Volksreligion im Spiegel der Zivilgesellschaftstheorie: Gottbegrüßungsprozession in während der Republikzeit

Von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommene D I S S E R T A T I O N zur Erlangung des akademischen Grades DOCTOR PHILOSOPHIAE (Dr. phil.) vorgelegt

von Zhejun, YU

geboren am 5. 1. 1979 in Shanghai,

Gutachter: .....Prof. Dr. Hubert Seiwert...... Prof. Dr. Christoph Kleine.....

Tag der Verteidigung: .....8. Juli 2010......

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Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkung und Thematisierung: Zivilgesellschaft und volksreligiöse Feste in

China...... 10

2. Zivilgesellschaftstheorie im abendländischen Kontext ...... 17

2.1. Terminologie: Einblick in den Zivilgesellschaftsdschungel...... 17

2.2. Das Problemfeld...... 19

2.2.1. Zivilgesellschaft - Staat...... 19

2.2.2. Zivilgesellschaft - Privatsphäre...... 21

2.2.3. Zivilgesellschaft - Ökonomie...... 22

2.3. Zwei Ansätze der Zivilgesellschaftstheorien ...... 23

2.3.1. Der Analytisch-deskriptive Ansatz ...... 23

2.3.2. Der Idealistisch-präskriptive Ansatz...... 24

2.4. Merkmale der Zivilgesellschaft ...... 26

2.5. Modelle der Zivilgesellschaft ...... 30

2.5.1. Das Trennungsmodell ...... 31

2.5.2. Das Oppositionsmodell...... 33

2.5.3. Das Öffentlichkeitsmodell ...... 34

2.5.4. Exkurs: Habermas’ Öffentlichkeitstheorie...... 35

2.5.5. Das Unterstützungsmodell...... 39

2.5.6. Das Partnerschaftsmodell...... 40

2.5.7. Die globale Zivilgesellschaft ...... 41

3. Zivilgesellschaftsdiskussion im chinesischen Kontext...... 43

3.1. Die „Modern China Debate“...... 44

3.1.1. Rowe ...... 45

3.1.2. Rankin...... 47

3.1.3. Wakeman...... 48

3.1.4. Huang: The Third Realm ...... 49

3.1.5. Fazit...... 49

2 3.2. Die chinesische Diskussion...... 52

3.2.1. Ma Min: Die „Keim-These“ ...... 52

3.2.2. Die Diskussionsrunde in Lishi Yanjiu (历史研究)...... 53

3.2.3. Fazit...... 55

4. Religion und Zivilgesellschaft ...... 58

4.1. Zaret: Religion als Habermas’ „blinder Fleck“...... 58

4.2. Casanova: Religion und Demokratisierung ...... 59

4.3. Zivilgesellschaft und Demokratisierung...... 61

5. Operationalisierung der Fragestellung...... 64

5.1. Zusammenfassung des Forschungsstandes...... 64

5.2. Die Gefahr des idealistisch-präskriptiven Ansatzes...... 66

5.3. Zivilgesellschaftstheorie als Idealtypus im Weberschen Sinn ...... 67

5.4. Die ungelösten Fragen und der Nutzen der Zivilgesellschaftstheorie ....69

5.5. Volksreligiöses Fest als Indikator der chinesischen Gesellschaft ...... 73

6. Einführung in die Gottbegrüßungsprozession in China...... 75

6.1. Etymologie und Sprachgebrauch ...... 77

6.2. Arbeitsdefinition ...... 80

6.3. Prozession als das Kennzeichen der kommunalen Religion...... 81

6.3.1. Die Problematik des Begriffs „Volksreligion“...... 81

6.3.2. Ein Vier-Ebenen-Modell...... 85

6.3.3. Die kommunale Religion Chinas...... 88

6.4. Die kosmologische Ordnung...... 91

6.5. Die Gottbegrüßungsprozessionen in den Provinzen Chinas...... 93

6.6. Gesetzliche Verbote in der Kaiserzeit ...... 102

6.7. Forschungsgeschichte und Problematik...... 106

6.8. Anhang: Karten und Tabellen ...... 114

7. Die Gottbegrüßungsprozessionen in Shanghai ...... 125

7.1. Eingrenzung des Forschungsgegenstandes...... 125

7.1.1. Zeitliche Eingrenzung: die Republikzeit ...... 125

7.1.2. Räumliche Eingrenzung: Shanghai...... 129

3 7.2. Quellen...... 130

7.3. Grundform einer Prozession ...... 132

7.4. Die alternativen Formen ...... 135

7.5. Aufbau eines Umzuges ...... 137

7.6. Glaubensgegenstand: Gottheiten der Prozessionen ...... 144

7.7. Häufigkeit und Dauer...... 146

7.8. Geographische Differenzierung...... 148

7.9. Anhang: Karten und Tabellen ...... 149

8. Die Haltung der Regierung und ihre mediale Repräsentation ...... 160

8.1. Die schlechte Erinnerung: Der Vorfall aus dem 18. Jahrhundert...... 160

8.2. Die Vorschriften und Gegenmaßnahmen der Behörden ...... 162

8.3. Die Zwischenfälle in Shanghai ...... 164

8.3.1. Der Brandanschlag auf die Polizeiwache in Luodian (1914) ...... 164

8.3.2. Das Janusgesicht der staatlichen Macht (1926)...... 165

8.4. Die Zwischenfälle in der Nachbarregion und ihre mediale Repräsentation

in Shanghai...... 167

8.4.1. Die Prozessionen in Zhenjiang (1919-20) ...... 167

8.4.2. Der Zwischenfall in Jiangshan zu Ningbo (1922) ...... 168

8.4.3. Das Echo in Shanghai ...... 171

8.4.4. Die Ermahnungen (1936)...... 175

8.5. Die Situation in der Nachkriegszeit ...... 175

8.5.1. Das bekräftigte Verbot ...... 175

8.5.2. Das wirkungslose Verbot (1946)...... 176

8.6. Anhang...... 178

9. Stadtgott-Inspektionsrundgang (城隍出巡)...... 179

9.1. Einleitung...... 180

9.1.1. Stadtgottglaube in der chinesischen Geschichte ...... 180

9.1.2. Grundglaube, Vorstellung und Überlieferung...... 182

9.1.2.1. Die Entstehungsgeschichte...... 182

9.1.2.2. Stadtgötter: Jenseitige Verwaltungsbeamte aus dem Diesseits

4 183

9.1.3. Stadtgötter und Stadtgotttempel in Shanghai...... 186

9.1.3.1. Die Tempelgeschichte ...... 186

9.1.3.2. Stadtgötter...... 188

9.1.3.3. Die Umgebung des Tempels...... 189

9.2. Die Stadtgott-Inspektionsrundgänge in der Republikzeit ...... 191

9.2.1. Der Neubau und der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels ...... 192

9.2.1.1. Der Brand (1924) - Der auslösende Funke...... 192

9.2.1.2. Neubau des Tempels (1926-7)...... 194

9.2.1.3. Die Gründung des Aufsichtsrats (1926) ...... 196

9.2.1.4. Die Satzungen des Aufsichtsrats (1927)...... 197

9.2.1.5. Neueröffnung des Stadtgotttempels (1927)...... 200

9.2.1.6. Die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats...... 201

9.2.2. Besitz und Finanzierung des Stadtgotttempels ...... 210

9.2.2.1. Der Tempelbesitz...... 210

9.2.2.2. Der Finanzierungsplan gemäß der Satzung...... 211

9.2.2.3. Die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben ...... 212

9.2.2.4. Analyse der Finanzierung...... 217

9.2.3. Andere Selbstorganisationen: Aktivistenverbände ...... 220

9.2.3.1. Der Aktivistenverband des Stadtgotttempels...... 221

9.2.3.2. Die Sanban-Gemeinde...... 223

9.2.3.3. Straßenhändlerverband vom Stadtgotttempel und Yu-Garten223

9.3. Ausführlicher Ablauf eines Stadtgott-Inspektionsrundgangs ...... 225

9.3.1. Vorbereitungen vor dem festgelegten Tag...... 225

9.3.2. Am festgelegten Tag ...... 226

9.3.3. Das Verbot und die Wirklichkeit...... 228

9.4. Die Streitpunkte zwischen der Regierung und dem Aufsichtsrat ...... 231

9.4.1. Der Streit ums Eigentumsrecht (1946) ...... 232

9.4.2. Der Streit ums Steuerrecht ...... 233

9.4.3. Die Auseinandersetzung mit der Sozialbehörde (1946-7) ...... 234

5 9.4.3.1. Der Anschuldigungsbrief (Nov. 1946) ...... 234

9.4.3.2. Der Bericht der Sozialbehörde (März 1947) ...... 235

9.4.4. Auseinandersetzung mit der Zivilverwaltungsbehörde (1947-9) ..236

9.4.4.1. Der Anspruch auf Nachzahlung (1947-8) ...... 236

9.4.4.2. Sinnesänderung der Regierung (1948-9)...... 238

9.4.5. Die Widersprüche der Polizei ...... 240

9.4.5.1. Der Antrag auf Stadtgott-Inspektionsrundgang (1946) ...... 240

9.4.5.2. Die Anweisung des Polizeichefs (April 1947) ...... 241

9.4.6. Ein Tag: zwei Prozessionen (am 13.11.1947)...... 242

9.4.6.1. Die Anfrage (15. Nov. 1947) ...... 242

9.4.6.2. Zwei Berichte über zwei Prozessionen ...... 243

9.4.6.3. Der Bericht des Polizeipräsidiums ...... 245

9.4.6.4. Die Erklärung des Aufsichtsrats...... 246

9.4.6.5. Die internen Ermittlungen der Polizei...... 247

9.4.6.6. Die Analyse über die Polizei ...... 247

9.5. Fazit...... 249

9.6. Anhang...... 256

10. Die Prozessionen und Konflikte in Pudong (1919-35)...... 267

10.1. Die geographischen Gegebenheiten Pudongs...... 267

10.2. Die Prozessionen und der Umzug...... 267

10.3. Die Prozessionen im Jahr 1919...... 269

10.3.1. Die Vorbereitungen der Tempelgemeinden ...... 269

10.3.2. Die Gegenmaßnahmen der Regierung ...... 272

10.3.3. Die Prozession des Shezhuang-Tempels am 11. April ...... 276

10.3.4. Der Zwischenfall des Wujiating-Tempels am 14. April ...... 278

10.3.4.1. Schüsse der Polizei...... 278

10.3.4.2. Die Nachwirkungen...... 280

10.3.4.3. Die Schlichtung und der Kompromiss ...... 283

10.4. Die Prozession und der Zwischenfall im Jahr 1920...... 284

10.4.1. Das erneute Verbot ...... 284

6 10.4.2. Der Konflikt um die Zhangjialou-Kirche...... 286

10.4.3. Der Kommentar in Shenbao...... 288

10.5. Der Zwischenfall im Jahr 1935...... 289

10.6. Die Analyse: Die Polizei als Beispiel der Staatsmacht...... 291

10.7. Anhang...... 296

11. Die verbrannten Götter: die Prozession in Jiangwan...... 297

11.1. Die drei Götter und der Dongyue-Tempel ...... 298

11.2. Der feierliche Umzug...... 299

11.3. Der Brandanschlag der Feuerwehr...... 300

11.4. Das schwarze Armband und die Selbstrechtfertigung der Feuerwehr..302

11.5. Die Einmischung der Parteidirektion...... 303

11.6. Fazit...... 305

12. Schlussfolgerung...... 308

12.1. Die Prozession: Die Beteiligten und Organisationen...... 308

12.1.1. Die Schaulustigen...... 308

12.1.2. Die Aktivisten bzw. Aktivistenverbände ...... 309

12.1.2.1. Die Charakteristika der Aktivisten ...... 310

12.1.2.2. Die Tendenzen der Aktivistenverbände...... 314

12.1.3. Die Unterstützer und Förderer...... 316

12.1.4. Zwischenresümee ...... 318

12.2. Die Prozession: die Kontrolleure...... 320

12.2.1. Die Begründungen des Prozessionsverbots...... 321

12.2.2. Die tatsächliche Auswirkung der Verbote und Vorwarnungen...... 323

12.2.3. Abschreckungsversuch und Gegenmaßnahmen der Regierung ....323

12.2.4. Die Regierung und der Gesetzgeber als Konfliktauslöser...... 324

12.2.5. Zwischenresümee ...... 326

12.3. Die Rolle der öffentlichen Medien ...... 328

12.4. Eine Zwischenform zwischen „diffused“ und „institutional“ Religion 330

12.4.1. C. K. Yangs Dichotomie...... 330

12.4.2. Einwände...... 331

7 13. Quellen...... 336

13.1. Abkürzungen der zitierten Nachschalgewerke und Sammelwerke ...... 336

13.2. Die zitierten Zeitungsartikel aus Shenbao (申报)...... 336

13.3. Die zitierten Akten aus dem Shanghaier Hauptarchiv ...... 339

13.4. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis...... 340

13.5. Literaturverzeichnis ...... 341

8 DANKSAGUNGEN

Ich habe bei der vorliegenden Forschungsarbeit vielfältige Unterstützung und Hilfe erhalten.

Ermöglicht wurden mein Aufenthalt in Deutschland und die Promotion durch das Stipendium vom Katholischen Akademischen Ausländer-Dienst (KAAD), für das ich mich an dieser Stelle nochmals bedanken möchte. Dr. Heinrich Geiger des Asien-Referats und allen anderen Mitarbeitern vom KAAD möchte ich auch danken.

