gegenüber dem Symptomen einer leberschädigenden SPIEGEL keine Stellung zu dem Fall ab- Krankheit leide; die Gefahr, gesammeltes geben. Hoechst-Sprecher Carsten Tilger: Blut mit Viren zu kontaminieren, hätte auf „Wir weisen jedoch die Vermutung, eine diese Weise wesentlich vermindert werden Prozessverzögerung anzustreben, ent- können. Die Plasmahersteller kritisieren schieden von uns.“ indes bis heute die „große Ungenauigkeit Müsste die Firma in Frankfurt ein Prä- der ALT-Testung“, sie hätten damit „keinen zedenzurteil hinnehmen, dürfte es für die Sicherheitsgewinn“ erreichen können. Branche teuer werden. Zwischen 200000 Seit Scheus Ergebnisse bekannt gewor- und 400000 Träger des Hepatitis-C-Virus den sind, fordert die DHG von der Phar- gibt es in Deutschland. Die genaue Zahl maindustrie vehement Entschädigungen

DPA kennt niemand, da viele nichts von ihrer für die rund 3000 infizierten Bluter – bis- Bummelei mit System? Infektion wissen. Die Krankheit bricht bis- her vergeblich. Der Hamburger Anwalt weilen erst 10 bis 20 Jahre nach der Virus- Jürgen Schacht bereitet deshalb Muster- besten Noten-Durchschnitt ihres Jahrgangs Infektion aus.Viele Opfer haben sich durch klagen gegen Unternehmen wie die Le- ab, aber auf die Uni wollte sie nicht mehr Bluttransfusionen oder Blutprodukte an- verkusener Bayer AG vor. – zu kurz erschien ihre Lebenserwartung. gesteckt. Schacht prüft zudem, ob er in geeigne- Irgendwann aber fasste die junge Frau Die „Arbeitsgemeinschaft Plasmaderi- ten Fällen die Klage mit Hilfe von US- wieder Lebensmut – und verklagte im Sep- vate herstellender Unternehmen“ recht- Kollegen auch in Kalifornien einreichen tember 1998 Hoechst auf Schadenersatz fertigte sich, „allen Beteiligten und Be- kann. Das könnte Erfolg haben, weil der und Schmerzensgeld. troffenen“ sei die Gefahr verseuchter Pro- Bundesgerichtshof in der so genannnten Der Richter gab den Hoechst-Juristen dukte bekannt gewesen. Es habe aber letzt- Apfelschorf-Entscheidung zur Produkt- zunächst fünf Wochen Zeit zur Erwide- lich keine sicheren Tests gegeben, um das haftung festgestellt hat, dass Geschädigte rung. Er verlängerte die Frist auf Wunsch Spenderblut von Viren freizuhalten. Und nach dem internationalen Privatrecht aus- des Pharmakonzerns noch zweimal, doch „der überragende Nutzen“ der Behand- wählen können, wo sie vor Gericht ziehen ließ die Frankfurter Hoechst-Kanzlei Boe- lung habe die „unvermeidbaren Risiken wollen. sebeck-Droste auch den letzten Termin der Therapie bei weitem“ übertroffen. Erst Der Vorteil eines Abstechers in die Ver- ohne Angabe von Gründen verstreichen. 1990 seien sichere Untersuchungen der einigten Staaten: Amerikanische Gerichte Erst drei Tage vor dem ersten Verhand- Blutprodukte möglich geworden. sprechen Opfern fehlerhafter Produkte we- lungstag am 8. März dieses Jahres und über „Und nun stellt sich plötzlich heraus, sentlich höhere Entschädigungen zu als sechs Wochen nach der letzten Fristset- dass die uns womöglich die ganze Zeit be- deutsche. Carolin Emcke, Udo Ludwig Werbeseite

Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (6) Die Woche vom 30. 10. 1989 bis zum 5. 11. 1989 »Rücktritt ist Fortschritt« Mit halbherzigen Reformversprechungen und Rücktritten will die SED das Volk besänftigen, mit Stasi-Hilfe eine Großdemonstration umdrehen – vergebens. Fast eine Million Menschen fordern auf dem Berliner Alexanderplatz: „Der SED den Laufpass“. R. SUCCO / ACTION PRESS R. SUCCO / ACTION Massendemonstration auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989

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CHRONIK »Politik zum Weglaufen« Gelegentlich kam Hilfe aus dem Westen. men außerhalb der Kirchenzirkel zur Spra- Montag, 30. Oktober 1989 Zwar versuchten Stasi-Einflussagenten wie che – von der Verschmutzung der Elbe bis der grüne Bundestagsabgeordnete Dirk zum Waldsterben im Erzgebirge. Halle Schneider beharrlich, die Öko-Partei auf „Der Morgen“, die Zeitung der Block- Fasziniert verfolgt Michael Beleites, 25, die SED-Kurs zu trimmen*. Umweltkämpfer partei LDPD, prescht vor und veröffent- Rundfunk-Nachrichten: Endlich hat das wie Petra Kelly aber zeigten sich solida- licht bislang strikt geheim gehaltene Um- Thema Umweltschutz die Straßen er- risch mit der ökologischen Opposition im weltdaten: Alljährlich werden fast fünf Mil- reicht, auf denen an diesem Montag Osten. Grünen-Geschäftsführer Eberhard lionen Tonnen Schwefeldioxid und fast hunderttausende von DDR-Bürgern de- Walde ließ sogar Druckmaschinen und eine Million Tonnen Stickoxide in den monstrieren. Geigerzähler, getarnt als Diplomaten- Himmel über der DDR geblasen. „Sägt die Bonzen ab, nicht die Bäume“, gepäck, in die DDR schmuggeln. Die Umweltbewegung im Osten „Öko-Daten ohne Filter“, „Leipzigs Luft Doch nun, durch die Montagsdemon- Deutschlands, so scheint es an diesem Tag, ohne Schwefelduft“, „In Elbe, Mulde, strationen, gewinnt die grüne Bewegung ist nicht mehr zu stoppen, die Gründung ei- Pleiße gehen Abwässer visafrei auf Reise“ an Schubkraft, kommen tabuisierte The- ner grünen Partei in der DDR nur noch – überall mischen sich Umweltschutz- eine Frage der Zeit. parolen in die Forderungen nach Mei- * Hubertus Knabe: „Die unterwanderte Republik. Sta- Parole der ersten Öko-Demo in Halle: nungs- und Reisefreiheit. si im Westen“. Propyläen, Berlin; 590 Seiten; 49,90 Mark. „Lasst Taten folgen, wir sind dabei.“ Ost-Berlin Das Ende kommt um 21.35 Uhr, plötzlich, aber nicht unerwartet. „Guten Abend, mei- ne Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe

Im Bezirk Halle, der mit Umwelt- schmutz meistbelasteten Region Deutsch- lands, demonstrieren 50000 Menschen für saubere Luft und sauberes Wasser – zur Freude von Öko-Pionieren wie Beleites. Auf verlorenem Posten hatte der Tier- präparator lange Zeit gegen die Umwelt- vergiftung durch den Uranabbau der So- wjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut gekämpft; allein durch Wismut- Emissionen starben nach Expertenschät- zung binnen 40 Jahren mehr als 5000 Menschen. Vier Jahrzehnte lang war Umweltschutz ein Fall für die Stasi gewesen, galten Öko- Kämpfer wie Beleites als Spione und Sa- boteure. Nur unter dem Schutz der Kirche konnten Samisdat-Zeitschriften wie die „Umweltblätter“ oder die „Arche Nova“ erscheinen, die über die verseuchte Luft in Bitterfeld oder über die Devisengeschäfte der DDR-Führung mit westlichem Giftmüll berichteten.

Umweltschützer Beleites in Wismut (r.), Stasi-Observationsfotos von Beleites (o.)

Über 5000 Tote durch Uran-Abbau / LAIF BIALOBRZESKI P. 92 Genossinnen und Genos- sen“, verkündet der bebrillte Bärbeiß auf dem Bildschirm, „diese Sendung wird nach fast 30 Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte.“ Nie zuvor bei einer der 1519 Folgen seines „Schwar- zen Kanals“ konnte sich Karl-Eduard von Schnitzler, 71, des Beifalls seiner Zu- schauer so sicher sein wie an diesem Abend. Denn kein anderer Ost-Berliner Journalist ist im Volk so verhasst wie der DDR- A. VOSSBERG / PLUS 49 VISUM Chefkommentator, den sie PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA überall „Karl-Eduard von Zurückgetretener Schnitzler (bei seiner letzten Sendung), Gewerkschafter Tisch: „Unsre Erde ist eckig“ Schni...“ nennen – dem Spottwort zufolge schalten alle ab, wenn am frühen Abend diesen Spruch skandiert Jetzt, zwei Tage nach dem „ungeheuren eine Schnitzler-Sendung angesagt wird. haben, ahnten nicht, dass, was eben noch Satz“, so Simon, kippt die Stimmung unter Groteske Schwarzmalerei über den Wes- Forderung war, binnen Stunden Fakt wer- den Funktionären: „Die Berichte über die ten, devote Hofberichterstattung über den den sollte – und zugleich Auftakt einer Wo- Unruhen in den Bezirken reißen nicht ab“, Osten – für das Volk verkörpert der adlige che der Rücktritte. eine „Explosion“ droht – ein Arbeiterauf- Agitator die Erzübel des sogenannten Jour- stand. nalismus in der DDR: Propaganda statt Be- Mehrere Vorsitzende von Zentralvor- richterstattung, Zensur statt freier Aus- Dienstag, 31. Oktober 1989 ständen suchen Tisch in dessen Amtsräu- sprache (siehe Analyse Seite 102). men auf, die ständig von der Volkspolizei In den Wochen vor der Wende zeigte Ost-Berlin bewacht werden. „Du musst erklären, dass sich der Polemiker, ganz wie sein Förderer Helle Aufregung herrscht in der Zentrale du zurücktrittst, Harry, sonst ist die Honecker, außer Stande, die Zeichen der des Freien Deutschen Gewerkschaftsbun- Empörung nicht mehr zu bremsen“, for- Zeit zu erkennen. Als er dem Publikum des (FDGB). Meterweise quellen Protest- dert IG-Bau-Holz-Chef Lothar Lindner. weismachen wollte, der anschwellende Telexe aus den Fernschreibern. Tisch, fassungslos, blickt in die Runde: Bürgerprotest („Großangriff auf die DDR“) Die Basis in den Betrieben empört sich „Meint ihr das wirklich?“ Alles nickt. sei vom Westfernsehen gesteuert, wurde seit Tagen über verheerende Auftritte von „Tisch wendet sich ab. Schluchzen er- der Hetzer zum Hatzobjekt Nummer eins. Harry Tisch, 62, dem Vorsitzenden der par- schüttert ihn. Lothar Lindner umarmt ihn „Schnitzlers Visage bringt alle in Rage“, teitreuen Scheingewerkschaft.Wochenlang tröstend“, beschreibt Simon das „un- „Schnitzler in die Muppet-Show“, hatte der Funktionär auf die Unruhe im rühmliche Ende“ eines „Kapitels Gewerk- „Schnitzler in den Tagebau“, „Schnitzler Lande ähnlich taub reagiert wie Honecker; schaftsgeschichte in der DDR“. weg von Bild und Ton, er besudelt die dann plötzlich warf er den Vertrauensleu- Nach ein paar Minuten hat Tisch sich Nation“ – auf das Stakkato der Demo- ten seiner Gewerkschaft vor, sie seien all- gefangen. Mannhaft diktiert er seinem Sprüche kann die SED-Spitze nur noch zu lange den Vorgaben der Partei gefolgt. Chefredakteur den ersten Satz einer Pres- defensiv reagieren. „Massenproteste werden angekündigt, seerklärung in den Block: „Harry Tisch hat Die Volksnäheren unter den Parteigrößen Streiks“, notiert Günter Simon, Chefre- mitgeteilt, er werde auf der Sitzung des haben ohnehin seit längerem geahnt, dass dakteur des FDGB-Blattes „Tribüne“, an FDGB-Bundesvorstandes am Donnerstag der Schnitzlersche Journalismus der SED diesem „stürmischen“ Vormittag. seinen Rücktritt erklären.“ mehr schadet als nützt – wie es von ande- Erst am Wochenende hat Tisch eine bla- Die Meldung geht über die Sender – und rer Warte Wolf Biermann formulierte: mable Diskussion in der zunehmend auf- inspiriert sogleich Wortwitzbolde zu einem müpfigen TV-Sendung „Elf99“ absolviert – neuen Transparent-Text für die nächste Hey, Schnitzler, du elender Sudel-Ede „eine Katastrophe“, wie selbst hauptamt- Demo: „Krenz zu Tisch!“ Sogar, wenn du sagst, die Erde ist rund liche Funktionäre urteilen. Simon: „Re- Dann weiß jedes Kind: Unsre Erde ist eckig dakteure, die eine Nachricht für unsere Karl-Marx-Stadt Du bist ein gekaufter verkommener Hund … Montag-Ausgabe über die Sendung schrei- Exakt zwei Monate ist es her, da waren In Dresden hat Oberbürgermeister Wolf- ben wollten, erklären sich außer Stande, sich die Stasi-Gewaltigen noch sicher, das gang Berghofer kurz vor der letzten Sen- den Auftrag zu erfüllen.“ richtige Rezept für den Umgang mit der dung zornigen Protestlern versprochen, er Am Sonntagabend im FDGB-Präsidium Opposition zu kennen. werde deren Forderung „Schnitzler weg“ hat Simon den Rücktritt von Tisch gefor- Am 31. August, bei einer Dienstbespre- ans DDR-Fernsehen weiterleiten. Bei ei- dert. Begründung: Der Vorsitzende be- chung, berichtete Generalleutnant Sieg- nem „Sonntagsgespräch“ mit 20000 Teil- handele den FDGB „wie sein Privateigen- fried Gehlert, 64, welche Mittel er in Karl- nehmern vor dem „Roten Rathaus“ in Ost- tum“; ihm fehle es an „moralischer Stär- Marx-Stadt bevorzugt, um das Neue Fo- Berlin am Vorabend von Schnitzlers letz- ke“; er sei unfähig, für „Eigenständigkeit rum, „diese Banditen, wie man so schön tem Auftritt hatte auch SED-Bezirkschef der Gewerkschaften“ zu sorgen. sagt, in die Furche zu ducken“. Günter Schabowski den Kanal voll: „Ich Doch der Redakteur fand keine Unter- Dem Forum-Mitgründer Rolf Henrich, bin sicher, dass Karl-Eduard diese Stim- stützung. Arrogant setzte sich Tisch noch einem mit Berufsverbot belegten Rechts- mungslage nicht verborgen geblieben ist, einmal über die Massenproteste hinweg: anwalt und Ex-SED-Mitglied, werde die dass er ein kluger Mann ist und daraus „Es wird zwar so sein, dass einige hun- Stasi mit Hilfe bestellter Störer in Kürze in Konsequenzen zieht.“ derttausend Gewerkschafter austreten, Zwickau denselben Empfang bereiten wie „Schwarzer Kanal, heut’ zum letzten aber bei 9,6 Millionen Mitgliedern ist das neulich einem „so genannten Liederma- Mal“: Die Leipziger Demonstranten, die zu verkraften.“ cher“ aus Berlin. Gehlert:

der spiegel 44/1999 93 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«

Durch Trampeln und Pfeifen der gesell- Am selben Tag unterzeichnet der amts- schaftlichen Kräfte musste er sein Pro- müde Stasi-Minister einen Befehl an die Mittwoch, 1. November 1989 gramm, was er für zwei Stunden geplant Chefs der Kreisdienststellen: Alle „opera- hatte, nach 10 Minuten abbrechen, weil tiven Unterlagen“ seien unverzüglich in Moskau niemand mehr zugehört hatte. Sicherheit zu bringen – „in Stahlblech- Wuschelig schamponiert und braun ge- bzw. Panzerschränken“. brannt tritt Egon Krenz vor die interna- Nun, acht Wochen später, hocken die tionale Presse. Mit strahlendem Lächeln Stasi-Oberen selbst in der Furche. Moskau versucht er den Journalisten weiszuma- Als am Vormittag das SED-Politbüro zu- Schneeregen fegt über die Piste, als die In- chen, dass zwischen ihm und Gorbatschow sammentritt, liegt Krenz und Genossen ein terflug-Sondermaschine mit Egon Krenz pure Harmonie herrscht. Geheimbericht der Sicherheitsorgane zur abends in Moskau landet. Eine Sil-Limou- In Wahrheit musste Krenz dem Beratung vor, der das alarmierende Wort sine bringt ihn in ein Gästehaus auf den Le- Kremlchef berichten, über eine Anerken- „Ausnahmezustand“ enthält – und das Ein- ninbergen, wo sich Krenz auf sein Ge- nung des Neuen Forum sei „noch nicht geständnis, dass die bisher ver- spräch mit Gorbatschow vorbe- entschieden“ worden. Daraufhin hat Gor- folgten Strategien gescheitert reiten will. batschow laut Protokoll die Zögerlichkeit sind: Der SED-Chef, der die So- Ost-Berlins gerügt: Die Partei dürfe „sol- wjetunion als seine „zweite Hei- chen Problemen nicht ausweichen“, sie Wenn es nicht gelingt, den mat“ bezeichnet, hat viele Be- müsse „mit diesen Kräften arbeiten“. Führungsanspruch unserer Par- kannte in Moskau. Einer von ih- Der Journalistenfrage, ob die DDR freie tei durch Führungsqualität in- nen, ein hochrangiger KGB- Wahlen mit alternativen Kandidaturen ge- nerhalb der Partei und im Volk Mann, sucht ihn zu später Stun- statten werde, weicht Krenz aus: „Selbst zu beweisen, sind Eskalationen de im Gästehaus auf und bittet wenn ich andere Gedanken hätte... Aber nicht zu vermeiden ... Wenn es ihn zu einem nächtlichen Spa- ich habe keine anderen Gedanken...“ Auch nicht gelingt, den Masseneinfluss ziergang durch den Park der in diesem Punkt differieren die Positionen mit politischen Mitteln zurück- Residenz. der Gesprächspartner. Zuvor bereits hat zudrängen, ist ein möglicher

DPA Dort eröffnet der Besucher – KPdSU-Sprecher Nikolai Schischlin Fra- Ausnahmezustand nicht auszu- Anwalt Henrich dessen Namen Krenz auch zehn gen von Journalisten zur Zukunft der DDR schließen. Jahre später noch geheim hal- beantwortet. Dass der Versuch, die Opposition in ten wird – dem Staatsgast: „Ihre Freun- Scheindialoge zu verwickeln und einzu- de, Genosse Krenz, möchten Sie davor Schischlin: „Niemand kann sagen, was ge- schläfern, fehlgeschlagen ist, entnehmen bewahren, morgen ins offene Messer zu schehen wird. Aber ich bin sicher, dass die- die Politbürokraten einem zweiten Papier. laufen.“ se Lage geändert werden sollte und geän- Das Dossier berichtet über eine Tagung Gorbatschow, warnt der Namenlose, ste- dert werden wird.“ am 27. Oktober, bei der die SED-Bezirks- he unter wirtschaftlichem Druck und sei Frage: „Wie wird es geändert werden?“ fürsten Niederschmetterndes zu Protokoll dabei, sich mit Bonn zu arrangieren – auf gegeben haben. „In den Betrieben fängt Kosten der DDR. Schischlin: „Durch das Recht zur Wahl.“ die Partei an zu wackeln“, lautet die Hi- „Die Sowjetunion“, zitiert Krenz seinen obsbotschaft aus Schwerin. „Die durchge- KGB-Freund, „erlebt die schwierigste Lage Während des vierstündigen Gesprächs führten Foren entwickeln sich zu Ge- seit der Oktoberrevolution ... Um wieder mit Gorbatschow quälen Krenz – wie er richtsverhandlungen“, meldet der Statt- auf die Beine zu kommen, brauchen wir später bekunden wird – nagende Zweifel halter aus Neubrandenburg. Und aus Dres- reiche Freunde ... Genosse Krenz, seien an der Loyalität des mächtigen Bünd- den rapportiert Hans Modrow: „So, wie Sie wachsam. Die Gefahren für die DDR nispartners, „der letztlich über Sein und gegenwärtig die Lage ist, können wir die sind groß.“ Nicht-Sein der DDR entscheidet“. Weiterentwicklung des Neuen Forums Um 3 Uhr morgens legt sich Krenz zur Vorsichtig erkundigt sich Krenz nach der nicht aufhalten.“ Ruhe. „Schlafen“, notiert er, „kann ich in künftigen Rolle der DDR in dem von Gor- Im Politbüro versucht Schabowski an dieser Nacht kaum.“ batschow propagierten „gesamteuropäi- diesem Vormittag, Krenz zu radikalen Re- formen zu bewegen. Er müsse mehr „Gags“ bringen, fordert der Berliner Be- zirkschef: große und kleine Geschenke ans ungeduldige Volk, beispielsweise „ein neu- es Auto versprechen“ – so etwas müsse „jeden zweiten Tag kommen“. Doch das Politbüro zeigt sich, wie der Magdeburger SED-Bezirkschef Werner Eberlein rügt, „nicht im Stande, politische Entscheidungen zu treffen“. Ein Beschluss über den Umgang mit dem Neuen Forum wird vertagt, ebenso eine kritische Vorlage der FDJ. Volkskammer- präsident Horst Sindermann, 74, kann das klein Gedruckte nicht lesen, andere ärgern sich über den forschen Ton. Immerhin: Um dem „Erneuerungspro- zess nicht länger im Weg zu stehen“, kün- digen fünf Altgenossen zwischen 73 und 81 Jahren ihren baldigen Rücktritt aus dem

Politbüro an – darunter mit Anzeichen tie- PRESS SIPA fer Resignation auch Erich Mielke. Staatsgast Krenz, Gastgeber Gorbatschow: „Dies ist der Judaskuss“

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« schen Haus“: „Die DDR ist ein Kind der der „Berliner Zeitung“ – und löst eine La- cher erklärte in einem Vier-Augen-Ge- Sowjetunion. Es ist für uns wichtig zu wis- wine aus. Was vor einem Jahr nur Gerau- spräch, eine Wiedervereinigung sei absolut sen, ob ihr zu eurer Vaterschaft steht.“ ne verursacht hätte, bringt landauf, landab unannehmbar. Man dürfe keinen Anschluss Die Reaktion seines Gesprächspartners die Volksseele zum Kochen. zulassen, sonst würde die BRD auch noch hält Krenz mit den Worten fest: Kleine Gewerkschafts- und SED-Mit- Österreich schlucken. Das wäre eine reale glieder, die selbst hinter grauen, bröckeln- Kriegsgefahr. Öffentlich geben sie das Als übersetzt wird, beobachte ich mein den Fassaden leben und für jede Tüte Dü- natürlich nicht zu, aber sie sind sich dessen Gegenüber. Er ist nachdenklich. Er spricht bel Schlange stehen müssen, geben wegen bewusst, was das bedeuten würde. leise einen Satz vor sich hin, so als würde der Vorzugsbehandlung des Arbeiterfüh- er mit sich selbst reden. Ich glaube, es ist rers zu Abertausenden ihre Mitglieds- Im Übrigen ist der Staatsbesuch wenig ein russisches Sprichwort, das sinngemäß bücher zurück. Andere stellen die Bei- geeignet, Krenz optimistisch zu stimmen. heißt: Wie lang sich die Schnur auch win- tragszahlung ein. Gestern, im Gespräch mit Gorbatschow, det, es kommt doch ein Ende. In meinen „Ich habe in meinem Leben immer ein- hat der SED-Führer seine Angst einge- Notizen steht dahinter ein Fragezeichen. fach, normal gelebt“ – die Erklärung, mit standen, dass sich nach einer Zulassung Setzt Gorbatschow auf eine Wiederver- der Nennstiel auf die bislang beispiellose des Neuen Forum in der DDR „etwas Ähn- einigung Deutschlands? Der KP-Chef journalistische Enthüllung reagiert, facht liches wie die Solidarnosƒ“ entwickelt, das weicht aus und verweist auf die angeblich den Zorn der Leser weiter an. Bündnis zwischen Arbeitern und Bürger- skeptischen Amerikaner – was den Arg- Am Abend wird der Gewerkschaftsboss rechtlern. Nun verspricht er sich von den wohn von Krenz verstärkt: „Interessant, zum Rücktritt gezwungen – erstes Opfer polnischen Genossen guten Rat für die Ost- denke ich, sie reden mit den USA über die der von Tag zu Tag mutiger agierenden Berliner Regierungspolitik. Doch die War- deutsche Einheit, nicht aber mit der DDR.“ Presse. In den folgenden Wochen werden schauer haben nur Warnungen parat. Als Krenz zurückfliegt, ist gewiss: Von DDR-Medien zwischen Rügen und Suhl Die Partei hat es mit dem Kriegsrecht den sowjetischen Freunden kann er weder dutzendweise ähnliche Fälle von Funk- versucht – und ist gescheitert. Mit Panzern, eine militärische Beistandsgarantie für den tionärshabgier aufdecken. sagt Jaruzelski, hätten die Kommunisten Fall eines Volksaufstandes noch irgend- geglaubt, „den Deckel auf dem Topf halten welche ökonomische Hilfe zur Restabili- zu können, aber die Arbeiterklasse stand in sierung der Macht erwarten. Donnerstag, 2. November 1989 der ersten Reihe gegen uns“. Gorbatschows Versprechen, die Staaten Dann hat sich die Partei mit der Oppo- des ehemaligen Ostblocks dürften ihren Warschau sition an einen Runden Tisch gesetzt – und „eigenen Weg“ gehen, hat der Sprecher Bei seinem Antrittsbesuch in Polen wird durch ungeschicktes Taktieren die zu lange des Außenministeriums, Gennadij Gerassi- Krenz auf dem Warschauer Flughafen von als Satelliten missachteten Blockparteien mow, soeben auf eine bündige Formel ge- „guten Freunden“ empfangen. Wenig spä- gegen sich aufgebracht.Auf diese Weise hät- bracht: „Wir schauen, schauen sehr genau, ter, auf Schloss Belvedere, teilt der kom- ten die Kommunisten, so Parteichef Mieczy- aber wir mischen uns nicht ein.“ munistische Staatspräsident Wojciech Jaru- slaw Rakowski zu Krenz, „die Quittung für Diese neue Moskauer „Doktrin“ kön- zelski dem Genossen aus Ost-Berlin Tröst- unsere früheren Sünden“ bekommen. ne, so Gerassimow, auch als „Frank-Sina- liches mit. Am Ende habe die Partei nach langem tra-Doktrin“ bezeichnet werden – nach Die Staaten Westeuropas seien ebenso Zögern freie Wahlen zugelassen – und dessen Erfolgssong „I did it my way“. wie Polen strikt gegen eine Wiedervereini- haushoch verloren. Nun könne sie froh Schon am Vormittag, als Gorbatschow gung Deutschlands, versichert der Präsi- sein, sagt Juruzelski, dass ihr wenigstens den Gast aus Ost-Berlin mit dem traditio- dent dem tief verunsicherten Krenz. Ein „ein Kontrollpaket Aktien“, ein Rest von nellen Bruderkuss begrüßte, hatten sich Stenograf hält Jaruzelskis Worte fest: Einfluss, geblieben sei: die „Beteiligung an Krenz-Begleiter überzeugt gezeigt: „Dies der Regierung, die Sicherheitsorgane und ist der Judaskuss.“ In meinen Gesprächen mit Cossiga, An- die Armee und das Amt des Präsidenten“. dreotti, Mitterrand und Thatcher sagten Schließlich gibt Rakowski dem Gast die Ost-Berlin sie auch, dass (eine Wiedervereinigung) Warnung vor drei gefährlichen Fehlern mit Der Anrufer gibt sich geheimnisvoll. Der überhaupt nicht möglich sei. Frau That- auf den Weg nach Berlin: Gefängnisstrafen Mann stellt sich als Bauarbeiter vor und rät den Redakteuren der SED-eigenen „Berli- ner Zeitung“: „Schaut euch mal an, was im Ketschendorfer Weg 59 in Biesdorf ge- schieht.“ Reporter Hans Erdmann fährt an den Berliner Stadtrand und notiert: Da steht ein Eigenheim kurz vor seiner Vollendung: Zwei Etagen mit reichlich 200 Quadratmeter Wohnfläche, zehn Räume, Gasheizanlage, Bäder und Duschen, die Fenster sind BRD-Import, ein zweistöcki- ger Wintergarten ist im Entstehen. Auf der Baustelle eröffnen Bauarbeiter dem Journalisten, das Domizil im Grünen sei ein Objekt der „FDJ-Initiative“; die Maurer seien dafür eigens vom U-Bahn- Betriebswerk Friedrichsfelde abgezogen worden. Bauherr sei Gerhard Nennstiel, 43, Vorsitzender der Ost-IG Metall.

Erdmanns Bericht über den korrupten C. HIRES / GAMMA STUDIO X Gewerkschaftsbonzen erscheint auf Seite 3 Staatsgast Krenz, Gastgeber Jaruzelski: „Deckel auf dem Topf halten“

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« stärkten nur den „Märtyrer-Mythos“ von ordner. Unterbrochen wurde das bürokra- tion mit den Ordnungshütern bedacht – Oppositionellen; „Privilegien“ für die Re- tische Einerlei einmal im Jahr durch eine sich ängstigen, die Angelegenheit könnte gierenden „reizten die Menschen in be- skurrile Faschingsfeier, bei der sich Mielkes ihnen über den Kopf wachsen. sonderer Weise“; „was man legalisieren Offiziere als Staatsfeinde verkleideten – Manch einer würde aus Angst vor der ei- darf und was nicht“, müsse rechtzeitig ent- als Bischöfe, Pazifisten und Hooligans. genen Courage die Kundgebung am liebs- schieden werden. An diesem Tag ist alles anders. In der ten wieder absagen. Beiden Gesprächspartnern ist klar: Ge- Zwingburg an der Normannenstraße „In einer Beratung der Gewerkschaftsver- nau diese Fehler sind in der DDR bereits herrscht Endzeitstimmung: Trotz massiver trauensleute der Theaterschaffenden Ber- begangen worden – unter der Verantwor- Stasi-Einmischung droht die für morgen lin“ ist laut Stasi-Notiz daher „festgelegt“ tung oder Mitverantwortung von Krenz. angekündigte Großdemonstration auf dem worden, „eine weitere Bekanntmachung Am Ost-Berliner Flughafen Schönefeld Alexanderplatz außer Kontrolle zu gera- größeren Stils – z. B. in Massenmedien – zu wird der Rückkehrer von ZK-Sicherheits- ten. Ein Marsch auf die Geheimdienstzen- unterbinden, weil sonst die Teilnehmerzahl chef Wolfgang Herger erwartet. Welche trale ist nicht auszuschließen. zu hoch ansteigen könnte ... Einige Organi- Schlussfolgerungen die beiden auf der Im Ministerium geht im Wortsinne das satoren brachten die Befürchtung zum Aus- Rückfahrt in die Stadt ziehen, offenbart Licht aus. Die MfS-Spitze befiehlt den druck, die Teilnehmerzahl könnte 500000 Demonstranten erreichen, falls die Werbung dafür nicht gestoppt werde“. Doch die Mobilisierung haben zu diesem Zeitpunkt längst andere in die Hand ge- nommen. „Die Absicht zur Durchführung der Demonstration“, meldet die Stasi- Hauptabteilung XX, „ist republikweit po- pularisiert worden, vornehmlich in Künst- ler- und Kirchenkreisen.“ In der Zentrale macht sich die Angst breit, die bevorstehende – möglicherwei- se entscheidende – Machtprobe mit der Opposition könne mit einem Sturm auf die Mauer oder auf die Normannenstraße enden. Um gegen „mögliche Angriffe“ auf ihr Quartier gewappnet zu sein, lässt die Stasi Waffenkammern und Munitionsräu- me sichern. Zugleich wird „die schnelle Verlagerung operativ bedeutsamer Mate- rialien und Unterlagen“ vorbereitet. P/F/H Geschenkesammlung im Mielke-Büro: „Arbeitsräume verdunkeln“

Herger später einem Historiker: „Jetzt half Tschekisten, sich einzuigeln: „Bei Dunkel- nur noch Modrow, den Gorbatschow sehr heit sind die Arbeitsräume zu verdunkeln.“ gelobt hatte, als Ministerpräsident.“ Wochenlang hatte die Geheimpolizei ge- glaubt, die Veranstalter des geplanten „Meetings“ im Griff zu haben. Als völlig Freitag, 3. November 1989 unkalkulierbar gilt neuerdings jedoch das Verhalten des Fußvolks, das, wie Spitzel Ost-Berlin aus allen Ecken der Republik melden, zu

Seit 40 Jahren wuchert im Ost-Berliner zehntausenden nach Berlin strömen will. PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA Stadtteil Lichtenberg ein gargantueskes Vergebens haben sich SED und Stasi SED-Politikerin Honecker Parallel-Universum. Um Platz zu schaf- bemüht, den Zulauf aus der Provinz zu Gemüter besänftigen fen für seine Zentrale des Schreckens, hat drosseln. Noch am 31. Oktober schrieb Erich Mielke einen ganzen Stadtteil mit Mielke an seine Dunkelmänner: Ihre Waffen sollen die Sicherheitskräfte Beschlag belegt. nicht einsetzen dürfen. „Die Anwendung Durch Dialogangebote und andere gesell- In dem grauen Konglomerat aus Hoch- der Schusswaffe im Zusammenhang mit schaftliche Möglichkeiten in den Wohn- häusern und Flachbauten, Kliniken und möglichen Demonstrationen ist grundsätz- orten, Arbeits- und Unterrichtsstätten soll Kantinen, Archiven und Werkstätten ar- lich verboten“, hat der Verteidigungsrat gezielt einer Teilnahme von Personen, Ar- beiten 25000 Hauptamtliche – allesamt mit angeordnet. beits- und Schulkollektiven an dieser De- militärischem Rang; die Küchenfrauen im Um das Schlimmste zu verhindern, mo- monstration bzw. an dem Meeting in der Ministerium für Staatssicherheit etwa sind bilisiert die Berliner SED tausende be- Hauptstadt entgegengewirkt werden. Feldwebel. währter Anhänger, die darin erfahren sind, Jahrzehntelang ging in „der Firma“ al- Doch der greise Minister hat die Sog- ihrer Partei als Claqueure zu dienen und les seinen sozialistischen Gang. Der „Ge- kraft der Veranstaltung unterschätzt. Störer aus dem Weg zu rempeln. Es sei nosse Armeegeneral“ hortete Gastge- Bereits einen Tag nach dem Mielke-Brief veranlasst, halten die Geheimdienstler schenke, vom bulgarischen Zinnteller bis notierte Stasi-Leutnant Edgar Hasse im fest, dass „gesellschaftliche Kräfte in Ab- zum mongolischen Krummsäbel, und sam- Anschluss an eine Dienstbesprechung: stimmung mit der Partei wirkungsvoll zum melte Orden (insgesamt 274); Tüftler mon- „Demo am 4. 11. scheint nicht mehr über- Einsatz gebracht werden“. tierten Geheimkameras in Gießkannen schaubar ... Sache kann nicht mehr ge- Die wichtigste Aufgabe hat an die- und Wanzen in Handtaschen; Führungsof- stoppt werden.“ So gewaltig ist der erwar- sem Tag SED-Generalsekretär Egon Krenz fiziere füllten Regale mit Spitzelberichten, tete Ansturm, dass selbst die Veranstalter zu erfüllen. Er soll am Vorabend der Groß- im Laufe der Zeit 122 Kilometer Akten- – in rotpreußischer Disziplin um Koopera- kundgebung die Gemüter der Bürger be-

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« sänftigen, die allerorten „Rücktritt ist Fort- schlossen. In konspirativen „Objekten und Krenz sitzt unterdessen, hochgradig ner- schritt“ rufen. Wohnungen mit Telefonanschluss“ entlang vös, im Arbeitszimmer von Innenminister In einer abendlichen TV-Ansprache ver- der Demonstrationsstrecke liegen befehls- Dickel. Mit Stoph sowie Stasi-Minister kündet Krenz ein Bündel von Demissions- gemäß hunderte von Stasi-Leuten auf der Mielke und Verteidigungsminister Keßler ankündigungen und Reformversprechen. Lauer. Vom Marx-Engels-Platz bis zur verfolgt er per Monitor das Geschehen. Bereits tags zuvor waren diverse Ab- Grenze haben bewaffnete Geheimpolizis- Für den Fall, dass es zu dem befürchte- dankungen publik geworden – von Bil- ten Posten bezogen. ten Grenzdurchbruch am Brandenburger dungsministerin Margot Honecker, den Die Befehlslage ist klar: Geschossen wer- Tor kommt, sind ein heißer Draht zu Gor- Blockpartei-Vorsitzenden Gerald Götting den darf während der Demonstration batschow und Standleitungen zur Sowjet- (CDU) und Heinrich Homann (NDPD) so- nicht, und auch Festnahmen sollen mög- armee in Wünsdorf und zur KGB-Zentra- wie zwei SED-Bezirkschefs. Nun gibt lichst unterbleiben. Gewaltanwendung, le in Karlshorst geschaltet. Krenz die am Dienstag im Politbüro abge- „der jeweiligen polizeilichen Situation an- Trotz feuchtkalten Wetters haben sich sprochene Demission der Seniorenriege gemessen“, ist nur außerhalb des „Sicht- auf dem Alex nicht – wie von der Stasi be- bekannt, darunter, neben Mielke, auch bereiches von Kameras und Fotoappara- fürchtet – 500000 Menschen versammelt, Hermann Axen (Außenpolitik) und Kurt ten“ erlaubt. sondern fast eine Million. Und viele tragen Hager (Ideologie). Als gegen neun Uhr die ersten Demon- nicht die staatstreuen Parolen, die zuvor Am kommenden Montag soll zudem, stranten auftauchen, unternehmen Stasi- zwischen Veranstaltern und Volkspolizei wie Krenz mit Willi Stoph vereinbart hat, Männer in Räuberzivil noch den hoff- abgesprochen worden waren, sondern Pla- der gesamte Ministerrat zurücktreten. nungslosen Versuch, sie wieder nach Hau- kate mit jener Mischung aus Biss und Witz, Über diesen Termin und die geplante se zu schicken: Nach der jüngsten Krenz- die aus Leipzig und anderswo bekannt ist: Nachfolgeregelung informiert der SED- Rede sei die Kundgebung doch überflüssig, „Kein Artenschutz für Wendehälse“, Chef den Sowjetbotschafter Kotsche- argumentieren sie. „Trittbrettfahrer, zurücktreten!“ massow: „Ich werde dem ZK vorschlagen, Unterdessen wartet Bärbel Bohley am Die Kundgebung leitet Henning Schal- Hans Modrow als Kandidaten für den neu- Grenzübergang Friedrichstraße vergebens ler vom Maxim-Gorki-Theater, ein von der en Ministerpräsidenten zu nominieren.“ auf die Einreise von Wolf Biermann, den Stasi als „politisch-negativ“ eingeschätz- Um den Volkszorn zu dämpfen und um sie zur Demonstration eingeladen hat. Der ter Mann – der klammheimliche Versuch eine erneute Besetzung der Prager Bot- Liedermacher wird von den Grenzern der Geheimpolizei, „Einfluss“ auf die schaft zu vermeiden, gibt die Regierung nicht durchgelassen – und spricht Journa- „Festlegung des Moderators“ zu nehmen, überdies eine erstaunliche Entscheidung listen ins Mikrofon: „Vor 25 Jahren wurde ist fehlgeschlagen. bekannt: Die DDR gestattet ihren Bürgern, ich verboten, ausgeulbrichtet, 1976 in den Wie zum Hohn lassen die Organisatoren vorerst – bis zum Inkrafttreten des ge- Westen ausgehoneckert und jetzt ausge- den Protestbarden Kurt Demmler singen: planten neuen Reiserechts im Dezember – krenzt.“ Irgendeiner ist immer dabei die Republik via ∏SSR gen Westen zu ver- von der ganz leisen Polizei. lassen, ohne jegliche Formalitäten. Irgendeiner macht immer ’n Strick Kaum jemandem erschließt sich zu die- und wenn du’s nicht bist, bin’s ick. sem Zeitpunkt die politische Tragweite des Beschlusses. Das DDR-Fernsehen überträgt live. So sind Abermillionen Zeuge, wie der Stasi- Pensionär Markus Wolf (siehe Porträt Sei- Sonnabend, 4. November 1989 te 100) mehr Buhrufe als Beifall erntet: Ihn Ost-Berlin hat Schallers listige Regie unmittelbar nach Als der Morgen graut, hat die Stasi ihre Kundgebungsredner Heym, Vorbereitungen für die mit Bangen erwar- Kundgebung auf dem Alexanderplatz

tete Kundgebung auf dem Alex abge- PRESS R. SUCCO / ACTION „Als habe einer die Fenster aufgestoßen“ J. WITT / SIPA PRESS WITT / SIPA J. Werbeseite

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Demmlers umjubeltem Auftritt aufs Podi- Straßenseite platziert, mitten im Beobach- heimpolizei konspiriert, spielen Vertreter um geschickt. tungsobjekt, dem rotbraunen Ziegelbau der von der Stasi infiltrierten Öko-Grup- Günter Schabowski macht die letzten der Treptower Bekenntniskirche. pen und des SED-nahen Kulturbundes auf Partei-Hoffnungen zunichte, auf die Gegen 19.30 Uhr versammeln sich in Zeit. Die Versammlung löst sich auf. Demo „stimulierend im progressiven Sin- dem Gotteshaus rund 300 Menschen. Pfar- Enttäuscht fährt Jordan mit seinem Tra- ne einwirken zu können“ (SED-Bezirks- rer Werner Hilse, 55, Betreuer von Ausrei- bi nach Hause. Zur Gründung einer grünen vize Helmut Müller im geheimen Vorbe- sewilligen, Homosexuellen und Umwelt- Partei wird es – spät, zu spät – erst am 24. reitungsgespräch). Dem beflissenen Wen- schützern, hat neben dem Taufbecken an November kommen, zu einem Zeitpunkt, dehals – „Wir lernen unverdrossen“ – der Stirnwand (Aufschrift: „Eine feste Burg zu dem das Thema Wiedervereinigung die müssen die Veranstalter beispringen gegen ist unserer Gott“) einen Tisch aufbauen Umweltproblematik wieder in den Hinter- die überbordenden Zurufe: „Aufhören, lassen. Dahinter verliest der bärtige Carlo grund gedrängt hat. aufhören!“ Jordan, 38, Mit-Initiator der Ost-Berliner Um 22 Uhr verschließt Hilse die Pforten Den richtigen Ton treffen hingegen Red- „Umweltbibliothek“, einen Aufruf zur seines Gotteshauses. Gegenüber, in der ner wie der Liberaldemokrat Gerlach („Es „Gründung einer Grünen Partei“. konspirativen Wohnung, auf deren Balkon geht jetzt um den Rücktritt der Regie- Doch der Vorschlag wird zerredet. „die Herren von der Firma“ an warmen rung“) oder Stefan Heym: „Es ist“, ruft Energisch und eloquent versucht der Ver- Sommerabenden gern ein paar Runden der Schriftsteller, „als habe einer die Fens- treter des Demokratischen Aufbruchs, Skat spielten, ist noch immer alles dunkel. ter aufgestoßen nach all den Jahren der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, eine for- Stagnation, nach all den Jahren der Dumpf- male Parteigründung zu verhindern. Prag heit und des Miefs, des Phrasengewäschs Ähnlich wie der Anwalt, der unter dem „Eure Politik ist zum Weglaufen“ – die Zu- und bürokratischer Willkür.“ Die Schau- Decknamen „IM Torsten“ mit der Ge- kunftsangst, die der Demonstrationsspruch spielerin Steffi Spira zitiert am Ende Bert einfängt, hat auch der Liberali- Brecht: „So wie es ist, bleibt es nicht ...Aus sierer Krenz den DDR-Bürgern Niemals wird: Heute noch!“ nicht nehmen können. Dem werden Historiker später wenig Seit Jahresbeginn hat der Ar- hinzuzufügen haben. „Der 4. November beiter-und-Bauern-Staat rund ist ein Markstein“, urteilt der Wende-Chro- 180 000 Menschen verloren, nist Stefan Wolle: „Von nun an geht nichts mehr als ein Prozent der Be- mehr zurück.“ völkerung. Und die Absetzbe- wegung hält weiter an. Über Ungarns grüne Grenze Sonntag, 5. November 1989 haben 50000 DDR-Bürger die Flucht ergriffen. Bis Silvester Ost-Berlin sind sämtliche Interflug- Die Fenster der Stasi-Wohnung über dem Maschinen auf den Stecken Fleischerladen an der Plesser Straße 8 blei- Berlin–Budapest und Dres-

ben heute abend dunkel – die Geheimpo- HEIMANN T. den–Budapest ausgebucht; zu lizei hat ihre Agenten auf der anderen Grünen-Treffen in Treptow: Die Stasi spielt auf Zeit haben sind nur noch Rück- flüge. Seit Krenz vor zwei Tagen die ∏SSR- Grenze geöffnet hat, ist die Ausreisebewe- gung zur Stampede geworden: Binnen 48 Stunden sind mehr als 20000 Menschen in den Westen gereist. Allmählich erst erschließen sich den Be- obachtern die Dimensionen des Wandels. Der Kommentator der West-Berliner „Ta- geszeitung“ schreibt für die Montagsaus- gabe seines Blattes: Die Mauer ist gefallen ... Seit Frei- tagnacht kann sich ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und nach München fahren ... Der Wind, der aus dem Osten kommt, hat eine solche Wucht bekommen, dass die his- torischen Relikte, die da vorbeiwirbeln, kaum noch Aufmerksamkeit erregen … Es ist die erstaunlichste, die unvorstell- barste Revolution, die man sich denken kann. Unvorstellbar, in der Tat. So unvorstell- bar, dass keinem Kommentator in den Sinn kommt, die Mauer könnte drei Tage nach Erscheinen dieses Textes wirklich brechen.

Jochen Bölsche; Hans Halter, Sebastian Knauer,

DPA Norbert F. Pötzl, Irina Repke, DDR-Bürger auf Westkurs (bei Schirnding): „Die Mauer ist gefallen“ Cordt Schnibben, Peter Wensierski

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perfekt wie früher. Den auflagenträchtigen Vorwurf etwa, der verstorbene SPD-Poli- tiker Herbert Wehner sei ein DDR-Ein- PORTRÄT flussagent gewesen, musste er 1997 umge- hend korrigieren: Wehner habe „nie und in »Mut, Mut keiner Weise“ im Dienste Ost-Berlins ge- standen. Immer häufiger verstrickt sich der Alt- und nochmals Mut« meister der Camouflage in dem Wust aus Lebenslügen und Legenden, mit denen er Markus Wolf: Wie der „Mann ohne Gesicht“ seine eigene Biografie kaschiert, die vor allem eines beweist: wie weit sich einer zum Mann mit den tausend Gesichtern wurde von den humanitär-marxistischen Idealen seiner Jugend entfernen kann. ls der ehemalige Spionagechef die seine einstigen Offiziere appelliert: „Wir „Mut, Mut und nochmals Mut“ hatte mikrofonbestückte Rednertribüne schweigen.“ Bald aber zeigte er sich selbst ihm sein Vater gepredigt, der aus Nazi- Aauf dem Ost-Berliner Alexander- in immer neuen Interviews und Büchern, Deutschland nach Moskau emigrierte Arzt platz verließ, blieb ihm „tatsächlich die für die ihm teils sechsstellige Honorare ge- und Schriftsteller Friedrich Wolf. Doch Spucke weg“ – er brachte „keinen weite- boten wurden, so red- und schreibselig wie selbst nachdem viele von „Mischas“ Leh- ren Satz mehr heraus“. kein anderer Würdenträger der verflosse- rern und Freundeseltern stalinistischen Mit schrillen Pfeifkonzerten und erreg- nen DDR. Säuberungen zum Opfer gefallen waren, ten Zwischenrufen („Aufhören!“, „Auf- Dabei beherrscht der einstige „Spiona- bewahrte sich der begeisterte Jungkom- hängen!“) hatten am 4. November 1989 gechef im geheimen Krieg“ (Wolf-Buch- munist (Jahrgang 1923) den Glauben an hunderttausende von Demonstranten den titel 1997) die „Kunst der Verstellung“ den Massenmörder Stalin, der „fast ein Versuch des Spitzenkommunisten Markus (Wolf-Buchtitel 1998) keineswegs mehr so Halbgott“ seiner Jugendjahre war. („Mischa“) Wolf vereitelt, sich Der im Gulag-Staat antrai- nach Jahrzehnten im Dienste nierte „Verdrängungsmecha- der Staatssicherheit an die nismus“ (Wolf) bewährte sich, Spitze der Reformer zu schum- nachdem der Komintern- meln. Für Wolf war der Tag Schüler, im Mai 1945 im Ge- eine „Zäsur“. folge der „Gruppe Ulbricht“ Der einstige Leiter der nach Berlin beordert, mit 29 „Hauptverwaltung Aufklä- Jahren Spionagechef der DDR rung“ (HVA) im MfS, Autor geworden war. Nicht ein einzi- eines gerade erschienenen Bu- ges Mal während seiner Blitz- ches mit später, verhaltener karriere – Generalleutnant, Stalin-Kritik, hatte allen Erns- Generalmajor, Generaloberst tes geglaubt, die Massen wür- – bewies der Spitzenmann des den in dem pensionierten Spitzelamtes so etwas wie Tschekisten nun plötzlich nur Zivilcourage. noch den „Hoffnungsträger“ Natürlich durchschaute Ost- sehen – einen Mann, den der Berlins „Vorzeige-Intelligenz- „Weg vom Stasi-General zum ler“ (Wolf), dass die Ursachen Fürsprecher von Glasnost und des blutig niedergewalzten Perestroika“ geläutert hat. Volksaufstandes vom 17. Juni Auf dem Alex begriff der 1953 „im Innern lagen“. Den- MfS-Veteran: Der Pritschen- noch galt jahrzehntelang für wagen, der als Rednertribüne ihn wie für den letzten dump- diente, war ihm zur „Richt- fen Politruk die Parteiparole: statt“ geworden; die „Verant- „Keine Fehlerdiskussion, das wortung für die Vergangen- nutzt die andere Seite!“ heit“ würde ihn einholen. Natürlich hat der Stellver- Seit jenem Tag übt sich der treter jenes Mielke, der Meu- einstige Mielke-Vize, der ein chelmorde, Psychoterror und Dritteljahrhundert lang das Todesurteile gegen Andersden- „Schwert der Partei“ geführt kende befahl, „Repressionen hat, vorwiegend in Selbstver- und Opfer wahrgenommen“, teidigung. Getrieben von und er hat auch gewusst, „dass Rechtfertigungszwang und es Tote gab“. Doch obgleich er Darstellungsdrang, zog der beispielsweise in den Siebzi- „Mann ohne Gesicht“ – von gern „entsetzt über die Unter- dem es jahrzehntelang, bis zu drückung“ von Intellektuellen einem SPIEGEL-Titelbild im durch das MfS gewesen sein Jahre 1979, kein aktuelles Foto will, sah er „keine Möglichkeit, gab – in den Neunzigern von etwas dagegen zu tun“ – Wolf Talkshow zu Talkshow. reagierte mit „Rückzug in die Nach der Wende hatte der eigene Nische“, die HVA.

Mystery-Man des deutsch- AFP / DPA Von seiner sauberen Nische deutschen Agentenkrieges an Redner Wolf am 4. November 1989: „Aufhören! Aufhängen!“ aus nutzte der Spionagechef

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Werbeseite mit Hilfe von „Romeos“ Dagegen sei es „schon die Vereinsamung Bon- toll“ gewesen, verrät er ner Sekretärinnen aus; im „Playboy“-Interview, mit gefälschten Brie- „mit Westpapieren in der fen und verfälschten Te- Tasche frei reisen zu kön- lefon-Abhörprotokollen nen und in einer guten setzte er westdeutsche Bar den Martini zu schüt- Polit-Prominenz unter teln oder zu rühren“. Druck; mit elektroni- Wenn der Gourmet zu schen Wanzen startete Hause im grauen Sta- er Lauschangriffe auf cheldrahtstaat dringend Politiker wie Egon Bahr; Granatapfelsirup benö- per Abgeordnetenkauf tigte, besorgte ihm ein hielt er 1972 den Ent- Kollege vom KGB die spannungskanzler Willy Rarität mal eben „als Brandt im Amt, die Ent- SPIEGEL-Titel 10/1979 Freundschaftsdienst aus tarnung des HVA-Spions Aserbaidschan“. Günter Guillaume schließlich löste 1974 Dass Mielke den kulinarischen Marxis- den Sturz des Staatsmanns aus. ten 1986 in den Ruhestand schickte, er- Dem Publikum präsentiert sich der Viel- klärte Wolf seinem Publikum lange Zeit schreiber und Vielredner seit Jahren als mit Differenzen über Gorbatschows Politik Mann mit tausend Gesichtern. sowie mit eigenen Buchplänen. Den wohl Mal spielt er, vor Pathos vibrierend, den wichtigsten Grund behielt er für sich: Moralapostel, der „Ehrlichkeit“ als seine Nachdem Wolf seine zweite Ehefrau zu Lieblingstugend und „Doppelzüngigkeit“ Gunsten von deren bester Freundin ver- als den unverzeihlichsten aller Charakter- lassen hatte, geriet die Verflossene am bul- mängel bezeichnet.Versteht er sich als Re- garischen Strand ausgerechnet an einen volutionär? Wolf: „Ja, weil ich ohne Rück- V-Mann des BND. Mielke tobte. sicht auf mein persönliches Leben für das Nach dem Ende der DDR sah sich der eintrete, was ich für gut und richtig halte. Mann, dessen Metier der Verrat war, selbst Und weil ich konsequent bin.“ schmählich im Stich gelassen – von Gor- Mal gibt er den Widerständler, der das batschow: „Er hat uns einfach verraten.“ „stalinistisch geprägte Sicherheitsdenken“ Seit seiner Rückkehr aus Moskau, wo der seiner DDR „innerlich nie geteilt“ und bei- „halbe Russe“ (Wolf über Wolf) zeitweise spielsweise die Ausbürgerung Wolf Bier- Asyl gefunden hatte, spielt er seine ver- manns 1976 „schon damals nicht für rich- mutlich letzte Rolle – als Opfer der Bon- tig gehalten“ hat. Dennoch sah Wolf ner „Siegerjustiz“. während seiner 34-jährigen Dienstzeit kei- Sein Lamento über „regelrechte He- ne „Möglichkeit, dagegen zu opponieren“ xenjagden“ könnte glatt vergessen ma- – allenfalls ein wenig: Wenn Mielke „auf chen, dass Wolf dank Haftverschonung und den Genossen Stalin ein dreifaches mi- Bewährung insgesamt gerade mal elf Tage litärisches Hurra“ ausbringen ließ, will der in Haft war – und das unter Bedingun- Nischenmann in der schneeweißen Gala- gen, die er selbst „eine Wucht“ nennt. Im uniform stets stumm in der Runde gestan- den haben, „mit versteinerter Miene“. Mal wiederum präsentiert sich Wolf, im Immer häufiger verstrickt sich Gespräch mit der New Yorker Zeitschrift der Altmeister der Camouflage „Tikkun“, als glühender Freund Israels, der väterlicherseits einer „langen Linie von in den Lebenslügen und Rabbis“ entstamme und der sein „vorran- giges Ziel“ stets im Kampf gegen deutsche Legenden, mit denen er seine Nazis und Neonazis gesehen habe. Aller- dings: Konfrontiert mit dem Vorwurf, die Biografie kaschiert. DDR habe heimlich arabischen Anti-Israel- Terroristen Unterschlupf gewährt, muss er Anstaltskino gab’s James Bond, in der An- einräumen, er könne „dies nicht völlig von staltsbücherei „3-mal John le Carré“, dazu der Hand weisen“. Dass im kommunisti- auf speziellen Wunsch Nescafé, Früchte- schen Osteuropa zeitweise „ziemlich hefti- würfel und Gesichtssalbe: „Was will man ger Antisemitismus“ herrschte, ist „Ost- noch?“ deutschlands jüdischem Meisterspion“ Kein Vergleich mit dem „Gelben Elend“ („Tikkun“) auch „erst später bewusst“ ge- in Bautzen – sein West-Knast wirke wie worden – dann aber „hat man es ver- ein „modernes Krankenhaus“, schrieb der drängt“: „Sicher hatten wir Scheuklappen.“ Häftling seiner dritten Ehefrau aus dem Am besten gefiel sich Wolf offenbar in Gefängnis im hessischen Weiterstadt: der Rolle des Welt- und Lebemannes, als „Selbst die hohen Zäune haben ein mo- roter James Bond zwischen Budapest und dernes Design.“ Havanna, Stockholm und Sansibar: „Die Allerdings, so mäkelte der Ästhet, „die Arbeit am Schreibtisch hat mir nie be- Mauern mit den Wachtürmen weni- hagt.“ ger“. Jochen Bölsche

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«

ANALYSE »Das sagen wir natürlich so nicht« DDR-Presse: Als der SED-Staat fast schon am Ende war, zielte die „schärfste Waffe der Partei“ auf die Regierenden hren Zeitungen haben DDR-Bürger nie „ND“-Kommentare wie jener, die DDR lach als Vizevorsitzender des Staatsrates geglaubt. Vier Jahrzehnte lang wurden müsse Ausreisern „keine Träne nachwei- angekündigt hatte. Gleichsam über Nacht Iüber das SED-Organ „Neues Deutsch- nen“, verstärkten die Flucht- und Protest- wechselte der Ton. land (ND)“ vorwiegend Witze gerissen – welle noch. Im Volk herrsche der „Ein- Aus der Chemnitzer „Freien Presse“ nach dem Muster: druck, dass die Zeitungen nur für die Par- etwa verschwanden Wendungen wie „Die tei- und Staatsführung gemacht würden“, Rädelsführer brüllten …“ (9. Oktober). Was ist ein Sechstel der Erde? Sowjet- berichtete das Ministerium des Inneren am Stattdessen hieß es wenig später: „Tausen- macht. Ein Drittel der Produktion? 5. Oktober über die Stimmung im Lande. de Bürger formierten sich“ (11. November). Schund. Ein Hundertstel der Wahrheit? Knapp drei Wochen später, nach dem Aus Plauen wurde Unerhörtes gemel- „ND“. Amtsantritt und den „Dialog“-Verspre- det: das Eingeständnis eines Volkspoli- DDR-Redakteure waren nicht ihren Le- chungen von Egon Krenz, wurde den Me- zeiführers, bei den Demonstrationen zum sern verpflichtet, sondern laut „Journali- dien erstmals gestattet, über Demonstra- 40. Jahrestag der Republik seien zwei Drit- sten-Handbuch“ in erster Linie „Mit- tionen zu berichten; verschweigen ließen tel der „Zugeführten“ unschuldig verhaf- kämpfer in der Nationalen Front des de- sich die Proteste zu diesem Zeitpunkt oh- tet und dann auch noch „entwürdigend“ mokratischen Deutschland unter Führung nehin nicht mehr. behandelt worden. Was seit 40 Jahren je- der Partei der Arbeiterklasse“. Für die Als auf einmal die Sprachregelungen der wusste, wagte nun auch die Dresdner Presse galt der Leninsche Kampfauftrag, von den alten Männern im Politbüro aus- „Union“ zu drucken: Die öffentliche Mei- „schärfste Waffe der Partei“ zu sein. blieben, verfielen die leitenden Befehls- nung im Lande stehe „oft genug im Ge- Ob „Aktuelle Kamera“, „ND“ oder ein empfänger in den Redaktionen in Sprach- gensatz zu der veröffentlichten Meinung“. ganzer Schwarm von Parteibezirkszeitun- losigkeit. „Der alte Chefredakteur knack- Zwar fehlte es in diesen Wochen nicht an gen – mit ermüdender Regelmäßigkeit ver- te ab, war handlungsunfähig“, erinnert sich Durchhalteparolen. Die populäre „Neue sorgten die Medien das Volk mit dem rich- Wolfgang Spickermann vom „ND“. tigen Standpunkt. Spartenblätter von „Pra- So richtete sich in den folgenden Wo- mo“ (Praktische Mode) bis „Sowjetfrau“ chen die „Waffe der Partei“ mehr und Keine andere Berufsgruppe hüllten es in Biedersinn. mehr gegen die Regierenden selbst. Wahr- Im Wendeherbst 1989 sackte die Glaub- heitsgemäße Berichte über den Protest ist so umfassend kontrolliert würdigkeit der gleichgeschalteten Medien, fachten den Protest noch an – und verhal- die weder über Fluchtgründe noch über fen der Wende zu jener Dynamik, die worden wie die akri- Demonstrationen berichten durften, auf schließlich den SED-Staat hinwegfegte. einen Tiefpunkt ab. Das Kürzel „ND“ war Zuerst merkten die Zeitungsleser in der bisch ausgewählten 8500 nur noch Gegenstand verächtlicher Wort- Provinz, was das „Aufbrechen von Ver- Journalisten des Landes. spiele: „Na Du? Noch da? Na denn.“ krustungen“ bedeutete, das Manfred Ger-

Berliner Illustrierte“ druckte den Appell des Anwalts Gregor Gysi, „Anarchie und Chaos“ nicht nachzugeben. Gegen die An- fechtung durch trügerische Verlockungen aus dem Westen, so riet die „Wochenpost“, helfe „nur eins: Klassenstandpunkt“. Doch die meisten Medien ergriffen schließlich Partei für den Protest. Leipziger Demonstranten etwa können es kaum glauben – aber es ist das Ostfern- sehen, das in der Menge Unmutsstimmen einholt: „Das sind ja unsere eigenen.“ Auf einmal müssen sich Parteigrößen vor Mi- krofon und Kamera für ihren Volvo und sonstige West-Attribute rechtfertigen, und das TV-Magazin „Elf 99“ fragt SED-Gene- ralsekretär Krenz nach dessen Trinkge- wohnheiten und filmt in einem Wandlitzer Privilegierten-Laden. Täglich kippen Tabus. Sogar die Vertei- lung einer Ladung Bananen auf den Fluren des Fernsehzentrums Adlershof – Etablierte schleppen ganze Stauden ab – wird gesendet. Ende Oktober ist der

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA „Schwarze Kanal“ ebenso vom Schirm DDR-Reporter in Wandlitz (Dezember 1989): Täglich kippten Tabus verschwunden wie das SED-Abzeichen

108 der spiegel 44/1999 („Bonbon“) vom Revers der Nachrichten- sprecher. Fast jeder Tag bringt Medien-News. Da gelobt Günter Pötschke, Generaldirektor des Allgemeinen Deutschen Nachrichten- dienstes (ADN), „nie wieder die Selbst- herrlichkeit Einzelner“ durchschlagen zu lassen. Und das „ND“ verblüfft durch das Eingeständnis, seine Leser mit Erfunde- nem betrogen zu haben. Die meisten Altgenossen trifft das Me- dienbeben völlig unvermittelt. Denn wohl keine andere Berufsgruppe ist so umfas- send kontrolliert worden wie die akribisch ausgewählten und geschulten 8500 Jour- nalisten des Landes. Deren Chefredakteure mussten sich all- wöchentlich zu „Argumentationssitzun- gen“ in der SED-Zentrale einfinden. Dort vergatterte sie Heinz Geggel, der von 1973 bis zum Schluss die ZK-Abteilung Agita- tion leitete. Der Oberpropagandist (Bran- chenschmäh: „Dr. Geggels“) diktierte die Linie der Berichterstattung manchmal bis in einzelne Formulierungen. Eine seiner Lieblingsfloskeln: „Das sagen wir natür- lich so nicht.“ Für die großen Parteiblätter in der Hauptstadt und in den Bezirken blieben keinerlei Freiräume. 42 hauptamtliche und rund 350 Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi hielten Wacht, dass niemand aus der Rei- he tanzte. Sogar Setzfehler standen unter Subversionsverdacht. 1981 wurde eine Aus- gabe der Hallenser CDU-Zeitung „Neuer Weg“ eingestampft: Sie hatte sich ver- druckt, beim Sowjetparteitag seien „8 Rentner“ (statt Redner) aufgetreten. Der Form nach stimmte das Honecker- Wort „Wir hatten keine Zensur“ – einer Zensur bedurfte es auf Grund der Will- fährigkeit der Medien gar nicht erst. Jour- nalisten im Osten seien „Täter und Opfer zugleich“ gewesen, urteilt der Berliner Medienexperte und Buchautor Gunter Holzweißig („Zensur ohne Zensor“). Die stromlinienförmige Presse habe „zur geistigen Kastration“ der Republik beige- tragen, räumte nach der Wende Politbüro- Mitglied Günter Schabowski ein. Er muss es wissen: Als „ND“-Chefredakteur hat er selbst lange genug mitgeschnippelt. Nicht weniger als über solche Selbstbe- zichtigungen oberster SED-Chargen staun- te die plötzlich gewendete Branche über sich selbst. Seine Leute seien immer besser gewesen als ihr Programm, erklärte sich ein Ost-Berliner TV-Chef den jähen Wan- del: „Denen ist immer durch den Kopf ge- gangen, was sie machen könnten, wenn … Und nun können sie.“ Christian Habbe

Im nächsten Heft Mauerfall aus Versehen? – Opposition unter der Bettdecke – Krenz macht mobil – Volksfest um Mitternacht – „Lenin spricht“

der spiegel 44/1999 URTEILE Grätsche zum Jahreswechsel Für Jahr-2000-Fehler in der Software müssen die Hersteller haften – so entschied erstmals ein deutsches Gericht.

ie Kleinstadt Schkeuditz bei Leip- zig in den Morgenstunden des D1. Januar 2000. Draußen herrscht Frost, doch im „Technischen Zentrum“ an der Frankfurter Straße, dem Rechenzen- trum der Deutschen Bank, wird Wärme zum Problem.

