Jahrbuch 2005
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www.doew.at Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.) JAHRBUCH 2005 Schwerpunkt Frauen in Widerstand und Verfolgung Redaktion: Christine Schindler Wien: LIT Verlag 2005 Inhalt – Jahrbuch 2005 www.doew.at Peter Steinbach Annäherung an einen Augenblick Der 20. Juli 1944 in der Forschung und im Bewusstsein der Deutschen nach 1945 7 Schwerpunkt Frauen in Widerstand und Verfolgung Karin Stögner Über einige Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und Antifeminismus 38 Herwig Czech Geburtenkrieg und Rassenkampf Medizin, „Rassenhygiene“ und selektive Bevölkerungspolitik in Wien 1938 bis 1945 52 Brigitte Halbmayr Sexzwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern 96 Helga Amesberger Österreicherinnen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück 116 Hemma Mayrhofer „Bis zum letzten Atemzug werde ich versuchen dagegen anzukämpfen!“ Irma Trksak — Ein Lebensweg des Widerstehens 145 Daniela Gahleitner / Maria Pohn-Weidinger Biografieforschung: Erzählte Lebensgeschichten als Zugang zu Vergangenem Theoretische Annahmen und methodisches Vorgehen 175 Inhalt Varia – Jahrbuch 2005 www.doew.at Erwin Chvojka Ballade von den 28 toten Bulgaren im Wiener Prater 196 Gerhard Oberkofler Der Mathematiker Paul Funk wird mit der „Vergangenheitsbewältigung“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften konfrontiert 200 Michael Hubenstorf Medizinhistorische Forschungsfragen zu Julius Wagner-Jauregg (1857–1940) 218 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Tätigkeitsbericht 2004 234 AutorInnen 254 PETER STEINBACH – Jahrbuch 2005 www.doew.at ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK Der 20. Juli 1944 in der Forschung und im Bewusstsein der Deutschen nach 19451 Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus zählt heute zu den zeitge- schichtlichen Traditionslinien, die in besonderer Weise mit unserer Gegen- wart verbunden sind und in der Regel zur Vorgeschichte der deutschen Nach- kriegsdemokratie gerechnet werden. Anfang der sechziger Jahre hingegen war es keineswegs selbstverständ- lich, davon auszugehen, dass sich die politischen Maßstäbe nicht zuletzt im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gebildet und befestigt, sondern auch bewährt hätten. Die Deutschen taten sich bis in die sechziger Jahre hinein trotz des öffentlichen Erinnerns an den Widerstand schwer mit dem Eingeständnis, dass es zur Anpassung und Folgebereitschaft unter dem Nationalsozialismus Alternativen gab. Immer wieder rückten sie an ihren Stammtischen Regimegegner in das Zwielicht. Zunächst bezeichneten sie diese als „Hoch-“, dann als „Landesverräter“, und seit den fünfziger Jahren rückte man sie zunehmend in das Halbdunkel, dass unvermeidlich entsteht, wenn man die Grenzen von Konfrontation und Kooperation, von Opposition und Funktionserfüllung im Verwaltungs- und Wehrmachtsapparat nicht zu bezeichnen, sondern lebenspraktisch, geradezu täglich, gleichsam existentiell auszuhalten hat. Wer nach 1945 über den Widerstand sprach, nahm Stellung zu einer nicht selten selbstquälerischen Debatte über seine Voraussetzungen. Die Attentäter im Umkreis des 20. Juli 1944 boten sich dazu in besonderer Weise an, denn sie verkörperten eine Alternative zu ihrer Zeit und hatten das Zwielicht kennen gelernt, das Opposition im Dritten Reich unausweichlich nach sich zog. Dies gilt für Trott wie für Moltke und Yorck, für Tresckow und von der Schulenburg, um nur einige der markanten Namen zu nennen. Zwielicht unterscheidet sich von der Dunkelheit, es kann in diese hineinführen, aber auch in das Licht des Tages. Es zeichnet sich durch eine Ambivalenz aus, die ein großes Potential in sich trägt. Denn wer im Zwielicht steht, und vielleicht sollte man besser vom „Schatten“ sprechen, und sich dort, und ich betone: 1 Festvortrag anlässlich der Jahresversammlung des DÖW, Wien, 15. März 2004. 7 STEINBACH: ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK STEINBACH: ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK dort, für Klarheit und Wahrheit, für Eindeutigkeit entscheidet, der befreit sich – Jahrbuch 2005 www.doew.at – Jahrbuch 2005 www.doew.at aus eigener Kraft, der bahnt sich einen neuen Weg. Die größten Gestalten des Alten und des Neuen Testaments zeichnen sich durch ihre Konfrontation mit dem Zwielicht aus. Manche versagen, andere nicht, und die bewundern wir besonders. Wir vergessen fast, dass sie — wie etwa Petrus — dreimal den Herrn verleugneten, ehe der Hahn krähte. Dass sie einst Verfolger, Staatsterroristen, Menschenschinder waren, wie Saulus, bevor er zum Paulus wurde, der Genugtuung beim Tod der Christen empfun- den hat und zunächst einmal derjenige war, der den Tod des Heiligen Stefan, des ersten Märtyrers, freudig erregt verfolgt hatte. Dass sie nicht nur, wie König David, eine Frau schwängerten, die sie begehrten, sondern auch deren Gatten aus dem Wege räumten, indem