Während der viereinhalb Jahren meiner Promotion im religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig hat Prof. Dr. Hubert Seiwert, mein Doktorvater, mich nicht nur durch Ermutigungen und Anregungen vielfach unterstützt, sondern auch durch seine Vorschläge und Betreuung entscheidend gefördert. Ihm danke ich dafür ganz besonders.

Dank schulde ich auch meinem Kollegen Nikolas Broy und meiner Kollegin Johanna Lüdde. Sie beide haben freundlicherweise Teile meiner Entwürfe gelesen und sprachlich korrigiert.

Ein besonderes Wort des Dankes gebührt meiner Frau Qilan Shen. Ohne sie wäre meine Arbeit unvorstellbar.

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1. Vorbemerkung und Thematisierung: Zivilgesellschaft und volksreligiöse Feste in China

Die Religionswissenschaft, wie viele ihre Nachbardisziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften, befindet sich in einem Dilemma. Einerseits erhebt sie den Anspruch auf die Universalität ihrer Methoden und Fragestellungen. Dabei liegt die Forderung, darauf zu achten, dass Wissenschaften nicht in nicht übereinstimmenden oder unschlüssigen Meinungen verkümmern, wohl tief in der Ideengeschichte und im Selbstverständnis aller Wissenschaften begründet. Andererseits ist es unbestreitbar, dass Religionswissenschaft das Muttermal ihrer relativ kurzen aber unübersehbaren Fachgeschichte trägt, in der ihre Grundannahmen, Theorienbildungen und Denkweise nachhaltig von der europäischen Kultur geprägt worden sind. In der Fachgeschichte ist eine Tendenz deutlich zu beobachten, nämlich dass die Religionswissenschaft in den vergangenen zwei Jahrhunderten über den europäischen Kulturraum hinausgewachsen ist und währenddessen ständig fremden Kulturen begegnete. Bei diesen Begegnungen musste die Religionswissenschaft ihren Horizont erweitern und ihre Definitionen, Methoden und Fragestellungen stetig reflektieren. Deswegen betrachte ich persönlich das Dilemma nicht nur als eine wissenschaftsgeschichtliche Gegebenheit der Religionswissenschaft, sondern auch als eine Herausforderung des Faches. Das Bewusstsein von der Spannung zwischen dem Universalitätsanspruch und den kulturellen Geburtsumständen einer Disziplin dient dazu, dass man ihre Begrenztheit immer nüchtern erkennt und gleichzeitig versucht, durch neue Forschungen die Bedingtheit Schritt für Schritt zu überwinden. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass in der Forschungspraxis die meisten Einzelstudien der Religionswissenschaft im Grunde genommen Regionalforschungen sind. Die frischen empirischen Kenntnisse, die von den fremden Kulturräumen ins Blickfeld des Faches eingebracht werden, gelten einerseits als neue Sachverhalte, die unbedingt mit vorhandenen Termini und Theorien beschrieben und erklärt werden

10 müssen. Aber andererseits muss die Religionswissenschaft auch zu dem Risiko bereit sein, ihre bisher unproblematischen Definitionen, Prämissen und Annahmen auf den Prüfstein zu legen und sie auch grundlegend zu ändern oder komplett aufzuheben. Darüber hinaus - und vielleicht wichtiger als die Möglichkeit zu revidieren und zu falsifizieren -, liegt m. E. nur im Vorgang einer solchen - mit Bedacht vorgenommenen - Erweiterung des Forschungsfeldes die Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens zwischen unterschiedlichen Kulturen. Nur dadurch könnte sich die Religionswissenschaft teilweise vom kulturellen „Egozentrismus“ emanzipieren. Und umgekehrt, die zu behandelnde Kultur könnte sich auf der Grundlage der Sicht der „Anderen“ erneut mit ihren unreflektierten Selbstdarstellungen auseinander setzen. Wenn man davon ausgeht, dass Religionswissenschaft sich als eine Kulturwissenschaft versteht, dann könnte eine solche Überwindung des eigenen kulturellen „Skotoms“ - in beiden Richtungen - durch religionswissenschaftliche Forschung sinnvoll sein, besonders in einer Zeit kultureller Vielfalt und Kollision. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, zwei scheinbar kaum miteinander korrelierte Begriffe, nämlich „Zivilgesellschaft“ und „chinesische Volksreligion“, zu verknüpfen. Der erstere ist tief in der europäischen Geschichte und im abendländischen Selbstimage eingebettet, während der letztere in der gegenwärtigen chinesischen Kultur fast in Vergessenheit geraten ist. Aber die Kombination beider ist keinesfalls ein willkürlicher Einfall, sondern ein Resultat der Begegnung von zwei Kulturen. In der 1995 veröffentlichten Studie Demon Hordes and Burning Boats: The Cult of Marshall Wen in Late Imperial Chekiang wurden „Zivilgesellschaft und Volksreligion“ zum ersten Mal in der Forschung über die chinesische Kultur thematisiert. Der Autor Paul Katz hat für seine Studie die folgenden zwei Ziele formuliert: (1) Das primäre Ziel: Es wird versucht, eine Brücke über die seit langer Zeit bestehende Kluft zwischen der Forschung zum Taoismus und der zur Gesellschaftsgeschichte Chinas zu schlagen. Nach Katz’ Meinung ist der Unterschied zwischen der organisierten taoistischen Religion und den lokalen Kulten in früheren

11 Studien übertrieben dargestellt worden. Deswegen versucht er mit seiner Studie, ein umfassendes Bild der volksreligiösen Kulte zu skizzieren, indem die unterschiedlichen Rollen von taoistischen Priestern und Laiengläubigen in der Kultbildung und -entwicklung untersucht werden. 1 (2) Das sekundäre und ehrgeizigere Ziel: Der Autor setzt sich darüber hinaus ein höheres Ziel, und zwar, die zwei Disziplinen, nämlich Gesellschaftsgeschichte (social history) und Religionswissenschaft (religious studies), miteinander zu verbinden, um ein tiefgründiges Verständnis der kulturellen Bedeutung chinesischer Kulte und Feste zu erreichen. Ihm zufolge ist eine solche interdisziplinäre Forschung überaus nützlich, um festzustellen, ob China über eine Zivilgesellschaft (civil society) oder eine Öffentlichkeit (public sphere) verfügt.2 In der Verfolgung dieser beiden Ziele konzentriert sich die historische Studie auf die Kulte Marschall Wens in der späten Kaiserzeit Chinas (late imperial China). Marschall Wen war einer der beliebtesten Schutzgötter gegen Epidemien und Seuchen in der Südostküstenprovinz Zhejiang ( 浙江). Katz zufolge haben fast alle Wissenschaftler, welche die wichtige Rolle von Kulten und Festen im chinesischen Kulturraum bei öffentlichen Aktivitäten sowie den Zusammenhang zwischen Staat und Gesellschaft erörtern, bedeutende Quellen vernachlässigt, die für die gründliche Analyse solcher Probleme nützlich sein könnten.3 Er fand durch seine Studie heraus, dass in den Städten Hangzhou (杭州) und Wenzhou (温州) zahlreiche Kultgemeinden gegründet worden waren, die für die Finanzierung und Verwaltung der Tempel und Feste zuständig waren, so dass Feste und entsprechende Prozessionen des Gottes veranstaltet werden konnten. Die bedeutendsten Unterstützer und Förderer solcher Gemeinden waren die Gentry, die gelehrten Beamten, die lokalen Geschäftsmänner und Eliten.4 Es waren die Tempelkomitees, die überwiegend aus den Ältesten der Gemeinden, Händlern und niedrigen Beamten bestanden, welche die

1 Katz, Paul. R., Demon Hordes and Burning Boats: The Cult of Marshall Wen in Late Imperial Chekiang, 6. 2 Ibid., 6. 3 Ibid., 6-7. 4 Ibid., 177.

12 Tempelangelegenheiten tatsächlich führten und verwalteten,1 während der Einfluss der taoistischen Priester auf die Tempel im Laufe der Zeit geringer wurde, obwohl sie zur Ausbreitung und Entwicklung des Glaubens an Marschall Wen beigetragen haben dürften.2 Katz zufolge hatten die Tempel und deren Kultgemeinden für Wen tatsächlich eine Art von „Öffentlichkeit“ gebildet, die für die Debatte über Meinungen, Glauben und Werte der Bürger allgemein zugänglich gewesen sei. Darüber hinaus hätten die Rituale und Theaterstücke, die während der Feste aufgeführt wurden, eine bedeutende Rolle in der Entstehung der Volksmentalität gespielt. Besonders die Feste hätten eine öffentliche Arena geboten, in der die unterschiedlichen Gruppen versuchten, die öffentlichen Meinungen zu prägen und zu beeinflussen.3 Obwohl mit dieser Studie die jeweiligen Fragestellungen beantwortet worden sind, wurden die Probleme m. E. aus folgenden Gründen nicht von Grund auf gelöst: (1) Die zeitliche Bestimmung der Studie, nämlich „late imperial“, ist nicht klar und deutlich definiert. Eigentlich umfasst dieser vage Forschungszeitraum in concreto knapp eintausend Jahre, innerhalb derer die Song-Dynastie (960-1179) bis hin zur Qing-Dynastie (1644-1911) zu finden sind. 4 (2) Aufgrund eines Mangels an Forschungsquellen rekonstruiert die Studie in ihrem Kernkapitel5 die Abläufe von zwei Festen nur teilweise.6 Auch ist die Zuverlässigkeit der verwendeten Quellen

1 Ibid., 176-7. 2 Ibid., 179. 3 Ibid., 184. 4 Im ersten Kapitel des Buches konzentriert sich der Autor auf die Geschichte der Song-Dynastie, die wahrscheinlich der ursprüngliche Forschungsschwerpunkt war. Allerdings lässt sich dieser Fokus in den folgenden Kapiteln nicht durchhalten, weil die meisten beschriebenen Ereignisse über Marschall Wens Kult nicht in der Song-Dynastie stattfanden. 5 Hier ist das Kapitel 5, „The Festival of Marshall Wen“,gemeint. Siehe Katz, Paul. R., Demon Hordes and Burning Boats: The Cult of Marshall Wen in Late Imperial Chekiang, 143-174. Die Kapitel des Buches sind folgendermaßen gegliedert: Kapitel 1 „Chekiang“ gibt einen Überblick über die geographischen und kulturellen Gegebenheiten der Provinz Chekiang sowie deren Entwicklung und den religiösen Wandel in der Song-Dynastie. Kapitel 2 „Epidemics and Responses to Them“ führt in die unterschiedlichen Reaktionen auf die Epidemie, z.B. die vom Staat sowie vom Volk geförderten Rituale, ein. Kapitel 3 „The Hagiography of Marshall Wen“ wirft einen Blick auf die Entstehung, die Legenden und die allgemeinen Vorstellungen über Marschall Wen in der Region. Kapitel 4 „The Spread of Marshall Wen’s Cult“ behandelt die Ausbreitung des Kults durch Handelsverbindungen und die Tätigkeiten taoistischer Priester. 6 Die Rekonstruktion des ersten Festes, das in Wenzhou stattfand, stützt sich auf eine 1761 erschienene Lokalbeschreibung, Yung-chia hsien-chih (永嘉县志). Siehe Ibid., 148-9. Die Beschreibung des zweiten Festes, das als „inviting the gods and competing among associations“(迎神赛会) bezeichnet

13 wegen der enormen zeitlichen Distanz zwischen dem Erscheinungsjahr der Materialien und den zu dokumentierenden Ereignissen fraglich.1 Abgesehen davon, dass die Daten der bruchstückhaften Aufzeichnungen in der Sekundärliteratur nicht festzustellen sind, muss man alle Quellen auf einen Zeitabschnitt von tausend Jahren verteilen. Aus diesen Gründen wird das Zusammenwirken von Spärlichkeit der Quellen und Insuffizienz sicherlich die Dichte sowie die Aussagekraft der Beschreibungen über Marschall Wens Feste verringern. (3) Die anfänglich in der Zielsetzung eingeführten Konzepte, nämlich „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“, werden leider im Hauptteil der Studie nicht konsequent weiter geführt. Die beiden Termini tauchen sogar im Hauptteil gar nicht auf, sondern lediglich in der Einleitung und im Schluss, in der Schlussfolgerung. Das erste Ziel wird in den folgenden Kapiteln ausführlich behandelt, während das zweite Ziel fast unberührt geblieben ist. Die Begriffe wie „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ scheinen in Katz’ Forschung keine inhärente Grundlinie zu bilden. Das bedeutet, dass das Thema „Zivilgesellschaft und volksreligiöse Feste“ für diese historische Forschung nur peripher und entbehrlich ist. Trotz aller besagten Schwächen dieser Studie hat Katz jedoch eine aufschlussreiche Forschungsrichtung eingeschlagen und versucht, die Lücke der bisherigen Forschung über chinesische Religion bzw. Kultur zu schließen. Er hebt hervor, dass die volksreligiösen Gesellschaften im chinesischen Kulturraum unbedingt berücksichtigt werden müssen, wenn man die Zivilgesellschaft oder Öffentlichkeit Chinas erörtern möchte:

“I do wish to emphasize that one of the most important realms of public activity in late imperial China and modern China prior to

wurde, basiert auf einer anderen Lokalbeschreibung, nämlich Jen-ho hsien-chih (仁和县志, 1549). Der Autor vermutet, dass diese Zeremonie ähnlich wie das Fest Wens in Hangzhou gewesen sei. Siehe Katz, Paul. R., Demon Hordes and Burning Boats: The Cult of Marshall Wen in Late Imperial Chekiang, 159-162. Aber aus meiner Sicht besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den beiden. 1 Die Mitte des 20. Jahrehunderts vollendete, unveröffentlichte Wen-chou feng-su chih (温州风俗志), ist eine der wichtigsten Primärquellen, die in der Studie verwendet wurde. Aber das Datum der darin stehenden Beschreibung über das Fest ist unbekannt. Einige Passagen wurden von Katz ins Englische übersetzt und im Appendix angeführt. Ähnlich ist auch der Fall von The Lost Custom of Hangchou (杭 俗遗风).