Die Klimaanlage ist ausgefallen, und die IFA Großrechner, mit denen die Bank ihren ge- Neujahrs-Feuerwerk im Frankfurter Bankenviertel: Fehler im System samten Zahlungsverkehr in Berlin und den neuen Ländern gab es noch keinen Präzedenzfall“, so besorgt, laufen heiß. Verge- Holzmann-Sprecher Semar. bens versuchen die Techniker, Den gibt es jetzt. Denn das Landgericht die komplizierte Anlage zu re- Leipzig nahm den Hersteller in die Pflicht, parieren. Nach einigen Stun- obwohl dieser keine Garantie übernom- den schalten sich die über- men hatte. Die mangelnde Jahr-2000-Fähig- hitzten Großrechner automa- keit sei ein Fehler, befanden die Richter, für tisch ab. Ein Horrorszenario den der Hersteller einstehen müsse. Zwar für jeden Bankmanager. sei die Jahr-2000-Tauglichkeit bei Vertrags- Das System ist nicht „Jahr- abschluss von ABB nicht ausdrücklich 2000-fest“, hatte der Herstel- zugesichert worden. Dass dies hier zur ler der Klimaanlage, die ABB- „Soll-Beschaffenheit“ der Anlage gehöre, Gebäudeautomation GmbH, ergebe sich aber „aus den Umständen“, schon am 23. Oktober 1998 be- nämlich der üblichen Nutzungsdauer der dauernd mitgeteilt. Wechsle Software, dem Vertragszweck und dem

das Datum von 1999 auf 2000, C. EISLER / TRANSIT Projektvolumen. würden Teile der Elektronik Bank-Rechenzentrum*: „Anspruch auf Nachbesserung“ Wichtig war somit, dass es nicht um ein- nur die beiden letzten Stellen fache PC-Software ging, sondern um Haus- registrieren – teils wähnt sich die Anlage im sich auf die Jahr-2000-Haftung spezialisiert technik, die „mit enormen Anschaffungs- Jahr 1900, teils im Jahr 2000. hat. Allein in Deutschland werden nach kosten verbunden“ war. Da die Software Unter dem Jahrtausendproblem leiden Schätzungen von Experten etwa 150 Mil- folglich länger als bis Ende 1999 genutzt vor allem ältere Computersysteme. Mit er- liarden Mark ausgegeben, um Computer werden sollte, durfte Holzmann bereits bei heblichem Arbeitsaufwand müssen sie auf und elektronische Systeme gegen den Mil- Vertragsabschluss im Jahr 1993 „die Jahr- die neue Zeitrechnung umgestellt werden lennium-Crash zu wappnen. 2000-Festigkeit der erworbenen Software – 131595 Mark verlangten beispielsweise Wenn die Elektronik versagt, drohen erwarten“. ABB wandte ein, dass sich der die ABB-Techniker für das Update der enorme Folgeschäden. „Wir haften gegen- Fehler erst zum Jahrtausendwechsel und 870000 Mark teuren Anlage im Rechen- über der Deutschen Bank für die Funk- damit nach der vereinbarten Gewährleis- zentrum der Deutschen Bank. tionsfähigkeit des Gebäudes“, sagt Ger- tungszeit auswirken werde. Das Gericht Bauherr des Bankkomplexes war die hard Semar, Sprecher der Holzmann-AG, ließ das nicht gelten: Der Fehler stecke Philipp Holzmann AG mit Sitz in Frank- „und dieses Risiko mussten wir abwälzen.“ schon jetzt im System. Es genüge, dass „der furt. Dort sah man jedoch nicht ein, Auch die Ausgaben für die Behebung sol- Mangel vor Fristablauf geltend gemacht warum die Gebäudetechniker für einen cher Jahr-2000-Fehler hätten sich womög- wird“. Deshalb habe ABB die nötige Um- Programmfehler auch noch Geld bekom- lich schnell summiert – das „Technische stellung kostenlos zu übernehmen. men sollten, und klagte. „Dass die Haus- Zentrum“ in Schkeuditz ist nicht das „Die tragenden Gedanken des Urteils technik an Neujahr die Grätsche macht, einzige Gebäude des Konzerns mit ABB- sind auch auf andere Fälle übertragbar“, hatten wir ja schriftlich“, sagt Holzmann- Technik. meint Rechtsanwalt Bartsch: „Für Jahr- Anwalt Andreas Bruse aus Leipzig. Nach der Einreichung der Klage auf 2000-Festigkeit wird nicht erst gehaftet, Vor dem Landgericht Leipzig erwirkte kostenlose Reparatur der umfangreichen wenn es für die Vorsorge zu spät ist.“ Bruse nun das erste rechtskräftige Urteil System- und Applikationssoftware er- Für ABB hatte der Rechtsstreit um die zum Jahr-2000-Problem. Die Leipziger Rich- mäßigte ABB sein Reparaturangebot Technik im Schkeuditzer Rechenzentrum ter gaben dem Kläger in vollem Umfang prompt auf knapp 40000 Mark. Die Holz- doch noch ein Gutes: Man einigte sich Recht und sprachen ihm einen kostenlosen mann-Verantwortlichen beschlossen den- darauf, bei der Nachbesserung der fehler- „Anspruch auf Nachbesserung“ zu. noch, den Fall durchzufechten. „Immerhin haften Software auch gleich den veralteten „Ein Urteil mit Signalwirkung“, sagt der Leitrechner auszutauschen – gegen Be- Karlsruher Anwalt Michael Bartsch, der * In Schkeuditz bei Leipzig. zahlung. Dietmar Hipp

110 der spiegel 44/1999 RAF Mysteriöses Treffen Bei Mord-Ermittlungen verfolgen Italiens Terrorfahnder eine deutsche Spur. Sie belegt, dass Linksextremisten über die Alpen hinweg kooperieren. AP as 3000-Seelen-Dorf Giano, 40 Ki- Totenfeier für Terroropfer D’Antona: „Die RAF war stärker als wir“ lometer von Perugia entfernt, liegt Deinsam im Hügelland der italieni- Mai dieses Jahres in der römischen Via Sa- bislang wenig Spuren. Kölner Verfassungs- schen Region Umbrien, ein verschlafenes laria getötet worden. Terrorspezialisten gab schützer meldeten sogar „Zweifel“ an, ob Nest. Doch Ende August, mitten im träg- der Mord Rätsel auf – war er doch der er- Meyer und Klump überhaupt „zum Kreis sten Ferienmonat, herrschte dort plötzlich ste seit elf Jahren. Bekannt dazu hatte sich der Illegalen“ gehörten. hektisches Treiben. die „Kämpfende Kommunistische Partei“, Am 6. Juli fiel italienischen Grenzschüt- Carabinieri und Polizisten in Zivil ob- eine Neugruppierung aus den Resten der zern bei einer Routinekontrolle im „Eu- servierten Touristen, bauten Straßensper- altterroristischen Roten Brigaden. rostar“-Zug von Wien nach Mailand ein ren und kontrollierten Pässe. Eine Frau Der Anschlag auf D’Antona weckte in unvollständiges Bekennerschreiben zum wies sich als Monica Arini aus. Italien sofort alte Ängste. In der „bleiernen Mordfall D’Antona in die Hände. Da keiner Drei Wochen später wurde bei einer Zeit“ vor 20 Jahren, als sich brutale Gewalt der sechs Reisenden im Abteil etwas mit wilden Schießerei in Wien ein Deutscher mit einer verquasten Linksideologie ex- dem Papier zu tun haben wollte, wurden getötet – Horst Ludwig Meyer, 43, gelern- plosiv mischte, gab es hunderte von Toten. alle gründlich kontrolliert. Eine der An- ter Starkstromelektriker. Er trug einen ge- Als öffentlich über eine Kooperation von wesenden war Andrea S., 49, eine umtrie- stohlenen italienischen Pass auf den Na- Rotbrigadisten und übrig gebliebenen bige Schweizer Linksaktivistin. men Francesco Spinola bei sich und eine RAF-Terroristen spekuliert wurde, wiegel- Ende August stieß die italienische Poli- italienische Pistole mit ausgefräster Se- te Regierungschef Massimo D’Alema noch zei ein zweites Mal auf die Frau – als Teil- riennummer, Marke Beretta, Kaliber 7,65. ab. Er schloss die „ausländische Spur“ aus. nehmerin jenes mysteriösen Treffens eu- Die Frau, die bis zum Schluss bei ihm Doch die ist nun plötzlich ganz heiß – und ropäischer Radikaler in Giano, wo auch blieb und mit festgenommen wurde, war ruft Erinnerungen an die Hochzeit des Ter- eine Monica Arini kontrolliert worden war. Meyers Lebensgefährtin Andrea Klump, rorismus wach. Um ein mögliches Netz durchleuchten 42. Sie hatte einen falschen Fahrschein in Den ersten Kontakt hatte Anfang der zu können, filzten Sondereinheiten von der Tasche, dazu 100 Schilling – und einen siebziger Jahre der Mailänder Verleger Carabinieri und Polizei am 19. Oktober italienischen Ausweis. Name: Giangiacomo Feltrinelli ge- rund 50 Wohnungen und Büros in mehre- Monica Arini. knüpft. Damals, so der ehe- ren italienischen Städten. Sie entdeckten Beide wurden seit 1985 malige Rotbrigadist Valerio nicht nur Dokumente, die sich mit dem steckbrieflich als mutmaßli- Morucci, sei „die RAF stär- D’Antona-Anschlag befassen – sie stellten che Terroristen der Roten Ar- ker als wir“ gewesen. Ihre auch fest, dass zu den regelmäßigen Besu- mee Fraktion (RAF) gesucht. „Abstraktheit“ allerdings chern eines autonomen Jugendzentrums Bei ihrer Festnahme sagte habe die „revolutionäre Ent- in Rom zwei Leute gehörten, mit deren Klump alias Arini nur einen wicklung“ gefährdet, RAF Papieren Meyer und Klump reisten: Fran- einzigen Satz: „Ihr tut euren und Rote Brigaden habe cesco Spinola und Monica Arini. Die bei- Job – und ich tue meinen.“ schließlich fast „feindlicher den echten Italiener hatten ihre Ausweise Seitdem schweigt die Deut- Konkurrenzneid“ entzweit. als gestohlen gemeldet. sche beharrlich auf Fragen Erst nach dem so genann- Bislang haben die italienischen Fahnder nach ihrer Vergangenheit. ten Deutschen Herbst 1977, diese Spuren weder der Bundesanwalt-

Doch: Italienische Terror- FOTOS: VIENNAREPORT der die RAF aufsplitterte, ka- schaft noch dem Bundeskriminalamt ge- fahnder sind auf ihre Spur ge- Klump alias „Arini“ men sich die Reste der bei- meldet, dessen Experten derzeit in Wien stoßen. Die Ermittlungen be- den Terrorgruppen wieder beschlagnahmte Unterlagen mit den vor- stätigen Hinweise, es gebe näher. Morucci stellte „selbst handenen Asservaten aller ungeklärten enge Verbindungen zwischen Personalausweise für die RAF-Morde vergleichen. Den Ermittlern versprengten Extremisten auf RAF“ her – „einer war für geht es vor allem um die „Sicherung mo- beiden Seiten der Alpen. Christian Klar bestimmt“, der lekulargenetisch auswertbarer Spuren“. Die Beamten vermuten, wegen terroristischer Morde „Vielleicht“, spekuliert ein hoher Si- dass im umbrischen Giano immer noch im Gefängnis cherheitsbeamter, „öffnet sich ja doch noch ein Treffen europäischer sitzt. Der RAF-Deckname für ein Reißverschluss.“ Vergangenen Don- Linksradikaler stattfand, an die Rotbrigadisten: „Stiefel“. nerstag war im Wiener Landesgericht der dem auch ihre eigentlichen Wo sich Meyer und Andrea Haftprüfungstermin für Klump angesetzt. Zielpersonen teilnahmen – Klump die ganzen Jahre auf- Sie habe signalisiert, so ein Ministerialer, die Mörder des früheren hielten, ist weitgehend unbe- dass sie „grundsätzlich mit einer Ausliefe- Staatssekretärs Massimo kannt. Klar ist, dass beide seit rung nach Deutschland einverstanden ist“. D’Antona.Der einflussreiche 1996 im österreichischen Un- Georg Bönisch, Georg Mascolo, Regierungsberater war am 20. Meyer alias „Spinola“ tergrund lebten. Sonst gab es Hans-Jürgen Schlamp

der spiegel 44/1999 111 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

STROMINDUSTRIE Aus für Obrigheim? it einem verlockenden Angebot legung von Obrigheim vor seinen Ak- Mversucht der Chef des Strompro- tionären gut vertreten. Denn: Bei dem duzenten Energie Baden-Württemberg geplanten Einstieg würden die Franzo- (EnBW), Gerhard Goll, der Politik den sen reichlich Atomstrom aus ihren nicht heftig umstrittenen Einstieg des fran- ausgelasteten Meilern als Hochzeitsge- zösischen Strom- und Atomgiganten schenk für den Schwaben-Konzern mit- EdF in sein Unternehmen schmackhaft bringen. Golls Bauernopfer brächte da- zu machen.Als Gegenleistung für eine mit sogar zusätzlichen Profit: Statt mit politische Unterstützung des deutsch- teurer heimischer Kernkraft könnte ein französischen Milliarden-Deals, deute- deutsch-französischer Stromkonzern te Goll bei einem Kanzler-Gespräch EnBW seine Kunden mit billigerem an, könne er sich vorstellen, das Kern- Franzosen-Strom beliefern. Auch Ba- kraftwerk Obrigheim vorzeitig vom den-Württembergs Ministerpräsident Netz zu nehmen. Die Umsetzung der Erwin Teufel hat als Verkäufer des überraschenden Offerte würde Ger- 25-prozentigen EnBW-Anteils bereits hard Schröder aus einer prekären Si- prinzipielle Zustimmung zu dem Ge- tuation retten. Denn in dem seit Mo- schäft signalisiert, zumal das Angebot naten festgefahrenen Energie-Kon- der Franzosen rund eine Milliarde

senspoker mit der Stromwirtschaft Mark über den Offerten der deutschen A. KULL / VISION PHOTOS braucht die Koalition Konkurrenz liegt. Allerdings will der Triebwerksproduktion (in Dahlewitz) dringend ein Erfolgser- neue EU-Wettbewerbskommissar Ma- lebnis. Das rasche Ab- rio Monti zunächst prüfen, ob die Fran- BMW schalten des ältesten zosen, die ihren eigenen Markt rigoros deutschen Atommeilers vor jedem Wettbewerb abschotten, zu- Milliarden-Desaster käme da sehr gelegen. sammen mit der EnBW eine unzulässi- Goll könnte eine Still- ge Marktmacht ausüben. im Luftfahrtgeschäft Goll, Kernkraftwerk Obrigheim eim Münchner Automobilkonzern BBMW endet der vom ehemaligen Vorstandschef Eberhard von Kuenheim 1990 beschlossene Einstieg ins Trieb- werksgeschäft mit einem Milliarden- Desaster. Die 50,5-Prozent-Beteiligung von BMW an der Gemeinschaftsfirma mit dem Triebwerksbauer Rolls-Royce wird den Münchnern von 1994 bis Ende dieses Jahres einen Verlust von insge- samt 3,2 Milliarden Mark vor Steuern einbringen. Weil ein Ende der Verluste nicht in Sicht war und die Belastungen durch die Sanierung der britischen Ro- ver-Tochter ebenfalls gewaltig sind, steigt BMW jetzt aus dem Triebwerks- geschäft aus. Der Konzern übergibt sei-

FOTOS: FRISCHMUTH / ARGUS ( P. gr.); ( DPA kl.) nen Anteil an der Verlustfirma dem Triebwerksbauer Rolls-Royce und er- hält dafür 33,3 Millionen Aktien von Rolls-Royce, die einem Wert von gerade DEUTSCHE BAHN mal 220 Millionen Mark entsprechen. Diese Finanzbeteiligung kann BMW je- Neue Millionenlast derzeit an der Börse verkaufen, wenn der Autokonzern zusätzliche Mittel ach erheblichen Mehrbelastungen durch Mineralöl-, Mehrwert- und Ökosteuern benötigt. Mehrere Aufsichtsräte dräng- Nwill Finanzminister Hans Eichel nun abermals in die Kassen der Deutschen Bahn ten schon länger auf einen Ausstieg aus greifen: 250 Millionen Mark soll die Bahn jährlich für den Einsatz des Bundesgrenz- dem Triebwerksgeschäft. Kuenheim und schutzes auf den Bahnhöfen zahlen – und sich mit weiteren 100 Millionen an der ge- sein Nachfolger als Aufsichtsratsvorsit- planten Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn beteiligen. zender, Volker Doppelfeld, wehrten sich Die zusätzlichen Belastungen von 350 Millionen Mark würden den gesamten Jahres- jedoch lange dagegen. Durchgesetzt gewinn aufzehren und seien deshalb „nicht mehr verkraftbar“, heißt es im Aufsichts- wurde der Ausstieg jetzt vor allem vom rat der Bahn. Die Entschädigung der Zwangsarbeiter könne ihr nicht angelastet wer- Großaktionär des Unternehmens, der den, weil sie keine Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn sei. Familie Quandt.

der spiegel 44/1999 113 Trends

WERBUNG „Gigantische Kapitalvernichtung“ Konstantin Jacoby, 46, Gründer der Hamburger Werbeagentur Springer & Ja- coby, über die Flut neuer Firmennamen

SPIEGEL: Hoechst heißt bald Aventis, aus British Steel wurde Corus, eine neue RWE-Tochter nennt sich Avanza. Was bringen die neuen Namen? Jacoby: Corus klingt komisch, British Steel dagegen stolz

und groß. Nur wenn AP Firmen nichts mehr Börsenhändler in New York mit ihrer Vergan- genheit zu tun ha- WALL STREET ben wollen, macht so eine Namensän- derung Sinn. Sonst Die neuen Spekulanten ist das eine gigan- tische Vernichtung och riskante Spekulationsfonds sind in den USA wieder im Aufwind. Erst vor von Vertrauenska- Heinem knappen Jahr reagierte das Weltfinanzsystem höchst labil, als der mil- pital. liardenschwere HedgeFund LongTerm Capital Management (LTCM) zusammen- SPIEGEL: Wie kom- brach. Doch die Anleger hat das nicht gebremst: Inzwischen sind wieder über 355

SPRINGER & JACOBY men die Firmen auf Milliarden Dollar in Hedge Funds investiert, so die US-Consulting-Gruppe Cerul- Jacoby so klangvolle Phan- li Associates. Zwar meldeten Branchengrößen wie George Soros zuletzt schlech- tasienamen? tere Ergebnisse.Viele neue Fonds sorgten aber für Aufschwung: Um im Schnitt rund Jacoby: Man nimmt einen Computer 15 Prozent legten solche Fonds der Studie zufolge bis Ende August zu – fast dop- und lässt 58 Millionen Mal die Konso- pelt so viel wie der US-Aktienindex Standard & Poor’s 500. Ein Grund dafür: Die nanten und Vokale durcheinander wir- aggressiven Fondsmanager können auch auf fallende Kurse spekulieren. Während beln. Das Ergebnis wird dann noch bis die US-Aktien seit Monaten stark schwanken, versprechen sich nun zunehmend zum Umfallen getestet. Am Ende heißt auch große institutionelle Investoren bei den riskanten Hedge Funds höhere Ge- das dann „Opel Tigra“. Oder eben Aven- winne – ihr Anteil an den Geldgebern ist inzwischen auf 25 Prozent gestiegen. tis und Avanza. Nach vorn wollen sie of- fensichtlich alle – diese Avantgardisten. SPIEGEL: Lohnt sich der Aufwand? Jacoby: Fraglich. Bei Markennamen sind uralte Kräfte im Spiel: Sie können im DORNIER Leben vieles kaufen – nur keine großen Bäume. Die müssen wachsen. So ist es Satellit für Taiwan? auch mit Namen. Ein Beispiel: Miele war 1990 im Osten die angesehenste egen politischer Rücksich- Hausgerätemarke, obwohl Miele dort 40 Wten der Bundesregierung Jahre lang nicht zu kaufen war. gegenüber der Volksrepublik SPIEGEL: Welches Unternehmen würden China fürchtet Dornier um einen Sie am liebsten umbenennen? Großauftrag, den der Raumfahrt- Jacoby: Die Deutsche Bahn. Wenn ich konzern schon vor Monaten aus das höre, wird mir spontan übel: Die Taiwan erhalten hatte. Der Bun- sind versifft wie Viehwaggons in Usbe- dessicherheitsrat hat keine Ex- kistan. Darum nennen sie ihren portgenehmigung für einen Erd- schicken Zug jetzt „Metropolitan“ und beobachtungssatelliten (Wert: kleben kein DB-Logo dran. 142 Millionen Mark) erteilt, um SPIEGEL: Was halten Sie davon, eine Fir- Peking nach der Botschaftsbom-

ma nach der hellgrauen Wandfarbe ih- bardierung in Belgrad während AP rer Büros, „Elephant Seven“, zu taufen? des Kosovo-Krieges nicht erneut Dornier-Satellitenfabrik (in Ottobrunn) Jacoby: Sie meinen unsere Multimedia- zu verärgern. China betrachtet tochter? Das war meine Spontanidee: das de facto souveräne Taiwan noch immer als Teil seines Herrschaftsgebiets. Eine Damals gab’s schon so viele neue Fir- Genehmigung nach dem in diesen Tagen geplanten Besuch von Bundeskanzler men mit Bits, Pixels, Bizzy-Fuzzy – das Schröder in Peking käme aber womöglich zu spät – denn Taiwan dringt auf zügige vergisst doch jeder sofort. Ich hab dann Lieferung. Vertreter des französischen Dornier-Konkurrenten Matra versprachen in auf die Wand geguckt und die Farbe Taiwan, sie könnten sofort liefern. Beim sinofranzösischen Gipfel Ende Oktober hat- „Elephant Seven“ entdeckt. te Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin dem Deal zugestimmt.

114 der spiegel 44/1999 Geld

Internet-Aktien in Euro 100 160 80 80 CD NOW AMAZON AOL 22 LAND'S END ETOYS 80 70 120 60 18 60 60 80 Quelle: Datastream 14 40 50 40 40 40 10 20 20 1999 1999 1999 1999 1999 30 0 6 Jan. Okt. Jan. Okt. Jan. Okt.Jan. Okt. Juni Okt.

INTERNET-AKTIEN weltweit größten Internet-Kaufhaus. Auch die Online-Buch- handlung Barnesandnoble.com, an der Bertelsmann zu 50 Prozent beteiligt ist, hofft auf Zuwächse. Beliebte Adressen Fröhliche E-Christmas sind auch der Spielzeugversender Etoys und der Musikshop CDNow. Der Versandhändler Land’s End betreibt bereits die ktionäre von Internet-Anbietern freuen sich schon jetzt weltgrößte Internet-Abteilung für Bekleidung. Zu den Gewin- Aauf fröhliche Festtage. In dieser Weihnachtssaison, so nern des Weihnachtsgeschäfts rechnen Analysten auch das Auk- schätzen Experten, werden sich die Online-Verkäufe weltweit tionshaus eBay und den Internet-Dienst America Online. Die auf zwölf Milliarden Dollar verdreifachen. Allein in den USA Kurse etlicher Anbieter sind seit dem Sommer bereits kräftig wollen Umfragen zufolge 30 Millionen Menschen ihre Ge- gestiegen, von ihren Höchstständen zumeist aber noch weit ent- schenke per Internet ordern. Von dem Online-Boom werden fernt. Keineswegs werden alle Internet-Aktien anziehen, war- vor allem die bekannten US-Konzerne profitieren. Bücher, nen Analysten, vor allem kleinere Anbieter seien oft schlecht CDs und Spielzeug kaufen die Internet-Shopper nach einer auf den Ansturm vorbereitet. Schon im Vorjahr kamen einige Analyse von Forrester Research am liebsten bei Amazon, dem tausend Präsente zu spät oder gar nicht beim Empfänger an.

HANDY-AKTIEN Zinstal durchschritten „Strong buy“ Effektivzins für Baudarlehen mit zehnjähriger Laufzeit ur selten gab es unter professionellen Analysten in Prozent Nso viel Einigkeit: Aktien der drei großen Handy- Hersteller Nokia, Ericsson und Motorola, so ihr Fa- zit, seien eine prächtige Geldanlage, denn der welt- weit boomende Handy-Markt biete weiterhin gute 6,4 Wachstumschancen. Besonders beliebt bei den Ex- 11 perten ist der finnische Konzern Nokia. Von der 9 6,0 Deutschen Bank über Goldman Sachs bis hin zur Sparkasse Norden raten die Bankexperten zum 7 „Kaufen“ oder „Übergewichten“ und vergeben so- 5 5,6 gar das Höchstprädikat „Strong buy“. Dabei haben 1970 80 90 99 die Aktien der Handy-Spezialisten schon einen stei- len Anstieg hinter sich, der selbst durch Meldungen 5,2 über schrumpfende Gewinne bei Ericsson oder die 1999 Pleite des Satelliten-Telefondienstes Iridium, bei 4,8 Jan. März Mai Juli Sept. dem Motorola das Sagen hat, kaum gebremst wurde. BONN-SEQUENZ Besonders kontinuierlich stieg das Nokia-Papier: Seit Ende 1997 hat sich sein Kurs verfünffacht. HYPOTHEKEN

Handy-Aktien in Euro Bauen wird teurer ERICSSON MOTOROLA100 NOKIA 100 teigende Zinsen haben in diesem Jahr die Kosten für den Hausbau 36 90 90 Skräftig in die Höhe getrieben. Gegenüber dem Februar, als die Hypo- 32 thekenzinsen auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren gefallen waren, sind 80 80 28 die Kapitalkosten um zwölf Prozent gestiegen – nach einer Faustregel 70 70 verteuert eine Zinserhöhung von einem Prozent den Bau um insgesamt 24 60 60 acht Prozent. Mit einem Effektivzins von derzeit knapp 6,4 Prozent für 20 Kredite mit zehnjähriger Laufzeit sind Hypothekendarlehen allerdings 1999 1999 50 1999 50 immer noch günstig; im Schnitt der letzten 30 Jahre lag der Effektivzins JOJOJObei knapp neun Prozent. Nahezu alle Experten rechnen jedoch damit, Quelle: Datastream dass Baugeld im nächsten Jahr nochmals teurer wird.

der spiegel 44/1999 115 Wirtschaft

Heribert Zitzelsberger Klaus Gretschmann

Der Steuerexperte SCHUERING W. Der Währungsfachmann Beamteter Staatssekretär Leiter der Abteilung Wirtschafts- im Finanzministerium und Finanzpolitik im Kanzleramt

WIRTSCHAFTSPOLITIK „Der ruft einfach nicht an“ Nach einem Jahr an der Macht hat der Kanzler bei den Unternehmern viel an Kredit verspielt. Dabei verfügt die Regierung über angesehene Wirtschaftsberater, doch deren Sachverstand wird kaum genutzt. Das System Schröder läuft auf hohen Touren – im Leerlauf.

ach dem rot-grünen Wahlsieg wa- tung für die Akteure in Berlin zu verbergen che Rahmendaten und damit Planungs- ren die Wirtschaftsgrößen des – selbst wenn die dabei sind. Warum sie sicherheit. NLandes zunächst neugierig, dann sich eigentlich auf einen Ausstieg aus der Die Herren der Wirtschaft verstehen schweigsam, jetzt sind sie nur noch empört. Kernenergie im Konsens mit der Regierung ihren Kanzler nicht mehr. Der Mann, der Die Präsidenten von Industrieverband, einlassen sollten, fragten Ende Oktober die ihnen als Ministerpräsident so nahe stand, Handwerkskammer und Arbeitgeberverei- Vorstandsvorsitzenden der vier größten der für sie die Weser ausbaggerte und nigung attackieren den neuen Kanzler fast Energiekonzerne Wirtschaftsminister Wer- Pipelines durchs Wattenmeer zog, versagt täglich. Seine Steuerpolitik sei „absurd“ ner Müller. „Was gibt uns die Gewähr, dass in ihren Augen auf der Bundesbühne. (BDI-Chef Hans-Olaf Henkel), zahlreiche ihr euch an euren Teil der Abmachung Wie erklären sich all die handwerklichen Gesetze gingen „zu Lasten der Wirtschaft“ haltet?“, wollten sie wissen. Müller habe, Mängel, die beinahe jedem Gesetz eine (Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt), die so berichtet ein Teilnehmer, wenig zu er- Korrekturfassung folgen lassen? Wo sind Regierung fahre auf „Zickzackkurs“ (Hand- widern gewusst. vor allem seine Berater, fragen sich viele. werkspräsident Dieter Philipp).Als am ver- Nach nur einem Jahr an der Regierung Dass der Kanzler über kenntnisreiche gangenen Mittwoch SPD-Fraktionschef Pe- haben Schröder und seine Truppe bei der Fachleute in seiner Mannschaft verfügt, ist ter Struck auch noch die Aufweichung des Wirtschaft viel an Kredit verspielt. Der selbst unter Managern unbestritten. Bankgeheimnisses forderte, schüttelten vie- Kanzler der Wirtschaft, als der sich Schrö- Hat nicht erst kürzlich Bundesfinanz- le nur noch den Kopf. „Bild“ titulierte den der gern selbst sieht, ist in den Augen der minister Hans Eichel mit Heribert Zitzels- Genossen als „Schnüffel-Struck“. Unternehmer entzaubert. „Das Verhältnis berger einen der angesehensten Steuer- Auch die eher zurückhaltenden Chefs zwischen dem Regierungschef und der experten der deutschen Industrie vom der Großkonzerne murren oder verwei- Wirtschaft ist mittlerweile genauso zerrüt- Chemieriesen Bayer abgeworben und zu gern sich. Erst kürzlich hatte Schröder ein tet wie am Ende der Ära Kohl“, stellt ein seinem Staatssekretär gemacht? Dient nicht Dutzend von ihnen geladen – nicht alle ka- Beamter im Kanzleramt resigniert fest. Alfred Tacke, in Niedersachsen industrie- men. „Da gehe ich nicht mehr hin“, sagte Verärgert sind die Unternehmensfüh- politischer Tausendsassa, heute als Staats- einer der Vorstandschefs. Ihm sei längst rer vor allem, weil die Vorhaben der rot- sekretär im Bundeswirtschaftsministerium? unverständlich, welchen wirtschaftspoliti- grünen Regierungsriege, gleichgültig ob Dort wirkt auch Siegmar Mosdorf als schen Kurs die Regierung eigentlich ver- bei der Umwelt-, Sozial- oder Steuerpoli- Parlamentarischer Staatssekretär, jener folge. „Was soll ich also da rumsitzen?“ tik, für sie mittlerweile völlig unkalku- Mann, der zur Globalisierung schon alles Manche Wirtschaftsführer geben sich lierbar sind. Sie vermissen das, was für gedacht und geschrieben hat, der mit überhaupt keine Mühe mehr, ihre Verach- Investitionen unabdingbar ist: verlässli- großem Erfolg die Enquetekommission

116 der spiegel 44/1999 F. OSSENBRINK F. CH. KELLER Siegmar Mosdorf Alfred Tacke

J. H. DARCHINGER J. Der Stratege Der Krisenmanager Parlamentarischer Staatssekretär Beamteter Staatssekretär im im Wirtschaftsministerium Wirtschaftsministerium des Bundestags zur Zukunft der neuen Me- Rubin startete seine politische Karriere im letzt nebenbei an der Universität Regens- dien leitete. Und selbst im Kanzleramt sitzt Beraterkränzchen des Weißen Hauses. Er burg lehrte, wider bessere Erkenntnis ein doch mit Klaus Gretschmann ein öko- kam von der Wall Street. hoch kompliziertes Unternehmensteuer- nomisches Allround-Talent, vielsprachig, Der Politikbetrieb in Deutschland tut recht basteln. unideologisch und pragmatisch. sich schwer, Seiteneinsteiger aufzunehmen. Schröder bräuchte nur die von Lafon- Schröder scheint es gleichgültig, welchen Das Problem: Die meisten Ministerialbe- taine verordnete Spreizung der Tarife zu Fundus an Fähigkeiten und Erfahrungen amten empfinden die Externen als Stören- widerrufen. Dann wäre ein Steuersystem er für sich und seine Politik nutzbar ma- friede, die Karriereposten verstopfen. Die aus einem Guss möglich, mit niedrigen chen könnte. Die Berater haben kaum was Politiker lassen sich gelegentlich beraten, Sätzen für Unternehmen und Privatleute. zu tun, am allerwenigsten arbeiten sie für entscheiden wollen sie ganz allein. Dann könnte Zitzelsberger, wie er es sich Schröder. Das letzte längere Vier- im kleinen Kreis des Öfteren augengespräch, so Staatssekretär wünscht, steuerpolitisch das „ganz Tacke gegenüber Vertrauten, fand große Rad drehen“: ein einfaches kurz nach der Wahl statt. System, niedrige Sätze und eine Andere Regierungschefs ver- „ganz erhebliche Entlastung“. trauten ihren Männern in der Das Drehen großer Räder war zweiten Reihe mehr an und trau- in Niedersachsen das Markenzei- ten denen auch mehr zu – nicht chen Alfred Tackes. Als Staats- zuletzt Schröders Amtsvorgänger sekretär im Wirtschaftsministe- Helmut Kohl. rium fungierte er als Schröders Der hielt sich mit seinem Wirt- Allzweckwaffe. Wo immer es schaftsabteilungsleiter und späte- klemmte, beherzt griff Tacke ins ren Staatssekretär im Wirtschafts- Räderwerk der Wirtschaft ein. ministerium Johannes Ludewig ei- Das gehorchte nicht immer den

nen regelrechten Hof-Ökonomen. MELDEPRESS Regeln der reinen Lehre, war für Der kleine Mann mit Schnauzer Kabinettssitzung: Verachtung für die Akteure in Berlin ihn und seinen Mentor aber höchst bestimmte zeitweilig den ökono- erfolgreich. Sein größter Coup war mischen Kurs der Kohl-Regierung, den Auf- Die Experten können zuweilen nicht die vorübergehende Verstaatlichung der bau Ost managte er fast im Alleingang. mehr tun, als Schlimmeres zu verhindern. Preussag Stahl AG. Eine Aktion, die Schrö- Auch die Clinton-Administration hätte So ergeht es derzeit Staatssekretär Zitzels- der den Wahlsieg bei den Landtagswahlen ohne brillante Zuarbeiter in der zweiten berger mit der geplanten Unternehmen- und damit die Kanzlerkandidatur sicherte. Reihe ihr Wirtschafts- und Job-Wunder steuerreform. Die krankt noch immer an In Berlin ist Zupacker Tacke abgetaucht. nicht zu Stande gebracht. Clintons jetziger den ideologischen Vorgaben des früheren Er äußert sich nicht mehr in der Öffent- Finanzminister Larry Summers begann als Finanzministers Oskar Lafontaine. Nur die lichkeit, anders als sein Vorgänger Ludewig. wirtschaftspolitischer Berater. Er gilt als Steuersätze für Unternehmen sollten sin- Das Gleiche gilt für den mehrfachen Buch- ebenso arrogant wie genial, unbestritten ken, nicht die für normale Steuerpflichtige. autor Mosdorf. In seinem jüngsten Werk, aber, dass er ein exzellenter Wirtschafts- So muss Zitzelsberger, der vor seiner das er zusammen mit dem grünen Vorden- wissenschaftler ist. Er war der jüngste Har- Zeit in der Industrie schon Referatsleiter ker Hubert Kleinert verfasst hat, beschreibt vard-Professor in der Geschichte der Elite- im Finanzministerium war, in seiner Frei- er präzise, an was es in Deutschland man- Universität.Auch Summers Vorgänger Bob zeit promovierte und habilitierte und zu- gelt: an unternehmerischem Wagemut,

der spiegel 44/1999 117 Wirtschaft

weshalb er Freiheit für Innovationen und größere Akzeptanz gegenüber den neuen Technologien fordert. Während Kanzler Schröder Worthülsen Das Geisterschiff wie die „digitale Revolution“ in seine Re- den einflicht, um sich zeitgemäß zu geben, Wie Ex-Lafontaine-Berater Wolfgang Filc das alltägliche war Mosdorf einer der ersten Politiker in Chaos im rot-grünen Regierungsalltag erlebt hat Deutschland, der die wirtschaftliche Macht und die Möglichkeiten des Internet er- ür den Wirtschaftsprofessor aus Auch mit dessen Staatssekretär Hei- kannte. Im Alleingang konzipierte er zu- Trier war es ein Ausflug in die ner Flassbeck seien keine tief schür- dem noch zu Oppositionszeiten ein Öko- Fganz große Welt. Fünf Monate fenden Gespräche zu Stande gekom- steuer-System, aus dem sich Vertreter aller lang, von Dezember 1998 bis Mai 1999, men, erinnert sich Filc: „Sie sind an Parteien anschließend bedienten. saß der Akademiker Wolfgang Filc als den Fingern einer Hand abzuzählen“. Heute nutzt Schröder Mosdorfs Exper- Ministerialdirektor im Bundesfinanz- Makroökonom Flassbeck habe sich tise nur wenig. Seit Monaten schon sucht ministerium.Als hochrangiges Mitglied ganz auf die große Linie konzentriert der Kanzler keinen Rat und keine Auskunft einer Beratergruppe rund um den da- und nicht wissen wollen, warum Wech- mehr. „Der ruft einfach nicht an“, beklag- maligen Finanzminister Oskar Lafon- selkurse schwanken können. te sich der Staatssekretär bei Vertrauten. taine sollte der Ökonom das Welt- Immerhin reichte es einmal, am Ran- Schröder beschädigte ihn auch noch: Erst finanzsystem neu ordnen. de einer internationalen Finanzkonfe- brachte er Mosdorf als neuen Verkehrsmi- Von dem Rollenwechsel war der Sei- nister ins Gespräch, dann ent- teneinsteiger offenbar so fasziniert, schied er sich doch lieber für dass er die Erinnerungen an seine Kurz- den Traditionalisten und saar- karriere als Buch verarbeitete**. Er ländischen Wahlverlierer Rein- schildert Banales („In Bonn stand ich hard Klimmt – aus taktischen um 7.00 Uhr auf, aß eine Scheibe Gründen. Brot“), Persönliches („In meinem Be- Das Problem der Berater ist rufsleben war ich gewohnt, in jeder nicht allein, dass Schröder ihnen Gruppe zumindest zu den ersten Drei nicht zuhört. Auch untereinan- zu gehören“) und Geheimnisvolles der sind sie nur unzureichend („Im Finanzministerium war zumindest vernetzt. Niemand kanalisiert ein U-Boot tätig, das gegen den Fi- Ideen, keiner verteilt Aufträge, nanzminister arbeitete“). nicht einmal die drängendsten Vor allem aber enthüllt der wackere Vorhaben werden koordiniert.

Streiter für politisch korrekte Wechsel- ARGUM Stattdessen geben sich die kurse Alltagsszenen aus der Chefetage Minister Lafontaine*: „Da passte wenig zusammen“ Ökonomen dem Stress des Ta- des Ministeriums – und da geht es of- gesgeschäfts hin. Mosdorf ver- fenbar zu wie in einem schlecht orga- renz, zu einem abendlichen Bier mit tritt seinen Minister bei Verbandstagen und nisierten Kaninchenzüchterverein. Lafontaine und Flassbeck, was den iso- im Bundestag, Gretschmann fliegt als Sher- „Da passte wenig zusammen“, resü- lierten Wissenschaftler versöhnte: Er pa des Kanzlers um den Erdball. Für kon- miert der Ex-Abteilungsleiter für In- fühlte sich „im Banne der Persönlich- zeptionelles Arbeiten findet er kaum Zeit, ternationale Finanz- und Währungsbe- keit von Oskar Lafontaine“. vielleicht mal auf dem Rücksitz seines ziehungen: „Keiner wusste von dem Mit dem Bundeskanzleramt hatte Dienstwagens oder im Flugzeug. anderen, es gab keine gegenseitige In- Filc wenige, aber drastische Erlebnisse. Zitzelsberger ist, wie vergangene Wo- formation zwischen den Abteilungen, So sei eines seiner Papiere zur Wäh- che auf dem Steuerberatertag in Dresden, Abstimmungen auf höherer Ebene fan- rungspolitik dort stark verändert immer wieder damit beschäftigt, die Hin- den kaum statt.“ So habe es in seiner worden, als Übeltäter machte er den terlassenschaft von Lafontaine und dessen Dienstzeit gerade mal eine Bespre- volkswirtschaftlichen Leiter Klaus Gefolge zu beseitigen. In Dresden kündig- chung zwischen den Abteilungsleitern Gretschmann aus. Ein Mitarbeiter des te er an, das Steuerbereinigungsgesetz für gegeben, und die fand ohne Staats- Spitzenbeamten habe ihm barsch er- das nächste Jahr werde Maßnahmen, die sekretär und Minister statt. klärt, es gebe keinen Konsens zwischen Lafontaine ins Steuergesetz schreiben ließ, Der Neu-Ministeriale freute sich an- Kanzleramt und Finanzminister in wieder rückgängig machen. fangs über eine grenzenlose Freiheit: Währungsfragen. „Der in der Hierar- Der Unmut in der Wirtschaft wächst „Ich konnte bei konzeptionellen Fra- chie nachrangig eingeordnete Beamte“ derweil weiter. Selbst Schröders Freunde gen machen, was ich wollte. Der Mi- habe ihm übers Telefon zugeschrien, aus der Autoindustrie, die den bekennen- nister fragte nicht ein einziges Mal da- „dass jede Kooperation in Wäh- den Automann noch am längsten geschont nach.“ Es habe mit Lafontaine keine rungsfragen zwischen Ländern immer haben, gehen auf Distanz. „Wir können inhaltlichen Gespräche gegeben – nur zu Lasten Deutschlands gehe“ und auf den weltweiten Märkten nur erfolg- „hierfür blieb dem Minister wohl kei- dass dem Kanzler „die ganze Richtung reich sein, wenn die Rahmenbedingungen ne Zeit“. Ausgerechnet auf einem nicht passt“. stimmen“, ermahnte BMW-Chef Joachim Schlüsselgebiet seiner Politik hat sich Nach Lafontaines Flucht war es auch Milberg bei der Eröffnung der Berliner Lafontaine demnach für Konkretes we- um Helfer Filc geschehen. Zum ersten Konzernrepräsentanz den anwesenden nig interessiert. Mal durfte der Professor jetzt das Büro Kanzler. des Ministers betreten: Der neue Amts- Auch ein anderer ehemaliger Schröder- * Mit Wim Duisenberg (l.) am 15. Januar. chef Hans Eichel teilte ihm im Sie- Fan ist mehr als enttäuscht. „Meine Er- ** Wolfgang Filc: „Mitgegangen, mitgehangen – Mit Lafontaine im Finanzministerium“. Eichborn Verlag, ben-Minuten-Gespräch die Entlassung wartungen sind Erwartungen geblieben“, Berlin/Frankfurt am Main; 208 Seiten; 24,80 Mark. mit. Hans-Jürgen Jakobs sagt Unternehmensberater Roland Berger, „Schröder hat manches anders, aber nichts besser gemacht.“ Christian Reiermann

118 der spiegel 44/1999 Werbeseite

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Fast immer sitzen die Pro- AUTOINDUSTRIE duktpiraten im Ausland, haupt- sächlich in Osteuropa und Da fliegen Asien. Dort sind die Fälschun- gen wesentlich weiter verbreitet als hier zu Lande. Ein Zulieferer die Splitter schätzt, dass ihn Plagiate in ei- nigen Ländern um die Hälfte Autohersteller und Zulieferer des Umsatzes bringen. In Deutschland würden registrieren einen Boom im die Piratenteile überwiegend Handel mit gefälschten Ersatz- über „Ameisenkanäle“ vertrie- teilen. Die Plagiate sind ben, sagt Manfred Lotze vom billig – und oft lebensgefährlich. Düsseldorfer Detektiv-Institut Kocks: „Plagiate werden meist ein Gesicht ist nicht für die Öffent- als Überproduktion ausgegeben lichkeit bestimmt. „Keine Fotos“, und über persönliche Kontakte, Sinsistiert Steffen Dörner. Der 56- telefonisch oder per Zeitungs- Jährige sorgt sich um seine körperliche inserat angeboten.“ Unversehrtheit, sollte sein Bild in der Pres- Verkauft werden sie dann in se erscheinen. „Ich bin oft in Osteuropa Hinterhofwerkstätten und auf unterwegs“, sagt er, „da kann schnell mal Flohmärkten. Immer wenn au-

was passieren.“ A. PENTOS ßerhalb von Vertragswerkstät- Dörner ist für die Kölner Ford-Werke Plagiatsfahnder Brormann: Enorme Risiken ten vermeintliche Originalteile AG auf der Jagd nach Produkt- und Mar- mit den Markenzeichen der kenpiraten. Denn die produzieren nicht niert, finden sich derzeit mehrere Porsche- Autohersteller angeboten würden, solle nur gefälschte Boss-Anzüge und Rolex- Bremsbeläge, die nicht von Porsche stam- man misstrauisch werden. „Aber auch Uhren, sondern immer häufiger auch men – „drei Vollbremsungen, und die sind seriöse Händler sind nicht vollständig da- Autoersatzteile – Fußmatten und Felgen, hinüber“, sagt Rolf Brormann, Vize-Chef vor gefeit, auf Fälscher reinzufallen“, sagt Bremsanlagen und Blinker, Kotflügel und der Zentralstelle. Doris Möller, Vorstandsmitglied des Ak- Kraftstoff-Filter. Jedes zehnte Ersatzteil in Über Unfälle durch gefälschte Ersatz- tionskreises der Deutschen Wirtschaft ge- der Europäischen Union ist inzwischen teile gibt es keine Statistiken – weil bei der gen Produkt- und Markenpiraterie. eine Fälschung, schätzt der Verband der Unfallforschung nicht danach gesucht wer- Für das Kölner Zollkriminalamt sind Automobilindustrie. Produktpiraten be- de, meint Ralf Scheibach, Leiter der VDA- gefälschte Ersatzteile „längst keine Ein- reiten den großen deutschen Fahrzeug- Rechtsabteilung beim Automobilverband. zelfälle mehr“, so Behördensprecher herstellern jährliche Umsatzverluste zwi- Nicht die Technik, sondern menschliches Leonhard Bierl. Im vergangenen De- schen jeweils 40 und 100 Millionen Mark, Versagen werde in der Regel für einen zember beschlagnahmte der Zoll im so der Verband. Crash verantwortlich gemacht. Scheibach: Hamburger Hafen 7500 Felgen aus der „Sprunghaft“ habe das Phänomen in „Wie soll ein Polizeibeamter vor Ort auch Türkei, die das Opel-Zeichen trugen. Im den vergangenen Jahren zugenommen, erkennen, dass ein Plagiat der Grund für Januar fingen dieselben Ermittler vier sagt auch Gerhard Voth, Chef der Patent- einen Unfall war?“ Container mit nachgebauten General- abteilung beim Zulieferer Mann und Prominentestes Opfer von Produktfäl- Motors-Schalldämpfern ab, einen Monat Hummel. Ford richtete als erster Automo- schern ist wahrscheinlich Formel-1-Pilot später an der tschechischen Grenze ei- bilhersteller eine eigene Ermittlergruppe Mika Häkkinen. Im vergangenen Jahr war nen Sattelzug mit gefälschten Fußmatten gegen Teilefälscher ein. der Finne beim Großen Preis von San Ma- des US-Konzerns. Es geht den Konzernen nicht allein ums rino in Runde 17 ausgeschieden – Getrie- Der Zoll findet nach eigener Einschät- entgangene Geschäft: Gefälschte Teile ber- beschaden, verursacht durch ein minder- zung nur einen Bruchteil der tatsächlich gen vor allem enorme Risiken für die wertiges Kugellager. Das Teil, erklärte geschmuggelten Plagiate. Die Beamten Autofahrer und damit fürs Image der Her- McLaren später vor der Presse, sei einem können an den Grenzen bloß zwei bis steller. „Autos mit eingebauten Plagiaten Zulieferer vermutlich von Produktfäl- drei Prozent aller Einfuhren „beschauen“. sind tickende Zeitbomben auf unseren schern in Asien untergeschoben worden. Und sie haben es oft schwer, Original und Straßen“, sagt Opel-Manager Gerd Roth. Bis heute konnte der Rennstall die Her- Fälschung zu unterscheiden. Ford be- Es gibt nach seinen Angaben Motorhau- kunft des Kugellagers nicht aufklären. nutzt deshalb seit Jahren Etiketten, bei ben ohne Sollbruchstellen, „die schieben denen das Firmenlogo unter sich bei einem Auffahrunfall in den In- UV-Licht sichtbar wird, Daim- nenraum“. Auch Windschutzscheiben aus lerChrysler seit kurzem Ver- Fensterglas seien auf dem deutschen packungen, die mit Hologram- Markt. „Da fliegen bei einem Unfall die men gekennzeichnet sind. Splitter wie Dolche nach innen.“ Ab und zu staunen die Kon- Selbst nachgemachte Fußmatten seien zerne allerdings über die her- gefährlich, sagt Ford-Mann Dörner: „Sind vorragende Qualität der Pla- sie nicht aus dem richtigen Material, kön- giate. Ein Produktpirat, der in nen sie unter das Bremspedal rutschen.“ der Türkei Mercedes-Sterne Bei Fälschern beliebt sind vor allem alle gefertigt hatte, sei von Daim- Komponenten der Bremsanlage. In der lerChrysler „einfach umge- Asservatenkammer der Zentralstelle Ge- dreht“ worden, berichtet ein werblicher Rechtsschutz in München, die Branchenkenner. „Der war so

republikweit die Beschlagnahme von Pi- BILD A. LINDLAHR / AUTO gut, dass er offizieller Lieferant ratenprodukten an den Grenzen koordi- Plagiatsopfer Porsche: Gefährliche Bremsbeläge wurde.“ Olaf Storbeck

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baut derzeit für 1,4 Milliarden Dollar ein Stahlwerk, die Messegesellschaften von ASIEN Hannover, Düsseldorf und München planen ein großes Ausstellungsgelände. Breite Avenuen, Parks, Golfplätze und Chinas Größenwahn Villenanlagen kommen demnächst hinzu; sie sollen Pudong zum „Tor für den riesi- So viel Leerstand war nie: In Schanghai purzeln die Preise für gen China-Markt“ machen. Doch der Traum wird allmählich zum Immobilien ins Bodenlose. Viele Investoren haben sich verhoben. Alptraum – die Stadt hat sich übernom- men. Zahlreiche neue Bürotürme sind der- ls der alte Mann 1992 zum letzten zeit nur zur Hälfte besetzt, andere stehen Mal in den Süden seines Reiches Der Absturz ganz leer. Ein Merkmal der Stadt ist in die- Areiste, hatte er Revolutionäres im Vermietungsindex der Firma CB Richard sen Tagen das chinesische Zeichen „Zu“, Sinn. KP-Patriarch Deng Xiaoping, damals Ellis (Büroflächen in Schanghai) das in langen Bannern von den Häusern 88, wollte die ineffektive Planwirtschaft hängt: „Zu vermieten“. mit den scharfen Zutaten des Kapitalis- INDEX: 1993 = 100 Zwei Millionen Quadratmeter, so schät- mus würzen. 140 zen Immobilienhändler, liegen derzeit in So entstanden in den Provinzen Kan- Pudong brach, Tendenz steigend. Japani- ton, Fujian und Hainan Sonderwirt- 100 sche Investoren verschoben deshalb bis vor schaftszonen, die ausländische Unterneh- kurzem ihren 676-Millionen-Dollar-Plan, men mit großzügigen Steuernachlässen das „Schanghai Weltfinanz-Zentrum“ zu anlockten. Allenthalben wuchsen neue 60 bauen. Der Platz, auf dem der zweithöchs- Stadtviertel, aus Reis- und Gemüsefeldern te Kasten der Welt (460 Meter) ragen soll- erhoben sich Auto- und Startbahnen, aus 20 te, liegt brach. kleinen Fischerhäfen wurden Container- Schanghais Mieten, einst mit die höchs- terminals für Ozeanriesen. Die Wirtschaft 19909192 93 94 95 96 97 98 99 ten der Welt, purzeln in die Tiefe. Ein deut- im Süden Chinas wuchs seither jedes Jahr sches Unternehmen muss im Merchants zeitweise um über 15 Prozent. dem Meer“, wie Schanghai auf Chine- Tower von Pudong anstatt der ursprünglich Für Schanghai, die alte Handelsstadt am sisch heißt. geforderten 1,10 Dollar pro Quadratmeter Huangpu, hatte der Alte eine besondere Jeder fünfte Baukran der Welt, verkün- und Tag nur noch 39 Cent bezahlen. Direktive: „spürbare Änderungen jedes dete Bürgermeister Xu Kuangdi jüngst „Es gibt eine Menge nutzloser Gebäude Jahr, entscheidende alle drei Jahre“. stolz, dreht sich mittlerweile in seiner Me- mit niedriger Qualität in Pudong“, sagt Die Stadtväter nahmen sich seine Wor- tropole. Vor allem am Ostufer des Huang- Sam Crispin von der Schanghaier Filiale te zu Herzen. Kaum eine chinesische Me- pu, im einst als rückständig verachteten der US-Maklerfirma FPD Savills. Seine tropole hat sich in den vergangenen Jahren Stadtteil Pudong, stehen nun modernste düstere Prognose: „Viele werden wohl so heftig gewandelt wie die „Stadt über Fabriken und Werkhallen. Krupp-Thyssen noch eine lange Zeit leer bleiben.“

Investoren-Alptraum Schanghai: „Spürbare Veränderungen jedes Jahr, entscheidende alle drei Jahre“ GAMMA / STUDIO X Die Verluste japanischer, thailändischer und Hongkonger Unternehmen dürften täglich in die Millionen gehen. Manche versuchen bereits, die Immobilien wieder loszuschlagen. Die meisten leer stehenden Projekte gehören allerdings einheimischen Bauherren. Peking zwang viele Betriebe, Banken, Provinzregierungen und Ministe- rien, sich in Pudong anzusiedeln: So sollten ausländische Investoren angelockt werden. Nicht nur in Pudong zeigt sich, dass die Chinesen in den vergangenen Jahren zu schnell und zu groß geplant haben: In der Sonderwirtschaftszone Shenzhen vor den Toren Hongkongs reicht der bereits fertige Platz für die nächsten drei Jahre aus. Und in der Hauptstadt Peking „schneiden sich Bauherren und Eigentümer gegenseitig die Kehle durch“, um Mieter abzuschleppen, berichtete die von der Stadtregierung fi- nanzierte Zeitschrift „Business Beijing“. Sinnfälliges Beispiel für den Ehrgeiz der Pekinger, ihre Stadt mit prestigeträchtigen, aber womöglich überflüssigen Projekten zu schmücken, ist der Glaspalast des Hong- konger Tycoons Li Kashing an der Straße des Ewigen Friedens. Er durfte in Chinas bester Lage, nicht weit vom Tiananmen- Platz entfernt, das „Oriental-Plaza“ er- richten: 300000 Quadratmeter Wohn- und Bürofläche, für die er bei dem Überange- bot nach Meinung von Immobilienhänd- lern so leicht keine Kunden finden dürfte. Die Immobilienkrise spiegelt die Unsi- cherheit über Chinas wirtschaftliche Zu- kunft wider. Die Symptome im Reich der Mitte ähneln denen der asiatischen Grippe in den Nachbarländern: wuchernde Kor- ruption und Vetternwirtschaft, windige Projekte, Not leidende Kredite. Chinas Banken haben inzwischen mehr Außen- stände als die maroden Geldhäuser Thai- lands und Südkoreas zusammen. „Eine beträchtliche Zahl von Krediten verschwindet wie Steine, die ins Meer ge- worfen werden“, sorgte sich jüngst die un- ter anderem von der Zentralbank heraus- gegebene Finanzzeitung „Jinrong Shibao“. Die Schanghaier hoffen, dass sich ihre Lage im 50. Jahr der Volksrepublik China, das am 1. Oktober begann, verbessert. Auf Pudongs neuem internationalen Flugha- fen, gerade erst eingeweiht, sollen neue Investoren landen, so die Hoffnung. Gleich- zeitig will die Stadtregierung durch einen Tunnel unter dem Huangpu-Fluss das Fi- nanzzentrum mit dem Rest der Stadt ver- binden, um so die Attraktivität der Stadt für Ausländer zu erhöhen. Wie Eltern, die „dem Kind ein wenig zu große Kleider kaufen, in die es später hineinwachsen kann“, habe man in Pu- dong halt für die Zukunft geplant, be- gründet Pressesprecher Hua Xinxiang den Bauboom. Immobilienhändler Crispin hält dies für wenig vernünftig: „Man kauft doch einem Säugling nicht Schuhe der Größe 46.“ Andreas Lorenz

der spiegel 44/1999 Munitioniert mit einem 132- Seiten-Gutachten der Münch- ner Wirtschaftsprüfungsge- sellschaft BDO holten die neuen Herren zum entschei- denden Schlag gegen die alte Hypo-Führung aus.Weil Mar- tini und seine Mannen kein funktionierendes Kontroll- system für ihre Kreditrisiken aus Immobiliengeschäften in- stalliert hatten, so stellen es die Prüfer fest, hätten sie dro- hende Verluste aus waghalsi- gen Grundstücksgeschäften um 3,6 Milliarden Mark zu niedrig bewertet. Damit, fol- gern die Experten, sei auch der 97er-Bilanzabschluss der Hypo-Bank null und nichtig. So etwas wurde vor Martini

N. NORDMANN noch keinem anderen Bank- Ehemalige Hypo-Zentrale (in München): Berauscht von den eigenen Großtaten chef bescheinigt. Verstehen möchte oder kann Martini das alles noch immer nicht. Wohl auch, weil HYPOVEREINSBANK zum Verständnis gehört, dass der Bank- manager erkennt: Schuld an seinem Ab- sturz sind nicht nur die anderen. Opfer oder Täter? Bis zuletzt weigerte sich der Spross einer Augsburger Fabrikantenfamilie, von einem Der Sturz des Eberhard Martini: Der zurückgetretene Wirtschaftsblatt einst als „Deutschlands unkonventionellster Banker“ gefeiert, zu- HypoVereinsbank-Aufseher will die Schuld nicht allein auf sich zugeben, dass er Fehler gemacht hatte. nehmen. Hypo-Kontrolleure hätten die Schummelei gedeckt. Stattdessen beschimpfte er öffentlich sei-

o haben ihn nur wenige erlebt. Leicht Hypo-Bank mit seinen Auf- abgemagert und um Haltung bemüht, sichtsratskollegen der fusio- Snahm Eberhard Martini am vergan- nierten HypoVereinsbank die genen Dienstag zusammen mit seiner Frau neuesten Zahlen des Kredit- ein bescheidenes Abendessen ein. Statt des instituts diskutieren. Danach einst so geliebten Bordeaux begnügte sich freute Martini sich schon auf der Banker mit einer Flasche Bier (Au- das Essen mit den Aktionärs- gustiner Edelstoff), die passte besser zu vertretern, das traditionell der seiner Stimmung. Münchner Edelgastronom Kä- Wenig war zu sehen von dem Selbstbe- fer auffährt. „Das habe ich wusstsein, von dem Martini, 64, einst nur bei der Hypo-Bank so einge- so strotzte, als er noch Chef der bayeri- führt“, bekannte der Fein- schen Hypo-Bank war. Ein Mann, der es schmecker einst stolz. wie kaum ein anderer Bankmanager ver- Doch statt mit seinen Kol- stand, seine Macht auch nach außen zu de- legen zu plaudern und zu ta- monstrieren. Dessen Zigarren stets ein biss- feln, saß Martini einsam und chen länger und dicker waren. Und der, verbittert im 21. Stock des

wenn er prominente Wirtschaftsbosse zu Münchner Hypo-Hochhau- REUTERS einem Glas Wein einlud, nur die feinsten ses. Dort hatte ihm sein Auf- Martini-Gegner Schmidt: Abrechnung im ersten Stock Tropfen bestellte. sichtsratschef Kurt Viermetz Der ehemalige Bankenpräsident war ei- 24 Stunden vorher eröffnet, dass er sein nen Rivalen und Vorstandsvorsitzenden ner, der sich wohl fühlte in der Geldszene, Kontrollmandat bei der Bank niederlegen Albrecht Schmidt: „So ein Mann kann kei- einer, dessen Wort galt. Und jetzt? Jetzt müsse. Andernfalls, drohte Viermetz sei- ne Bank führen.“ wird Martini von ehemaligen Kollegen so nem Freund aus alten Augsburger Zeiten, Die Konkurrenz zu Schmidt begann rüde und gnadenlos öffentlich hingerichtet, werde er auf der Hauptversammlung am schon vor vielen Jahren. Erfüllt von dem wie vor ihm noch kein anderer deutscher 17. Dezember seine Entlassung fordern. Wunsch, die benachbarte Vereinsbank zu Bankführer. „Was ist der Unterschied zwi- Als Martini erfuhr, dass auch sechs an- überrunden, ließen sich Martini und seine schen der ‚Titanic‘ und der Hypo-Bank?“, dere ehemalige Hypo-Topmanager abtreten Mitarbeiter Anfang der neunziger Jahre heißt ein eingängiger Banker-Scherz. Die würden, willigte der einst so kampfeslusti- auf Geschäfte ein, die ihre Kollegen am Antwort: „Auf der ‚Titanic‘ war der Marti- ge Bayer ein. Voller Groll musste er später nahe gelegenen Tucherpark lieber nicht an- ni besser.“ am Bildschirm mit ansehen, wie Viermetz fassten. Dabei sollte der vergangene Dienstag für und Albrecht Schmidt, Chef der HypoVer- Während Schmidt und seine Berater Eberhard Martini ein richtig schöner Tag einsbank, 20 Stockwerke tiefer mit ihm und konservativ Anteile an der Allianz und werden.Vormittags wollte der Ex-Chef der seinen Ex-Kollegen abrechneten. Münchener Rück erwarben, investierten

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Martini und seine Mannen in Brauereibe- lianz gelegen, der noch knapp 25 Prozent teiligungen und den Fleischkonzern März, an der Hypo-Bank hielt. Zumindest hätten dessen skandalumwitterter Firmengründer zwei der Allianz nahe stehende Aufsichts- Josef März einst eng verbandelt war mit räte – darunter ein ehemaliger Allianz- dem ehemaligen DDR-Devisenbeschaffer Finanzchef – Bedenken geäußert, ein sol- Alexander Schalck-Golodkowski. cher Ausreißer bei den Abschreibungen Trotz dreistelliger Millionenbeträge, die könnte angesichts der bevorstehenden Fu- sie auf ihre maroden Beteiligungen ab- sion mit der Vereinsbank einen schlech- schreiben mussten, hielten die Hypo-Ban- ten Eindruck machen. Ein Allianzsprecher, ker an ihrem Expansionskurs fest – und nach Rücksprache mit dem Vorstand: „Uns hatten damit teilweise sogar Erfolg. Im- ist ein solcher Vorgang bis heute nicht merhin waren es die experimentierfreudi- bekannt.“ gen Bayern, die 1994 als erste deutsche Auch die Experten der Wirtschaftsprü- Großbank einen Billigableger gründeten, fungsgesellschaft Wedit hätten Zweifel ge- die Direktanlagebank. Das Aldi-Institut, habt, ob ein so hoher Betrag von den Fi- das den Münchnern Anlaufverluste von 50 nanzbehörden anerkannt werde, so Marti- Millionen bescherte, ist inzwischen gut ni im kleinen Kreis. Nach guter bayerischer zwei Milliarden Mark wert und soll dem- Sitte einigte man sich schließlich auf einen nächst an die Börse ge- Kompromiss, der Martini bracht werden. heute belastet, ihm damals Auch waren die Hypo- aber nicht ganz unrecht Banker die ersten, die war. 1,5 Milliarden Mark nach der Wende in Ost- wurden abgeschrieben, der deutschland Selbstbedie- Rest der Immobilien blieb nungsfilialen errichteten. als Wert in den Büchern. „Wir waren die Kreati- Die Nonchalance, mit ven“, sagt ein Ex-Hypo- der er solche Konflikte jah- Vorstand, „die Vereins- relang geregelt hatte, wur- banker galten dagegen als de dem Banker nun zum brav und stocksolide.“ Verhängnis. Martini hoffte Berauscht von den ei- offenbar bis zuletzt, das genen Großtaten, setzten von seinem Widersacher Martini und seine Kollegen Schmidt offenbarte 3,5- zu ihrem bis dahin größten Milliarden-Loch mit raffi-

Coup an und verhoben sich HELLER / ARGUM F. nierter Bilanzkosmetik ka- dabei kräftig. Für zwei- Aufsichtsrat Martini (1998) schieren zu können, wenn stellige Milliardenbeträge nur alle mitzögen. kauften die Hypo-Manager im großen Stil Umso entsetzter reagierte der Ex-Bank- unbebaute Grundstücke und Geschäfts- Chef, als er jetzt das Gutachten der Prü- häuser auf. Doch die Bürobrachen erwiesen fer in den Händen hielt. sich zum größten Teil als gigantische Fehl- Der gläubige Katholik hatte allen Erns- spekulation. tes gehofft, die Bilanzexperten würden Martini weigerte sich lange, zu lange, ihm und seinen Kollegen darin endlich die das drohende Desaster wahrzuhaben. Um lang ersehnte Absolution erteilen. Statt- Details der Bilanzenstellung und Risiko- dessen besiegelten sie das Ende seiner Kar- kontrolle habe er sich nie gekümmert, riere. rechtfertigte er sich gegenüber Vertrauten. Martini versteht die Bankenwelt, in der Sein Terrain waren Empfänge und Gala- er jahrelang eine zentrale Rolle spielte, veranstaltungen, wo der Lebemensch selbst nicht mehr. Und die Bankenwelt versteht seine Kritiker für sich einnahm. ihn nicht mehr. Mulmig wurde es Martini offenbar erst, Nach wie vor glaubt Martini, dass er sei- als seine eigenen Immobilienexperten im- ne rund ein Dutzend Aufsichtsratsmanda- mer massiver drängten, die Grundstücke te, die er noch ausübt, auch in Zukunft und die darauf ausgereichten Kredite ab- behalten kann, darunter Posten bei der zuschreiben. Doch auch das konnte einen Spaten-Franziskaner-Brauerei oder dem Mann wie Martini nicht erschüttern. Die Bankhaus Maffei. Die Chefaufseher der wollten die Projekte doch nur bewusst run- Firmen überlegen dagegen längst, wie sie terreden, um bei einem späteren Verkauf ihn elegant loswerden können. besser dazustehen, glaubte er zunächst. Selbst sein Vorstandsbüro am Arabella- Im Herbst 1997 dämmerte Martini und park inklusive Fahrer und Sekretärin nutzt seinem Finanzchef Werner Münstermann, Martini weiterhin, als wäre nichts gewe- dass die Probleme durch Aussitzen nicht sen. Den täglichen Spießrutenlauf in den lösbar waren. Deshalb schlugen sie dem 21. Stock will der tief gestürzte Ex-Banker Aufsichtsrat vor,Verlustobjekte im Jahres- offenbar bewusst in Kauf nehmen. Schließ- abschluss um rund 2,2 Milliarden Mark ab- lich läuft sein Vorstandsvertrag, der noch zuwerten. nach seinem Wechsel in den Aufsichtsrat Dass es so weit nicht kam, so stellt es verlängert wurde, bis Mai nächsten Jahres. Martini heute im kleinen Kreis dar, habe Und den will Martini auskosten – bis zum vor allem am damaligen Großaktionär Al- letzten Tag. Dinah Deckstein

der spiegel 44/1999 125 Wirtschaft

Lehrverpflichtung und des Publikations- drucks abgestreift und sich in die oberen Ränge großer Unternehmen aufgeschwun- gen. Nun sind sie Entscheider mit Millio- nen-Budgets, großzügigen Hightech-La- bors und großen Stabsabteilungen. Statt mühselig aus Projektgeldern ein Ticket für die Touristenklasse zusammen- zukratzen, reisen die neuen Pharma-Fürs- ten nun mit dem Firmenjet zu den Kon- gressen. Und statt einer mageren Profes- sorenvergütung streichen sie Aktienoptio- nen und Bonuszahlungen ein. Der US-Ge- netiker Craig Venter etwa kann sich end- lich ein nettes Spielzeug leisten: eine 25-Meter-Rennjacht, die er „Sorcerer“ ge- nannt hat, Hexer. Ihre Ex-Kollegen an den Universitäten beneiden diese neue Generation von Bio- logen, Biochemikern und Medizinern. Nur Idealisten beklagen deren Sündenfall vom unabhängigen Freigeist zum Handlanger LIAISON / GAMMA STUDIO X Genforscher Venter: Aktienoptionen statt magerem Professorengehalt

BIOTECHNIK Professor mit Profit Universitäten werden für viele US-Biotech-Forscher als J. STRICKLAND / BLACK STAR / BLACK STRICKLAND J. Arbeitgeber immer unattraktiver: Im Pharma- Alzheimer-Spezialist Roses Geschäft gibt es weniger Bürokratie – und deutlich mehr Geld. Exzentriker mit Stabsabteilung

anager weltweit operierender Er gehört zu einem neuen Forscher-Typ, der profitgierigen Pharma-Industrie. Ne- Konzerne tragen keine Slipper. der immer häufiger vor allem in den USA ben Spitzenleuten wie Venter und Roses M„Internationale Direktoren“ von anzutreffen ist: Chimären aus Unterneh- gilt es, deren Erben, risikofreudige Jung- Pharma-Multis schleichen sich auch nicht mergeist und wissenschaftlichem Ehrgeiz. forscher, aus den akademischen Hinter- ins Büro eines Vizepräsidenten und laden Nach einem mühseligen Dauermarsch stübchen nach vorn an die kapitalistische ihm ihr eigenes grinsendes Gesicht als Bild- durch die Universitätsbürokratie haben er Front zu locken, wo Shareholder-Value schirmschoner auf den Computer. Und und die anderen Wissenschaftsmanager die wichtiger ist als der Abgabetermin der es kommt in der angelsächsischen Un- Fesseln der öffentlichen Fördermittel, der Doktorarbeit. ternehmenskultur wohl eher selten vor, Die Industrie steckt immer dass einer der Bosse seinen schwarzen Mikrobiologe Rosenow: 1000 Dollar täglich fürs Labor mehr Geld in die amerikani- Chauffeur auf ein Bierchen in die Kneipe schen Universitätslabors, in entführt. diesem Jahr werden es schät- Aber Allen Roses ist eben von Haus aus zungsweise 2,2 Milliarden kein Manager. Die Chefs des Pharma-Kon- Dollar sein. Wer den Unter- zerns GlaxoWellcome haben den 56-jähri- schied zwischen der Großzü- gen Amerikaner vor zwei Jahren aus einem gigkeit der Konzerne und Universitätslabor in North Carolina rekru- dem Betteln um öffentliche tiert – er ist Wissenschaftler. Als solcher Gelder erlebt hat, dem fällt darf er exzentrisch sein. Sein zukünftiger es leicht, sich nach der Aus- Boss James Niedel wollte ohnehin kein bildung bei einer Biotech-Fir- Mauerblümchen für den Job. ma im Silicon Valley zu ver- So haben die Briten den Alzheimer-Spe- dingen, anstatt sich jahrelang zialisten in ihre US-Niederlassung nahe für die Habilitation im Elfen- seiner alten Arbeitsstätte gesteckt und beinturm einzumauern. dafür gesorgt, dass es ihm gut geht. „I’m „Hier dürfte ich, wenn happy!“, findet Roses und lacht sein ver- nötig, jeden Tag tausend

rücktes Lachen. A. FREEBERG Dollar für Laborausstattung 126 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft ausgeben“, schwärmt Carsten Rosenow. seitdem nie bereut. „Ich habe dort inner- Der 36-jährige Chemiker und Mikrobio- halb von einem Jahr soviel geschafft wie loge aus Berlin arbeitet bei der Biotech- vorher in 20 Jahren an der Uni“, sagt er. Firma Affymetrix im kalifornischen San- „Was hat das für einen Sinn, zwei Jahre ta Clara. an Anträgen für öffentliche Fördermittel Ob es ergonomische Pipetten sind oder zu schreiben, nur um am Ende eine Absa- eine neue Tischzentrifuge – solchen Klein- ge zu bekommen?“ Das sei Universitäts- kram bestellen Rosenow und seine Kolle- alltag, nicht etwa die Ausnahme. „Ich will gen mit einer Leichtigkeit wie ihre armen in diesem Leben ein Mittel gegen Alzhei- Brüder und Schwestern an den Unis höchs- mer finden“, verkündet Roses, „und das tens die Pizza zum Lunch. kann ich bei einer Pharma-Firma besser Andere Jungforscher gründen selber ein und schneller als irgendwo sonst.“ Gentech-Start-up. Und für viele lohnt sich Dass sie nun ihre Forschungsergebnisse auch eine Zwischenlösung: an der Univer- nur noch eingeschränkt veröffentlichen sität bleiben, nebenher aber in der eigenen dürfen, ihr geistiges Eigentum komplett ab- Firma das Wissen versilbern. So eine Dop- treten müssen an ihre privaten Sponsoren, pelrolle spielt etwa Richard Wurtman, ein stört weder große Pharma-Funktionäre wie Pharmakologe am Massachusetts Institute Roses noch Jungforscher wie Rosenow. of Technology (MIT) und, in seinem ande- Angriffen von Kritikern, die eine Gefahr ren Leben, Mitgründer und Direktor der in der Kommerzialisierung der Grundla- Firma Interneuron Pharmaceuticals. genforschung sehen, begegnet Roses gern Der Trend zur profitablen Ausbeutung mit der Naivität des Gutmenschen: „Ich des eigenen Wissens begann schon mit den will den Alzheimer-Patienten helfen, was ersten Gentech-Firmengründungen vor ist denn daran schlecht?“ rund 20 Jahren. Aber noch lange glich die Außerhalb ihrer schönen neuen Welt Gentechnologie einem halbblinden Sto- wird die Debatte um die Folgen ihres Tuns chern im Erbgut. Erst seit Ende der acht- immer lauter. Es lässt sich nicht wegdisku- ziger Jahre revolutionierten bahnbrechen- tieren, dass Profitstreben oft als natürli- de Erkenntnisse, schnellere Computer und cher Feind der traditionellen wissen- immer ausgefeiltere Labortechniken das schaftlichen Unabhängigkeit auftritt. In- Forschungsfeld und verwandelten es in teressenskonflikte sind bei diesem Balance- eine Verheißung vor allem für die Phar- akt programmiert. ma-Industrie. So stand Allen Roses’ Name unter dem Der Schlüssel zu einer Zukunft ohne Al- Papier einer unabhängigen Expertenkom- tern und Kranksein, so heißt das Credo, lie- mission, die genetische Tests zur Alzhei- ge in der DNS. Der Zellkern berge die merdiagnose beurteilen sollte. Die Fach- Goldadern des nächsten Jahrtausends. leute hatten darin das Verfahren einer be- Wer sich jetzt das Wissen um die Gene stimmten Silicon-Valley-Firma favorisiert. sichert, die Claims sorgsam absteckt, der Später kam heraus, dass Roses dieses Un- beherrscht morgen die Märkte, glauben die ternehmen nicht nur berät, sondern auch Manager bei Bayer in Leverkusen ebenso Lizenzgebühren für ebendiesen Test kas- wie die von Bristol-Myers Squibb in New siert, da er auf seinen Ergebnissen basiert. York und GlaxoWellcome in London. Die Und wie könne es sein, fragen die Ethi- britische Firma steckt in diesem Jahr 1,3 ker, dass Stücke menschlicher DNS etwa Milliarden Pfund in Forschung und Ent- einer Firma gehören? Oder das Erbgut ge- wicklung. fährlicher Krankheitserreger im Privatbe- Niemand vermag auszurechnen, wie vie- sitz ist? le Milliarden ein Medikament gegen Alz- Fast ein Drittel aller weltweit auftreten- heimer – allein in den USA leiden vier Mil- den Infektionen mit dem Krankenhaus- lionen Menschen unter der Krankheit – Keim Staphylococcus aureus lässt sich mit oder gar, das ist der eitelste Traum, eine den meisten gängigen Antibiotika nicht Jungbrunnen-Arznei einfahren würde. mehr behandeln. Die Bakterien-DNS, for- „Das Wissen um die menschlichen Gene“, dern Gesundheitspolitiker und Mediziner, prophezeit Craig Venter, „wird eine der müsste der internationalen Forscherge- stärksten Antriebskräfte der Weltwirt- meinde zugänglich sein, damit diese so schaft.“ schnell wie möglich den weltweiten Kampf Geld plus Gehirn – die Industrie braucht gegen eine drohende Seuche aufnehmen für ihre genetische Großoffensive die For- kann. scher wie einst die Minenbesitzer die Gold- Doch börsennotierte Unternehmen, sagt schürfer. Ein solches Investment in „Hu- die Sprecherin von Incyte Pharmaceuticals mankapital“ lohnt sich: Das von Roses ge- im Silicon Valley, einem der Besitzer der leitete Glaxo-Team hat gerade erst mit ei- Staphylokokken-Infos, seien nun einmal in ner schnellen neuen Methode Gene für erster Linie ihren Investoren verpflichtet. drei Geißeln der Menschheit gefunden: Mi- Wissenschaftsmanager Craig Venter spricht gräne, Diabetes und Schuppenflechte. gänzlich unverblümt über seine Arbeit am Roses war leicht aus der Universität zu Erbgut: „Dies ist kein Akt der Nächsten- locken. An einem Abend im Mai 1997 ent- liebe, das ist Business, Geschäft an vor- schied er sich innerhalb von 15 Minuten für derster Front von Forschung und Me- den Job bei GlaxoWellcome und hat es dizin.“ Rafaela von Bredow

128 der spiegel 44/1999 Werbeseite

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Ecclestone war so beeindruckt von dem Deal, dass er die WestLB als Ratgeber auf die Suche nach Großinvestoren schickte. „Nach der erfolgreichen Platzierung stan- den plötzlich jede Menge strategischer In- vestoren bereit“, sagt Andrew Gardner, Di- rektor im Londoner Anleiheteam der West- LB. Amerikanische Risikokapitalgeber wie KKR und Doughty Hanson zeigten sich in- teressiert. Auch die Fondsgesellschaft War- burg Pincus, die kürzlich mit 40 Prozent beim irischen Rennstall Jordan eingestiegen ist, war im Rennen. Selbst Ron Dennis, Ma- nager von McLaren, prüfte das Angebot. Schließlich setzte sich die Deutsche- Bank-Tochter Morgan Grenfell Private Equity durch. Ein Sprecher des Deutsche- Bank-Chefs Rolf Breuer legt Wert auf die Feststellung, dass sie selbst kein Geld in Ecclestones Imperium stecken wird. Hinter dem Deal stehen institutionelle Großanle- ger, die mit einem Teil ihres Kapitals bereit

A. TILL / ATP sind, auch höhere Risiken einzugehen. Rennsport-Manager Ecclestone, Fahrer Eddie Irvine: Jede Menge Investoren Die Deutsche-Bank-Tochter mit Sitz in London hat für solche Großinvestoren ins- eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, gesamt 1,8 Milliarden Dollar in 46 Unter- RISIKOKAPITAL scheiterte. Der ehemalige Brüsseler Wett- nehmensbeteiligungen gesteckt. Dabei ha- bewerbskommissar Karel Van Miert hatte ben die britischen Fondsmanager der Deut- Ein Faible 15 Verstöße gegen das Kartellrecht bei der schen Bank offensichtlich ein Faible für Vermarktung des Motorsports moniert, die röhrende Motoren.Am Formel-1-Rennstall sich Ecclestone für 15 Jahre vom Automo- Arrows haben sie sich mit 50 Prozent für Motoren bil-Weltverband hat übertragen lassen. Der beteiligt. Beim italienischen Motorrad- Börsengang wurde abgeblasen. hersteller Piaggio sind sie gerade einge- Formel-1-Boss Bernie Ecclestone Selbst eine Unternehmensanleihe ließ stiegen, während sie sich bei dem Motor- sich nicht so ohne weiteres unters Volk radbauer Ducati nach Sanierung und macht Kasse: Die Deutsche bringen. Ecclestone wollte gut zwei Mil- Börsengang schon wieder aus dem Unter- Bank steigt in sein Imperium ein. liarden Dollar auf dem Kapitalmarkt auf- nehmen verabschieden. nehmen. Die Rückzahlung des Geldes war So soll das auch bei Ecclestones Unter- ach eigener Einschätzung ist Ber- den Investoren jedoch zu unsicher. Schließ- nehmen funktionieren. Weitere Motor- nie Ecclestone, 69, ein bescheide- lich gelang es der WestLB zusammen mit sportfans wie der italienische Modefabri- Nner Mann. „Ich brauche nur mein Morgan Stanley Dean Witter, im Mai eine kant Benetton wollen Anteile überneh- Steak, meinen Hubschrauber und meinen Anleihe in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar men. Um den angestrebten Börsengang Lear-Jet“, sagt der Herrscher über den For- mit deutlich verkürzter Laufzeit und sehr vorzubereiten, schickt die Deutsche Bank mel-1-Zirkus. hohen Zinsversprechen auf dem interna- zwei Manager, die Ecclestone im Vorstand In Zukunft könnte sich der exzentrische tionalen Kapitalmarkt zu platzieren. Das kontrollieren sollen. Brite bei seinen Reisen zu den Autorennen Geld kassierten Stiftungen, die „Die Formel 1“, sagt Scott in Kanada, Brasilien oder Japan auch eine Ecclestone für seine beiden Bankchef Breuer Lanphere, einer der neuen Boeing 747 leisten. Die Morgan Grenfell Töchter und seine Frau Slavica Vorstände bei Ecclestone, „ist Private Equity, eine Fondstochter der Deut- eingerichtet hat, ein Ex-Model der führende Markenname in schen Bank, hat ihm für 325 Millionen aus Jugoslawien, das gern mit der Welt des Sports.“ Die Ban- Dollar 12,5 Prozent an Ecclestones For- hohen Absätzen und monströ- ker wollen ihn deshalb auch für mula One Administration abgekauft. Zu- sen Sonnenbrillen durchs Fah- andere Produkte einsetzen, ihn sätzlich erwarb sie die Option, für weitere rerlager stolziert. im E-Commerce-Geschäft via 925 Millionen Dollar ihren Anteil an der Internet nutzen und das wenig Firma auf 50 Prozent aufzustocken. entwickelte Lizenz- und Mer-

Endlich hat der ehemalige Gebraucht- M.-S. UNGER chandising ausbauen. wagenhändler und wenig talentierte Renn- Bevor irgendwelche Dividen- fahrer sein persönliches Ziel erreicht: Die den fließen, muss die Anleihe Welt der Hochfinanz liegt ihm zu Füßen. von 1,4 Milliarden Dollar in- „Der macht jetzt richtig Kasse“, sagt ein klusive Zinsen zurückgezahlt Rennstallbesitzer. werden. Einschließlich dieses Ecclestone hat die Formel 1 nach Olym- Fremdkapitals hat die Deut- pia und Fußball-WM zum größten Sport- sche Bank den Wert von Eccle- Event der Welt gemacht. Seit zwei Jahren stones Imperium auf über sie- ist er von der Idee besessen, den Grand- ben Milliarden Mark taxiert. Prix-Zirkus an die Börse zu bringen. Doch Es scheint so, als habe der der erste Versuch der amerikanischen In- ehemalige Gebrauchtwagen-

vestmentbank Salomon Smith Barney, das RAUPACH T. händler gut verhandelt. wild verflochtene Firmenkonglomerat in Deutsche-Bank-Zentrale: Kein eigenes Geld Christoph Pauly

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Werbeseite Medien Trends

„BILD“-ZEITUNG Kurzer Höhepunkt as von der „Bild“-Zeitung veröf- Dfentlichte „geheime Tagebuch“ der Verona Feldbusch hat anscheinend nicht allzu viele Zusatzkäufer gebracht, ob- wohl der Werbeaufwand für die Aktion in der Branche auf etwa vier Millionen Mark geschätzt wird. In der Woche voll zweifelhafter Enthüllungen („Lucky toastete ihr ein Nutella-Brot“) zeigte die Auflage kaum Ausschläge. Mit einer Ausnahme: Am zweiten Tag, als sich das „deutsche Sex-Symbol des 21. Jahrhun- derts“ nur mit weißer Unterwäsche auf der Titelseite räkelte, griffen rund 150000 Käufer mehr als sonst zu dem Boulevardblatt aus dem Springer-Verlag (Auflage: circa 4,6 Millionen). Ein kur-

GERDES / THOMAS & THOMAS GERDES / THOMAS zer Höhepunkt: Als Verona in den Ta- „Tatort“-Folge (mit Dominic Raacke, Stefan Jürgens)

FERNSEHEN ARD macht Quotendruck eil sich die Konkurrenz der TV- schauerquote bringen muss: „Sie ist für WSender verschärft, verordnet sich besondere Produktionen freigegeben“, die ARD (Vorsitzender: Peter Voß) neue heißt es in einem ARD-Protokoll.Vor al- Quotenvorgaben. Die jetzt definier- lem Unterhaltungschef Henning Röhl ten Anforderungen sollen die will mit harten Maßnahmen „Sendeplatzprofile“ von 1994 die Reichweiten anheben. Als ersetzen. So erwarten die Hauptschwäche hat er den ARD-Programmchefs für den Donnerstagabend ausgemacht, „Tatort“ am Sonntag sechs bis wo die ARD künftig mehr 90- sieben Millionen Zuschauer (20 Minuten-Shows gegen Serien- bis 25 Prozent Marktanteil), am Konkurrenz wie „Der Clown“ Dienstagabend um 20.15 Uhr (RTL) oder „Kommissar Rex“ Feldbusch sind vier bis fünf Millionen (Sat 1) setzen will. Da müsse, Zuschauer (14 bis 16 Prozent) so Röhl, eine „Strukturdiskus- gen darauf von der Titelseite ver-

vorgesehen. Quotenschwache GIRIBAS J. sion“ einsetzen. Die ARD, die schwand, schrumpfte auch die „Bild“- Sendungen würden nach den Voß 1998 noch TV-Marktführer war, Auflage wieder auf Normalmaß. Echte neuen Vorgaben konsequent liegt derzeit (Januar bis Sep- Verona-Fans wussten sich immerhin da- aus dem Programm fliegen. Für die Sen- tember 1999) mit 14,4 Prozent Markt- mit zu helfen, dass sie die freizügigen dezeit am Mittwochabend ist festgelegt, anteil hinter RTL (15 Prozent) – und Werbeplakate aus den Schaukästen dass jede fünfte Sendung keine Zu- muss das ZDF fürchten (13,1 Prozent). klauten, in denen für das Tagebuch ge- worben wurde.