sie ihn mit Mordgedanken in eine ge- fährliche Schlacht schickten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verständlich, wenn wir immer wie- der mit Blick auf den Widerstand über die angebliche Verstrickung von Regimegegnern in Strukturen des Regimes diskutieren. Sie wussten besser als wir, dass es in Diktaturen keine Schuldlosen gibt. Ihr Exempel ist nicht die Schuldlosigkeit, sondern die Verantwortungsfähigkeit, der Wille zur Ver- antwortung, der aus der Schuld herausführt. Mit der öffentlichen Auseinandersetzung, die seit den sechziger Jahren einsetzte, wuchs die Bereitschaft, der Beschäftigung mit dem Widerstand im Dritten Reich in der politischen Kultur und politischen Bildung der Bun- desrepublik Deutschland einen festen Platz einzuräumen. Dies bedeutete al- lerdings auch, dass vielfach, keineswegs jedoch immer, die Würdigung des Widerstands aus einer gegenwartsorientierten Perspektive erfolgte, die nicht zuletzt die deutsche Teilung gespiegelt hat. Derartige Verengungen der Widerstandsgeschichte sind in den vergan- genen Jahrzehnten weitgehend überwunden worden. Immer stärker rückte nämlich in das Bewusstsein, dass die entscheidenden Kriterien einer ange- messenen moralischen Würdigung des Widerstands nicht die Fragen des „Landesverrats“, des „Eidbruchs“ oder einer Verpflichtung zur Abwehr eines Sieges der Roten Armee sein konnten, wie man noch in den fünfziger Jahren betont hatte, sondern eine Handlungsorientierung, die ihre Rechtfertigung aus der „Vollmacht des Gewissens“ im Kampf gegen die nationalsozialisti- sche Diktatur und aus der Bereitschaft zum persönlichen Risiko zog. Die zunehmend akzeptierte Deutung des NS-Regimes als Unrechtsstaat — mithin als Gegenbild des Rechtsstaates und als Unrechtsordnung, die die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen zum Ziel hatte und im Zu- sammenhang mit dem entfesselten Rassen- und Weltanschauungskrieg die 8 9 STEINBACH: ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK STEINBACH: ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK www.doew.at – Jahrbuch 2005 www.doew.at „Endlösung“ der „Judenfrage“ anstrebte — legitimierte zunehmend den Wi- – Jahrbuch 2005 www.doew.at derstand, der seit den fünfziger Jahren mit den Attentätern des 20. Juli geehrt wurde. Die nationalsozialistische Diktatur rechtfertigte so bereits durch ihre Existenz, vor allem aber durch die in ihrem Namen begangenen Verbrechen, jeden Versuch, sich diesem Regime zu entziehen oder sich ihm durch aktiven Widerstand entgegenzustellen. Im Widerstand, so lautet heute das nahezu einhellige Urteil, verkörperte sich eine politische, nicht zuletzt aber auch mo- ralische und ethische Alternative deutscher Politik, die nach der Befreiung vom Nationalsozialismus den Weg Deutschlands in die Nachkriegsordnung erleichterte. Deshalb wurde der Widerstand vielfach als Teil einer universalen Men- schenrechtsbewegung gedeutet. Hans Rothfels identifizierte in diesem Sinn am 20. Jahrestag des Anschlags auf Hitler als „Grund des Widerstands“ dessen Bereitschaft und Befähigung, zum „Prinzipiellen“ vorzustoßen, „zu den Kräften moralischer Selbstbehauptung, die über die Erwägung des bloß politisch Notwendigen hinausgehen“. In den sechziger und siebziger Jahren führte diese Öffnung des Blicks zur Erschließung bis dahin oftmals vernachlässigter Widerstandsbereiche, etwa von Jugendlichen, religiösen Kleingruppen, Frauen, Juden und Häftlingen. Dies hatte eine inhaltliche Differenzierung des Widerstandsbegriffs zur Folge, der nun Elemente des Protestes, des Konfliktes, der Widerstandsfähigkeit im Sinne gruppen- und regionalspezifischer Resistenz, überdies der Dissidenz enthielt. Damit rückte auch der alltägliche, d. h. im Alltag bewiesene, Wider- stand in den Blick und leitete eine weit über die Erschließung eines neuen Fel- des der Geschichte von individueller Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945 hinausgehende begriffliche Inflationierung ein, die Widerstand zum geschichtspolitisch legitimierten Schlagwort und Kampfbegriff zu ma- chen drohte. Vor dieser Entwicklung haben Historiker wie Karl Dietrich Bracher, Theologen wie Eberhard Bethge und Juristen wie Arthur Kaufmann in tages- und erinnerungspolitischen Stellungnahmen sehr grundsätzlich und auch frühzeitig gewarnt. Widerstandsgeschichtliche Forschungen der sechziger Jahre korrigierten allerdings auch das vor allem in politischen Gedenkreden stark verbreitete Bild von einem freiheitlich-westlichen, verfassungsstaatlich orientierten Ziel, das die Regimegegner gleichsam in die Vorgeschichte des Grundgesetzes zu rücken suchte. Diese Revision führte vielfach zu groben historischen Verzeichnungen, die daraus resultierte, dass die Regimegegner aus den Denkvorstellungen ihrer Zeit argumentierten. Die war aber gerade nicht 8 9 STEINBACH: ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK STEINBACH: ANNÄHERUNG AN EINEN AUGENBLICK demokratisch und parlamentarisch orientiert. In den