14 1949… centered/ centers on popular cults and festivals like those to Marshall Wen. This means that any discussion of civil society or the public sphere in China should not be considered complete until it has taken into the account the immense importance of religious activities in Chinese public life.”1

Obwohl man nicht behaupten kann, dass Katz’ Studie die Zivilgesellschaftsfrage in China endgültig und einwandfrei gelöst hat, öffnet sie eine Tür zur Vertiefung des Verständnisses über chinesische Religion und Gesellschaft. Zwar sind die Schlüsselbegriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ in den Nachbardisziplinen, wie Politikwissenschaft und Geschichtsforschung, nicht neu, sie werden m. E. aber in Katz’ Studie sowohl methodisch als auch inhaltlich oberflächlich behandelt. Um Katz’ Schwächen in der Studie zum Marschall Wen auszugleichen, werde ich in der vorliegenden Forschung vertiefend zwei Grundlinien folgen und damit die Arbeit grob in zwei Teile teilen, nämlich einen theoretischen und einen empirischen Teil. Um eine präzise Arbeitsdefinition geben und eine operationalisierbare Fragestellung aufstellen zu können, müssen wir im ersten Teil die Begriffsgeschichte von „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ zurückverfolgen. Deswegen versuche ich, mich im folgenden Kapitel zunächst mit der Debatte über die Ideengeschichte der Zivilgesellschaft im abendländischen Kontext und anschließend mit der Zivilgesellschaftsdiskussion im chinesischen Kontext auseinanderzusetzen. Außerdem wird die bisherige Erörterung über die Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Religion kurz zusammengefasst. Kurz gesagt: im theoretischen Teil müssen die folgenden zwei Fragen beantwortet werden: Was ist Zivilgesellschaft? Wie könnte die Zivilgesellschaftstheorie für diese religionswissenschaftliche Forschung nützlich sein? Hinzu kommen die empirischen Probleme im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. Als Hauptquelle werden Regionalbeschreibungen, Archivakten und Zeitungsartikel benutzt, daneben können nur wenige Sekundärquellen bzw. Monographien mit

1 Katz, Paul. R., Demon Hordes and Burning Boats: The Cult of Marshall Wen in Late Imperial Chekiang, 181.

15 herangezogen werden. Die volksreligiösen Feste in Südostchina, auf die Katz aufmerksam gemacht hat, sind zwar wichtig, aber aus der Sicht der Religionswissenschaft unscharf definiert. Aus dieser Überlegung heraus muss der Forschungsgegenstand weiter eingeschränkt und eine Begriffsbestimmung gegeben werden. Als ein Querschnitt derartiger Feste wurden die Gottbegrüßungsprozessionen, die in die gesamte Religionslandschaft Chinas eingeordnet werden müssen, ausgesucht, genau definiert und untersucht. Weil bisher keine systematische Forschung im Bereich der Religionswissenschaft zu diesem Forschungsgegenstand vorliegt, wird danach eine ausführliche Einführung in die Prozessionen in China gegeben, um ein zuverlässiges Bild von den Prozessionen innerhalb der chinesischen Religionslandschaft entwerfen zu können. Nachdem die Grundformen und der Aufbau einer Prozession in einem weiter begrenzten geographischen Raum, nämlich dem heutigen Shanghai, dargestellt wurden, werden die Haltung der Regierung und die mediale Präsentation solcher Prozessionen während der Republikzeit rekonstruiert, um die potenzielle Spannung zwischen dem Staat und den religiösen Gemeinschaften als eine der wichtigsten kollektiven Einstellungen zur Prozession zu zeigen. Sodann werden drei detailreiche historische Fallbeispiele stichprobenartig angeführt und analysiert, um die weitere Behandlung der Fragestellung empirisch zu untermauern. In den Fallbeispielen werden besonders die Finanzierung, die Aktivisten und Organisationen berücksichtigt, um ein Licht auf die Durchführung und Verwaltung der Prozessionen zu werfen. Darüber hinaus werden die Streite, Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen den lokalen Behörden und den Aktivisten bzw. Aktivistenverbänden beleuchtet, um deren Verläufe, Hintergründe und Ursachen zu erforschen. Am Schluss der Arbeit versuche ich, die zwei Fäden wieder zusammenzuführen, indem die Analysen der historischen Fallbeispiele vor dem Hintergrund der Zivilgesellschaftstheorie betrachtet und zusammengefasst werden.

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2. Zivilgesellschaftstheorie im abendländischen Kontext

2.1. Terminologie: Einblick in den Zivilgesellschaftsdschungel

Wenn man über Zivilgesellschaft redet, ohne politikwissenschaftliche Vorkenntnisse zu haben, werden wahrscheinlich Assoziationen einerseits von Massendemonstrationen, Slogans, Dissens, Demokratisierung und andererseits von Polizeistaat, Totalitarismus, Parteidiktatur hervorgerufen, die sich hauptsächlich auf die politischen Erfahrungen der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts v. a. in Ostmitteleuropa und Lateinamerika zurückführen lassen. 1 Die realpolitischen Ereignisse und deren Folgen führten zur Wende des letzten Jahrhunderts in einem interdisziplinären Umfeld quasi zu einer Revitalisierung der Diskussion über Zivilgesellschaft, ein Schlüsselwort, dem es gelungen ist, seit mehr als zweitausend Jahren die politische Ideengeschichte des Abendlandes zu durchdringen. Eine lange Vorgeschichte sowie die enge Verflechtung mit der Realpolitik bringen angesichts der Fülle von Forschungsmaterialien und -ergebnissen für geistes- und sozialwissenschaftliche Amateure und Anfänger nicht nur Vorteile mit sich, sondern auch ungeheure Nachteile, die mit der Gefahr verbunden sind, dass man von Anfang an in einen Sumpf von ständig anschwellenden Terminologien und Theorien hineinschlittert. Viele erfahrene Wissenschaftler haben uns vor der Ungenauigkeit und der Überergiebigkeit des Begriffs Zivilgesellschaft folgendermaßen gewarnt:

„Hinter dem Begriff [Zivilgesellschaft] verbirgt sich ein Konglomerat von unterschiedlichen, zum Teil divergierenden Vorstellungen und Theorien. Dabei fällt auf, dass der Terminus der Zivilgesellschaft zwar häufig verwendet, meist aber nur vage umschrieben wird; eine theoretisch angeleitete Ausarbeitung des Begriffs, die auch

1 Siehe Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 18; und Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 228.

17 weiterreichenden Ansprüchen an begrifflicher Abstraktion und Genauigkeit genügt, lässt sich nur in wenigen Fällen ausmachen. Ferner ist bemerkenswert, dass die unterschiedlichen Ansätze gegenseitig so gut wie keine Notiz voneinander nehmen; bei den einzelnen Versionen der Zivilgesellschaft scheint es sich um mehr oder weniger geschlossene Sprachspiele zu handeln, die nicht – zumindest nicht systematisch – auf konkurrierende Vorstellungen eingehen.“1

Es scheint, dass wir beim Eintritt in den Zivilgesellschaftsdschungel einem Zaubergarten begegnet sind. Die Aufgabe, eine klare Definition zu geben, wie üblich bei allen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungen, ist in diesem Zaubergarten offensichtlich nicht leicht zu erfüllen:

„Die häufige Verwendung des Terminus der Zivilgesellschaft hat nicht unbedingt zu einer Begriffsklärung geführt. Der Begriff sperrt sich, wie vielfach notiert worden ist, gegen klare Definitionen und präzise Formulierung. Der Versuch, den schillernden Terminus einer sorgfältigen Klärung zuzuführen, scheint für manche Kommentatoren Ähnlichkeiten mit dem Unternehmen zu haben, ‚einen Pudding an die Wand zu nageln’. (…) Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der Begriff von einer Reihe von Ambiguitäten und Unschärfen geprägt ist.“ 2

Wer vor den oben genannten Schwierigkeiten nicht zurückschreckt, darf zwar auf eigene Gefahr weiter im Zivilgesellschaftsdschungel abenteuern, aber er muss gut ausgerüstet sein. Deswegen versuche ich in den folgenden Paragraphen, zunächst das Grundproblemfeld der Zivilgesellschaft grob zu skizzieren - was hoffentlich als eine skizzenhafte Karte des Dschungels nützlich sein kann - und anschließend einige

1 Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 247. 2 Ibid., 228.

18 Kategorien und Konzeptionen einzuführen, die als Ausrüstung - wie Kompass und Wanderstock - bei dem Abenteuer erforderlich sein werden.

2.2. Das Problemfeld

Unter Zivilgesellschaft versteht man normalerweise einen intermediären Bereich, der von drei Polen, nämlich Staat, Privatsphäre und Ökonomie, umgrenzt wird. Davon bilden Staat und Zivilgesellschaft „die klassische Achse“ des Problemfelds. Gewiss darf man die jeweiligen Auswirkungen der drei Pole in der Realpolitik nicht isolieren. Allerdings müssen die dreiseitigen Wechselwirkungen zum Zweck der Theorieerklärung einzeln behandelt werden.

Abb. 1 Das Problemfeld der Zivilgesellschaftstheorie

2.2.1. Zivilgesellschaft - Staat

Die automatische Assoziation einer Verbindung zwischen den Demonstrationen und diktatorischen Herrschaften aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts stellt das Spannungsverhältnis sowie die Untrennbarkeit von Zivilgesellschaft und Staat dar. Aus diesem Verständnis heraus ist Zivilgesellschaft ein Bereich, der dem Staat

19 entgegengesetzt ist und sich von ihm abgrenzt.1 Obwohl die Theoretiker sich auf die realpolitische Wirkung der Zivilgesellschaft im absolutistisch-totalitären Staat konzentrierten, der grundsätzlich aus der ostmitteleuropäischen politischen Vergangenheit abstrahiert wurde, darf man nicht vergessen, dass Zivilgesellschaft eine vielfältige und wechselseitige Beziehung zwischen Staat und Privatsphäre einschließt, die nicht unbedingt nur im totalitär-autoritären Kontext, sondern auch unter demokratischen Bedingungen existiert. Die gegenwärtige Zivilgesellschaftstheorie hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Zivilgesellschaft die Funktion haben könnte, den bürokratisch überforderten Staat ins Gleichgewicht zu bringen.2 Darüber hinaus muss man eine klare Linie zwischen Anarchismus und Zivilgesellschaft ziehen. Eine übliche Missdeutung behauptet, dass Zivilgesellschaft auf die Aufhebung des Staates ziele. Ein solches Missverständnis vernachlässigt die scheinbar paradoxen Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat, nämlich dass die Zivilgesellschaft an den Staat angrenzt und sich gleichzeitig vom Staat abgrenzt: einerseits können die für die Zivilgesellschaft notwendigen gesellschaftlichen Ordnungen nur durch vom Staat gewährleistete Gesetze und Institutionen verwirklicht werden; andererseits muss die Zivilgesellschaft auch eine angebrachte Distanz zum Staat halten, damit ihre Eigenständigkeit sowie Unabhängigkeit - wie Selbst-Regulierung und Selbst-Herrschaft - nicht verloren gehen. Nur im letzteren Fall bildet die Zivilgesellschaft eine Sphäre außerhalb des Staates und ist im Extremfall dem Staat entgegengesetzt.3 Wenn man den Staat, einen der wichtigsten Pole des Zivilgesellschaftsproblemfeldes, aus der Erörterung wegstreicht, fällt der gesamte Diskussionsrahmen der Zivilgesellschaft zusammen. Wir werden später das komplizierte Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat vertiefen und auffächern.

1 Vgl. Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 23. 2 Ibid., 23. 3 Siehe Islamoglu, H., "Concept and History of Civil Society ", in: Smelser, Neil J., International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 1891.

20 2.2.2. Zivilgesellschaft - Privatsphäre

Die Abgrenzung der Zivilgesellschaft von der Privatsphäre ist am wenigsten problematisch. Diese Unterscheidung geht wahrscheinlich auf den altgriechischen Philosophen Aristoteles zurück. Er hat als Erster in die politische Philosophie den Begriff „politiki koinonia“ oder „polis“ eingeführt, der ins Lateinische übersetzt als „societas civilis“ und später im Englischen als „civil society“ sowie im Deutschen (etwa bei Leibniz) als „bürgerliche Gesellschaft“ weiter geführt wurde. „Societas civilis“ wurde von der Sphäre des Hauses und der Familie abgegrenzt, einer Sphäre der Reproduktion der Gattung.1 Im Gegensatz zur „societas civilis“ könnte man von „societas civilis sive res publica“ oder „societas civilis sive politica“ sprechen und damit das Gemeinwesen als gesellschaftlich-politischen Raum bezeichnen, der damals noch nicht zur Sphäre des Staates ausdifferenziert war.2 Nach Aristoteles’ Auffassung ist die Reproduktion innerhalb der Familien „natürlich“, während die Produktion zum kommerziellen und gewinnorientierten Zweck außerhalb der Familien „unnatürlich“ ist.3 Diese Dichotomie wurde später zu einem Ausgangspunkt der modernen politischen Philosophie. Sie wurde zwar von verschiedenen Autoren oft umformuliert, ist aber bis in die Gegenwart hinein grundsätzlich unverändert geblieben. Die Ausdifferenzierung von Privatsphäre und Zivilgesellschaft schließt unvermeidlich an einen ähnlichen Begriff an, nämlich „Öffentlichkeit“, der ebenso wie „Zivilgesellschaft“ in unterschiedlichen Kontexten oft erwähnt wird, aber strittig ist. Wir werden auf die Zwillingsbegriffe „Zivilgesellschaft - Öffentlichkeit“ später noch einmal eingehen.