DEUTSCHE TELEKOM dem Jahreswechsel veräußert werden. Grund für die plötzliche Eile bei der Schneller Verkauf Telekom ist die Sorge um eine ausgegli- chene Bilanz. Nachdem Umsatz und der Kabelnetze Ergebnis durch die heftige Preisschlacht im Festnetzgeschäft drastisch zurück- m Milliarden-Poker um den Verkauf gegangen sind, braucht Sommer die Ides TV-Kabelnetzes will sich Telekom- Sondererlöse aus dem Verkauf des TV- Chef Ron Sommer noch in diesem Jahr Kabels, um eine mit den Vorjahren ver- von drei der insgesamt neun regionalen gleichbare Dividende ausschütten zu TV-Kabelgesellschaften trennen. Neben können. Insgesamt rechnet die Telekom dem Bereich Nordrhein-Westfalen sol- beim Verkauf des TV-Kabels mit seinen

len nach derzeitiger Planung auch die BRAUCHITSCH v. W. rund 18 Millionen Teilnehmern mit ei- Regionen Hessen und Bayern noch vor Sommer nem Erlös von über 25 Milliarden Mark. der spiegel 44/1999 133 Medien

SATIRE Jung: Doris Schröder- Köpf ist First Lady, die Göttliche Quote „Kein Schmuddelkram“ an seiner Seite steht. Aber es geht nicht um orvergangene Woche: RTL kam, Rüdiger Jung, Autor der kommende private Details. Vsendete – und die Konkurrenten Woche ausgestrahlten RTL-Comedy- SPIEGEL: Obwohl alles erstarrten zu Salzsäulen. Die Rede Serie „Wie war ich, Doris?“, über die in der Satire erlaubt ist von „Arche Noah – Das größte Kritik des Bundeskanzlers ist? Abenteuer der Menschheit“. Wenn Jung: Ich würde kei- es nach den Kritiken gegangen wäre, SPIEGEL: Naddel musste ihre Witze auf Jung nen Schmuddelkram hätte der zweiteilige US-Film Anweisung der RTL-2-Aufseher einstel- machen, keine priva- „Schnarche Noah“ heißen müssen: len – befürchten Sie Ähnliches? ten Details auspacken. Da gibt es für „Biblischer US-Kitsch“ („Tagesspie- Jung: Ich fand die Witze auch unter aller mich eine klare Grenze. gel“), „mit Abstand schlechtestes Kanone. So etwas würde ich nicht ma- SPIEGEL: Rechnen Sie mit weiterer Kri- Fernsehspiel der letzten zehn Jahre“ chen. tik des Kanzlers? („SZ“). SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass sich Jung: Nein. Jahrzehntelang gab es politi- Es geht aber nicht nach den Kriti- Bundeskanzler Schröder Witze über sein sches Kabarett in Deutschland. Es ist ken. Der computeranimierte Holz- Privatleben in Ihrer Sendung verbittet? doch in Ordnung, wenn die Mächtigen kasten sammelte am vorletzten Jung: Nein. Er weiß überhaupt nicht, der Republik aufs Korn genommen wer- Sonntag 8,80 Millionen Zuschauer, was wir machen, und hat auch nie nach- den. Ich mache ja nichts Schlimmes. einen Tag später gar 9,21 Millionen, gefragt. Er hat offenbar gemerkt, dass er SPIEGEL: Werden Sie nach den sechs Fol- 28,6 Prozent aller an jenem Montag falsch beraten wurde und daraufhin gen weitere Fortsetzungen schreiben? Fernsehenden. Die Konkurrenz ging versucht, sich anders zu geben. In die- Jung: Warum sollte es nächstes Jahr in der Sintflut baden. Abendlands- ser Zeit wurde bekannt, dass wir eine nicht weitergehen, wenn es ein Erfolg warte könnten sich nun animiert Satire planten. Anstoß genommen hat wird? fühlen, das Publikum zu Schröder allein wegen des Titels, beschimpfen. War- der zeigen soll, dass jemand aus um krebst ein purer Eitelkeit über seine Wirkung Qualitätsprodukt nachdenkt. Die harsche Reaktion wie die Verfil- zeigt für mich den hohen Grad der mung von Klem- Verunsicherung. perers Tagebü- SPIEGEL: Haben Sie nach der Reak- chern bei schwa- tion des Kanzlers noch etwas ver- chen zweieinhalb ändert? Millionen Zuschauern, während so Jung: Nein, das ganze Drehbuch ein Kinderkram mit Infantil-Dialo- lag ja schon vor. Wir haben nur auf gen (Gott: „Alles oder nichts, Noah“) politische Aktualität hin umge- abräumt? schrieben. Doch heiliger Zorn wider das Hei- SPIEGEL: Und das Private? Szene aus „Wie war ich, Doris?“ lige hilft nichts. Das Numinose hat im Medium Konjunktur. Der ARD- Tatort „Apokalyptische Reiter“, in dem die von Dürer entworfenen ZEITGESCHICHTE Schreckgestalten aus der Offenba- rung für Grusel sorgten, war am Ar- Tunneldurchblick che-Sonntag die einzige Sendung, die sich neben der RTL-Bibel-Verfilmung m 14. September 1962, ein Jahr jahrzehntelang hielt sich das Gerücht, behaupten konnte: mit Gott zur Anach der Errichtung der Mauer, ge- die CIA habe das Unternehmen finan- Quote. lang 29 Menschen durch einen 135 Me- ziert. Die spannende filmische Rekon- Die Entkirchlichung sorgt dafür, ter langen Tunnel die Flucht aus Ost- struktion des Tunnelbaus – sie ist an dass religiöse Symbole und Ge- Berlin in den Westen. 41 Studenten aus diesem Samstag um 20.15 Uhr auf Süd- schichten zur frei verfügbaren West-Berlin hatten ihn gegraben, und west III zu sehen – räumt mit dieser Le- Ware für die Erzählmaschinen des gende auf. Der Geheimdienst Fernsehens werden. Heiligenfiguren, war allerdings wohl informiert, Beichtstühle, Mönchskutten, liturgi- denn wegen eines Wasserrohr- scher Singsang gehören zu unver- bruchs hatten sich die Tunnel- zichtbaren Fernsehzutaten. Den Zö- bauer an West-Berliner Behör- libat muss der Papst schon deswegen den gewandt, und so dürfte die aufrechterhalten, damit die TV-Mo- CIA von der Sache Wind be- vies in libertinären Zeiten noch von kommen haben. Das Doku-Dra- geknebelten Trieben fabulieren kön- ma (Regie: Marcus Vetter) be- nen. Fliege hat schon lange erkannt, fragte die ehemaligen Buddel- dass „der alte Gangster da oben“ ein arbeiter und benutzt Aufnah- Quotenhelfer hier unten ist.Wann ei- men der NBC. Zwei der Tunnel- gentlich wird Mutter Beimer gebe- bauer hatten die Filmrechte

nedeit gen Himmel fahren? SDR damals für 50000 Mark an die Tunnel unter der Mauer US-Gesellschaft verkauft.

134 der spiegel 44/1999 Fernsehen

III nach 9 Vorschau Freitag, 22.00 Uhr, Nord III 25 Jahre talkt es jetzt aus Bremen. Einschalten Und die Stadtmusikanten haben Recht: Etwas Besseres als den Tod Schindlers Liste haben wir in der Sendung immer Montag, 20.15 Uhr, Pro Sieben gefunden. Der Holocaust als Darstellung mit al- len Mitteln Hollywoods: Die meisten Schimanski – Sehnsucht überzeugte Steven Spielbergs Drei- Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Stunden-Film. Männertreu gegen Frauenlist – das Sponti-Raubein (Götz George) tritt Der Feuerteufel – mindestens dreimal die Türen ein, um Flammen des Todes einem liebeswunden Knacki-Riesen Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 (beeindruckend: Veit Stübner) zur Er- Brandanschläge auf Wiener Museen – kenntnis der ewigen Schlange Weib Kunsthistorikerin Lena (Natalia Wör- (Renée Soutendijk) zu verhelfen. ner) begutachtet nicht nur die Scha- Duisburg, Suff und machomarkige denshöhe, sondern erkennt zusam- Karven, Bettermann in „Liebe ist ...“ Sprache, dazu die Rückkehr des Schi- men mit einem Polizeimann (Heino mi-Kumpels Hänschen (Chiem van Ferch), dass der Bösewicht seine neu- gin Judith (Ursula Karven) koitiert Houweninge) – Hansjörg Thurn en Taten in Bildmontagen ankündigt. mit ihrem hirntoten Freund (Bernhard (Buch) und Hajo Gies (Regie) lassen Regisseur Curt Faudon beweist, dass Bettermann), um ein Kind von ihm zu die wunderbare Prärie des alten 68er in einem guten TV-Movie Spannung empfangen. Doch ein Festival der Cowboys wieder erstehen. Ach, Than- ohne Geballer auskommen kann. Obszönität ist dieser Film durchaus ner, könntest du noch dabei sein. nicht, vielmehr ein konse- Liebe ist stärker als der Tod quent sentimentalisches Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Melodram, das mit Ge- Regisseur Dominique Othenin-Girard fühlen, Symbolen und ist immer für einen kleinen Skandal schönen Bildern nur so gut. Vor zwei Jahren scheuchte er um sich wirft, um Eros zu mit seinem Movie „Die heilige Hure“ feiern. Da nervt zwar – eine Dozentin für Priester wird manche penetrante Wie- Domina – nicht nur konservative derholung der Stilmittel Gemüter auf, sogar RTL verschob aus (aufflatternde Tauben), Vorsicht zunächst die Ausstrahlung. aber nie wirkt der warm- Auch diesem neuen Film geht der herzig-naive Film abge- Ruch des Skandals voraus, ein feimt. Und selten wurde „BamS“-Leser empörte sich, ohne Hirnchirurgie so farbig,

das Stück zu kennen, über „Sex fast schön ins Bild ge- WDR mit Toten“. Tatsächlich: Die Chirur- setzt. George (mit Martin Bruhn r.) in „Schimanski – Sehnsucht“

Ausschalten

Nach dem Fall Verschwinden der Berliner Mauer kann Feier des Anlasses auf seinem Akkor- Dienstag, 23.05 Uhr, Südwest III es einem Leid tun, denn er enthält deon vorspielte. Doch leider be- Um diesen Film von Frauke Sandig durchaus witzige Details. Da sieht der schränkt sich die Dokumentation und dem amerikanischen Regisseur Zuschauer zum Beispiel englische nicht auf die Sammlung konkreter und Kameramann Eric Black über das Homöopathen, die allen Ernstes Mauer- Spuren der nahezu verschwundenen bröckchen zu Mitteln wider De- Mauer, sondern versucht den gesam- pressionen und Asthma verarbei- ten Komplex deutscher Spaltung ten. Und wirklich komisch wirken und deutscher Einheit zu erfassen. Da die Warnungen durchgeknallter reflektiert ein evangelischer Pfarrer, Esoteriker, das für neue Bauten eine Psychotherapeutin geht den wieder verwendete Mauermaterial Spuren des Teilungsbauwerks in der würde „dunkle Energien“ in der Seele nach, ein Ex-Stasi-Offizier prä- Stadt verbreiten. Auch die Erinne- sentiert sich als Mauer-Kulturpfleger, rungen eines bayerischen Abbruch- der amerikanische Historiker Brian unternehmers verfehlen ihre Wir- Ladd erinnert sich weitschweifig und kung nicht, wenn er erzählt, wie er erzählt am Ende ein Märchen – das mit seinen Maschinen die ersten Thema ufert aus, und der mit kunst- Mauerblöcke zermahlte und den vollen Bildern arbeitende Film über- Ex-Stasi-Offizier Hagen Koch umstehenden DDR-Grenzern zur nimmt sich.

der spiegel 44/1999 135 Medien

NIEDERLANDE Big Brothers kleiner Bruder In Holland treiben die Enkel Rudi Carells das Fernsehen an die Geschmacksgrenze: Von 24 Kameras beobachtet, leben junge Leute 100 Tage ohne Intimsphäre und von der Außenwelt abgeschottet zusammen.

ie ein gestresster Papa, der von strahlend und fährt zärtlich mit der rech- schlechtem Gewissen geplagt zu ten Hand über die Mattscheibe. Wspät nach Hause kommt und Die Figuren, die da auf den Bildschirmen sofort ins Kinderzimmer hetzt, stolpert zu sehen sind – nette, junge Menschen mit Paul Roemer in den Monitorraum. Weil blendend weißen Zähnen und harmlosen er seit Tagen mit Fernsehmanagern in Ansichten –, hat er zwar nicht erschaffen, der Medienstadt Hilversum verhandelt, schließlich ist der Sprössling einer altein- bleibt ihm im Moment viel zu wenig gesessenen Amsterdamer Schauspielerfa- Zeit für seine Schützlinge, obwohl er weiß, milie nicht Dr. Frankenstein. Trotzdem sind dass „sie gestern sehr nervös und gereizt sie seine Geschöpfe. Denn er hat diese waren“. Bildschirmwesen unter 2500 Bewerbern Der TV-Produzent steht in der Kom- ausgesucht und berühmt gemacht. mandozentrale seines Studios in Almere Paul Roemer ist so etwas wie Big Bro- Fernsehproduzent Roemer: „Bestimmte Szenen bei Amsterdam. Vor ihm flackern 24 Fern- thers kleiner Bruder. Er dirigiert 24 ver- sehgeräte. Jedes zeigt einen anderen Aus- steckte Kameras, die auf die Bewohner des Der smarte Enddreißiger und seine 107 schnitt aus einer Wohnung, die aussieht Bungalows gerichtet sind und pausenlos Mitarbeiter, darunter auch ein Psychologe, wie aus einem Ikea-Katalog. aufnehmen, was sich in dem von der verdichten die Geschehnisse täglich zu ei- Auf dem Breitbildschirm sind ein paar Außenwelt abgeschnittenen Gelände gera- ner halben Stunde Programm. Der zur junge Leute zu sehen, die sich in einem de tut. Nasepopeln, Essen, Schlafen, Sex, RTL-Gruppe gehörende Fernsehsender Zimmer mit rosa Teppichen auf gelben So- die Zigarette danach oder das Gähnen am „Veronica“ sendet das Handlungsextrakt fas lümmeln und lachen. Roemer ist glück- Frühstückstisch – nichts bleibt für Roemers täglich zur Prime Time um acht Uhr. Die lich. „Jetzt sind sie wieder relaxt“, sagt er elektronische Augen unsichtbar. Zuschauerquoten sind sensationell. FOTOS: HOLLANDSE HOOGTE FOTOS: „Big Brother“-Haus im niederländischen Almere: Mit Stacheldraht abgesichert wie ein deutsches Sträflingslager

136 der spiegel 44/1999 ging die Quote noch mal in die Höhe. Ganz Holland weiß nun, dass der 22-jährige Ma- cho bei der properen Sabine längst abge- meldet ist – nur Bart, gemein gemein, weiß es noch nicht. Behauptungen, die Reality-Show sei eine kalkulierte Fälschung, widerspricht Roemer energisch: „Barts Tränen beim Ab- schied von Sabine waren echt.“ In dieser Authentizitätsgarantie liegt offenbar das Geheimnis des Erfolgs. „Schauspieler machen den Leuten was vor“, sagt Roemer, „meine Bewohner aber spielen nicht, sondern sind, was sie sind.“ Fernsehunterhaltung soll Emotionen in die Wohnstube bringen, und echtere Gefühle als bei „Big Brother“ gibt es nirgendwo: „Das spürt der Zuschauer.“ Dass zur Zeit mehr Menschen Big Bro- ther im Fernsehen gucken als Nachrichten aus Hollands krisengeschüttelter Ex-Kolo- nie Indonesien oder das Fußballspiel Ajax Amsterdam gegen Haifa, ist dem Holländer selbst ein bisschen unheimlich.Woran liegt es? „Voyeurismus“, sagt Roemer. Für den Produzenten ist der Blick durchs Schlüs- selloch so normal wie Hunger oder Durst. Das Recht aufs eigene Bild haben die Bewohner an Roemer abgetreten. Er darf alles ausstrahlen, was er vor die Linse be- kommt. Wirklich alles? „Das mache ich natürlich nicht“, sagt er und fügt so ernst wie möglich hinzu: „Für einige Bewohner ist der sexuelle Druck natürlich sehr groß. Da gibt es dann bestimmte Szenen im Ba- im Badezimmer, die bringen wir nicht“ dezimmer, die bringen wir nicht.“ Extreme Charaktere hat Roemer bei der Bis zu 1,8 Millionen Menschen schauen Der Erfolg der „Big Brother“-Produk- Auswahl seiner Chargen vermieden, denn sich täglich an, wie Bart und Sabine mit- tion ist rätselhaft.Auf den ersten Blick pas- „die sorgen bloß für Spannungen und die einander ins Bett hüpfen, wie Ruud sei- siert in dem Containerhaus nicht mehr als Gefahr, dass die WG auseinander fliegt“. nen Tischnachbarn knuddelt oder Mona bei den Zuschauern zu Hause. Meistens Das wäre tatsächlich schlimm, denn „dann ihr wieherndes Lachen ausschüttet. Der sitzen die Bewohner rauchend am Wohn- hätte ich ja kein Programm mehr“, sagt er Marktanteil bei den von der Werbeindu- zimmertisch und produzieren unbrauch- und rückt sich die Nickelbrille zurecht. strie besonders geschätzten konsumfreu- baren Wort- und Bildmüll. Die Konkurrenzsender von „Veronica“ digen 20- bis 44-jährigen Zuschauern liege Da sie das Haus nicht verlassen dürfen, leiden zusehends unter dem Zuschauer- bei viel versprechenden 60 Prozent, brüstet werden sie von einer Off-Stimme mit Auf- sich Roemer. gaben und Fragen beschäftigt. Beispiels- Die Sendung, die Roemer mit dem nie- weise: „Wie lautet die Postleitzahl von Rot- derländischen TV-Produzenten John de terdam?“ Fernsehen und Radio sind im Mol entwickelt hat, gehört schon nach Bungalow verboten, die Bewohner sollen fünf Wochen Sendezeit zu den erfolg- sich ganz und gar ihresgleichen widmen. reichsten Projekten, die das europäische Bei Bart und Sabine endete die Wohn- Fernsehen je hervorgebracht hat. De Mol symbiose sogar auf der Drahtpritsche. Im und Roemer, die geistigen Enkel Rudi Containerhaus bildeten die beiden plötz- Carells, rollen gerade den Markt auf. Da- lich ein Liebespaar, die eifersüchtigen Mit- bei gibt es in ihrer Show nicht einmal ein bewohner setzten die Separatisten sofort Drehbuch. auf die Rausschmiss-Liste. Das Publikum Die Helden von „Big Brother“ sind feuerte Sabine, die einer Wohngenossin un- „ganz normale Menschen“, darunter eine ter vier Augen vor laufender Kamera und Kellnerin, eine Hausfrau, ein Masseur, ein damit den ganzen Niederlanden anvertraut ehemaliger Zeitsoldat und ein Autover- hatte, „das mit Bart“ sei keine allzu ernste käufer. Alle paar Wochen müssen die Be- Sache. wohner dem Fernsehpublikum vorschla- „Sie hat ihn nur benutzt und ihm was gen, wer die Wohngemeinschaft verlassen vorgespielt!“, erklärt Roemer Hände rei- sollte. Die Entscheidung fällt dann der Zu- bend, „Bart hingegen hat sich richtig ver- schauer per Ted-Anruf. Zum Schluss kann liebt.“ Mit der unverhofften Love-Story es nur einen geben: Wer am Morgen des 1. Januar als Letzter übrig ist, kassiert rund WG-Bewohnerin Sabine (l.) 220000 Mark, teilen verboten. Vom Publikum gefeuert

der spiegel 44/1999 Medien magneten. Das Privatfernsehen SBS bot deshalb jedem „Big Brother“-Mitspieler eine Prämie von 25000 Gulden dafür an, das Containerhaus zu verlassen.Vergebens, denn die Bewohner leben ja isoliert. Sie er- fuhren gar nicht erst von dem nicht ganz todernst gemeinten Angebot. Der holländische Fernsehentertainer Willibrord Frequin, eine Mischung aus Lou van Burg und Rambo, versuchte sogar per Fallschirm im Garten des Hauses zu lan- den. Er wollte den Sendebetrieb durchein- ander bringen und eine eigene Geschichte produzieren. Frequin landete aber meterweit neben dem Gelände. Nun lässt Roemer seit ein paar Tagen das Areal mit Stacheldraht und Sichtblenden schützen, weil immer mehr Hallodris in die verbotene Zone eindringen wollen. „Leider sieht der Drehort jetzt aus wie ein deutsches Sträflingslager“ – aus- nahmsweise eine Assoziation, die Roemer nicht besonders schätzt. Egal, Big Brother ist längst ein Selbst- läufer. 17 Millionen Besucher surften bisher auf die Website (www.Big-Brother.nl). Dort kann man das Geschehen im Haus auf vier Bildfenstern rund um die Uhr live verfolgen. Schon spekulieren die holländischen Il- lustrierten munter über weitere Sexaffären im „Big Brother“-Haus, die der Sender aber unter Verschluss halte. Der holländische „Playboy“ verpflichtete sogleich die 21- jährige Tara als Nacktmodell. Sie hatte das Haus nach zwei Wochen freiwillig verlassen und macht seitdem in den Talkshows Kar- riere – ihr gingen die Mitbewohner wegen

der übertriebenen Freundlichkeit und den B. FRIEDLANDER FOTOS: ständigen Umarmungen auf die Nerven. Szenen aus der „Big Brother“-Show Es stimme schon, dass sich die Bewohner Mit dem Fallschirm in den Vorgarten zu Beginn etwas „unnatürlich benahmen“, räumt Roemer ein, doch inzwischen ver- aus den USA, Frankreich, Australien und hielten sich alle „wie im wirklichen Le- einem halben Dutzend anderer Länder will ben“. Da läuft plötzlich Maurice über den der Produzent noch verhandeln. Bildschirm. Roemers Stirn legt sich in Fal- Orwells Roman „1984“ hat Roemer vor ten: „Bis auf den, der ist zu still und ver- 20 Jahren als Schüler, aber nicht zur Vor- steckt sich immer noch ein bisschen.“ bereitung der Show gelesen. Mit der Para- Protest gegen den öffentlich übertra- bel auf Totalitarismus und Zensur habe sei- genen Versuch am Menschen kam nur zu ne Sendung „nichts zu tun“. Beginn der Sendung vom niederländischen Eher damit, dass die Beobachtung durch Psychologenverband, der die Serie als in- Kameras inzwischen ganz normal gewor- human und gefährlich kritisierte. Tier- den ist und niemanden mehr aufregt. Roe- schützer protestierten, weil im Garten des mer konstatiert das nur, er bewertet es Hauses Hühner gehalten werden und das nicht. Vor zehn Jahren hätte man eine Gerücht kursierte, die Bewohner würden Show wie „Big Brother“ noch für Science- sie vor laufender Kamera schlachten. Fiction gehalten. Heute weiß jeder Cam- Erkennbare Psycho-Defekte hat die corder-Besitzer, was technisch alles geht. In Show bei den Teilnehmern bisher nicht der Welt von Paul Roemer gibt es nicht hinterlassen. Als sie nach ihrem Raus- nur einen, sondern Millionen Big Brothers. schmiss nach fünf Wochen Dauer-WG zum Wie Orwells Romanheld Winston Smith ersten Mal ihr Ebenbild auf dem Fernseh- haben die Bewohner im Bungalow trotz schirm erblickte, entsetzte sich Sabine nur aller Technik eine Ecke gefunden, in die darüber „dass ich da so dick aussehe“. Big Brother nicht hineinlinsen kann. Hin- Vor ein paar Tagen hat Roemer das For- ter aufgehängten Handtüchern im Ba- mat der Sendung nach Deutschland ver- dezimmer, zwischen Dusche und Klo, kauft. Von April an soll „Big Brother“ mit ertrotzten sie sich ein winziges Fleck- deutschen Testpersonen in Köln oder Ber- chen Intimität. Da kommt keine Kamera lin produziert werden. Weitere Anfragen hin. Claus Christian Malzahn

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JOURNALISTEN Straßenschnüffler a. D. Die „Watergate“-Enthüller Bob Woodward und Carl Bernstein haben bis heute mit ihrem frühen Ruhm zu kämpfen. Nun, 25 Jahre nach Nixons Rücktritt, stehen sie selbst in der Kritik.

s war früh am Morgen, als den bei- wie Max und Moritz oder Clever und den jungen Reportern klar wurde, Smart. Ewelcher Sache sie da auf der Spur Das Land feierte die beiden als Hohe waren. Sie standen im Großraumbüro der Priester des unbestechlichen Journalismus. „Washington Post“ vor dem Kaffeeauto- Zwei Straßenschnüffler in Schlaghosen hat- maten und verglichen ihre Recherche- ten es den hochnäsigen Politikreportern Ergebnisse. Kein Zweifel: Sie hatten eine gezeigt und das Land von einer korrupten schwarze Kasse aufgestöbert, kontrolliert Führung befreit. Für ihre Recherchen er-

von Nixons Gefolgsleuten zu dem Zweck, hielten sie den Pulitzerpreis, ihr Buch über AP Opponenten der Demokraten auszuspio- Watergate wurde ein Bestseller. Die Ver- Skandalpolitiker Nixon (1974) nieren. filmung mit Robert Redford und Dustin „Dieser Präsident wird enthoben“ „O mein Gott“, sagte Carl Bernstein, da- Hoffmann machte die beiden Reporter zu mals 28 und Reporter für den Nachbarstaat Popstars. Offenbar haben etliche Kollegen die Auf- Virginia, „dieser Präsident wird des Amtes Ein Ansturm auf die Journalistenschu- tritte leid, in denen die beiden Mittfünfzi- enthoben.“ Sein Kollege Bob Woodward, len begann. Die Schüler wollten dem Vor- ger beharrlich wie Kriegsveteranen das 29, der sich vor dem seltsamen Einbruch im bild der zwei Männer folgen, die mit viel Phänomen Watergate erklären und jedes Watergate-Gebäude dem Problem von Rat- Fußarbeit und Beharrlichkeit eine Regie- Gespräch auf ihre ruhmreiche Schlacht von ten in Hotelküchen journalistisch genä- rung stürzten. Dass dies mit Hilfe eines bis einst lenken. hert hatte, starrte ihn an. „O mein Gott, du heute unbekannten Informanten – Deck- Woodwards Buch kam da wie gerufen, hast Recht.“ name „Deep Throat“ („Tiefer Schlund“) – um Dampf abzulassen. Der Erfolgsjourna- An diesem Morgen im Sommer 1972 geschah, machte den Mythos nur geheim- list unterzog alle Präsidenten seit Nixon wurde Nixons Schicksal besiegelt – doch nisvoller. Bob Woodward und Carl Bern- einer Art Watergate-Lackmustest.Alle fie- auch das Schicksal seiner Jäger. stein schienen unverwundbar. len durch. Keiner habe aus Watergate Denn als zwei Jahre später der Heli- Doch nun, 25 Jahre nach Nixons Rück- gelernt, klagt der Autor, immer noch ver- kopter mit dem zurückgetretenen Präsi- tritt, scheint der Denkmalschutz abgelau- suchten die Herrscher des Weißen Hauses, denten vom Rasen des Weißen Hauses fen. Das neueste Buch von Woodward, ihr Volk, die Berichterstatter und vor allem abhob, wurden die Watergate-Zwillinge an- „Schatten: Fünf Präsidenten und das Erbe ihn anzulügen. einandergekettet. Woodward und Bern- von Watergate“, wird von der US-Presse Das war die Vorlage für heftige Kritik. stein verschmolzen im kollektiven Ge- zum Anlass genommen, die Ikonen gehörig „Man muss fast Mitleid haben mit Bob dächtnis zu Woodstein, so unzertrennbar abzutropfen. Woodward“, ätzte das „New York Times Magazine“, „mit jedem Jahr, Starreporter Woodward, Bernstein (mit Freundin): „Mit jedem Jahr schwindet der Respekt“ das ins Land zieht, schwindet der Respekt vor ihm.“ Seine aktuellen Enthüllungen seien eher skurril, spottet das Blatt, etwa dass Hillary Clinton in übersinnlichem Kontakt mit Eleanor Roosevelt stehe und Bill böse sei, weil Tochter Chelsea den Starr-Report lesen wollte. „Entschuldige, Bob, aber dieser Schmutz ist schon ausgegraben“, höhnt das Magazin „Fortune“. So- gar im eigenen Blatt, der „Washington Post“, erschien ein Verriss. Der Spott jedoch ist nur Vorwand. Tatsächlich geht es um eine fundamentale Kri- tik an der Arbeit von Wood- ward und auch Bernstein, die bereits an ihrem zwei- ten und letzten gemeinsamen Buch geäußert wurde: das Verstecken hinter anonymen

SIPA PRESS SIPA LIAISON / GAMMA STUDIO X Quellen, das Konstruieren Werbeseite

Werbeseite Medien einer Dramaturgie der Unterhaltung zu- verdiente Millionen als Bestsellerautor. liebe. Seine Reputation als Ausnahmejournalist Adrian Havill, der 1993 ein kritisches öffnete ihm alle Türen – nur die zum Chef- Buch über die Watergate-Zwillinge schrieb, redakteurszimmer blieb verschlossen. Ein- misstraut Woodsteins angeblicher Armee mal hatte er eine Geschichte verantwortet, von kleinen „tiefen Schlünden“. Er be- die den Pulitzerpreis gewann, sich dann zweifelte in seinem Buch „Deep Truth“ aber als Fälschung herausstellte. Nun lei- die Exaktheit vieler Quellen und mut- tet er ein eigens für ihn geschaffenes Ent- maßte gar, dass „Deep Throat“ nur eine Er- hüllungsressort und verfügt über die bes- findung im Dienste der Dramaturgie ge- ten Informanten im Land. Er hat Quellen wesen sei. Als er das Buch recherchierte, direkt im Zentrum der Macht, die nur so weigerte sich Woodward, mit ihm zu reden. sprudeln, wenn er ein neues Buchprojekt „Den Journalismus hat Bob Woodward plant. Das Washingtoner Establishment hinter sich gelassen“, glaubt die konserva- fühle sich geehrt, wenn Woodward mit ihm tive „Washington Times“, „in den Bü- rede, glaubt das Magazin „Washington chern, die Woodward nach Watergate Monthly“. schrieb, waren seine Quellen sogar noch Autor Art Levine sieht Woodward längst geheimnisvoller als ‚Deep Throat‘.“ als Teil dieses snobistischen Washingtoner Der Zorn entlädt sich allein auf Wood- Establishments. Nicht nur, dass er dessen ward, weil Bernstein nicht mehr als Prü- Mitglieder beschütze, er belohne seine erst- gelknabe taugt. Er tat sich nach dem klassigen Informanten mit wohlwollender Watergate-Coup mit seiner plötzlichen Be- Berücksichtigung in seinen Büchern. „Sie rühmtheit schwer. Den Film hat er so oft erscheinen gewöhnlich als Quellen sokra- gesehen, dass er die Realität und den Hol- tischer Weisheit, die ihre sturen, kurzsich- lywood-Streifen nicht mehr auseinander tigen Präsidenten eindringlich drängen, die halten konnte. Während der disziplinierte volle Wahrheit im gerade heraufziehenden Woodward brav an die nächste Geschichte Skandal mitzuteilen.“ ging – ein Brand in einem Eckhaus –, ver- Levine lässt seine Kritik an Woodward ließ seine besser schreibende Hälfte die in einer fragwürdigen Satire gipfeln. Titel: Zeitung und arbeitete erfolgreich an sei- „Die letzten Tage des Dritten Reiches, nem Ruf als Säufer, Partygänger und Schür- wie man es Woodward und Bernstein zenjäger. In New York verprasste Bernstein erzählt hat.“ Dort erscheinen Reichs- sein Geld mit Frauen wie Bianca Jagger marschall Hermann Göring und SS-Chef und Liz Taylor, er baute Heinrich Himmler als Unfälle im Vollrausch, sympathische Menschen heiratete die Drehbuch- und besorgte Bedenken- autorin Nora Ephron, und träger, die versuchen, ließ sich mit großem Tra- ihren bornierten Führer ra wieder scheiden. Adolf Hitler von seinem Zehn Jahre lang schrieb Antisemitismus abzubrin- er kaum noch. Auch sein gen. Woodward als Ge- Engagement beim TV- schichtsklitterer, so soll es Sender ABC war wenig scheinen. erfolgreich. 1989 erschie- Bislang hat Woodward nen seine Kindheitserin- nur auf einen seiner Pei- nerungen – und fielen niger reagiert. Der Me- durch. Sein hoch dotier- dienkritiker Steven Brill ter Zwei-Jahres-Vertrag Woodward, Bernstein (1974) hatte ihm in seiner Zeit- mit „Time“ wurde eben- schrift „Brill’s Content“ falls nicht verlängert. Erst 1996 sollte ihm vorgeworfen, er stricke Informationen aus wieder etwas gelingen: Sein Buch über den zweiter Hand ohne Rücksicht auf den Papst wurde ein Verkaufsschlager. Wahrheitsgehalt zu scheinbar authenti- Heute schmückt „Vanity Fair“ sein Im- schen Dialogen um. Nur um das Buch bes- pressum mit dem Namen Bernstein, doch ser vermarkten zu können. sein letzter Beitrag erschien im März 1998. „Hollywoodisierung“ sei das: „Es ist de- Um im Gespräch zu bleiben, kündigte er primierend und ein Zeichen unserer Zeit, kürzlich ein neues Buch an – über Hillary dass einer der besten Journalisten … sich Clinton. Fünf andere Autoren haben die mit großem kommerziellem Erfolg ent- gleiche Idee. schieden hat, seine Leser lieber zu unter- Tatsächlich tingelt Bernstein vorwiegend halten, als ihnen die ganze Geschichte zu im Vortragszirkus und schimpft für hohe erzählen.“ Gagen über den Niedergang des Journa- Daraus entspann sich ein Zweikampf lismus. Weil keiner mehr – so wie er sei- zwischen den beiden Journalisten, der in nerzeit – nach der Wahrheit wühlen wolle, Washington mit großem Vergnügen ver- verkomme der Journalismus zu Unterhal- folgt wurde. Doch wie immer hatte Wood- tungsmüll und kreiere eine Idiotenkultur, ward das letzte Wort. Brill sei von sich zetert er von den Podien des Landes. selbst besessen, so der Starreporter, und Bob Woodward dagegen machte eine wisse nicht, wovon er rede. glänzende Karriere bei der „Post“ und Michaela Schießl

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ZEITSCHRIFTEN Barbusige Grazien Ein Nürnberger Jungverleger ist mit seinen Computer- und Videospielmagazinen deutscher Marktführer – jetzt macht ihm „Computer Bild“ Konkurrenz. mu-ähnliche „Vimps“ grasen auf grünen Auen, „Krabbenmonster“ Epaaren sich am Strand, und „Verms“ flattern durch die milden Lüfte. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel, denn der „gigantische Kabuto“ hat sich auf die Suche nach frischer Nahrung gemacht.

Rasch grapscht er sich ein Vimp und M. WEBER W. verschlingt es. Verleger Geltenpoth: Freizeit mit Lara Croft und wilden Tigern Man muss schon „TAP“ sein, um Com- puterzeitschriften wie „PC Games“ ver- „Computer Bild Spiele“ mit einer Start- stehen zu können. Denn TAPs sind als Spielen und lesen 2,0 auflage von etwa einer Million in den Technical Advanced Persons technisch Verkaufte Auflage Markt drücken. Der Ableger von Europas Fortgeschrittene und damit die erklärte größter Computerzeitschrift soll nach dem von Computerspiele- 1,5 Zielgruppe des Blattes, von dem monat- Magazinen Willen der Hamburger Verlagsstrategen auf lich etwa 300 000 Exemplare verkauft in Millionen Anhieb die Nummer eins werden. werden. TAPs sind typischerweise männ- Quelle: IVW „Richtig ist, dass wir Marktführer wer- lich, 21 Jahre alt, Angestellte oder Studen- 1,0 den wollen“, tönte „Computer Bild“-Chef- ten, sie sind sportbegeistert und kaufen redakteur Harald Kuppek im Branchen- gern „Energy Drinks“. blatt „Werben & Verkaufen“. Im Gegensatz In ihrer Freizeit sitzen sie vor Computer 0,5 zu den meisten Magazinen, die von Spe- oder Fernseher und versuchen, in Spielen zialisten für Spezialisten gemacht würden, wie „Abomination“ den Niedergang der 1. Halbjahr will Kuppek auf die „typischen ‚Bild‘-Tu- Zivilisation zu stoppen, während eklige genden“ setzen: „klare, einfache Aussagen Schleimbatzen Häuser und Menschen be- 1989 1990 1995 1999 und eine Schreibe, die auch Lesespaß ver- fallen. Oder lassen in „Giants“ düstere mitteln soll“. Riesenaffen gegen barbusige Grazien an- Jedes Spiel soll aufwendig in einem ei- treten. Überblick zu behalten. Zudem sind die genen Labor in München auf 36 unter- TAPs sind es auch, die Christian Gel- „Tomb Raiders“, „Command and Con- schiedlichen PC getestet werden. Die erste tenpoth, 29, zum Multimillionär gemacht quers“ und „Age of Empires“ nicht billig: Ausgabe ist 256 Seiten dick, enthält eine haben. Denn sie lesen die Zockermagazine Die Software-Pakete kosten in der Regel CD-Rom und erscheint im gleichen For- („PC Games“, „N-Zone“, „Mega Fun“), um die hundert Mark. „Wenn Sie da das mat wie „Computer Bild“. mit denen seine Computec Media den Falsche aussuchen, wird es teuer“, sagt „Kuppek ist ein Sprücheklopfer, dem im deutschen Markt für Computer- und Geltenpoth, der mit seinen acht deutschen Spielemarkt jede Kompetenz fehlt“, macht Videospielzeitschriften dominiert. Spielemagazinen vor allem „Kaufbera- sich Geltenpoth Mut, doch Stephan Scher- Der Nürnberger hat früh erkannt, dass tung“ anbieten will. zer vom Konkurrenzverlag IDG sieht die man auch als Verleger von dem Boom der Er ist nicht der Einzige, der auf den Dad- Herausforderung kritischer: „Im Anzeigen- virtuellen Spiele profitieren kann. Im ver- del-Boom setzt. Inzwischen erscheinen bereich wird es eng.“ Geltenpoths Mann- gangenen Jahr wurden allein in Europa 13 Titel mit einer Gesamtauflage von über schaft hat umgehend reagiert. Zeitgleich und in den USA fast neun Milliarden 1,7 Millionen Exemplaren.Auch die großen mit dem Konkurrenzblatt aus Hamburg Dollar mit Computerspielen umgesetzt, in Verlage sind auf den lukrativen Markt werden die Nürnberger ihr „PC Games“ in vier Jahren sollen es über 17 Milliarden aufmerksam geworden. einem neuen Design anbieten. sein, schätzen Marktforscher. So verbreitet der Heinrich Bauer Verlag Doch die Aufmerksamkeit des jungen Drei Millionen Deutsche gelten in der seit zwei Jahren mit „Bravo-Screenfun“ Chefs ist derzeit abgelenkt: In diesen Ta- Branche als Hardcore-Spieler, die einen (Auflage: 253 000) Tipps, wie man die Spie- gen wird er in den USA zwei neue Spiele- großen Teil ihrer Freizeit darauf verwen- le überlisten kann („Dumah muss in den magazine einführen, die er mit einer 15 den, Kunstfiguren wie die legendäre Aben- Ofenraum gelockt und dort geröstet wer- Millionen Mark teuren Werbekampagne teurerin Lara Croft auf ihren Bildschirmen den“) und internationale Verlage wie Fu- ganz nach oben katapultieren will. Denn: gegen fiese Doggen in Venedig oder wilde ture („Playstation-Fun-Magazin“) oder „Nur der Marktführer in den USA kann Tiger in Indien antreten zu lassen. IDG („Game Star“) machen dem deut- Weltmarktführer werden.“ Jeden Monat kommen etwa hundert schen Pionier Konkurrenz. Selten nur noch setzt sich Geltenpoth an neue Spiele dazu, und auch die selbst er- Doch die größte Herausforderung steht den Computer, um virtuelle Monster zu ja- nannten „Profis“ unter den Computer- dem Jungunternehmer noch bevor: Am gen: „Geschäfte zu machen ist spaßiger“, Spielern haben Schwierigkeiten, den Mittwoch wird der Springer-Verlag seine sagt er. Konstantin von Hammerstein

der spiegel 44/1999 145 Werbeseite

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PSYCHOLOGIE Meinungsstarkes MODE Europa Daunen für Nachtschwärmer ine britische Telefongesellschaft isher gingen Mode- Ehielt es vor kurzem für angebracht, Bmacher diesem Ma- Broschüren zu verschicken, in denen er- terial aus dem Weg: klärt wird, wie man ein verständliches Wattierte Stoffe schie- und vernünftiges Gespräch führt. Wer nen allein für den Ski- nun glaubt, das müsse und könne jedes sport zu taugen und für miteinander kommunizierende Paar Farmer in Alaska. Dass selbst entscheiden, der hat ein dickes der mit Daunen oder Fell oder taube Ohren. Nach Ansicht Baumwollvlies gefüllte des britischen Historikers und Rund- Stoff nicht bloß wärmt, funk-Autors Theodore Zeldin, 66, ist die sondern auch Eleganz Kunst des Gesprächs auf den Hund ge- ausstrahlen kann, war kommen. Als interessantes Gespräch unbekannt. Aber dann lässt Zeldin dabei nur jenes gelten, das ließen Jean-Paul Gaul- wir „mit der Bereitschaft beginnen, aus tier, Helmut Lang und ihm als ein etwas anderer Mensch her- Gianfranco Ferré aus vorzugehen“. Ver- wattiertem Material lan- heerend wirkt das ge Röcke und Abend- Vorbild der Talk- kleider schneidern. shows. Hier be- Hochbeinige Nacht- schränkt sich der schwärmerinnen sind Wille des Einzel- damit bestens gekleidet. nen auf das Re- Auch Damen, die mor- servieren oder gens schwer aus den Fe- Erkämpfen von dern kommen, können Redezeit. Statt mit- sich auf diese Win- einander zu spre- terröcke freuen. In sie chen, wird gegen- gehüllt, kann man den einander argumen- Morgenschlaf verlän- tiert. Statt sich gern, und wer nachts auf der Wahrheit an- der Tanzfläche vor Er- zunähern, möchte schöpfung umfällt, fühlt man eine Ausein- sich gleich wie zu Hau- andersetzung ge- se im Bett, als habe er winnen. Wie sooft alles Schöne oder Ent-

kommt das Schlim- täuschende des Abends DIMMOCK J. me aus Amerika, bloß geträumt. Wattierter Rock von Gaultier während das alte Zeldin Europa noch wacker um Werte kämpft: Streitigkeiten unter Kindern, förderte eine Untersuchung zu Tage, HAUPTSTADT hatten bei 31 Prozent der italienischen Sprösslinge Meinungen und Ansichten Berlins allerletzter Frauenfreund zum Gegenstand, beim amerikanischen Nachwuchs kümmerten sich bloß ind Heteros in Berlin eine gefährdete 6 Prozent um solche Stilfragen. Der Rest SSpezies? Diesen Eindruck vermittelt je- stritt vorwiegend um Spielzeug und an- denfalls ein jüngst auf den Markt gebrachtes dere Gegenstände, was die kleinen Itali- T-Shirt mit der Aufschrift „Last Hetero Ber- ener nur halb so häufig interessierte. Es lin“. Wer sich damit auf die Straße traut, gibt aber auch Positives zu vermelden: kann sich auf unterschiedlichste Reaktionen Theodore Zeldins gelehrte und witzige gefasst machen. „Männer schauen betreten BBC-Sendungen über den elenden Zu- weg“, erzählt der T-Shirt-Schöpfer und stand unserer Gesprächskultur sind jetzt Graffiti-Künstler Mike W., „Frauen lächeln auf Deutsch erschienen („Der Rede mich komplizenhaft an.“ Ein anderer Trä- Wert – Wie ein gutes Gespräch Ihr Le- ger, der in dem Hemdchen in der Branden- ben bereichert“. Malik-Verlag, München; burger Provinz joggte, wurde von einem 120 Seiten; 24,80 Mark). Wenn man auch kahl geschorenen Jugendlichen „Schwein“ nicht als ein anderer Mensch aus der gerufen. Das auf 1000 Stück limitierte Shirt

Lektüre hervorgeht, so doch mit dem H. FUCHS ist inzwischen ein heiß begehrtes Sammel- Gefühl, gut unterhalten worden zu sein. Mike W. objekt – besonders bei Berliner Schwulen.

der spiegel 44/1999 149 Sänger Gildo (im April 1997 in Schenefeld bei Hamburg): „Das muss sehr hart für ihn gewesen sein“

STARS „Er kam, sang und ging wieder“ Vierzig Jahre lang trug der ewige Sonnyboy Rex Gildo unermüdlich Schlager wie „Fiesta Mexicana“ und „Speedy Gonzales“ vor – zuletzt auf Betriebsfesten in der Provinz. Isolation, Liebeskummer und Alkohol gelten als Motive für Gildos tödlichen Fenstersturz.

or dem Eingang der Universitäts- Oben, auf der Intensivstation, lag Gildo klinik in der Münchner Nuß- im Sterben. Beim Sturz aus dem Badezim- Vbaumstraße lungerten am vergan- mer-Fenster einer Wohnung in der Münch- genen Dienstagnachmittag gelangweilt ner Ottostraße hatte er am Wochenende rund ein Dutzend TV- und Zeitungsrepor- zuvor mehrere Knochenbrüche und schwe- ter. Manche schliefen zwischendurch in re innere Verletzungen erlitten, darunter ihren Autos, andere lehnten an den Über- eine Herzquetschung und einen Milzein- tragungswagen. Sie warteten auf Nachricht riss. In der Nacht, um 23.45 Uhr, versagte von Rex Gildo: Schafft es das Herz? das Herz, der Kreislauf brach zusammen. Funktioniert die Lunge? Stehen seine Die Ärzte hatten sich vergebens bemüht. Überlebenschancen immer noch fünfzig zu „Verzweifelt. Einsam. Angst vorm Al- fünfzig? tern“ – so erklärte „Bild“ den Fenstersturz Ansonsten blieb es vor und im Kran- von Gildo am vergangenen Montag. kenhaus erstaunlich ruhig. Es lagen keine Nach dem offensichtlichen Selbstmord- Blumen vor der Tür, es waren keine Post- versuch des Entertainers spekulierten Me- säcke voller Genesungswünsche ange- dienleute, Kollegen und Branchenkenner kommen, und kein einziger Fan bangte vor über die Motive des unglücklichen Stars. dem Hospitaleingang um das Schicksal des Die „Zeit“ hämte in einer Glosse: „Der Schlagerhelden: trauriger Beleg für die Ver- mutung, der Hitparaden-Veteran habe zu- * Peggy March, Roy Black, Ireen Sheer in den achtziger letzt nur noch wenige Bewunderer gehabt. Jahren. Schlagerstar Gildo, Kollegen*: Gnadenloser

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die anderen Kosten: für die tadellosen An- Es gibt Parallelen zu Roy Black, der vor züge, für den Friseur. 200 Auftritte pro Jahr, acht Jahren allein in einer bayerischen Fi- sagt Gildos Manager Uwe Kanthak, habe scherhütte starb. Offizieller Befund: Herz- der Sänger absolviert, Beierlein vermutet, versagen, Sohn Thorsten sprach von Selbst- es seien eher 50 gewesen. Vom ironisch- mord. Berichte über Alkohol-Exzesse und nostalgischen Schlager-Revival der vergan- Depressionen waren dem Tod Roy Blacks genen Jahre hatte er nicht profitiert. vorausgegangen. Der Sänger verabscheute 40 Jahre lang hatte Gildo der Öffentlich- die Schlager, mit denen er identifiziert wur- keit die immer gleiche perfekte Oberfläche de. Er hätte lieber Rock’n’Roll gesungen. präsentiert: blaugrüne Augen, braune Haut, Ähnliches wird nun auch von Gildo be- lakritzschwarze Haare, elegante Anzüge, richtet – doch das Publikum verlangte von Zahnpasta-Lächeln. So war er angetreten, beiden Stars die immer gleichen alten Hits. als er in den Sechzigern Hossa, hossa. „Gildo war und Siebzigern mit „Das seine eigene Marionette Ende der Liebe“, „Fiesta geworden“, sagt sein Mexicana“ oder „Speedy Komponist Willy Klüter. Gonzales“ berühmt wur- Gildos Kollegen, die de; so wollten ihn die Zu- wie er von Betriebsfeier schauer sehen, wenn er in zu Stadtfest tingeln, ha- den achtziger und neun- ben oft keine andere ziger Jahren in Fernseh- Wahl: Gegen Costa Cor- shows, bei Stadtfesten dalis eröffnete das Amts- und Kaufhauseröffnungen gericht Freudenstadt im sang. Dezember 1998 ein Kon- Am vorletzten Samstag kursverfahren, weil er war der Schlagersänger fast drei Millionen Mark bei der Jubiläumsfeier ei- Steuerschulden hatte. nes Möbelhauses in Bad Werner Böhm alias Gott- Vilbel aufgetreten. „Gildo lieb Wendehals wurde wirkte unfit, litt an einer wegen Steuerhinterzie- Virusinfektion und reiste hung zu 14 Monaten auf

früher als geplant ab“, PRESS / ACTION CMK IMAGES Bewährung verurteilt; er KASNITZ sagt ein Angestellter des Unglücksort in München bekannte sich, Alkoholi- deutsche Schlager ist aus dem Klofenster Geschäfts. Es muss ein ker zu sein. gesprungen.“ Desaster für Gildo gewesen sein. „Der ist Im Juni veröffentlichte Gildo sein neues Sah sich der Sänger, 60 – nach anderen doch besoffen“, „Zieh mal an seiner Album „… sonst gar nichts“. Die Verkäu- Angaben 63 –, vom Ruin bedroht? „Ich Perücke“, „Singt er oder lallt er?“, schrie fe, so Karl-Heinz Voell von der Platten- warne davor anzunehmen, Gildo sei als rei- das Publikum, wie zwei Gäste berichteten. firma Koch International, hätten die Pro- cher Mann gestorben“, sagt der Musikma- Abends besuchte Gildo seinen Freund duktionskosten jetzt schon eingebracht, nager Hans Beierlein. Für Auftritte auf Be- und Privatsekretär in München. Um 20.10 obwohl „deutsche Interpreten sich eher triebsfesten und in Möbelmärkten werde Uhr rief dieser den Rettungsdienst. Als langfristig verkaufen“. Genaue Zahlen will den Altstars oft nicht mehr als 5000 Mark die Sanitäter eintrafen, hatte der Sänger Voell nicht nennen. Nach dem Tod ihres bezahlt. Manchmal müssten sie sogar noch sich im Badezimmer eingeschlossen und Stars kündigte die Firma ein Doppelalbum die Musikanlage mitbringen, wenn sie nicht rief dem Notarzt zu, dass alles in Ord- mit dem Titel „Unvergesslich“ an. über schrammelige Lautsprecher singen nung sei. Sekunden später muss er über An den Lizenzen seiner alten Hits ver- wollen; oft bewegten sie auch nur die Lip- die Badewanne zum Fenster geklettert diente Gildo wahrscheinlich nur wenig. pen zum dröhnenden Playback. Und dann sein. Er stürzte acht Meter in die Tiefe und Zwar ist er auf den vielen, regelmäßig er- blieb schwer verletzt auf dem Ra- sen liegen. Nach Gildos Fenstersturz wur- den sofort Skandalberichte aus den vergangenen Jahren herbei- zitiert: 1993 forderte ein badischer Wäscheversand die Gage vom Sän- ger zurück, weil dieser betrunken auf die Bühne getorkelt sei. Gildo stritt die Vorwürfe ab, ließ sich jedoch auf einen Vergleich ein. Sein Image blieb beschädigt. Mal erklärte er sein unsicheres Auftre- ten mit Cortison-Spritzen, mal mit Schmerzmitteln, mal mit den Ne- benwirkungen von Erkältungsme- dikamenten.Als wieder einmal ein Veranstalter behauptete, Gildo sei betrunken, ließ der Schlagerstar noch vor Ort einen polizeilichen DPA SCHNEIDER-PRESS Alkoholtest machen. Ergebnis: 0,0 Umgang mit den Kultfiguren Promille. Die Gerüchte blieben. Parodist Horn: Nostalgische Witzfigur

der spiegel 44/1999 151 scheinenden Schlager-Hitsammlungen mit einem Stück vertreten – doch erhielt er, wie in dem Geschäft üblich, nur Pfennig- beträge pro verkauftes Album. In der Branche wussten viele von Gildos zunehmender Verzweiflung. „Rex Gildo erzählte mir, wie einsam und verlassen er sich fühlt“, sagt Uwe Hübner, Moderator der „ZDF-Hitparade“. In der Sat-1-Sen- dung „Akte 99“ wurde eine „langjährige Freundin“ Gildos vorgestellt, die von frü- heren Suizidankündigungen berichtete. Die Mitleidsbezeugungen und Erklä- rungsversuche seiner Kollegen offenbaren nun, wie isoliert der Sänger war. Ralph Sie- gel, der „Fiesta Mexicana“ komponiert hat- te, erklärte, er sei mit Gildo „auf liebens- werte Weise“ befreundet gewesen, habe aber schon lange nicht mehr mit ihm zu- sammen gearbeitet, schließlich habe er „ei- nen großen Stall von Künstlern“. Conny Froboess nutzte die Gelegenheit, das Showgeschäft zu kritisieren, „das gnaden- los mit seinen Kultfiguren umgeht, von de- nen es lebt“. Gitte Haenning, mit der Gildo einst er- folgreich Duette sang, gab Belangloses wie „Er hat sein Publikum immer geliebt“ von sich. Costa Cordalis behauptete, der Sän- ger habe das Altern nicht ertragen. Bern- hard Brink erklärte, Gildo habe nicht an- ders gekonnt, als „diesen Pseudo-Beau zu spielen“, und müsse sehr verzweifelt ge- wesen sei. Die Arbeitsgemeinschaft Deut- scher Schlager empörte sich über „ge- schmacklose Profilierungsversuche einiger Kollegen“. „Er kam ins Studio, sang und ging wie- der“, sagt Gildos Komponist und Produ- zent Klüter, „das war ganz merkwürdig, da war eine Wand.“ Persönliches wurde nie besprochen. Aber sehr liebenswürdig und respektvoll sei der Sänger gewesen; „zu Weihnachten“, so Klüter, „schickte er mir einen Kaschmir-Schal“. Das satirische Schlager-Revival, in den vergangenen Jahren in Gang gesetzt von singenden Komikern wie Guildo Horn und Dieter Thomas Kuhn, widersprach der ernsten Selbstinszenierung von Rex Gildo und war deshalb für ihn keine Comeback- Chance, sondern eher eine Verhöhnung seiner Person. „Das muss sehr hart für ihn gewesen sein“, vermutet der Schlager- sänger Jürgen Drews. Dieser müht sich seinerseits um ironische Distanz zur Witzfigur „Onkel Jürgen“, die er auf der Bühne mimt. Auf Mallorca, so Drews, habe ein aufge- heiztes Publikum zur Melodie von „Yellow Submarine“ gegrölt: „Jürgen Drews ist homosexuell!“ Verblüfft sei er gewesen und dann amüsiert. „Aber was wäre wohl pas- siert“, sagt Drews, „wenn Rex Gildo an meiner Stelle gewesen wäre?“ Zumindest öffentlich ging Alexander Ludwig Hirtreiter, wie der Sänger mit bür- gerlichem Namen hieß, nie auf Distanz zum schön-schmalzigen Schlagerstar und

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Frauenschwarm Rex Gildo, als der zu spielen. Die allerdings erklärte er 1960 mit „Sieben Wochen nach einmal auf die Frage nach ihrer Bombay“ bekannt wurde. Zuvor besten Leistung im Showgeschäft: hatte der gebürtige Münchner eine „Das war meine ‚Liebesgeschichte‘ Handelsschule besucht – sein Vater mit meinem Partner Rex Gildo. Die hatte ihn dazu gezwungen. Doch Gil- hat aber kein Regisseur inszeniert, do wollte unbedingt ins Showge- sondern ein Pressechef.“ schäft. Er überzeugte schließlich sei- Gerüchte, er sei homosexuell nen Vater und machte eine Schau- und führe mit seiner Kusine Marion spiel-Ausbildung an der Münchner eine Scheinehe, haben Gildo seine Otto-Falckenberg-Schule.Außerdem Karriere lang verfolgt – er selbst nahm er jahrelang Tanz- und Ge- hielt strikt am Image des sanften He- sangsunterricht. Das zahlte sich aus: teros fest. Gildo galt als einer der besten Tän- Der Abschied vom „Hossa, hos- zer unter den deutschen Showstars. sa“ singenden Sonnyboy hätte ver- Seine Theaterkarriere begann er mutlich das Karriere-Aus bedeutet. 1956 mit „Peterchens Mondfahrt“ an „Es passiert selten, dass Musiker mit den Münchner Kammerspielen. In verschiedenen Stilen erfolgreich „Immer wenn der Tag beginnt“ hat- sind“, sagt der Komponist Klüter. te er 1957 erstmals eine kleine Film- Einmal habe Gildo erzählt, seine rolle. Zwei Jahre später rief er Auto- Fans wollten Texte auf Grönemeyer- grammsammler in seinen Antwort- oder Westernhagen-Niveau hören. briefen dazu auf, Filmproduzenten Als ihm dann anspruchsvollere Lie- und Plattenfirmen um neue Gildo- der vorgelegt wurden, habe er einen Werke zu bitten. Rückzieher gemacht: Der Stoff pas- Bei der deutschen Uraufführung se nicht zu ihm. von „My Fair Lady“ im Berliner Der Musik-Manager Manni Schul- Theater des Westens übernahm er te hat Gildo oft zu Rundfunk- und 1961 den Part des Freddy. 1962 kam Fernsehauftritten begleitet. „Er war der Durchbruch: Mit „Speedy Gon- einer der nettesten Künstler über- zales“ landete er einen großen Hit. Pin-up-Model Gildo (1962): Erfolg in jungen Jahren haupt, und ich kenne fast alle“, sagt Insgesamt spielte Gildo in 30 Unter- Schulte, „aber er hatte ein Problem: haltungsfilmen mit, nahm Duette mit Ohne sich auf den Sockel zu heben, sah er Conny Froboess und Gitte auf („Vom alles durch eine rosarote Brille. Er hat nicht Stadtpark die Laternen“) und sang Schu- ganz mitbekommen, dass die musikalische berts „Winterreise“ fürs Radio. Landschaft sich verändert hat.“ Mehr als 25 Millionen Platten verkaufte In der Hörerhitparade des SWR 4 zum er. „Wer in jungen Jahren Erfolg hat“, sagt Beispiel liegt sein „Fiesta Mexicana“ auf der Manager Beierlein, habe es „später Platz 213. Bei einer Hamburger Schlager- umso schwerer“, den Abstieg vom Gipfel party im Mai dieses Jahres, zu der auch des Ruhms zu überstehen. Und schnell Gildo als Stargast eingeladen war, erschie- verdientes Geld sei schnell wieder aus- nen statt der erwarteten 3000 Gäste nur gegeben. 185. Die Veranstaltung wurde abgesagt. Schon zu Anfang seiner Laufbahn be- Wenn jüngere Zuhörer sich über Gildo dauerte Gildo, wie schwierig es für einen lustig machten, erzählt Schulte, habe der Schlagersänger sei, eine ernste Theater- gesagt: „Lass doch denen ihren Spaß. Die oder Fernsehrolle zu bekommen. Ihm je- finden eben AC/DC gut.“ denfalls ist es nie gelungen, und so musste Offenbar hat Rex Gildo die rosarote Bril- er sich beispielsweise damit begnügen, im Schlagerduo Gitte, Gildo (1963) le am Ende doch abgenommen. richtigen Leben mit Gitte das Traumpaar Inszenierte Liebesgeschichte Marianne Wellershoff Gesellschaft

reproduziert damit jenes Klischee, das der Rest der Welt insgeheim für viele Kalifor- nier bereithält: groß, blond, muskelbepackt und völlig verblödet. Auf ein Echo des aufrechten Amerika musste der Internet-Marktschreier nicht lange warten. Religiöse Verbände wetter- ten, aber am aufgebrachtesten protestier- ten ausgerechnet jene Agenturen und Kli- niken, die seit Jahren fremde Eizellen an fortpflanzungswillige Paare verhökern. „Das ist Furcht erregend und schreck- lich, und das Schlimmste ist, dass sicher noch viel grauenhaftere Dinge geschehen werden“, sagte Shelley Smith, Direktorin des „Egg Donor Program“ in Los Angeles. Dabei ist es in den USA seit Jahren durchaus üblich, dass Spenderinnen ihre Eier samt Passfoto, High-School-Ab- schlußnote und Stammbaum im Internet „Ron’s Angels“-Website: „Frauen wollen Schutz“ anpreisen. Nur eben für rund 5000 Dollar und nicht unter dem Versteigerungs- hammer eines Ron Harris, der dazu recht FORTPFLANZUNG einfache Vorstellungen von glücklichen Partnerschaften hat: „Männer versuchen Schönheit doch nur, Frauen das zu geben, was sie wollen, nämlich Schutz und Unterstützung, und dafür wollen Männer im Austausch gegen Kasse wilden Sex.“ Wahrscheinlich nennt man so etwas ka- Ein US-Fotograf offeriert lifornische Lebenserfahrung – fest steht je- denfalls, dass Harris, bevor er zum Her- im Internet Eizellen von hübschen renmenschen mutierte, jahrelang für Her- Models – und macht renmagazine Fotos und Videos produzier- mit dem Medien-Wirbel ein te und auf einer Ranch Hengste züchtete. prächtiges Geschäft. Auch die Produktion des eigenen Nach- wuchses betrieb er eifrig. In insgesamt vier os Angeles ist bekannt dafür, ein Ort Ehen zeugte er drei Kinder, „aber erst moderner Katastrophen zu sein, und mein drittes Kind ist schön“. Ldeshalb ist es kein Wunder, dass – Rons Engel sollen dafür sorgen, dass nach komplett verriegelbaren Wohnvier- solch qualvolle Versuchsreihen endgültig teln, Nasenoperationen für 12-Jährige und der Vergangenheit angehören. Gerätselt neuartigen Killerbienen – letzte Woche wird zur Zeit nur noch, in welchen Me- eine weitere Desaster-Variante auf die tiers die angeblichen Spenderinnen – von

Menschheit losgelassen wurde. A. SIEBMANN ursprünglich acht sind inzwischen fünf vor Ein Mann namens Ron Harris, 66, ver- Models auf dem Laufsteg dem ersten Eisprung abgesprungen – tätig steigert auf seiner Website „Ron’s Angels“ „Männer wollen Sex“ waren, ehe sie ins Muttergewerbe gewech- die Eizellen von Fotomodellen, hofft auf ei- selt sind. nen Stückpreis von mindestens 15 000 ner im Vollsuff ausgedacht. „Das ist natür- Fest steht nur, dass die bekannteste An- Dollar und will mit einer Provision von liche Auslese at its very best“, pries Harris bieterin im ursprünglichen Gen-Pool eine zusätzlich 20 Prozent seine Konten füllen. seine Plastikgesichter. „Wer am meisten Dame namens Nicole Newman ist, die vor Allein am ersten Tag konnten Rons En- zahlt, bekommt Jugend und Schönheit.“ ein paar Jahren in der amerikanischen Kri- gel mehr als fünf Millionen Hits verbu- Leute, die in ihm einen sonnenhirnver- miserie „Homicide“ als Leiche auftrat. chen, und wem Foto und Nummer der Mo- brannten Lifestyle-Nazi sehen, versuchte Jetzt ist sie 25 Jahre alt und möchte Musik dels nicht genügten, der konnte nach der er mit folgender Weisheit zu beruhigen: studieren, und weil das College 28 000 Zahlung von 24,95 Dollar auch noch an- „Ich schlage hier nicht vor, eine Super-Ge- Dollar kostet, will sie mit ihrem Ei einen dere zur Fortpflanzung wichtige Details sellschaft der schönen Menschen zu schaf- Ertrag von 30000 Dollar erzielen. „Auf die- erfahren: zum Beispiel die Oberweite der fen. Diese Website spiegelt lediglich unse- se Weise“, sagt sie, „muss ich nicht bei mei- auserwählten Eizellenspenderin. re gegenwärtige Gesellschaft, in der Schön- nen Eltern anrufen und um Geld betteln.“ Ein Ehepaar bot sofort 42 000 Dollar, heit immer dem zuteil wird, der am meis- Vorbildlich auch, dass sie nie etwas nicht aber Harris hat es nicht eilig, denn das ten dafür zahlt.“ Aufklärung im Zeitalter Vorbildliches getan hat: nie geraucht, nie meiste Geld, so steht zu vermuten, ver- der Silikonkissen. getrunken, nie Drogen genommen. „Mein dient er mit den Zusatzinformationen, die Aber Kant hin oder her – am Ende einziges Laster“, sagt sie, „ist, dass ich zu er den Neugierigen verkauft. kommt es beim Überlebenskampf der oft ins Fitness-Studio gehe.“ Schon deshalb hatte der Eizellen-Auk- Schönen auch auf Kleinigkeiten an: „Wenn Da ist es doch auch völlig egal, dass – tionator rechtzeitig zur Geschäftseröffnung Sie die Chance erhöhen könnten, schöne selbst wenn die Fortpflanzung optimal ver- merkwürdige Evolutionstheorien verbrei- Kinder zu bekommen und ihnen daduch läuft – gefärbte Haare, operierte Nasen tet, die klangen, als hätten sie sich Charles das Leben später leichter zu machen, wür- und aufgespritzte Lippen nicht vererbbar Darwin und „Playboy“-Chef Hugh Hef- den Sie das tun?“, fragt er scheinheilig und sind. Thomas Hüetlin

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Werbeseite Panorama Ausland FOTOS: ( DPA li.); REUTERS ( re.) Polizeieinsatz bei einer Demonstration Oppositioneller in Minsk, belorussischer Präsident Lukaschenko

BELORUSSLAND der Duma eine Verurteilung von Polizeiausschreitungen gegen einen so genannten Freiheitsmarsch von 20000 Oppositions- anhängern in Minsk zu erreichen. Laut Lukaschenko soll der Traum von Protest vom amerikanischen Geheimdienst inszeniert worden sein. In der künftigen Slawenunion, wie sie dem früheren Di- rektor eines sowjetischen Staatsguts vorschwebt, dürfe es kei- der Slawenunion ne „Oligarchen und Kriminelle“ mehr geben und niemanden, der „vor den Schurken des Internationalen Währungsfonds nie- ie „stolzen und freien Völker Belorusslands und Russlands“ derkniet“. Bislang waren Lukaschenkos Großrussland-Pläne Dwill Alexander Lukaschenko, autoritärer Machthaber von am Hinhalten des Kreml gescheitert. Aus Sorge, zu viele Rus- Minsk, so rasch wie möglich vereinigt sehen – gegen den Wes- sen könnten sich für den Mann aus Minsk erwärmen, hatte ten und die Nato. Ein anderthalbstündiges Plädoyer des be- Russland Anfang Oktober für die Unionsspitze lediglich einen lorussischen Präsidenten für die Wiederherstellung der Union gemeinsamen Staatsrat vorgeschlagen. Dieses Projekt geht Lu- mit Moskau vor der russischen Staatsduma am Mittwoch vori- kaschenko längst nicht weit genug: Er will einen baldigen Volks- ger Woche quittierten die meisten Abgeordneten mit stehenden entscheid zwischen Brest und Wladiwostok auch darüber, ob Ovationen. Lediglich die Liberalen der Jabloko-Fraktion waren das Volk einen gemeinsamen Präsidenten wünscht und welchen. dem Auftritt fern geblieben. Sie hatten vergebens versucht, in Zum Beispiel: Lukaschenko.

ITALIEN mehrjährigen, teilweise rechtskräftigen Haftstrafen verurteilt wurde, entkam Gnade vor Recht 1994 ins tunesische Hammamet. Aus Gesundheitsgründen wird nun seine ergangenheitsbewältigung auf ita- straffreie Heimkehr betrieben: Ein un- Vlienisch: Nach dem Freispruch des befristeter Haftaufschub wegen Craxis siebenmaligen christdemokratischen schwerer Zuckerkrankheit schien sogar Regierungschefs Giulio Andreotti vom dem Mailänder Chefankläger Gerardo Vorwurf der Zugehörigkeit zur Mafia D’Ambrosio angemessen. Auch die re- wird nun die Rehabilitierung seines gierenden Linksdemokraten von Minis- langjährigen sozialistischen Koalitions- terpräsident Massimo D’Alema hatten partners, Bettino Craxi, betrieben. gegen einen „Akt der Menschlichkeit“ Craxi, von 1983 bis 1987 Ministerpräsi- nichts mehr einzuwenden. Sie befinden dent, war der erste prominente Politi- sich in schwierigen Koalitionsverhand- ker, gegen den 1992 eine Gruppe junger lungen unter anderem mit Craxis sozia- Mailänder Staatsanwälte ermittelte. listischen Nachfolgern und Freunden. Ihre Untersuchung „Mani pulite“ (Sau- Ein solcher Gnadenerweis passt ins bere Hände) stieß schnell auf einen neue politische Klima Italiens. Weil von Sumpf von Schmiergeldern, Partei- rund 500 Verurteilten nur 2 hinter Git- spenden und Mafia-Connections. Mäch- ter mussten, wandten sich die Italiener tige Parteien, wie Andreottis Democra- enttäuscht oder gelangweilt von den zia Cristiana und Craxis Partito Vorhaben der Justiz ab, die Affären der

Socialista Italiano lösten sich auf. Craxi, / BILDERBERG M. HORACEK so genannten Ersten Republik straf- der in verschiedenen Verfahren zu Craxi im tunesischen Exil rechtlich zu ahnden.