1 Vgl. Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 14. 2 Ibid., Zum aristotelischen Politik- und Gesellschaftsverständnis siehe auch Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 229-230. 3 Siehe Islamoglu, H., "Concept and History of Civil Society ", in: Smelser, Neil J., International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 1891.

21 2.2.3. Zivilgesellschaft - Ökonomie

Ob der ökonomische Bereich unter den Begriff „Zivilgesellschaft“ subsumiert werden kann, ist geschichtlich betrachtet immer umstritten gewesen. Einerseits befürworteten die klassischen Autoren von Locke und Hume über Ferguson und Kant bis zu Hegel und Marx, die Ökonomie als zentrale Dimension der Zivilgesellschaft zu betrachten, weil die Wirtschaft über den Rahmen der Hauswirtschaft hinausgewachsen sei.1 Andererseits erleichtert - wenn nicht gar erst ermöglicht - der Erfolg von marktwirtschaftlich organisierten Staaten die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Strukturen. Dies ist an der Entwicklung des Begriffs „Zivilgesellschaft“ im europäischsprachigen Raum deutlich abzulesen. Die zwei im 17. und 18. Jahrhundert häufig verwendeten deutschen Synonyme für „Zivilgesellschaft“, nämlich „Bürgergesellschaft“ und „bürgerliche Gesellschaft“, wurden als Sphäre der Dominanz des Bürgertums im Sinne der Bourgeoisie oder des Mittelstands begriffen, während der Terminus „civil society“ uns mehr an den französischen Sinn von „citoyens“ und „citoyennnes“ erinnert, die wenig mit der ökonomischen Schichtendifferenzierung zu tun haben.2 Andererseits verlangen viele gegenwärtige Theoretiker eine schärfere Abgrenzung zwischen Zivilgesellschaft und Ökonomie. Die Logik der Zivilgesellschaft beruhe auf Diskurs, Konflikt und Verständigung, während die Logik des Marktes auf Wettbewerb, Tausch und Gewinn basiere.3 Außerdem wird die Zivilgesellschaft als potenzielle Widerstandskraft gegen den Kapitalismus angesehen, die das bedenkenlose Prinzip des Kapitalzuwachses ablehnen und ausgleichen könnte. Obwohl es viele Überschneidungszonen zwischen Staat, Privatsphäre und Ökonomie gibt, umreißen die drei Pole das Problemfeld der Zivilgesellschaft. Trotz aller theoretischen Schwierigkeiten ist es uns bisher zumindest annähernd klar geworden,

1 Siehe Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 22. 2 Über die Geschichte und unterschiedliche Bedeutung des Begriffs in Deutsch, Französisch und Englisch siehe Ibid., 16-17. Die chinesische Terminologie und deren Übersetzungen von Zivilgesellschaft werden später detailliert behandelt. 3 Seihe Ibid., 22.

22 wie die Größe und der Umfang des Zivilgesellschaftsdschungels ungefähr sind.

2.3. Zwei Ansätze der Zivilgesellschaftstheorien

Um den Zivilgesellschaftsdschungel durchqueren zu können, muss man das üppige Laubwerk des Dschungels mit einem scharfen Buschmesser abschlagen, damit man einen schmalen Pfad schaffen kann. Wir können vorerst zwischen zwei groben Ansätzen der Zivilgesellschaftstheorien unterscheiden, nämlich dem analytisch-deskriptiven Ansatz und dem idealistisch-präskriptiven Ansatz. Der letztere - wie die Bäume mit hochgewachsenem Stamm im Dschungel - besteht aus den ehrgeizigen wissenschaftlichen Arbeiten, die überwiegend auf die zeitgenössische Realpolitik bezogen sind und deswegen eher die Aufmerksamkeit der Massenmedien erregt haben. Demgegenüber wird der erstere Ansatz repräsentiert durch diejenigen bescheidenen wissenschaftlichen Arbeiten - wie die unauffälligen Sträucher im Dschungel -, die sich auf die Geschichte konzentrieren und folglich für das nicht wissenschaftliche Publikum weniger bekannt sind. Verständlicherweise kann es in der Praxis sein, dass die beiden Ansätze in den einzelnen Forschungen gleichzeitig verwendet werden, ohne sie methodologisch vollständig zu trennen. Im Folgenden versuche ich, die Aufgaben und Methoden der jeweiligen Ansätze idealtypisch zu deuten.

2.3.1. Der Analytisch-deskriptive Ansatz

Die Wissenschaftler, die sich nach dem analytisch-deskriptiven Ansatz richten, neigen dazu, die historische Entstehung sowie Entwicklung der Zivilgesellschaft zu beschreiben, die Charakteristika zu generalisieren und wenn möglich eine klare Definition zu geben. Ein weiterer Schritt des analytisch-deskriptiven Ansatzes besteht darin, die sozial-politischen Voraussetzungen der Zivilgesellschaft heraus zu finden, ihre Änderung oder Transformation zu erklären sowie die Zivilgesellschaften unter unterschiedlichen ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen zu typologisieren. Kurz gesagt: Die Aufgaben des analytisch-deskriptiven Ansatzes sind

23 hauptsächlich als Beschreibung und Erklärung zu begreifen. Der Politikwissenschaftler Keane hat den analytisch-deskriptiven Ansatz der Zivilgesellschaft folgendermaßen zusammengefasst:

“Analytic approaches selectively identify key institutions and actors, examine their complex patterns of interaction and attempt to reach some conclusion - based on theoretical distinctions, empirical research and informed judgments - concerning their origins, patterns of development and (unintended) outcome. Their immediate (or avowed) aim is not to form normative judgments or to recommend courses of political action. Rather, they aim to develop an explanatory understanding of complex socio-political realities.”1

Bewertungen, Beurteilungen und alle normativen Aussagen sollten aus dem analytisch-deskriptiven Ansatz ausgeschlossen werden. Das bedeutet, dass die Theoretiker des analytisch-deskriptiven Ansatzes das Prinzip der Werturteilsfreiheit, im Weberschen Sinn 2 , grundsätzlich anerkennen und befolgen sollten. Ihr Forschungsgegenstand solle eine bestehende oder in der Vergangenheit bestandene Zivilgesellschaft sein, die keine normative Bedeutung implizieren sollte.

2.3.2. Der Idealistisch-präskriptive Ansatz

Die Wissenschaftler bzw. die Politiker, die für eine Zivilgesellschaft eintreten, neigen dazu, den Terminus mit einem idealistischen politischen Zustand gleichzusetzen. Im Vergleich zum oben besagten analytisch-deskriptiven Ansatz findet hier eine normative Aufladung der Zivilgesellschaft statt, die in kritischer Distanz zum Ist-Zustand bestimmt wird: als Bewegungs- und Zielbegriff, antitraditionell,

1 Keane, John, "Introduction", in: Keane, John, Civil Society and the State: New European Perspectives, 14. Die Dreiteilung in „analytic approaches“, „Political calculation“ und „The normative dimension“ hat Keane eingeführt. Diese Dreiteilung enthält m. E. zwei unterschiedliche Kriterien. Die zweite Dimension, „political calculation“, sollte nach meiner Ansicht dem analytisch-präskriptiven Ansatz zugeordnet werden. Vgl. Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 14-29. 2 Für eine ausführliche Erörterung der Idealtypus-Konzeption von Max Weber siehe 5.3.

24 antiständisch, aufklärerisch- modern.1 Der idealistisch-präskriptive Ansatz dient „der politische[n] Programmdiskussion als Signalbegriff, manchmal als Slogan, und zwar mit durchaus verschiedenen politischen Ausfüllungen, für unterschiedliche politische Zielsetzungen und in unterschiedlichen Weltgegenden, jedoch fast durchweg mit positiver Assoziation“.2 Nur unter dieser Bedingung könne „Zivilgesellschaft“ sowohl in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts als ein anti-absolutistischer Kampfbegriff im mittelosteuropäischen Kontext, als auch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als eine Leitidee gegen Bürokratie- und Interventionsstaat im westeuropäischen demokratischen Kontext ihre kritische Kraft entfalten. Es muss berücksichtigt werden, dass die Kritikfähigkeit des idealistisch-präskriptiven Ansatzes der Zivilgesellschaft einen Nebeneffekt haben kann. So könnten die Bürger einer Zivilgesellschaft gegenüber den Bürgern einer Nichtzivilgesellschaft gewissermaßen selbstgefällig sein sowie sich moralisch-politisch überlegen fühlen, und sogar eine bestimmte Identität gewinnen. Umgekehrt fungiert die Zivilgesellschaftsidee unter Umständen für die Nichtzivilgesellschaft als politische Zugkraft und Motivierung, sich der Zivilgesellschaft im eigenen Land anzunähern, wenn möglich sie zu verwirklichen. In diesem Fall wird die Zivilgesellschaftstheorie nicht nur als theoretische Spiegelung der politischen Realität, sondern als eine zu erreichende Zielsetzung betrachtet. Manchmal wird der idealistische Aspekt der Zivilgesellschaftstheorie auch als Utopismus beschrieben.3 Kurz zusammengefasst sind die Aufgaben des idealistisch-präskriptiven Ansatzes hauptsächlich Kritik, Bewertung und Beurteilung. Bisher haben wir den Zivilgesellschaftsdschungel soweit erkundet, dass die Pflanzen mit dem Kriterium der zwei Ansätze grob in zwei Gruppen eingeteilt werden konnten. Im Folgenden soll dies genauer betrachtet und die richtige „Feldforschung“ begonnen werden.

1 Vgl. Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 15. 2 Ibid., 13. 3 Siehe unten das sechste Merkmal der Zivilgesellschaft.

25 2.4. Merkmale der Zivilgesellschaft

Nach der Behandlung der peripheren Probleme der Zivilgesellschaftstheorie begegnen wir nun einer Frage, welche vorgegebene Gesellschaft als Zivilgesellschaft bezeichnet werden darf. Mit anderen Worten, was macht eine Zivilgesellschaft aus? Über welche Besonderheiten und Eigenarten verfügt sie? Wenn man in einen Dschungel eintritt und die fremdartigen Pflanzen sieht, wird man wahrscheinlich aus reiner Neugier fragen, was das ist. Dementsprechend wird in der vorliegenden Forschung die Frage gestellt: was sind die Träger der Zivilgesellschaft oder wie wird sie verkörpert? Um diese Fragen zu beantworten, versuche ich die sechs Merkmale der gegenwärtigen Konzeption der Zivilgesellschaft, die von Georg Kneer zum Ausdruck gebracht werden, in meiner Forschung einzuführen. Zivilgesellschaft an sich ist keine theoretische Abstraktion, sondern die gesellschaftliche Realität, die aus konkreten funktions- und aktionsfähigen Einrichtungen besteht. „Mit Zivilgesellschaft ist erstens die Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen1, Vereinigungen und Zusammenkünfte gemeint, in denen sich die Bürger auf freiwilliger Basis versammeln.“ 2 Das Attribut „öffentlich“ bedeutet hier, dass die zivilgesellschaftlichen Einrichtungen prinzipiell jedem Akteur offen stehen sollen. Trotz aller theoretischen Divergenzen legen die meisten Wissenschaftler großen Wert auf das Assoziationscharakteristikum der Zivilgesellschaft, 3 das von anderen Autoren auch als das Assoziationsleben (associational life) bezeichnet wird.4 Beispiele hierfür sind Gilden, Handelskammern, Berufs- und Hobbyvereinigungen, laienreligiöse Institutionen, NGO (eng. Non-governmental Organization) und viele andere freiwillige Vereine.

1 In diesem Abschnitt meine ich mit dem Wort „Assoziation“ nicht die psychische Verknüpfung von Vorstellungen, sondern die mehr oder weniger selbst organisierten Gruppen, Vereine und Vereinigungen. Obwohl der Terminus im Deutschen mehrdeutig ist, ist er in der Politikwissenschaft bereits allgemein akzeptiert. 2 Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 235. Hervorhebung von Kneer. 3 Siehe auch Islamoglu, H., "Concept and History of Civil Society ", in: Smelser, Neil J., International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 1891. 4 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 363.

26 Alle diese Assoziationen müssen noch einer zweiten Anforderung entsprechen, nämlich der Autonomie: „Ein zweites Merkmal ist die Autonomie der zivilgesellschaftlichen Assoziationen. Unter Autonomie wird dabei vor allem die Unabhängigkeit von einem Machtzentrum bzw. einem bürokratischen Staatsapparat verstanden. Zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse sind mit einer höchsten Autorität oder einem obersten Zensur unvereinbar.“1 Wie oben angedeutet, muss sich die Zivilgesellschaft vom Staat und vom Markt distanzieren, um ihre Selbständigkeit und Kritikfähigkeit gegenüber dem Macht- und Marktprinzip zu bewahren. Kurz gesagt, die Assoziationen der Zivilgesellschaft sollen nicht von den Herrschenden, sondern durch sich selbst organisiert werden.2 Dieser Aspekt der Autonomie kann auch als Selbstbestimmung und -entscheidung bezeichnet werden. Außerdem ist nach Kneers Meinung drittens für Zivilgesellschaft charakteristisch, dass „eine Pluralität von Vereinigungen, Bewegungen, informellen Gruppen und Assoziationen existiert“. Gerade die Vielzahl der zivilgesellschaftlichen Einrichtungen solle garantieren, dass der öffentliche Diskurs vor einer (bürokratischen) Austrocknung bzw. Deformation bewahrt werde.3 Die Vielzahl der Assoziationen könne auch für die Meinungsvielfalt innerhalb der Zivilgesellschaft Sorge tragen und damit bewirken, dass die Zivilgesellschaft selbst reflektierend und kritikfähig sein könne. Die Assoziationen können über sie gemeinsam interessierende Themen - trotz unterschiedlicher Eigenschaften, Mitgliedschaft und Standpunkte - ihre Positionen austauschen. Dies verlange von Assoziationen öffentliche Kommunikation, die sich eventuell zur Öffentlichkeit entwickeln könne. „Viertens zeichnen sich Zivilgesellschaften durch die Legalität ihrer Einrichtung aus. Zivilgesellschaften lassen sich aus diesem Grund nur dort stabilisieren und auf Dauer einrichten, wo (bürgerliche) Menschenrechte durchgesetzt und institutionalisiert sind. Neben der grundrechtlichen Garantie der Meinungs-, Presse- und

1 Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 235. Hervorhebung von Kneer. 2 Über Zivilgesellschaft und Selbstorganisation siehe Calhoun, Craig, "Civil Society/ Public sphere: History of the Concept", in: Smelser, Neil J., International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 1897. 3 Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 235. Hervorhebung von Kneer.

27 Versammlungsfreiheit ist damit auch der rechtsstaatliche Schutz privater Lebensbereiche gemeint; zivilgesellschaftliche Einrichtungen bedürfen einer unversehrten privaten Basis, aus der Impulse und Denkanstöße in die öffentlichen Einrichtungen der Zivilgesellschaft fließen.“1 Das Merkmal zeigt wieder die oben erwähnte Ambivalenz auf: einerseits wird Zivilgesellschaft als Gegenpart zum Staat dargestellt, aber andererseits setzt die Existenz der Zivilgesellschaft die staatliche Gewährleistung gesetzlicher Ordnungen voraus. Unter ungünstigen Bedingungen könnten sich die Bürger immer in die Privatsphäre zurückziehen, die im Vergleich zur Zivilgesellschaft niedrige Anforderungen an den Staat stellt. Falls, im Extremfall, der Staat die Privatsphäre nicht schützt, lösen sich die rechtlichen Ordnungen auf. Das fünfte Merkmal der Zivilgesellschaft kann als Zivilität oder Zivilisierung benannt werden. „Zivilgesellschaften setzen (...) einen bestimmten Standard ziviler bzw. zivilisierter Verhaltensweisen voraus. Von den Mitgliedern der Bürgergesellschaft2 wird erwartet, dass sie einen gewaltfreien, toleranten und solidarischen Umgang miteinander pflegen. Zivilgesellschaftliche Assoziationen sind somit auf die Ausbildung zivilisatorischer Mechanismen und Instanzen angewiesen; allein dort, wo Formen der Selbstkontrolle an die Stelle äußerer Drohmittel und physischer Fremdzwänge getreten sind, lassen sich zivilgesellschaftliche Vereinigungen auf Dauer einrichten.“3 Im europäischen Kontext kann die Zivilität als Endzustand eines jahrhundertelangen Zivilisierungsprozesses 4 verstanden werden, der sich bis zur Aufklärung zurückverfolgen lässt. Gewaltfreiheit darf zur bedeutendsten Idee der Zivilität gezählt werden, die durch Generalisierung der Allgemeinbildung verwirklicht

1 Ibid., 235. Hervorhebung von Kneer. 2 Kneer verwendet „Zivilgesellschaft“, „bürgerliche Gesellschaft“ und „Bürgergesellschaft“ als Synonyme. 3 Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 235-6. Hervorhebung von Kneer. 4 Zivilisierung ist in dreierlei Hinsicht zu verstehen: erstens erreichte der Okzident durch Arbeit und Fleiß, Handel und Eigentum die ökonomische Vormachtstellung; und zweitens bildet sich durch Kultur, Bildung und Geselligkeit eine zivilisierte Gesellschaft; drittens kann Zivilisierung als Überwindung partikularer Beschränkung, als Emanzipation aus den Begrenzungen der Geburt, des Standes, des Geschlechts u.a. verstanden werden. Siehe Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 15. Zum Zivilisierungsprozess siehe auch Elias’ Auffassung, Keane, John, Civil Society: Old Image, New Visions, 119-127. Und auch Kuzmics, Helmut, "The Civilizing Process", in: Keane, John, Civil Society and the State: New European Perspectives, 149-173.

28 wurde. Zivilität ist im Allgemeinen mit der Fortschrittsidee, der Abgrenzung zur Natur und auch mit der Differenz zum barbarischen Zustand verbunden. 1 Als Gegensatz zur Zivilität der Zivilgesellschaft konzipiert John Keane den Begriff „Uncivil Society“.2 Mit dem Begriff ist gemeint, dass eine Zivilgesellschaft sich jederzeit rückläufig in eine Nicht-Zivilgesellschaft entwickeln könne.3 „Uncivility was the ghost that permanently haunted civil society“4 und „all known forms of civil society are plagued by endogenous sources of incivility“5. Darüber hinaus muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass der Zivilisierungsprozess in der europäischen Geschichte mit der staatlichen Gewaltmonopolisierung parallel verlief.6 In einem modernen Staat ist die Gewaltausübung nur durch den Staat zu legitimieren und vom Staatsapparat, z. B. Polizei oder Armee, berechtigt durchzusetzen. Dies könnte die Zivilgesellschaft in die Gefahr bringen, dass die Staatsgewalt ihr schaden oder sogar ihre Existenz bedrohen könnte, wie die Fälle Ende des 20. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa gezeigt haben. Unter solchen Umständen wird „bei der Verteidigung zivilgesellschaftlicher Zusammenhänge Zivilcourage von seiten (sic!) der Beteiligten verlangt“.7 Das utopische Potenzial ist nach Kneers Meinung das sechste Merkmal der Zivilgesellschaft. Der Begriff Utopie wird „dabei nicht in einem wörtlichen, sondern in einem übertragenen Sinn verwendet: Die zivilgesellschaftlichen Assoziationsverhältnisse sind keineswegs ortlos, sondern in diskursiven Vereinigungen, spontanen Bewegungen und kollektiven Zusammenschlüssen verankert, also faktisch realisiert. Zugleich weisen die Strukturen der Öffentlichkeit über den gegenwärtigen Zustand hinaus: die prozedurale Verständigungspraxis, die auf eine permanente Kritik und Dauerrevision älterer Übereinkünfte abzielt, ist mit

1 Kocka, Jürgen, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Hildermeier, Manfred, Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriffe, Geschichte, Chancen, 15. 2 Siehe Keane, John, Civil Society: Old Image, New Visions, 115. 3 Ibid., 119. 4 Ibid., 117. 5 Ibid., 135. 6 Zur staatlichen Monopolisierung der Gewalt siehe Ibid., 122-4. Und auch Elias, Norbert, "Violence and Civilization: The State Monopoly of Physical Violence and its Infringement." in: Keane, John, Civil Society and the State: New European Perspectives, 177-198. 7 Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 236.

29 einem offenen Horizont von anderen Möglichkeiten versehen. Insofern lässt sich sagen, dass die Bürgergesellschaft kontrafaktische Implikationen besitzt.“1 Also darf man keineswegs die massenpsychologische Auswirkung der Zivilgesellschaft(sidee) hintanstellen, die in der politischen Bewegung ihre revolutionäre Kraft entfalten könnte. Allerdings müssen wir auch berücksichtigen, dass ein von Theoretikern konzipierter Zivilgesellschaftsentwurf nicht mit einer realpolitisch motivierten Zivilgesellschaftsidee gleichzusetzen ist. Zwischen den beiden ist eine Übergangsphase nötig, die vor allem in der Öffentlichkeit (Massenmedien, Kommunikation, usw.) wirkt, um die Idee im Volk zu verbreiten. Obwohl die endgültige Massenwirkung der Zivilgesellschaftstheorie von dem ursprünglichen theoretischen Ansatz gewissermaßen unabhängig ist, fällt es den Arbeiten, die den idealistisch-präskriptiven Ansatz anwenden, relativ leichter, in realpolitisch wirkende und einflussreiche Ideen überführt zu werden. Bisher wurden die sechs Merkmale der Zivilgesellschaft nach Kneer kurz vorgestellt. Kneer ist sich selbst der Schwäche einer solchen Aufzählungsmethode bewusst, nämlich dass „keineswegs in allen Konzeptionen, die (...) sechs Merkmale ausnahmslos wiederauftauchen; zudem gilt, dass die einzelnen Versionen der Zivilgesellschaft die genannten Merkmale unterschiedlich anordnen und gewichten“.2 Dennoch bieten die sechs Merkmale, die sich jeweils als Öffentliche Assoziationen, Autonomie, Pluralität, Legalität, Zivilität (Zivilisierung) und Utopismus zusammenfassen lassen, eine operationalisierbare Arbeitsplattform, die es ermöglicht, die Zivilgesellschaftstheorie abzustufen und die mit ihr verbundenen Vieldeutigkeiten zu beseitigen. Mit dieser elementaren Taxonomie sind die miteinander verwobenen Pflanzen des Zivilgesellschaftsdschungels besser zu erkennen.

2.5. Modelle der Zivilgesellschaft

Wenn man den Zivilgesellschaftsdschungel als eine organische Ökosphäre betrachtet, gilt der Staat vielleicht als die bedeutendste Außenbedingung, die die

1 Ibid., 236. 2 Ibid., 234.

30 innerökologische Struktur des Dschungels beeinflusst und sogar weitgehend bestimmt. Im Folgenden versuche ich den Staat als eine isolierte Variable der Zivilgesellschaft zu erörtern, indem die unterschiedlichen Modelle im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft vorgestellt werden. Wie oben angedeutet, bilden Staat und Zivilgesellschaft „die klassische Achse“ des gesamten Problemfelds, die nicht nur in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch in den Massenmedien häufig besprochen und diskutiert wird. Viele Beobachter der Zivilgesellschaft haben darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse zwischen Staat und Zivilgesellschaft(en) alles andere als homogen seien. Zivilgesellschaft stelle ein umfangreiches Spektrum „zwischen Freundlichkeit und Militanz“ dar,1 das nicht als ein unausdifferenziertes Ganzes bearbeitet werden kann. Deswegen führe ich in den folgenden Abschnitten die von Chambers und Kopstein konzipierten sechs Modelle (oder Perspektiven) der Zivilgesellschaft ein, um die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Staat und Zivilgesellschaft zu erklären.2 Es wird davon ausgegangen, dass diese sechs Modelle zum bzw. Perspektiven auf das Verhältnis Zivilgesellschaft-Staat sich weder gegenseitig ausschließen noch unbedingt miteinander konkurrieren. Sie stellen die unterschiedlichen Wege dar, die eine Frage beantworten: „Was ist wichtig oder interessant im Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat?“3

2.5.1. Das Trennungsmodell4

Das erste Modell der Zivilgesellschaft charakterisiert eine vom Staat getrennte Sphäre,

1 Kößler, Reinhart ; Henning Melber, Chance internationaler Zivilgesellschaft, 60. 2 Siehe Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 363-4. Georg Kneer hat idealtypisch eine Vierer-Klassifikation der gegenwärtigen Theorierichtung der Zivilgesellschaft aufgestellt, nämlich „die liberale Zivilgesellschaft“, „die kommunitaristische Zivilgesellschaft“, „die radikaldemokratische Zivilgesellschaft“ und „die diskurstheoretische Zivilgesellschaft“, die m. E. zwar politikwissenschaftlich instruktiv, aber auf die Religionswissenschaft nicht übertragbar ist. Siehe Kneer, Georg, "Zivilgesellschaft", in: Kneer, Georg, Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 236-247. 3 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 364. 4 Die jeweiligen Namen der Zivilgesellschaftsmodelle stammen nicht von Chambers und Kopstein, sondern von mir. Das Trennungsmodell bezieht sich auf die vom Staat getrennte Zivilgesellschaft (Civil society apart from the state).

31 in der die Individuen zusammen leben und Gruppen bilden, gemeinsame Unternehmen betreiben, Interessen teilen, wichtige und manchmal auch nicht so bedeutende Sachen mitteilen. 1 Die Zivilgesellschaft grenze sich durch drei Eigenschaften gegenüber dem Staat ab: das freiwillige Wesen der Partizipation (the voluntary nature of participation); die pluralistische Eigenschaft der Aktivitäten (the plural quality of activities); und der negative Charakter der Grenzen der Zivilgesellschaft (the negative character of civil society’s boundaries). 2 Zivilgesellschaft nach diesem Modell ist nicht nur durch Mitgliedschaft, sondern durch freiwillige Mitgliedschaft charakterisiert.3 Das bedeutet, dass Eintritt in die sowie Austritt aus den zivilgesellschaftlichen Assoziationen weder von Außen, also der staatlichen Macht, noch von Innen, also von manchen Mitgliedern, erzwungen werden sollte. Die zweite Eigenschaft ist Pluralismus. Während der Staat dafür verantwortlich sein sollte, die kollektiven Ziele und die öffentliche Gerechtigkeit zu erreichen, treffen die Individuen in der Zivilgesellschaft zusammen, um spezifischen Zielen und speziellen Gruppenzielen nachzugehen. Die dritte Eigenschaft der Zivilgesellschaft wird als eine negative gesellschaftlich-räumliche Grenzlinie verstanden. Indem man diese Grenzlinie ziehe, lege man fest, was über die Grenzlinie (nicht) in die Zivilgesellschaft hineingelassen werden dürfe. Die Grenzlinie sei im Wesentlichen negativ, in erster Linie dafür konzipiert, nicht alles aufzunehmen, sondern den Staat abzuhalten.4 Dieses in der liberalistischen Tradition verwurzelte Zivilgesellschaftsmodell5, mit dem die meisten Theoretiker sich beschäftigen, ist nach Chambers und Kopstein aus der spezifischen Geschichtserfahrung und der Entwicklung des Westens, v. a. Westeuropas, hervorgegangen. In diesem Modell erfordere die Entstehung der Zivilgesellschaft die Trennung der privaten und öffentlichen Autoritätssphären. 6 Anders formuliert: die Schaffung der Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und

1 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 364. 2 Ibid., 364-5. 3 Ibid., 365. 4 Ibid., 365. 5 Ibid., 366. 6 Ibid., 366.