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INDONESIEN Kapital zurückholen ei seiner Regierungsbildung über- Braschte Indonesiens erster demokra- tisch gewählter Präsident Abdurrahman Wahid, 59, weil es ihm gelang, die Macht des Militärs zu schwächen. So hat Wahid das Verteidigungsministerium an einen Zivilisten übergeben. Der Poli- tikwissenschaftler Juwono Sudarsono, 57, soll sicherstellen, dass die Soldaten sich in Zukunft auf die Landesverteidi- gung beschränken. Die Schlüsselrolle in der 35-köpfigen Ministerriege wird Kwik Kian Gie, 64, übernehmen – ein enger Vertrauter von Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri. Der in den Niederlanden ausgebildete Ökonom Landemanöver der Volksbefreiungsarmee in der Festlandsprovinz Fujian gegenüber gehört der finanzstarken chinesischen Minderheit an, die nach den von Teilen CHINA des Militärs gesteuerten Unruhen im „Wir werden siegen“ Oberst Wang Baoqing, 48, Forscher an sie zu lange an der so genannten Zwei- der Akademie für Militärwissenschaften Länder-Theorie festhält, ist eine militäri- in Peking, über die Haltung der chinesi- sche Lösung nicht ausgeschlossen. schen Armee zum Taiwankonflikt SPIEGEL: Kann die Volksbefreiungsarmee Taiwan überhaupt besiegen? SPIEGEL: Wie hoch ist die Wahrschein- Wang: Zwar ist Taiwan eine relativ star- lichkeit eines Krieges mit Taiwan? ke Militärmacht, aber wir würden in Wang: Sie liegt wohl bei 50 Prozent. jedem Fall siegen. Die Volksbefreiungs- SPIEGEL: In welchem Fall wäre ein An- armee ist zahlenmäßig überlegen und griff unvermeidbar? besser ausgerüstet. Vor allem haben Wang: Wenn die Regierung in Taipeh sich wir einen wichtigen strategischen Vor- für unabhängig erklärt. Aber auch wenn teil: Wir können entscheiden, wann AP Superminister Kwik, Präsident Wahid

Frühjahr 1998 aus dem Land geflohen war. Kwik soll als Superminister für KOREA Produktion chemischer Waffen Wirtschaft, Finanzen und Industrie die Lagerung chemischer Waffen Chinesen ermutigen, ihr Kapital wieder Angst vor dem Gifttod Einrichtungen für biologische Waffen in dem von der Asienkrise gebeutelten Land anzulegen. Dass Präsident Wahid ie 600000 Soldaten der südkoreani- CHINA den Posten des Generalstaatsanwalts an Dschen Armee sollen in einer den Menschenrechtler Marzuki Darus- Blitzaktion gegen tödliche Milzbrand- NORDKOREA man, 53, vergeben hat, ist ebenfalls ein Bakterien und Pocken geimpft werden. Beweis für das politische Geschick des Grund für die Eile: In einem Weißbuch schwer sehbehinderten Staatschefs. erklärt das Verteidigungsministerium in Japanisches Obwohl Marzuki der einstigen Regie- Seoul, „die chemische und biologische Pjöngjang Meer rungspartei Golkar von Ex-Präsident Bedrohung aus Nordkorea“ sei unter- Demarkations- Bacharuddin Jusuf Habibie und seinem schätzt worden. Nach neuen Erkennt- linie Mentor Suharto angehört, hat der nissen könnten die feindlichen Brüder Diplomatensohn nie verheimlicht, dass im Norden bis zu 5000 Tonnen B- und Seoul er den ehemaligen Diktator für Verbre- C-Waffen mit Artilleriegranaten und Quelle: Federation of 100 km American Scientists SÜDKOREA chen während seiner Amtszeit zur Re- Raketen verschießen – fünfmal mehr als chenschaft ziehen will. Um die nach angenommen. Pjöngjang halte zehn wie vor einflussreichen Militärs ruhig zu verschiedene Typen solcher Massenver- Seoul bis zu vier Millionen Einwohner stellen, berief Wahid neben dem frühe- nichtungswaffen bereit. Schon bei ei- sterben. Besonders gefährdet sind auch ren Armeechef Wiranto, 52, weitere fünf nem Angriff mit 50 Raketen, die nur zu die 37000 in Südkorea stationierten US- hohe Offiziere ins Kabinett, die jedoch einem geringen Teil von den im Süden Soldaten. Ein nordkoreanischer Über- ausnahmslos dem demokratischen Re- stationierten amerikanischen „Patriot“- läufer berichtet, dass Diktator Kim Jong formflügel der Streitkräfte zugerechnet Raketen abgeschossen werden könnten, Il glaubt, er könne einen Krieg gewin- werden. müssten in der Zwölf-Millionen-Stadt nen, wenn 20000 GIs getötet werden.

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USA Wang: Bis zum Einsatz dieses Systems werden noch einige Jahre vergehen. Explosion der Armut Außerdem ist bei der geringen Entfer- nung zwischen dem Festland und Taiwan ot und Armut sind im Wohlstands- ein Raketenabwehrsystem nur bedingt Nstaat USA viel weiter verbreitet als wirksam. Es gibt noch viele andere Mög- bislang angenommen. Nach neuen Be- lichkeiten des Kampfes. rechnungen leben 46 Millionen Ameri- SPIEGEL: Welche zum Beispiel? kaner unterhalb der Armutsgrenze. Das Wang: Eine Seeblockade oder eine sind 17 Prozent der Gesamtbevölkerung schrittweise Eroberung, die mit der Ein- und 4,3 Prozent mehr, als noch im Sep- nahme der vorgelagerten Inseln beginnt. tember von der US-Regierung angege- Hinzu kommen moderne Kampfformen ben. Grund für die drastische Zunahme: wie ein Handels-, Finanz-, Internet- und Erstmals seit Präsident Lyndon B. John- Elektronikkrieg. Wir wollen auf jeden son Mitte der sechziger Jahre seinen Fall die Verluste der Bevölkerung soweit Feldzug gegen die Armut begann und wie möglich vermeiden. dazu die Grenze für das Existenzmini- SPIEGEL: Müssen Sie nicht ein Eingreifen mum feststellen ließ, wurden die Be-

XINHUA / CORBIS SYGMA XINHUA der Amerikaner fürchten, falls es zu ei- rechnungsfaktoren den längst veränder- Taiwan nem konventionellen Krieg kommt? ten Lebensbedingungen in den Vereinig- Wang: Wir haben keine Angst. Ich bin ten Staaten angeglichen. Nach den der Kampf beginnt, auf welche Weise fest davon überzeugt, dass die Amerika- bisherigen Vorgaben galt ein Jahresein- und aus welcher Richtung er geführt ner sich einschalten werden.Aber ihr En- kommen von 16600 Dollar für eine wird. Taiwan kann sich nur passiv ver- gagement dürfte sich in Grenzen halten, vierköpfige Familie als ausreichend, ei- teidigen. denn sie wollen nicht endgültig mit China nen minimalen Lebensstandard zu ga- SPIEGEL: Experten sagen, Sie hätten nicht brechen. rantieren. Tatsächlich, so die Statistiker, genug Schiffe, um die Insel zu erobern. SPIEGEL: Sind Sie jemals auf die Idee ge- müsse die Durchschnittsfamilie dafür Wang: Das stimmt nicht. Zudem können kommen, dass die Bewohner Taiwans heute 19500 Dollar ausgeben. Unabhän- wir auch mit taktischen Raketen an- nicht mit Ihnen wiedervereinigt werden gige Sozialforscher gehen davon aus, greifen. wollen? dass sogar noch mehr Amerikaner arm SPIEGEL: Dann wären Ihre Landsleute Ih- Wang: Es ist möglich, dass ein großer Teil sind. Nach ihren Berechnungen werden rer Ansicht nach zwar frei, aber tot. der Bevölkerung auf Taiwan unser poli- 28000 Dollar benötigt, um vier Perso- Wang: Wir würden ja nicht blind angrei- tisches System nicht mag. Doch Deng nen mit dem Lebensnotwendigen zu fen, sondern nur militärische Ziele Xiaoping hat das Problem mit der Formel versorgen. Mit der Übernahme von attackieren. „Ein Land, zwei Systeme“ schon gelöst. vollständig neu definierten Berech- SPIEGEL: Die Taiwaner suchen bereits Nach dem Völkerrecht ist die Volksrepu- nungsgrundlagen will sich das Weiße Schutz unter einem amerikanischen Ra- blik China die einzige legitime Regie- Haus allerdings noch „einige Jahre“ ketenabwehrsystem. rung Chinas. Zeit lassen – aus Angst vor einer Debat- te ausgerechnet im Wahljahr 2000.

FRANKREICH an Bohrkonzessionen heranzukommen. Wichtigster Empfänger war anschei- Schwarze Kassen nend der Präsident von Gabun, Omar Bongo. Die Erdölgesellschaft mit den für Afrika schwarzen Kassen war seinerzeit Staats- eigentum und diente auch dazu, die In- n der Schmiergeldaffäre des Ölriesen teressen der früheren Kolonialmacht IElf Aquitaine müssen Pariser Politiker Frankreich in Westafrika zu verteidigen. jetzt mit peinlichen Enthüllungen rech- Es wäre nicht das erste Mal, dass Gaben nen. Der ehemalige Afrika-Chef des aus Afrika französische Politiker kom- Unternehmens, der Korse André Taral- promittieren. So wurde der damalige lo, 72, hatte in einem Interview mit „Le Staatspräsident Giscard d’Estaing wohl Monde“ geschildert, wie afrikanische auch deshalb nicht wieder gewählt, weil Staatschefs von dem vornehm „paralle- Diamanten-Geschenke des zentralafri- le Bonusse“ genannten Bestechungssys- kanischen Staatschefs Bokassa bekannt tem profitieren konnten. Nun steht zu geworden waren. In einer Liste über die befürchten, dass bekannt wird, ob die gravierendsten Fälle internationaler Empfänger sich ihrerseits erkenntlich Korruption, die vorige Woche veröffent- zeigten und den Pariser Gönnern mit licht wurde, nimmt Frankreich unter Zuwendungen gefällig waren. Von 1990 den westeuropäischen Ländern sowohl bis 1997 waren mehr als 600 Millionen bei aktiver als auch bei passiver Francs (rund 180 Millionen Mark) über Bestechung einen Spitzenplatz ein. drei Schweizer Konten Tarallos gelau- Überdies hat Frankreich die Anti-

fen. Das Geld diente dazu, afrikanische / CORBIS SYGMA ROBERT P. Korruptions-Konvention der OECD Staatschefs zu schmieren, um leichter Präsident Chirac, Amtskollege Bongo nicht ratifiziert.

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AP Sozialdemokratische Regierungschefs Blair, Jospin, Schröder*: Ein Kampf um Kopf und Herz

SOZIALDEMOKRATIE „Wir sind die neuen Radikalen“ Wohin steuern Europas Sozialdemokraten? Auf dem Höhepunkt ihrer Macht als Regierungsparteien streiten Erneuerer und Traditionalisten um die richtige Balance von Wirtschaftsreformen und sozialer Sicherheit. Zwei Polit-Gipfel sollen Klärung bringen.

ffene Schadenfreude verbietet die „Man nehme eine Karotte, lege sie lange Ein Kampf um Kopf und Herz der eu- gallische Höflichkeit. Nach außen genug in ein Glas mit Gurken, und irgend- ropäischen Sozialdemokratie ist ausgebro- Obeschwören die französischen So- wann wird sie grün.“ chen, und die Franzosen zeigen sich ent- zialisten die Unerschütterlichkeit ihrer Hohn und Spott über den Schlingerkurs schlossen, ihn zu gewinnen. Jospin, der auf Entente mit den Parteifreunden in ihrer sozialdemokratischen Nachbarn sym- hervorragende Wirtschaftsdaten verweisen Deutschland. Sie preisen den „gelehrigen“ bolisieren, wenn auch hinter vorgehalte- kann, ist Wortführer und zugleich Galions- Kanzler und finden, von Kosovo bis Haus- ner Hand geäußert, das neue Selbstbe- figur jener Fronde, die Front macht gegen haltsnot, vielerlei Entschuldigungen für wusstsein der Franzosen im Richtungsstreit die selbst ernannten Modernisierer Blair dessen Fehlstart als Regierungschef. mit den sozialdemokratischen Erneuerern und Schröder. Intern jedoch können sich die an der Tony Blair und Gerhard Schröder. Mit Be- Das deutsch-britische Populistenduo hat- Macht gereiften „camarades“ aus Paris süf- friedigung verfolgen sie den politischen te der Öffentlichkeit Anfang Juni, wenige fisante Bemerkungen über Gerhard Schrö- Praxisschock, der die deutschen Genossen Tage vor den Wahlen zum Europäischen der nicht verkneifen. Bisweilen bespöt- fast schon im Wochentakt zu Anpassung Parlament, überraschend seinen Entwurf teln sie den deutschen Genossen gar als und Kurskorrektur zwingt – zurück an die zur radikalen Erneuerung der Sozialde- „Gurke“ – in Anlehnung an eine hämische Seite Lionel Jospins und seiner Sozialisten. mokratie präsentiert. Das Papier, wiewohl Theorie ihres Finanzministers und Lafon- vollgestopft mit Allgemeinplätzen und Ba- taine-Freundes Dominique Strauss-Kahn: * Vor der Europawahl im Mai bei einem Treffen in Paris. nalitäten, löste einen heftigen Richtungs-

160 der spiegel 44/1999 Ursprünglich hatte Clinton vorgehabt, dort die in die Jahre gekommene Interna- tionale auf den neuen Kurs zu verpflichten. Inzwischen sind die Organisatoren ange- sichts des Richtungsstreits bemüht, die grundsätzliche Bedeutung des Treffens herunterzuspielen. Reizworte wie „dritter Weg“ sind von der Tagesordnung verbannt. „Fortschrittliches Regieren im 21. Jahr- hundert“ heißt jetzt, ganz neutral, das Tref- fen der linken und linksliberalen Moder- nisierer. Ausgerechnet auf dem Scheitelpunkt ih- rer parlamentarischen Erfolge und ihrer politischen Macht steht die sozialdemo- kratische Linke am Scheideweg. In 12 von 15 Ländern der Europäischen Union tragen Sozialdemokraten oder Sozialisten zu Be-

L. CHAMUSSY / SIPA PRESS L. CHAMUSSY / SIPA ginn des neuen Jahrtausends Regierungs- Demonstration der Linken in Paris: „Das Elend aus den Augen verloren“ verantwortung. Und doch haben sie auf dem Weg zu einem vereinten Europa in Der von der Fahne gegan- wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit für gene SPD-Chef Oskar La- alle 375 Millionen Bürger kein gemein- fontaine tobte aus dem sames Konzept. selbstverordneten Polit-Exil, Mehr als 100 Jahre lang gehörte es, ob in seine Erben definierten „den Hamburg oder Stockholm, in London oder Menschen nur noch als Kos- Madrid, zum guten sozialdemokratischen tenfaktor, als disponible Ton, an der Seite der abhängig Beschäftig- Masse“. Die linksliberale Pa- ten zu stehen und für all jene Partei zu er- riser „Le Monde diploma- greifen, von deren Lohnarbeit das Kapital tique“ kommentierte, Ziele profitierte. Noch in jedem Wahlkampf be- wie „die Beseitigung der Ar- antworteten die Genossen diese Klassen- mut“ und des Elends von 18 frage in Konkurrenz zu Neoliberalen und Millionen Arbeitslosen sowie Konservativen getreu ihrer traditionellen 50 Millionen Armen in Euro- Maxime von Freiheit, Gleichheit und Soli- pa hätten die Autoren „völlig darität – oder was im ausgehenden aus dem Auge verloren“. 20. Jahrhundert davon übrig geblieben ist. Premier Jospin markierte Und ausgerechnet dieses ideologische gleich den programmati- Stützkorsett will zumindest Blair, ange- schen Gegenpol: „Wir gehen führt von seinem wissenschaftlichen Vor- als moderne Linkspartei un- denker Anthony Giddens, dem Direktor seren eigenen Weg.“ der renommierten London School of Eco- Selbst die sonst eher be- nomics, nun weitgehend einmotten. Wer tulichen schwedischen So- Sozialdemokraten auch in Zukunft zuerst zialdemokraten gifteten, der als Anwälte des kleinen Mannes versteht, „dritte Weg“ rücke die neue muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein Mitte „radikal nach rechts“. „Traditionalist“ zu sein, der den „moder- Schon in den nächsten nen Ansatz des Regierens“ nicht kapiert Wochen dürfte es zum (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 168).

F. ROGNER / NETZHAUT F. Showdown zwischen Moder- Die neuen Parolen dafür lauten „flexible Protestumzug in Bonn: Spott über die „Gurke“ nisierern und Traditiona- Märkte“, „Leistung und Erfolg“, „Eigen- listen kommen. Die Sozialis- verantwortung“, „Unternehmergeist“. Das streit aus. Schröders und Blairs Zustands- tische Internationale (SI) will auf ihrem am klingt wie ein neoliberaler Wertekanon aus beschreibung war vernichtend. Die herr- 8. November beginnenden Treffen in Paris dem Katechismus des Shareholder-Value. schende Politik der sozialen Demokratie in nicht nur einen neuen Präsidenten wählen. Dreh- und Angelpunkt des sozialdemo- Europa sei viel zu sehr „mit Konformität Die Partei- und Regierungschefs wollen kratischen Dreikampfes um die Zukunft und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit vor allem auf Betreiben der französischen von politischer Freiheit, wirtschaftlicher Kreativität, Diversität und herausragender Sozialisten zugleich eine Richtungsent- Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit ist Leistung“. Fortan gelte es deshalb, die scheidung über die Zukunft der Sozial- die Rolle des Staates. Nach herkömmli- sozialdemokratische Politik „an objektiv demokratie herbeiführen. chem sozialdemokratischem Verständnis veränderte Bedingungen anzupassen“. Nur wenige Tage später, am 20. und 21. reguliert der als starker Steuermann die Die Regierungschefs propagierten einen November, erwartet Italiens Minister- gesellschaftlichen und wirtschaftlichen „dritten Weg“ (Blair) in die politische und präsident Massimo D’Alema seine Kolle- Konflikte und korrigiert fürsorglich sozia- gesellschaftliche „neue Mitte“ (Schröder), gen Jospin, Schröder, Blair sowie US-Prä- le Schieflagen. der – konsequent zu Ende gedacht – nicht sident Bill Clinton, den brasilianischen In der Neudefinition à la Blair und weniger bedeutet als den historischen Staatschef Fernando Henrique Cardoso Schröder hingegen soll dem Kapital ein Bruch mit der Arbeiterbewegung. Das Pa- und EU-Kommissionspräsident Romano Höchstmaß an Freiheit und Flexibilität pier stürzte die parlamentarische Linke in Prodi in Florenz zum „Gipfel der Moder- eröffnet werden. Wirtschaft und Unter- eine tiefe Sinnkrise. nisierer“. nehmer sollen „genügend Spielraum“ er-

der spiegel 44/1999 161 Ausland halten, damit „die Märkte ihre Wunder“ EINWOHNER EINWOHNER (Giddens) vollbringen können. in Millionen 82,0 in Millionen 58,8 Die Hinterlassenschaft der konservati- Deutsch- Groß- landland EINKOMMEN britannien EINKOMMEN ven Epoche Europas unter Maggie That- Nettoverdienst eines Haus- 3860 Nettoverdienst eines Haus- 3359 cher, Helmut Kohl oder Alain Juppé mit ex- halts; monatlich 1997 in Mark halts; monatlich 1997 in Mark (ein Arbeitslohn, zwei Kinder; alte Bundesländer) (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) plodierender Arbeitslosigkeit, klaffenden REGIERUNG INFLATION 0,7 REGIERUNG INFLATION 1,3 Haushaltslöchern und steigenden Ver- Sozialdemokraten mit in Prozent Sozialdemokraten in Prozent schuldungsraten soll nun mit deren markt- Grünen seit 1998 Stand: Juli 1999 seit 1997 Stand: Juli 1999 radikalen Werkzeugen und Rezepten be- kämpft werden: durch „Einstiegsjobs“ in 10 ARBEITSLOSENQUOTE 10 Gesamt 6,1 einen „Sektor mit niedrigen Löhnen, um 8 standardisiert; 8 Juli 1999 in Prozent Gesamt 9,1 gering Qualifizierten Arbeitsplätze ver- 6 6 bei den fügbar zu machen“; mit weniger Staat und bei den unter 9,0 ARBEITSLOSENQUOTE 4 25jährigen 4 standardisiert; in Prozent unter 12,9 25jährigen einer Senkung der Lohnnebenkosten, ge- Juli 1999 Juni 1999 treu der festen und immer wieder ent- täuschten Überzeugung, blühende Unter- WIRTSCHAFTSWACHSTUM WIRTSCHAFTSWACHSTUM nehmen würden quasi automatisch auch 4 Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr Bruttoinlandsprodukt in Prozent 4 gegenüber dem Vorjahr neue Stellen schaffen. 3 3 in Prozent Wohin also führt der Weg der modernen 2 2,8 2 europäischen Sozialdemokratie? Welches 1 1 2,1 der drei vorherrschenden Modelle, das 0 0 angelsächsische marktorientierte, das fran- –1 –1 zösische staatsfixierte oder die skandina- 30 30 vische Wohlfahrtsidee, verspricht den Men- Quellen: OECD/IWF/Eurostat/BA 29,4 SOZIALLEISTUNGEN schen mehr Arbeit, Wohlstand, Sicherheit 28 28 Anteil am Bruttoinlandsprodukt SOZIALLEISTUNGEN in Prozent und damit ihren politischen Protagonisten 26 26 auch Wahlerfolge? Anteil am Bruttoinlandsprodukt 26,7 Soll sich Europa wieder mal, wie es die 24 in Prozent 24 Briten gern hätten, an US-amerikanischen 22 22 Leitbildern orientieren, an einem Wirt- 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 schafts- und Beschäftigungswunder, das auf einem aufgeheizten Kreditmarkt basiert, ginnend 1935 unter Franklin Roosevelt mit zeitig wächst die Kluft zwischen Arm und aber zigtausende so genannter McJobs dem „Social Security Act“. Reich unablässig; schneller als in Europa schuf, die oft nicht einmal die nackte Exis- Entsprechend gilt der Markt in Amerika entstehen Millionen neuer Stellen, gleich- tenz sichern? Ein System, das in seinem als entscheidender Regelungsmechanismus zeitig bietet die Mentalität des „Hire and globalen Agieren Helmut Schmidt biswei- der Gesellschaft, nicht der Staat. Während fire“ keine Gewähr dafür, dass diese Jobs len an „Raubtierkapitalismus“ erinnert? sich Gewerkschaft und Linke in Europa von Dauer sind. Anders als in Europa, wo Bismarck den bisweilen noch über die skrupellosen Oder ist der Wohlfahrtsstaat skandina- Deutschen 1883 als erstem Land eine Ar- Mächte des Kapitals erregen, gelten Un- vischer Prägung die für Europa Erfolg ver- beiterkrankenversicherung bescherte und ternehmen in den Staaten meist als Vor- heißende Alternative? Ein Modell, das mit danach über den ganzen Kontinent Sozi- bilder und Heroen. rigiden Arbeitsmarktprogrammen die Wirt- alsysteme gegen Unfälle, Krankheit, Inva- Dies Verständnis befördert eine Gesell- schaft in Schweden, Dänemark oder Finn- lidität und Tod entstanden, ist die Tradition schaft voller Widersprüche. Immer noch land seit Jahren zum Boomen bringt, zu- des Wohlfahrtsstaates in den USA kaum ist der Traum vom American Way of Life gleich aber mit massiven Steuerabgaben ausgeprägt. Spät erst wurden in der neuen allgegenwärtig, der Aufstieg des Studenten auf Arbeit, Vermögen und Umweltver- Welt Sicherungssysteme eingeführt, be- zum Computermilliardär möglich. Gleich- brauch den Sozialstandard auf Rekord- niveau hält. Dort immerhin hatte der „dritte Weg“ der Sozialdemokratie seinen eigentlichen Ursprung. Dort nahm der Richtungsstreit innerhalb der Arbeiterbewegung und poli- tischen Linken seinen Probelauf. Es war Olof Palme, Schwedens 1986 er- mordeter Ministerpräsident, der in den siebziger Jahren für seine Sozialdemo- kratische Arbeiterpartei (SAP) den Kurs des „tredje vägen“ formulierte. Es waren Palmes sozialdemokratische Erben, die zur Haushaltssanierung und Ankurbelung der heimischen Wirtschaft am offenen Herzen ihres Wohlfahrtsmodells operierten und Therapien zur Gesundung der öffentlichen Finanzen erprobten. Ende 1994, nach dem Ende der konser- vativen Periode in Stockholm, war das Haushaltsdefizit auf über zwölf Prozent

J. H. DARCHINGER J. * Bei einer Tagung der Sozialistischen Internationale Sozialdemokraten Kreisky, Brandt, Palme*: Arbeit, Wohlstand, Sicherheit 1975 in Berlin.

162 der spiegel 44/1999 EINWOHNER EINWOHNER EINWOHNER in Millionen 58,4 in Millionen 5,3 Portugal in Millionen 9,8 Frankreich EINKOMMEN Dänemark EINKOMMEN EINKOMMEN Nettoverdienst eines Haus- 2779 Nettoverdienst eines Haus- 3708 Nettoverdienst eines Haus- 1110 halts; monatlich 1997 in Mark halts; monatlich 1995 in Mark halts; monatlich 1997 in Mark (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) (ein Arbeitslohn, zwei Kinder) REGIERUNG INFLATION 0,4 REGIERUNG INFLATION REGIERUNG INFLATION Sozialisten mit Grünen und in Prozent Sozialdemokraten seit in Prozent 2,4 Sozialisten seit 1995; in Prozent 2,1 Kommunisten seit 1997 Stand: Juli 1999 1993; Minderheitskabinett Stand: Juni 1999 Minderheitskabinett Stand: Juli 1999

14 Gesamt 11,0 Gesamt 4,4 ARBEITSLOSENQUOTE Gesamt 4,8 ARBEITSLOSENQUOTE 10 12 standardisiert; bei den unter 6 standardisiert; 6,4 in Prozent in Prozent 8 25jährigen 4 10 bei den unter 25,2 6 ARBEITSLOSENQUOTE Juli 1999 8 25jährigen standardisiert; 2 bei den unter 25jährigen 9,8 Juli 1999 4 in Prozent 6 Juli 1999 WIRTSCHAFTSWACHSTUM Bruttoinlands- WIRTSCHAFTSWACHSTUM 6 WIRTSCHAFTSWACHSTUM produkt gegenüber dem Vorjahr in Prozent 6 Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr 5 Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr 4 in Prozent in Prozent 3 5 4 2 3,2 4 3 4,0 1 3 2 0 2 2,4 1 –1 1 0 –2 0 –1 30 20 29,2 34 19,3 28 32,7 18 32 16 26 SOZIALLEISTUNGEN SOZIALLEISTUNGEN SOZIALLEISTUNGEN 30 24 Anteil am Bruttoinlandsprodukt Anteil am Bruttoinlandsprodukt 14 Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent 28 in Prozent in Prozent 22 12 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 des Sozialprodukts gewachsen und so hoch Wachstumsraten wieder europäisches Spit- etwa haben nach sechs Monaten von Staats wie in keinem anderen westlichen Land. zenniveau erreichen und die Prognosen wegen das Recht auf einen Ausbildungs- Die Zinsen explodierten zwischenzeitlich stabil sind, will Persson „die Bürger für die platz oder auch einen Job – allerdings auch auf ein Rekordniveau, der Geldwert verfiel Entbehrungen entschädigen“ – mit Steuer- die Pflicht, entsprechende Angebote anzu- rapide. erleichterungen und Entlastungen zum Bei- nehmen. Sonst gibt’s kein Geld mehr. In dieser Situation verkündete die Re- spiel für Niedrigeinkommen. Mit dieser Koppelung von skandinavi- gierung das „härteste Sanierungspro- Großzügige Sozialsysteme müssten re- scher Wohlfahrtstradition und einer Flexi- gramm, das eine europäische Regierung formiert werden, „wo sie die Versuchung bilität amerikanischer Spielart kombinier- jemals umgesetzt hat“, so der schwedische zu unehrlichem Verhalten erzeugen“, die ten die Dänen zwei Denkschulen, die in Ministerpräsident Göran Persson. Seine So- Arbeitsbereitschaft müsse „durch Anrei- Deutschland als nahezu unvereinbar gel- zialdemokraten senkten Arbeitslosen- und ze, wenn nötig durch gesetzliche Ver- ten. Das Ergebnis ist ein kleines Job- Krankengeld, beschränkten die Sozialhilfe, pflichtungen gefördert werden“ Wunder mit fast 200000 neuen führten einen Karenztag bei Krankheit ein, – das fordert Blair-Berater An- Stellen. Und dennoch: Mit über reformierten das Rentensystem um eine thony Giddens zur „Erneuerung Das kleine 17000 Mark pro Einwohner sind Eigenbeteiligung. Und die öffentlichen Ar- der sozialen Demokratie“. Dänemark die dänischen Sozialleistungen beitgeber strichen 100000 Stellen. Beim schwedischen Nachbarn schafft nach Luxemburg noch immer Die Reformer büßten mit deutlichen Dänemark führte diese Einsicht ein Job-Wunder Spitze in Europa. Sympathieverlusten. Trotzdem reichte es ohne großes ideologisches Brim- mit fast Sein Land habe bewiesen, 1998 immerhin noch zur Fortsetzung ihrer borium bereits 1993 zu radika- dass es „keinen Widerspruch Politik als Minderheitsregierung, toleriert lem Umdenken. Nach Jahren 200000 neuen zwischen sozialer Sicherheit und von den Grünen und der Linkspartei der staatlicher Defizitwirtschaft und Stellen hoher Wirtschaftskraft gibt“, früheren Kommunisten. der Erkenntnis, dass es sich im- glaubt Premier Nyrup Rasmus- Der Grund: Die Einschnitte erfolgten mer mehr Dänen im üppig abgefederten sen. „Wir sind stolz auf unser Modell, denn auf sehr hohem Niveau; Arbeitslosengelder System der Arbeitslosenhilfe bequem es funktioniert“, sagt auch seine Partei- beispielsweise wurden zwar kräftig ge- machten, entschloss sich die sozialdemo- Vize Lene Jensen und fragt: „Wozu braucht kürzt, aber lediglich von 90 auf 75 Prozent, kratische Regierung unter Poul Nyrup Ras- es dann einen dritten Weg?“ und inzwischen sogar wieder auf 80 Pro- mussen zur konsequenten Reform der Be- Der war Lionel Jospin in Paris zunächst zent angehoben. Sozial-, Gesundheits- und schäftigungspolitik. keineswegs unsympathisch. „Wir sind an- Ausbildungssystem blieben weitgehend in Leistungen wurden gekürzt, der Kündi- ders“, antwortete Jospin selbstbewusst auf öffentlicher Hand, finanziert aus den kon- gungsschutz ist weitgehend aufgehoben. den Vorstoß aus Berlin und London. Doch stant hohen Steuerabgaben. Denn an einem Arbeitslosengeld gibt es statt für neun nur sein politisches Handeln war so anders lan- Grundsatz wollen Schwedens Sozialde- noch für maximal fünf Jahre, Rentenrege- ge nicht. In den 29 Monaten seiner Amts- mokraten auch in entbehrungsreichen Zei- lungen wurden reformiert und sogar die zeit ließ der linke Pragmatiker Jospin zum ten keinesfalls rütteln: „Die Wohlfahrt ist beliebte und großzügige Vorruhestandsre- Beispiel mehr Staatsunternehmen privati- unser Kind, und das bringen wir nicht um.“ gelung „Efterlön“ vorsichtig beschnitten. sieren als die letzten drei rechten Vorgän- Jetzt, nachdem die Arbeitslosigkeit (5,5 Das schlichte Rezept lautet: üppige So- gerregierungen zusammen. Prozent) nahezu halbiert ist, der Haushalt zialleistungen einerseits, rigide Auflagen Geradezu geschockt reagierten Öffent- wieder einen Überschuss ausweist, die andererseits. Jüngere Arbeitslose unter 25 lichkeit und Teile seiner Partei, als der Rei-

der spiegel 44/1999 163 Ausland „Nein zum dritten Weg“ Der französische Europaminister Pierre Moscovici über den Richtungsstreit der sozialdemokratischen Parteien und die deutsch-französischen Beziehungen

SPIEGEL: Herr Minister, die Linke regiert stellung brechen, dass der Staat alles jetzt beginnenden Gesprächen der Welt- in 12 von 15 Mitgliedstaaten der Europäi- regeln könne. handelsorganisation. schen Union. Aber sie marschiert nicht Moscovici: Der dritte Weg ist ein ambiva- SPIEGEL: Da zeichnen sich Konflikte mit in die gleiche Richtung. Wird der Kon- lentes Konzept. Wenn damit eine Alter- den Amerikanern ab. Die wollen nicht gress der Sozialistischen Internationale native zum Kommunismus und zum Wirt- neue Regeln, sondern Deregulierung. nächste Woche in Paris eine Annäherung schaftsliberalismus gemeint ist – gut.Aber Moscovici: Wenn ich mir die Kapitalströ- bringen? das ist nichts Neues, sondern der Weg, me rund um den Globus ansehe, vermag Moscovici: Ein gemeinsames Programm ist den die Sozialdemokratie in Europa seit ich nicht zu erkennen, dass wir an einem für die nächste Zukunft nicht vorgesehen, hundert Jahren eingeschlagen hat. Übermaß an Kontrollen leiden. aber die Sozialisten in Europa teilen vie- SPIEGEL: Wenn aber der dritte Weg zwi- SPIEGEL: Aber lehrt nicht das angelsäch- le Ansichten und haben einen gemeinsa- schen der traditionellen Sozialdemokra- sische Beispiel, dass ein Abbau von Re- men politischen Willen. Wir wollen alle tie und dem Neoliberalismus liegt? gulierungen Arbeitsplätze schafft? den Erfolg bestimmter Regulierungen, ein Moscovici: Dann sagen wir nein.Wir den- Moscovici: Frankreich ist derzeit ein Mo- Gleichgewicht zwischen Staat und Markt, ken, dass es nach dem Zusammenbruch tor des Wirtschaftswachstums in der EU. nicht das Laisser-faire der Liberalen. des totalitären Kommunismus nur noch Ich behaupte, dass die Regierung etwas SPIEGEL: Sind die Sozialisten unter dem zwei Wege gibt, keinen dritten. Wir sind dafür getan hat. Das beweist doch wohl, Druck des globalen Kapitalismus nicht keine Sozialliberalen. Unsere Partei steht dass die vermeintlichen Traditionalisten selbst verkappte Liberale geworden? zwar in der Mitte der französischen Ge- mindestens genauso viel Erfolg haben wie Moscovici: Keineswegs. Unsere Gesell- sellschaft, aber sie ist keine zentristische die so genannten Modernisierer. schaften brauchen Freiheit und Sicher- Partei geworden. SPIEGEL: Und was ist das Geheimnis die- heit. Wir setzen uns für die Modernisie- SPIEGEL: Lässt sich der globale Kapitalis- ses Erfolgs? rung des Wohlfahrtsstaates ein, aber mus überhaupt noch zähmen, wenn der Moscovici: Zunächst das Vertrauen der nicht, um ihn abzuschaffen, sondern um Nationalstaat an Bedeutung verliert? Franzosen in unser Modell. Das hat, zu- ihn als Instrument der Regulierung und Moscovici: Nationale Regulierungen rei- sammen mit unserer Einkommenspolitik, des Ausgleichs zu erhalten. chen nicht, um unsere Gesellschaften ge- den Konsum in Schwung gebracht. Aber SPIEGEL: Sind Sie sicher, dass Tony Blair gen die Exzesse des globalen Marktes zu wir haben auch Erfolg mit unseren Be- da mit Ihnen am selben Strang zieht? schützen. Gerade deshalb brauchen wir schäftigungsprogrammen. Und die Ar- Moscovici: Es gibt Unterschiede im Tem- Europa: einen organisierten, geregelten beitszeitverkürzung wird weitere Stellen perament, in der nationalen Tradition, in Wirtschafts-,Währungs- und Rechtsraum, schaffen. der Kultur. Aber wir können auf unseren der sich auf Grund seiner Größe und sei- SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass der gemeinsamen Werten aufbauen. nes Gewichts auch für globale Regeln deutsche Kanzler sich von Ihrem Poli- SPIEGEL: Ihre Partei hat unter dem Titel stark machen kann, zum Beispiel in den tikmodell entfernt hat? „Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt“ ein Dokument erarbeitet, das weit- hin als Antithese zum so genannten Schrö- der-Blair-Papier verstanden wird. Moscovici: Es ist ein Diskussionsbeitrag, und er richtet sich gegen niemanden. Aber natürlich, die Differenzen zwischen den beiden Texten sind eindeutig. Wir legen den Akzent auf neue Formen der Regulierung, im nationalen wie im inter- nationalen Maßstab. Die öffentliche Hand ist gegenüber der Globalisierung nicht machtlos. Wir akzeptieren sie, aber wir wollen sie auch organisieren. SPIEGEL: Wie denn? Moscovici: Für uns bleibt der soziale Aus- gleich zentral, deshalb betonen wir im- mer wieder das Ziel der Gleichheit – glei- che Chancen, gleiche Lebensbedingun- gen. Dazu ist eine gewisse Umverteilung, ein gewisser Dirigismus unerlässlich. SPIEGEL: Modernisierer würden Sie einen Traditionalisten nennen, denn der drit-

te Weg, wie Schröder und Blair ihn G. SAUSSIER / GAMMA STUDIO X einschlagen, soll ja gerade mit der Vor- Paris-Besucher Kohl, Präsident Mitterrand (1989): „Nichts kann das Band ersetzen“

164 der spiegel 44/1999 fenhersteller Michelin im September zeit- gleich eine rekordverdächtige Gewinnstei- gerung von 17,3 Prozent sowie Massenent- lassungen von 7500 Arbeitern verkündete – und der linken Regierungskoalition mit Grünen und Kommunisten nichts anderes dazu einfiel, als abzuwiegeln. „Man kann nicht alles vom Staat erwarten“, beruhig- te Jospin, „man kann die Wirtschaft nicht mehr dirigieren.“ So spricht einer, der den dritten Weg als Handlungsmaxime für sich akzeptiert hat: links blinken, rechts abbiegen. Drei Wochen ließ Jospin ins Land ge- hen. Dann besann er sich, begleitet von Protesten lange nicht mehr gekannten Ausmaßes, zumindest rhetorisch auf seine linken Wurzeln. „Die Globalisierung macht den Staat nicht machtlos“, droht nun auf

J. M. ARMANI / RAPHO / AGENTUR FOCUS M. ARMANI / RAPHO AGENTUR J. einmal mutig der Premier. In einem Europaminister Moscovici eilends zusammengezimmerten Positions- „Umverteilung ist unerlässlich“ papier zeigen die Sozialisten Flagge. Kern- satz: Der „Weg zu einer gerechteren Moscovici: Es stimmt, es hat in den Welt“, so der Titel, dürfe „eine Politik der deutsch-französischen Beziehungen Umverteilung nicht eine Phase nicht der Spannung, aber ausklammern“, die des gegenseitigen Beobachtens ge- „Exzesse des Mark- Das neue geben. Mein Gefühl sagt mir, dass tes“ müssen be- Heil der sich das ändert. Kanzler Schröder kämpft werden. europäischen und Premier Jospin haben inzwischen In einer Art zwei- Sozialdemo- eine gute persönliche Beziehung zu- ter Regierungserklä- kratie liegt im einander aufgebaut. Das ist sehr rung vor der sozialis- wichtig. tischen Fraktion in politischen SPIEGEL: Eine gute Atmosphäre allein Straßburg präsentier- Erfolg bewegt noch nichts. te der Premier einen Moscovici: Deshalb ist beispielsweise ganzen Katalog neuer Sozialmaßnahmen – der Zusammenschluss von Aerospa- vorrangig gegen Massenentlassungen und tiale Matra mit der Dasa so wichtig. den Missbrauch ungesicherter Beschäfti- Frankreich und Deutschland haben gungsverhältnisse. 21-mal, hohe Symbolik den Euro zusammen geschaffen, nun seines Auftritts, gebrauchte er dazu den werden wir das Europa der Luft- und Schlüsselbegriff „Regulierung“. Raumfahrt aufbauen. Damit haben „An Jospin gefällt mir“, sekundiert so- wir die industrielle Grundlage, den gar der – mit einem strikt auf Konsens aus- bewaffneten Arm für die Europäische gerichteten Modell – selbst so erfolgreiche Verteidigungsunion. niederländische Regierungschef Wim Kok, SPIEGEL: Schröders Flirt mit Tony Blair „dass er das Verhältnis von Markt und macht Paris also nicht eifersüchtig? Staat nicht unter den Tisch kehrt.“ Moscovici: Franzosen und Deutsche Linke Sprüche, rechte Politikentwürfe – sind das Herz Europas. Die Briten sieht so das sozialdemokratische Zu- sind nicht voll in Europa integriert. kunftsmodell aus? Selbst bei den Moder- Wie groß die Versuchung auch sein nisierern der neuen Mitte werden die mag, mit den Briten anzubändeln, eigentlichen Absichten inzwischen mit Un- nichts kann das Band zwischen Frank- mengen linken Vokabulars garniert. reich und Deutschland ersetzen. „Unsere Grundwerte haben Bestand“ – SPIEGEL: Ist das Gerede über die ge- so traditionalistisch beginnt auf einmal der störte Ehe also hinfällig? Leitantrag von Schröders SPD für den Par- Moscovici: Verdächtigungen sind un- teitag im Dezember, der das Hickhack um ter Freunden immer fehl am Platz. den rechten Kurs in Deutschland endlich Aber ein gewisser Realismus drängt beilegen soll. Zeitgleich schmierte Kanzler sich auf. Doch gerade seit dem Umzug Schröder Balsam auf die linke Seele. der deutschen Regierung nach Berlin Er stellt dem linken Flügel seiner Partei nehmen wir vermehrt positive Signa- eine Vermögensabgabe in Aussicht, eine le der Deutschen Richtung Europa Art Lastenausgleich zwischen Arm und und Richtung Frankreich wahr. Ich Reich, wie auch immer die am Ende aus- habe also nicht den geringsten Grund sehen mag. Und lässt seinen Arbeitsminis- zur Beunruhigung. ter Walter Riester, Arm in Arm mit der Interview: Romain Leick mächtigen Metall-Gewerkschaft, die „Ren- te mit 60“ forcieren – die freilich den Staat und seine öffentlichen Pensionskassen

der spiegel 44/1999 165 Ausland nichts kosten darf und ei- les illustriert zumindest eine nen Sturm der Entrüstung zweite, nicht zu unterschät- auslöste. Neidvoll musste zende Komponente des der Enkel Willy Brandts er- sozialdemokratischen Rich- kennen, dass die Moder- tungskampfes: das Macht- nisierer bei den Europa- kalkül. Was nützt der rich- wahlen im Sommer deut- tige Weg, die politisch kor- lich Stimmen einbüßten, rekte Überzeugung, wenn Jospin dagegen Gewinne die Wähler weglaufen? verbuchte. In Portugal etwa, dem „Gerechtigkeit und In- ärmsten Land der Euro- novation“ ist jetzt wieder Zone, hat fast die Hälfte

das Motto. Mit dem war die AFP / DPA der 4,8 Millionen Beschäf- SPD schon im letzten Bun- Schweden-Premier Persson tigten keine geregelten Ar- destagswahlkampf erfolg- beitsverträge; der Durch- reich. Und das setzt, welche Ironie, ausge- schnittslohn liegt bei 1000 Mark monatlich. rechnet jenen Akzent nach vorn, den noch Da interessiert kein zweiter und kein drit- vor Jahresfrist Oskar Lafontaine personifi- ter Weg, sondern allein die Frage nach Aus- zierte. „Die Reaktion der Wähler“, ließ der kommen und Überleben. Saarbrücker Polit-Rentner wissen, „ist ein- Wer das glaubwürdig zum Thema deutig und unmissverständlich: Der dritte macht, bekommt das Vertrauen der Wähler Weg ist ein Holzweg.“ – so einfach kann Politik sein. Bei den Tony Blair hat seinen Parteitag bereits Wahlen vor drei Wochen war das in ers- hinter sich. Auch ihn holte die real exis- ter Linie die regierende Sozialistische tierende Sozialdemokratie ein. Ende Sep- Partei von Ministerpräsident António tember, auf dem Labour-Konvent in Guterres. Sie erhielt nach leichter Steige- Bournemouth, rückte er wortreich wieder rung mit 44 Prozent ihr bestes Ergebnis ein Stück nach links. aller Zeiten. Ausdauernd strapazierte er traditionel- Guterres, der sich stets zu seinen linken le sozialdemokratische Werte wie Freiheit, Idealen bekannte, gilt jetzt als aussichts- Gleichheit, Solidarität. „Der Klassenkampf reicher Kandidat für das Amt des Präsi- ist vorbei, aber der Kampf um echte denten der Sozialistischen Internationale. Gleichheit hat gerade erst begonnen“, sag- Gibt es für Europas Sozialdemokratie te Blair unter dem Jubel der Delegierten. am Ende gar „nicht einen oder zwei Wege, Über 20-mal in der knapp einstündigen sondern 15“, für jedes EU-Land den eige- Rede berief sich der Taktiker auf lin- nen, wie der italienische Wirtschaftswis- ke Ideale wie Chancengleichheit und so- senschaftler und Europapaabgeordnete der ziale Gerechtigkeit. Ähnlich wie Willy Linksdemokraten Giorgio Ruffolo be- Brandt 1969 bediente er die Gemütslage hauptet? Liegt das Geheimnis womöglich seiner Parteigänger und forderte „gleiche darin, sich überall die erfolgreichsten Tei- Chancen für alle zur Selbstverwirk- le abzugucken – ein bisschen Blair, eine lichung“ und „gleichen Zugang zu Bil- Prise Schröder, einen Happen Jospin? dungs- und Lebenschancen“. Die „neuen Dann läge das Heil der europäischen So- moralischen Ziele“, die der versierte Par- zialdemokratie nicht links, nicht rechts, teitagsredner seinem Anhang offerierte, und auch nicht in der neuen Mitte. Dann gegen Rassismus, gegen Armut, für Ein- definierte sich deren künftiger Kurs viel haltung der Menschenrechte, entstammen einfacher: Wer politisch Erfolg hat, hat eher dem alten Repertoire linker Sozial- auch Recht. demokraten. Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, „Wir sind die neuen Radikalen“, tönte Horand Knaup, Romain Leick, Blair gleichwohl markig. Rund 18 Monate Hans-Jürgen Schlamp, Helene Zuber vor den nächsten Wahlen hat auch er erkannt, dass er die Herzen gewinnen muss, wenn er die Köpfe seiner Anhänger für Reformen freimachen will. Die Erneuerer also auf dem geordneten Rück- zug? Blairs rhetorische Ver- beugung vor dem linken Flügel, Schröders Reaktion auf die Wahlschlappen, Jos- pins Schlingerkurs zwi- schen Marktwirtschaft und Marktgesellschaft – dies al- P. JUELICH / RIRO P.

* Mit Ehefrau Christa Müller auf der Dritter-Weg-Kritiker Lafontaine* Frankfurter Buchmesse. „Die Reaktion der Wähler ist eindeutig“

166 der spiegel 44/1999 Werbeseite

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Eine neue Brücke bauen“ Anthony Giddens, Vordenker des britischen Premiers Tony Blair und Autor des „dritten Wegs“, über seine Vision einer modernen Sozialdemokratie, den radikalen Umbau der Rentensysteme und den Streit zwischen Schröder und Lafontaine

SPIEGEL: Professor Giddens, als der deut- SPIEGEL: Oskar Lafontaine sagt, der von Ih- sche Bundeskanzler Gerhard Schröder ge- nen proklamierte dritte Weg sei ein fragt wurde, was eigentlich der „dritte Holzweg. Weg“ sei, spöttelte der, er kenne nicht mal Giddens: Das beruht auf einem falschen die ersten beiden. Können Sie helfen? Verständnis der Situation.Wir müssen vor- Giddens: Ich kann es versuchen. Die De- bereitet sein zur Erneuerung. Und wie batte geht um die Modernisierung der immer man es nennt: Nur eine wirklich Sozialdemokratie und die Frage, wie in modernisierte Linke kann eine Politik for- einer Welt radikaler Veränderungen wich- mulieren, die Antworten auf die neuen tige Grundwerte wie Solidarität, Gleich- Ungleichheiten der Gesellschaft gibt. heit, Sicherheit oder die Rolle eines aktiven SPIEGEL: Bislang lautet die Antwort von Staates zu verstehen sind. Das sind für Schröder und Blair vor allem: mehr Flexi- mich essenzielle sozialdemokratische Wer- bilität, weniger Staat. Das ist für viele Kri- te. Und wir müssen moderne Antworten tiker neoliberale Politik in neuem Gewand. finden, wie die in der aktuellen Politik Giddens: Das ist wirklich lächerlich. Im Sog überleben können. Ob die Überschrift für der südostasiatischen Wirtschaftskrise ist

diese Debatte nun dritter Weg lautet oder der Neoliberalismus quasi über Nacht zu FOCUS / NETWORK AGENTUR LEIGHTON J. anders, das ist egal. einer toten Philosophie geworden. Die Blair-Berater Giddens SPIEGEL: Die Grundwerte, von denen Sie Menschen wollen nicht ungeschützt den „Gerechtigkeit durch Weiterbildung“ reden, würde jeder gute Sozialdemokrat globalen Märkten zum Fraß überlassen in Europa unterstützen.Was ist daran neu? werden. Zwar brauchen wir einen effekti- gar effektiver sein können. In den meisten Giddens: Nicht die Werte sind neu, sondern ven Markt, um Wohlstand zu garantieren, Ländern wird diese Politik nur noch von die Erkenntnis, dass die alten Rezepte zu gleichzeitig brauchen wir aber auch eine zehn Prozent der Wähler unterstützt. ihrer Umsetzung nicht mehr taugen. Wir funktionierende Bürgergesellschaft und ei- SPIEGEL: Woran ist die traditionelle Sozial- können nicht einfach zurück zum traditio- nen aktiven Staat. demokratie denn gescheitert? Und wann? nellen Sozialismus, der einst den west- SPIEGEL: Was bedeutet das konkret? Giddens: Bis in die späten sechziger Jahre lichen Wohlfahrtsstaat geprägt hat. Wir Giddens: Zum Beispiel, dass die Linke war vieles von der traditionellen Wohl- dürfen die Welt aber auch nicht als einen nicht nur instinktiv auf Regulierung set- fahrtsmentalität und ihrer Philosophie er- gigantischen Marktplatz verstehen und er- zen oder immer gleich nach höheren Steu- folgreich. Dann schlug die Situation um, die warten, dass der Markt schon mit allen ern schreien darf.Wir haben viele Beispiele ersten Kritiker sprachen von einer Ar- Problemen irgendwie fertig wird. dafür, dass Steuersenkungen manchmal so- mutsfalle oder von der moralischen Ge- fahr dieses Systems. Es waren zumeist Lin- ke, die erkannten, dass der Wohlfahrtsstaat nicht nur eine Antwort auf die Probleme der Menschen ist, sondern deren Zusam- menleben zum Teil radikal verändert hat. SPIEGEL: Jetzt streitet Europa darüber, wel- ches der sozialdemokratischen Reform- modelle das zukunftsfähigste ist. Ist es das Modell von Schröder und Blair, ist es die französische Variante, die auf mehr Regu- lierung setzt, oder ist es gar das skandina- vische Wohlfahrtssystem? Giddens: Es ist keines von allen.Wir sollten aufhören, immer nur in Vorbildern zu den- ken. Es kämpfen zwar alle Staaten mit ähn- lichen Problemen, aber jede Nation hat ihre eigene Geschichte und Entwicklung hinter sich. In Großbritannien zum Bei- spiel gibt es, zum Teil als Folge der neo-

* Bei einem Treffen der Sozialistischen Internationale

HOPI MEDIA am 10. Dezember 1998 in Wien.

Sozialreformer Blair, Schröder* „Neoliberalismus ist eine tote Philosophie“ Werbeseite

Werbeseite Giddens: Nein, auch anderswo in Europa se- hen die Menschen bestimmte Leistungen des Wohlfahrtsstaats als naturgegebene Rechte. Doch im Zeitalter der Globalisie- rung dürfen wir Sozialpolitik nicht mehr losgelöst von der Wirtschaftspolitik be- trachten. Sozialpolitik darf sich nicht al- lein auf die Umverteilung konzentrieren und an den alten Strukturen festhalten. Weil der Arbeitsmarkt viel dynamischer als früher ist und sich durch die Internet- Revolution alles schneller ändert, müssen wir stärker in die Fähigkeiten der Men- schen investieren, in deren Aus- und Wei- terbildung. Nur so können wir auch für soziale Gerechtigkeit sorgen. SPIEGEL: Wie würden Sie als Modernisierer denn soziale Gerechtigkeit definieren? Giddens: Auf die klassische, immer noch gültige Weise: Es ist der Versuch, durch ein Netz von Beziehungen und finanziel-

S. MENDEL / NETWORK / AGENTUR FOCUSS. MENDEL / NETWORK AGENTUR len Regelungen soziale Ungleichheit und Obdachloser in der Londoner Innenstadt: „In Deutschland ist die Armut geringer“ Benachteiligungen abzubauen und statt- dessen Chancengleichheit und soziale liberalen Regierungen, viel zu viel Armut, weitaus stärker an Schweden als an den Solidarität zu garantieren. Die Idee des und wir müssen was dagegen tun. In USA. Aber die Frage ist doch nicht, ob dritten Wegs setzt dabei nur viel stärker Deutschland ist die Armut geringer, und Deutschland mehr wie Großbritannien auf die Berücksichtigung von Human- trotzdem gibt es dort einen Streit um das- werden sollte oder wie Schweden, sondern kapital, anstelle einer direkten finanziellen selbe Thema. welche Ideen nützlich sein können, die Umverteilung von den Reichen an die SPIEGEL: Also braucht jedes Land seinen deutsche Wirtschaft anzukurbeln und die Armen. eigenen dritten Weg? Arbeitslosigkeit abzubauen. In Skandina- SPIEGEL: Dennoch reden Sie oft davon, dass Giddens: Man sollte sich von der scheinbar vien etwa ist die Toleranz, hohe Steuern wir mehr Staat brauchen, nicht weniger. gegensätzlichen Rhetorik der politischen und Abgaben zu zahlen, seit jeher sehr viel Sind Sie letztlich doch ein Traditionalist, Führer nicht täuschen lassen, sondern die größer als in Deutschland. der die Wohlfahrt auf Pump finanziert? Politik in den einzelnen Ländern verglei- SPIEGEL: Viele Linke verstehen das Schrö- Giddens: Nein, nein.Auch wenn Lafontaine chen. Dann stellt man fest, dass die Unter- der-Blair-Papier als Aufforderung, dass das anders sehen mag, der keynesianische schiede gar nicht so groß sind. Deutschland dem britischen Muster folgen Ansatz des „deficit spending“ hat sich SPIEGEL: Wirklich? Die deutsche SPD dis- sollte. überlebt. Der Staat kann die Probleme der kutiert derzeit, sich stärker an Lionel Giddens: Vielleicht hat das Papier nicht ge- Gesellschaft nicht allein lösen. Mehr noch: Jospin zu orientieren, der auf staatliche nug verdeutlicht, dass es der Sozialdemo- Wenn er dies versucht, erreicht er oftmals Regulierung der Wirtschaft setzt, statt an kratie nach wie vor um soziale Gerechtig- nur das Gegenteil. Ich meine etwas ande- Tony Blair und seinen Vorstellungen von keit geht – nur eben in zeitgemäßerer res: Der Staat muss flexibler handeln und mehr Deregulierung und Flexibilisierung. Form. Deshalb haben sich Lafontaine und genauso schnell reagieren, wie es Unter- Wo ist da die Ähnlichkeit? andere Genossen wohl so sehr erregt. In- nehmen tun. Bürokratische Behörden und Giddens: Man muss sich doch nur Jospins teressanterweise fand das Papier in der Vetternwirtschaft müssen verschwinden, aktuelle Politik ansehen: Wenn man etwa britischen Presse keine große Aufmerk- dann gewinnt die Demokratie auch wieder die geplante Einführung der 35- samkeit. Höchstens ein paar In- das Vertrauen der Menschen. Stunden-Woche und ihre prakti- tellektuelle erinnern sich über- SPIEGEL: Gerhard Schröder scheint dieses schen Auswirkungen genauer „Wer von der haupt noch daran, dass Blair die- Vertrauen im Moment vollends zu ver- analysiert, wird man feststellen, Gesellschaft se Thesen jemals vorgelegt hat. spielen, anders als Jospin, der bei den dass sie nur der Hebel für mehr profitiert, SPIEGEL: Vielleicht liegt die ge- Europawahlen gewann. Selbst Blair be- Flexibilität des Arbeitsmarkts muss auch ringe Aufregung daran, dass die mühte zuletzt auf dem Labour-Parteitag sein wird, und nicht ein Mittel eine Briten sich seit Margaret That- wieder die alten Ideale von Gleichheit und zur Regulierung. Ob nun Blair, cher an brutale Umbrüche in ih- Gerechtigkeit. Hängt Erfolg oder Miss- Schröder oder Jospin – alle drei Gegenleistung rer Wirtschaft gewöhnt haben. erfolg der Sozialdemokratie also davon ab, sehen doch die Notwendigkeit, erbringen“ Anderswo in Europa haben die wie sie die Herzen der Leute gewinnt? öffentliche Einrichtungen zu pri- Menschen mehr Angst vor der Giddens: Das ist nicht das entscheidende vatisieren, die Sozialsysteme zu reformie- Modernisierung, weil diese ja auch mit der Problem. Es ist schon erstaunlich, wie sehr ren und das Rentenproblem zu lösen. Und Aufgabe lieb gewonnener Gewohnheiten sich die Meinungen ähneln, wenn man die der Glaube an die Bedeutung des Arbeits- verbunden ist. Menschen in Europa zum Wohlfahrtsstaat markts als Mittelpunkt der Sozialpolitik Giddens: Das stimmt. Gerade in Deutsch- befragt. Fast überall nennen sie ähnliche wächst rapide. land lässt sich das derzeit beim Streit um Prioritäten, wollen ein gutes Bildungs- und SPIEGEL: Nur die Antworten scheinen sehr den Sparhaushalt der Bundesregierung be- Gesundheitssystem. Zugleich sind sie sehr unterschiedlich auszufallen. sonders gut beobachten. In keinem ande- sensibel, wenn es um die Kosten des Giddens: Nein, nicht wirklich. Schauen Sie ren Land in Europa stößt der Wandel auf Sozialsystems geht. Entscheidend für den sich doch die praktische Politik an. Das derart große Widerstände, nicht einmal in Erfolg sind derzeit wohl die Unterschiede britische Modell, Sozialhilfe und Beschäf- Skandinavien oder Frankreich. in den politischen Systemen: Tony Blair tigungspolitik unmittelbar miteinander zu SPIEGEL: Leiden die Deutschen an einer be- hat durch das Mehrheitswahlrecht in Groß- verbinden, orientiert sich zum Beispiel sonderen Blockade-Mentalität? britannien eine Machtposition erlangt, die

170 der spiegel 44/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland kein anderer Politiker in Europa oder Ame- rika besitzt. SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass die Mehrheit der Europäer für Einschnitte ist? Die Skandinavier etwa halten trotz aller Reformen immer noch an einem üppigen Wohlfahrtsstaat fest und sind bereit, dies über hohe Steuern zu bezahlen. Giddens: Aber ich kenne niemanden, der sagt, andere Länder sollten den gleichen Weg gehen. Und vielleicht hat das skandi- navische Modell Veränderungen vor sich, die mit den heutigen noch gar nicht ver- gleichbar sind. Die Menschen sind nicht blöd und wissen genau, dass wir nicht bloß an alten Strukturen festhalten können. Nötig ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, für den gilt: keine Rechte ohne Verantwor- tungen. Diese Regel muss für die Bedürf- tigen ebenso gelten wie für die Reichen. SPIEGEL: Welche Pflichten sollten die So- zialdemokraten den Reichen auferlegen? Giddens: Nötig ist eine Mischung aus An- reizsystemen und Regulierung. Das System muss dafür sorgen, dass die Unternehmen sich global wie national ihrer Verantwor- tung bewusst sind. Es kann nicht sein, dass bestimmte Eliten sich aus der Gesellschaft ausklinken. Wir müssen auch verhindern, dass Manager ihre Machtpositionen zum Schaden der Allgemeinheit ausnutzen. In Europa wäre es unerträglich, wenn ein Ma- nager, so wie in den USA, ein paar hun- dertmal so viel verdient wie einer seiner Arbeiter. Um solche Gier zu verhindern, reicht aber nicht eine platte Umvertei- lungspolitik nach dem Motto: den Reichen nehmen, den Armen geben. Vielmehr geht es auch darum, das ideologische Klima zu verändern und den moralischen Druck ge- gen solche Auswüchse zu erhöhen. SPIEGEL: Welche Pflichten wollen Sie um- gekehrt den Bedürftigen auferlegen? Giddens: Es muss dasselbe Prinzip gelten: Wer von der Gesellschaft profitiert, muss auch eine Gegenleistung erbringen. Kon- kret: Wer zum Beispiel Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bekommt, muss sich aktiv um einen neuen Job bemühen und etwas aus seinem Leben machen. In Dänemark oder Großbritannien funktionieren solche „wel- fare to work“-Programme, die auch Sank- tionen für Arbeitsunwillige enthalten, sehr gut; Deutschland dagegen schreckt davor zurück. Dabei ist die Logik doch einfach: Wenn so viele Menschen wie irgend mög- lich wieder einen Job haben, wächst die Wirtschaft und damit auch das Steuerauf- kommen. Dann ist auch mehr Geld für die entscheidenden Zukunftsaufgaben des Wohlfahrtsstaats vorhanden, für Bildung und Gesundheit. SPIEGEL: Den europäischen Regierungen geht das Geld aber vor allem auch wegen der Altersvorsorge aus, das bei Ihrer Auf- zählung nicht vorkommt. Giddens: Das demografische Problem ist in der Tat krass. Deshalb sollten die Europäer hier besonders radikal denken: Warum

der spiegel 44/1999 zwingen wir die Menschen ab einem be- stimmten Alter in Pension? Warum versu- chen wir, das Rentenalter noch weiter zu senken? Dadurch entsteht bloß ein Ghet- to der Alten, in dem die Gesellschaft ihnen das Arbeiten verbietet. Jeder sollte frei wählen können, wie lange er arbeitet. SPIEGEL: Umfragen in Deutschland zeigen aber, dass 70 Prozent der Bevölkerung nicht länger arbeiten, sondern lieber früher, mit 60 statt mit 65 in Rente gehen wollen. Giddens: Wer genug Geld gespart hat, kann von mir aus auch mit 30 den Job aufgeben. J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS / NETWORK AGENTUR LEIGHTON J. Giddens (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* „Die Menschen sind nicht blöd“

Aber wer bis 70 oder 80 arbeiten will, soll- te das auch dürfen. Eigentlich sollte man das jetzige Rentensystem sogar ganz ab- schaffen und … SPIEGEL: … wie bitte? Das meinen Sie doch nicht etwa ernst … Giddens: … erst mal ist das nur ein Ge- dankenspiel. Aber ich bezweifle, ob die Rente, so wie sie heute funktioniert, wirk- lich sinnvoll ist. Stattdessen wäre zu über- legen, ob der Staat nicht besser auf ande- re Weise für seine Bürger vorsorgt. Anstatt alle wie in Deutschland mit 65 in Rente zu zwingen, könnte die Regierung denjeni- gen, die das wollen, auch mit 35 oder 45 einen Kredit für Fortbildungsmaßnahmen geben. Im Prinzip muss ein moderner Wohlfahrtsstaat stets für zweierlei sorgen: Zum einen sollte jeder die Chance erhal- ten, ein befriedigendes Leben zu leben, ein möglichst gutes Auskommen zu erlan- gen; zum anderen muss der Staat natürlich weiterhin die Bedürftigen vor Armut schützen. Aber beides hat überhaupt nichts mit dem Alter zu tun, sondern damit, eine neue Brücke zwischen den Generationen zu bauen. SPIEGEL: Solch radikaler Umbau bedeutet doch für jede sozialdemokratische Partei politischen Selbstmord. Giddens: Natürlich ließe sich eine solche Idee nur in kleinen Schritten umsetzen. Aber nur wenn die Linke bereit ist, radikal zu denken, kann sie die Probleme wirklich an den Wurzeln packen. SPIEGEL: Professor Giddens, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Mit Redakteuren Manfred Ertel und Ulrich Schäfer in seinem Londoner Büro.