32 privaten Bereich habe einen Raum für die Entstehung der Zivilgesellschaft gebildet. Deswegen könne man sagen, dass dieses Modell eng mit der liberalistischen konstitutionellen Ordnung verbunden ist. Die Verfassung und entsprechende Gesetze müssen die Freiheit der Assoziationen aufrechterhalten. Allerdings sei das Assoziationsleben (associational life) allgegenwärtig. Es existiere nicht nur unter demokratischen politischen Rahmbedingungen. Eine starke juristische Grenzlinie sei nur einer der Wege, das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft aufzuzeigen.1 Obwohl die Autoren darauf hingewiesen haben, dass die Diskussion über das Trennungsmodell der Zivilgesellschaft nur auf die liberale Demokratie begrenzt werden sollte, bietet es eine Minimalforderung der Zivilgesellschaft, die aus Sicht des Staates harmlos und unverfänglich ist.

2.5.2. Das Oppositionsmodell2

Die politische Umwälzung Ende der 80er Jahre im ehemaligen Ostblock löste eine Revitalisierung der Zivilgesellschaftsliteratur aus. Diese realpolitischen Ereignisse haben nach Chambers und Kopstein den Politikwissenschaftlern und Beobachtern ein Zivilgesellschaftsmodell offenbart, das dem Staat gegenübersteht, aber anders ist, als das besagte „Trennungsmodell“. Unter den nichtdemokratischen bzw. totalitären Regimes habe der Staat die zivilgesellschaftlichen Organisationen unterdrückt, damit die Stabilität des Regimes gewährleistet werde.3 Unter diesen Umständen werde eine Zivilgesellschaft vom Staat als umstürzlerisch angesehen. Trotzdem, wie viele Sozialwissenschaftler und Theoretiker argumentierten, ist die Reichweite der Macht eines totalitären Staates nie so lückenlos, wie behauptet. Die katholische Kirche in Polen, die Umweltschutzverbände in Ungarn und in der DDR und die jugendlichen Gruppen sowie Musik-Clubs seien zusammen gekommen, ihre Gruppenressourcen und Sozialfunktionen zu erhalten. Falls der Staat seine Schwäche zeigt, besonders im

1 Ibid., 366-7. 2 Die Zivilgesellschaft gegen den Staat (Civil society against the state), kann auch als Konfliktmodell bezeichnet werden. 3 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 367.

33 Jahr 1989, hätten die Gruppen sofort die Bühne übernommen. Sie fungierten nicht nur als „Barrikade“ sondern traten in Verhandlung ein, um den Weg zu bahnen, dass die Kommunisten relativ reibungslos die Macht abtreten, so erläutern Chambers und Kopstein. Die Geschichte habe gezeigt, dass solche elastischen Gruppen unter gewissen Umständen aber sich den repressiven formellen Institutionen des Staates entgegenstellen. Einige Beispiele weisen jedoch darauf hin, dass ironischerweise diejenigen Gruppen, die den Kommunismus gestürzt hatten, in der Demokratie nicht fortbestehen konnten.1 Dies kann als das Oppositions- oder Konfliktmodell der Zivilgesellschaft bezeichnet werden, welches das spannungsreichste und konfliktträchtigste Verhältnis im Zivilgesellschaft-Staat -Spektrum darstellt. Das Modell impliziert auch, dass zwischen Staat und Zivilgesellschaft in den meisten Fällen ein Nullsummenspiel stattfindet.

2.5.3. Das Öffentlichkeitsmodell2

Die oben erwähnten zwei Zivilgesellschaftsmodelle stellen zwei Extremfälle des Zivilgesellschaftsspektrums dar. Der extreme Pol, das Trennungsmodell, ist zwar friedsam, aber trivial und passiv, während der Gegenpol, das Oppositionsmodell, konfliktträchtig, intransigent, kampflustig und manchmal auch unrealistisch zu sein scheint. Viele demokratische Theoretiker schlagen vor, die Zivilgesellschaft in einem kreativen und kritischen Dialog mit dem Staat zu sehen. Angesichts dieses Verhältnisses (zum Staat) sei Zivilgesellschaft als Öffentlichkeit (eng. public sphere) das Zentralthema geworden, worauf Jürgen Habermas deutlich hinwies. Die Öffentlichkeit werde als eine Extension (eng. extension) der Zivilgesellschaft verstanden, in der die innerhalb der Zivilgesellschaft gestalteten Ideen, Interessen, Werte und Ideologien sich artikulieren und politisch wirksam werden. Der historische Kampf, der eine sich vom Staat getrennte Sphäre aufgebaut habe, habe zur

1 Ibid., 368. 2 Die Zivilgesellschaft im Dialog mit dem Staat: Öffentlichkeit (Civil society in dialogue with the state: Public Sphere), kann auch als Dialogmodell bezeichnet werden.

34 Konzipierung der öffentlichen Meinungen geführt, die sich ebenfalls vom Staat abgesondert hätten. Die politische Funktion der öffentlichen Meinung sei einfach öffentliche Kritik.1 Die Äußerungs- und Vereinigungsfreiheit, die Chambers und Kopstein zufolge notwendige Bedingungen für eine starke Öffentlichkeit sind, genügen allerdings nicht. Denn nicht der Staat, sondern die Mitglieder der Zivilgesellschaft übernehmen die Verantwortung, eine wirksame Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Nur wenn ihre Akteure ernsthaft versuchen, die Öffentlichkeit zu fördern, zu erweitern, und zu transformieren, könne die Öffentlichkeit aufblühen.2 Obwohl also die Meinungs- und Versammlungsfreiheit die erforderlichen Bedingungen einer starken Öffentlichkeit sind, sind sie Habermas zufolge nicht genug. Die Öffentlichkeit solle auch Kritik am Staat sowie an vielen anderen öffentlichen Angelegenheiten üben.

2.5.4. Exkurs: Habermas’ Öffentlichkeitstheorie3

Die ideegeschichtliche Tradition der Öffentlichkeit lässt sich bis zu den altgriechisch-römischen Philosophen - wie Aristoteles und Cicero - zurückverfolgen. Zahlreiche Großdenker der Aufklärung - wie Rousseau, Montesquieu und Kant - haben zweifellos auch zur Bereicherung des Begriffes beigetragen. Aber die Thematisierung und die Selbstbewusstseinsgewinnung der Öffentlichkeit sind weithin gegenwärtige Phänomene. Trotz unterschiedlicher Theorien und Modelle über Öffentlichkeit4 gilt Jürgen Habermas’ Der Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961) als unumgängliches Standardwerk zur Begriffsgeschichte, denn es fasst systematisch die Genealogie und Ideegeschichte zusammen und fungiert als bedeutendster

1 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 369. 2 Ibid., 370. 3 Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft sind zwei eng miteinander verbundene und auch zu verwechselnde Begriffe. Die meisten Wissenschaftler haben zwar auf den Zusammenhang der beiden Begriffe hingewiesen, aber keine klare Grenzlinie zwischen den ihnen gezogen. Chambers und Kopsteins sechs Modelle der Zivilgesellschaft bieten eine operationalisierte Struktur, in der Öffentlichkeit als ein spezifisches Modell der Zivilgesellschaft eingeordnet wird. 4 Siehe Benhabib, Seyla, "Models of Public Sphere: Hannah Arendt, the Liberal Tradition, and Jürgen Habermas", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 73-98. Cohen, Jean L. ; Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, XV.; und auch Hohendahl, Peter Uwe, "The Public Sphere: Models and Boudaries", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 99-108.

35 Ausgangspunkt für die weiteren Diskussionen. Inhaltlich betrachtet lässt sich Habermas’ Grunderzählungsstrategie als eine Verfallsgeschichte der Öffentlichkeit skizzieren.1 In der ersten Hälfte des Buches (Kap. I-IV) wird die Geschichte des Aufschwungs der Öffentlichkeit, die im 19. Jh. ihr goldenes Zeitalter erreichte, beschrieben, während in der zweiten Hälfte (Kap. V-VII) die Degeneration der Öffentlichkeit seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt wird. Habermas zufolge herrschte vor dem 18. Jahrhundert in Westeuropa die sog. repräsentative Öffentlichkeit, eine öffentliche Repräsentation der Herrschaft.2 Mit dem Frühkapitalismus einhergehend entstand der Waren- und Nachrichtenverkehr3, der später als Grundlage für die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit fungierte. Habermas hat folgende Definition der bürgerlichen Öffentlichkeit, die von ihm als Kulminationspunkt der Öffentlichkeit angesehen wird, gegeben:

„Bürgerliche Öffentlichkeit lässt sich vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen; diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen.“4

Dieser sich im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft befindende Intimbereich verfüge über ein besonderes Merkmal: das öffentliche Räsonnement.5 Unter den Begriff Publikum, zu dessen eigentlichem Träger nur die Schicht der

1 Cohen, Jean L. ; Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, 211; Calhoun, Craig, "Introduction: Habermas and the Public Sphere", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 10. 2 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 60. 3 Ibid., 70. 4 Ibid., 86. 5 Ibid., 86.

36 „Bürgerlichen“ zählen darf, hat Habermas „die gebildeten Stände“ subsumiert.1 Die politische Öffentlichkeit (oder literarische Öffentlichkeit), deren Institutionen jeweils in den coffeehouses (England), den salons (Frankreich) und den Tischgesellschaften (Deutschland) zu finden sind, schlage eine Brücke zwischen dem Privatbereich, in dem die bürgerliche Öffentlichkeit wurzelt und sich befindet, und der Sphäre der öffentlichen Gewalt, um dem Staat Bedürfnisse der Gesellschaft vermitteln zu können.2 Weniger plausibel ist m. E. die unter dem Namen „Strukturwandel“ zusammengefasste zweite Hälfte von Habermas’ Buch.3 Ab dem 19. Jahrhundert entstanden Habermas zufolge gleichzeitig zwei gegenläufige Tendenzen, nämlich die Verstaatlichung der Gesellschaft und die Vergesellschaftlichung des Staates, die allmählich die Basis der bürgerlichen Öffentlichkeit - die Trennung von Staat und Gesellschaft - zerstöre,4 da Staat und Gesellschaft sich wechselseitig durchdringen.5 Schließlich verlören die Öffentlichkeit und die Privatsphäre ihre Trennschärfe.6 Was die Kritikfähigkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit betrifft, so führe die Entstehung der Massenpresse dazu, dass das kulturräsonierende Publikum vom kulturkonsumierenden Publikum ersetzt werde.7 Als Folge dieses Vorganges sei der Zerfall der literarischen Öffentlichkeit zu erwarten:

„Der Resonanzboden einer zum öffentlichen Gebrauch des Verstandes erzogenen Bildungsschicht ist zersprungen; das Publikum in Minderheiten von nicht-öffentlich räsonierenden Spezialisten und in die große Masse von öffentlich rezipierenden

1 Ibid., 80-81. Verglichen mit der bürgerlichen Öffentlichkeit gehört der Begriff „plebejische Öffentlichkeit“, der immer mit der französischen Revolution verknüpft wird, nicht zur Zentralaufgabe von Habermas. Die plebejische Öffentlichkeit, die als eine von der bürgerlichen Öffentlichkeit abgeleitete, sekundäre Variante gedeutet wird, wurde von Habermas absichtlich vernachlässigt. Siehe Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 16. 2 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 88-90. 3 Siehe dazu auch Calhoun, Craig, "Introduction: Habermas and the Public Sphere", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 29. 4 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 226. 5 Ibid., 238. 6 Ibid., 246. 7 Ibid., 248f.

37 Konsumenten gespalten. Damit hat es überhaupt die spezifische Kommunikationsform eines Publikums eingebüßt.“1

Den zwei Hälften des Buches entsprechend sind in Habermas’ Öffentlichkeitstheorie zwei Aspekte zu erkennen: Einerseits befasst sich Habermas’ Studie, v. a. in der ersten Hälfte, damit, ein historisches Ereignis, und zwar den Übergang von der repräsentativen Öffentlichkeit zur bürgerlichen Öffentlichkeit zu beschreiben und dessen Genese genealogisch zu erfassen; andererseits widmet sich die Studie, besonders in der zweiten Hälfte, der Begründung normativer Argumente.2 Der erste Teil kann als der deskriptiv-analytische Aspekt von Habermas’ Theorie verstanden werden, dessen Aufgaben aus folgenden Punkten bestehen: (1) unterschiedliche Begriffe von Öffentlichkeit zu typologisieren; (2) die Entstehung und Entwicklung historisch zu beschreiben; (3) deren Genese zu erklären, oder anders formuliert, die historischen Voraussetzungen und sozial-ökonomischen Bedingungen für Öffentlichkeit herauszufinden. Solche historischen Aufgaben könnten im Prinzip auch ohne normative Aussagen als Voraussetzung gelöst werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass Habermas einer der Haupttheoretiker der Frankfurter Schule ist, dessen Arbeitsschwerpunkt darin besteht, Diagnosen für den hochentwickelten Kapitalismus zu stellen. Die in der zweiten Hälfte des Strukturwandels beschriebene Degeneration der bürgerlichen Öffentlichkeit impliziert auch, dass diese Abweichung vom Idealtyp reguliert und der idealistische und authentische Zustand wiederhergestellt werden sollte, wenngleich Habermas keine klare Lösung vorgibt. Eine solche normativ-idealistische Richtlinie, die selbst legitimierte Werturteile beinhaltet, bringt eine klare Zielsetzung der Gesellschaft hervor, die sich potenziell auf die Realpolitik bezieht. Aus diesem Verständnis heraus könnte Habermas’ nostalgische Öffentlichkeitstheorie möglicherweise als Quelle für das Selbstbewusstsein und die Überheblichkeit der westeuropäischen Gesellschaft fungieren. Habermas hat weder die Bedeutungen der Öffentlichkeit erschöpft noch die

1 Ibid., 266. 2 Calhoun, Craig, "Introduction: Habermas and the Public Sphere", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 40.

38 begriffliche Ambivalenz endgültig gelöst. So kommentiert ein anderer Autor über Habermas’ Theorie:

„The most important destiny of Habermas’ first book may prove to be this: not to stand as an authoritative statement but to be an immensely fruitful generator of new research, analysis, and theory.“1

2.5.5. Das Unterstützungsmodell2

In der zeitgenössischen Debatte über Zivilgesellschaft gibt es nach der Theorie von Chambers und Kopstein ein viertes Modell, das besonders stark im amerikanischen Kontext favorisiert wird. Es handelt sich dabei um das sog. Unterstützungsmodell.3. Dieses Modell konzentriert sich auf die neo-Tocquevillesche Analyse über die Bedingungen, die für Stabilität erforderlich sind. Die Zivilgesellschaft lasse Sozialbindungen und gegenseitige Verantwortung entstehen, indem die isolierten Individuen in eine Struktur größerer Gruppen eingebettet und durch Ziele verbunden seien, die jenseits ihrer privaten Interessen liegen. Die gegenseitige Verbindung, die in der Zivilgesellschaft entsteht, könnte als Quelle des demokratischen Lebens betrachtet werden.4 Das aus dieser Sicht entstandene Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat sei kompliziert und spiegele oft eine Liebe-Hass-Dynamik wider. Auf der einen Seite sei die Verwirklichung der liberalen Demokratie von der Reproduktion der notwendigen demokratischen Haltungen abhängig. Die Demokraten benötigen eine entsprechende Identitätsbildung und die Vermittlung von entsprechenden Werten. Auf der anderen Seite sei der Staat eine der Mächte, die zum Niedergang der Zivilgesellschaft beitragen könnten. Nach diesem Verständnis erfüllt die Zivilgesellschaft die Funktion, einerseits den Staat zu unterstützen, und andererseits eine bestimmte Menge an Opposition gegen den Staat zu zeigen.5 Im Vergleich zum

1 Ibid., 41. 2 Die Zivilgesellschaft zur Unterstützung des Staates (Civil society in support of the state) 3 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 371. 4 Ibid., 371. 5 Ibid., 371-2.

39 Trennungsmodell der Zivilgesellschaft betont das Unterstützungsmodell, dass das Assoziationsleben gemeinsame Werte schaffen könne.1 Der wesentliche Wert der Stabilität und Qualität der Demokratie basiert auf dem Wert der Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität.2 Damit kann man auch unterscheiden, was eine gute oder schlechte Zivilgesellschaft ist.

2.5.6. Das Partnerschaftsmodell3

Unter dem Motto “more governance, less government”4 steht das fünfte Modell der Zivilgesellschaft. Die gegenwärtigen Zivilgesellschaftstheoretiker behaupten, dass die wachsende Komplexität eine Herausforderung für Verwaltung, Demokratie und Autonomie dargestellt habe, die Sozialtheoretiker aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert nie erwartet hätten. Der Staat könne nicht funktionieren ohne die Hilfe und die Schlichtung der nichtstaatlichen Assoziationen. Dies verlange wiederum die Delegation bzw. Übertragung (eng. devolution) der Autorität auf die staatsbürgerlichen Assoziationen.5 Oder anders formuliert: die ursprünglich zum Staat gehörenden Befugnisse (oder Funktionen) werden teilweise der Zivilgesellschaft übertragen. Wenn die Staatsbürger in der Lage seien, sich selbst zu regulieren, könnte eine Basis für Autonomie und Selbstrespekt entstehen, woraus die Zivilgesellschaft als neue Herrschaftsform (eng. governance) hervorgehen könne. 6 Aber dies führe voraussichtlich zu dem Problem, dass die Zivilgesellschaft ähnlich wie ein Staat oder ein „Ersatzstaat“ aussieht, wenn sie die Funktion des Staates übernimmt.7 Schließlich könnte dies der Ausgleich zwischen den beiden Seiten sein.

1 Ibid., 372. 2 Ibid., 373. 3 Die Zivilgesellschaft in der Partnerschaft mit dem Staat (Civil society in partnership with the state). 4 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 374. 5 Ibid., 374. 6 Ibid., 374. 7 Ibid., 375.

40 2.5.7. Die globale Zivilgesellschaft1

Viele Assoziationen und NGO gehen über die Staatsgrenzen hinaus. Deswegen könnte Zivilgesellschaft als ein globales Phänomen verstanden werden. Die Theoretiker und Kritiker der Zivilgesellschaft haben aufgezeigt, dass die überwiegenden Theorien über Zivilgesellschaft sich auf den „methodologische[n] Nationalismus“ beschränken.2 Die allgemeine Tendenz bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft habe gezeigt, dass die Zivilgesellschaft sowohl eine nationale als auch eine transnationale Kategorie ist. Die Sozialwissenschaftler aber stützten ihre Forschung grundsätzlich auf die nationale Ebene und auf national gesammeltes Material. Durch Gruppen, die nicht durch politische Grenzen abzugrenzen sind, hätten jedoch einige interessante Entwicklungen innerhalb der Zivilgesellschaft stattgefunden, Die beiden am stärksten zu erkennenden Komponenten der globalen Zivilgesellschaft sind die problemzentrierten Sozialbewegungen in Bezug auf Landminen, Menschenrechte, Klimawandel, Aids/HIV usw. Chambers und Kopstein weisen darauf hin, dass die globale Zivilgesellschaft unreif sei. Sie verfüge über ein äußerst amorphes Konzept und sei oft normativ überladen. Die Mehrheit der Organisationen, Vereinigungen und Bewegungen, welche die globale Zivilgesellschaft bilden, hätten ihre Heimat und ihre Hauptquartiere in denjenigen Staaten, die den Schutz und die Rechtssicherheit einer bestehenden liberalen Rechtsordnung bieten. Zivilgesellschaft als eine juristisch begrenzte und geschützte Sphäre der Freiheit sei auf die Freiheit angewiesen, die gewissermaßen nur vom Staat gewährleistet werden könne.3

Wir sind nun das ganze Spektrum hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Zivilgesellschaft und Staat durch gegangen: Als Erstes wurde das Minimalmodell der Zivilgesellschaft vorgestellt, nämlich das Trennungsmodell; dann haben wir kurz das

1 Die über dem Staat hinausgegangene Zivilgesellschaft (Civil society beyond the state), ist auch als internationale Zivilgesellschaft bekannt. 2 Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, 376. 3 Ibid., 378.

41 Gegenmodell (Konfliktmodell) erwähnt, das dem Staat gegenübersteht; anschließend wurden drei Übergangsmodelle angeführt, nämlich das Öffentlichkeits-, das Unterstützungs- und das Partnerschaftsmodell, die sich zwischen den beiden Extremfällen befinden. Zuletzt haben wir die internationale Zivilgesellschaft bzw. die globale Zivilgesellschaft behandelt. Die sechs Modelle fassen die innere Vielfalt der Zivilgesellschaftstheorien idealtypisch zusammen.

Abb. 2 Sechs Modelle der Zivilgesellschaft(en)

42

3. Zivilgesellschaftsdiskussion im chinesischen Kontext

Nach einer Reise durch den Zivilgesellschaftsdschungel ist ein langer, kurviger Weg voller Abzweigungen bereits hinter uns. Nun müssen wir an den Ausgangspunkt dieser Forschung erinnern, damit die ursprüngliche Leitfrage und das Hauptziel dieser Arbeit nicht aus den Augen verloren werden. Der Sinologe Paul Katz hat in seiner Geschichtsstudie Demon Hordes and Burning Boats zum ersten Mal die These aufgestellt, dass sich durch die volksreligiösen Feste und Veranstaltungen sowie die daran beteiligten Organisationen in der Spät-Kaiserzeit in China eine Zivilgesellschaft oder Öffentlichkeit herausgebildet habe. Um die Bedeutung(en) und den Inhalt der Zivilgesellschaft oder ihrer Theorie zu begreifen, haben wir eine Expedition tief durch den Zivilgesellschaftsdschungel unternommen und das dreiseitige Problemfeld, zwei Ansätze, sechs Merkmale und sechs Modelle der Zivilgesellschaft eingeführt. Nun soll das Forschungsgebiet weiter eingegrenzt und „Zivilgesellschaft“ nicht generell, sondern im chinesischen Kontext behandelt werden. Obwohl „Zivilgesellschaft“ auf den ersten Blick nicht in engem Zusammenhang mit China steht, sind Abhandlungen über die Zivilgesellschaft Chinas weder in der westlichen noch in der chinesischen Literatur ein Forschungsvakuum. Eigentlich schließt sich Katzs Studie unmittelbar an die Debatte über die Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit in China an. Genau zur Wende vom vorletzten zum letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, begleitet von unerwarteten politischen Umwälzungen in (Mittel)osteuropa, wurde das Thema „Zivilgesellschaft“ plötzlich zu einem globalen Brennpunkt inner- und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. In Bezug auf China galt die Demonstration von Studenten auf dem Tian’anmen Platz in Beijing sowie in vielen anderen Städten (1989) als einer der wichtigsten realpolitischen Anlässe für die Diskussion über die Zivilgesellschaft Chinas. Im April 1991 wurde während der Jahrestagung der „Association for Asian Studies“ in New Orleans ein Sonderpanel zum Thema "Civil Society in People's

43 China" veranstaltet. Anschließend fand im November desselben Jahres im Wilson Center in Washington ein Forum mit der Zentralfrage “Did China Ever Enjoy a Civil Society?” statt.1 Die Auseinandersetzung mit dieser umstrittenen Frage setzte sich im Mai 1992 auf der Berkeley-Fudan Konferenz namens „China's efforts at modernization“ in Shanghai fort. 2 Schließlich wurde im Oktober 1992 ein Symposium in Montreal unter der Schirmherrschaft der des „Joint European-American Committee on Cooperation in East Asian Studies“ dem Thema „civil society/public sphere“ gewidmet.3

3.1. Die „Modern China Debate“

Diese oben erwähnte Reihe wissenschaftlicher Diskussionen fand zuletzt ihren Niederschlag in der Sonderausgabe „Public Sphere/Civil Society in China? Paradigmatic Issues in Chinese Studies, III“ der Zeitschrift „Modern China“ (Vol. 19. No. 2, April, 1993), in der die Aufsätze zu den wichtigsten Positionen aufgenommen wurden. Im Laufe der jahrelangen Diskussion haben sich die Meinungen scharf in zwei gegensätzliche Fraktionen ausdifferenziert, die jeweils ausdrücklich für oder gegen die Verwendung der Begriffe „Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit“ 4 in der Geschichte Chinas waren.5

1 Wakeman, Frederic, "The Civil Society and Public Sphere Debate: Western Reflections on Chinese Political Culture", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 108. 2 Wang, Licheng 王立诚, "Jindai zhongguo xiandaihua jincheng de tansuo-'jindai zhongguo shehui yanbian zhuwenti de lishi kaocha' guoji xueshu taolunhui zongshu" 近代中国现代化进程的探索—— "近代中国社会演变诸问题的历史考察"国际学术讨论会综述, in: 复旦学报(社会科学版), Vol. 4, 1992, 88. 3 Wakeman, Frederic, "The Civil Society and Public Sphere Debate: Western Reflections on Chinese Political Culture", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 108. 4 Die zwei eng miteinander verbundenen Begriffe Zivilgesellschaft (civil society) und Öffentlichkeit (public sphere) werden in der bisherigen Diskussion über China meistens nicht klar voneinander unterschieden. Die überwiegende Zahl der Autoren benutzen die zwei Termini als Synonyme. Die Wortverbindung „Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit“ ist oft in der Literatur zu lesen. Die Begriffsverwechslung hat weitgehend die Aussagekraft beeinträchtigt. Nach der Klassifikation von Chambers und Kopstein wird Öffentlichkeit als ein spezifisches Modell der Zivilgesellschaft verstanden, welches unter den Oberbegriff „Zivilgesellschaft“ eingeordnet werden solle. Ich akzeptiere in der vorliegenden Forschung diese Einordnungsmethode, um die Verwechselbarkeit der zwei Termini zu vermeiden. Siehe oben 2.6.3. 5 Für Zusammenfassungen dieser Debatte und den Forschungsstand siehe auch die in derselben Ausgabe aufgenommenen Aufsätze: Chambers, Simone ; Jeffrey Kopstein, "Civil Society and The State", in: Dryzek, John S., The Oxford Handbook of Political Theory, und Huang, Philip C. C., "'Public Sphere'/'Civil Society' in China?: The Third Realm between State and Society", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 216-240. Für andere Überblicke über die Diskussion zu Zivilgesellschaft und