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TSCHETSCHENIEN Sturm auf Ruinen Die Grenzen sind abgeriegelt, Grosny wird bombardiert: Ein Moskauer Wahlmanöver gerät zum totalen Krieg. AFP / DPA Russische Patrouille vor Grosny: „Keinen Schritt weiter, wir schießen sofort“

tagsüber halten dieselben Rekruten in Bagdan ist tot, im Krankenhaus von Nas- schmutzstarrenden Uniformen und durch- ran an einer Lungenentzündung gestorben

REUTERS löcherten Stiefeln auf der Fernstraße nach – er hat die kalten Bombennächte im Luft- Russischer Premier Putin in Moskau Grosny die Flüchtlinge in Schach. schutzkeller in Grosny nicht überlebt. Hul- „Alles läuft nach Plan“ Als „erfolgreichen Schlag“ gegen die datow besitzt alle Papiere für die Über- islamistischen Terroristen haben Russlands führung. Er hört von den Posten: „Keinen uf manches war die Tschetschenin Armeeführer die Abriegelung der Tsche- Schritt weiter, wir schießen sofort.“ Sunja Oschikowa in ihrer ersten tschenen-Republik gefeiert. Dabei haben Für die Tschetschenen auf der anderen AFluchtnacht gefasst, nur nicht auf es ihre Soldaten vor Ort ausschließlich mit Seite des Kordons ist die Lage noch dra- Besuch. Den ganzen Tag hatte sie ge- wütenden, weinenden, verzweifelten Zivi- matischer. Sie sitzen in der Falle – mit Kin- braucht, um sich einen Meter tief in das listen zu tun. „Alles läuft nach Plan“, ver- dern und Frauen, mit Verwundeten und Maisfeld zu graben. Sie hatte Planen über sichert in Moskau Premier Wladimir Putin. den Leichen. Allein Ceda Ischanowa hat die Grube gespannt und das von den Kin- Westlich der Absperrung stehen jene, nach einer Schreckensnacht mit ihren fünf dern aufgetriebene Ofenrohr über die klei- die sich im Moment der Grenzschließung Kindern den Grenzübertritt ins rettende ne Feuerstelle gestülpt. Da bittet jemand aus irgendeinem Grunde im benachbarten Inguschien geschafft. Als die Familie neben von draußen um Einlass. Inguschien aufhielten, eine Autostunde von der Straße Brennholz suchte, feuerten die In die Erdhütte rutschen zwei unifor- Grosny entfernt. Taus Junussowa, 40, hielt Soldaten drei Garben aus ihren Maschi- mierte Jungs mit dreckverschmiertem Ge- sich nur wenige Stunden zur Krebsbe- nenpistolen. Dann ließen sie die Frau pas- sicht – Soldaten von der Westfront der rus- handlung in Nasran auf, ihr Sohn Edelbek, sieren – für 500 Rubel, umgerechnet 36 sischen Tschetschenien-Armee. Die bei- 9, blieb beim Großvater im tschetscheni- Mark, und ein wenig Goldschmuck. den, die tags zuvor mit ihren Kameraden schen Schali zurück. „Alle Tschetschenen, Aus Süden her orgeln die Geschosse der befehlsgemäß die nahe gelegene ingu- die älter sind als zwölf, sind Terroristen, hat im inguschischen Dorf Arschpy stationier- schisch-tschetschenische Grenze abgerie- Putin gesagt. Zählt mein Sohn auch schon ten Raketenwerfer Richtung Grosny. Die gelt hatten, den letzten Fluchtweg aus dazu?“, will die Frau in Galoschen und Ruinen der tschetschenischen Hauptstadt der kaukasischen Rebellenrepublik, wa- schwarzer Tschetschenen-Tracht von den werden sturmreif geschossen. ren im Schutz der Dunkelheit heimlich russischen Posten wissen. Die schweigen. General Gennadij Troschew, Komman- aus ihrer Stellung ins Maisfeld geschli- Saibudin Huldatow wiederum will we- deur der Ostfront gegen Tschetschenien, chen. Sie bitten die Flüchtlingsfrau Sunja gen seines Neffen Bagdan, 38, der neben begnügt sich nicht mit militärischen Mit- um Brot und ein bisschen Zucker. ihm im Auto liegt, nach Grosny zurück. teln: Er hat „patriotische Geschäftsleu- Die Verpflegung ihrer Trup- te“ gefunden, welche für den pe sei viel zu knapp, Bittbriefe Tschetschenen nach Luftangriff: Moskau fürchtet Gräuelbilder Kopf seines tschetschenischen nach Hause aber seien verbo- Erzfeindes Schamil Bassajew ten. Sie hätten auch Tauschwa- eine Million Dollar gestiftet re dabei: einen Kasten voller haben. Patronen. Sold wie im Kosovo Was sich derzeit an der war ihnen angekündigt wor- tschetschenischen Grenze ab- den, 1500 Mark im Monat. spielt, ist für Inguschiens Präsi- Kaum ein Zehntel davon be- denten Ruslan Auschew – ei- kommen sie ausgezahlt plus nem früheren Sowjetgeneral – vier Mark am Tag Zuschlag. das Werk einer „Militärdikta- Im Krieg des Kreml gegen tur“, selbst im letzten Krieg die Kaukasier zwingt schlich- habe sich Moskau „eine solche ter Hunger die Verfolger des Brutalität gegenüber Flüchtlin-

Nachts zu den Verfolgten. Doch STAR C. MORRIS / BLACK gen nicht erlaubt“. 174 Der eigentliche Grund für die Total- blockade ist in den Ängsten der Moskauer Führung zu suchen: Mehr noch als die Freischärler fürchtet die Regierung Bilder, wie sie nach der blutigen Raketenattacke auf den Zentralmarkt von Grosny um die Welt gingen. Weitere Belege über die an- steigende Zahl ziviler Opfer könnten den Westen womöglich doch noch veranlassen, Russland den Geldhahn zuzudrehen. Deshalb verschweigen die russischen Fernsehnachrichten auch, dass Tsche- tschenen-Präsident Aslan Maschadow ein neues Verhandlungsangebot vorgelegt hat. Kein Wort, kein Bild erscheint vom Mord auf dem Markt in Grosny. Sie melden eben- falls nicht, dass russische Intellektuelle ge- gen die Unterbrechung der Stromzufuhr nach Tschetschenien protestieren („Todes- urteil für Arme und Kranke“). Es darf nicht bekannt werden, dass der Menschenrechtler Sergej Kowaljow die „Anti-Terror-Aktion“ für ein Wahlma- növer hält, das zum „totalen Krieg gegen die gesamte tschetschenische Bevölke- rung“ führt. Die Popularität von Premier Putin wächst denn auch dramatisch: In- zwischen ist er der beliebteste Anwärter auf das Präsidentenamt. Russlands Medien stellen „die Tatsachen auf den Kopf“, be- schwerten sich die Tschetschenien-Kor- respondenten der drei wichtigsten Mos- kauer TV-Sender. Als Said-Hussein Zarnajew, freier Mit- arbeiter des russischen Fernsehprogramms ORT, Bilder vom Bombenangriff auf die Dörfer Samai-Jurt und Noschai-Jurt nach Moskau überspielte, „da haben die Leute vom Sender nur höhnisch gelacht“, sagt er. Jedes Videoband werde von einem Zen- sor geprüft. Aber auf allen Kanälen des russischen Fernsehens tanzt ein fröhliches Feldballett zur Truppenbetreuung an der Front. Mos- dok, das russische Hauptquartier vor der tschetschenischen Nordwestgrenze und der wichtigste Luftwaffenstützpunkt, ist bereits der eigenen Propaganda erlegen – es herrscht Siegesstimmung. Ruslan Ussujew, in Nasran lebender Flüchtling aus Grosny, bekommt sie zu spüren. Er hat sich in seinem Auto über die Berge bis in die Garnisonstadt durchge- schlagen, als er seinen Ausweis vorzeigen muss. „Was“, schreit ein Hauptmann mit hochrotem Kopf, „du wagst dich als Tsche- tschene hierher? Natürlich ist das Auto ge- klaut, drei Tage Haft, zur Feststellung dei- ner Personalien.“ Dann begnügt er sich mit 200 Rubel Wegegeld, umgerechnet 14 Mark. „Diesmal nehmen wir Grosny in die Zange und drehen euch ganz, ganz lang- sam die Luft ab“, gibt er dem Tsche- tschenen schnell noch seine Sicht der Dinge mit auf den Weg: „Auch der letz- te tschetschenische Terrorist wird vernich- tet, und wenn dabei ein paar zehn- tausend Menschen über die Klinge springen.“ Christian Neef

der spiegel 44/1999 Ausland REUTERS AP Learjet-Absturzstelle in South Dakota, Pilotin Bellegarrigue: Letzter Funkkontakt über Gainesville

ihn auf Befehl von US-Präsident Bill Clin- USA ton, nur er könnte diese Order erteilen, abschießen müssen. Noch während des Irrfluges erfuhr der „Ein fliegender Sarg“ Fernsehsender CNN von dem Drama über den Wolken, Millionen von Amerikanern Der vierstündige Geisterflug eines Learjets schockte Amerika. verfolgten die Live-Berichterstattung – un- ter ihnen auch Tracey Stewart, die Frau Unglücksursache war vermutlich ein Druckverlust, des prominenten Golfspielers. Ihr Mann der auch für Passagiere von Linienmaschinen tödlich sein kann. hatte den Jet gechartert. Gemeinsam mit seinen zwei Managern und einem weiteren m vergangenen Mittwoch began- Gainesville im Norden des Bundesstaates Fluggast wollte Stewart zum Golfturnier nen Bagger, einen Graben um einen gemeldet. Für den Flug nach Dallas in Te- in Houston reisen. Über Handy versuchte Adrei Meter tiefen und neun Meter xas erteilten die Lotsen den Piloten die die Verzweifelte noch, ihren todgeweihten breiten Krater auszuheben im Weideland Genehmigung, auf 39000 Fuß (11900 Me- Ehemann zu erreichen. nahe Mina im US-Staat South Dakota. Mit- ter) zu steigen. 2250 Kilometer legte der Geisterjet zu- arbeiter der amerikanischen Unfallbehör- Aber als der Jet 37 000 Fuß erreich- rück, fünf Kampfflugzeuge lösten sich ab, de National Transportation Safety Board te, mutierte die eben noch kontrollierte bis die Turbinen der Privatmaschine über (NTSB) wollen sich wie Archäologen nun Maschine zum Geisterflieger. Der Funk- menschenleerem Gebiet trocken geflogen von den Rändern des Grabens aus zu den kontakt riss ab, das Flugzeug driftete waren. Air-Force-Piloten, die sich bis auf zerfetzten Überresten eines Jets vorarbei- vom ursprünglichen Kurs nach Nord- wenige Meter genähert hatten, waren es, ten.Am Montag um 13.14 Uhr Ortszeit hat- westen ab. die erste Hinweise auf die mutmaßliche te sich die Maschine fast senkrecht in den Da forderte die Luftaufsichtsbehörde Fe- Unglücksursache gaben. weichen Grund gebohrt. deral Aviation Administration Kampfma- Die Scheiben des Jets seien milchigblind „Um mögliche Spuren für den Unfall- schinen bei der Air-Force an – als Eskorte gewesen, von Eis überzogen, sagten sie. hergang nicht zu zerstören“, erklärte der für den offenbar nur noch vom Autopilo- Deshalb glaubt Chefermittler Francis, ein Leiter der NTSB-Ermittler Robert Fran- ten gesteuerten Learjet. Wäre der Privat- plötzlicher Druckabfall in der Learjet-Ka- cis, sei äußerste Vorsicht bei der Bergung flieger auf eine Stadt zugestürzt, hätten sie bine könne des Rätsels Lösung sein. Aller- geboten.Wie Teile eines Puzzles sollen die dings sei das vorerst nur eine Hypothese, Fetzen verbogenen und gerissenen Metalls KANADA schränkte Francis ein, das NTSB werde anschließend in einem Hangar ausgebrei- Absturzstelle „sich allein von den aus den Wrackteilen tet werden. Es dürfte viele Monate dauern, ermittelten Fakten leiten lassen“. SOUTH Mina so Francis, bis die Ursache für den Geis- DAKOTA Doch außer einem Triebwerk und einem terflug des Learjets 35 zu rekonstruie- Flügel, die weitgehend intakt geborgen wer- ren sei. den konnten, findet sich am Unfallort nur Wie ein fliegender Holländer war die USA zerrissenes Metall. Ob die handtellergroßen Maschine per Autopilot vier Stunden lang 500 km Fetzen reichen, um die Unglücksursache über Amerika geflogen – Besatzung und zweifelsfrei zu ermitteln, erscheint fraglich. Passagiere vermutlich tot. An Bord war Der Einsatz einer Black Box, die Dutzen- auch das US-Golf-Idol Payne Stewart. geplantes Ziel de von Flugdaten und technischen Para- Die Piloten des 23 Jahre alten Jets der Dallas Gaines- metern aufzeichnet, war für das Ge- Betreiberfirma Sunjet Aviation – Michael ville schäftsflugzeug nicht vorgeschrieben. Der TEXAS Start Kling, 43, und Stephanie Bellegarrigue, 27 FLORIDA Voicerecorder könnte selbst dann, wenn er – hatten sich 25 Minuten nach dem Start in Orlando gefunden würde, kaum Aufschluss geben: Orlando in Florida zum letzten Mal über Golf von Mexiko Derartige Geräte erfassen nur die letzten 30

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Minuten der Cockpit-Gespräche und Passagiere zu diesem Zeit- in einer Endlosschleife. Da der punkt in Ohnmacht gefallen Jet vier Stunden lang führerlos sein, so war „der Learjet kaum flog, kann das Magnetband kei- mehr als ein fliegender Sarg“, nen Hinweis mehr auf die ent- wie ein US-Experte erklärt: Der scheidenden Minuten geben. Sauerstoffmangel in solcher Gewebefetzen der Learjet-In- Höhe führe nach wenigen Mi- sassen, die im Umkreis des Ein- nuten zum Hirntod. schlagkraters gefunden wurden, So etwas passiert in Passagier- werden derzeit auf Spuren von und Geschäftsflugzeugen sehr Drogen, vor allem aber auf selten. Vor drei Jahrzehnten er- Rauchbestandteile wie Kohlen- mittelte die FAA einen Druck- monoxid untersucht. Die wür- abfall alle 54300 Flugstunden. den auf einen Brand an Bord Neuere Untersuchungen gibt es schließen lassen. Ob die Opfer nicht, doch treten derartige Un- nach einem Druckabfall in der fälle heute eher noch seltener auf. Kabine erstickten, lässt sich Aber wenn es zu einem so hingegen nicht feststellen. Druckabfall kommt, sind Jet- Tests für die wahrscheinlichste Passagiere heute in größerer Ge- der Theorien, so einer der betei- fahr als früher. Denn aus öko- ligten Pathologen, „lassen sich nomischen Gründen fliegen Ver-

in diesem Fall nicht anwenden“. DPA kehrsmaschinen immer höher. Da die Kampfjet-Piloten an Unfallopfer Stewart: Anruf der verzweifelten Ehefrau Moderne Geschäftsflugzeuge dem Geisterflieger keine äuße- wie neue Learjets oder Gulf- ren Schäden wie zerborstene oder fehlen- diesen Wert, werden die Piloten durch op- streams erreichen bereits Höhen von über de Fenster erkennen konnten, scheint der tische und akustische Signale alarmiert. 15 000 Metern. Der Grund: In größerer Druck jedoch nicht plötzlich und explo- Dann müssen sie sofort Sauerstoffmasken Höhe fällt der Luftwiderstand und damit sionsartig abgesackt zu sein. über Mund und Nase ziehen und den Jet der Treibstoffverbrauch. Das Überschall- Möglich ist, dass die Versiegelung eines auf eine Höhe von etwa 10 000 Fuß Passagierflugzeug Concorde kann im Rei- Fensters oder der Tür versagte, denkbar drücken. seflug gar über 60000 Fuß erreichen. auch, dass feine Risse in der Druckkabine In den Kabinen von Passagiermaschinen Bei Höhen von über 48000 Fuß aber, so des 23 Jahre alten Flugzeugs zu einem fallen dabei automatisch Atemmasken aus der Flugmediziner Heiko Welsch vom Flug- „fließenden Druckabfall“, wie Experten der Decke, die alle Passagiere vor Schä- medizinischen Institut der Luftwaffe, ist je- das nennen, führten. den durch Sauerstoffmangel schützen sol- der Mensch ohne Druckanzug extrem ge- Auch zwei Ventile des Learjets, die den len. Entscheidend für die Folgen eines fährdet. Zwar muss bei Flügen mit der Druck in der Kabine regeln, gelten als mög- Druckabfalls sind dessen Tempo und die zweifach schallschnellen Concorde einer liche Unfallauslöser. Nachdem der Herstel- Flughöhe. Je rascher der Druckabfall, des- der Piloten ständig mit angelegter Sauer- ler der Ventile eine potenzielle Fehlerquel- to drastischer die Folgen. Je höher das stoffmaske fliegen, doch das würde die Pas- le ausgemacht hatte, ordnete die US-Luft- Flugzeug fliegt, desto verheerender der sagiere im Falle eines Druckverlusts wohl aufsichtsbehörde 1995 an, dass sie auszu- mögliche Ausgang für Crew und Passa- nicht vor dem Tod bewahren. Flugmedizi- tauschen seien. Auch bei dem Unglücksjet giere. ner geben ihnen bei Druckabfall in Höhen von 50000 Fuß kaum Überlebenschancen. „Bei 60000 Fuß“, so Welsch, „geht für Flugmediziner die Raumfahrt los.“ Bei 63000 Fuß kocht im Falle eines Druckver- lustes das Blut – keine Chance. Schon bei einer Höhe von 40000 Fuß kann Gewebe im Körper zerreißen. Die „wasserstoffgesättigten“ Gase in Lunge und Darm, so Welsch, dehnen sich dann ex- plosionsartig auf das Siebenfache ihres ur- sprünglichen Volumens aus, in Höhen zwi- schen 50000 Fuß und 60000 Fuß gar auf das 10- bis 20-fache. Ob die Menschen an Bord des Learjets innere Verletzungen da- vontrugen, wird sich vermutlich nie ermit-

AP teln lassen. Zu sehr wurden die Körper Unglücksmaschine Learjet 35: Verkaufsofferte im Internet beim Aufprall zerfetzt. Während Amerika noch um sein Golf- wäre dies, wie NTSB-Ermittler erklärten, Die „time of useful consciousness“, wie Idol Stewart trauerte, das Sternenbanner geschehen. Allerdings sei eines der Ventile Piloten die Zeit bis zur Ohnmacht nennen, auf halbmast flatterte, empörte viele eine zwei Tage vor dem Absturz erneuert wor- fällt mit der Höhe rapide: Sind es bei plötz- makabre Panne des Learjet-Eigners Sunjet den, weil es nicht richtig funktionierte. lichem Druckverlust in 6000 Meter Höhe Aviation aus Sanford in Florida: Piloten werden im Simulator darauf trai- noch zehn Minuten, so bleiben Piloten bei Auf einer Internetseite bot Sunjet die niert, bei einem lebensgefährlichen Druck- 12 000 Metern – übliche Reise-Höhe auf Unglücksmaschine zum Verkauf an – „in- abfall rasch zu reagieren. Normalerweise Transatlantik-Flügen – nur noch 15 Sekun- nen und außen in erstklassigem Zustand“. entspricht der Kabinendruck in einem Pas- den, um zu reagieren. Am Tag nach dem Absturz in South Da- sagierjet etwa dem der Luft in 2000 Meter In etwa dieser Höhe ereilte auch den kota war die Annonce noch immer nicht Höhe über dem Meer. Sackt er jäh unter Unglücksjet das Verhängnis. Sollten Crew gelöscht. Ulrich Jaeger

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Werbeseite Ausland E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL Balkan-Koordinator Hombach in Pri∆tina: Wer sich kooperativ zeigt, erhält Sonderrationen

tagsdunst. Hier wünscht Bodo Hombach BALKAN niemand was Böses. Hier nicht. Im Uno-Regionalhauptquartier im Zen- Orchester aus trum der Stadt trifft der Brüsseler Koordi- nator Hombach zunächst den Uno-Koor- dinator Bernard Kouchner. Mit ihm wird er Solisten erörtern, „wie man aus Projekten Baustel- len macht“ (Hombach). Bodo Hombach stößt bei seinem Kouchner ist offensichtlich nicht erfreut über den Besuch. Es ist ja kein Geheimnis: Versuch, Ordnung in den Der Mann aus Avignon und der Macho von

Wirrwarr der Hilfsapparate der Ruhr pflegen keine Herzensbeziehung. K. MÜLLER für Südosteuropa zu Immerhin: „Das Verhältnis der beiden ent- Aufbaueinsatz der Bundeswehr im Kosovo bringen, auf Widerstand. spannt sich langsam“, sagt hinterher einer „Multiplikation der Strukturen“ der Beisitzer. ichts zu essen an Bord, der Kaffee Hombach gibt sich betont verbindlich. haftes Patentrezept für das Kosovo: Man ist alle, aus der Klimaanlage zischen Jetzt bloß nicht den Großrevisor spielen. brauche jetzt einen, der bestimmt, und vie- Nabwechselnd eiskalte und brüh- Aber er nimmt auch Anstoß, wenn er etwas le Macher, die das Richtige tun. „Das La- warme Luftduschen. Wenn einer der mit- für anstößig hält. Das Kosovo muss für die byrinth der Hilfsorganisationen ist völlig fliegenden Soldaten pinkeln will, muss Wintermonate mit katastrophalen Engpäs- unüberschaubar. Die Menschen haben die Bodo Hombach die Beine anziehen, um sen in der Stromversorgung rechnen, weil Nase voll von runden Tischen. Sie wollen den Weg zum Urinal hinter der Persenning der Brennstoffnachschub nicht klappt. Ergebnisse.“ Frau Pack sagte aber nicht, freizumachen. Dazu fünf Stunden lang Mo- Das macht ihn wütend: „Die haben hier wie sie sich die Lösung vorstellt. torenlärm, dass sich das Trommelfell biegt. mit die reichsten Braunkohlevorkommen Im Kosovo, so hat der ehemalige EU- Reist so des deutschen Bundeskanzlers Europas. Und die Leute müssen frieren, Kommissionspräsident Jacques Santer ge- bester Mann? Warum tut er sich das an? weil die Kohle nicht rausgeholt werden sagt, habe eine „Multiplikation der Struk- Der derbe Landserkomfort der Transall kann.“ Im Januar wolle Kouchner eine turen ohne präzise Konsequenzen“ statt- hebt das Pionierbewusstsein des „Sonder- Energiekonferenz einberufen. „Im Januar, gefunden. Richtig. Doch die Konfusion beauftragten für den Stabilitätspakt in Süd- wenn der Winter fast vorbei ist. Na, ja, der müsste beispielsweise Kouchner nicht dar- osteuropa“. Außerdem ist es billiger als Mann ist Arzt.“ Den letzten Satz nuschelt an hindern, sich der Sanierung der Elek- zehn Linienflüge für den EU-Koordinator, er so leise, dass er bei Beschwerden hin- trizitätswerke sowie der Braunkohlegru- seine fünf Referenten und vier Leibwäch- terher sagen kann, er sei missverstanden ben zu widmen und das Kosovo winterfest ter. Die Transall soll Fracht aus Kreta worden. zu machen. Es fehlt ihm nicht an Geld und holen. Eine Zwischenlandung im Kosovo Der Augenschein weckt Zweifel daran, Entscheidungsbefugnis, um das zu tun, was kostet nur ein paar Mark Landegebühren dass das Wiederaufbaumandat in guten er für nötig erkannt hat. extra. Händen ist: Einige Büros sehen noch im- Außer dem Meeting mit Kouchner ste- Bevor Hombach das Flugzeug durch die mer so aus wie nach dem letzten Nato- hen nacheinander Treffen mit dem ser- Frachtluke verlässt, gehen seine Leib- Bombardement im Juni. Kaputte Türen, bisch-orthodoxen Bischof Artemije sowie wächter draußen mit entsicherten Maschi- faulender Aktenmüll zwischen umgekipp- mit den Albanerführern Ibrahim Rugova nenpistolen in Stellung. Eine überflüssige ten Schränken; im zweiten Stock hängen und Hashim Thaçi auf Hombachs Agenda. Vorsichtsmaßnahme. Das Flugfeld von spitze Glasscherben wie Fallbeile in den Der Bischof erscheint nicht, angeblich, weil Pri∆tina liegt – abgesehen von ein paar bri- Fensterrahmen. er sich bedroht fühlt. Und die zwei Politi- tischen und amerikanischen Wachsoldaten Die CDU-Europaabgeordnete und Bal- ker, so ein Teilnehmer der Blitzkonferenz, – fast menschenleer im lauwarmen Mit- kan-Spezialistin Doris Pack hat ein fabel- wussten offenbar nichts von den geplanten

180 der spiegel 44/1999 Tagesordnungspunkten. Sie fanden sich im Gewirr der Zuständigkeiten einfach nicht mehr zurecht. Hombach bleibt dabei: „Wir haben hier unten ein Orchester aus prima Solisten, die müssen nur richtig orchestriert wer- den.“ Nur, was tun, wenn sie sich nicht orchestrieren lassen wollen? Hombachs Stab zählt 28 Mann aus 15 Nationen. Alles ausgesprochene „Glücks- fälle“. Jetzt muss er das geballte Glück nur noch zweckdienlich einsetzen. Vorletzte Woche war Hombach in Sofia, Skopje und Tirana. Er sagt, dort habe er viel Sympathie und viel Verständnis ge- funden. Es wäre gut gewesen, wenn er auch Belgrad besucht hätte. Denn ohne die Beteiligung der Serben ist der Bal- kan nicht sanierbar. Der bulgarische und der rumänische Außenhandel liegen dar- nieder, weil die westliche Wertegemein- schaft nicht mit Serben-Zar Slobodan Milo∆eviƒ über die Räumung der blockier- ten Donau und über den Wiederaufbau der zerstörten Brücken in Novi Sad ver- handeln will. Ein Hombach-Mitarbeiter: „Die serbische Kuh steht mit allen vieren fest auf dem Eis.“ Um die Blockade zu unterlaufen, hat sich Hombach im südungarischen Szeged mit oppositionellen Bürgermeistern aus 20 serbischen Städten getroffen, um sie zu Partnerschaften mit deutschen Städten zu animieren. Wer sich kooperativ zeigt, soll mit Sonderrationen Strom und Heizöl für den Winter belohnt werden. Mit dem Bürgermeister der Industrie- stadt Novi Sad schloss Hombach ein Ab- kommen: Die Stadtverwaltung lässt die Pontonbrücke zwischen dem Zentrum links der Donau und der alten Festung Petrovaradin abräumen; dafür soll ihr die EU eine richtige Brücke bauen, unter der auch Schiffe hindurchfahren können. Nur, die Pontonbrücke ist Eigentum der Zentralregierung in Belgrad. Niemand wird es wagen, sie ohne die Zustimmung von Milo∆eviƒ abzureißen. Und diese Zustim- mung ist derzeit nicht erhältlich. Bodo Hombach verfolgt das Projekt trotzdem weiter. Er wehrt sich gegen die These, dass die normative Kraft politischer Ranküne auf dem Balkan noch endgültiger sein soll als in Berlin. Hombach wehrt sich auch gegen den Verdacht, sein Kanzler habe ihn zur EU abgeschoben, damit er dort seine Immobi- lienaffären aussitzen könne. Ganz das Ge- genteil sei der Fall gewesen. Er selbst habe sich um den Job beworben. Doch der Kanzler habe ihn erst ausgelacht. Er sagte: „Ich glaube, du bist bekloppt.“ Tags darauf habe Schröder ihn gefragt: „Sag mal, meinst du das ernst?“ Um zu beweisen, wie ernst er seine Süd- osteuropa-Mission nimmt, will er sich zu seinen Wohnungen in Brüssel und Mülheim an der Ruhr demnächst noch eine dritte in Budapest leisten. Erich Wiedemann

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Auch stehen keinem anderen Politiker der- die Alles-oder-nichts-Haltung Blochers ha- SCHWEIZ art unbeschränkte Mittel für seine Propa- ben seine ganze Partei erfasst“, kommen- gandamaschine zur Verfügung. tierte der „Tages-Anzeiger“. „Je mehr Schlaue Folgten früher vor allem Bauern, Hand- Macht die SVP hat, desto weniger weiß sie werker, Kleinunternehmer und frustrierte damit anzufangen.“ kalte Krieger dem Neutralitätsapostel, zog Auch sein Durchmarsch auf der natio- Verrenkung er mit seinem Ruf nach weniger Steuern nalen Ebene wird sich selten in die diesmal sogar Bankiers in sein Lager. Als großmäulig versprochene rechtsbürgerli- Großmäulig fordert Wahlsieger Bonus garantierte er ihnen, dass er die che Politik ummünzen lassen, zumal sein Schweiz aus der EU raushalten werde und Erfolg aus der Nähe betrachtet nicht so Blocher das Ende der seit sie dadurch ihre Anziehungskraft als Fi- überwältigend ist. Mehr als die Hälfte sei- 40 Jahren bewährten Koalition. nanzdrehscheibe behalten könne. ner Sitzgewinne holte er bei rechten Split- Doch für einen Rechtsruck Predigt und Praxis des Pfarrersohnes tergruppen, die keine Rolle mehr spielen. fehlt ihm – noch – die Kraft. stimmen allerdings selten überein. Er ist Zudem profitierte er von der Arithmetik berüchtigt für schnelle Wendemanöver und des Verhältniswahlrechts. Die drei großen as hektische Treiben von nervösen schlaue Verrenkungen. So verkündete er Blöcke in der Volksvertretung – links und Kameraleuten, Journalisten und jedem, der es hören will, er habe „mit Ras- grün, bürgerliche Mitte und rechts – sind DFotografen erinnerte an Auftritte sismus,Antisemitismus und Revisionismus praktisch gleich stark geblieben. von Filmstars und Popmusikgrößen. „Wie nichts am Hut“. Deshalb ist absehbar, dass die beiden eine Dampfwalze“ (so das Boulevardblatt Doch als er im März 1997, auf dem Parlamentskammern am 15. Dezember die „Blick“) bahnte sich am vorletzten Sonn- Höhepunkt der Debatte über das Nazi- seit 40 Jahren gültige Zusammensetzung tag Wahlsieger Christoph Blocher, 59, im gold und die herrenlosen Vermögen von der Regierung aus zwei Sozialdemokraten, Zürcher Fernsehstudio einen Weg zum Mi- Holocaust-Opfern, von einem Anhänger – zwei Freisinnigen, zwei Christdemokraten krofon. Der Milliardär und Volkstribun, der zum Dank für den Einsatz „gegen jüdi- und einem SVP-Vertreter bestätigen wer- seinen Anbetern einredet, die Heimat sei sche Machenschaften“ – das Werk eines den. „Weder für eine Mitte-Rechts-Regie- durch Horden von Steuereintreibern und notorischen Holocaust-Leugners erhielt, rung ohne Sozialdemokraten noch für kriminellen Asylbewerbern in Gefahr, war beendete er seinen Dankbrief mit: „Wie einen zweiten SVP-Sitz und den Raus- gekommen, um einen „historischen Wahl- Recht er doch hat.“ Das Buch habe er nie schmiss eines sozial- oder christdemokra- sieg“ zu feiern. gelesen, rechtfertigte er sich vor der Wahl tischen Ministers gibt es im neuen Parla- Blochers nationalkonservative Schwei- und spielte das verfolgte Unschuldslamm, ment eine Mehrheit“, analysierte die frei- zerische Volkspartei (SVP), bislang hinter das sich gegen eine „perfide Schlamm- sinnige Parteiführung das Wahlergebnis. Freisinnigen und Christdemokraten die schlacht der Medien“ weh- dritte bürgerliche Kraft im Parlament und ren muss. Sitzverteilung im neuen Schweizer Nationalrat mit einem Sitz Juniorpartner in der sie- Im politischen Alltag sind in Klammern: bisherige Sitze benköpfigen Regierung, gewann diesmal die Erfolge des gelernten Christlich- Freisinnig- Liberal- im 200-köpfigen Nationalrat 15 Sitze hinzu. Landwirts und promovier- Demokratische Demokratische Demokratische „Die Schweiz“, resümierte die Lausanner ten Juristen bislang beschei- Volkspartei Partei Partei „24 heures“ am Morgen nach dem Wahl- den. Im Zürcher Kantons- Grüne 9 (9) 35 (34) 43 (45) 6 (7) tag, „wacht mit Kopfweh auf.“ parlament, wo SVP und Sozialdemo- Seinen Triumph erreichte der heimliche Freisinnige über die absolu- kratische Parteiführer Blocher, der das Präsidium te Mehrheit verfügen, ist Partei 51 (54) Schweizerische von dem Getreuen Ueli Maurer verwalten von einer „dezidiert bür- Volkspartei lässt, mit fremdenfeindlichen Angstparo- gerlichen Politik“ nichts zu 44 (29) len, mit der Forderung nach Steuersen- sehen, weil sich die Parteien Partei sonstige 200 Sitze kungen und mit Schmähreden gegen jede nicht einigen können. „Das der Arbeit 3 (3) 9 (19) Öffnung des Landes zur Uno oder zur EU. Sendungsbewusstsein und

Allerdings werden Blocher und sein laut- starker Anhang die in den letzten Jahren er- probte „Koalition der Vernunft“ (so die so- zialdemokratische Parteichefin Ursula Koch) zur Rücksichtnahme zwingen – mit Widerstand in den Kommissionen, mit ef- fektvollen Auftritten im Plenum gegen jede Annäherung an Uno oder EU und, wenn nötig, mit Volksabstimmungen. „Der nächs- te Wahlkampf“, ließ er seine Leute wissen, „hat schon begonnen.“ Und er droht: „Die Möglichkeit, eine Politik rechts der Mitte zu machen, ist da. Ergreifen die anderen bürgerlichen Parteien diese nicht, werden sie 2003 die Quittung dafür erhalten.“ Blochers Auftritte seit der Wahl alar- mierten die sozialdemokratische Bundes- präsidentin Ruth Dreifuss. Auch Hitler, warnte sie im Fernsehen, habe einen ersten Wahlerfolg gehabt. „Wir dürfen nicht zu-

AP lassen, dass die Demokratie von ihren Geg- Wahlsieger Blocher, Volksparteichef Maurer: „Die Quittung folgt 2003“ nern missbraucht wird.“ Jürg Bürgi

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200 km UKRAINE R. SIGHETI / REUTERS Leprakranke auf dem Dorfplatz von Tichile≠ti*: Wie Wölfe in den Wald gebracht UNGARN MOLDA- WIEN

RUMÄNIEN RUMÄNIEN Karpaten Tichile≠ti

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w SERBIEN h BULGARIEN c bleibt stehen“ S Am Rand des Donaudeltas liegt die Leprakolonie Tichile≠ti. Seit Es gibt eine Kirche, eine Kapelle und eine Art Dorfplatz. Das Regiment führen dem Ende des Kommunismus steht es den Aussätzigen ein Arzt und Krankenschwestern in weißen frei zu gehen. Doch sie bleiben – aus Altersschwäche, Scham Kitteln. Im fahlen Licht des frühen Mor- oder Angst vor der draußen drohenden Not. gens balsamieren sie offene Wunden und die Seelen der Kranken. orbei an Pferdewagen und Ochsen- Barbu Ignatescu, Direktor der Leprakolo- Vasile ist 68 und 1945 in einem Viehwag- karren führt der Weg durchs Grenz- nie Tichile≠ti. gon nach Tichile≠ti gebracht worden. Ge- Vland zur Leprakolonie. Im Dunst Seit 1929 leben hier Aussätzige aus ganz krümmt, mit Hut und dunkler Brille, setzt drüben, am anderen Ufer der Donau, Rumänien und dem angrenzenden, heute er Langmut gegen das Leiden: „Glaubst sind die ersten Weiler der Ukraine zu er- ukrainischen Bessarabien. Beinahe 200 In- du“, fragt er und reckt Stümpfe empor, die kennen. Auf rumänischer Seite mühen sassen waren es anfangs.Auf umgestürzten einmal Hände waren, „diese Finger sind sich Bauern um Wein, Mais und Son- Holzkreuzen oben am Friedhofshügel ver- von heute auf morgen abgefallen? Nein. nenblumen. Bei Kilome- wittern die Namen der To- Einer nach dem anderen. Stück für Stück.“ ter 132 weist ein Straßen- ten. Drunten, in der Glas- Außer den Fingern hat Vasile der Lepra schild nach rechts: Tichile≠ti vitrine von Doktor Ignates- einen Unterschenkel geopfert und den Hospital. cu, sind 27 Dossiers verblie- Großteil seines Augenlichts – nicht aber Am Talschluss taucht im ben – die Akten der letzten das Gedächtnis. Er ist die Datenbank der Mischwald ein Häuflein ge- Überlebenden. Kolonie. Seine Mitinsassen nennen ihn kalkter Häuser auf. Die Ei- Tichile≠ti ist ein Museum „Bürgermeister“. sentore am Eingang zum der alten Aussätzigenko- Vasile kennt alle, die nun nach und nach Gelände stehen offen, das lonien auf dem Kontinent: über den Hauptplatz geschlendert kom- Wächterhäuschen ist ver- streng abgeschieden, mit ge- men, ihre Lebensgeschichte, ihre Kran- waist. Ein massiger Mann im pflegten Alleen und Greisen kengeschichte, ihre Kose- und Spottnamen. Arztkittel kommt näher: auf schattigen Holzbänken, Die wahre Identität wollen die Aussätzigen ist hier durch erzwungenen gehütet sehen – aus Angst, ihre Verwand-

* Mit dem Kind einer Kranken- PRESS / SIPA L. DELAHAYE Weltverzicht ein Gemein- ten draußen könnten Nachteile erleiden. schwester. Diktator Ceau≠escu (1989) wesen entstanden. Vasile stellt vor: „Kunta“ Kinte, bürgerlich

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Werbeseite FOTOS: R. SIGHETI / REUTERS FOTOS: Leprakranke Florusa (2. v. l.), Grigore (r.) mit Leidensgenossen, Weinbauer Vasile (mit Hut): Totgeschwiegen, versteckt und bekämpft

Christachi, seiner Arbeitswut und ver- Denn die biblische Geißel der Sünder, in schluss. Noch nach 40 Jahren Kommunis- schmutzten Kleider wegen nach dem TV- Wahrheit eine Krankheit der Armen, der mus soll die Sache so geheim gewesen sein, Sklaven gleichen Namens benannt; der Mangelernährten, der auf engem Raum dass der neurotisch Ansteckung fürchtende „Barsch“, bürgerlich Grigore, ein noch jun- von verschmutztem Wasser Lebenden, hät- Staats- und Parteichef nicht im Bilde war: ger und trinkfester Zimmermann aus dem te schlecht zur Propaganda vom sozialisti- „Ceau≠escu hat nichts davon gewusst“, sagt nahen Donaudelta; die „Baptistinnen“ schen Paradies im Reich Ceau≠escus ge- Victor Ciobanu, bis 1989 Gesundheitsminis- Iufimia und Ustina, zwei fromme Alte; und passt. Sie wurde totgeschwiegen, versteckt ter im Reich des „Conducators“. „die Mandoline“, wortreich klagend Vasi- und bekämpft. Grigore, mit 34 Jahren jüngster Bewoh- les Nachbarin am Hang. Nur Professor Pavel Vulcan, der jetzt, ner der Leprakolonie, hat seinen großen Sie alle gelten fachsprachlich als „aus- knapp 80-jährig, noch immer in seinem win- Führer trotzdem persönlich gesehen. 1978 gebrannte Fälle“ – nicht mehr ansteckend, zigen Bukarester Kabinett residiert, kennt war’s, zur Werfteröffnung in Sulina am weil mit einer Mischung aus Antibiotika die Kranken von Tichile≠ti beim Namen Schwarzen Meer. Ceau≠escu kam, das Volk behandelt. Doch ihre zuvor vom Erreger und ihre Geschichte. Von 1950 an, sagt er, stand Spalier, und mittendrin er, Grigore, befallenen Nervenzellen sind tot, Tastsinn „bin ich mit dem Pferdewagen ausgerückt“. der begeistert mit seiner verkrüppelten lin- und Schmerzgefühl verschwunden. Die ge- Er habe in abgelegenen Dörfern Lepraver- ken Hand winkte und klatschte. ringste Verletzung, Erfrierung oder Ver- dächtige getestet und, im Fall des Falles, Keiner habe etwas bemerkt damals, sagt brennung genügt, und das Fleisch verfault einweisen lassen. Worum es ging, erfuhren er. Die Furcht, entdeckt zu werden, hat er ihnen am lebendigen Leib. fast alle Neuankömmlinge erst in Tichile≠ti. erst später verspürt und ins neue Rumänien Lepra in Europa? Seit Mitte der achtzi- „Warum bringt ihr mich in den Wald wie mitgenommen. Fährt Grigore heim nach ger Jahre ist die Zahl der Kranken weltweit einen Wolf?“, hat Iufimia ihren Eltern ge- Sulina, wie neulich zum Flottenfest im Au- von sieben Millionen auf eine Million zu- schrieben. Und der Bürgermeister erinnert gust, dann erzählt er Freunden von früher, rückgegangen. Nur einige hundert davon sich: „Als ich das Lager sah, war mir klar, er arbeite das Jahr über auswärts als Zim- sind auf dem Kontinent gemeldet. Die Aus- dass ich hier für den Rest meines Lebens mermann. Und die verkrüppelte Hand? sätzigen von Tichile≠ti sind hoch betagt bleiben würde. Natürlich habe ich ge- „Arbeitsunfall“, antworte er meistens. oder stammen aus abgelegenen Dörfern, in Splitter sorgsam verdrängter Wirklich- denen die Scham vor Entdeckung den zei- keit kommen zum Vorschein, wenn die tigen Gang zum Arzt verhindert hat. Kranken sich öffnen. Sie erzählen dann Ein Serum, mit dem das „Mycobacte- Geschichten, die von der Angst handeln, in rium leprae“ prophylaktisch bekämpft wer- der neuen, marktwirtschaftlich orientierten den könnte, ist bis heute nicht gefunden. Gesellschaft Ballast zu sein, ein Stigma gar Der Lepra-Erreger breitet sich bevorzugt für den Ehepartner oder die Kinder unter Armutsbedingungen aus und bei 33 draußen. Grad Wärme – was dem sommerlichen Nor- Die Mandoline, eine ausgezehrte Frau malwert im Donaudelta entspricht. von Ende sechzig, ist nach langen Jahren In dessen oft nur wasserseitig zugängli- draußen bei ihren Töchtern zurück in die chen Dörfern sind viele der Patienten ge- Kolonie gekommen, weil die Krankheit boren. Die Baptistinnen in ihren mit Hei- wieder aufbrach: „Es frisst meine Gelen- ligenbildern geschmückten Häusern am ke“, sagt sie: „Das Fleisch fällt einfach ab. Hügel sind als Kinder im Delta erkrankt Nur der Knochen bleibt stehen. Dann und in Tichile≠ti, wie sie sagen, durch gott- Lepraarzt Ignatescu kommt der Doktor und schneidet ihn ab.“ gefälligen Lebenswandel alt geworden: Visionen von Buße in der Kolonie Letzteres sei Einbildung, sagt eine der „Die Lepra ist wie ein verwöhntes Weib“, Krankenschwestern. Der Knochen lasse sagt Iufimia: „Sie will, dass du gut isst, auf weint. Nicht einmal meine Mutter wusste, sich am Ende „einfach so herausziehen“. dich achtest, dich nicht gehen lässt.“ wo ich bin.“ Auch wenn die Mandoline verkünde, ihr Folgerichtig waren die Aussätzigen im „Ich war gegen die Isolation“, sagt Pro- einziges Glück seien die gesunden Kinder, öffentlichen Leben Rumäniens bis 1989 fessor Vulcan heute: „Die Menschen hätten verweigere sie die Wahrheit. Eine der Töch- nicht existent. Mit karpatenkommunisti- zu Hause behandelt werden können.“ ter sei gleichfalls an Lepra erkrankt. scher Beharrlichkeit meldete das Regime Aber Leprakranke seien damals wie Vo- Nicht die alten Fälle seien das Problem von Nicolae Ceau≠escu Jahr für Jahr an gelscheuchen betrachtet worden. in Ländern wie Rumänien, sagen westliche die Statistiker der Weltgesundheitsorgani- Die Patientendaten kamen im rumäni- Experten. Die Neuerkrankungen würden sation (WHO) die Lepra-Quote Null. schen Gesundheitsministerium unter Ver- weder registriert noch der WHO gemeldet;

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Werbeseite Ausland das „Case-finding“, die präventive Reihen- staltet wurden, im Kinosaal indische untersuchung, sei unterentwickelt. Die Bot- Schnulzen zu sehen waren und in der Ko- schaft aus Europas Osten laute: „Das krie- lonie Kinder geboren wurden, doch hat die gen wir schon selbst in den Griff.“ Lust am Leben in Tichile≠ti nicht wirklich Weil seriöse Zahlen fehlen, bleibt das gelitten. Jetzt, wo die Trauben gepresst sind Bild von der hartnäckig verschwiegenen und der trübe Most fließt, der „turbule“, Seuche im Land. „Es gibt viele Lepröse in der schnell zu Kopf steigt, kämpfen sich Rumänien. Wenn sie alle eingesammelt selbst Beinamputierte wie der Bürgermeis- würden, wäre das Krankenhaus hier nicht ter vor Richtung Rachelu, ins nächste Dorf groß genug“, sagt Gheorghe Panait, der an der Straße nach Isaccea. alte Parteisekretär der Kolonie. „Wären wir ansteckend“, sagt er und Oben am Hügel von Tichile≠ti steht Kun- schmunzelt wie ein Junger, „müsste halb ta Kinte, der mächtige Malocher. Vera, die Rachelu die Lepra haben.“ An Verkehr zweite Leidensgenossin, die er sich ins zwischen Kolonie und Außenwelt fehle es Haus geholt hat, ist im Sommer gestorben. nicht, in keiner Hinsicht. Geblieben sind Erinnerungsfotos im Haus, Als unter Ceau≠escu Wahnsinn noch als die der Halbblinde nicht mehr erkennt. Normalfall galt, taugte die vorgebliche Ab- Hinzugekommen ist Veras Sohn aus ers- normität den Leprakranken als Schutz- ter Ehe. Nach der Wende aufgetaucht, sitzt schild. Rund um die Kolonie sind damals er nun bisweilen mit Kunta Kinte am Fuß Wälder gerodet, Seen trockengelegt und des Weinbergs. Der Junge war jahrzehnte- Kolchosen geschaffen worden. In Tichile≠ti lang verschollen. Geboren in Tichile≠ti, nichts von alledem, stattdessen: Eigenheim, musste er auf Druck der Herrscher zur Federvieh, Brennholzklau. Zwangsadoption freigegeben werden. Wie durch eine Milchglasscheibe haben „1959 dürfte das gewesen sein“, sagt der die Insassen der Kolonie jahrzehntelang alte Professor Vulcan in Bukarest: „Ich war verfolgt, was draußen vorging. Den Kom- zuständig für den Beschluss, die Kranken munismus, sagt der Bürgermeister, habe er

sollten künftig keine Kinder mehr haben.“ daran erkennen gelernt, dass die Bewohner R. SIGHETI / REUTERS FOTOS: Er habe das damals so formuliert: „Wenn des nächsten Dorfs eines Tages begannen, Prediger Nedelcu (l.), Gemeindemitglieder ihr weiter Kinder kriegen wollt, gut. Aber die eigenen Lämmer für Ostern hinter zu- Tränen beim letzten Vaterunser dann nehmen wir sie euch weg.“ gezogenen Vorhängen zu schlachten. Von etwaigen Zwangsabtreibungen aber Noch heute gilt die Leprakolonie als Ignatescu: „Vergleichbares habe ich in 35 wisse er nichts, sagt Professor Vulcan. „Das Sonderfall – als Basisstation in unwirtlicher Jahren als Arzt noch nicht erlebt.“ war Anfang der Siebziger“, rechnet hinge- Gegend, durch staatliche und karitative, Vielleicht aber macht auch Einsamkeit gen Florusa vor, die in der Kolonie mit dem westliche Hilfe. Brot,Arznei, Gemüse, Eier, verrückt. Der Doktor, früher immerhin me- Bürgermeister lebt. Ihr zweites Kind sei Wein und Geld gehen von hier aus hinaus dizinischer Chef der Flotte unter dem damals unterwegs und die Verordnung ge- ins Land, zu Verwandten und Not leiden- Oberbefehlshaber Ceau≠escu, berichtet rade erlassen gewesen – Kinder von Le- den Freunden. von seiner Vision, er müsse hier Sünden ab- prakranken müssten abgetrieben werden: „Bleibe ich hier, bekomme ich 400000 büßen, und von „negativen Energien, da, „Ich bin dann nach Tulcea ins Kranken- Lei Invalidenrente, und das Essen ist frei“, wo die orthodoxe Kirche steht“. Die Kran- haus gefahren. Dort ist es passiert.“ sagt der junge Grigore. „Draußen kostet kenschwestern tuscheln von einer Patien- Sagt’s, verschwindet und serviert Hüh- schon ein einziges Brot 2000 Lei. Warum tin, die einen Sohn geboren habe und sich nersuppe für die Arbeiter vor ihrem Haus. sollte ich gehen?“ Auch die Kranken- im Tod als Mann entpuppte. Es ist Weinlese in der Leprakolonie, und schwestern und der Arzt, entschädigt mit Ungerührt wie Wärter in der Nerven- der Bürgermeister hat den größten Hang doppeltem Gehalt dank Gefahrenzulage, heilklinik sitzen derweil abends die Le- von allen. Aurel, seines Mundwerks wegen können die Kolonie gebrauchen. prakranken auf ihren Bänken am Dorf- „die Kettensäge“ genannt, schneidet die Und so sind die geächteten Aussätzigen platz. Einer klaut dem Bürgermeister, der Trauben. Der Barsch steht an der Kurbel- von gestern die Mächtigen von heute. „Sie das nicht mehr sehen kann, drei Vier- presse. Der Bürgermeister, obwohl beina- werfen mit Schuhen nach uns und schlagen tel der Zigaretten. Auf den Hügeln liegt he blind, verzeichnet jeden Kübel frisch zu“, sagen die Krankenschwestern, „aber golden das Herbstlicht. Libellen schwir- gepressten Mosts penibel in seiner Kladde. was sollen wir tun?“ Eine Ansammlung ren, Grillen zirpen, in der Ferne grunzt Während die Männer sich im eigenen von „Primadonnen“ konstatiert Doktor eine Sau. Weinberg mühen, werkeln Ansonsten herrscht Stille. Sie macht die in jenem des Herrn die Tage hier gleich und verschmilzt die Jahre frommen Baptistinnen vom zu Klumpen. Am Morgen, bei der Messe, gegenüberliegenden Hügel. haben sich einige der Alten auf den och- „Ich habe mit denen drü- senblutroten Bänken die Augen gewischt, ben nichts gemein“, sagt Iu- als der Prediger Roman Nedelcu vom Tod, fimia. Den Bürgermeister vom Vergehen und vom letzten Vaterunser hat sie für die Sache der sprach. Täufer zu gewinnen ver- Nur Kunta Kinte, der zwei Frauen zu sucht, einmal und nie wie- Grabe getragen hat, ist bei Laune. „Wer der. Er versprach, sich be- schneller sterben will, muss zu mir zie- kehren zu lassen, wenn vor- hen“, sagt er, grinst und ahnt nichts Böses. her gemeinsam noch ein Oben, am Friedhofshügel aber, wo Kunta wenig Sünde möglich sei. Kintes letzter Platz in der Leprakolonie Zwar liegt die Zeit lange sein soll, ist inzwischen von unbekannter zurück, als im alten Sana- Hand sein Sterbedatum vermerkt worden: torium noch Bälle veran- Pflege einer Leprapatientin: Gefahrenzulage für Gesunde „Dezember 2000“. Walter Mayr

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ben von der Macht der neuen Herren. An- Den verdutzten Richtern überbrachte der KROATIEN stelle der serbischen Trikolore weht die unangemeldete Präsidenten-Emissär ein kroatische Fahne mit dem Schachbrettmus- Weißbuch, das angeblich die „wahre Pro- ter an öffentlichen Gebäuden und in den blematik des kroatischen Befreiungskamp- Eisen und Blut Vorgärten der Vorzeige-Patrioten. fes in den Jahren 1991 bis 1995 gegenüber Gleich dreisprachig begrüßt das Orts- der serbischen Aggression und deren lang- Mit Nationalismus will das schild von Knin, einst Zentrum der auto- fristigen Auswirkungen“ darlegt. Kroatien Tudjman-Regime auch die nomen „Serbischen Republik Krajina“, wünsche, dass sich das Tribunal in „gewis- nächsten Wahlen gewinnen. den Reisenden: „Welcome, Willkommen, se innere Angelegenheiten eines souverä- Dobro Do∆li.“ Auf serbisch-kyrillisch grüßt nen Staates“ nicht länger einmische. Doch das Volk ist der es nicht. Die Krajina ist Kroatenland. Dass er selbst der Klügste und Weit- alten Parolen überdrüssig. Keine Kritik kann das autoritäre Regime sichtigste seiner Nation ist, kann der des Franjo Tudjman, 77, erschrecken. Der „Poglavar“, der Führer, wie sich der Staats- FOTOS: REUTERS (li.); A. KULL / VISION PHOTOS (re.) REUTERS (li.); A. KULL / VISION PHOTOS FOTOS: Präsident Tudjman, verlassenes Serbendorf in der Krajina: Freude über die Vertreibung der Andersgläubigen

childer am Rand der Dörfer erzählen Zagreber Staatspräsident ignorierte ein- präsident gern nennen lässt, täglich in der von den früheren Bewohnern dieser fach den diesjährigen Report der US-Re- streng überwachten Partei- und Regie- SRegion: Djevrske, Kakanj, Varivode gierung zur internationalen Lage der Men- rungspresse lesen. – Serbenland. Überall in der buckeligen schenrechte und eine Studie der OSZE. Tudjman gefällt sich in der Rolle eines Landschaft der Krajina stehen Häuser ohne In der wurde Kroatien als ein Land mit Balkan-Bismarck, der sein Reich mit Eisen Eigentümer, fensterlos, die Dächer weg- begrenzten demokratischen Freiheiten und Blut zusammenschmiedet und die geblasen.An der orthodoxen Kirche in Mo- eingestuft. politische Landkarte Südosteuropas neu kro Polje sind frische Brandspuren. Jeder in Beide Institutionen beschuldigen Kroa- zeichnet. Der Erfolg seiner Armee, die im der Gemeinde weiß, wer es war. „Pravi tien der Diskriminierung seiner serbischen August 1995 die aufständischen Krajina- Hrvati“, sagen die katholischen Bauern, Mitbürger, prangern die Verletzung von Serben hinwegfegte, war in der Tat ein „aufrechte Kroaten“. Bürgerrechten gegenüber Roma und Mus- Wendepunkt im jugoslawischen Erbfolge- Die Sieger haben ihre Freude über die limen an und beanstanden die Knebelung krieg, den Serbenführer Slobodan Mi- Vertreibung der Andersgläubigen allerorts der Presse. Doch der an Magenkrebs lei- lo∆eviƒ mit seiner Wahnidee von einem verewigt. Wo einst kyrillische Inschriften dende Tudjman kontert: „Das sind Miss- Großreich vier Jahre zuvor ausgelöst hat- auf Wegweisern, Ladenfenstern und Schu- verständnisse.“ Keiner soll ihm mehr in te. Damals waren es die fanatisierten Ser- len standen, zeugen lateinische Buchsta- seine Politik hineinreden. ben in ihrer Hochburg Knin, die den Bel- Doch solch platter Nationalismus ver- grader Chauvinisten bedingungslos folg- KROATIEN Schätzungen fängt nicht länger. Die Stimmung im Lan- ten und Zagreb den Krieg erklärten. Der Das Bruttoinlands- Arbeitslosigkeit 20% de ist umgeschlagen. Und obwohl Tudjmans Brudermord in Bosnien zeichnete sich produkt 1998 liegt Veränderung zum Vorjahr Amtszeit erst 2002 endet, droht seiner Re- bereits ab – eine Blutspur, die schließlich gierungspartei, der Koratischen Demokra- bis ins Kosovo führen sollte. mit 19 Milliarden Bruttoinlandsprodukt –1,5% Dollar unter dem tischen Gemeinschaft (HDZ), bei Neuwah- Doch das unmenschliche Prinzip von von Bremen Industrieproduktion –2,0% len im Dezember der Machtverlust. ethnischer Vertreibung und gewaltsamer Für das heimische Publikum präsentiert territorialer Völkertrennung verbindet Tudj- SLOWENIEN UNGARN 100 km sich der Staatschef mit den Tito-Luxus- man, den ehemaligen kommunistischen Zagreb allüren pausenlos als „Steuermann der Na- Partisanengeneral, mit seinem Widerpart KROATIEN Krajina tion“. Der scheut keine Anstrengungen, Milo∆eviƒ bis heute. Es war der Kroaten- Do na u um „Kroatien als friedliebende Insel im Vormann, der trotz eindringlicher War- BOSNIEN- stürmischen Balkanmeer“ gegen Verleum- nungen des Westens im April 1993 das kroa- Knin HERZEGOWINA Belgrad dungen und Unterstellungen „serbophiler tisch-muslimische Verteidigungsbündnis in Kreise“ zu verteidigen. Bosnien aufkündigte und eine Annäherung Sarajevo SERBIEN Deshalb schickte Tudjman unlängst sei- an den serbischen Aggressor betrieb. In Adria nen Justizminister Zvonimir Separoviƒ nach einem Separatfrieden mit Belgrad wollte MONTE- Den Haag zum Uno-Kriegsverbrecher- Tudjman damals sein schmales, hufeisen- ITALIEN NEGRO tribunal für das ehemalige Jugoslawien. förmiges Land vergrößern – auf Kosten ei-

194 der spiegel 44/1999 ner Teilung Bosniens in eine kroatische und eine serbische Hälfte. Der Plan scheiterte, vor allem am Starrsinn Milo∆eviƒs. Tudjman wusste sich zu rächen: Die Mi- litäraktion vertrieb 200000 Serben aus ih- rer angestammten Heimat. Europas Regie- rungen äußerten Unbehagen, fühlten sich aber erleichtert, dass Tudjman Uno und Nato die Schmutzarbeit auf dem Schlacht- feld abgenommen hatte – und das Kroa- tenvolk dankte es dem Poglavar bei vor- gezogenen Wahlen. Im Oktober 1995 eroberte Tudjmans HDZ die Mehrzahl der Parlamentssitze. Der Partei- und Staatschef nutzte den Erfolg, um die Republik in ein seltsames janusköpfiges Gebilde zu verwandeln: mit dem Westen liiert, wirtschaftlich im Auf- bruch, aber auch mit finsteren Traditionen behaftet und von einem Partei-Clan be- herrscht, der sich nur dem Patriarchen rechenschaftspflichtig fühlt. Das kostete auf Dauer seinen Preis: Vier Jahre danach ist Kroatien in Europa isoliert und wirtschaftlich ins Abseits geraten. Während die direkten Nachbarländer Slo- wenien und Ungarn bereits Kandidaten der ersten Runde bei der EU-Osterweiterung sind, besitzt der Adria-Staat nicht einmal ein Handelsabkommen mit der EU. Eine Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO ist nicht in Sicht. Experten erwarten dieses Jahr einen weiteren Rückgang der Industrieproduktion um 2 Prozent, und das bei einem Niveau von 57 Prozent des Vor- kriegsstands. Nicht nur der Verlust sozialer Sicher- heiten und die Verarmung breiter Bevöl- kerungsschichten bei einer Arbeitslosen- rate von 20 Prozent schürten den Unmut gegen das Regime. Wirklich Wut ausgelöst im Lande haben immer neue Korruptions- skandale, illegale Privatisierungsgeschäfte sowie die Kungeleien höchster Staatsver- treter mit dem organisierten Verbrechen. Und immer wieder tauchten dabei Na- men aus der Tudjman-Dynastie auf. Ver- gebens hatten die EU-Staaten im Frühjahr weitere Wirtschaftshilfe und eine Aufnah- me Kroatiens in europäische Organisa- tionen mit der Forderung verknüpft, der Präsident müsse zuvor sein Familienimpe- rium auflösen. Tudjman bockte und wartet seitdem vergeblich auf Einladungen zu Staatsbesuchen. Jüngste Meinungsumfragen sehen die Regierungspartei HDZ nur noch bei 20 Prozent, die oppositionellen Sozialdemo- kraten klar in Front. Aber Tudjman gibt sich sicher, „dass wir erneut siegen“. Unbeirrt hält der Patriarch an seinem Kurs fest. Und auch als Geschichtsfor- scher will er weiter von sich reden ma- chen. Jüngste ausschweifende Erkenntnis des Dr. Tudjman: Die Vorfahren der Kroaten lebten in der heutigen Türkei, und es handelte sich um niemand anderen als die vorchristliche Zivilisation der Hethiter. Roland Schleicher

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Werbeseite F. SCHULTZE / LAIF SCHULTZE F. Maltesische Hauptstadt Valletta: Dicht besiedelt wie Monaco, teuer wie London oder Paris

bald passieren“, meinte auch Altbundes- EUROPA präsident Roman Herzog bei einem Be- such in Brüssel. 1990 hatte die konservative Regierung Weit weg und ziemlich anders in Valletta die Mitgliedschaft in der Eu- ropäischen Gemeinschaft beantragt, Bei- Maltas Regierung will in die EU. Die Opposition hilfen lockten. Die EG-Kommission prüfte, mit positivem Befund, die Beitrittsreife des hingegen droht schon mit dem Austritt aus der Gemeinschaft. Winzlings. Zweimal befassten sich die Staats- und Regierungschefs ie große weiße Uhr mit schwarzen günstig gelegenen Kalkfelsen mit den Maltesern und be- Ziffern im linken Turm der Sand- zwischen zwei Kontinenten schlossen, dass die Inselre- Dstein-Kirche von Xaghra zeigte angelaufen und wieder ver- publik dabei sein sollte. zehn vor zwölf, die Uhr im rechten Turm lassen. 1996 kamen in Valletta die zwanzig nach zwei. Für die Leute der In- Die Briten hätten die Mal- Sozialisten wieder an die Re- selrepublik Malta macht das Sinn. teser gern dabehalten. 164 gierung. Die Macht wechselt Der Teufel, wenn er denn den winzigen Jahre herrschte London mil- leicht im Parlament, in dem, Staat in den Weiten des Mittelmeeres de und zeichnete die Mal- einzigartig in Europa, nur überhaupt findet, soll in die Irre geführt teser 1942 kollektiv für ihre zwei Parteien vertreten sind: werden. Deshalb zeigen viele der 356 Kir- „unerschütterliche Tapfer- Ein Vorsprung von 5000 bis chen auf Malta und der kleinen Insel- keit“ im Kampf gegen die fa- 7000 Wählerstimmen reicht schwester Gozo – das streng katholische schistischen Achsenmächte für den Wechsel. Land hat mehr Gotteshäuser als Quadrat- Italien und Deutschland mit Die neue Regierung wollte

kilometer (316) – nur rechts die rechte dem „Georgskreuz“ aus. Sei- AFP / DPA nun aber der EU nicht mehr Zeit an. ne Landsleute wären 1964, Staatspräsident de Marco beitreten, weil die Nachteile Wohl auf Grund der mannigfachen Er- berichtet Staatspräsident Gui- des freien Wettbewerbs für fahrungen mit unheilvollen Mächten muss do de Marco, lieber Untertanen der Krone die mit vollen Händen subventionierte hei- tief im Malteser die Neigung wurzeln, viel geblieben als unabhängig geworden. mische Wirtschaft zu groß würden. Mit der dafür zu tun, dass man nicht weiß, woran Nun heißt die neue Vormacht Brüssel. EU wollte man lediglich über eine Freihan- man eigentlich bei ihm ist. Über Jahrhun- Und die Malteser bleiben ihren Gewohn- delszone verbunden sein. Die EU-Kommis- derte hatten die Phönizier, Römer, Ara- heiten treu.Von der Größe her ganz hinten sion fügte sich, die Minister des EU-Asso- ber, Normannen, Spanier, Osmanen, die in der Reihe der 13 Staaten, die sich zum ziierungsrats stimmten im April 1998 zu. Mönchsritter des Johanniterordens, Napo- Beitritt in die EU drängeln, der Wirt- Fünf Monate später dann Neuwahlen in leon und die Engländer jene strategisch schaftskraft nach aber weit vorne, weiß der Malta: Die Konservativen siegten mit fast Kleinstaat nicht so recht, was er eigentlich 13000 Stimmen Vorsprung. Nun kam die will. Rein oder raus? Vereinbarung über die Freihandelszone in Malta ist ein Lehrbeispiel für ein Land die Ablage und der Antrag auf EU-Voll- am Rande Europas: Dass mit den höheren mitgliedschaft wieder auf den Tisch. Rom Umweltstandards der EU oder durch den Die EU-Kommission empfahl Mitte Ok- Barcelona Zwang von Wirtschaftsreformen zur Qua- tober, die Staats-und Regierungschefs soll- Neapel lifikation für den Binnenmarkt die Mal- ten beim Dezember-Gipfel in Helsinki Bei- teser Vorteile aus dem Beitritt ziehen wür- trittsverhandlungen beschließen, die bin- den, steht außer Frage. nen Jahresfrist abgeschlossen sein könn- M i t t e l m Algier e e Nur, welche Vorteile hat die EU von der ten. Eine Volksbefragung wäre dann noch r Tunis Aufnahme dieses Zwergstaats (374000 Ein- fällig, die Konservativen glauben an eine wohner) an ihrer südlichen Peripherie? Die Ja-Mehrheit. Malta könnte 2003 EU-Mit- Frage stellt sich nicht. Der EU-Vertrag be- glied sein – und die Gemeinschaft womög- Gozo 25km stimmt, wer die rechtsstaatlich-demokrati- lich wenig später wieder verlassen. schen und wirtschaftlich-sozialen Voraus- „Wir werden entweder die Bewerbung Valletta setzungen erfüllt, darf rein in die Union. für die EU-Mitgliedschaft wieder zurück- 400km MALTA Wo Europa enden soll, geografisch und po- ziehen oder auch aus der EU austreten“, litisch, ist nicht festgelegt. „Müsste aber kündigt der Oppositionspolitiker George

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Vella an, „je nachdem, wann wir wieder an Straßen. 70 bis 80 Prozent der Malteser lich fehlt noch manches. Das Haushaltsde- die Regierung kommen.“ Auch ein positi- sind regelmäßige Kirchgänger. Der rö- fizit stieg 1998 unter der neuen nationalis- ver Ausgang des Referendums werde dar- misch-katholische Glaube ist Staatsreligion tischen Regierung auf 11,8 Prozent, so der an nichts ändern. Die Abstimmung sei laut Verfassung. Die bestimmt auch, dass jüngste Bericht der EU-Kommission über „rechtlich nicht bindend“. Obendrein hält die Kirche das Recht und die Pflicht zu die Entwicklung des Beitragsaspiranten. Vella den Beitritt seines auf strikteste Neu- lehren hat, „welche Prinzipien richtig und 40 Prozent aller Beschäftigten werkeln tralität verpflichteten Landes zu einer EU, welche falsch sind“. im Öffentlichen Dienst, und das nicht be- die sich gerade einen bewaffneten Arm Wie eine Reliquie verehrt wird der sonders effizient, wie die EU-Prüfer mo- schafft, für verfassungswidrig. Stuhl, auf dem Papst Johannes Paul II. nierten. Landwirtschaft, Schiffbau und et- Vella, der als stellvertretender Regie- während seines Malta-Besuchs 1990 Platz liche andere Branchen arbeiten unter ge- rungschef und Außenminister bis 1998 Ver- nahm. Scheidung? Überall in Europa ist radezu behüteten Bedingungen. Bei freiem antwortung trug, argumentiert unverfro- sie möglich, seit etwa zwei Jahren selbst in Wettbewerb nach einem EU-Beitritt, be- ren: Im EU-Vertrag fehle eine Bestimmung Irland. Nur hier gibt es sie nicht. fürchtet Vella, „kommt das Desaster“. über das Verlassen der Gemeinschaft. Malta, das nicht einmal so viele Ein- Mehr als 3000 Jobs, behaupten Euro-Skep- „Also ist ein Austritt nicht ausdrücklich wohner wie Wuppertal hat, liegt 93 Kilo- tiker von Labour, gingen unmittelbar ver- verboten, wer raus will, kann raus.“ meter südlich von Sizilien. Bis Tunis sind es loren. Das Land sei noch nicht reif für die EU, etwa 350 Kilometer, bis Libyens Haupt- Dabei hat der wirtschaftlich allzu schnell heizt der Sozialist seinen Anhängern ein. stadt Tripolis gerade 500. Bis Rom ist der gewachsene Kleinstaat Probleme genug: Mit dem Beitritt stiegen erst die Preise, Weg knapp 700 Kilometer weit, bis Brüs- Malta ist, nach Monaco und Singapur, das dann die Löhne. Die Investoren, bisher von sel fast 2000. Und so ist der Zwergstaat am dichtesten besiedelte Land der Welt. den um zwei Drittel unter dem deutschen auch: verdammt weit weg von Europa und 1189 Menschen quetschen sich auf jeden Niveau liegenden Lohnkosten angelockt, ziemlich anders. Malteser sind Süditalie- Quadratkilometer. Die Bodenpreise liegen würden abgeschreckt. ner, die sich für Engländer halten,Arabisch in Valletta auf dem Niveau von London oder Paris.Wasser wird knapp, zumal 60 Prozent durch lecke Leitungen versickern. Malta ist das Land mit der höchsten Autodichte: 240000 Wagen stinken zum Himmel. „In allen Bereichen des Umweltschutzes muss viel getan werden“, verlangt der neue EU-Prüfbericht. Gemessen an den früheren Untersuchungen der EU-Kommission sei „keinerlei Fortschritt gemacht worden“. Und noch ein Problem hätte die EU mit dem Mitglied Malta: Drei Millionen Zug- vögel fallen dort jährlich den Flinten und Netzen der 27000 Jäger zum Opfer. In Malta, so Arnold Cassola, von De- zember an Generaldirektor der europäi- schen Grünen in Brüssel und bislang Lite- ratur-Professor in Valletta, erkranken we- DPA AP gen der schlechten Luft mehr Kinder an Premier Mintoff mit Staatsgast Gaddafi (1982), Sozialist Vella: „Wer will, kann raus“ Asthma als irgendwo sonst in der Welt. Nicht nur die Uralt-Busse und allzu vielen Zudem wäre mit anderen sozialen Er- sprechen und katholischer sind als die Pkw sind dafür verantwortlich. Die Fabri- rungenschaften, da hat Vella wohl Recht, römische Kurie. ken pusten ihre Abgase genauso ohne Fil- bald Schluss: Alle Studenten erhalten, un- „Mein Malti muss offizielle EU-Sprache ter gen Himmel wie die Kraftwerke. Und abhängig vom Einkommen der Eltern, ein werden“, fordert Präsident de Marco – ob- weil es am billigsten ist, verbrennen die staatliches Monatsgehalt von 300 Mark; wohl Englisch auf den Inseln Verwaltungs- Stromerzeuger zudem besonders schwe- Gesundheitsvorsorge ist frei; Brot, Zucker sprache ist. Es wäre das erste semitische felhaltiges Öl. und Trinkwasser sind subventioniert. Idiom im Sprachenpotpourri der Gemein- Auch der laut Cassola höchste Berg Mal- Im ersten Stock der Parteizentrale ist La- schaft. tas ist von Menschenhand errichtet: Eine bours Welt noch wie immer: Männer, Frau- Die Insel, ihrer neun Sonnenmonate we- gewaltige Müllhalde im Nordwesten über- en und Kinder, vereint zu einer großen Fa- gen bei Touristen beliebt, hat sich markt- ragt sämtliche Hügel. Und aus dem Erd- milie. Bier fließt reichlich. Zwei Fernseher wirtschaftlich ordentlich entwickelt. Klei- reich darunter, weiß Cassola, sickern die dröhnen.An der Wand hängen Marmor-Eh- ne Betriebe aus ganz Europa siedelten sich Abwässer ins Meer – just da, wo Touristen rentafeln mit den Namen alter und aktuel- an, 40 aus Deutschland. Sie lassen Elek- gern baden. ler Parteigrößen, Fotos von Massenauf- tronikbausteine stecken, Anzüge nähen Wie soll man mit solch einem bizarren märschen. Dazwischen der über alles ver- oder Playmobil-Elemente fertigen. Die Kandidaten umgehen? Garantien verlan- ehrte Dom Mintoff. Hier lebt es noch, das Menschen sind fleißig, das Ländchen ist gen, dass Brüssel nicht weiter genarrt wird? Malta aus den Zeiten seines ersten sozialis- heute politisch stabil. Das geht leider nicht, weil Malta ja eine tischen Premiers, der zwischen Libyen und Vorbei die Zeiten, als Labour-Jungs und Demokratie ist und die Regierenden nicht Europa sein eigenwilliges Arbeiterparadies die Boys der Nationalist Party mit Fäusten für die Opposition bürgen können. basteln wollte, seinen Sonderweg zwischen und Waffen übereinander herfielen, als La- EU-Erweiterungskommissar Günter Ver- Washington und Moskau, London und Ha- bour-Bekenner von der kirchlichen Trau- heugen weiß sich nicht anders zu behelfen, vanna suchte und dabei den Umgang mit ung ausgeschlossen wurden und im Ge- als eindringlich an Malta zu appellieren: Mit politischen Parias wie Gaddafi, Kim Il Sung genzug schon einmal loszogen und einen der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen oder Ceauçescu nicht scheute. Priestersitz abfackelten. Heute träumt New verbinde man „die Erwartung, dass dies Aber auch das ist Malta: Tausende von Labour, wie Parteivize Vella, von Malta als diesmal wirklich Maltas Wunsch ist und Autos stauen sich sonntags morgens in den der „Schweiz des Mittelmeers“. Dazu frei- bleibt“. Dirk Koch, Hans-Jürgen Schlamp

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Werbeseite FOTOS: BONGARTS Fechtzentrum in Tauberbischofsheim: „Mami, mach es dir gemütlich zu Hause, ich bin nie da“

FECHTEN Emils Geisterbahn Über Jahrzehnte hat Emil Beck seine Sportler und Trainer gefördert, ausgesaugt und fallen lassen. Jetzt geriet der Medaillenschmied selbst in die Kritik. Bei den Weltmeisterschaften in Seoul fehlt er erstmals an der Planche. Von Rücktritt will Beck jedoch nichts wissen.

e älter das Jahrhundert wird, desto dem sich Leistung lohnt; der den verfette- Von Montag an müssen Emils Kämpfer, mehr bläht sich der Leib dieses kleinen ten Deutschen gezeigt hat, wie ein Wirt- die in den letzten Jahren so oft ins Leere Jrunden Mannes auf den Fotos. Und je schaftswunder geht: Emil, das letzte von 13 stießen, bei den Weltmeisterschaften in mehr er sich ausdehnt, desto besser klingen Kindern, das sich zum Friseur ausbilden Seoul wieder auf die Planche. Beck, haupt- die Namen der vielen Menschen, die bei ließ und anderen für 50 Pfennig die Haare beruflich Boss in Tauberbischofsheim und ihm zu Besuch waren. schnitt; Emil, der in den fünfziger Jahren obendrein Chefbundestrainer aller deut- Die Bilder, mit denen die Wände im den Film „Die drei Musketiere“ sah und schen Fechter, hat bis vor kurzem gehofft, Fechtzentrum von Tauberbischofsheim be- bei sich dachte, dass es mit einem Degen in dass nach diesem Turnier vielleicht noch hangen sind, schrauben sich nach oben wie der Hand im Leben schneller vorangeht mal ein Fluggerät aus der Hauptstadt bei ein Wagnersches Crescendo: Emil Beck mit als mit einer Schere. Emil, der vor 47 Jah- ihm landen und einen dieser neuen Politi- Lothar Späth, einst Landesvater in Baden- ren einen Fechtclub gründete und vie- ker ausspucken würde, was bestimmt ein Württemberg; Emil Beck mit Richard von le Jahre später als „Medaillenschmied“ schönes Foto hergäbe. Weizsäcker, als der noch im Hubschrau- Deutschlands bekannt wurde. Aus.Vorbei. Emil Beck, 64, fehlt in Süd- ber der Luftwaffe unterwegs war. Die Galerie mit den Dokumenten kleb- korea. Er hat sich eine Formel erdacht, Und dann, fortissimo, Emil Beck mit riger Antrittsbesuche aus Bonn endet mit nach der er sein Amt als Bundestrainer Helmut Kohl, als der Chef in Deutschland Helmut Kohl, als sei nach ihm die Welt un- „vorerst ruhen“ lasse. Die Wahrheit ist, war und die Gelenke noch geschmeidig – tergegangen. Es ist, als müsse Emil Beck im dass Deutschlands oberster d’Artagnan als die Abbildung zeigt den frühen Kanzler Sog seines „lieben Helmut“ gleich mit ab- Führungskraft nicht mehr zumutbar ist. bei einer Dehnübung auf dem Trimm-dich- saufen. Der Dicke aus Bonn gewann keine Emil Beck ist Amok gelaufen. Es war, als fit-durch-Sport-Gerät. Alle großen Christ- Wahlen mehr, der Dicke aus Tauberbi- habe er die Nation zum Tag der offenen demokraten waren bei ihm. Beim Emil, bei schofsheim gewann keine Medaillen mehr. Tür geladen und unfreiwillig vorgeführt,

204 der spiegel 44/1999 Sport was sich hinter seinen Gemäuern in Wirk- des deutschen Sportwesens mit freundli- Beck, habe zu lange schon keine Sieger lichkeit verbirgt: eine Geisterbahn. Am cher Unterstützung von Mercedes und dem mehr produziert. Er schreibt: Kassenhäuschen sitzt Emil, und innen drin Bundesministerium des Inneren (siehe Kas- „Und in diesem Punkt hast Du in allen ziehen Gestalten Grimassen, die alle aus- ten Seite 206), zu Ruhm kam. Belangen versagt, Deinen Arbeitsauftrag sehen wie lauter kleine fiese Emils. Beck, ihr Erfinder, hat die Menschen um keinesfalls erfüllt (…) Du hast nie begrif- Vom Besuch des Kanzlers Kohl muss er sich herum in ein subtiles Abhängigkeits- fen, dass nur der Gesamterfolg letztendlich behalten haben, dass an Niederlagen im- verhältnis manövriert; er hat Sportler zu erst stark macht (…) Du stellst für leis- mer die anderen schuld sind. Schuld am Siegern gemacht und dafür das Recht auf tungsorientierte Fechter keine Alternative Niedergang des Fechtzentrums von Tau- ihre Persönlichkeit kassiert; er hat sich jun- dar. Man kann und muss es leider so deut- berbischofsheim sind nach Ansicht seines ge Menschen ausgesucht, denen er beibie- lich sagen: Dies ist ein Armutszeugnis und Chefs die Angestellten , 44, gen konnte, dass sich die Welt in Leute der sportliche Offenbarungseid!“ und , 44. Der eine ist Lei- teilt, die fechten, und andere, die nicht Pusch sagt, er habe „Erleichterung emp- ter des Sportinternats, der andere Bundes- fechten. Und solche, die fechten, machen funden“, als er das las. Er lebt zwar von trainer für die Degenfechter, beide waren ihr ganzes Leben lang Überstunden. dem Moment an in fortwährender Exis- Weltmeister und Olympiasieger. „Mami“, so will Beck einst zu seiner Gat- tenzangst, aber hat endlich schriftlich, was Behr und Pusch haben für Tauberbi- tin gesagt haben, „Mami, mach es dir er schon lange vermutet. schofsheim die Trophäen gewonnen, auf gemütlich zu Hause, ich bin nie da.“ Er hat Seit Wochen hat er diffuse Rauchzeichen die sich der kleine Mann gestellt hat, um den eigenen Lebensentwurf auf andere pro- aus dem Taubertal empfangen. Einmal trifft immer noch ein Stück größer zu werden. jiziert, weil er sie dafür brauchte. Er selbst er beim Waldspaziergang eine Bekannte, Und als er wieder so klein war wie damals sagt: „Ich tue für meine Mitarbeiter – egal, die ihn fragt: „Alex, stimmt es eigentlich, im Frisiersalon, wollte er sie aus ihren Pos- zu welcher Zeit – alles, was mir möglich ist. dass dein Vertrag nicht verlängert wird?“ ten jagen. Der vormalige Figaro hat die Immer direkt, korrekt und geradeaus.“ Auf welchem Niveau es irgendwann en- Ikonen des Taubertals gemobbt und sich den wird, ahnt Puschs Ehefrau Ute schon damit gewissermaßen selbst rasiert – seine m 6. Juli 1999 findet der Trainer Ale- seit zwei Jahren. Sie erinnert sich an einen Opfer sind jetzt an seiner Stelle bei den Axander Pusch in seinem Postfach einen Dialog, der sie in einen Nervenzusam- Weltmeisterschaften im Einsatz. drei Seiten langen Brief, in dem ihm an- menbruch treibt. Die Geschichte von Matthias Behr und gekündigt wird, dass er demnächst seinen Bei der Ehrung der Sportler des Jahres Alexander Pusch zeigt, wie Tauberbi- Job los ist. Der Absender hält ihm ge- sitzt Emil Beck an ihrem Tisch und klagt schofsheim, diese vorbildliche Werkstatt bremsten Arbeitseifer vor. Pusch, meint über „meine Trainer“, die nicht mehr spu- ren. „Die arbeite nix, die schaffe nix. Die Im Reich der Klingen Ämter, die Emil Beck bekleidet werde scho sehn, was sie davon haben.“ Ihr ist klar, dass der Tischherr damit ihren eigenen Mann meint. Die Bankkauffrau Ute Pusch ist eine selbstbewusste Frau, sie 1. Vizepräsident Chefbundestrainer antwortet ihm: „Wenn ich das höre, bin ich des Fecht-Clubs 1344 im Deutschen Leiter des Olympia- Mitglieder froh, dass ich einen Job habe, der zur Not 400 Tauberbischofsheim Fechter-Bund (DFeB) uns beide über Wasser hält.“ stützpunkts Fechter Tauberbischofsheim 24 475 Attacken dieser Art ist Beck im richtigen Mitglieder Leben nicht gewohnt. Er denkt einen Mo- Beauftragter des Lan- ment nach und sagt dann zu der Frau, die dessportverbandes Vizepräsident Stellvertretender Ständiger Gast er gern als seine „Lieblingsschwiegertoch- für die Olympiastütz- der Gesellschaft Vorsitzender im Aufsichtsrat Beratendes ter“ bezeichnet: „Eh, wie läuft es eigent- punkte in Baden- zur Förderung des Stiftungsrats der der Stiftung Mitglied im Württemberg des Fecht-Clubs Stiftung Fechtsport Fechtsport DFeB-Präsidium lich bei euch beiden? Wenn du nicht mehr zufrieden bist, brauchst du mir nur Be- scheid zu sagen.“ Na und? Beck findet: „Sicherlich war meine Äußerung unbedacht und zu vor- gerückter Stunde ausgesprochen. Aber wenn man jedes Wort auf die Goldwaage gelegt bekommt – das ist ja furchtbar.“ Alexander Pusch verbringt sein Leben bei Emil Beck, seit er elf Jahre alt ist. Er ist der talentierteste Sportler, den Beck je- mals zu fassen bekam, aber er fühlt sich 33 Jahre lang ununterbrochen gegängelt. Pusch ist Becks Gegenentwurf: Er muss sich den Erfolg nicht mit Zusatzstunden erarbeiten und lebt sein Leben mit einer Leichtigkeit, die Emil Beck suspekt ist. Al- les, was Pusch macht, macht er mit einem schlechten Gewissen. „Man lebt hier in ständiger Angst“, sagt er. Pusch spielt nebenher Golf, und Beck wirft ihm vor, er stecke zu viel Energie in sein Privatvergnügen. Mit 20 wird er Ein- zel-Weltmeister mit dem Degen, im Mann-

* , , Zita Funkenhauser bei den Trainer Beck, Medaillengewinnerinnen*: „Wie eine Reise in den Himmel“ Olympischen Spielen 1988 in Seoul.

der spiegel 44/1999 205 Sport Finte in der Buchführung In Emil Becks Fechtimperium wird wegen Betrugs und Urkundenfälschung ermittelt.

Wie keinem zweiten Sportfunktionär Das scheint ein überschaubarer Be- hier zu Lande ist Emil Beck von Politi- trag. Weitaus gravierender ist jedoch kern gehuldigt worden.Allein aus Bonn der Verdacht der Urkundenfälschung. flossen in den letzten zehn Jahren rund Denn in einigen Fällen, so Heister, ha- 33 Millionen Mark in sein weit veräs- ben die Befragten ausgesagt, dass Un- teltes Reich. terschriften auf Belegen nicht von ih- Doch Liebling Beck wird nicht mehr nen stammen. Beim BVA in Köln, das gehätschelt. Das Regierungspräsidium mit den Stuttgarter Ermittlern in stän- in Stuttgart untersagte ihm unlängst, digem Kontakt steht, spricht man von die Stiftung Fechtsport in Emil-Beck- Unterschriften „in einer Art Kinder- Stiftung umzutaufen. Gelockert sind schrift“. auch die Seilschaften im Deutschen Dass das Ausmaß der Vorwürfe nicht Fechter-Bund. Erst musste Beck auf noch erdrückender wird, liegt an den Druck sein Amt als Cheftrainer ruhen Verjährungsfristen. Die Listen, die der lassen, dann gab er, nach heftiger Kri- Staatsanwaltschaft Mosbach vorliegen, tik des DSB-Präsidenten Manfred von reichen 20 Jahre zurück. Doch die Richthofen, den Vorsitz des Trainerbei- Strafverfolger interessieren sich nur für rats im Deutschen Sportbund ab. die B2-Kader der vergangenen fünf Die alten Spezis distanzieren sich, Jahre. Unbeantwortet wird deshalb die

W. WITTERS W. weil ein schwerwiegender Verdacht auf Frage bleiben, ob die rund 134 000 IOC-Exekutivmitglied Bach dem Lebenswerk des Degengurus las- Mark, die das Fechtzentrum von 1979 Fassungslose Reaktion tet: Es geht um Betrug und Urkunden- bis Mitte 1994 aus Bonn erhielt, er- fälschung. Mittlerweile interessiert sich schwindelt worden sind oder nicht. ie drei Beamten des Bundes- auch die Staatsanwaltschaft Mosbach Peinlich bleiben die Finten in jedem verwaltungsamtes (BVA), die für die Angelegenheit und hat ein Er- Fall. So wird der Olympiasieger von DAnfang vergangener Woche mittlungsverfahren gegen Emil Beck als 1976, , für die Jahre 1980 im Fechtzentrum Tauberbischofsheim Verantwortlichen des Fechtzentrums bis 1986 in der Disziplin Herrenflorett erschienen, erwiesen sich als alte Be- eingeleitet (Az: 24 Js 6179/99). als B2-Kader geführt. Der Wirtschafts- kannte. Dreimal innerhalb weniger Jahrelang sollen in Tauberbischofs- Wochen waren die Prüfer, Mitarbeiter heim ehemalige Spitzenfechter ohne einer Revisionsstelle für das Bundes- deren Wissen als so genannte B2-Ka- innenministerium (BMI), bereits vor- dermitglieder geführt worden sein, da- stellig geworden im hintersten Winkel mit das Fechtzentrum Zuschüsse kas- Nordbadens. Nun setzten sie zum siert. Pro Kopf und pro Jahr honoriert finalen Schlag an. das BMI den Einsatz ehemaliger Ath- Fünf Tage lang durchforsteten die leten, die sich vor Wettkämpfen als Kontrolleure den Aktenbestand von Trainingspartner zur Verfügung stellen, Emil Becks Fechtimperium – sie sich- mit rund 1000 Mark Materialkosten, teten Schriftsätze, Rechnungen, Belege dem „Klingengeld“. und Organigramme. Als sich das Trio Die Vernehmungen sind seit letzter auf den Heimweg nach Köln mach- Woche weitgehend abgeschlossen. Zwei te, hatte es – kopiert oder gleich im Beamte der Landespolizeidirektion

Original – zahlreiche Dokumente im Stuttgart haben 26 von 29 ehemals Ak- BAUMANN Gepäck. tiven verhört, die auf den B2-Kaderlis- Stützpunktleiter Beck: Seilschaften gelockert Der diskrete Besuch der Abteilung II ten auftauchen. Bei drei Betroffenen (Verwendungsnachweisprüfung) des haben die Ermittler auf einen Besuch anwalt aus Tauberbischofsheim, als BVA markiert einen einschneidenden verzichtet: Die Ex-Fechter leben mitt- Mitglied im IOC-Exekutivkomitee zu Punkt im deutschen Spitzensport. lerweile im Ausland. einem der gewichtigsten Repräsentan- Denn niemals zuvor ist ein Olympia- Die Aussagen bringen Beck arg in ten der internationalen Sportpolitik stützpunkt, der zum größten Teil mit Bedrängnis. Denn die Hälfte der Be- aufgestiegen, reagierte auf Anfrage des öffentlichen Geldern subventioniert fragten gab zu Protokoll, weder als SPIEGEL fassungslos: „Ich habe keine wird, derart akribisch auf sein Finanz- Sparringspartner gefochten noch das Erklärung dafür.“ gebaren durchleuchtet worden wie die Geld für die Ausrüstung bekommen zu Derweil schiebt Beck die Verant- einstige Medaillenschmiede im Tau- haben. Der Schaden für den Bund liegt wortung auf andere: Mit dem B2-Kader bertal. Bis Mitte November, so gibt das nach Auskunft des zuständigen Ober- habe er, lässt Beck wissen, nichts, aber BVA zu verstehen, soll der Abschluss- staatsanwalts Herbert Heister bislang auch gar nichts zu tun. bericht (Az: VII A3 99040) erstellt sein. „weit unter 70000 Mark“. Horand Knaup, Michael Wulzinger

206 der spiegel 44/1999 schaftswettbewerb verliert er ein Gefecht, Deutschland gewinnt nur Silber. Pusch erinnert sich, dass ihm Beck später Absicht unterstellt habe: Er sei ein „Egoist“, er habe vorsätzlich schlecht gefochten, um seine Einzelmedaille aufzuwerten. Beck bestreitet das. „Ich habe nur gesagt: Ale- xander, wenn man Weltmeister im Einzel wird, dann sollte man auch in der Mannschaft eine entsprechende Leistung bringen.“ Pusch macht neben seinem Sport eine Lehre als Bauzeichner und lässt sich zum Diplom-Fechttrainer ausbilden. 1980 ar- beitet er in Tauberbischofsheim zudem als Koordinator und Trainer. Er erteilt ei- nem jungen Mädchen „Lektionen“, wie Übungsstunden in dieser Sportart genannt werden: Es ist Anja Fichtel, die später die erfolgreichste deutsche Fechterin aller Zei- ten sein wird. Aber das reicht nicht. „Mach deine mi- nimale Arbeit wenigstens richtig“, hört er von Beck. Am 20. Dezember 1980 kündigt Pusch. Er schreibt, er sei „diesen psychi- schen Belastungen nicht mehr gewachsen“. Beck fängt ihn ein, aber erwachsen darf Pusch auch danach nicht werden. 1983 schreibt sein Aufpasser einen Vermerk: „E. Beck hat am 14. April 1983 mit Ale- xander Pusch ein Gespräch geführt: es wurde vereinbart, dass A. Pusch ab sofort nur noch dann Prämien vom Fecht-Club annimmt, wenn er das Rauchen einstellt.“ Zwei Jahre später scheint es, als würden sich die Dinge zum Guten fügen: Beck hat sich aus dem täglichen Geschäft an der Planche zurückgezogen, und Pusch wird

in den nächsten Jahren von dem Diplom- Fechtmeister Berndt Peltzer trainiert. Peltzer hat mit dem Fechten begonnen, als er zur Hitlerjugend kam. 1971 lotste ihn Beck nach Tauberbischofsheim, die Arbeit an den Waffen wurde damals noch im Hei- zungskeller der örtlichen Festhalle verrich- tet. Beck und Peltzer wirkten hier in sym- biotischer Beziehung miteinander. „Er war fanatisch, ich war fanatisch“, sagt Peltzer. Er arbeitete als Trainer und war neben- her für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Er bediente die Lokalredaktionen mit Fotos und selbst abgefassten Artikeln. Mit den Jahren, sagt Peltzer, habe er gemerkt,

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Werbeseite Sport WEREK BAUMANN R. FESSEL / BONGARTS Olympiasieger Pusch (1988) Olympiasieger Behr Bundestrainer Peltzer (1994) Beck-Weggefährten: „Je mehr Erfolg er hatte, desto größenwahnsinniger wurde er“ dass der Emil eklig werden kann. „Wenn Berndt Peltzer Geburtstag. Emil Beck gra- er einem Journalisten vom Dialog mit wir Erfolg hatten, sagte er: Ich habe Me- tuliert ihm am Telefon und schreibt auch Beck, und das rächt sich. daillen geholt. Er sagte nie: wir.“ noch einen Glückwunschbrief, in dem er Journalisten nennt Emil Beck gern – an- Damals war noch eine Frau im Zentrum auf künftige Zusammenarbeit hofft. Dann geblich nur im Spaß – „Ratten“ oder „klei- angestellt, die man die gute Seele des Hau- ruft Becks Sekretärin an und bittet Peltzer ne Stinker“, weil sie ihm nach seiner Auf- ses nannte: Marga Hein, die Mutter des für den nächsten Morgen, 7.45 Uhr, ins fassung den Erfolg neiden. Alexander Fechters Harald Hein, kochte für die Be- Fechtzentrum. Pusch bekommt eine schriftliche Verwar- legschaft das Essen. Eines Tages war sie Berndt Pelzer ist schon um 7.20 Uhr in nung und einen Brief hinterher, in dem weg. „Dem Emil“, sagt Peltzer, „hat ihre seinem alten Arbeitszimmer. Er sucht noch Beck „Dankbarkeit“ einfordert: Nase nicht mehr gepasst.“ Je mehr Erfolg etwas in seinem Schreibtisch, als Emil Beck „Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich er gehabt habe, „desto größenwahnsinni- durch die Tür tritt. Beck hat seinen Ge- Dir in der Trainersitzung bereits gesagt ger wurde er“. schäftsführer Emil Kappus („Emil 2“) habe, dass Du möglicherweise heute auch Auffällig ist, dass Beck so gut wie jeden und den Betriebsratsvorsitzenden Peter an einem 2. oder 3. Zeichenbrett in einem Gedanken, der ihm durch den Kopf zuckt, Märtsch im Schlepp. Die beiden Aufpasser Büro als Technischer Zeichner bei einem schriftlich festhalten lässt.Wo immer er ist, bleiben stehen, Beck sitzt Peltzer gegen- Monatsgehalt von vielleicht 2000,– DM trägt er ein Diktiergerät bei sich, dem er über und sagt: „Von dieser Sekunde an ist brutto arbeiten könntest. Stattdessen hast sich anvertraut. Wenn ein Band voll ist, unsere Zusammenarbeit beendet. Bitte du ,nur‘ mit der Mittleren Reife eine tolle muss die Sekretärin ran. Sie soll alles so ab- räume deinen Schreibtisch. Herr Kappus Karriere gemacht.“ schreiben, wie es Emil gesagt hat. und Herr Märtsch werden warten, bis du Als Pusch 1989 mit der Firma „Muske- Eindrucksvoll ist beispielsweise, was ihm fertig bist.“ Dann verlässt er den Raum. tier“ einen Werbevertrag abschließen will, während eines Turniers zu einem Psycho- Kappus und Märtsch warten, bis der Pen- wird ihm der Deal verboten, weil das logen mit dem Namen S. einfiel, der zum sionär seine letzte Schublade geleert hat. Fechtzentrum Verträge mit anderen Ausrüs- ersten Mal dabei war: Beck sagt, sein verblüffender Stim- tern hat. In einem Vermerk liest Pusch: „Vermerk: S., wer auch immer das Band mungswandel sei als Akt menschlicher Fair- „Du hast ein Daimler-Benz-Fahrzeug abschreibt, bitte das ist ein vertraulicher ness zu verstehen. „So etwas sagt man je- kostenlos gefahren, hast eine wunderschö- Vermerk (…) Liegt irgendwo in der Halle mandem ja nicht an seinem Geburtstag. ne Wohnung, trägst sehr gute Kleidung und oben rum, in der Halle rum und pennt und Da wartet man wenigstens, bis der vorbei kannst es Dir leisten, in sehr guten Loka- schläft beim Europa-Cup (…) Entweder er ist.“ Und: „In Bezug auf Berndt Peltzer len essen zu gehen. Du siehst, es geht Dir ist frech (1.), 2. er ist so dumm, dass er eben habe ich mir wirklich nichts vorzuwerfen.“ glänzend, und darauf bin ich stolz und nichts dafür kann, 3. oder er hat einfach glücklich darüber, dass ich einiges dazu Komplexe und ist ein Psychopath, was auch eit er von Peltzer betreut wird, findet beitragen konnte.“ mein Eindruck ist, dass er einfach Komple- SAlexander Pusch aus dem Tal. Sein Längst ist Pusch zum Outcast von Tau- xe hat und selbst ein Psychopath ist, wie Sport geht ihm wieder leichter von der berbischofsheim geworden. Dass er gele- soll so ein Psychopath unseren ,wenn wir Hand, er gewinnt den Weltcup und wird gentlich mit der Hausordnung über Kreuz welche haben‘ Psychopathen helfen (…) zweimal hintereinander Weltmeister mit gerät, weiß Beck auch von Menschen, die Jetzt kommt S. auf uns zu. Irrtum, Irrtum, der Mannschaft. Aber Emil Beck hält wei- ihm als Zuträger behilflich sind. Emils De- er dreht ab und geht jetzt rüber.“ ter den Daumen drauf. tektive. Einer von ihnen hat zu dieser Zeit Ende 1994 hat Berndt Peltzer das Pen- Als Pusch ihm 1987 eröffnet, dass er bei den Beinamen „das Auge“: Matthias Behr sionsalter erreicht. Er möchte im Retiro frei- einer Deutschen Meisterschaft nicht an- ist ein erfolgreicher Fechter und leitet zu- beruflich weiterarbeiten. Beck bietet ihm treten will, weil er an einer Grippe mit dem das hauseigene Internat. 20 Mark die Stunde oder eine Anstellung Hautausschlag und Atemnot leide und seit Auch Behr war elf Jahre alt, als er Emil „zum so genannten Hausfrauentarif“. Pelt- Tagen keinen richtigen Schlaf mehr gefun- Beck zum ersten Mal begegnete. Der Jun- zer schreibt ihm, mit diesem Angebot sei den habe, nennt Beck ihn einen „Feigling“. ge, der ohne Vater aufwuchs, sah seinen bei- sein „Wertigkeitsgefühl im höchsten Maße Denn: „Der Arzt hat gesagt, dass er fech- den Brüdern beim Fechten zu. Beck fragte verletzt“, er sei doch „keine Putzfrau“ und ten kann. Und wenn der Arzt das sagt, ihn, warum er nicht auch Sport treibe, gab verlangt 25 Mark. Im März 1995 bekommt dann sollte er auch fechten. Die Entschei- ihm einen Schlag auf den Hinterkopf und er einen Antwortbrief. Beck schreibt: dung liegt jedoch beim Athleten.“ sagte: „Nächste Woche fängst du an.“ „Bin aber auch mit 25,– DM einverstan- Pusch nimmt gegen seinen Willen am Matthias Behr hat Emil Beck fast zwei den, wenn Dein Glück bzw. Dein sozialer Turnier teil und verliert in der ersten Run- Jahrzehnte seines Lebens bewundert. Beck Status davon abhängt.“ Am 15. Mai hat de. Weil er sich rechtfertigen will, erzählt war Behrs Vaterersatz. Behr erzählte Beck,

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Werbeseite was er wusste, etwa, wenn ihm auffiel, dass von Zita untergeordnet hast. Diese hätte Alexander Pusch weniger trainierte als die nach meinem Dafürhalten zunächst durch- anderen. Über Jahre verband Behr und aus als Assistentin arbeiten und das Inves- Pusch Misstrauen. titionsrisiko, das unweigerlich mit der Ein- Behr heiratete zum ersten Mal, als er 22 richtung einer neuen Praxis verbunden ist, war. Seine Ehe war wie bei Emil und Mami: sowie die zeitliche Belastung verringern Er war nie da. Mit 31 erfuhr er von Beck, können. Leidtragender ist – wie so oft – dass er mal dessen Nachfolger werden soll. der Olympiastützpunkt.“ Mit 34 ließ er sich scheiden, wichtig war Nur so kann es gehen, findet der Ab- ihm nur sein Sport. sender. „Wie soll man zu Leistung kom- Das ändert sich, als er Zita Funkenhau- men in unserer heutigen Zeit, wenn ich ser näher kennen lernt. Sie ficht ebenfalls nicht ständig motivierend tätig bin?“ in Tauberbischofsheim und verhilft Beck zu jenem Moment während der Olympischen mil Beck hat den Gipfel nicht wieder Spiele 1988 in Seoul, den er „wie eine Rei- Eerreicht. Der Zeitgeist der Neunziger se in den Himmel“ empfindet: Drei seiner hat sich seinen Weg sogar bis nach Tau- Fechterinnen gewannen Gold, Silber und berbischofsheim gebahnt. Auch im toten Bronze. Zita Funkenhauser wurde Dritte, Winkel von Baden-Württemberg gibt es fanatisch war sie nie. Internet und Ecstasy, und Fechten ist wie- 1993 führt Matthias Behr ein Gespräch der das, was es vor Emil Beck war: eine An- mit Emil Beck, das ihrem Verhältnis eine gelegenheit für Liebhaber. Wendung gibt. Behr möchte noch einmal Am 29. Juni 1999 tritt Beck zu seinem heiraten und hat sich entschlossen, die letzten Gefecht an. Er fürchtet, dass seinem Nachfolge von Beck abzulehnen, „weil Lebenswerk wegen des anhaltenden Miss- sonst die nächste Scheidung programmiert erfolgs die Fördergelder gekürzt werden. ist“. Er möchte mehr Zeit in seine Familie Er will seinen Lebensfilm noch mal an den investieren und riskiert, dass er damit Ein- Anfang spulen. gang findet in eine Kladde, die Beck „Han- Um elf Uhr ruft er 39 Trainer und Mit- dicap-Akte“ nennt. Er vermerkte darin die arbeiter zu einer Sitzung zusammen. Dar- aus seiner Sicht negativen Eigenschaften in erklärt er, die Schuld am Niedergang aller Mitarbeiter. trügen Matthias Behr und Alexander 1996 will Emil Beck noch einmal auf den Pusch. Behr hat zuletzt 350 Überstunden Gipfel, es ist das Jahr der Olympischen im Jahr geleistet, Pusch kam auf 500. Spiele in Atlanta. Zita Funkenhauser bringt „Hiermit fordere ich dich auf zu gehen“, per Kaiserschnitt Zwillinge zur Welt. Ei- sagt Beck zu Behr. Pusch gibt er eine Frist nen Tag bevor Matthias Behr als Betreuer bis zum nächsten Jahr. der deutschen Fechter nach Amerika flie- Neben Behr sitzt Ute Vahid. Sie ist seit gen soll, wird sie aus dem Krankenhaus 21 Jahren Behrs Stellvertreterin im Inter- entlassen. Sie ist pflegebedürftig, und Behr nat. In den letzten zehn Jahren ist Behr beschließt, bei seiner Frau zu bleiben. bei Beck mehrfach wegen einer Gehalts- Atlanta wird zum Desaster für Tauberbi- erhöhung für sie vorstellig geworden. Ver- schofsheim. Eine einzige müde Bronzeme- gebens, Ute Vahid musste zum Tarif wei- daille bringt die Entourage mit nach Hause terarbeiten. Jetzt sagt Beck zu ihr: „Und – und Emil schreitet zur Abrechnung. wenn der Behr weg ist, kriegen Sie 1000 Matthias Behr bekommt weniger Ge- Mark mehr.“ Beck sagt heute: „Ich be- halt, Beck entzieht ihm die Leitung des daure diese Äußerung. Das ist mir leider so Ressorts „Soziales“ und erklärt ihn zur un- rausgerutscht.“ erwünschten Person bei Führungskonfe- Behr und Pusch werden wegen „psychi- renzen. In einem Brief legt er nach: scher Überforderung“ krank geschrieben. „Obwohl sodann die Niederkunft zeitge- Nach Wochen kehren sie auf ihre Plan- recht erfolgte, die Zwillinge und Mutter stellen zurück. Funktionäre, Trainer und wohlauf waren (…) hast Du damals auf eine Sportler haben sie ihrer Solidarität versi- Teilnahme verzichtet (…) Dein ,öffentlicher chert und Beck zum Rücktritt gedrängt. Feldzug für Familie und Freizeit‘ ist daher Rücktritt? Er denkt nicht dran. Emil Beck ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die sitzt in seinem Büro und hat die Jalousien Woche für Woche und Jahr für Jahr erheb- runtergelassen. Er befindet sich zurzeit ge- liche persönliche Opfer bringen. In Atlanta, nerell zwischen Licht und Schatten. als es um die Existenz des Fechtzentrums Einerseits, meint er, sei ja für die Ange- ging, hast Du Deine Trainerkollegen und stellten inzwischen wieder alles gut. „Es mich ganz persönlich im Stich gelassen.“ läuft optimal.Wir arbeiten gut zusammen, Zita Funkenhauser hat sich inzwischen denn wir haben ein gemeinsames Ziel.“ in Tauberbischofsheim als Zahnärztin nie- Andererseits gehe es ihm jetzt persönlich dergelassen. In ihr erkennt Beck eine Art ziemlich schlecht. Die Zeitungen trieben subversives Element, das den Gatten von ein böses Spiel mit ihm. „Ich bin weich, der Arbeit abhält und so allmählich das viel zu weich“, sagt Emil Beck. „Glauben schöne Sportzentrum zersetzt: Sie mir, ich bin nicht der Feldwebel, zu „Richtig ist, dass Du nicht in Not geraten dem mich einige machen wollen.“ Das tut bist, sondern Deine beruflichen Ambitionen ihm weh. Im Stillen habe er deshalb schon den beruflichen und privaten Wünschen oft geweint. Matthias Geyer

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Öko-Regionen der Aktion „Global 200“ ■ stark bedroht ■ gefährdet ■ Zustand noch stabil ■ „Global 200“-Meeresgebiete Quelle: WWF

UMWELT wählten Regionen zählen die Amurregion im Osten Russlands, die Galapagos-Inseln vor der Küste Südamerikas oder auch das Great Barrier Reef vor Australien. Die ausgewählten Le- Weltkarte der Vielfalt bensräume zeichnen sich durch großes Artenspektrum oder besondere ökologische Phänomene aus. „Wir wollen unsere eue Wege im Artenschutz will die Umweltstiftung World Energien auf diese Schlüsselregionen konzentrieren, anstatt zu NWide Fund for Nature (WWF) mit der Aktion „Global suggerieren, wir könnten überall etwas tun“, sagt Evers. 200“ gehen. Auf einer „Weltkarte des Lebens“ haben die Na- Deutschland schneidet im internationalen Vergleich mager ab. turschützer insgesamt 232 ökologische Schlüsselregionen der Nur das Wattenmeer, die Alpenregion sowie einige Vogelrast- Erde verzeichnet, die einen Großteil der biologischen Vielfalt plätze sind bei „Global 200“ erfasst. Mit dem neuen Konzept beherbergen. „Wenn es gelingt, diese Öko-Regionen zu schüt- hofft der WWF, dem Verlust an biologischer Vielfalt entgegen- zen, könnten 90 Prozent der Biodiversität langfristig erhalten treten zu können. Fast die Hälfte der ausgewählten Gebiete werden“, sagt WWF-Mitarbeiter Michael Evers. Zu den ausge- sind nach Angaben der Umweltstiftung stark bedroht.

ERNÄHRUNG Katherine Dettwyler sogar erst AIDS zwischen 2,5 und 7 Jahren: „Es gibt Zu dick ohne Milch viele Kulturen in der Welt, in de- Nothilfe am Morgen danach nen die Kinder drei, vier oder gar inder, die nicht gestillt werden, fünf Jahre lang gestillt werden.“ er fürchtet, sich beim Sex mit dem Aids-Er- Khaben ein höheres Risiko, Wreger infiziert zu haben, kann neuerdings schon in jungen Jahren überge- darauf hoffen, die HI-Viren wieder loszuwerden, wichtig zu werden. Das geht aus ei- ehe sie sich in seinem Körper fest einnisten. Im- ner im Fachblatt „Ärztliche Praxis“ mer mehr amerikanische Aids-Kliniken und Aids- veröffentlichten Studie hervor. Fast Ärzte bieten rund um die Uhr eine „Post-Exposure jedes fünfte Kind, das nie an Mut- Prophylaxis“-Therapie (PEP) an, die spätestens ters Brust lag, war bereits bei der 72 Stunden nach dem sexuellen Kontakt begon- Einschulung zu dick oder litt sogar nen werden sollte. Die 2500 Dollar teure und 30 unter „Fettsucht“ mit einem Kör- Tage dauernde Behandlung basiert auf mittler- pergewicht von mindestens 20 Pro- weile bewährten Aids-Medikamenten wie AZT, zent über der Norm. Bei Kindern, 3TC und Sustiva. Bislang ist nicht eindeutig er- die länger als ein Jahr gestillt wur- wiesen, ob diese Behandlung am Morgen danach den, waren nur knapp sechs Pro- eine HIV-Infektion wieder zu eliminieren vermag, zent zu dick. Eine Erklärung für auch wenn viele Anzeichen dafür sprechen. So dieses Phänomen gibt es bislang kam es bei keinem von 436 PEP-behandelten, se- nicht. Stillen gilt jedoch ohnehin xuell aktiven Patienten in San Francisco zu einer als förderlich für die Entwicklung HIV-Infektion. Trotz der hohen Kosten und des von Kindern. Das natürliche Alter Risikos von Nebenwirkungen ist die Nachfrage für den Verzicht auf die Mutter- groß. Der New Yorker Aids-Arzt Gabriel Torres,

brust liegt nach Ansicht der PICTURE PRESS der die PEP-Behandlung anbietet: „Wir bekom- amerikanischen Anthropologin Stillende Mutter men unglaublich viele Anfragen.“

der spiegel 44/1999 215 Prisma Wissenschaft•Technik

MEDIZINTECHNIK Techno-Nase riecht Krankheiten ediziner in England haben ein Gerät entwickelt, Mdas Krankheiten riechen kann. Die „Diag-Nose“ arbeitet mit chemischen Sensoren, die denen der menschlichen Nase ähneln. „Bestimmte Krankheiten produzieren charakteristische Gerüche“, erklärt Selly Saini von der Cranfield University im englischen Bed- fordshire, der das Gerät zusammen mit seinem Kolle- gen Jan Leiferkus entwickelt hat. Derzeit werde das Verfahren zur Diagnose von Harnwegsentzündungen getestet. Auch Tuberkulose, bestimmte Darmkrebse oder Wundinfektionen kämen für die Schnüffeldiag- nostik in Frage. Im Vergleich zu bisherigen Analyse- verfahren soll die Methode sehr preiswert und schnell sein. Um etwa Urin auf Krankheitskeime hin zu un- tersuchen, wird eine Pinkelprobe mit Nährlösung ver- setzt, die infektiöse Bakterien zum Wachstum und da-

mit zur verräterischen FOCUSAGENTUR Geruchsstoffproduktion Jugendliche bei der Vogelbeobachtung anregt. Während kon- ventionelle Analyseme- ORNITHOLOGEN thoden bis zu zwei Tage dauern können, liefert Peilgerät für Piepmätze der technische Schnüff- ler seine Diagnose emeinhin jagt der Vogelkundler mit den Ohren. Irgendwo im schon nach knapp sechs GGeäst, das hört er genau, verbirgt sich der Dreizehenspecht oder Stunden ab. In Labor- flötet der Pirol „ogloühö“ – nur sehen kann er ihn nicht. Geradezu un- experimenten arbeitete sportliche Peilhilfe leistet ein neuartiger Lauschangriff mit dem Laptop.

S. GILL das System zudem mit John Spiesberger von der University of Pennsylvania nutzt den Um- Erfinder Leiferkus, Saini 95-prozentiger Erfolgs- stand, dass Geräusche mit Zeitverzögerungen auf mehrere Mikrofone quote. Sogar 80 Prozent auftreffen. Aus der Laufzeitdifferenz lässt sich ungefähr die Position der an den Infektionen beteiligten Bakterientypen der Geräuschquelle errechnen. Mindestens fünf Mikros, fand Spies- konnte das Gerät erschnuppern. „Menschen müssen berger heraus, sind notwendig für eine halbwegs genaue Ortung in al- sehr gut trainiert sein, um Krankheiten zu riechen“, len drei Raumachsen. Doch Reflexionen und Echos verfälschen die sagt Saini und verweist auf die Schnüffelkünste vor al- Messungen. Mit Hilfe des Computers lassen sich die schwächeren lem chinesischer Ärzte, die das Verfahren seit Jahr- Echos vom direkt auftreffenden Vogellaut trennen. Durch die Kombi- hunderten kennen. Diabetiker sollen beispielsweise nation beider Verfahren ist eine Lokalisierung der Vögel möglich. einen „fruchtigen“ Mundgeruch haben.

ELEKTRONIK Herkömmliches CCD Super CCD Scharfe Chips neue Anordnung der Fotodioden Transport- igitale Fotos in besserer Qualität verspricht Lichtkanal Elektronen Dein neuartiger Bildsensor der japanischen Firma Fuji. Herzstück von digitalen Fotoappara- ten ist ein so genannter CCD-Sensor („Charge- Foto- Licht Elektronen Transportkanal dioden Coupled Device“): Schachbrettartig angeordne- te Fotodioden, die für Licht in den drei Grund- farben Rot, Grün und Blau empfindlich sind, er- zeugen bei Beleuchtung Elektronen, die auf Foto- Transportkanälen an eine Kante des Sensorchips dioden befördert und in elektrische Signale umgewan- delt werden. Im Streben nach höherer Auflösung bringen Hersteller immer mehr Sensoren auf ei- nem Chip unter, dadurch schrumpft aber die Fläche der einzelnen Fotodioden und damit auch ihre Lichtempfindlichkeit. Der jetzt neu entwickelte Chip enthält achteckige Fotodioden, die in einem gleich zur Schachbrett-Anordnung größere Fläche der Foto- wabenförmigen Muster dichter beieinander liegen als bei her- dioden sorgt für höhere Lichtempfindlichkeit und bessere Wie- kömmlichen Sensoren. Mit „Super CCD“ aufgenommene dergabe des Bildkontrasts. Die scharfen Chips will Fuji vom Bilder wirken daher wesentlich detailreicher, und die im Ver- kommenden Jahr an in seine Kameras einbauen.

216 der spiegel 44/1999 Werbeseite

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„Moai“-Felsskulpturen auf der Osterinsel: Mit Hebeln zur Küste gewuchtet, standen die tonnenschweren Steinkolosse als Totenwächter

ETHNOLOGIE Botschaft aus Fantasia Sie waren schreibkundige Kannibalen, feierten Sexualriten und errichteten Riesenstatuen aus Tuffstein – die Bewohner der Osterinsel schufen eine rätselhafte Hochkultur. Nun liegt ein Entzifferungsversuch ihrer Schrift vor. Handeln die Texte von der Entjungferung junger Mädchen?

it hochragendem Bug rollten die Am Ende der Zeremonie gaben die an- schwersten Exemplare jedoch, bis zu 20 Schiffe der spanischen Südpazifik- kernden Schiffe „San Lorenzo“ und „San- Meter lang, blieben unfertig in den Stein- Mexpedition von Peru aus Richtung ta Rosalia“ 21 Salutschüsse ab. Doch was brüchen liegen. Wenige Hammerschlä- Westen. 3800 Kilometer Wasserwüste hat- für Fremdlinge waren da eingemeindet ge würden genügen, um sie von ihren te die Flotte bereits durchsegelt – ohne worden? Monolithbüsten, dünnen Felsstegen zu lö- Landkontakt. Nervös blickte der Kom- beinlosen Krüppeln glei- sen. Das ferne Fantasia mandeur Don Felipe González de Haedo chend, lagen auf den Fel- 3000 km fasziniert. Genetiker und zum Horizont. dern. Am Strand erhoben Knochenforscher haben PAZIFIK Am 19. November 1770 löste sich die sich große Steinpodeste, sich mit dem 180 Quadrat- Spannung. Kurz vor dem 110. Längengrad die Ahu. Auf Klippen und Marquesas- kilometer großen Soziotop Inseln tauchte das „isolierteste Eiland der Welt“ Kraterhängen prangten Äquator beschäftigt. Dutzende von auf (so der US-Forscher Steven Roger Fi- eingeritzte Vulva-Zeichen. Archäologen wühlten sei- scher): nahezu baumlos, mit schroffen Ge- Die Ohrläppchen vieler Samoa nen Boden um. Doch ge- staden; im Hintergrund erhoben sich Vul- Eingeborenen waren gro- Tahiti bracht hat die Fahndung kankegel. tesk in die Länge gezogen. Osterinsel wenig. Schon die Eckdaten Tätowierte Eingeborene, melodiös die Rapa Nui („großes Pad- dieser Kultur liegen im Osterinsel-Sprache „Rapanui“ plappernd, del“), die östlichste der po- Dunkeln. liefen am Strand zusammen. Am Tag lynesischen Inseln, bot eine ungeheure Ku- Um 1350 nach Christus, erzählen alte darauf ließ der Flottenchef, unterwegs lisse. Rund 1000 langnasige Kolosse, die Inselsagen, soll König Hotu Matua, nach im Auftrag des peruanischen Vizekönigs, Moai, haben die Osterinsulaner mit Obsi- 120 Tagen Irrfahrt, mit 300 Menschen in uniformierte Soldaten ans Ufer bringen. dianmessern und Beilen aus dem Tuff der zwei Doppelbooten das karge Land an- Trommelwirbel erklang, Musketensalven Vulkanhänge geschlagen. Etliche davon, gesteuert haben. Linguisten gehen von wurden abgefeuert. Dann wurde den mit Hebeln zur Küste gewuchtet, standen einer ersten Einwanderungswelle kurz Wilden ein Annexions-Dekret vorgelesen. als Totenwächter auf den Grabanlagen. Die nach Christi Geburt aus. Archäologen

218 der spiegel 44/1999 im „Telegrammstil“. Übersetzen konnte er sie nicht. Auch der Dekodierversuch von Steven Roger Fischer (er lehrt in Auckland/Neuseeland und kennt 25 Sprachen) scheiter- te. Bis nach Honolulu und Berlin ist der Experte gereist, um alle in Museen gelagerten Originaltex- te abzuzeichnen. In seinem 1997 erschienenen Opus „Rongoron- go“ sind über 12000 Glyphen ab- gebildet. Nur beim Entziffern haperte es. Eine Sequenz in Fischers Le- sung lautet: „Alle Vögel kopulie- ren mit den Fischen und zeugen die Sonne.“ Geschlaucht von dem semantischen Wirrwarr, er- litt der Gelehrte einen Nerven- zusammenbruch. Als bleibender Schaden blieb ein nervöser Tick, seine Hand zittert. Jetzt liegt ein neuer, vielleicht sinnvollerer Anlauf vor. Der Bre- mer Sprachforscher, Religions- wissenschaftler und Übersetzer altindischer Schriften, Egbert

FOTOS: BAVARIA ( BAVARIA FOTOS: li.); B. BEHNKE (re.) Richter, 61, hat beim Seminar für auf den Grabanlagen Schriftforscher Richter: „Ich kann die Glyphen lesen“ Südseesprachen der Universität Hamburg eine Promotionsarbeit Am erstaunlichsten aber blei- eingereicht. Schlichter Titel: „Die Schrift- ben die Krakelzeichen. Ausge- tafeln der Osterinsel – ein Beitrag zu ihrer rechnet jene traumversunkenen Entzifferung“. Krähwinkler, deren Kultur ab- Das Werk, 214 Seiten lang, bietet an, was geschottet wie unter einer Kä- die Zunft seit Unzeiten ersehnt. „Ich kann seglocke gedieh, entwickelten die Glyphen lesen“, behauptet der Außen- aus eigener Kraft ein unabhän- seiter.Vier Tafeltexte hat er komplett über- giges Schriftsystem, „Rongo- setzt. rongo“ genannt – das einzige Die Arbeit strotzt von Exotika und in ganz Ozeanien. schrillen Resultaten. Richter zufolge „Kohau Rongorongo“, spre- berühren die Texte – halb Bibel, halb Ka- chendes Holz, nannten die Ein- masutra – das geheimste Kultwesen der geborenen ihre aus Piktogram- Osterinsel. „Die Tafeln enthalten Details men (Bildsymbolen) bestehen- über Deflorationen und Sexualriten“, sagt de Geheimlektüre. In Men- der Codeknacker, „alle Texte umkreisen schenhaar gewickelt, galten die die Sphäre des Heiligen.“ Brettchen als „tapu“ („heilig, Mit seinem Deutungsansatz begibt sich verboten“). Als Schnitzinstru- der Epigrafiker auf spannendes Terrain. ment dienten Haizähne und Was die Ethnologie über die Sitten der Obsidianstichel. Nur 21 Holzta- Osterinsulaner in Erfahrung gebracht hat, feln sind bis heute erhalten ge- ist an Bizarrerie kaum zu übertreffen. Kost- blieben. proben: Doch welche Botschaft ist in π Im großen Stil frönte das Volk dem Kan-

Y. GELLIE / AGENTUR FOCUS GELLIE / AGENTUR Y. den heiligen Zeichen gespei- nibalismus. Priester opferten Kriegsge- „Moai“-Figuren*: Ruinen im Rongorongo-Land chert? Während Missionare die fangene und Straffällige, aber auch – bei Sprache der Osterinsulaner Fruchtbarkeitskulten – kleine Kinder. wiederum tippen aufs 7. oder 8. Jahr- recht bald von diesen erlernten, sind bis Hernach wurde geschlemmt. „Als be- hundert. heute alle Versuche gescheitert, auch die gehrteste Stücke galten Finger und Ze- Auch über die Herkunft der Rätselrasse Schrift zu entschlüsseln. hen“ (der Ethnologe Alfred Métraux). wird gestritten. Viele Experten vermuten, Seit 130 Jahren mühen sich Epigrafiker, π Alle Jugendlichen mussten sich einer dass die Seefahrer von den rund 3600 Ki- in das System aus Strichmännchen,Vögeln schmerzhaften Tätowierung unterzie- lometer entfernten Marquesas-Inseln aus und stilisierten Früchten einzudringen. Na- hen. Farbstoff aus Pflanzenasche wurde starteten. Andere nennen als Ausgangs- vigationszeichen wurden darin gesehen, ihnen mit Knochenspitzen in die Haut punkt der Reise die Gesellschafts-Inseln Ahnenlisten, auch pure Ornamentik. Der geritzt. (4300 Kilometer) oder Samoa (6400 Kilo- deutsche Epigrafiker Thomas Barthel, der π Mädchen der Oberschicht sperrten die meter). „Doyen der Rongorongo-Forschung“ Priester in Höhlen. Sie wurden mit Brei („New Scientist“), deutete die Glyphen in gemästet und – zur Gelbtönung der * Wiederaufrichtung umgestürzter Osterinsel-Statuen. den fünfziger Jahren als „Embryoschrift“ Haut – mit Safran eingerieben. Forscher

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deuten die Strapaze als „ästhetische insel“ (Fischer) zu einer aussterbenden Ganz ohne Anhaltspunkte stehen die Maßnahme“: Fett und bleich zu sein Spezies herabgesunken, ihre Kulturtaten Epigrafiker dennoch nicht da. Neugierig galt in dem Mini-Land als erotisch. ins Unerklärliche entrückt. Und auch die geworden durch das Zerstörungswerk, hak- Als Mitte des 19. Jahrhundert Missiona- schriftliche Botschaft dieses Volkes, einge- ten die ersten Besucher nach. Welche Art re vom Orden Sacrés-Coeurs das Eiland kerbt in glatt polierte Holztableaus, schien von Nachrichten waren auf den Tafeln fi- betraten, fühlten sie sich wie in einen Höl- für immer unentzifferbar. xiert? Die Wilden verweigerten die Aus- lenpfuhl versetzt. Die Häuptlinge frönten Bei den Schrifttafeln waren die Verluste kunft. der Vielweiberei. Arme Tröpfe trieben es besonders hoch. Als 1864 die ersten Mis- Schließlich gelang es doch, zwei Einge- umgekehrt und teilten sich zu zweit oder sionare anrückten, entdeckten sie ver- borene zum Dolmetschen zu bringen. 1873 dritt eine Geschlechtspartnerin. Eheschei- wundert „in allen Häusern“ die sonder- nahm der Bischof Te- dungen wurden „ohne baren Tabletts. Kurz danach veranstalten pano Jaussen den jede Formalität durch- die Wilden eine Art Bücherverbrennung. nach Tahiti ausgewan-

geführt“ (Métraux). BRITISH MUSEUM Eilig warfen sie ihre Schrifttafeln ins Feu- derten Plantagenarbeiter In der Götterwelt wim- er. Nur wenige Exemplare konnten ge- Metoro ins Verhör. Der melte es von halb verwesten rettet werden. Geistliche hielt den Daumen Unholden und wirren Kopulati- auf jede einzelne Glyphe und onsakten. Am schlimmsten treibt ließ sie sich isoliert übersetzen. es der Fruchtbarkeitsgott „Make- Doch die Gesamtlesung ergab kei- make“. Um den Menschen zu erschaf- nen Sinn. Eine Glyphen-Abfolge etwa fen, ejakuliert er zuerst in einen Kürbis. lautet in Metoros Übersetzung: „er Dann begattet er einen Felsklumpen, ehe tanzt“, „das Boot“, „der Mensch verneigt er im dritten, endlich erfolgreichen Anlauf sich“, „die Hand für die Fruchtbarkeit“. in einen Haufen geformten Sand onaniert. Noch konfuser wirken jene „kosmo- Und überall regierte die Macht irratio- gonischen Gesänge“, die der Greis Ure naler Verbote. Tabu war der Verzehr von Vaeiko ablieferte. Er ließ sich 1886 – ange- Tunfisch während der Wintermonate. Kult auf dem Krater heitert durch Alkohol – zum Glyphenlesen Kreuze und aufgehäufte Zweige markier- überreden. Der Alte blickte auf die Tafeln. ten heilige Stätten. Auch die Schrifttafeln, Die Lesung der Osterinselschrift Dann schloss er die Augen und verfiel für in separierten Hütten aufbewahrt, umgab Die Schrift der Osterinsel besteht, wie ur- Stunden in einen raunenden Singsang. eine Aura des Unnahbaren. sprünglich das Chinesische, aus Bildzeichen Waren die Europäer geleimt worden? Solchen Naturburschen die unbefleckte (Piktogrammen). Hinweise auf ihre Bedeutung Oder überstieg der religiöse Kosmos Empfängnis nahe zu bringen, fiel den Mis- lieferten im 19. Jahrhundert Ureinwohner, die der Insulaner ihre Vorstellungskraft? Kein sionaren anfangs nicht leicht. Mit allge- einige der Holztafeln übersetzten. Gelehrter hat es je geschafft, den diffu- genwärtiger Zauberkraft hielt der „Timo“, sen Wortbrei mit Bedeutung zu füllen. der Kultchef, seine Untertanen im Bann. Viele Forscher halten Metoro und Ure Der Oberschamane war zuständig fürs Re- Mann Federstab Vaeiko für Betrüger. Sie seien „Plapperer“ genmachen und Wunderheilen. Er konnte gewesen. bei Zwist die Blutrache ausrufen. Seine Der Bremer Experte Richter sieht das Helfer nabelten Babys ab und wickelten ganz anders. Immer wieder hat er die von Fregattvogel Feder Verstorbene in Bastmatten, ehe diese auf Metoro erstellten Wortlisten analysiert, den Ahu-Terrassen abgelegt wurden und und – gestützt auf die ethnologische For- langsam verwesten. Vogel mit ge- schung – nach kultischen Zusammenhän- Kaum 10000 Einwohner bevölkerten den senktem Kopf gen gesucht. „Plötzlich schälte sich das Zwergstaat zu Spitzenzeiten. Bananen, (untersuchen, Leitmotiv der Texte heraus“, erläutert er, Zuckerrohr und Süßkartoffeln bauten die Vulva Berg einritzen) „die Glyphen handeln von der Initiations- Bauern an. Ihre Häuser waren bis zu hun- feier auf dem Orongofelsen.“ dert Meter lang. Die Kinder sausten mit Die Bedeutung der meisten Glyphen blieb je- Mit diesem Stichwort ist die geheimste Blätterschlitten aus Keulenlilien die Vul- doch unklar. Richter zufolge verstecken sich Kultpraxis der Insel berührt. Einmal im kanberge hinunter. Mit Binsenflößen in dahinter so genannte Fusionszeichen. Sie sind Jahr, zum Frühlingsanfang, strömte das Form von Elefantenstoßzähnen surften die aus mehreren Bildern zusammengesetzt. Volk zum Zauberplatz von Orongo, um ein Jungmannen auf Pazifikwellen. Interpretation nach E. Richter Fruchtbarkeitsfest zu feiern. Der Ethnolo- Als die Spanier im 18. Jahrhundert das ge Métraux nannte die Party zu Ehren des Eiland aus der Isolation rissen, war es mit gemeint ist das reli- Hauptgottes Makemake ein „langes mys- dem Wohlleben längst vorbei. Kriege und giöse Oberhaupt tisches Drama“. Öko-Katastrophen hatten das Volk auf der Insel, der Timo Zumindest der Ort des Geschehens lässt rund 4000 Einwohner dezimiert. Umge- sich eindeutig identifizieren. Das Kultdorf stürzt lagen die Steinstatuen auf den Fel- gemeint ist der ge- Orongo, Sitz des Timo, lag, 300 Meter hoch, dern. Ihre Hüte aus rotem Tuff waren zer- schmückte Absolvent auf dem windigen Grat des Vulkans Rano brochen, die Korallen, die einst ihre Au- der Jugendweihe, Kao. Archäologen haben dort 46 Schiefer- genhöhlen zierten, herausgebrochen. der poki manu plattenhäuser freigelegt. Die umliegenden Dann ging der Niedergang in den freien (Vogelkind) Felsen sind mit Petroglyphen übersät, vor- Fall über. Im Dezember 1862 und im März nehmlich Darstellungen des weiblichen 1863 deportierten Sklavenjäger ein Drittel gemeint ist die Geschlechtsteils. der Urbevölkerung. Die wenigen Rück- Untersuchung der Auch über den Ablauf der Zeremonie kehrer schleppten Pocken auf die Insel ein. geschlechtsreifen ist einiges bekannt. Die Stämme führten Im Jahr 1877 lebten dort nur noch 111 Ein- Mädchen anlässlich Tänze auf. Rauschgetränke, hergestellt aus des Fruchtbarkeits- geborene. fests auf dem Rauschpfeffer („Piper methysticum“), Was für ein Aderlass! Innerhalb weniger Orongo-Felsen heizten die Stimmung an. Wer als Erster Jahrzehnte waren die „Einsteins der Oster- das Ei einer Seeschwalbe ergatterte, war

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Werbeseite Wissenschaft Y. GELLIE / AGENTUR FOCUS GELLIE / AGENTUR Y. Zeremonial-Felsen von „Orongo“*: „Die Blume zittert, der Stock dringt ein“ der Star des Tages. Er wurde zum Ritual- metscher Metoro gesteckt haben könnte. könig („Vogelmann“) gewählt, mit Frau- Um sich aus der Affäre zu ziehen, so Rich- enhaar geschmückt, in eine Hütte gesperrt ter, habe der Ureinwohner „die Bedeutung und durfte sich ein Jahr lang nicht mancher Worte bewusst verschleiert“. waschen. Für seine These kann der Epigrafiker Im Mittelpunkt standen indes die Ju- Beweise vorlegen. Die Glyphe für Vulva gendlichen. In Scharen wurden alle ge- etwa übersetzt Metoro vornehm mit „Pua“ schlechtsreifen Jungen sowie Mädchen (Rapanui für „Blüte“) oder „gebundene nach der ersten Blutung auf den Vulkan- Frucht“. Kopulationssymbole umschreibt berg geführt. Die Kandidaten, „poki er mit „kua huki“ („er durchbohrt“). Die manu“ („Vogelkinder“) genannt, über- Glyphe für den Timo – ein Strichmänn- brachten dem grell angemalten Timo chen mit Federstab – ließ der Eingeborene Früchte und kleine Geschenke. Dann ging völlig im Vagen. Hier steht manchmal nur es zur Sache: das Personalpronomen „er“. π Die Jungen mussten sich hin- Seitenweise deckt Richter sol- legen. Priester ritzten ihren che Camouflagen auf. Unver- Penis ein („Inzision“). ständliche Wortbilder rücken π Bei den Mädchen wurde mit plötzlich in einen sinnvollen Zu- einem Stock untersucht, ob sammenhang. Und immer wie- die Vulva „teketeke“ („un- der wird in den Glyphen jenes berührt“) war. Bei Auser- „besondere Werk“ (Metoro) an- wählten machte der Timo von gesprochen, das der Timo aus- seinem Recht der ersten führt. In einem anderen Manu- Nacht Gebrauch. skript heißt es: „Der Stock Als britische Ethnologen, die bannt, die Blume zittert, der Anfang dieses Jahrhunderts auf Stock dringt ein.“ der Insel recherchierten, Wind Ob der Autor bei seinem Vor- von dem Ritual bekamen, hiel- marsch ins Rongorongo-Dickicht ten sie es erst für „ein Phanta- wirklich den rechten Weg einge- sieprodukt der modernen Oster- schlagen hat, muss nun der insulaner“. Mittlerweile steht Hamburger Universitätsprofes- fest, dass es solche Zeremonien sor Rainer Carle entscheiden. tatsächlich gab.Auf dem Samoa- „Ein interessanter Ansatz“, sagt Archipel wurden Deflorationen er, „aber die Überprüfung ist ex- sogar auf öffentlichen Plätzen trem schwierig.“ Diesen Monat durchgeführt. will eine Uni-Kommission einen Angesichts dieser heidnischen Zweitgutachter ernennen. Handlung wird deutlich, in wel- Fragt sich nur wen. Rapanui cher Klemme der frisch zum ist eine absolute Exotensprache. Christentum konvertierte Dol- Keine zehn Menschen weltweit

J. AMOS / AGENTUR FOCUS AMOS / AGENTUR J. können sie verstehen. * Mit eingeritzten Steinglyphen. Osterinsel-Figur Matthias Schulz

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Die jüngste Errungenschaft auf diesem Gebiet zum Beispiel, die im Frühjahr aus MEDIZIN Großbritannien gemeldet wurde, erfüllt kaum eines dieser Kriterien. Medizinern aus Manchester ist es ge- Angst vor Männerpanik lungen, mit einer Kombination aus dem männlichen Sexualhormon Testosteron Taugen Blutdrucksenker als Pille für den Mann? und Desogestrel – einer Progesteronform, die auch in der Antibabypille eingesetzt Eine US-Medizinerin hat ihre verhütende Wirkung entdeckt. wird – die Spermienproduktion bei Män- Doch in der Pharmaindustrie stößt sie auf Widerstand. nern zu unterbrechen. Doch selbst hohe Verabrei- rgendwann begann sich Susan chungsdosen erreichten in Tests Benoff zu wundern. Immer nur eine Verhütungsquote von Iwieder kamen Paare zu der rund 65 Prozent. Der tiefe Ein- Reproduktionsmedizinerin von griff in den Hormonhaushalt der der New York University School Männer führte zudem zu be- of Medicine, die darüber klagten, trächtlichen Nebenwirkungen keine Kinder zeugen zu können. wie Hautausschlag oder deutli- Nur warum? chem Absinken des Cholesterin- Die Spermien der Männer, so spiegels im Blut. beteuert Benoff, erwiesen sich im All dies, so versprechen Labor als „absolut normal“. Und Benoffs Versuche, wäre bei einer doch waren sie ganz offensicht- Verhütungspille auf Basis der lich unfruchtbar. Calciumblocker nicht zu be- Die Wissenschaftlerin fand die fürchten. Schon bei ersten Tests Lösung des Rätsels, als sie die im Reagenzglas zeigte sich eine Krankengeschichten ihrer Pa- Zuverlässigkeit von 95 Prozent. tienten miteinander verglich. Es Würde die Substanz auf ihre stellte sich heraus, dass alle ver- empfängnisverhütenden Eigen- hinderten Väter unter Bluthoch- schaften hin optimiert, so wären druck litten und das Problem mit noch weit bessere Ergebnisse so genannten Calciumblockern denkbar. bekämpften. Der Trick mit dem Rezeptor In Tests fand Benoff ihren macht zudem einen Eingriff in Verdacht bestätigt: Der Calcium- den Hormonhaushalt des Man- blocker Nifedipin bewirkt eine nes überflüssig. subtile Veränderung männlicher Anders als bei der Sterilisation Samen. Er verhindert, dass Re- ist die Unfruchtbarkeit vorüber- zeptoren an die Oberfläche der gehend. Ernste Nebenwirkungen Spermien dringen, mit deren Hil- sind nicht zu befürchten, das hat fe sie an der weiblichen Eizelle die jahrzehntelange Erfahrung andocken und diese befruchten. mit Nifedipin-Präparaten hin-

Und noch ein Weiteres entdeckte FOLIO ID länglich bewiesen. Benoff: Die Unfruchtbarkeit setzt Paar beim Sex: Trick mit dem Rezeptor Auf einer Veranstaltung der etwa nach einmonatiger Einnah- American Society of Repro- me eines blutdrucksenkenden Medikaments Denn bisher ist es nicht gelungen, Män- ductive Medicine vorigen Monat erklär- mit dem Wirkstoff Nifedipin ein. Wird das nern eine Substanz anzubieten, die so zu- te die Sprecherin der Gesellschaft und Mittel abgesetzt, so ist der Mann nach etwa verlässig verhütet wie die Pille der Frau, Benoff-Kollegin Shaun Goodman vom drei Monaten wieder zeugungsfähig. nur für begrenzte Zeit die Befruchtung ver- St. Michael’s Hospital in Toronto detail- Benoff war begeistert. Sie war offenbar hindert, keine Einbuße der Potenz mit sich liert, wie Nifedipin auf Sperma wirkt. dem idealen Verhütungsmittel für den bringt und auch keine weiteren ernsten Frisch ejakulierter Samen, so Goodman, Mann auf die Spur gekommen. Nebenwirkungen zeigt. ist zunächst nicht in der Lage, ein Ei zu be- Fettige Sperre Verhütende Wirkung von Bluthochdruckmitteln Hat der Mann Calciumblocker ge- Im Hoden reifen die Spermien heran. Unter dem Einfluss Eizelle nommen, können die Rezeptoren des Wirkstoffs Nifedipin bildet sich an ihren Membranen Spermium 1 2 die Fettschicht nicht durchdringen. eine cholesterinhaltige Fettschicht. 3 Das Spermium kann deshalb nicht an die Eizelle andocken – die Befruchtung ist unmöglich. Weg der Eizelle Spermien Eileiter Gebär- Eizelle Nifedipin mutter ohne Nifedipin 3 1 Rezeptoren im Inneren des Spermiums gelangen kurz vor der Befruchtung auf die Eierstock Zelloberfläche. 2 Mit Hilfe dieser Rezeptoren dockt das Spermium an die Eizelle an – es Hoden kommt zur Befruchtung. mit Nifedipin

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Werbeseite Wissenschaft fruchten. Ungefähr eine halbe Stunde spä- wächst die Zahl der Männer, die in einer ter schicken die Spermien Rezeptoren, die Zweitehe auch in höherem Alter noch ein in ihrem Inneren gelagert sind, an die Kind zeugen möchten. Außerdem könnte Oberfläche der sie umgebenden Membran. allein das Wissen um die eigene Unfrucht- Erst dann ist der männliche Samen im barkeit viele schrecken, die gar keinen Kin- Stande, sich auf dem weiblichen Ei festzu- derwunsch mehr hegen – für die Industrie setzen (siehe Grafik Seite 226). alles Gründe, um Umsatzeinbußen zu Nifedipin und andere Wirkstoffe dieser fürchten. Benoff: „Die haben einfach Art jedoch erhöhen in den Samen die Pro- Angst, Geld zu verlieren.“ duktion von Cholesterin, das sich wie eine Hinzu kommt, dass Verhütungsmittel für Fettschicht um die Membran legt und auf Männer bei Pharmafirmen als Ladenhüter diese Weise den Transport der Rezeptoren gelten. „Die gehen davon aus, dass die von innen nach außen verhindert. meisten Männer gar keine aktive Rolle bei Die Probleme für die New Yorker Wissen- schaftlerin begannen, als sie in der Industrie nach einem Partner suchte, um die Entwick- lung der Pille für den Mann voranzutreiben. Bei sechs führenden Pharmakonzernen, die Nifedipin-Präparate im Sortiment haben, klopf- te sie an – und bekam sechsmal eine Absage. Auch die Bayer AG, für die in den sechziger Jah- ren der deutsche Herz- papst Xaver Flecken-

stein den damals als EVERKE T. Wundermittel gepriese- Medizinerin Benoff: Sechs Absagen von Pharmafirmen nen Wirkstoff entwickelt hatte, winkte ab. Bei Bayer bestehe „kei- der Familienplanung übernehmen wollen“, ne Absicht“, so ließen die Leverkusener erfuhr Benoff bei ihrer Rundreise durch verlauten, „eine Weiterentwicklung von die Pharmawelt. Nifedipin in der von Dr. Benoff angeregten Wie drastisch die Angst vor Neben- Richtung zu betreiben“. wirkungen dem Geschäft schaden kann, Das Unbehagen bei Unternehmen wie zeigte sich vor einigen Jahren in den Bayer, das mit „Adalat“ zu den Markt- USA. Auch Anfang 1995 ging es um Nife- führern bei blutdrucksenkenden Mitteln dipin. gehört, ist verständlich. Weltweit benöti- In obskuren Untersuchungen behaup- gen rund 100 Millionen Menschen blut- tete ein Pharmaforscher, nachgewiesen zu drucksenkende Medikamente, um einem haben, dass der Bayer-Wirkstoff das Herzinfarkt oder einem Schlaganfall vor- Herzinfarktrisiko erhöhe, statt es zu ver- zubeugen. In Deutschland werden Nifedi- ringern. pin-Präparate jährlich über 20 Millionen Prompt brach unter den Patienten in den Mal verordnet. USA die Panik aus. Hunderttausende setz- Allein die Nifedipin-Präparate Adalat ten Adalat und andere Calciumblocker ab. von Bayer und Procardia von Pfizer be- An einem Tag verloren die Hersteller an scheren pro Jahr einen Umsatz von knapp der New Yorker Börse eine Milliarde vier Milliarden Mark. Bestätigen sich Dollar. Hauptexporteur Bayer musste Um- Benoffs Untersuchungen, dann sind rund satzeinbußen von rund 50 Millionen Mark 95 Prozent aller Männer, die diese Mittel – verkraften. oft viele Jahre lang – schlucken, medika- Benoffs Entdeckung kommt gerade mentös bedingt unfruchtbar. jetzt ungelegen, da die Pharmariesen dabei Millionen zeugungsunfähiger Männer sind, für die Calciumblocker ganz neue durch Blutdrucksenker: für die Industrie Märkte zu erschließen. Jüngste Forschun- ein Schreckensszenario. Da hilft es we- gen haben ergeben, dass Nifedipin von nig, wenn die Unternehmen beteuern, Arteriosklerose bedrohten Gefäßen helfen dass die meisten Bluthochdruckpatienten kann. Um diesen erfreulichen Nebeneffekt über 40 Jahre alt sind und somit ihre Fa- zweifelsfrei zu belegen, finanziert Bayer milienplanung normalerweise abgeschlos- zurzeit zwei klinische Studien. sen haben. Susan Benoff dagegen ist immer noch auf Zum einen werden Calciumblocker zu- der Suche nach Geldgebern, um für Männer nehmend auch bei chronischen Kopf- die ideale Verhütungspille zu entwickeln. schmerzen eingesetzt – ein Leiden, das al- Für alle Fälle hat sie sich ihre Entdeckung tersunabhängig eintritt. Zum anderen patentieren lassen. Heiko Martens

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Werbeseite Wissenschaft P. GINTER / BILDERBERG P. Teilchendetektor im Hamburger Forschungszentrum Desy: „Messungen von nichts sagender Genauigkeit“

DEBATTE Sperrt das Desy zu! Der Teilchenbeschleuniger Desy bei Hamburg, der jedes Jahr 250 Millionen Mark verschlingt, liefert nur irrelevante und langweilige Ergebnisse – ein Musterbeispiel dafür, wie die moderne Physik den Laien für dumm verkauft.Von Hans Graßmann

Graßmann, 39, lehrt Physik listen nennen es Aufhänger, New York. Die herkömmliche Physik kann an der Universität Udine in den es braucht, um einen das nicht, also müsse eine Chaostheorie her. Italien. Mehrere Jahre arbei- Aufsatz wie diesen auch nur Aber wenn tatsächlich ein einziger Schmet- tete er unter der Leitung beginnen zu können. Wie es terling eine relevante Auswirkung aufs Wet- des Nobelpreisträgers Carlo um das Verhältnis unserer ter hätte, so gäbe es sicher keinen Wetter- Rubbia am Forschungszen- Gesellschaft zu den Natur- bericht, bei all den Milliarden von Schmet- trum Cern bei Genf. 1994 war wissenschaften bestellt ist, terlingen und Vögeln und Blättern. Und so er im Fermilab bei Chicago konnte schon vorher sehen, geht das immerzu weiter. Ich weiß trotz der an der Entdeckung des Top- / D-DAY M. BRUZZO wer nur wollte. Es reicht, in Lektüre all jener Bücher bis heute nicht, Quarks beteiligt. In Büchern („Das Top einen Laden zu gehen und sich ein paar was das eigentlich sein soll: die Chaostheo- Quark, Picasso und Mercedes-Benz“, „Al- Bücher über eine der gegenwärtigen Mo- rie. Ich glaube, es gibt sie gar nicht. les Quark?“) versucht er, sein Fach einem detheorien zu kaufen – Chaostheorie etwa. In diesen Büchern steht nichts, was man breiten Publikum schmackhaft zu machen. Ich habe mir also Bücher über Chaos- verstehen könnte. Denn das Falsche oder theorie gekauft, mehr als ein Dutzend, si- Inhaltslose lässt sich nicht verstehen.Aber n Deutschland ist die Zahl der Studi- cherheitshalber. Da lese ich Zeugs wie es fehlt vielen Menschen am Mut zu den- enanfänger im Fach Physik in den letz- dies: Die Küste Englands sei unendlich lang, ken: „Ich versteh es nicht, folglich ist es Iten Jahren auf die Hälfte gefallen. Und das kriege man nur durch Fraktale in den entweder schlecht erklärt oder einfach nur das ist gut so. Es war höchste Zeit. Griff, deswegen brauche man die Chaos- unsinnig.“ Sondern sie glauben, es liege an Sicher wird nun wieder die Forderung theorie. In Wahrheit ist die Küste Englands ihnen, wenn sie nichts verstehen; Wissen- kommen nach noch mehr Geld für die For- aber gar nicht unendlich lang. Sie besteht ja schaft könne man offensichtlich nicht be- schung, um die Labors noch reicher aus- aus einer endlichen Zahl von Atomen end- greifen als Laie. Und bräuchte das wohl zustatten, die jungen Leute anzulocken mit licher Ausdehnung. Sollten wir die Existenz auch gar nicht, sonst würden jene Bücher der Aussicht auf einen sicheren Job, eine si- der Atome bereits wieder vergessen haben? doch wenigstens den Versuch unterneh- chere Rente. Zugegebenermaßen würde Ein einzelner Schmetterling im Urwald, men, es zu erklären. ein solcher Geldregen die Hörsäle sofort so lese ich weiter, könne einen Orkan aus- Auf die Spitze getrieben wird der Trend, wieder füllen. Fragt sich nur: Wofür? lösen, vielleicht in New York, vielleicht in das Wissen hinwegzulügen, durch die Be- Nun ist ja der drastische Rückgang der Europa, das müsse berechnet werden, damit hauptung, Wissenschaft könne gar nicht Studentenzahlen nur ein Anlass, Journa- es nicht unversehens einen Orkan gibt in verstanden werden ohne Mathematik. Als

232 der spiegel 44/1999 eines von vielen Beispielen ein Artikel aus Beispiel Desy, Hamburg, Großfor- deutung hat. Im Grunde genommen nicht der „Zeit“: „Naturwissenschaft lässt sich schungslabor für Teilchenphysik mit weit einmal für die Strukturforscher selbst, denn mit Bildern popularisieren, aber nur mit über 1000 Mitarbeitern und um die 250 die Messungen werden allmählich genauer Mathematik verstehen“, heißt es da („Die Millionen Mark Etat pro Jahr. Wissen Sie, als die theoretischen Vorhersagen, sind also Zeit“, Nr. 37/99, Seite 55). Stimmte das, so lieber Steuerzahler, was die „Teilchen- von nichts sagender Genauigkeit. Auf die- dürfte niemand die Bewegung der Erde physiker“ am Desy tun? Und vor allem, se Kritik antwortete der Desy-Mann, man um die Sonne verstehen, und wir müssten warum sie es tun? könne nun einmal so genau messen mit den immer noch glauben, es sei die Sonne, wel- Sie möchten es gerne wissen? Bitte sehr, Geräten, die man habe. Deshalb tue man es. che sich um die flache Erde dreht. Denn dies ist, was das Desy tut: Neben einigen Derartige Argumente sind zwar schlüs- kaum einer versteht die Differentialglei- weniger wichtigen Dingen studiert man vor sig, insofern als sie in sich widerspruchsfrei chungen, welche die Bahn der Planeten allem Pomeronen, Strukturfunktionen und sind. Man kann tatsächlich messen, was um die Sonne beschreiben. Selbst die Ma- Leptoquarks. (Diese Auflistung basiert auf man messen kann, und wenn man ein teu- thematiker, die doch angeblich als einzige einem Vortrag, den kürzlich ein leitender res Messgerät hat, so soll man es nutzen. die Physik verstehen, müssten noch beim Desy-Manager am Cern gab. Sie berück- Aber diese Schlüssigkeit wird erkauft um mittelalterlichen Bild des Sonnensystems sichtigt nur die Teilchenphysik, mein eige- den Preis, die Frage nach der Relevanz der verharren, denn die den Planetenbahnen nes Spezialgebiet.) Messungen explizit auszuklammern. zu Grunde liegenden Diffe- Bei den Leptoquarks hin- rentialgleichungen sind prin- gegen fehlt sogar die innere zipiell unlösbar. Ebenso we- Schlüssigkeit. Mit ihnen näm- nig kann man aus der Ma- lich verhält es sich so: Vor thematik die Existenz der drei Jahren hat man am Desy Atome ableiten oder die angeblich neue Physik ge- Thermodynamik noch sonst funden, die man damals mit etwas. dem Namen „Leptoquark- Woher kommt das, warum Teilchen“ benannt hat. In- versuchen so viele Leute, zwischen gibt es diese Lep- dem so genannten Laien ein- toquarks aber nicht mehr, zureden, er verstünde die wenn ich es recht verstanden Physik nicht? Es liegt am habe, aber dafür gibt es ir- Geld, woran sonst. Denn lei- gendeine andere neue Phy- der lässt sich viel Geld da- sik, die nicht einmal mehr ei- mit verdienen, den „Laien“ nen Namen zu haben scheint. für dumm zu verkaufen. Es Man habe „more events hat sich ein riesiger Markt than expected from the Stan- gebildet, auf dem nichts ge- dard Model“ beobachtet, so

tan wird, als den Laien für FOCUSSPL / AGENTUR lese ich ganz groß auf der dumm zu verkaufen. Ein Fraktales Gebilde: „Ich glaube, die Chaostheorie gibt es gar nicht“ Website des Desy (www. Bombengeschäft, weil man desy.de/pr-info/desy-recent- verkauft, ohne irgendwas selbst zu produ- Der Reihe nach: Ein Pomeron ist, wenn hera-results-feb 97_e.html). Genauer ge- zieren. man sich vorstellt, es gäbe ein Teilchen, sagt: Das lese ich, wenn ich mir meine Lai- Aber was ist es eigentlich, was man ver- das es aber gar nicht gibt, und dann be- enbrille aufsetze oder mir vorstelle, nur so kauft? Es ist das Ansehen, welches die For- rechnet, wie es aussähe, wenn es es gäbe. zum Beispiel, ich sei Sachbearbeiter im For- schung einmal zu Recht genossen hat, die Als am Ende des besagten Vortrages ein schungsministerium, vielleicht einer, der Autorität, die früher einmal der Verstand Theoretiker den Desy-Mann darauf hin- über Forschungsgelder entscheidet. Nun besaß. Die werden zu Cashflow, in bunte wies, dass heutzutage niemand mehr an muss man wissen: Für dieses „more events Büchlein verpackt, voller Fraktale. die Existenz eines Teilchens namens Po- than expected from the Standard Model“ Dieser Ausverkauf ist verheerend für die meron glaube, da war die Antwort, man wäre eigentlich der Nobelpreis fällig. Denn gesamte Gesellschaft, nicht nur für den ein- könne doch messen, was man wolle. Und wenn einer tatsächlich „mehr Ereignisse als zelnen Laien. Weil auch jeder Fachmann es sei doch egal, wie man das dann nenne vom Standardmodell erwartet“ beobach- Laie ist auf allen Gebieten außer auf sei- – warum nicht Pomeron? tet, so ist ihm die Ehrung in Stockholm si- nem Fachgebiet. Wenn ich aber Die Strukturfunktion des Pro- cher. als Physiker nicht mehr über tons beschreibt, wie das Proton Allerdings wird das alles ein wenig spä- Philosophie nachdenken darf, „Ein Pomeron (ein Bestandteil des Atomkerns) ter, im klein Gedruckten, schon wieder re- „weil ich ja kein Fachmann bin“, ist, wenn man aus kleineren Quark- und Gluon- lativiert. War, scheint’s, doch nicht so ge- wo soll das enden? Wenn ich am sich vorstellt, teilchen zusammengesetzt ist. meint. Und wenn ich meine Laienbrille ab- Ende selbst als Physiker nicht es gäbe ein Denn das Proton ist kein punkt- nehme und stattdessen meinen Doktorhut mehr über Physik nachdenken Teilchen, das förmiges Teilchen, sondern es hat aufsetze, so lese ich sogar das Gegenteil darf, weil ich ja kein Mathemati- eine innere Struktur. Entdeckt von dem, was in der Überschrift steht. In ker bin, der doch einzig die Phy- es aber gar wurde dies in Stanford vor über den entsprechenden Fachveröffentlichun- sik verstehen könne, angeblich: nicht gibt“ 40 Jahren. Die Protonstruktur gen jedenfalls ist von neuer Physik gar Wo soll das hinführen? wurde inzwischen – Zeit genug nichts mehr zu sehen. Es gibt keine neue Diese Entwicklung wird zum Horror, war ja – ziemlich genau vermessen. Das Physik am Desy. Das ist nicht meine per- wenn man weiß, dass sie sogar schon staat- Desy ist nun damit beschäftigt, jährlich sönliche Meinung, sondern das sagen die lich institutionalisiert ist. Auch ein Teil der neue Weltrekorde der Messgenauigkeit auf- Forscher des Desy in den für andere For- organisierten Forschung hat gemerkt, wie zustellen. Zum Beispiel zu messen, ob das scher bestimmten Schriften selbst. bequem es sich leben lässt, wenn man sich Proton bei einer bestimmten Energie 200 Wenn man wenigstens auf die Zukunft von der Allgemeinheit abschottet und dar- oder doch eher 205 Gluonen enthält – eine hoffen dürfte, das geht ja fast immer. Hier auf verzichtet zu erklären, was man ei- Frage, die weder für den Rest der Physik nicht. Für die Zukunft hat das Desy das gentlich tut. noch für den Rest der Welt irgendeine Be- „Hera-B“-Experiment organisiert: mit cir-

der spiegel 44/1999 233 Wissenschaft ca 300 Physikern (Techniker nicht mitge- zählt), und mit wie viel Geld, will ich lie- ber nicht wissen. Es ist das weltweit erste und einzige Experiment, das schon ge- scheitert ist, ehe es in Betrieb geht. Die Idee für Hera-B war folgende: Früher hat man geglaubt, Antiteilchen seien sozu- sagen das genaue Gegenteil der Teilchen. Seit einigen Jahrzehnten weiß man, dass das nicht immer der Fall ist, es gibt gele- gentlich eine kleine Abweichung vom ge- nau spiegelbildlich gegenteiligen Verhalten von Teilchen und Antiteilchen. Hera-B soll- te diese kleine Abweichung, den kleinen Unterschied zwischen dem b-Teilchen und dem Anti-b-Teilchen, studieren. Kennt man ihn genau genug, so lässt sich daraus ziem- lich eindeutig auf die ihm zu Grunde lie- genden Mechanismen schließen. Nun hätte Hera-B zwar so fein sowieso nicht messen können. Aber es hätte versu- chen sollen, den Unterschied bei den b- Teilchen wenigstens grob zu sehen, ehe das jemand anders schafft. Wäre nicht umwer- fend wichtig, denn in diesem Fall kommt es wirklich auf die Feinmessung an, aber eine nette Trophäe wäre es immerhin. Erstbesteigung des b- Teilchens, sozusagen. Doch alle Liebes- „Wenn die am müh vergeblich, die Desy sagen, Erstbesteigung hat das sei Physik, unterdessen ein ame- was sie ma- rikanischer Detektor chen, dann zu Wege gebracht, der leider nicht das glauben viele Taktgefühl aufbrach- das einfach“ te, Hera-B den Vor- tritt zu lassen, ein ziemlich großer, der das zum allgemeinen Entsetzen geradezu im Vorbeigehen erledigte; eigentlich war er dafür nicht einmal gemacht. Inzwischen sind auch schon Experimente angelaufen, welche die für Hera-B sowieso unmögli- chen Präzisionsmessungen in Angriff neh- men. Hera-B dümpelt derweilen halt so vor sich hin, alle Zeitpläne grotesk über- schritten, sämtliche Finanzrahmen ge- sprengt. (Dergleichen steht übrigens nicht auf der Desy-Website.) Die resultierende Verschwendung von Steuergeldern ist noch das wenigste, in so einem großen Staat gibt’s halt nun mal In- effizienzen.Wobei allerdings die insgesamt für die Physik verfügbaren Gelder begrenzt sind. Wenn sie zu einem erheblichen Teil auf Nimmerwiedersehen im Desy ver- schwinden, so findet im entsprechenden Ausmaß andere Physik eben nicht statt. Doch viel schlimmer ist dies: Das Desy genießt immer noch eine enorm große Au- torität.Wenn die sagen, das sei Physik, was sie da machen, dann glauben viele Men- schen das einfach – und wenden sich ab von der Physik, die ja offensichtlich lang- weilig ist und irrelevant. Auf den ersten Blick betrifft das zwar nur die Teilchen- physik, aber auf Grund seiner Größe do- miniert das Desy die öffentliche Wahrneh-

der spiegel 44/1999 mung der Physik überhaupt. Deshalb scha- det das Desy der Physik. Sperrt es zu. Weder bin ich gegen die Großforschung als solche noch gegen die Teilchenphysik. Ich bin selbst Teilchenphysiker. Die Frage zu beantworten, woher die Teilchen, woher also die Welt kommt und warum sie da ist, das wäre sicher 250 Millionen Mark wert. Ich finde, man könnte dafür sogar 250 Mil- liarden ausgeben, wenn man denn so viel Geld hätte. Aber ob das Proton bei einer bestimmten Energie 200 oder 205 Gluonen enthält, das ist nicht mehr wert als drei oder vier Doktorarbeiten. Wir befinden uns in einem Teufelskreis: Die Physik ist eindeutig auf dem Rückzug aus unserer Gesellschaft. Und das führt zu Zuständen, wie sie am Desy herrschen. Und das Desy wiederum, indem es be- hauptet, seine sinnlose Massenproduktion von Zahlenkolonnen sei Physik, treibt die- sen Rückzug weiter voran, unter Dampf gehalten von einer Unmenge verbrannter Steuergelder. Es besteht die Gefahr, dass eine sich immer besser organisierende, gleichgültig gemachte Spaßgesellschaft ir- gendwann nicht mehr in der Lage ist, die- sen Rückzug auch nur zu bemerken. So gesehen bin ich froh, das keiner mehr Physik studiert. Die jungen Leute haben doch etwas gemerkt! Das ist die einzige Hoffnung, die es noch gibt für die Physik. Vergleichen Sie die deutsche Physik vor und nach 1933, so sehen Sie in der Tat, dass man nach 1945 den Neuanfang der Physik ver- säumt hat. Wir sollten ihn nachholen. Wir sollten dabei nicht nur an die jungen Leute denken, wenngleich die sicher ent- scheidend sind, sondern auch an die alten: Ich war vor vielen Jahren Sommerstudent am Desy und habe dort hoch befähigte Phy- siker und Techniker kennen gelernt. Dar- unter Hofstadter selbst, den Entdecker der Protonstruktur. Menschen, die mich beein- druckt und beeinflusst haben. Aber diese Leute wirken nicht mehr nach außen. Die Physik erliegt dem Überhandnehmen der Organisationsmacht. Es muss auch heute noch Könner und Physiker im Desy einge- schlossen geben. Sie sollten wieder frei zum Geistesleben unserer Gesellschaft beitragen dürfen: Befreit sie aus dem Zauberberg. Glaubt den Desy-Managern nicht: Die öden Zahlenkolonnen, die das Desy pro- duziert, das ist nicht die Physik. Die wah- re Physik ist anders. Sie ist etwas außeror- dentlich Lebendiges, das von den letzten und äußersten Dingen handelt. Vom Le- ben zum Beispiel. Davon, woher die Welt kommt und warum sie da ist. Und davon, dass da draußen keineswegs das Nichts auf uns lauert, sondern das Etwas ist. Das sagt uns die Physik. Von Schönheit handelt sie und vom Denken, somit vom Bewusstsein. Davon, wer wir sind. Und warum. Und all das kann man durchaus verstehen, selbst ein Kind kann es verstehen. Mitschuldig, wer schweigt. Sperrt das Desy zu! ™

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Werbeseite schon seit mehreren Jahren regelmäßig ins fernöstliche Krisengebiet, um techni- sche Soforthilfe zu leisten. Mit Satelliten oder vom Flugzeug aus messen die Experten die Temperatur der Erdoberfläche. Rote Flecken auf den Infrarot- fotos zeigen an, wo es un- terirdisch glüht – Daten, die dazu dienen, ein Frühwarn- system für die örtliche Feu- erwehr aufzubauen. Noch allerdings ist die Hilfe kaum mehr als sym- bolisch. „Die Kohlevorkom- men in China sind riesig“, stöhnt Vekerdy.Manche der Brände fressen sich bereits seit Jahrhunderten durch die Steinkohle. Einige Flö- ze fangen von Natur aus Feuer. In den trockenen Gebirgsregionen lagern sie nahe der Erdoberfläche fern

A. PRAUASH jeglichen Grundwassers und Glühendes Kohleflöz in China: Eine der größten ökologischen Katastrophen der Welt neigen zu spontaner Selbst- entzündung. „Wenn die Kohle mit Sauerstoff in Berührung kommt, UMWELT entsteht durch die Oxidation Hitze“, erläu- tert der Aachener Geologe Ralf Littke.Wer- de diese nicht abgeführt, fange die Kohle Feuer unter China schließlich von selbst an zu brennen. Zur ökologischen Katastrophe wuchs Im Norden Chinas kokeln gewaltige Kohlelager vor sich hin. sich das chinesische Kohlefeuer jedoch erst durch die industrielle Steinkohle- Dabei entsteht viermal so viel Kohlendioxid wie im deutschen Förderung aus. „Nur zehn Prozent der Autoverkehr. Zum Löschen fehlen die Technik und das Geld. Brände sind natürlich entstanden“, glaubt

as Tor zur Hölle öffnet sich gleich Enschede. „Wir schätzen, dass die Kohle- hundertfach im Reich der Mitte. feuer in China zwei bis drei Prozent zum Der lange Brand DAus gähnenden Spalten steigt zi- weltweiten Kohlendioxidausstoß beitra- Kohlefeuer in Nordchina schend Rauch in den Himmel. Lodernde gen.“ Viermal so viel Treibhausgas wie alle Gesteinsmassen liegen in den Schlünden Autos Deutschlands zusammen bläst der offen zu Tage. Ganze Berghänge glühen. Schwelbrand demnach jährlich in die Luft. Der heiße Atem der Erde scheint nah zu Vekerdy reist mit seinen Kollegen vom ITC sein im Norden Chinas. Doch nicht Magma oder Lava brennt Risse ins Gestein. Hun- Heilongjiang derte von Kohleflözen sind es, die unun- Jilin terbrochen vor sich hin kokeln. Innere Tokio Während die Nationen der Welt derzeit Mongolei Pjöngjang auf der Klimakonferenz in Bonn um eine Ningxia Verringerung der Treibhausgas-Emissionen Seoul feilschen, spielt sich in Chinas Stein- Xinjiang Gansu PEKING kohlegürtel fast unbemerkt eine der welt- weit größten ökologischen Katastrophen ab. Bis zu 200 Millionen Tonnen Kohle lö- Shanxi Schanghai sen sich dort jährlich in Kohlendioxid und schwefelschwangeren Rauch auf. Manche Flöze brennen über eine Länge von 20 Ki- lometern. Andere Kohlefeuer reichen fast einhundert Meter tief in die Erde hinein. Taipeh Die Brände verteilen sich über eine Fläche, 500 km die fast so groß ist wie die der gesamten EU. Hongkong „Ein schwerwiegendes, globales Pro- Quelle: ITC blem“, sagt Zoltán Vekerdy vom Interna- tional Institute for Aerospace Survey and Hanoi brennende Kohleminen Earth Sciences (ITC) im niederländischen brennende Kohlefelder

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Vekerdy. „An allen anderen waren Men- den Kohlen sitzt nicht nur China.Weltweit richtet Tan. Ackerböden seien „öde und schen zumindest mitschuldig.“ fangen Kohleflöze Feuer. In 32 US-Staaten wüst“, das Wasser verschmutzt. Ganze Veraltete Minenanlagen und zu intensi- züngeln beispielsweise gelegentlich Flam- Wiesen und Wälder fangen Feuer. Der Hus- ve Nutzung der Flöze seien die Haupt- men aus der Erde. Entfacht werden die ten sei zur Volksseuche geworden, Magen- ursachen des Dramas. Beispiel Ningxia, ei- Feuer durch Blitzschlag, Steppenbrände und Darmkrankheiten grassierten. Auch nes der wichtigsten Kohleabbaugebiete oder Selbstentzündung. Doch mit moder- die Krebsrate liege höher als in anderen Chinas: In der rund tausend Kilometer nem Löschschaum, der sich um die Glut Gebieten. westlich von Peking gelegenen Region ver- legt und zu einem harten Panzer erstarrt, Vorsintflutlich mutet die Technik an, mit suchen die niederländischen Experten seit werden die Brände meist erstickt. der die Chinesen die Flächenbrände im 1996, neuen Bränden vorzubeugen. In industriellen Schwellenländern wie Untergrund zu stoppen versuchen. Ist bei- Die Kohle führenden Schichten er- Indonesien, Indien oder China fehlt den spielsweise in der Region Ningxia ein strecken sich hier über eine Fläche von 45 Ingenieuren diese Technik. Gerade diese Kohlebrand ausgemacht, rücken die Feu- Quadratkilometern. Eine der besten Stein- Staaten gehören zu den größten Kohle- erwehrleute mit Bulldozern und Lastwagen kohlen der Welt, schwefelarme Anthrazit- produzenten der Welt. Über eine Milliarde zu Werke. Großflächig verteilen sie feines kohle, wird in Ningxia für den Export ge- Tonnen Steinkohle werden jährlich aus der Schüttgut über den Flözen, um den im Ge- fördert. Doch selbst hier hat das schwarze chinesischen Erde geholt – 34 Prozent der stein schwelenden Brand zu ersticken. In Gold an 18 Stellen Feuer gefangen. Weltproduktion. Der fossile Schatz ver- den von der unterirdischen Hitze aufgeris- Bis zu 400 Grad messen die Geologen sorgt nicht nur China mit Energie. Etwa 30 senen Boden gießen sie Schlamm und Was- des ITC in den kaminartigen Bodenspalten, Millionen Tonnen Kohle exportiert das Rie- ser. Liegt die glühende Kohle an der Erd- die sich über den Bränden bilden. An der senland in alle Welt. Da ist es auch eine oberfläche, wird sie auf Laster verladen und andernorts zum Aus- glühen wieder abgelagert. „Die Brände sind teilweise schon lange in Gang und des- halb sehr großflächig“, kom- mentiert Vekerdy vom ITC. „Es ist extrem schwierig und gefährlich, sie zu löschen.“ Nur technische Hilfe der Industrieländer könne Abhil- fe schaffen, sagt der Experte. Die müssten schon aus eige- nem Interesse handeln, denn das aus der chinesischen Erde dampfende Kohlendioxid tra- ge auch in Europa und Ame- rika zur globalen Erwärmung bei. „Die entwickelten Län- der tragen hier notgedrungen eine Verantwortung“, mahnt Vekerdy. Die Schwelbrände im Fernen Osten zu löschen sei wahrscheinlich billiger und effektiver, als etwa die Kohlendioxid-Emissionen der Autos technisch weiter zu

BILDERBERG verringern. Kohleabbau im Norden Chinas: 30 Millionen Tonnen in alle Welt exportiert Auch die Chinesen glau- ben inzwischen nicht mehr Erdoberfläche über den Feuern erreichen wirtschaftliche Katastrophe, wenn der daran, das Problem allein bewältigen zu die Temperaturen „leicht hundert Grad“, Brennstoff statt in Kraftwerken und Hoch- können. Bislang würden die Feuer lediglich berichtet Vekerdy – für die nahen Dörfer öfen schon vor Ort verglüht. in den Kohleflözen von Ningxia und Xin- und ihre Bewohner eine ständige Gefahr, Chinesische Experten schätzen den Ver- jiang bekämpft, berichtet Chefingenieur die ihre Ursache häufig in der untaugli- lust durch die Kohlebrände auf jährlich Tan. Um die übrigen Brandherde kümme- chen Bergbautechnik der Chinesen habe. knapp fünf Milliarden Mark. Insgesamt sind re sich niemand. Viele Minen werden nicht richtig entlüf- seit den fünfziger Jahren nach Berechnun- „Wir hoffen auf finanzielle Unterstüt- tet und setzen Methan frei, das sich mit Luft gen des Geologischen Zentralamts für die zung der Uno“, sagt Tan.Auch Indien habe zu entzündlichem Grubengas vermischt. Kohlegebiete Chinas 4,2 Milliarden Tonnen von den Vereinten Nationen zur Bekämp- Veraltete Generatoren und Beleuchtungs- Steinkohle verbrannt – 85-mal so viel, wie fung von Kohlefeuern Kredite erhalten. Ob anlagen in den Minenstollen von Ningxia in Deutschland jährlich gefördert wird. Be- indes die Führung in Peking überhaupt be- sprühen Funken.Auch lässt der Kohleabbau sonders betroffen sollen neben Ningxia die reit ist, Geld für diesen Zweck aufzuneh- die Erdoberfläche reißen. Durch aufklaf- Regionen Xinjiang, Gansu, Shanxi, Jilin, men, hält Tan für fraglich. „Unsere Zen- fende Spalten strömt Sauerstoff in die Flö- Heilongjiang und die Innere Mongolei sein. tralregierung hat dringendere Aufgaben zu ze, der wiederum die Selbstentzündung be- „Das ökologische Gleichgewicht in diesen bewältigen als die Bekämpfung der Kohle- günstigt. „Niemand überwacht die Tempe- Gebieten ist zerstört“, sagt Tan Yongjie, feuer“, glaubt der Ingenieur. ratur in den Minen“, klagt Vekerdy. Chefingenieur des Zentralamtes. Ein Grund des Desinteresses: Es ist zu Dabei ist die Technik zur wirksamen Neben Kohlendioxid entstehen bei den viel Kohle vorhanden. Derzeit liegen Kontrolle und Vorhersage von Kohlebrän- Bränden auch gesundheitsschädliche in China rund 75 Millionen Tonnen auf den längst entwickelt. Denn auf glühen- Schwefel- und Stickstoffverbindungen, be- Halde. Philip Bethge, Andreas Lorenz

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Leichtbau-Werkstoff Kohlefaser, wodurch Unter wechselnden Besitzern, zeitweise AUTOMOBILE das Gewicht gegenüber dem Basismodell dem US-Konzern Chrysler, später einem Diablo SV um 40 Kilogramm auf 1,49 Ton- indonesischen Präsidentensohn, flossen Wut des nen gesenkt wurde. In dieser Größenord- weder die nötigen Investitionssummen in nung, meint Lamborghini-Chefentwickler den Betrieb noch sprossen wegweisende Massimo Ceccarani, „beginnt der Fahrer, strategische Visionen. Seit Jahren be- Bauernsohns einen Unterschied zu spüren“. Etwas Fein- schränkt sich die Produktpalette auf das gefühl ist dafür sicher erforderlich, denn Modell Diablo, dessen krawallige Formen- Mit dem neuen Diablo GT bietet der um 200 000 Mark billigere Einstiegs- sprache offenbar nicht gerade die vorbild- Diablo (530 PS) ist laut Werksangaben nur lichste Klientel anzieht. Als prominentes- Lamborghini den derzeit drei Stundenkilometer langsamer. Den ter Kunde wird der schwer erziehbare Box- schnellsten Straßensportwagen Spurt von 0 auf 100 km/h erledigen beide champion Mike Tyson genannt. an – ein neuer Superlativ Modelle in weniger als vier Sekunden. Im Juli 1998 erwarb die VW-Tochter Audi im ewigen Wettstreit mit Ferrari. Zweifellos dient der neue Diablo GT in die chronisch darbende Traumwagenfabrik. erster Linie als Marketing-Instrument ge- Seitdem, sagt Chefentwickler Ceccarani, as gelenkigste Autoradio der Welt gen den bislang stets überlegenen Erzriva- „haben wir einen Ansprechpartner, der un- fährt serienmäßig mit im neuen len Ferrari. Der Wettstreit begann der Le- sere Sprache versteht“ — allerdings auch DLamborghini Diablo GT. Auf gende nach in den sechziger Jahren mit einen, der eine sehr deutliche Sprache Knopfdruck schnurrt es elektrisch aus dem der Wut des Ferrari-Kunden Ferruccio spricht. Der damals fast fertige Diablo- Armaturenbrett hervor, dreht sich an ei- Lamborghini. Nachfolger wurde kurzerhand eingestellt. nem Gestänge um die eigene Achse und of- Der Bauernsohn und Traktorenfabrikant Die Form erschien den neuen Statthaltern fenbart an seiner flachen Unterseite einen hatte nacheinander vier Ferraris gekauft „zu weich“. In spätestens zwei Jahren soll kleinen Monitor. und an allen Probleme mit der Kupplung der Wagen in völlig neuem Kleid auf den Der Bildschirm, verbunden mit einer Ka- gehabt. Er beschwerte sich bei Firmenchef Markt kommen. mera am Wagenheck, dient als Tele-Rück- Enzo Ferrari und wurde schroff abgewie- Wenig später soll ein etwas günstigeres spiegel und löst erstmals ein Problem, das sen. Grimmig gründete er seine eigene Einstiegsmodell (um 250 000 Mark) mit Lamborghini-Fahrer seit jeher plagt: Beim Sportwagenfabrik. voraussichtlich zehn Zylindern folgen und Einparken sind die unübersichtlichen Bis heute, die zerstrittenen Firmengrün- die Gesamtverkaufszahl langfristig auf Sportwagen aus Sant’ Agata bei Bologna der sind längst tot, jagt die Marke Lam- über 1000 Lamborghinis pro Jahr anhe- ungefähr so gut zu manövrieren wie borghini, einen angreifenden Stier im Fir- ben. Für die Entwicklung steht nun das Lastzüge. Ihre Behändigkeit beschränkt menwappen, dem Konkurrenten Ferrari, gesamte Instrumentarium des VW-Kon- sich klar auf die Vorwärtsrichtung. dessen Emblem ein steigendes Pferd ziert, zerns bereit, einschließlich werkseigener Eine Spitzengeschwindigkeit von 338 ebenso erbittert wie erfolglos hinterher. Teststrecken. km/h erreicht der 575 PS starke und Kaum mehr als 200 Autos produziert die Bislang erfolgte die Fahrerprobung in 560000 Mark teure Diablo GT. Er ist damit Fabrik in Sant’ Agata pro Jahr, bei Ferrari einem eher provisorischen Umfeld. In Er- der schnellste erhältliche Straßensport- sind es etwa 3500. mangelung einer eigenen Teststrecke erle- wagen der Welt. Die Bestmarke persönlich digten die Versuchsfahrer ihre anzustreben, wird dem Kunden laut Her- Arbeit teils auf angemieteten stellerunterlagen jedoch „nicht empfoh- Pisten, teils auf den öffentli- len“. Sie wurde bei Versuchsfahrten ohne chen Straßen rund um Sant’ den stabilitätsfördernden, aber bremsen- Agata. Im Schutze stillschwei- den Heckspoiler erzielt, ist also ein eher gender Duldung der örtli- akademischer Wert. chen Polizei jagten die Proto- Die Karosserie des Diablo GT besteht zu typen zuweilen Kanonen- großen Teilen aus dem extrem teuren kugeln gleich über die Straßen der Po-Ebene. * Bergung des verunglückten Testwagens (r.) am 13. Diese Praxis, beteuert das Oktober bei Olbia. Management, gehöre definitiv der Vergangenheit an. „Die heroischen Zeiten sind vor- bei“, erklärt Chefentwickler

AP Ceccarani, der inzwischen ein generelles Verbot für ge- setzwidrige Freistil-Testfahrten ausgespro- chen hat. Getrübt wird das neue Bild der Vernunft indes durch einen tödlichen Unfall im Rah- men der Pressevorführung auf Sardinien. In der Nähe von Olbia fuhr ein Diablo GT, gesteuert von Werkstestfahrer Antonio Le- andro, 28, am 13. Oktober rücklings gegen einen Fiat Uno. Leandro und eine Insassin des Kleinwagens starben am Unfallort. Nach Aussagen der örtlichen Verkehrs- polizisten flogen die Trümmer etwa 350 Meter weit. Expertenschätzungen über die Geschwindigkeit des Lamborghini liegen noch nicht vor. Ein Polizist: „Sicher war er Lamborghini Diablo GT, Unfall-Diablo*: „Der Kunde spürt den Unterschied“ nicht langsam.“ Christian Wüst

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Werbeseite Technik AFP / DPA Atomraketen-Abschuss-Silo der russischen Armee: „Der Westen hat Angst, weil er nichts weiß“

system nicht ausreichend auf den Jahrtau- Atomköfferchen aktivieren, den zweiten COMPUTER sendwechsel vorbereitet sein könnte. Das Teil steuert der Verteidigungsminister mit Horrorszenario: Bei der Datumsumstel- seinem schwarzen Koffer bei, und schließ- Raketenstart um lung spielen plötzlich die russischen Mi- lich gibt der Chef des Generalstabs den litärcomputer verrückt, die Frühwarnsys- Rest der Zeichenfolge hinzu. teme gaukeln einen amerikanischen Ra- Selbst dann bleiben die Flugkörper noch Mitternacht ketenangriff vor – und es kommt zum im Silo. Jedes einzelne Projektil braucht Atomkrieg aus Versehen. einen gesonderten Einsatzbefehl und muss Droht ein Atomkrieg aus Bevor sich eine solche Katastrophe er- vor Ort aktiviert werden – exakt so, wie es eignet, so die Idee, sollen die russischen Kinogänger aus James-Bond-Filmen ken- Versehen? Westliche Militärs be- Besucher in Colorado im Notfall an die nen: Zwei Offiziere holen die Startschlüs- fürchten, dass die russischen Heimat melden, dass die Amis nicht eine sel aus dem Safe, stecken sie ins Steuerpult Frühwarnsysteme beim Jahrtau- einzige Rakete gestartet haben. „Sie sol- und müssen die Auslöser innerhalb von 20 sendwechsel verrückt spielen. len mit unseren Leuten zusammensitzen Sekunden synchron betätigen. Dann erst und sensible Daten des Frühwarnsys- startet die Rakete. tille herrscht in dem fensterlosen tems über mögliche Raketenstarts überwa- So viel menschliche Einmischung macht Raum. Angespannt starren die Uni- chen“, erläutert US-Verteidigungsminister einen computerverursachten Fehlstart na- Sformierten auf die Radarschirme. Je William Cohen. hezu unmöglich, versichert Nuklearexper- näher die Uhr auf Mitternacht rückt, desto Russische Militärs halten einen Rake- te Alexander Pikajew von der Moskauer nervöser wirken die Männer. Von ausge- ten-Fehlstart beim Jahrtausendwechsel al- Niederlassung der Carnegie-Stiftung. Al- lassener Silvester-Stimmung ist im Gebäu- lerdings für äußerst unwahrscheinlich. lerdings sei das noch lange kein Grund, de 1840 des neuen Raketenkontrollzen- „Der Westen hat Angst, weil er nichts sich erleichtert zurückzulehnen. „Das trums im amerikanischen Bundesstaat Co- weiß“, erklärt Igor Korotschenko, ein ehe- schwache Glied in der Kette ist das russi- lorado nichts zu spüren. maliger Oberst aus dem Generalstab und sche Frühwarnsystem“, warnt der Experte. Russische und amerikanische Militärs, heute Armee-Experte einer Moskauer Ta- „Damit hat es immer Probleme gegeben, so haben es die Verteidigungsminister bei- geszeitung. „Ein Raketenfehlstart, verur- und damit wird es immer wieder Proble- der Länder kürzlich vereinbart, sollen ge- sacht durch einen durchgedrehten Com- me geben.“ meinsam den Jahrtausendwechsel verbrin- puter – das ist völlig ausgeschlossen, schon Zu sowjetischen Zeiten verfügte die Ar- gen. Bereits Mitte Dezember werden die allein deshalb, weil bei uns viel zu viel per mee über neun Satelliten, die dazu dienten, Raketenexperten aus Moskau anreisen. Ihr Handbetrieb funktioniert.“ den Feuerschweif startender amerikani- Auftrag: den Weltuntergang zu verhindern. Tatsächlich soll ein komplexes Sicher- scher Raketen rechtzeitig zu erkennen. Das ungewöhnliche Jahr-2000-Treffen heitssystem dafür sorgen, dass keine russi- Sechs dieser Satelliten sind mittlerweile geht auf Initiative der Amerikaner zurück. sche Atomrakete irrtümlich abgefeuert ausgefallen, Ersatz gibt es nicht. Von neun Westliche Militärs sind in Sorge, dass Russ- wird. Als Erstes muss der Präsident den Frühwarnradaranlagen wiederum, die lands nukleares Führungs- und Kontroll- Teil eines Codes mit seinem so genannten Flugkörper bereits mehrere tausend Kilo-

248 der spiegel 44/1999 meter vor ihrem Eintreffen iden- als eine norwegisch-amerikanische tifizieren, arbeiten noch ganze Wetterrakete zur Erforschung des drei. Und während die Sowjet- Nordlichts. Und eigentlich hätten union sich zudem auf zehn die russischen Militärs davon wissen Nahwarnradare verlassen konn- müssen, denn einen Monat zuvor te, befinden sich nun sieben die- hatte die norwegische Regierung ser Stationen außerhalb des rus- Moskau über den geplanten Ab- sischen Territoriums. In den noch schuss informiert, so wie es inter- funktionierenden Teilen des rus- national üblich ist. Allerdings kam sischen Frühwarnsystems fällt diese Mitteilung niemals bei den zu- zudem regelmäßig der Strom ständigen Stellen an, sondern ging aus. im postsozialistischen Bürokratie-

„Von 24 Stunden in einer / REA LAIF R. WALLIS sumpf unter. Schicht sind wir mindestens Russische Atomraketen-Basis: Störanfälliges System Fehlmeldungen, Kommunika- sechs Stunden lang blind“, tionsprobleme, mögliche Panik- schätzt Iwan Safronow, Militärexperte der Safronow. „Das Einzige, was uns damals reaktionen – beim Jahrtausendwechsel Moskauer Tageszeitung „Kommersant gerettet hat, waren die Ruhe und die Be- wollen die Russen das Risiko so gering wie Daily“, der selbst jahrelang als Presseoffi- sonnenheit der Dienst habenden Profis. möglich halten. Aus diesem Grund haben zier bei den Raketenstreitkräften gedient Die haben nach kurzer Zeit erkannt, dass sie sich auch bereit erklärt, die Beobach- hat. Es läge durchaus im Bereich des Mög- es sich um eine Fehlmeldung handelt.“ tergruppe ins gemeinsame Frühwarn- lichen, so Safronow, dass das anfällige Ein falscher Alarm war es auch, der Bo- zentrum nach Colorado zu schicken. Frühwarnsystem den Jahrtausendwechsel ris Jelzin 1995 zum ersten Mal in seiner Nötig sei diese gemeinsame Silvester- nicht verkraftet und in der Silvesternacht Amtszeit zum Atomköfferchen greifen ließ: feier aber eigentlich nicht, meint Militär- oder an den darauf folgenden Tagen für Am frühen Morgen des 25. Januar melde- experte Safronow. In Wahrheit diene die falschen Alarm sorgt. te das Radar eine angreifende Militärrake- vertrauensbildende Maßnahme lediglich Als störanfällig erwies sich das System te aus Richtung Nordeuropa. Jelzin telefo- der Beruhigung der überängstlichen Ame- schon zu sowjetischen Zeiten.Am 26. Sep- nierte mit dem Verteidigungsministerium, rikaner. tember 1983 entdeckte ein Frühwarnsatel- gebannt verfolgten die Generäle die Flug- „Die Westler vertrauen immer auf ihre lit fünf aus amerikanischer Richtung an- bahn des Objekts. Alle waren erleichtert, Technik, wir dagegen lieber auf die Men- fliegende Raketen und löste Alarm aus. als die Rakete um 9.48 Uhr schließlich ins schen“, sagt Safronow. „Wenn ein Signal „Tatsächlich waren es nur ein paar Son- Nordmeer stürzte. kommt, wird es geprüft, dann wird nach- nenreflexe auf dem Wasser, die den Satel- Ein geplanter Absturz übrigens – der gedacht und noch mal überprüft. Dann erst liten in die Irre geführt hatten“, erzählt angebliche Angreifer war nichts anderes wird entschieden.“ Irina Schedrowa Werbeseite

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Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Grauzonen des Gemüts s ist Sommer: heiße Luft, tiefblauer EHimmel und „überall der Geruch nach getrocknetem Gras“. In den Ge- schichten von Kirsty Gunn aber löst die heitere Jahreszeit nur drückende Erinnerungen aus. Meist sind es Mäd- chen und junge Frauen, die in den elf Erzählungen dieses Buchs ihre Ge- danken schweifen lassen und dabei in den Grauzonen ihres Gemüts landen. Da ist jene Ich-Erzählerin, die in der Titelgeschichte „Zuhause ist, wohin du zurückkehrst“ an die unbeschwer- ten Sommer mit ihrer Schwester erin- nert. Im Haus der Großmutter erleben die beiden leuchtende Tage. „Zusam- men über die Wiese laufen, uns im Kreis um die eigene Achse drehen, rundherum und rundherum. Es musste so sein.“ Aber es liegt ein Schatten über

den fröhlichen Kinderspielen, fast un- D. SANDISON (gr.);FOTOS: (kl.) / DPA PA merklich wird die Heiterkeit trüb. Emin-Werk „My Bed“, Attentäter Jian, Yuan Gunn, 38, ist ein Meisterin darin, den Leser behutsam an den Abgrund zu KÜNSTLER führen, um ihn dann allein dort hinun- ter sehen zu lassen. In „Das Schwimm- bad“ etwa versengen Vandalen im Bett drei Geschwister mit einer Lupe Ameisen. er es selbst nicht weit gebracht zeigt „Mein Bett“, eine aufgewühlte, Die Kinder waren in What, schmarotzt gern als Attentä- mit Tampons, Kondomen, schmutziger der Kirche – obwohl ter an fremdem Ruhm – wie jener Unterwäsche und leeren Wodkaflaschen nicht Sonntag ist. sprichwörtliche Herostrat, der den Tem- garnierte Lagerstatt. Auf der will sie, Ganz allmählich pel von Ephesos anzündete. Seine von einem Freund verlassen, eine Wo- verdichtet sich die Künstler-Epigonen von heute sprayen che lang mit Selbstmordgedanken ge- Gewissheit, dass Dollar-Zeichen auf Malewitsch-Bilder, rungen haben. Zwei chinesische Künst- die Mutter der drei gießen Tinte in Damien-Hirst-Vitrinen ler aber, Jian Jun Xi und Yuan Cai, fühl- gerade erst beerdigt mit eingelegten Lämmern – oder sie ten sich eingeladen, halbnackt durch wurde. An den klei- hüpfen schwungvoll in ein ungemachtes Kissen und Laken zu tollen. Ehe sie nen Katastrophen Bett. So geschehen am 24. Oktober in dazu kamen, „Traceys Höschen anzule- der Kindheit sind in Gunns Erzählun- der Londoner Tate Gallery. Da war ge- gen“, ja „einen Geschlechtsakt zu voll- gen fast immer die Erwachsenen rade die Kandidaten-Schau für den dies- ziehen“, wie es ihrer Meinung nach dem schuld, die selbst mit ihren Kindheits- jährigen Turner Prize eröffnet worden, Werk entsprochen hätte, schritten Tate- erinnerungen zu kämpfen haben. Ein zumeist mit kühlen Film- und Foto-In- Aufseher ein. Tags darauf war das Bett neurotischer Kreislauf, den die neu- stallationen. Nur Tracey Emin, 35, dank wieder leidlich so in Unordnung, wie seeländische Autorin beklemmend Enthüllungen aus angeblichem Kind- von der Künstlerin arrangiert. Eine schildert. heitselend und turbulentem Sexleben durch deren Gejammer schwer gerühr- zum hoch bezahlten „Bad Girl“ der bri- te „Independent“-Kolumnistin wünscht tischen Kunst aufgestiegen, gibt sich ihr nun aber doch, sie würde mal „ihr Kirsty Gunn: „Zuhause ist, wohin du zurückkehrst“. Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries. wieder ungeschönt autobiografisch. Sie Bett machen und etwas anderes tun“. Berlin Verlag, Berlin; 216 Seiten; 38 Mark.

HOLLYWOOD während der siebziger Jahre, als „dieses Land vom Hasch zum Koks wechselte“, Johnny Depp als Mann erklärt Regisseur Ted Demme. Die Hauptrolle, einen Kokain-Dealer, spielt mit dem Koks Hollywoods notorischer Mainstream- Verweigerer Johnny Depp, der schon ollywood steigt ins Drogen-Ge- vor wie hinter der Kamera mit Drogen Hschäft ein: „Blow“, so der Titel ei- herumexperimentiert hat. Erst letztes nes aktuellen Großprojekts, zeigt den TOBIS Jahr war Depp in der LSD-Saga „Fear Siegeszug des Kokains in den USA Depp (in „Fear and Loathing in Las Vegas“) and Loathing in Las Vegas“ zu sehen.

der spiegel 44/1999 253 Szene

MUSIK Smarter Chopin-Kraftakt ianisten, die auch dirigieren, machen Pmeist nichts Halbes, geschweige denn Ganzes: An den Tasten und mit dem Taktstock sind sie regelmäßig überfordert. Nun hat der polnische Kla- viervirtuose Krystian Zimerman, 42, endlich einmal vorgeführt, dass sich so ein Doppel-Job durchaus zweifach auszahlen kann. In Er- füllung einer patrioti- schen Pflicht, zum 150. Todestag seines Lands- manns Frédéric Chopin (1810 bis 1849), liefert Darger-Aquarell „Sie befreien sich aus der Gefangenschaft“ er nicht nur eine Neu- aufnahme der beiden KUNST Klavierkonzerte (Deut- sche Grammophon 459 684-2), sondern Erotische Außenseiter gleich eine stereofone Sensation. Nicht nur, in „wirklicher Künstler“, fand der denn, er wird von Szene-Insidern er- dass er seinen Solopart, ESonderling, brauche „keine Unter- späht und als unverfälschtes Naturge- diese Mischung aus weisung“, dafür bleibe er auf seiner wächs gewürdigt. So jetzt beim Kölni- smarter Noblesse und „Seite des Lebens“, die „große Mehr- schen Kunstverein, der unter dem

S. BAYAT / DGG S. BAYAT pianistischem Kraftakt, heit“ hingegen auf der anderen. Eugene Schau-Titel „Obsession“ vier erotisch Zimerman mit lupenreiner Ele- von Bruenchenhein wusste, wovon er inspirierte „Outsider“ aus den USA ganz und herrlich safti- sprach. Er war brav seinem Brotberuf in vorstellt (bis 23. Dezember). Neben gem Zugriff hinlegt; verblüffender noch einer Bäckerei in Milwaukee nachge- Bruenchenhein sind das Morton Bart- ist seine Feinarbeit mit dem neuen gangen, bevor er wild zu malen anfing lett, der sich eine Gesellschaft niedli- „Polish Festival Orchestra“. Während und in endlosen Fotositzungen daheim cher Kindfrauen zusammenmodellierte, das Chopin-Tutti von etablierten Mae- seine phantastisch ver- und entkleidete Henry Darger mit comicartigen Mäd- stros stets lustlos runtergepinselt wird Ehefrau zum Pin-up verklärte. Erst nach chenidyllen und -martyrien sowie Paul und dabei zu blutleerem Background Bruenchenheins Tod 1983 kam seine Humphrey, der vorgefundene Frauenbil- verblasst, zaubert der Klavier spielende Manie an den Tag. Wohl wahr: Außen- der durch Übermalung systematisch in Kapellmeister Zimerman aus dem 55- seiter sind die Künstler allemal, aber „Sleeping Beauties“ verwandelte, bevor köpfigen Ensemble eine ungeahnte Fül- wer gleichermaßen fernab von Tradition er jüngst selber die Augen schloss. le von Nuancen in hoch romantischer wie Avantgarde die persönliche Macke „Vielleicht“, überlegte er, „bin ich ver- Schwelgerei. pflegt, ist doppelt draußen – es sei rückt. Das hilft, in dieser Welt zu sein.“

Kino in Kürze

herumdoktern. Doch die Biester erweisen sich als unerwartet renitent; die Forschungsstation säuft ab, selbst in der Labor- küche schwappt überall „Deep Blue Sea“ – und mittendrin schwimmen, logisch, die heimtückischen Rückenflossenträger. Regisseur Harlin kombiniert dabei Versatzstücke aus „Alien“ und den „Zehn kleinen Negerlein“, auch wenn er die Genre- Bezeichung Reißer manchmal allzu wörtlich nimmt.

„Little Tony“. Eine Prise Ohnsorgtheater, eine Prise Sex, zwei Pri- sen schwärzeste Anarchie – nach diesem Rezept hat der Hollän- der Alex van Warmerdam seinen lapidaren, unberechenbaren

WARNER BROS. WARNER Leinwandschwank gedreht: Ein Bauer (Warmerdam selbst) Szene aus „Deep Blue Sea“ steht zwischen zwei Frauen, verheiratet mit der einen, verliebt in die andere. Doch die Gattin verkneift sich ihre Eifersucht, „Deep Blue Sea“. Und der Haifisch, der hat inzwischen die drit- weil sie die Nebenbuhlerin einspannen will: als Mutter des Ba- ten Zähne: 25 Jahre nach Steven Spielbergs Klassiker „Der bys, das sie selbst nicht bekommen kann. „Little Tony“ wird in weiße Hai“ hat jetzt auch der finnische Action-Regisseur Renny ein Bermudadreieck der Gefühle hinein geboren. Wo sich bei Harlin („Stirb langsam 2“) Unterwasserkameras und Blutkon- Ohnsorgs am Ende immer alles in Wohlgefallen auflöst, wird serven ausgepackt. Als Fischfutter in spe dienen ehrgeizige hier Mord und Totschlag fällig. Drei Menschen und ein Baby – Wissenschaftler, die in einem Meereslabor an lebenden Haien das ist ganz entschieden eine Person zu viel.

254 der spiegel 44/1999 Kultur

AKADEMIKER SPIEGEL: Sie haben Stimmen vom Lite- raturwissenschaftler bis zum Juristen Am Rande „Traurige Formblindheit“ und Geologen eingeholt. Aber keiner gibt der Schule die Schuld für die Uni- Wolf-Dieter Narr, 62, Politologe in Ber- Schreibmisere. Warum? Waren wir blöd! lin, über die Kommunikationsprobleme Narr: Da sitzen wir doch im Glashaus. von Studenten und Dozenten, die er so- Wir wollen nicht Ohrfeigen verteilen, Noch achtmal eben in dem Aufsatzband „Lust und sondern Angst abbauen und Hilfe geben. werden wir wie- Last des wissenschaftlichen Schreibens“ SPIEGEL: Neben Stolz aufs Handwerk der wach, dann (Suhrkamp Verlag) dokumentiert hat klingt in manchem Beitrag hartnäckige ist großer Mauer- Schreib-Unlust durch. Sollte einer, der fall-Tach – dann SPIEGEL: Herr Professor Narr, wie ka- nicht gern formuliert, die Uni meiden? ist es genau zehn men Sie und Ihr Kollege Joachim Stary Narr: Seine Schreibqual zu bekennen ist darauf, Tipps und Kniffe zum Schreiben natürlich eine Form bescheidenen Auf- Jahre her, dass zu sammeln? tretens. Wer sich aber wirklich nicht die Besitzer stinkender Trabis ins Narr: In allen Fächern wird die Darstel- ausdrücken mag, sollte in der Tat über- ruhige Charlottenburg einfielen lung von Gedanken viel zu wenig legen, ob er ins akademische Geschäft und „Wahnsinn! Wahnsinn!“ rie- geübt. Statt eleganter Gliederung und einsteigt. fen, immer nur „Wahnsinn! Wahn- Ausdrucksweise regiert oft traurige SPIEGEL: Die Ratschläge fallen ganz ver- Formblindheit. Dagegen bieten wir Se- schieden aus: Naturwissenschaftler war- sinn!“ Dieser historische Augen- minare an. Es lag nahe, sich auch bei nen vor Schachtelsätzen, Geisteswissen- blick muss gefeiert werden – mit anderen erfahrenen Schreibern zu er- schaftler vor Jargon. Bleibt es bei den einem 43 Kilometer langen Lich- kundigen. zwei Kulturen wie eh und je? terband, dem Bundesjugendjazz- Narr: Es sind sogar mehr orchester, George Bush, Michail als zwei. Jedes Fach hat Gorbatschow und Gerhard-the- andere Sprachprobleme. Das könnte sich in Zu- wall-Schröder sowie einem Feuer- kunft noch verschärfen, werk am Brandenburger Tor. zum Schaden der Allge- Wahnsinn. Nur wenige bleiben da meinverständlichkeit und gelassen und nachdenklich. Einige damit der Demokratie. besonders Nachdenkliche haben SPIEGEL: Mutige Worte, ein riesiges Transparent an die Fas- wo Sie das Virus schon im Haus haben: „Teleologi- sade eines jener Hochhäuser ange- sche Funktionsdifferen- bracht, die den Ruf des Berliner zierung“ – solche Ungetü- Alexanderplatzes als Rollfeld der me lauern auch in Ihrem sibirischen Steppe rechtfertigen: Buch. „Wir waren das Volk“, mahnt es Narr: Richtig. Wir haben von der eisigen Höhe des dialekti- bewusst kaum redigierend eingegriffen. Die Kollegen schen Gedankens herab. Geschich- zeigen eben selbst einen te als zynischer Austausch von Prä-

M. WEISS / OSTKREUZ Teil des Problems, über sens gegen Imperfekt – wer hat uns Narr das sie schreiben. verraten? Wessi-Demokraten! So- gleich schwirren uns die Obertöne in den schmerzempfindlichen Wes- si-Ohren: „Jetzt sind wir nur noch BUCHMARKT mittelt vom Fachmagazin „Buchreport“, taucht Lafontaine gleichwohl – noch – Untertanen.Wir wollten Guatema- Das Herz schlägt ein nicht auf: Dort werden nur solche la-Bananen, den Opel Ascona und Bücher aufgenommen, die die Buch- Gerechtigkeit und haben Herta skar Lafontaines Abrechnung „Das händler nicht nur bestellt, sondern Däubler-Gmelin bekommen!“ Böse Herz schlägt links“ entwickelt tatsächlich verkauft haben. „Lafontaines O Sache. sich zum Hit des Bücherherbstes: Am Durchmarsch auf die vorderen Ränge vergangenen Donnerstag wurde die der Bestsellerliste“, prophezeit „Buch- Des Nachts aber, wenn man mit fünfte Auflage ausgeliefert. Damit hat report“-Chefredakteur Uwe Schmid, dem Fahrrad, Leander Haußmanns der Münchner Econ-Verlag inzwischen „wird nächste Woche kommen.“ netten DDR-Erinnerungsauffri- 270000 Exemplare der Erinnerungen des schungsfilm „Sonnenallee“ im Polit-Pensionärs abgesetzt. „Die sechste Kopf, an jener bitter-sauren Mah- und siebte Auflage“, so eine Econ-Spre- cherin, „sind in Planung“ – und wohl nung vorbeiradelt, fällt einem eine auch erforderlich, um wenigstens Lafon- kleine Variation ein: „40 Jahre taines Garantie-Honorar (rund 800000 waren wir das Volk – und haben es Mark) wieder einzuspielen. Auf der nicht gemerkt!“ Kürzer und trans- SPIEGEL-Bestsellerliste, wöchentlich er- parenttauglich: „Leute, waren wir blöd!“ Wahnsinn, Deutschland.

Lafontaine (auf der Frankfurter Buchmesse) WEGNER / LAIF 255 Kultur

AUTOREN Sinfonie der tausend Aufzeichnungen aus der Nazi-Zeit gelten seit dem Erfolg von Victor Klemperers Tagebüchern als Buchmarkt-Hits. Nun folgen weitere Notizen von Tätern und Opfern, einige davon neu ediert – allen voran Walter Kempowski mit dem zweiten Teil seines „Echolots“. Von Volker Hage CINETEXT

ARD-Fernsehserie „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“*: „Auf alles das steht im 3. Reich für mich der Tod“

er gute Tagebuchschreiber, notierte Eines zumindest hat vor wenigen Jahren Bänden rund 3200 Seiten 1920 die Schriftstellerin Virginia der überraschende Erfolg von zwei auf umfasste, sind knapp 50000 DWoolf, schreibe entweder für sich Tagebüchern basierenden Buchkassetten Exemplare verkauft wor- allein oder für eine Nachwelt „in so weiter nachdrücklich widerlegt: die Behauptung den (davon etwa 18000 als DRESDEN FOTOTHEK DT. Ferne, dass sie ruhig jedes Geheimnis hören nämlich, in Deutschland wolle niemand Taschenbuch). Und auf gut Klemperer (1946) und jedes Motiv gerecht abwägen kann“. mehr etwas über den Zweiten Weltkrieg, 270000 (davon 100000 als Für „ein solches Publikum“ seien weder über das Alltagsleben in der Diktatur und Taschenbuch) haben es mittlerweile die Geziertheit noch Zurückhaltung nötig. die mörderische Jagd auf die europäischen ersten beiden – die Jahre 1933 bis 1945 Gilt das ebenfalls für Tagebücher, die Juden hören. nachzeichnenden – Bände der Tagebücher knapp zwei Jahrzehnte danach entstanden Von Walter Kempowskis kollektivem Ta- des jüdischen Romanisten Victor Klempe- sind? Geschrieben 1939 und in den folgen- gebuch „Das Echolot“ (1993), einer Mon- rer (1881 bis 1960) gebracht, der das Dritte den Jahren in deutschen Lagern oder deut- tage unterschiedlichster Stimmen aus dem Reich in Dresden überlebte: „Ich will schen Trümmerstädten, an der Front oder Zeitraum von Anfang Januar bis Ende Fe- Zeugnis ablegen bis zum letzten“ (1995). auf der Flucht? Will man wirklich jedes bruar 1943, deren erste Lieferung in vier Im deutschen Fernsehen läuft derzeit Geheimnis hören – und lässt sich heute je- eine zwölfteilige TV-Adaptation dieser des Motiv gerecht abwägen? * Mit Dagmar Manzel und Matthias Habich. akribischen Aufzeichnungen („Klemperer

256 der spiegel 44/1999 W. STAHR W. DT. FOTOTHEK DRESDEN FOTOTHEK DT. Bombenopfer auf dem Dresdner Altmarkt (1945), Autor Kempowski: „Den Russen zeigen, was das Bomberkommando kann“

– Ein Leben in Deutschland“), weitere caust und die Welt des Krieges am Ende zu gerade stattfindenden Luftangriff auf das Bände der Tagebücher des Autors aus der einem Modethema werden. nahe München äußerte („Die schönste Mu- Zeit vor 1933 und nach 1945 sind inzwi- Das zeitliche Zusammentreffen des Er- sik, die ich kenne“): Gewiss sei diese Bom- schen ebenfalls erschienen. scheinens (oder der Wiederveröffentli- bardierung für den Sieg notwendig, schrieb Nun folgen in diesem Herbst, als wäre chung) von Journalen aus dem Volk der Tä- er, zugleich aber müsse man doch fühlen, vor dem Jahrhundertende Eile geboten, ter wie aus den Reihen der Opfer rückt „dass sich hier eine Tragödie abspielt“. gleich eine ganze Reihe weiterer, zum Teil zunächst noch einmal jene unwiderrufliche Selbst bei jenen, die dieser Tragödie in wiederum äußerst umfangreicher Tage- Diskrepanz ins Bewusstsein, die sich schon den Bunkern und Luftschutzkellern aus- buch-Editionen aus der Nazi-Zeit: an der ungleichen Zahl der Zeugnisse ab- gesetzt waren, zumeist Frauen und Kin- π Kempowski, 70, liefert noch einmal vier lesen lässt: Den Millionen im KZ Ermor- dern, lassen sich Zeugnisse differenzierter Bände seines „Echolots“ nach, dieses deten war es weder erlaubt noch überhaupt Wahrnehmung finden. „Wir kamen gerade Mal mehr als 3400 Seiten aus der Zeit möglich,Aufzeichnungen zu machen – von noch zur rechten Zeit in den Hauskeller“, vom 12. Januar bis 14. Februar 1945; den wenigen Ausnahmen ist wiederum nur notierte die damals 18 Jahre alte Erika S. π der Fernsehautor Heinrich Breloer, 57, ein Bruchteil erhalten geblieben. Dem am 12. März 1945 in Hamburg. „Es dröhn- hat unter dem Titel „Geheime Welten“ steht, wie nun immer deutlicher wird, eine te, der Fußboden schien sich zu heben, al- für die „Andere Bibliothek“ eine neue immense Zahl privater Notizen aus dem les schaukelte … Das Licht ging aus – wie- Auswahl aus seiner schon vor vielen Jah- deutschen Kriegsalltag gegenüber. der an, aus … und blieb dann aus.“ Trotz ren veröffentlichten und in einer TV-Se- Immerhin konnten Überlebende aus der Schrecken des Bombardements resü- rie verarbeiteten Sammlung deutscher dem KZ Dachau nach dem Krieg alles in miert die Jugendliche aus sozialdemokra- Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1947 allem etwa 50 Protokolle, Berichte und Ta- tischem Elternhaus (der Vater wurde mehr- getroffen; gebücher vorlegen, wie Wilfried F. Schoel- fach von der Gestapo verhaftet): „Es ist π im früheren DDR-Verlag Volk & Welt ist ler im Nachwort zu Nico Rosts Dachau- ganz furchtbar, aber wenn es den Krieg eine Neuausgabe des 1948 erstmals dort Aufzeichnungen berichtet, einem Tage- verkürzt, ist es ja gut und hilft allen, wenn edierten KZ-Tagebuchs „Goethe in buch, das einen geradezu anrührend ver- auch Opfer gebracht werden müssen.“ Dachau“ erschienen, das der Nieder- söhnlichen Grundton hat, geschrieben von Heinrich Breloer präsentiert in seiner länder Nico Rost (1896 bis 1967) zwi- einem für die deutsche Literatur schwär- Sammlung „Geheime Welten“, wo diese schen Juni 1944 und April 1945 im Lager menden Journalisten und Übersetzer aus Notizen nachgedruckt sind, eine Reihe von skizzierte und nach der Befreiung aus- Holland, der lange in Berlin gelebt hatte Regimegegnern mit eindrucksvoll kriti- arbeitete; und sich im Lager mit Werken von Goethe, schen Äußerungen neben überzeugten π für November hat der Verlag Das Do- Jean Paul und Rilke in eine Gegenwelt Nazi-Anhängern mit Ergebenheitsadres- kument einen knapp 1700 Seiten um- zurückzog, die ihm den zum Überleben sen – wie jene der jugendlichen Edelgard fassenden Band im Großformat an- nötigen psychischen Rückhalt gewährte. B. aus Siegen (Januar 1945): „Unser armer, gekündigt, der unter dem Titel „Das Rost konnte den Tod eines deutschen La- armer Führer, der wird wohl keine Nacht Leben im Krieg“ die zwischen 1939 und gerhäftlings mit den Worten „Ein typischer mehr schlafen und hat doch mit Deutsch- 1946 verfassten Tagebücher von Paul- Deutscher von der allerbesten Art“ betrau- land das Beste im Auge gehabt.“ heinz Wantzen (1901 bis 1974) enthalten ern und sich darüber empören, wenn ein an- Die Sammlung, die umfangreicher schon soll, einem Journalisten aus dem Müns- derer Mithäftling sich begeistert über einen einmal 1984 in der Kölner Verlagsgesell- terland, der seine Erlebnisse handschriftlich in 19 Bü- Autor Rost, KZ-Häftlinge in Dachau: Mit Goethe, Jean Paul und Rilke in einer Gegenwelt chern von zusammen 6100 Seiten notierte. Woher diese Massierung? Warum gerade jetzt? Die in dieser Größenordnung uner- warteten Erfolge der Edi- tionen von Kempowski und Klemperer erklären allenfalls den Mut der Verlage zu immer neuen Unternehmungen die- ser Art. Die Frage bleibt, wem mit einer derartigen Häufung

gedient ist – und ob der Holo- H. PÖLLOT AKG Werbeseite

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Werbeseite Kultur Ein Volk von Umfallern Der Bericht der jüdischen Journalistin Käthe Vordtriede, ursprünglich verfasst für ein US-Preisausschreiben, schildert die Brutalität des Nazi-Alltags in der Provinz.

m 17. März 1933 wurde die voller Sarkasmus. Dass ihr manchmal „Volkswacht“ in Freiburg er- auch Hass und Wut die Feder führen, Aobert. Das heißt, SA- und SS- verkennt und verhehlt sie nicht. Männer stürmten das Gebäude, in dem Besonders genau nimmt Vordtriede die Zeitung der Sozialdemokraten her- die Kommunisten aufs Korn. Die wohn- gestellt wurde, plünderten und ver- ten in der „Laubenkolonie“ nahe ihrem wüsteten es, beschmierten die Wasch- Wohnviertel Haslach und schlüpften räume mit Kot und warfen Papier, 1933 „geschwind und fast restlos in die Lettern und Schreibmaschinen auf die braunen SA-Hosen“, schreibt sie. Un- Straße, zum Gaudium der dort ver- ter ihnen waren „die schlimmsten De- sammelten Menge. nunzianten“ und „die grauenhaftesten Käthe Vordtriede, Lokalredakteurin Peiniger in den Konzentrationslagern“. des Blatts, sah dem Vandalismus zu, te- Am 1. April 1933, dem Tag des so ge- lefonierte ergebnislos mit der Polizei nannten Judenboykotts, sieht sie einen und einem Anwalt und stellte sich SA-Mann vor einem jüdischen Waren- dann, eine Zigarette im Mund, ans haus postiert, „dessen Familie ich Weih- Fenster. „Raus mit der Marxistenhe- nachten 1932 von Kopf bis Fuß mit den xe!“, brüllte der Mob und versuchte, warmen Sachen eingekleidet hatte, die die „Volksfeindin“ zu lynchen. mir der jüdische Inhaber dieses Wa- NS-Begeisterung in Freiburg*: Lauter Opportunisten Wie ausgewechselt gebärdete sich renhauses als Spende für die Arbeiter- nach diesem Tag die Belegschaft des wohlfahrt geschenkt hatte“. den inneren Zustand des „Dritten Rei- SPD-Blatts. Vom Geschäftsführer bis Vordtriede schrieb ihren Bericht ches“ zu machen: durch Zeugnisse wie zur Putzfrau – alle dienerten vor den nicht für ein Leserpublikum – eine Ver- das von Käthe Vordtriede. neuen Herren. Sogar der politische Re- öffentlichung war 1940 in der politisch Politisch gesehen hält sie die Deut- dakteur Reinhold Zumtobel wechsel- taktierenden Schweiz kaum vorstell- schen für erledigt, für „Sklaven, die te, nachdem er aus dem KZ entlassen bar. Ihre Adressaten waren drei Pro- vergessen haben, dass sie in Freiheit worden war, auf die Seite der Sieger fessoren der Harvard University, die aufgewachsen sind“. und gab ein antisemitisches Buch her- die „gesellschaftlichen und seelischen Ihre beiden Kinder hatte Vordt- aus. Opportunismus überall: Käthe Wirkungen des Nationalsozialismus auf riede schon früh ins Ausland geschickt; Vordtriede beobachtet charakterlose die deutsche Gesellschaft“ erforschen ihr selbst gelang erst in letzter Minute Anpasser, eilfertige Speichellecker, De- wollten und das Material dazu mit Hil- und unter abenteuerlichen Umstän- nunzianten und Profiteure in allen fe eines Preisausschreibens suchten. den die Flucht. Am 2. September 1939 Schichten, quer durch alle Gut 200 Texte gingen in steht sie auf dem Basler Bahnhofs- Lager – und schreibt es auf. Cambridge (Massachusetts) vorplatz. Mit dem Stoßseufzer „Ich Ihr Bericht „Es gibt Zei- ein. Käthe Vordtriedes Ar- war gerettet“ endet der Bericht. ten, in denen man welkt“, beit erschien der Jury so Aber erst 1941 gelangte sie in die im Schweizer Exil verfasst, interessant, dass einer der Vereinigten Staaten und wirklich in im Nachlass eines US-Ge- Preisrichter, der Soziologe Sicherheit. heimdienstlers entdeckt und Edward Hartshorne, sie mit Ihre Hoffnung, wenn schon keinen jetzt erstmals veröffentlicht, nach Washington nahm, zu Preis für ihren Bericht, dann doch ist ein einzigartiges Doku- seinem neuen Arbeitgeber: wenigstens „eine winzige Sekretärs- ment über sechs Jahre Hitle- dem „Coordinator of Infor- stelle an einer University“ zu erhal- rei in der Provinz**. mation“. Das war der neue ten, erfüllte sich nicht. In den folgen-

Die haben Vordtriedes SCHILLER NATIONALMUSEUM zentrale Auslands-Geheim- den Jahren fristete die glänzende Landsleute bis zur Unkennt- Vordtriede dienst der Vereinigten Journalistin ein Dasein unter erbärm- lichkeit verändert. Ein Volk Staaten, der bald in OSS – lichen Bedingungen. Die 50-Jährige von Umfallern, gierig, gewalttätig und „Office of Strategic Services“ – umbe- muss sich als Putzfrau und Haushalts- gemein: so ihr Fazit. Das Urteil ist un- nannt und zur Legende wurde. hilfe verdingen. erbittlich, die politische Analyse der Die Abteilung, in der Hartshorne ar- Käthe Vordtriede spürt, dass ihre überzeugten Marxistin ungleich schär- beitete, versuchte sich – das war eine Fähigkeiten auf immer brachliegen fer als die des eher weltfremden Pro- kriegswichtige Aufgabe – ein Bild über werden. Ihre Verbitterung wächst, fessors Victor Klemperer, dessen Tage- auch in den Briefen an die Kinder. bücher eine Welle des Interesses am * Einzug der Division Richter am 23. Juli 1940. 1964 stirbt sie, nach mehreren Herzan- Alltag im „Dritten Reich“ ausgelöst ha- ** Käthe Vordtriede: „,Es gibt Zeiten, in denen man fällen, in ihrer New Yorker Wohnung – welkt‘. Mein Leben in Deutschland vor und nach ben. Vordtriedes Sprache ist nüchtern 1933“. Hrsg. von Detlef Garz. Libelle Verlag, Leng- es dauert eine Woche, bis sie gefunden und direkt, ohne Larmoyanz, dafür wil (Schweiz); 280 Seiten; 39 Mark. wird. Martin Ebel

260 der spiegel 44/1999 schaft Schulfernsehen erschienen war, ist ein überschaubares Kaleidoskop aus nun- mehr zwölf Tagebüchern, die in sich ge- Heinrich Breloer (Hrsg.): Nico Rost: schlossen (freilich gekürzt) angeordnet sind „Geheime Welten. „Goethe in Dachau“. – ergänzt jeweils um einen kurzen Le- Deutsche Tagebücher Hrsg. von Wilfried F. benslauf und Auszüge aus Fernseh-Inter- aus den Jahren Schoeller, aus dem views mit den Tagebuchschreibern. 1939 bis 1947“. Niederländischen von Problematisch sind dabei weniger die Eichborn Verlag, Edith Rost-Blumberg. vom Herausgeber verantworteten und mar- Frankfurt am Main; Verlag Volk & Welt, kierten Auslassungen als der Umstand, dass 288 Seiten; Berlin; 464 Seiten; einige wenige dieser Tage- 49,50 Mark. 48 Mark. bücher nicht im handschrift- lichen Original vorlagen, son- dern von den Urhebern spä- Walter Kempowski: Paulheinz Wantzen: ter noch einmal abgeschrie- „Das Echolot. „Das Leben im Krieg. ben und möglicherweise Fuga furiosa“. 1939 – 1946“. überarbeitet worden sind Knaus Verlag, Mün- Verlag Das Doku- (wie auch im Fall von Erika chen; 4 Bände in ment, Bad Homburg; S.) – was manche der kriti- Kassette; zus. 3456 circa 1660 Seiten; schen Äußerungen immerhin Seiten; 298 Mark 98 Mark (bis 31. fragwürdig erscheinen lässt. (bis 30. April 2000, Dezember 1999, Vollständigkeit allein ist danach 348 Mark). danach 128 Mark). noch kein Wert. Das zeigt das ungekürzte, später auch nicht mehr redigierte Tagebuch des Journalisten Wantzen, das mit gehend blind. Das ist dem Tagebuch- der zusammen mit seiner jüdischen Frau staunenswerter Unermüd- schreiber zwar nur bedingt vorzuwerfen – Selbstmord beging und bis zum letzten Tag lichkeit auf mehreren tausend in der ungekürzten Häufung dieses Kon- auf ergreifende Weise Zeugnis ablegte.

KREISARCHIV BREISGAU-HOCHSCHWARZWALD Seiten vom Kriegsbeginn bis voluts bleibt es dennoch schwer erträglich. Das alles – mit Ausnahme von Kleppers in den September 1946 führt An Tagebüchern aus dieser Zeit fehlt es bis 1942 reichende Notizen – kehrt nun auch – im Original sind zusätzlich noch 4500 schließlich nicht. Nach 1945 hat es eine auszugsweise in Kempowskis zweiter Dokumente eingefügt: Zeitungsausschnitte, große Zahl stilistisch gelungener Tage- „Echolot“-Lieferung wieder: der vielstim- amtliche Formulare und Flugblätter der bücher aus dem deutschen Kriegsalltag ge- migen Tagebuch-Collage aus jenen knapp Alliierten. geben. Erinnert sei etwa an Emil Barths fünf Wochen Anfang 1945, die zwischen Beeindruckend ist dabei allenfalls das Aufzeichnungen „Lemuria“ (1947, wieder dem Start der sowjetischen Großoffensive Gigantomanische des Unternehmens. aufgelegt 1997), an Erich Kubys Tagebuch auf das Deutsche Reich und der Bombar- Doch die Beschreibung des Kriegsalltags „Mein Krieg“ (1975) oder die weitgehend dierung Dresdens liegen. Mehr als 300 be- wird, wenn der Horizont zu klein ist, bei al- in Berlin entstandenen Journale von Ursula reits veröffentlichte Quellen hat der Arran- ler Materialfülle schnell zum Einerlei – von Kardorff („Berliner Aufzeichnungen“, geur diesmal angezapft – neben der weitaus Wantzen kann, anders als etwa Klemperer 1962) und Marie Wassiltschikow („Die Ber- größeren Zahl privater Tagebücher und Auf- in seinen Tagebüchern, keine eigene Per- liner Tagebücher“, 1985) – und an das 1956 zeichnungen, die Kempowski seit den Sieb- spektive aufbauen. Seine Sicht auf die erstmals publizierte, 1997 neu aufgelegte zigern, parallel zu Breloer, gesammelt hat. historischen Ereignisse bleibt, bei aller Tagebuch des Schriftstellers Jochen Klep- Das „Echolot“ ist und bleibt (es soll Skepsis gegenüber den Machthabern, weit- per („Unter dem Schatten deiner Flügel“), noch weitere Folgen geben) ein einzigarti- Kultur ges Unterfangen – und wird weiterhin Vor- behalte ebenso wie Bewunderung provo- zieren. Im Chor dieser bedacht kompo- nierten Sinfonie der tausend kann jeder entdecken, was er finden will – der auf das politisch Korrekte Erpichte die Verwi- schung der Trennlinie von Tätern und Op- fern, der sich einlassende Leser Abgründe hinter scheinbar banalen Notizen und Sze- nen von Mord und Völkermord, die ver- stummen lassen. Der Untertitel „Fuga furiosa“ verweist nicht nur auf das musikalische Prinzip der Anordnung der Einzelteile, sondern auch auf einen der inhaltlichen Schwer- punkte dieses „Echolot“-Komplexes: in der Bedeutung als „fürchterliche Flucht“ nämlich. Das Tabuthema der durch die Sowjetoffensive ausgelösten Fluchtwelle der deutschen Bevölkerung, als „Vertrei- bung“ von den entsprechenden Verbän- den jahrzehntelang mit einem revanchis- tischen Unterton ausgestattet, wird bei Kempowski wie nie zuvor aufbereitet und ausgebreitet – was ihm prompt den Vorwurf der „neudeutschen Unbeküm- mertheit“ („Frankfurter Rundschau“) ein- gebracht hat. Der finstere Höhepunkt und das monu- mentale Schlusskapitel der „Fuga furiosa“, der 120 Seiten umfassenden mosaikartigen und minutiösen Darstellung der verhee- renden Luftangriffe auf das mit Flüchtlin- gen überfüllte Dresden am 13. und 14. Fe- bruar 1945, nötigten allerdings sogar dem strengen „Rundschau“-Kritiker von Kem- powskis Methode Bewunderung ab: „Das sind höchst aufschlussreiche und in einer solchen geradezu epischen Verdichtung bis- her noch nie zusammengefasste Doku- mente.“ Tatsächlich ist das furiose Arrangement dieser zwei Tage, die Kempowski abwei- chend vom übrigen „Echolot“ zu einem einzigen, untrennbaren Abschnitt zusam- mengefasst hat, heute schon ein Stück Li- teraturgeschichte – die Vielfalt der Notizen und Perspektiven umfasst die Menschen in den Bombenkellern ebenso wie die deut- schen Nachtjagdpiloten oder die Bomben- schützen in den Maschinen der Royal Air Force, die in drei Angriffswellen jener Auf- gabe nachkommen, die der Einsatzbefehl auch darin sieht, „den Russen, wenn sie einmarschieren, zu zeigen, was das Bom- berkommando tun kann“. Einer unter den vielen, die Kempowski zitiert, ist der schon vor den Luftangriffen in Dresden um sein Leben bangende Jude Klemperer, der in den Wirren des Luft- angriffs und danach einen bis dahin un- möglichen Schritt wagte: Er riss sich seinen Judenstern vom Mantel. „Ich saß in Res- taurants, ich fuhr Eisenbahn und Trambahn – auf alles das steht im 3. Reich für mich der Tod.“ Für Klemperer war die Bombardierung nicht nur die „doppelte Gefahr“, sondern auch ein Stück Befreiung. ™

der spiegel 44/1999 Wehner (1971) Madonna (1990) FOTOS: (l. o.); DPA (l. u.); BONGARTS o.); PRESS (r. SIPA K. MEHNER Effenberg (1992) Kinski (1971) Provozierende Prominente: Wertewandel unterhalb der Gürtellinie

SPRACHE „Die Deutschen schimpfen anders“ Der Freiburger Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger über fundamentale Unterschiede zwischen deutschen, französischen und britischen Flüchen und die letzten Tabus in unserer redseligen Gesellschaft

Gauger, 64, lehrt in Freiburg Romanistik ist uns Deutschen – als Ausdruck – ja Gauger: Stimmt, die schimpfen romanisch. und veröffentlichte zuletzt das Buch „Über völlig fremd. Ich würde Ihr Beispiel mit „verpiss dich“ Sprache und Stil“. SPIEGEL: Wie schimpft es sich teutonisch? übersetzen – sexuell geprägt im Englischen, Gauger: Wir nehmen unsere entsprechen- exkrementell bei uns. Ein anderes Paar SPIEGEL: Professor Gauger, in Ihrem Auf- den Ausdrücke aus einer anderen Sphäre, wäre „fucking rain“ und „Scheiß-Regen“. satz „Sprache und Sexualität“ vergleichen dem Exkrementellen. Unsere Sprachbilder SPIEGEL: Sind die offenbar unrettbar anal- Sie das Schimpfverhalten in Europa*. Was hängen fast ausschließlich mit den Aus- fixierten Deutschen eine Ausnahme? treibt einen unbescholtenen Gelehrten scheidungen zusammen, mit Kot und Urin. Gauger: Scheint so zu sein. Selbst bei zum Vulgären? Das scheint durch, wenn wir sagen, jemand unseren Nachbarn, den Niederländern, Gauger: Mir ist aufgefallen, dass in roma- sei angeschmiert worden. Wir schimpfen wimmelt es von Ausdrücken der sexuell nischen Sprachen sexuelle Dinge herange- mit Ausdrücken wie „Arsch“, „Arschloch“, orientierten Art. Das Deutsche ist eine Art zogen werden, um etwas Negatives zu be- die, so gebraucht, den romanischen Völkern Insel. zeichnen. Im Deutschen ist es vollkommen wiederum eher fremd sind. Die kennen SPIEGEL: Ein weites Feld für Psychologen. anders. Das fand ich faszinierend. Ich wer- zwar auch vereinzelte Ausdrücke aus dem Gauger: Ja, das wird aber nicht einfach. Es de meine Beobachtungen bald auch als Exkrementellen, wir Deutschen beschrän- gibt ein Buch von dem amerikanischen Buch herausbringen. ken uns aber eigenartigerweise darauf. Volkskundler Alan Dundes, das bei uns SPIEGEL: Als Beweis für eine kulturelle SPIEGEL: Wie deuten Sie diesen Wertewan- den hübschen Titel hat „Sie mich auch!“. Wasserscheide quer durch Europa? del unterhalb der Gürtellinie? Der kritisiert die Deutschen wegen ihrer Gauger: Ja, ein Beispiel: „Joder“ ist im Spa- Gauger: Ich habe noch keine Erklärung Fixierung auf das Anale. nischen der vulgäre Ausdruck für „Ge- dafür gefunden, warum in den romani- SPIEGEL: Womit will er uns anschmieren? schlechtsverkehr haben“, heißt aber schen Sprachen Sexuelles für die Bezeich- Gauger: Er hält uns für zurückgeblieben, auch „belästigen“. „No jodas“ meint nung von Negativem benützt wird.Warum historisch und überhaupt. Er denkt, dass „belästige mich nicht“, wörtlich übersetzt wir Deutsche das nicht machen? Auch kei- unsere Fixierung auf die Ausscheidungen heißt es aber: „Vögle mich nicht.“ Das ne Ahnung. Mit dem Protestantismus hängt mit der Art zusammenhängt, wie die Kin- es nicht zusammen. der seit dem frühen Mittelalter gewickelt SPIEGEL: Die puritanischen Angelsachsen wurden. Eher unwahrscheinlich. * Hans-Martin Gauger: „Sprache und Sexualität“. Er- schienen in „Merkur“, Nr. 598, 1/99. Klett-Cotta Verlag, verwenden ja ungeniert sexuelle Formu- SPIEGEL: Und diese windelweiche Theorie Stuttgart. lierungen wie „fuck off“. soll nun unser sprachliches Desaster sein?

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Gauger: Das denkt sich Kollege Dundes so. Gauger: Sicher, unter men Sie den ausgestreck- Dabei finde ich unsere Art zu schimpfen Kumpeln. Da wäre die ten Mittelfinger … gar nicht verwerflich. Wir bezeichnen et- Hochsprache dann die SPIEGEL: … Sie meinen was Negatives mit Negativem. Das mag Abweichung. In Spanien den beleidigenden Stin- bieder, brav und phantasielos sein. Aber gibt es ein interessantes kefinger à la Effenberg. moralisch zu kritisieren ist das nicht. Phänomen. Da hält sich Gauger: Ja, wir nennen SPIEGEL: Vielleicht haben Völker, die das eine drastische Männer- diese Geste bezeichnen- Sexuelle im Munde führen, ein unge- sprache, die auch sehr derweise so und schieben zwungeneres Verhältnis zum Geschlecht- vornehme Señores be- sie ins Exkrementelle ab. lichen. nutzen, aber nur, wenn Aber in ihrem Ursprung Gauger: Vermutlich. Wir stehen mit dem sie unter sich sind. Wir in den romanischen Län- Exkrementellen im vorsexuellen Raum. wären da schockiert. dern ist sie rein sexuell. SPIEGEL: Liegt das daran, dass in Deutsch- SPIEGEL: Was führen die Der phallische Finger ist land der Einfluss der Kirche geringer war Señoras im Munde? eine Androhung der

als in den romanischen Ländern? Gauger: Als Ergebnis der H. DARCHINGER J. Penetration. Außerdem Gauger: Kaum. So gering war er ja nicht. Emanzipation bedienen Redner Schmidt (1981) spielt die Geste auch, weil Aber in einem katholisch bestimmten Land sich heute überall immer sie ja besonders unter ist der Tabubruch beim Sexuellen größer, mehr Frauen dieser Ausdrücke. Denken Sie Männern gebraucht wird, mit dem Ho- besonders, wenn man noch die Jungfrau nur an die Show-Diva Madonna. Mich mosexualitätstabu. Wie auch diese spani- Maria mit ins Spiel bringt. Wie es etwa die schockiert es aber, wenn ich aus dem Mund schen Männerzirkel, von denen ich sprach. Italiener machen, die sie in einem Fluch als einer Studentin Ausdrücke wie „Scheiße“ SPIEGEL: Abgründe in Macho-Clubs? Dirne beschimpfen: „Porca Maria“. Das oder gar „Arschloch“ höre. Gauger: Wer so stark das Heterosexuelle hat für Protestanten weniger Dramatik, für SPIEGEL: Flucht und schimpft die Jugend betont wie diese Männer in ihren drasti- Katholiken ist es ein enormer Tabubruch. denn anders? schen Redensarten, der will sich ja wohl SPIEGEL: Den aber durch häufigen Ge- Gauger: Kann man wohl sagen. Da ist neu- auch vor dem Homosexualitätsverdacht brauch niemand mehr wahrnimmt. erdings eine ganz deutliche Entwicklung schützen. Das ist genauso bei der Bundes- Gauger: Das ist bei Tabubrüchen so.Außer- vom Exkrementellen zum Sexuellen zu be- wehr, wo die Soldaten ihre Spinde mit Pin- dem kann man solche Ausdrücke eben obachten. Man hört jetzt immer öfter von up-Girls schmücken. Das ist weniger ein nicht in jeder Situation anwenden.Wir ha- jungen Leuten: „Die haben uns ganz schön erotischer Stimulus als eine deutliche Klar- ben ein Gefühl dafür, wann man es sagen gefickt.“ Oder auch die Aufforderung: „Fick stellung, ein Ausweis der Heterosexualität. kann, ja sagen muss. dich ins Knie.“ Das ist sprachgeschichtlich SPIEGEL: Frauen haben das offenbar nicht SPIEGEL: Gibt es Situationen, in denen man neu. Dabei haben die Deutschen doch im- nötig.Was sagt die feministische Linguistik „verpiss dich“ sagen muss? mer ins Exkrementelle transformiert. Neh- zum Thema Sexualität und Sprache? Gauger: Die ist komischer- sonders gut geeignet. Das ist Gauger: Auf jeden Fall einheitlicher. Talk- weise nicht darauf gekom- Quatsch. Englisch ist nicht shows waren aber immer schon Schimpf- men. Die Frauen, denen ich geeigneter als jede andere arenen. Denken Sie nur an die legendären meinen Aufsatz geschickt Sprache auch. Auftritte von Klaus Kinski. Die Vulgär- habe, haben letztlich genau SPIEGEL: Also könnte man sprache sickert nun aber langsam in höhe- so reagiert wie meine männ- internationale Konferenzen re soziale Schichten ein. lichen Kollegen. Die fanden genauso gut auf Kisuaheli SPIEGEL: Ein Bundeskanzler, der öffentlich das Thema nicht wichtig. abhalten? „Scheiße“ sagt, ist akzeptabel? SPIEGEL: Was hatten Sie Gauger: Natürlich. Prinzi- Gauger: Ich denke schon. Helmut Schmidt denn erwartet? piell ist das kein Problem. hat das Wort einmal im Bundestag ge- Gauger: Ich hatte gedacht, Manche Sprachen sind ter- braucht. Er wurde nicht gerügt. Er war und dass sie es bemerkenswert minologisch nicht so ausge- ist ja ein Meister der Rede, der genau wuss- finden, wenn im Deutschen baut. Was aber die leichte te, wann man was sagen kann. Im Gegen- das Wort für das weibliche Erlernbarkeit angeht, wäre satz zum Choleriker Herbert Wehner. Es

Geschlechtsorgan nicht zu K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL das Spanische am geeig- gibt noch so eine exkrementelle Stelle bei einem gängigen Schimpf- Sprachforscher Gauger netsten. Es hat eine ziemlich Schmidt. Über Franz Josef Strauß sagte er: wort wird, wie es im Fran- genaue Übereinstimmung Der rede mal so, mal so – „wie der Bulle zösischen mit „con“ geschehen ist. Dieser zwischen Schriftbild und Aussprache, die pisst“. Das hatte er sich genau überlegt. Wortstamm hat sich weiterentwickelt; „dé- im Englischen nun wirklich nicht existiert, SPIEGEL: Wenn wir über alles reden kön- conner“ heißt durchdrehen und „conne- und eine einfache Grammatik. nen, bleibt nichts ungesagt, oder? rie“ Blödsinn.Aber die Kolleginnen wollten SPIEGEL: Welche Sprache ist die schönste? Gauger: Doch, aber sicher. Das Religiöse wohl unsere Sprache nicht loben müssen. Gauger: Jeder hält die eigene für die schöns- und der Tod. Früher genierte man sich, SPIEGEL: Haben Sprachen ein Wesen? te, richtigste und normalste. Wir nennen über Sexualität zu sprechen. Man sprach Gauger: Es ist normal, dass man es sucht, das muttersprachliche Selbsttäuschung. aber offen über persönliche Glaubensfra- und auch in Ordnung, aber wir Sprach- Vielleicht ist die Ausgewogenheit von Kon- gen. Heute ist es umgekehrt. Und in der wissenschaftler sind sehr vorsichtig. Diese sonanten und Vokalen ein Kriterium. Dann Vergangenheit sprach man über den Tod, nationalpsychologischen Ableitungen ha- stünde das Italienische an erster Stelle. heute aber nicht mehr. Die sprachlichen ben sich als nicht haltbar erwiesen. Eines SPIEGEL: Auf Italienisch klingen sogar Tabus, die es früher gab, sind inzwischen ist aber komisch: Über 90 Prozent aller Flüche noch wie Arien. Deutsch hat keinen inhaltliche Tabus. Wir haben jetzt eine wissenschaftlichen Publikationen sind auf Belcanto-Bonus. In unzähligen Talkshows Sprache für alles, könnten also über alles Englisch, nur noch gut zwei Prozent auf über Inzest und Piercing-Erfahrungen sprechen. Aber beim Glauben und beim Deutsch. Und jetzt behaupten einige triumphiert das Vulgärvokabular.Wird die Sterben schweigen wir. Angelsachsen, ihre Sprache sei auch be- Sprache dadurch nicht letztlich flacher? Interview: Joachim Kronsbein Kultur

GESCHICHTE Der Schöngeist lässt die Blitze zucken War der Bayernkönig Ludwig II. scharf auf Fotos nackter Jünglinge? 26 Briefe des von Trieb- und Geldnot geplagten Märchen-„Kini“, die nun in einem Münchner Auktionshaus versteigert werden, erregen Aufruhr unter weißblauen Royalisten.

in schräger Vogel war er freilich, aber chiemsee ging gar nichts mehr weiter, in sammeln, das notfalls „das rebellische Ge- ein Paradiesvogel. Und wie das so ist Neuschwanstein stimmten die Stickereien richtsgesindel hinauswirft“. Ein Paradiesen: Da gibt es immer auch nicht, und sowieso fehlte Geld, Geld, Geld. Viel hat der umtriebig triebhafte Kini Erzengel, die ihren Garten Eden besenrein Es war so unwürdig für einen König, für geschrieben, vieles liegt längst gedruckt haben wollen. Sobald sich einer seitab in einen Gralsritter zumal! vor; am Mittwoch dieser Woche aber wird die Büsche drückt, ziehen sie ihr Flam- An Graf Dürckheim: „Wenn es nicht ge- ein Konvolut von 26 Briefen, insgesamt menschwert und rufen: „Raus, du Wüst- lingt, eine bestimmte Summe (etwa in vier 70 Seiten und allesamt an seinen Ver- ling!“ Wochen) herbeizuschaffen, so wird Lin- trauten Hesselschwerdt, bei Hartung & Bayernkönig Ludwig II. liebte bekannt- derhof und Herrenchiemsee, mein Eigen- Hartung, dem Münchner Antiquariat und lich das Schöne, und also liebte er auch tum also, gerichtlich beschlagnahmt!“ Der Auktionshaus, versteigert: Schätzpreis: ebenmäßige Mannsbilder, die er mit Baum- Graf solle ein Kontingent treuer Mannen 120000 Mark.

Bayerischer König Ludwig II. (1865) C. LEHSTEN / ARGUM Briefe Ludwigs an Freund Hesselschwerdt „Verbrenne dieses Blatt“ kuchen, Zigarren und seinen Porträts be- schenkte. Ob es die Architektur der Wag- ner-Klänge, die von Holzfällerleibern oder von Schlössern war – Harmonien ließen ihn alles vergessen, für sie tat er alles, jede störende Disharmonie machte ihn rasend. Gegen Ende seines Lebens, das der 40- Jährige 1886 im Wasser beschloss, saß er eingedüstert im Schloss Hohenschwangau, schaute hinüber, wo die weiße Gralsburg Neuschwanstein aus Gerüsten erwuchs, und verzweifelte, weil so viel, so Uferloses noch zu bauen und zu schmücken blieb: „Vorwärts mit dem Schlafzimmer im Lin- derhof, St. Hubertus-Pavillon und mit dem Ausbau der Burg von Herrenwörth und Falkenstein. Mein Lebensglück hängt da- von ab. Er soll es erschinden, durchreißen, alle Schwierigkeiten beilegen und Hinder- nisse niederreißen.“ Das schrieb der König, in steiler deut- scher Gänsekielschrift, dem Marstallfou- rier Karl Hesselschwerdt, seinem Vertrau- ten, auf dass dieser den Bauleitern und Handwerkern einheize; denn überall fehlte es: Hier galt es, erste Entwürfe, dort

letzte Details zu erdenken. Auf Herren- AKG 266 Sind sie das Geld wert – mit dem Ludwig Der Märchenkönig war sehr real auf sich gewiss herrliche Schwanenpaneele hätte gestellt; schließlich zahlte er die Bauten bezahlen können? In energisch scharf- aus „eigner Tasche“, jedenfalls nicht aus zackiger Schrift hingefetzt, zeigen sie uns der Staatskasse, musste daher mit Macht Ludwig zwischen 1882 und 1885, und da und mit Gewalt Sponsoren finden. Wenn war er schon ziemlich durch den Wind, der heute so ein Kanzleramt statt 270 Millionen Schöngeist als Tyrannosaurus Rex, umwit- derzeit 465 Millionen kostet, spart man’s tert von Umnachtungsgewölk, aus dem die eben woanders ein, bei Jugendheimen,Al- Blitze zucken: „Nun aber bleue ihm [dem tenpflege, oder man erhöht die Steuern. Hofsekretär] Gehorsam ein, gehe zu ihm, Das konnte sich Ludwig nicht erlauben. werde sehr grob u. wild u. schleudere die- Solch ein Monarch musste sein Geld auf sem Diener, der nicht gehorchen kann [,] dem freien Markt schnorren, indem er mit aller Macht Mein Mißfallen, Meine etwa seine Zustimmung, den Preußenkönig Empörung entgegen.“ „Die Zimmer, der zum Deutschen Kaiser zu ernennen, teuer Ausbau des Flügels, die beiden Fontainen, verkaufte (und so aus Wilhelms Gloria der Marmor fertig bis August, dies muß er- Ludwigs Glanz erschuf) und indem er un- zwungen werden und das Geld hierfür muß geniert Geldgeber anzapfte: „Geld ist in beschafft werden.“ „Ich habe die unaus- der Welt in Hülle und Fülle vorhanden, stehlichen, stets unangenehmen Kosten- folglich muß es her um jeden Preis, man und Geld-Meldungen satt. Fertig damit. […] muß nur geschickt zu Werke gehen“, Dein entschuldigendes Gewäsch war falsch schrieb er an Hesselschwerdt. „Sehr u. will Ich nicht mehr hören. Gehorche stets mißfällt es Mir […], daß die durch dich u. behellige Mich nie mit Deinen Ansichten, vorgeschlagenen Geldmenschen zuerst so an denen Ich genug habe. Ludwig.“ sehr ins Zeug gingen u. dann nicht einmal einen Teil des Verlangten erhalten konnten, geschickt sind sie nicht.“ Flugs zählt er die Häupter seiner Lieben und stachelt Hesselschwerdt an, bei Großunternehmern und Fürsten Druck zu machen: „Ein Leichtes ist es ihnen, die nötigen Summen vorzustrecken.“ Hat er da nicht völlig Recht? „Beschwöre den Fürsten Taxis wegen der Summe, sonst ist es mit dem Bauen aus.“ „Ich las gerade, daß der Fürst v. Lippe 300 – 400 Millionen besitzt, wie leicht könnte dieser etwas her- geben.“ Abermals nicht abwegig, und je- denfalls dreht sich über Neuschwanstein kein Mercedesstern, über Linderhof keine Fleischklopsreklame. Ist dies panische Geldraffsyndrom schon vielen bayerischen Royalisten nicht geheu- er, so klinken sie vollends aus, sobald sie von Ludwigs strenger Männerwahl lesen müssen, und auch dafür gibt es einige rei- zende, vor allem aber irreleitende Passagen in den Auktions-Briefen. Denn offenbar ließ sich Ludwig von seinen Vertrauten häufig Fotos von Männern zuschicken, doch: „Sei mit Deinen Aufträgen recht vorsichtig.“ Und als Schlussfloskel meist: „Verbrenne dieses Blatt.“ Er beklagt, ein Bild sei „lei- der nicht recht ähnlich“, ein andres solle „in einem noch größeren Format“ gemacht werden, dies wieder gelte es mit List zu er- Kunstfreund Ludwig (1881)* gattern: „Hoffentlich bist Du dann recht Überschwang fürs Ästhetische intim u. bringst mir das Bild sicher mit. Das Original selbst könnte ich vielleicht dann im Ein König, der als stinkwütender Bau- November in Hohenschwangau kennenler- herr auftritt, verzweifelt inmitten bran- nen.“ „Götz soll recht fleißig in Linz suchen chenüblicher Unzulänglichkeiten: „Die u. in Neapel verhüten, daß es Spektakel Termine müssen gehalten werden […] gebe, er muß jenem Mann Geld geben […] Dollmanns Schuld, der stets mehr braucht damit er sich photographieren lasse. […] als angesetzt wurde […] Wie steht es also Vorsicht ist dringend geboten.“ mit den Kandelabern für den Sängersaal? Ganz besonders bewegte ihn Behaa- Sei eifrig! Nur keinen Scheineifer, wie so rung: „Melde, ob seine Haare gewachsen oft bisher!“ sind od. nicht.“ „Früher erfuhr ich, daß Schanderl einen starken Bartwuchs hat und * Mit Schauspieler Josef Kainz. sich oft rasieren müsse, sieh ihn dir auf un-

der spiegel 44/1999 267 Werbeseite

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Werbeseite Kultur bemerkte Art ganz an, vielleicht ist auch trennten. Und ist es nicht ein geradezu faus- sonst der Haarwuchs stark.“ Und: „Du tisches Gelüst? „Schaff mir ein Halstuch schriebst außerdem er wäre bei Joseph et- von ihrer Brust, / Ein Strumpfband meiner was gewachsen, ist das wahr, […] nochmals Liebeslust!“, fordert unser Geistesriese von genauere Meldung. – Sieh Dir auch Niebler Mephisto. ohne Aufsehen an. Wie ist der Heizer Na- „O Begeist’rung komme wieder / Allge- gler? Vorsicht stets!“ – Ein Heizer! Man walt’ge Zaub’rin, du!“, seufzt Schwarm- denke, und Nagler! geist Ludwig Eins nach Thron- und Lola- Rudolf Reiser, einem Redakteur der Verzicht, und sein Enkel Ludwig Zwei, am „Süddeutschen Zeitung“, haute es spätes- 25. August geboren wie sein Großvater, ist tens hier die Sicherungen raus, und er fiel so schönheitskrank, dass er einen Diener aus seinen weißblauen Wolken. Dass „bei mit Beule am Kopf nicht sehen will, und Joseph etwas gewachsen“ sei, liest sich in der Kammerlakai Mayr hatte ein Jahr lang seinem „SZ“-Artikel über die nun zur mit schwarzer Gesichtsmaske zu bedienen. Auktion feilgebotenen Briefe wie Hard- Wie also, wenn Ludwig sein Personal core, selbst dem „größeren Format“ un- aus rein ästhetischen Gründen von Hes- terstellt er „verschlüsselt“ Begier und sieht selschwerdt beäugen ließ? Von „nackt“ ist Ludwig „endgültig in der Gosse“, ernennt nirgends die Rede. Überschwänglich war dessen Vertraute zu „Büchsenspannern“ er, in Wolkenkuckucksheimen Wolken und „Kupplern“, die ihm „Fotos mit nack- schiebend und mit ungemein realen Wid- ten Jünglingen“ zu beschaffen hatten. rigkeiten kämpfend; doch bei allen Ro- Dann freilich entwindet er sich der Wit- mantizismen war er einer der Modernsten, telsbacher-Schmach, indem er die alte er fuhr im Schlitten das erste Fahrzeug der Schutzthese, „wonach Lud- wig II. nicht der Sohn seines Vorgängers Max II. war, also gar kein Wittelsbacher“, nunmehr „untermauert“ sieht, denn „soviel Ver- rücktheit, Schwachsinn, Bös- artigkeit und Perversität“ könnten nie und nimmer von einem Max herrühren. Da wäre freilich zu fra- gen, ob ein Schwuler (und das war er bekanntlich – wie „körpernah“, ist unbe- kannt) statt Männer besser Briefmarken betrachten sollte, und zu antworten

wäre auch, dass Porträts zu PWE VERLAG sammeln guter Wittelsba- Ludwig II., Kusine „Sisi“ im Film*: Heimliche Fotosammler cher Brauch ist: Ludwigs Kusine, die Kaiserin „Sisi“, ließ ihre Diplo- Welt mit elektrischer Beleuchtung, instal- maten aller Länder heimlich Fotos schöner lierte schon 1882 in der Residenz zu Mün- Frauen von Welt und Halbwelt besorgen, chen ein Telefon, ließ sich ein Jahr zuvor und sie erhielt so manche halbnackte Ba- ein Fahrrad nach Hohenschwangau brin- jadere zugesandt; Ludwigs Großvater (und gen und trieb bereits 1869 seinen „vielge- Vererbung überspringt ja gern die Eltern), liebten Friedrich“, den genialen Maschi- Ludwig I., ließ Frauen vieler Länder und nenmeister Brandt, dazu an, „eine Flug- Stände für seine „Schönheitengalerie“ por- maschine zu Fahrten über den Alpsee bei trätieren und gab sich nicht immer mit dem Hohenschwangau anzufertigen“. Ölgemalten zufrieden. Lange plante und rechnete Brandt daran Für so manche hatte er danach Alimen- herum, es klappte nicht. „Wenn, was mir te zu zahlen, für eine den Thron zu quit- sehr, sehr unlieb wäre, unser durch Gas zu tieren, für Lola Montez, deren Bild zu küs- treibender Luftwagen bis zum November sen ihm nicht genügte, wenn sie in Figura nicht fertig zu bringen ist […], so bitte ich nicht greifbar war. Weshalb er ein Dich dringend sogleich den nur zum Anse- Stückchen Stoff erbat: „Schreibe und sag hen, nicht für Menschen bestimmten Pfau- mir, ob Du das Flanellstück an beiden Stel- enwagen zu bestellen, dieser kann leicht in len getragen hast.“ Ja, hatte sie; auf der sehr kurzer Zeit vollendet werden, wenn es Brust und „auf meinem Bauch“. Und so mit Gas durchaus nicht gehen sollte, so kön- legt danach er es sich auf die Brust „und nen wir ihn mittels Drähten fliegen lassen.“ auch etwas tiefer“. Nicht dumm, sondern kühn. Tollkühn.Toll. Das aromatisierte Flanell zieht sich wie Ludwigs Flugträume dienten in Bern- ein rotes Tuch durch die Briefe der Ge- hard von Guddens psychiatrischem Gut- achten als Nachweis seiner Geisteskrank- * Romy Schneider und Helmut Berger in Luchino Vis- heit. So flog er nicht übers Wasser, son- contis Film „Ludwig II.“ von 1972. dern ertrank darin. Michael Skasa

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SCHRIFTSTELLER Von Fleisch und Fleisches Lust Die nostalgische Kuba-Begeisterung in Europa beschert auch exilkubanischen Autoren Erfolg. In „Havanna Blues“ feiert Daína Chaviano ihre Heimat als Weltnabel der Erotik.

lücklich, wer sich So unverblümt hebt der rühmen darf, eines Roman an, der 1998 im spa- GMetzgers Freund zu nischen Alicante den re- sein. Der hütet auf Kuba, nommierten Azorín-Preis wo Fleisch das „Gold der (knapp 120 000 Mark) er- Armen“ ist, seine Ware wie hielt. Eine vergleichbare den Nibelungenhort. Mehr Ehrung ist keinem Miami- noch als der schriftkundige Kubaner je widerfahren: „schochet“ (Schächter) un- Die galten bislang in litera- ter streng gläubigen Juden rischen Kreisen von New ist der profane Fleischer bei York, Madrid oder Paris als den Kubanern eine Re- rechts und politisch untrag- spektsperson: wohlgenährt, bar, wogegen die weniger angesehen, begehrt. suspekte Diaspora zwi- Mit der Goldwährung schen Chile und Schwe-

Hackfleisch kann der Metz- MIAMI HERALD den längst salonfähig ist. ger Toño sich Zutritt zu Ha- Autorin Chaviano Spaniens großzügig dotier- vannas Touristen-Nachtclub te Literaturpreise wurden Tropicana erkaufen, sogar – höchstes der letzthin vielfach von Castro-Flüchtigen Gefühle – einen Tisch im Wolkenkratzer- abgeräumt. Restaurant La Torre ergattern. Der Fleischer Wie beim Untergang der „Titanic“ wir- kann sich feste Liebschaften mit drei Frau- belt die absaufende Revolution alles um en gleichzeitig leisten, und selbst seinem sich. Die weltweite Kuba-Konjunktur – in Freund Gilberto steigen die Weiber nach in der Vermarktung von Salsa und Son, in der Hoffnung auf eine Extra-Ration. Tourismus, Filmgeschäft und der (kulina- Dass der neue Mensch des kubanischen risch durch nichts zu rechtfertigenden) Sozialismus dem alten zum Kotzen ähnlich Eröffnung kubanischer Restaurants – zei- sieht, ist keine überraschende Erkenntnis. tigt auch auf dem Buchmarkt Symptome. Doch Daína Chaviano, 42, die in Castros Die einfallsreiche Erotomanin Zoé Kuba mit Science-Fiction bekannt wurde Valdés („Das tägliche Nichts“) findet seit und seit 1991 im Exil in Miami lebt, zeich- gut drei Jahren in Deutschland ein allem net die schäbigen Alltagskompromisse von Kubanischen aufgeschlossenes Publikum, Havanna mit leichter Hand, einem Stich das sich von den Castro-feindlichen Tira- ins Übersinnliche und sicherem Griff fürs den der Asylantin nicht schrecken lässt. Sinnliche.Westlichen Nostalgikern der ge- Auf Pro oder Kontra kommt es ja längst strandeten Revolution suggeriert Chaviano nicht mehr an: Die Passion der Westler für zum Trost, nirgends werde so hingebungs- Kuba ist postrevolutionär geworden – ein voll kopuliert wie auf Kuba*. mitfühlend-nostalgischer Voyeurismus. Dieser Ansicht sind die Kubaner aller- Den Exil-Kubanern ist das nicht entgan- dings seit jeher – wie manches Lied der gen. Ramón Alejandro, Maler und Lyrik- rührenden Oldtimer vom „Buena Vista So- Herausgeber in Miami, spricht vom „mor- cial Club“ bezeugt, mit denen Wim Wen- biden Interesse“ der Europäer, die ihre ders die Kinogeher bezauberte. Schon das Haut in der letzten Heimstatt des Sozialis- vorrevolutionäre Kuba feierte die Mulattin mus bräunen lassen und schnell noch einen als Sex-Symbol und Traumprodukt der Blick auf die früher bewunderte, nun im Rassenmischung, und Daína Chaviano stuft Absacken begriffene Gesellschaft werfen. die „karibische Frau“ nicht anders ein: Dass es sich bei den Kuba-Liebhabern „Jetzt geht sie die Allee entlang und ge- um Voyeure handelt, trifft sich gut, denn nießt den Wind, der ihre seidene Unter- die Kubaner sind Exhibitionisten. Sie schä- wäsche durchdringt. Sie wiegt sich in den men sich ihrer trostlos-schlüpfrigen Lebens- Hüften und, erregt vom zudringlichen umstände keineswegs, sondern stellen sie Atem der Meeresbrise, spürt die lustvolle zur Schau. Insofern ist Chaviano nur Ver- Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen.“ mittlerin. Ihre Romanheldin Claudia, eine junge Kunsthistorikerin, legt abends Musik der mystischen Nonne Hildegard von Bin- * Daína Chaviano: „Havanna Blues“. Aus dem Spani- schen von Yasmin Bohrmann. Lichtenberg Verlag, Mün- gen auf, „ein wenig transzendentale Me- chen; 304 Seiten; 36,90 Mark. ditation, bevor sie auf den Strich geht“ – da-

272 der spiegel 44/1999 mit sie sich für ihr kleines Kind den Obst- Irgendwie hängt das mit dem ethnisch- saft aus dem Dollarshop leisten kann. spirituellen Selbstverständnis der Kubaner Indessen wäre es keine wahre Kubane- in der ausgehenden Castro-Ära zusammen: rin, der die Prostitution den Spaß am Sex was halt dabei herauskommt, „wenn euro- total verderben könnte. „Jemand drang in päisches und afrikanisches Blut zusam- sie ein, sie überließ sich der Lust“, schreibt menfließen und dann vierzig Jahre lang Chaviano. „Sie kam wie eine Hündin – auf der kleinen Flamme des Atheismus mitten in der Nacht in einem Luxushotel.“ kochen“. Carlos Widmann

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich Bestseller ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben Suhrkamp; 49,80 Mark DVA; 49,80 Mark 2 (2) Sigrid Damm Christiane 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert und Goethe Insel; 49,80 Mark Steidl; 48 Mark 3 (3) Waris Dirie Wüstenblume 3 (3) Elizabeth George Undank ist der Schneekluth; 39,80 Mark Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 4 (4) Corinne Hofmann 4 (5) Noah Gordon Der Medicus Die weiße Massai A1; 39,80 Mark von Saragossa Blessing; 48 Mark 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, 5 (4) Donna Leon Nobiltà lebe! Scherz; 46 Mark Diogenes; 39,90 Mark 6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist 6 (6) John Irving Witwe für ein Jahr ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark Diogenes; 49,90 Mark 7 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur 7 (7) Henning Mankell Die falsche finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark Fährte Zsolnay; 45 Mark 8 (9) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein 8 (8) Marianne Fredriksson Maria Hoffmann und Campe; 36 Mark Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 9 (8) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, 9 (9) Henning Mankell Die fünfte Frau das Leben Wunderlich; 29,80 Mark Zsolnay; 39,80 Mark 10 (11) Daniel 10 (11) Ken Follett Goeudevert Die Kinder von Eden Mit Träumen Lübbe; 46 Mark beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark Hippies drohen damit, die Erde künstlich zum Beben zu Manager-Visionen bringen, um den Bau eines für einen humanen Stausees zu verhindern Kapitalismus

11 (10) Klaus Bednarz Ballade 11 (10) Nicholas Sparks vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark Zeit im Wind Heyne; 32 Mark 12 (14) Günter Ogger Macher im 12 (13) Johannes Mario Simmel Liebe Machtrausch Droemer; 39,90 Mark ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 13 (13) Peter Kelder 13 (12) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Die Fünf „Tibeter“ Hoffmann und Campe; 29,90 Mark Integral; 22 Mark

14 (14) Martha Grimes Die Frau im 14 (12) Jon Krakauer In eisige Höhen Pelzmantel Goldmann; 44 Mark Malik; 39,80 Mark 1 15 (–) Walter Moers Die 13 /2 Leben 15 (15) Guido Knopp Kanzler – Die des Käpt’n Blaubär Mächtigen der Republik Eichborn; 49,80 Mark C. Bertelsmann; 46,90 Mark

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dezza, die Diva auf (Marisa Paredes), das höhere oder gar höchste Wesen in die- ser ganz und gar almodóvarschen Frauen- phantasiewelt. Die Diva nämlich ist nicht einfach von Natur aus Frau, wie sonst irgendeine Da- hergelaufene, sondern sie erschafft sich erst durch Pose, Maske, Kostüm, durch Selbst- inszenierung und Selbstüberhöhung ihre Identität, die nur ein stumpfer Macho für Lug und Trug halten wird. Das Ziel der Diva ist dem ganz ähnlich, das der Trans- vestit sich erträumt: Frau sein in einer höheren Potenz. Wenigstens zwei aus der Gruppe der Frauen, von denen Almodóvar erzählt, sind in der Tat, platt biologisch betrachtet, Män- ner. Sie sei früher Lkw-Fahrer gewesen, sagt eine von ihnen, aber „dann habe ich mir Titten machen lassen und bin Nutte geworden“. Sie zählt auf, wo überall Sili- kon ihr zu ihren Kurven und also zu ihrer

ARTHAUS weiblichen Identität verholfen hat, und Almodóvar-Stars Roth, San Juan: Schrill bunt, einladend, wohnlich sagt: „Man ist umso authentischer, je näher man seinem Traum von sich selbst Sein Herz, transplantiert, schlägt nun in kommt.“ Schein oder Sein? Elegant und FILM der Brust eines fremden Mannes, und Ma- verwirrend jongliert Almodóvar (zu dessen nuela – wohin sonst mit ihrer Trauer? – Figuren auch eine Kunstfälscherin gehört) Vatermutterkind macht sich auf die Suche nach seinem ver- mit den Begriffen von Maske und Wesen, leugneten und verschollenen Vater, der von Fälschung und Original. Das jüngste Kino-Kunststück des ebenfalls Estéban hieß. Der einzige Hin- Am Ende erinnert die Diva mit einem weis, den der Sohn je zu Gesicht bekam, Szenenzitat, der Klage einer Mutter um spanischen Melodramatikers Pedro am Tag vor seinem Tod, waren ein paar ihren toten Sohn, an García Lorcas schwul- Almodóvar hält, was es verspricht: „halbe“ Fotos, die seine Mutter als junge schwülstige Mutterschaftsmystik.Am Ende „Alles über meine Mutter“. Frau zeigten. Kein Zweifel, auf der abge- wird ein Kind geboren, das, den Gesetzen rissenen anderen Hälfte wäre der Mann zu des Melodrams gemäß, den Namen Esté- ass Männer lieber Frauen sein sehen gewesen, sein Vater, den er mehr und ban bekommt.Am Ende wird auch der Va- möchten, in der uneingestandens- mehr als Lücke in seinem Leben wahr- ter gefunden, der erste Estéban, nach dem Dten Tiefe ihres Narzissmus zumin- nahm, als fehlende Hälfte seiner Identität. sich, vor Monaten, Manuela auf die Suche dest, in ihrem geheimsten Traum von sich Manuela, als wäre sie das ihrem Sohn gemacht hatte. Er kommt langsam und ge- selbst, ist statistisch wohl nicht zu bewei- schuldig, fährt von Madrid nach Barcelona, messen eine hohe Treppe herabgeschritten sen. Nicht jeder kleine Junge stellt sich im zurück in die Stadt, aus der sie vor bald 18 wie eine Revue-Diva, sehr fahl, schmal, Nachthemd seiner Mutter vor den Schlaf- Jahren, schwanger, geflohen ist: geflohen schon dem Tode nah, im schwarzen zimmerspiegel, um sich lieben zu können, vor jenem ersten Estéban. Hals über Kopf Kostüm sehr ladylike – seine Erscheinung doch die Phantasie davon ist mächtig. aber gerät sie dort in einen wahren Strudel erinnert daran, dass für die spanische Pedro Almodóvars Sache war noch nie von Frauenschicksalen: Sie hatte Hilfe ge- Phantasie der Tod eine Frau ist. das platt Wahrscheinliche, das statistisch sucht und wird, da dies ihr Beruf ist, über- Vor sechs Wochen, ein paar Tage nach Beweisbare, vielmehr jene Art von Wahr- all selbst zur Helferin. Almodóvars Blick ihrem Tod, hat Almodóvar einen Nachruf heit, die erst im Künstlichen, im Phantasti- auf die Frauen ist (wie der von Ingmar auf seine Mutter veröffentlicht. Er erinnert schen zum Vorschein kommt. Er bedient Bergman) niemals possessiv; er bringt sie sich an die bäuerlich-ärmliche Kindheits- sich mit Lust und geschmeidiger Bravour mit so viel Liebe zum Leben, als könnte er welt, in der die Mutter ihm als erste Ver- der Stilmittel des traditionellen Melo- dadurch eine von ihnen werden. körperung der Phantasie erschien. Zum drams, ohne Scheu vor den Rührseligkei- In einem jener schrill bunten, aufdring- Namen eines Spaniers gehört neben dem ten oder Kitsch-Gipfeln des Genres, und lich überladenen und doch einladend väterlichen auch der mütterliche Familien- landet doch nicht bei traditionellen Ge- wohnlichen Innenräume, Seelenräume, name (der doch auch eine Hälfte seiner wissheiten, sondern macht daraus den Ent- in denen, man kennt das längst, alle Identität bezeichnet); manche verzichten wurf einer Welt, in der Geschlechterrollen Almodóvar-Figuren zu Hause sind, sitzen im Alltag darauf, bei anderen verdrängt und Identitäten beweglicher sind, frei, wan- ein einziges Mal – da sie sonst unentwegt der Muttername den des Vaters, halbwegs delbar, abenteuerlich ungewiss. in Bewegung sind – drei der weiblichen etwa bei Lorca, ganz bei Picasso. Sein neuer Film beginnt mit einem To- Hauptfiguren entspannt beisammen: Jede Almodóvar hat sich, zum Bedauern sei- desfall und ist eine Überlebensgeschichte: repräsentiert (auf den männlichen ersten ner Mutter, ihren Namen nie zu Eigen ge- Manuela, von Beruf Krankenschwester, al- Blick) platt eine stereotype Frauenrolle: macht; vielleicht, weil er unbewusst vor lein erziehende Mutter, verliert am Abend die Nonne (Penélope Cruz), die Hure dem Männlichen darin zurückscheute. seines 17. Geburtstags ihren geliebten Sohn (Antonia San Juan), die Mutter (Cecilia Doch der Nachruf nun, erstmals, ist unter- Estéban, der Dichter werden wollte und Roth); doch jede stellt, auf den zweiten zeichnet: Pedro Almodóvar Caballero. Sol- an einer Erzählung mit dem Titel „Alles Blick, durch ihre Individualität das Kli- len wir umlernen? Wenn er weiter so wun- über meine Mutter“ schrieb – in schwär- schee auf den Kopf (die Nonne ist derbar satte, stürmische, exaltierte Filme merischem Leichtsinn ist er in ein Auto schwanger, die Hure ein Mann). Und dann macht, wollen wir ihn fortan gern Cabal- hineingerannt. tritt als vierte, überragend in ihrer Gran- lero nennen. Urs Jenny

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Nebenrollen bescheiden müssen. So ge- Mittelmacht mit verminderten Souverä- KINO ziemt es sich ja auch bei diesem Stoff, der nitätsrechten herabgesunken zu sein. Bes- von Januar an auch in Deutschland zu se- sons Jeanne d’Arc wirkt da wie das kultu- Traum von Größe hen sein wird. relle Gegengift zu einer globalisierten Welt, Die Heldin, von der es keine gesicherte in der nichts mehr seinen angestammten Luc Bessons monumentale zeitgenössische Darstellung gibt, wird von Platz behält. dem Ex-Mannequin Milla Jovovich ver- Wie General Charles de Gaulle, der in Neuverfilmung der Jeanne-d’Arc- körpert: ein androgynes Energiebündel mit einem Theaterstück zurzeit ebenfalls Legende beflügelt den dem Türkisblick der Erleuchteten, von nostalgisch verklärt wird, ist die Jungfrau Nationalstolz der Franzosen. mörderischer Wut gegen die Feinde des von Orléans Leitfigur geworden für das Königs geschüttelt, dann wieder von „Frankreich, das Nein sagt“: Nein zu den ie Unerbittlichkeit von Generatio- Selbstzweifeln zerfressen angesichts des fremden Eindringlingen, Nein zu Kapitu- nen französischer Lehrer hat sich von ihm verursachten Gemetzels. lation, Unterwerfung und Verfälschung sei- Dausgezahlt. Für die Bürger der Bessons Schlachtengemälde, in dem tau- ner Lebensart. Grande Nation sind Napoleon, Karl der sende von Geharnischten aufeinander los- „Was an der Gestalt der Jeanne d’Arc Große und Jeanne d’Arc unverrückbar die gehen, schert sich nicht um historische Ge- so verführerisch wirkt, ist der Wille markantesten Gestalten ihrer Geschichte. nauigkeit – wie auch, sind doch Wahrheit zum Widerstand“, urteilt der Historiker So hat es gerade wieder eine Meinungs- und Legende unauflöslich ineinander ver- Olivier Bouzy, „das hat sie mit Asterix umfrage der Zeitung „France-Soir“ be- woben bei dieser Figur, in die Frankreich gemeinsam“, dem unbeugsamen Gallier, stätigt. seine Phantasien von Einigkeit, Wider- der zufällig gerade seinen 40. Geburtstag Nun bekommen die Franzosen eine stand, Verrat und Befreiung hemmungslos feierte. neue Jungfrau von Orléans vorgeführt, in romantisch hineinprojiziert hat. Im Hundertjährigen Krieg zwischen einem überwältigenden Filmepos des Re- Kein anderes Land in Europa ist wohl so Engländern und Franzosen war Jeannes gisseurs Luc Besson, 39. In 500 Kinos läuft verliebt in die eigene Geschichte, hat ein so große Zeit nur eine Episode: jene 27 Mo- das Historienspektakel seit vorigem Mitt- ungebrochenes Verhältnis zu Trommelwir- nate zwischen dem 23. Februar 1429 woch, ein nationales Ereignis, die franzö- bel und Pfeifenklang. Jeanne d’Arc, die Hir- und dem 30. Mai 1431, in denen sie dem sische Antwort auf Hollywood: zwei Stun- tin aus dem winzigen Vogesendorf Dom- zaudernden, an seiner Legitimität fast den und 40 Minuten lang, Produktions- rémy, hat ihren herausragenden Platz in irre gewordenen König Karl VII. Mut ein- kosten weit über 100 Millionen Mark, eine diesem Traum von Größe. In ihrer Vereh- flößte und das von den Engländern be- internationale Starbesetzung, in der US- rung spiegelt sich auch die Sehnsucht eines lagerte Orléans befreite. Schauspieler wie John Malkovich, Faye Volkes, das sich nur schwer damit abfindet, Niemand weiß, wer dieses Mädchen Dunaway und Dustin Hoffman sich mit vom Leitbild der Weltzivilisation zu einer wirklich war, das mit 13 erstmals die Stim- me Gottes zu hören behauptete und mit 19 Jahren auf dem Marktplatz von Rouen lebendig verbrannt wurde – als Häretike- rin verurteilt nicht von den feindlichen Engländern, sondern vom französischen Bischof Pierre Cauchon und von Theolo- gen der Sorbonne, die es für eine Hexe hielten. Der lästerliche Voltaire hat Jeanne d’Arcs Weg zum Ruhm 1762 noch als Bur- leske geschildert.Während der Revolution wurde sie als Vertreterin des Feudalismus und des Aberglaubens geächtet. Der be- deutende Historiker Jules Michelet mach- te die Verteidigerin der Monarchie im 19. Jahrhundert paradoxerweise zur Ikone des republikanischen Patriotismus. Das vom deutschen Nachbarn bedrohte Frankreich brauchte eine starke Symbolfigur, hinter der es sich sammeln konnte. Luc Besson hat, in seinem bisher besten Film, die Heldinnensage entstaubt und ins Menschliche zurückgeholt. Er zeigt eine exaltierte, von ihren Eingebungen getrie- bene junge Frau, die fanatisch das Absolu- te will und am Ende in der frei erfundenen Zwiesprache mit ihrem überirdischen Beichtvater (gespielt von Dustin Hoffman) aus dem Kerker voller Gewissensnot auf das zurückblickt, was sie angerichtet hat: kein Instrument göttlichen Willens, son- dern ein Spielball von Emotionen und po- litischen Intrigen. Der Legende wird das keinen Abbruch tun, denn Franzosen wissen: Ein Land, das

COLUMBIA TRI-STAR keine Legenden mehr hat, ist dazu verur- „Jeanne d’Arc“-Darstellerin Jovovich: Von mörderischer Wut geschüttelt teilt, vor Kälte zu sterben. Romain Leick

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Werbeseite SPIEGEL: Ihre Platte wurde seit langem im- mer wieder angekündigt … Young: Sehen Sie? Sehen Sie? Aber nicht von uns. Das ist ein gutes Beispiel dafür, warum wir Ihnen nicht erzählen können, was wir in Zukunft machen wollen. Denn wer weiß, ob wir es uns nicht anders über- legen? Stills: Wir tun nur, was wir wollen. Ich wollte noch was sagen, hab aber vergessen, was … Young: … tja, das ist mir noch nie passiert. SPIEGEL: Sie vier sind als Egozentriker be- kannt.War es sehr anstrengend, sich auf die zwölf Stücke des neuen Albums zu einigen? Crosby: Egozentriker? Wir sind vier Brüder. Und ab und zu streiten wir mal, genauso wie andere Brüder auch. Aber die Presse

GLOBE / INTER-TOPICS GLOBE stürzt sich nur auf die negativen Ge- Popstars Crosby, Young (stehend), Stills, Nash in New York (1999): „Wir sind vier Brüder“ schichten. So wie: „Drei Nonnen von Pla- nierraupe überfahren – Bilder um 11 Uhr!“ Das lieben die. POP Young: Um allen Streit unter Brüdern zu vermeiden, hatten wir im Studio eine Tabelle an der Wand hängen. Da waren „Was heißt hier modern?“ alle Songs aufgeführt und unsere Initialen. Und wer meinte, dass ein Stück auf der Die Musiker David Crosby, Stephen Stills und Neil Young über Platte sein müsste, machte einfach einen Haken. die Kraft ihrer Musik, den Fall der Berliner Mauer Crosby: Ein Problem war, dass Neil nur un- und die neue Crosby-Stills-Nash-&-Young-CD „Looking Forward“ ter seinen Songs Haken gemacht hat.

Die sporadische Zusammenarbeit der Amerikaner Crosby, 58, Stills, 54, und des Briten Graham Nash, 57, mit dem Kana- dier Young, 53, begründete die Legende ei- ner „Supergruppe des Folkrock“ („Rolling Stone“). Von Januar an will das Quartett gemeinsam durch die USA und mögli- cherweise auch durch Europa touren.

SPIEGEL: Mr. Young, Mr. Crosby, Mr. Stills, in drei Jahrzehnten haben Sie es auf drei gemeinsame Studioalben gebracht, zu- letzt zusammen auf Konzerttour waren Sie 1974. Sind Crosby, Stills, Nash & Young eine Band oder mehr ein loser Hippie- Herrenclub?

Crosby: Also, nun passen Sie mal gut auf R. ELLIS und merken sich genau, was wir Ihnen sa- Erfolgsgruppe Crosby, Stills, Nash & Young (1974): „Ab und zu Streit“ gen. Wir verkünden das seit Ewigkeiten und tun das hier noch dieses eine Mal: Als Stills: (singt) Inquisition! Inquisition! Young: Na ja! wir anfingen, haben wir unsere eigenen Crosby: Weil es einfach langweilig ist. Ich Crosby: Ein anderes Problem war, dass ich Namen benutzt, weil wir parallel Solokar- möchte nicht ständig das Gleiche machen. nur für meine Songs gestimmt habe … Hey, rieren und andere Projekte verfolgen woll- Man kann künstlerisch nicht wachsen, das war nur ein Scherz! Ein Witz. Kapiert? ten.Wir haben es verdammt noch mal von wenn man ständig mit denselben Partnern Stills: Du musst dir das Publikum für deine Anfang an jedem erzählt. Und als wir es arbeitet. Scherze sorgfältiger aussuchen, Crosby. dann tatsächlich getan haben, schrien alle: SPIEGEL: Wie Sie sich künstlerisch allein Crosby: Ja? Echt? „Sie haben sich getrennt!“ Und jedes Mal, verwirklichen, interessiert aber deut- SPIEGEL: Um den Stil kann es in den ver- wenn wir uns wieder zusammengetan ha- lich weniger Menschen, als wenn Sie zu gangenen 30 Jahren kaum Zank gegeben ben, brüllten die Leute: „Wiedervereini- viert antreten. Frustriert das die Künstler- haben. Ihr milder Country-Rock hat sich gung!“ Einfach alles, was wir gesagt ha- seele? bis heute als resistent gegen alles Moder- ben, wurde ignoriert. Crosby: Zu viert verkaufen wir tatsächlich ne erwiesen. Stills: Was? zehnmal so viel wie jeder von uns allein – Stills: Hey, wir machen einfach unser Zeug Young: Achten Sie nicht auf ihn. Er hört mal abgesehen von Neil Young.Aber das ist und scheren uns einen Teufel um die an- nur das, was er hören will. in Ordnung und kein Problem. Wir sind deren. SPIEGEL: Warum war es Ihnen unmöglich, alle längst gut versorgt. Was wir hier tun, Crosby: Und was heißt hier bitte schön längere Zeit in einer Band zusammenzu- tun wir aus Spaß. Nicht weil eine Platten- „modern“? Egal, wie laut sie werden und bleiben wie tausende andere Musiker auch? firma oder die Steuer uns zwingt. welche merkwürdigen Akkorde sie spie-

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Werbeseite Kultur len, alle diese Bands spielen doch nur Young: … jede Woodstock-Debatte abzu- schen Widerstands und der Bürgerrechts- immer verfluchten Rock’n’Roll. Ich habe lehnen. Das alte Woodstock ist wirklich zu bewegung, und wir haben versucht, eine auch wieder angefangen, Radio zu hören. alt, und das neue hat gestunken. Nächste Menge Interviews mit einer Menge von Die guten Songs sind dünn gesät, aber es Frage bitte. Menschen zu führen. Der Film wird auch sind immer wieder welche dabei. Ich liebe SPIEGEL: Im Titelsong des neuen Albums im deutschen Fernsehen gezeigt werden, dieses Latin-Zeug, das bringt sogar mich gibt es diese Zeile „Trying not to use the und ein Buch kommt auch. zum Tanzen. Aber ich weiß auch, dass word ‚old‘“. Heißt das, Sie fühlen sich SPIEGEL: Warum die Mühe? Wollen Sie bei guter Rock’n’Roll, so wie unserer, so gut manchmal oder ständig alt? einer jungen Generation ein Bewusst- wie eh und je klingt. Unser Harmonie- Young: Nein, das ist einfach eine beiläufige sein reaktivieren, das verloren gegangen gesang ist richtig frisch und lebendig. Bemerkung. Ich habe das Wort bereits in scheint? Wir kennen auch die ganze moderne der ersten Strophe verwendet. Es ist ein Crosby: Es festhalten, zelebrieren und hof- Technik und wissen trotzdem, wie man Witz. fentlich aufrechterhalten. erstklassig Gitarre spielt. Wir wer- SPIEGEL: Stimmt die Geschichte, den sogar immer besser. dass Sie nach dem Fall der Berliner SPIEGEL: Ganz ignorieren können Mauer vor zehn Jahren sofort nach Sie trotzdem nicht, dass wir inzwi- Berlin geflogen sind? schen am Ende der neunziger Jah- Crosby: Ohne zu zögern.Vor allem, re angelangt sind. Das Radio hat weil ich die Reise auf Stephen Stills’ stark an Bedeutung verloren. Wer- Kreditkarte gebucht habe. den Sie ein Video für MTV machen? Stills: Ich habe es im Fernsehen mit- Stills: Video? bekommen und gedrängelt, bis wir Young: Videoclips. im Flugzeug saßen. Wir hatten Stills: Was ist damit? Hammer und Schraubenzieher da- Young: Danach fragen sie. bei und haben uns Teile aus der Crosby: Ach ja, wir werden einen Mauer herausgeschlagen. Meins prächtigen Videoclip aufnehmen. liegt nun auf dem Kamin. Stills: Ich finde, das Video sollte Crosby: Peng. Peng. Und sie haben eine Gruppe von nackten Mädchen uns erlaubt, vor dem Brandenbur- zeigen. ger Tor zu spielen. Das hat uns sehr SPIEGEL: Gab es nicht schon zu viel bedeutet. Die Mauer war ein Ihrem gemeinsamen Song „Ameri- Symbol dafür, was am Kalten Krieg can Dream“ Ende der Achtziger ei- alles böse war. nen Videoclip? Young: Wir haben den Fall der Mau- Young: Ja, aber auf Videos sind wir er als ein Zeichen großartiger Zei- echt mies. Wir wissen, was Videos ten gesehen. Es war kein Panzer, sind, sind aber keine von diesen Vi- der sie umgestürzt hat. Es war kei- deobands. ne Armee, die sie umgestürzt hat. Crosby: Wir könnten ein Video ma- Es waren Ideen und Ideale, es wa- chen mit Strichmännchen, die ren Menschen, die diese Mauer zu Spielzeugeisenbahn fahren. Fall gebracht haben. Stills: Nein, keine Eisenbahn. Die SPIEGEL: Und wirtschaftliche Fak- schlagen sich einfach eine Zeit lang toren. die Köpfe ein, und dann spielen sie Crosby: In Ordnung. Aber es waren wieder als Band zusammen, die Ideologen, die diese Mauer errich- Strichmännchen. tet haben. Und wir sind Idealisten,

SPIEGEL: Ihre Plattenfirma hat Ihr PRESS SIPA das ist ein ganz entscheidender Un- Werk ursprünglich für August an- Woodstock-Festival 1969: „Das W-Wort ist böse“ terschied. Und danke noch mal, gekündigt – könnten die Leute dort Stephen, dass du alles bezahlt hast. an das 30-jährige Jubiläum von Woodstock Crosby: Superwitz. Stills: Verdammt noch mal, ihr schuldet mir gedacht haben? Stills: Was? Geld. Aber ist auch egal. War ja ’ne gute Stills: Was für eine energische Frage. Young: Egal. Sache. Wir sind Optimisten. Young: Da müssen Sie die Plattenfirma SPIEGEL: Parallel zum Album haben Sie SPIEGEL: Was nährt Ihren scheinbar uner- fragen, ich weiß nicht, was die sich ge- an einer Fernsehdokumentation über schütterlichen Optimismus? dacht hat. die Geschichte des Protestsongs mitgear- Crosby: Wir waren schon immer so. SPIEGEL: Aber Sie haben die Woodstock- beitet … Young: Ich war optimistisch. Und ich war Neuauflage in diesem Jahr verfolgt? Im- Crosby: … dem Dokumentarfilm „Stand zornig. merhin haben Sie dort 1969 gespielt, und And Be Counted“ über Menschen, die für SPIEGEL: Was macht Sie zornig? Ihr Debütalbum „Déjà vu“ gilt als Dinge eingetreten sind, an die sie glaubten: Crosby: Er hasst es, wie ich mich kleide. Soundtrack der so genannten Woodstock- Bürgerrechtsdemonstrationen gegen den Young: Mir gefällt die negative Ausrichtung Generation.Von Ihren Idealen ist dem Fes- Krieg, Live Aid, Entwicklungshilfe, Am- Ihrer Frage nicht, und ich werde sie nicht tival nicht viel erhalten … nesty International und so weiter. Wir ha- beantworten. Crosby: Stopp! Stopp! Hören Sie auf, das ben eine Menge gelernt von dem Protest- Stills: Um welche Frage geht es? W-Wort zu benutzen. Pfui! Das W-Wort ist sänger Pete Seeger. Young: Was mich zornig macht. böse. Stills: Mal abgesehen von der Kommu- Stills: Hab ich schon kapiert, war nur ein SPIEGEL: Keine Antworten zum W-Wort? nistensache. Witz. Young: Wir haben abgestimmt darüber Crosby: Das ist nicht lustig, da hört der Young: Aha. Sonst noch etwas? und einhellig beschlossen, jede Wood- Spaß auf. Dieser Mann ist ein National- Crosby: Ende der Schimpfkanonade. stock … held. Die Vereinigten Staaten von Ameri- Interview: Christoph Dallach, Crosby: Aus! Pfui. ka haben eine große Tradition des politi- Wolfgang Höbel

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Philip Bethge, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, (003906) 6797522, Fax 6797768 Inland: Zwölf Monate DM 260,– SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Autoren, Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Europa: Zwölf Monate DM 369,20 KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, (0065) 4677120, Fax 4675012 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris, TOKIO Dr.Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Dr.Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Yokohama 224, Tel. 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Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger ✂ SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Christian Habbe, Heinz Höfl, DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Abonnementsbestellung Hans Michael Kloth, Dr.Walter Knips, Reinhard Krumm, Gudrun Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Patricia Pott Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoff- CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz mann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Oder per Fax: (040) 3007-2898. Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig- Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero Richter- Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, monatliche Programm-Magazin. Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Hefte bekomme ich zurück. gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoff- Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: mann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja E-Mail: [email protected] Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Name, Vorname des neuen Abonnenten Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Michael Walter, Stefan Wolff Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödi- ger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank PLZ, Ort Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. 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(0351) 8020271, Fax 8020275 Bankleitzahl Konto-Nr. Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfäl- Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 tigungen auf CD-Rom. ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Geldinstitut Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe FRANKFURT A. M. Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel.(069) 9712680, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 4180040, Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 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284 der spiegel 44/1999 Chronik 23. Oktober bis 28. Oktober SPIEGEL TV

SAMSTAG, 23. 10. treten zurück, weil die frühere Hypo- MONTAG bank Risiken von 3,6 Milliarden Mark in 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 FORMEL 1 Das Berufungsgericht des Inter- der Bilanz nicht berücksichtigt hatte. nationalen Automobilverbands hebt SPIEGEL TV REPORTAGE die Disqualifikation der Ferrari-Fahrer FORMEL 1 Die Deutsche Bank will für Welche Farbe hat der Krieg? wieder auf. 1,3 Milliarden Mark 50 Prozent des Das Dritte Reich: 1940 – 1945 Formel-1-Imperiums von Bernie Eccle- STARS Schlagersänger Rex Gildo („Fiesta stone kaufen. Mexicana“), 60, springt aus dem Fenster und stirbt drei Tage später an seinen Ver- BUNDESWEHR Die Weigerung der Bundes- letzungen. wehr, Frauen auch im Waffendienst ein- zusetzen, verstößt nach Ansicht des Ge- SONNTAG, 24. 10. neralanwalts der Europäischen Union ge- gen die Gleichbehandlungsrichtlinie. KRIEG Russland setzt trotz wachsender Kritik des Westens seine militärische Of- MEDIZIN In Bad Oeynhausen wird welt- fensive in Tschetschenien fort. weit erstmals einem Patienten eine mit eigenem Antrieb ausgestattete Herz- SCHWEIZ Rechtsrutsch bei den Schweizer SPIEGEL TV Hilfspumpe implantiert. Deutsche Soldaten (1945) Parlamentswahlen: Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die eine harte Auslän- MITTWOCH, 27. 10. Zweiter Teil der Reportage mit bislang derpolitik fordert, wird zweitstärkste Par- unveröffentlichtem Farbmaterial aus der tei hinter den Sozialdemokraten. PROZESSE Vor dem Bundesgerichtshof be- Nazi-Zeit. Darunter Aufnahmen von ei- ginnt der Revisionsprozess gegen den nem Sommerlager der Hitlerjugend, Sze- MONTAG, 25. 10. letzten DDR-Staatschef Egon Krenz, der nen aus dem Russlandfeldzug und von wegen Totschlags an DDR-Flüchtlingen KLIMASCHUTZ Deutschland will den Aus- Rommels Afrikakorps, aber auch Bilder zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb stoß von Kohlendioxid bis zum Jahr 2005 aus dem Warschauer Ghetto und von KZ- Jahren verurteilt wurde. um 25 Prozent verringern, verspricht Häftlingen. Kanzler Gerhard Schröder zu Beginn der RÜSTUNG Das Verteidigungsministerium Klimaschutzkonferenz in Bonn. bestätigt, dass die Bundeswehr die Türkei DONNERSTAG beim Aufbau eines C-Waffen-Labors un- 22.10 – 23.00 UHR VOX ROT-GRÜN Die Lieferung eines Test-Pan- terstützt. zers an die Türkei führt zu heftigen Aus- SPIEGEL TV EXTRA einandersetzungen in der Koalition. Ein STEUERN Banken sollen Kontrollmittei- Bunkerwelten Export von 1000 Panzern soll nur erfol- lungen über Zinserträge ihrer Kunden Auf persönlichen Befehl Hitlers sollten gen, wenn es Fortschritte in der Men- ans Finanzamt senden, fordert SPD-Frak- alle deutschen Städte mit ausreichenden schenrechtspolitik der Türkei gebe. tionsvorsitzender Peter Struck. Luftschutzanlagen ausgestattet werden. Nach dem Krieg ließ man die meisten An- PROZESSE Im Hooligan-Prozess gegen die ARMENIEN Der armenische Ministerpräsi- lagen einfach stehen, ein Abriss war in Schläger, die den französischen Polizisten dent Wasgen Sarkisjan wird bei einem der Regel zu teuer. Viele Bunker werden Daniel Nivel bei der Fußballweltmeister- Anschlag im Parlament getötet. schaft schwer verletzt hatten, fordert der inzwischen neu genutzt: als Möbelhaus, Restaurant, Bürogebäude oder Aquarium. Staatsanwalt Haftstrafen bis zu 14 Jahren. DONNERSTAG, 28. 10.

DIENSTAG, 26. 10. KULTUR Kanzler Schröder eröffnet in SAMSTAG Hamburg die Ausstellung „Querbeet“ mit 22.00 – 23.00 UHR VOX AFFÄREN Sechs Vorstände und ein Auf- Bildern des verstorbenen Malers Horst sichtsratsmitglied der HypoVereinsbank Janssen. SPIEGEL TV SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert Während des Manövers „Bright Die Herrenrasse Star“ in der ägyptischen Wüste, Der Holocaust: vierter Teil der zehnteili- an dem elf Staaten teilnahmen, gen Dokumentationsreihe. überflogen amerikanische B-1- Bomber die Pyramiden. SONNTAG 22.10 – 23.25 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Herbstgeschichte – Das Ende der deutschen Teilung Als am Abend des 9. November 1989 der Schlagbaum des Berliner Grenzüber- gangs Bornholmer Straße geöffnet wurde, dokumentierte allein ein Kamerateam von SPIEGEL TV dieses historische Er- eignis. Es war der Moment, an dem die Mauer fiel. Aus bisher zum Teil unveröf- fentlichten Originalmaterialien rekon- struieren Stefan Aust und Katrin Klocke den Herbst, der Geschichte machte. REUTERS

285 Register

Gestorben schrieb er Hits für das Kingston Trio, für Joan Horst Krüger, 80. Er nannte sich einen Baez, Waylon Jen- Schriftsteller auf Reisen und war überzeugt nings, Linda Ronstadt davon, man fahre weg, „um sich näher zu – und schließlich auch kommen“. Das tat er mit Erfolg: Seine im- für den ,,King“. Leich- pressionistischen Beobachtungen und Rei- te Muse zumeist, doch sebilder, gesammelt auf Fahrten bis in die nicht nur: Steppen- hintersten Winkel von China, füllen mehr wolfs ,,The Pusher“ als 20 Bücher und machten ihn während und Ringo Starrs ,,No der fünfziger und sechziger Jahre zu ei- No Song“ sind Plä- nem populären Autor. Daneben verfasste doyers gegen den Dro- er literarische und politische Essays, Glos- genmissbrauch.Als die sen, Skizzen, Reportagen und Städte-Fea- Polizei 1997 bei ihm

tures fürs Fernsehen. selbst Marihuana ent- GALELLA / INTER-TOPICS Krüger, geboren in deckte, saß Axton, in- Magdeburg, wuchs in zwischen auch Film- und Fernsehschau- Berlin auf. Sein viel- spieler, nach einem Schlaganfall im Roll- leicht bekanntestes stuhl. Obwohl er beteuerte, den Stoff nur Buch „Das zerbroche- als Schmerzmittel benutzt zu haben, wur- ne Haus. Eine Jugend de er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. in Deutschland“ er- Hoyt Axton starb vorigen Dienstag auf sei- zählt die Geschichte ner Ranch in Montana an Herzversagen. seiner Familie wäh- rend des National- Wasgen Sarkisjan, 40. Zu Sowjetzeiten

DPA sozialismus. Krankhei- Fußballtrainer und Propagandist, gründete ten hinderten ihn seit er am Ende Kampfgruppen, die dem Na- einigen Jahren am Weiterschreiben, er ver- tionalisten Ter-Petrosjan beistanden. Die- stummte, offenbar ohne Groll. „Ich jeden- ser wurde 1991 erster Präsident eines un- falls gehöre nicht mehr ins neue Jahrtau- abhängigen Armenien, bis Sarkisjan, nun send. Ich danke. Es reicht mir“, sagte er Verteidigungsminister, ihn stürzte und sich einmal. Horst Krüger starb am 21. Oktober mit dem Altgenossen Karen Demirtschjan in Frankfurt am Main. verband, vormals Ar- meniens KP-Chef. Ei- Leonard Boyle, 75. Für Scharen von For- ne gemeinsame Liste schern war der hochgelehrte Dominikaner „Einheit“ gewann die das gute Herz im ältesten Archiv der Welt: Wahlen im Mai, Sar- Als Präfekt der Vatikanischen Bibliothek kisjan wurde Premier arbeitete Boyle, ein kleiner verschmitzter und Demirtschjan, 67, Ire, seit 1984 an der Öffnung des päpstlichen Parlamentsvorsteher. Schatzhauses. Der Mittelalter-Kenner stell- Beide lehnten sich an te Frauen ein, lockerte die Kleidungsregeln Russland an – zum und ließ ein Café einrichten – ganz zu Zorn der Nationalis-

schweigen vom neuen elektronischen Ka- DPA ten, deren Daschnak- talog. Doch 1997 wurde Boyle rüde gefeu- sutjun-Partei nur noch ert: Der Verkauf von acht Prozent der Stimmen gewonnen hat- Bibliotheks-Bildrech- te. Ihr ehemaliges Mitglied Nairi Unanjan ten an dubiose US- stürzte vorigen Mittwoch mit Kumpanen Spekulanten hatte die ins Parlament und erschoss Wasgen Sarkis- Kurie in Rechtshändel jan, auch Karen Demirtschjan und sechs verwickelt, und der li- weitere Politiker kamen ums Leben. berale Pater ohne Seil- schaftsrückhalt war ein Ehrung willkommener Sün- denbock. Boyle wurde Thomas Lehr, 41, aus Speyer stammender zwar von seinen Bi- und in Berlin lebender Computerfachmann

GALAZKA bliothekaren weiterhin und Schriftsteller, erhält am 7. November verehrt.Aber er setzte auf Schloss Vollrads den mit 15000 Mark keinen Fuß mehr in den Vatikan und zog und 111 Flaschen Rheinwein dotierten sich zurück. Leonard Boyle starb vergan- „Rheingau Literatur Preis“. Der Nach- genen Montag in Rom. wuchsautor (SPIEGEL 41/1999) wird diese Auszeichnung für seinen neuesten Roman Hoyt Axton, 61. Schon seine Mutter Mae „Nabokovs Katze“ – eine ironische Hom- Axton war im Pop-Geschäft. Mit Elvis mage an die Frauen – entgegennehmen. Be- Presley schrieb sie an dem legendären reits für seinen Erstling „Zweiwasser oder ,,Heartbreak Hotel“. Ihr eiferte der junge Die Bibliothek der Gnade“ wurde ihm 1994 Barde Ende der fünfziger Jahre nach. Bald der „Maria-Cassens-Preis“ verliehen.

286 der spiegel 44/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Lord Irvine, 59, britischer Justizminister, will die Richter des Landes zu politisch korrektem Verhalten gegenüber Auslän- dern anhalten. Nach einer Serie von rassis- tischen Entgleisungen vor Gericht gab sei- ne Behörde kürzlich einen Benimm-Leit- faden für Juristen heraus. Darin wer- den die Richter auf- gefordert, Auslän- der vor Beginn ei- ner Verhandlung höflich zu fragen, wie man sie anredet und wie ihr Na- me ausgesprochen wird. Ausdrücke wie „Paki“ (für Pa- kistaner), „Orienta- le“ oder „Neger“ seien grundsätzlich unzulässig. Ferner erfahren die bri- tischen Juristen Nachhilfe in kultu- rellen Besonderhei-

REX FEATURES ten. So sei der Kon- Irvine sum von „ganja“ – Cannabis – bei den aus Jamaika stammenden Rastafaris eine religiöse Tradition, eine Art „Sakrament“. Zudem kündigte Irvine – sicher ist sicher – weitere Benimm-Regeln an: für das kor- rekte Verhalten gegenüber „Behinderten,

Frauen und Homosexuellen“. REX FEATURES Iman Percy Ross, 82, amerikanischer Autor und Millionär aus Minneapolis, hat sich um sein David Bowie, 52, Pop- gewagt hätte zu sagen komplettes Vermögen gebracht – freiwillig. Idol aus Großbritannien oder Margaret That- In seiner Zeitungskolumne „Tausend („Heroes“), fühlt sich cher.“ Iman, 44, reagiert Dank“ (sie erschien in insgesamt über 800 eng verbunden mit dem souveräner auf ihren Publikationen, so in den „Daily News“, britischen Premiermi- Verehrer: Das somalische New York, und im „Indianapolis Star“) ver- nister Tony Blair, 46. „Er Ex-Supermodel und der schenkte er im Laufe von 17 Jahren über 30 war Gitarrist in einer seit 19 Jahren verheirate-

Millionen Mark an seine Leser. Unterstützt Studenten-Rock-Gruppe, / DPA PA te Labour-Mann hatten wurde jeder, der Ross glaubhaft von seiner und ich habe phanta- Blair, Iman, Bowie schon vor drei Jahren öf- Not überzeugen konnte. So bezahlte er siert, Premierminister fentlich einen heftigen den Bau von Jugendheimen, bezuschusste zu sein“, so erzählte der Musiker der verbalen Flirt: Blairs Radio-Beichte, Organtransplantations-Zentren und ließ so- „Times“, offenbar auf Ebenbürtigkeit aus, Iman sei seine Traumfrau, bedachte die gar für eine 26-jährige Leserin Geld sprin- denn es galt, ein heikles Blair-Bekenntnis Schöne mit dem charmanten Eingeständ- gen, die sich neue Zahnkronen wünschte. aufzufangen. Bowie: „Er erklärte, dass nis: „Ich bin so verliebt in David. Aber Etwa 10 000 Bettelbriefe erhielt er wö- er als Mann fasziniert ist von Iman, Tony Blair kann ich nicht widerstehen. chentlich. Viele davon verwendete der meiner Frau, etwas, was John Major nie Er ist ein sehr gut aussehender Mann.“ Sohn armer sowjetischer Einwanderer, der sein Geld mit einer Kunst- stoff-Fabrik gemacht hatte, Joschka Fischer, 51, deutscher Außenmi- in den Kolumnen. In seinen nister, machte sich in Paris um besseres letzten Zeilen bedankte Ross deutsch-französisches Verständnis ver- sich jetzt bei den Lesern: dient. Bei einem vom deutschen Bot- „Ich habe mein Ziel erreicht. schafter Peter Hartmann in dessen Resi- Ich habe alles weggegeben. denz „Palais Beauharnais“ gegebenen Es- Trotzdem bin ich heute rei- sen mit Journalisten beider Nationen wur- cher als zuvor.“ Danach ge- de der Grünenpolitiker um eine Erläute- noss er eine Kreuzfahrt im rung ersucht, warum sein Freund Daniel Mittelmeer – ein Geschenk Cohn-Bendit es als Grüner in Deutschland

seines Sohnes und der erste AP nie zu nationalem Rang gebracht habe, Urlaub seit 17 Jahren. Ross während die Franzosen den „Vert“ neuer-

288 der spiegel 44/1999 dings wie eine Lichtgestalt feierten. Der Schlachten wird aber nicht Landfrau Mül- „wirkliche Freund seit 1969“, so Fischer ler, sondern ein Fachmann übernehmen. über Cohn-Bendit, sei halt kein Deut- scher, sondern „ein Franzose mit deut- Kerry Packer, 61, australischer Medienty- schem Pass“. Dessen emotionale Heimat coon und Black-Jack-Fan, geht in die Ge- erläuterte Fischer sodann am Beispiel schichte der englischen Spielcasinos ein: Fußball. Da sehe man, „wo Daniels Herz schlägt“: Wenn näm- lich Frankreichs Trico- lore-Elf kicke, sei der Dany „absolut uner- träglich“.

Christa Müller, 43, Ehefrau von Oskar Lafontaine, offenbar- te jüngst ungeahnte Talente: Vom Lamm bis zum Rindvieh

kann die diplomierte ( re.) PRESS ( li.); REX FEATURES WILLIAMS / BULLS J. FOTOS: Volkswirtin nach eige- Crockford’s Club Packer nen Angaben alles fachgerecht zerlegen. Zusammen mit ihrem Der notorische Gambler verspielte im Mann habe sie sogar schon eine große Crockford’s Club im vornehmen Londo- Wildsau abgeschwartet, das Tier an- ner Stadtteil Mayfair 33 Millionen Mark. schließend waidmännisch zerwirkt und in Damit ist Packer auf der Insel absoluter Filets und Braten zerteilt. Diese Fähigkei- Rekordverlierer. Der reichste Mann Au- ten werden ihr sicher zugute kommen, straliens, der schon acht Herzattacken wenn der Bauernhof gefunden ist, auf dem überlebt hat, nahm es gelassen: Sein Ver- sie und ihr SPD-Pensionär nach ökologi- mögen wird auf 4,5 Milliarden Mark ge- schen Grundsätzen wirtschaften wollen. schätzt. Und Pleiten stehen bei Packers Eine Muttertierherde mit Angus-Rindern Streifzügen durch die Spiel-Paläste von soll dann angeschafft werden und Vogel- London bis Las Vegas eher selten auf dem vieh für Söhnchen Carl-Maurice. Das Programm. In Nevada konnte er vor zwei Jahren 39 Millionen Mark in einer Nacht einstreichen. Zocken hat bei Packers zu- dem Familientradition: Sein tasmanischer Großvater fand einst eine 10-Shilling-Note auf der Straße, setzte sie auf ein Pferd und gewann so das Geld für die Überfahrt aufs australische Festland. Dort schuf der Ge- legenheitsjournalist das große australische Medien-Imperium – ein solider Grundstein für die Spielleidenschaft seines Enkels.

Rudolf Dreßler, 58, SPD-Sozialexperte, und seine Familie sorgen bei gemeinsamen Ferienreisen für Konfusion an der Hotelre- zeption. Sein Schwiegersohn Michael heißt mit Nachnamen Müller, genauso wie Ru- dolf Dreßlers frisch gebackene dritte Ehe- frau Doris, 39, die vom neuen Namensrecht Gebrauch machte. Dresslers Tochter Simo- ne, 37, hat ebenfalls ihren Mädchennamen behalten und trägt sich mit Dreßler ein. „Weil nicht Dreßler mit Dreßler und Mül- ler mit Müller aufs Zimmer gehen, gucken die Leute manchmal ganz komisch“, amü- siert sich der SPD-Mann.Auch die jüngsten Familienmitglieder sorgen für Verwirrung. „Mama, mein Onkel hat mich gehauen“, beschwerte sich kürzlich Dreßlers Enkel- tochter Ana-Luca, 5, und meinte damit des-

BECKER & BREDEL / ACTION PRESS BECKER & BREDEL / ACTION sen jüngsten Sohn Tim, 3 Jahre alt.

Müller, Sohn 289 Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate

Der „Tagesspiegel“ über die erste Ausgabe von „SPIEGELreporter – Monatsmagazin für Aus der „Ostfriesen Zeitung“ Reportage, Essay, Interview“:

Der SPIEGEL steht hinter SPIEGELrepor- Aus der „Rhein-Zeitung“: „Hans Hölzel ter … Gleicher Herausgeber, gleicher Chef- alias Falco, Österreichs international erfolg- redakteur, gleiche Redaktion, gleiche reichster Popstar, soll zwei Jahre nach sei- Adresse, ein legitimes Kind des SPIEGEL. nem Tod als Mittelpunkt einer Musical- Das lässt hoffen und alle Wohlmeinenden Show ins Rampenlicht zurückkehren.“ können das nur begrüßen. Nach all dem Schrott an Neuerscheinungen, dem jour- nalistischen Vorwand, der auf Anzeigen Aus einem Schreiben der „Haspa“, Ham- schielt, nach all den Diät-, Frisur,- Porno-, burger Sparkasse, an einen Kunden: „Die Fitness-, Fun-, Lifestyle-Publikationen übrigen Veränderungen bleiben unverän- endlich mal wieder ein seriöser Versuch, dert.“ Leser zu informieren, zu begeistern statt Anzeigenkunden gefällig zu sein … Be- richten, was kommt und bleibt, so die redaktionelle Formel von Stefan Aust, dem Kopf des Unternehmens. Mit ihm denken 15 SPIEGEL-Redakteure, die, integriert in der Stamm-Redaktion, das Blatt machen. Aus dem „Aschaffenburger Anzeiger“ Ein gutes Blatt. Die Reportagen laufen nicht im Mainstream, sondern beschreiben die Ränder … Ein nachdenkliches, ein an- spruchsvolles Programm. Kann das die er- hoffte Auflage von 120000 Exemplaren er- reichen? Schwer zu sagen, aber entschie- den zu hoffen. Und wenn nicht? Da sollten Aus der Zahnärztezeitschrift „DZW“ die Verantwortlichen für das Gesamte (Herausgeber, Chefredakteur, Geschäfts- führung) sich auch an Übergeordnetes er- innern und die Entscheidung nicht Spar- tenleitern (Controller) überlassen. Auch Buchverleger schleppen Wichtiges, Wert- volles mit, was Erfolgreiche (Bestseller) finanzieren. Der SPIEGEL ist mehr als ein Aus der „Rhein-Zeitung“ Wirtschaftsunternehmen. Er ist eine Basti- on für guten Journalismus.

Aus der „Rheinischen Post“: „Die Malerin Die „Berliner Zeitung“: beschäftigt sich seit fast 30 Jahren mit der Verschandelung der Umwelt. Sie studierte Die Qualität, die die Stars des Verlags ab- an der Folkwangschule für Gestaltung in liefern, ist überwiegend beeindruckend. Essen und an der Düsseldorfer Kunstaka- Das gilt für Cordt Schnibbens Reportage demie.“ aus einem bolivianischen Gefängnis ohne Wärter sowie Uwe Buses Beitrag über „Die Zukunft des Krieges“ … Schwächen lassen sich verschmerzen, denn den anderen deutschen General-Interest-Zeitschriften ist SPIEGELreporter schon mit der ersten Ausgabe um Lichtjahre voraus.

Die „Süddeutsche Zeitung“:

Aus der „Ärzte-Zeitung“ Wie ist eine Zeitschrift, die unter anderem von 13 Reportern gemacht wird, die mit dem Kisch-Preis ausgezeichnet wurden? Klar: Sie enthält wunderbare Reportagen. Echte Reportagen, keine Berichte mit at- mosphärischen Einsprengseln. Klassische Reportagen, die ein Thema durch den Blick des Reporters erkunden – und nicht den Blick auf den Reporter lenken, wie es Aus „Bild am Sonntag“ modern ist.

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