44 3.1.1. Rowe

William T. Rowe war der Hauptvertreter der „Pro-Fraktion“, dessen zweibändige Studie über Hankou (Hankow: Commerce and Society in a Chinese city: 1796-1889 und Hankow: Conflict and Community in a Chinese City: 1796-1895) danach trachtete, die zentrale Frage zu beantworten, inwiefern sich eine Zivilsphäre (oder Öffentlichkeit) außerhalb der Regierung in der am Mitteljangtse liegenden Stadt Hankou ( 汉口) entwickelt und ausgebreitet habe. 1 In seinen geschichtswissenschaftlichen Forschungen fand er heraus, dass sich in der Zeit zwischen 1796 und 1889 zahlreiche Selbstorganisationen, die für öffentliche Infrastruktur, Feuerschutz, Wasserversorgung, Sozialwesen und kulturelle Institution zuständig waren, herausgebildet haben. Die Entstehung und Ausbreitung solcher „extrabureaucratic“ Institutionen galten als deutliche Zeichen für eine Öffentlichkeit.2 In einem später erschienenen Aufsatz, welcher der systematischen Auseinandersetzung Rowes mit der Verwendung von Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff folgte, schlug er vor, dass die Untersuchung von „Öffentlichkeit“ im chinesischen Kontext zwei Richtlinien folgen solle. So sollten erstens das juristische System bzw. die Gesetze und die entsprechenden Dispute darüber zur Spät-Qing und Frührepublikzeit erforscht werden, um Haltungen zum „öffentlichen“ Eigentum festlegen zu können. Zweitens sollte man sich darauf konzentrieren, die Auflösung oder Transformation der Öffentlichkeit in China im 20. Jahrhundert zu behandeln.3 Rowes Gedanken fanden endgültig ihren Niederschlag in dem in Modern China erschienenen Aufsatz „The Problem of ‘Civil Society’ in Late Imperial China”, in dem er versucht, die zentrale Frage zu beantworten, ob China je eine Zivilgesellschaft

Öffentlichkeit Chinas siehe Bergère, Marie-Claire, "Civil Society and Urban Change in Republican China", in: The China Quarterly, Vol. 150, 1997, 309-328; Ma, Shu-Yun, "The Chinese Discourse on Civil Society", in: The China Quarterly, Vol. 137, 1994, 180-193 und Rowe, William T., "The Public Sphere in Modern China", in: Modern China, Vol. 3, 1990, 309-329. 1 Rowe, William T., Hankow: Conflict and Community in a Chinese City: 1796-1895, 10. 2 Ibid., 183, 314-5 und 351. 3 Rowe, William T., "The Public Sphere in Modern China", in: Modern China, Vol. 3, 1990, 325-6.

45 oder Öffentlichkeit besessen habe.1 Oder anders formuliert, können wir eine Reihe von historischen Entwicklungen in China aufweisen, die wesentlich anders als die Geschichte des frühmodernen Europas sind, aber sich in einer „chinesische Zivilgesellschaft“ manifestieren? Seine Antworten sind doppelseitig: Einerseits dürfen die seiner Meinung nach erforschten öffentlichen gemeinnützigen Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe als „Verwaltungsöffentlichkeit“ (eng. managerial public sphere) bezeichnet werden, die zur Legitimation einer „kritischen“ Öffentlichkeit in der „extrabureaucratic“ Debatte, wie Rowe formuliert, führen könnte. Andererseits hat er aber auch darauf hingewiesen, dass es im chinesischen Kaiserreich keinen diskursiven Gegenpart in Form einer Zivilgesellschaft wie in Europa gegeben habe. 2 Einige sozio-ökonomischen Entwicklungen - z. B. Kapitalismus, Zivilrecht, Druckmedien, Urbanisierung, autonome Organisationen etc. - könnten allerdings zur Entstehung einer Zivilgesellschaft beitragen. 3 Zum Schluss formuliert Rowe die Grundthese: Das Spät-Qing Kaiserreich im allgemeinen habe weder die Fähigkeit noch die Absicht gehabt, die Prozesse innerhalb der chinesischen Gesellschaft routinemäßig direkt zu beeinflussen. Stattdessen sei die Herrschaft in manchen Verwaltungsangelegenheiten auf die „außerbürokratischen Assoziationen“ angewiesen gewesen. Als Folge davon seien diese Assoziationen erheblich gestärkt und deren Interessen gefördert worden. Das Gleichgewicht zwischen der staatlichen Kontrolle und Autonomie sei daher nie klar festgelegt gewesen. In der Praxis habe dies zu einem Zustand fortwährender Verhandlungen geführt.4 Der Begriff „Zivilgesellschaft“ ist nach Rowes Meinung viel zu normativ belastet und nur für den gegenwärtigen Gebrauch geeignet. Wenn man in China die „Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit“ entdecke oder gedanklich konstruiere, könne das Ergebnis folglich nichts anderes als Werturteile über die chinesische Vergangenheit

1 Rowe, William T., "The Problem of 'Civil Society' in Late Imperial China", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 139. 2 Ibid., 142. 3 Ibid., 142-7. 4 Ibid., 148.

46 sein, Deswegen ist Rowe der Auffassung, dass man eine moderate „middle-level“ Generalisierung, wie Rowe es bezeichnet, vornehmen sollte, um Ethnozentrismus und Orientalismus gleichzeitig zu vermeiden. So könnte ein potenziell fruchtbarer Weg in der Geschichtsforschung Chinas gefunden werden. Außerdem hat Rowe es auch abgelehnt, aus historischen Studien ein irgendwie geartetes „demokratisches Potential“ des chinesischen Kaiserreichs abzuleiten. Darüber hinaus soll man Rowe zufolge sich wehren, mit der Zivilgesellschaft die abendländische kulturell-politische Überlegenheit gegenüber China zu rechtfertigen.1

3.1.2. Rankin

Neben Rowe befürwortet auch Rankin die Verwendung des Begriffs „Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit“ in China. Dafür brachte sie in ihrem Aufsatz Some Observations on a Chinese Public Sphere die folgenden Argumente vor: (1) Ab der Spätzeit der Ming-Dynastie gab es eine fortlaufende, sich langsam entfaltende Entwicklung von Öffentlichkeit in China, die mit der gesellschaftlichen sowie der staatlichen Macht verbunden war. (2) Allerdings war die Öffentlichkeit anders als der Ursprung der europäischen Zivilgesellschaft. (3) Manche Institutionen und Tätigkeiten mit zivilgesellschaftlichem Charakter traten im späten 19. Jahrhundert und während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in China auf. (4) Allerdings hat sich wegen der ungünstigen geschichtlichen Bedingungen in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts keine vollständige Zivilgesellschaft herausgebildet.2 Nach Rankins Definition bedeutet der essenzielle Kern von Zivilgesellschaft die Entstehung solcher gesellschaftlichen Assoziationen, die [einerseits] nicht vom Staat dominiert wurden und [andererseits] die öffentliche Politik beeinflussen konnten. Solches Attribut spiegelt die Entwicklung Europas wider, von der mithin Bruchstücke mithin in China zu finden waren. Demgegenüber sei der Begriff „Öffentlichkeit“, wie

1 Ibid., 153-4. 2 Rankin, Mary Backus, "Some Observations on a Chinese Public Sphere", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 158.

47 er in anderen Kulturen der Welt zu verwenden sei, wenig in der abendländischen politischen Kultur eingebettet, Trotz aller kulturellen und begrifflichen Unterschiede überlappe sich das chinesische Wort „gong“ (公 ) teilweise mit dem Begriff „Öffentlichkeit“, der vom 17. Jahrhundert an bis ins 19. Jahrhundert hinein häufig auf öffentliche außerbürokratische Tätigkeiten bezogen war.1 Die freiwillige Beteiligung lokaler Eliten an der Verwaltung der lokalen Belange außerhalb des bürokratischen Raumes galt als die Essenz dieser Öffentlichkeit.2 In den letzten Jahrzehnten der Qing-Dynastie seien die Bedingungen geschaffen worden, die zur Entwicklung von Öffentlichkeit beitragen konnten, während sie in der Republikzeit wieder rückgängig gemacht wurden, als der Staat offensichtlich zur Behinderung von Öffentlichkeit geworden war. 3 Der Unterschied zwischen der Öffentlichkeit in China und der des frühmodernen Europa bestehe mehr in der Staat-Gesellschaft Beziehung als in der ökonomischen Entwicklung.4

3.1.3. Wakeman

Gegenüber der Stellungnahme von Rowe und Rankin erhob Wakeman seine Einwände. Er beschränkt seine Studie mehr auf Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff. Obwohl er der Ansicht von Rowe und Rankin zustimmt, dass es ab 1900 tatsächlich eine fortlaufende Ausbreitung des öffentlichen Bereichs (public realm) in China gegeben habe, hält er es für schwierig, Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff auf den chinesischen Kontext anzuwenden, weil die bürgerliche Macht (civic power) nie in der Lage gewesen sei, eine Herausforderung darzustellen. Stattdessen habe sich in der Republikzeit die staatliche Macht ständig vergrößert, so dass für chinesische Bürger die gesellschaftliche Existenz in erster Linie mehr Pflicht und Abhängigkeit als Recht und Verantwortung bedeutet habe.5

1 Ibid., 159-160. 2 Ibid., 161. 3 Ibid., 173. 4 Ibid., 177-9. 5 Wakeman, Frederic, "The Civil Society and Public Sphere Debate: Western Reflections on Chinese Political Culture", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 133-4.

48 3.1.4. Huang: The Third Realm

Konfrontiert mit den zwei sich gegenüberstehenden Meinungen, hat Philip Huang sich bemüht, einen Mittelweg zwischen den beiden Positionen zu finden. Er schlug vor, den wertneutralen Terminus „the third realm“ einzuführen, um die terminologische Auseinandersetzung zu beruhigen. „The third realm“ bezieht sich auf den intermediären Raum zwischen dem Staat und der Gesellschaft.1 Huang zufolge könnte die Einführung des neuen Begriffs dem Zweck dienen, die Dichotomie von Staat und Gesellschaft in ein dreiteiliges Modell zu überführen. Als ein Zwischenfeld stellt „the third realm“ eine kommunikative Arena dar, in der sowohl der Staat als auch die Gesellschaft sich beteiligen könnten.2 In der Spätzeit der Qing-Dynastie befanden sich das juristische System, die lokale Verwaltung und die selbstregierenden Gilden etc. in diesem „third realm“.3

3.1.5. Fazit

Obwohl Rowe und Rankin der Verwendbarkeit der Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ im chinesischen Kontext allgemein zustimmen, weichen die Antworten der chinesischen Wissenschaftler auf die Frage nach der Existenz von

1 Huang, Philip C. C., "'Public Sphere'/'Civil Society' in China?: The Third Realm between State and Society", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 223. 2 Ibid., 216. 3 Huang hat den Begriff „Third Realm“ in seiner Forschung eingeführt, und er hat seine Resonanz im chinesischen wissenschaftlichen Kontext gefunden. Für Huangs später erschienene Studie siehe Huang, Philip C. C., Civil Justice in China: Representation and Practice in the Qing,. Für die chinesischen Kommentare und weitere Entwicklungen siehe Wang, Hongbing ; Zhang Si 王洪兵;张思, "Qingdai fazhishi yanjiu lujing tanxi- yi huang zongzhi zhu qingdai de falü shehui yu wenhua wei zhongxin" 清 代法制史研究路径探析——以黄宗智著《清代的法律、社会与文化》为中心, in: 史学月刊, Vol. 8, 2004, 95-102; Bian, Li 卞利, "Lun ming zhongye zhi qing qianqi xiangli jiceng zuzhi de bianqian- jian ping suowei de "disan lingyu" wenti" 论明中叶至清前期乡里基层组织的变迁——兼评所谓的“第 三领域”问题, in: 天津师范大学学报(社会科学版), Vol. 1, 2003, 34-38; Li, Xuechang ; Xu Xiaoqing 李学昌;许晓青, "'Guojia zhengquan yu nongcun shehui': yige yanjiu mingti de huigu yu fansi" ‘国家 政权与农村社会’:一个研究命题的回顾与反思, in: 学术研究, Vol. 1, 2003, 87-90; Xu, Hong 徐红, "Cong 'xiangmin shehui' zouxiang 'gongmin shehui'- dui zhongguo shehui fazhan moshi de pingxi" 从 “乡民社会”走向“公民社会”——对中国社会发展模式的评析, in: 上海大学学报(社会科学版), Vol. 2, 2004, 75-78; Chen, Yaping 陈亚平, "18-19 shiji de shichang zhengduo: hangbang, shehui yu guojia-- yi baxian dang'an wei zhongxin de kaocha" 18-19 世纪的市场争夺:行帮、社会与国家——以 巴县档案为中心的考察, in: 清史研究, Vol. 1, 2007a, 57-64; Chen, Yaping 陈亚平, "Qingdai baxian de xiangbao kezhang yu difang zhixu- yi baxian dang'an shiliao wei zhongxin de kaocha" 清代巴县的 乡保客长与地方秩序——以巴县档案史料为中心的考察, in: 太原师范学院学报(社会科学版), Vol. 5, 2007b, 123-7.

49 Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit voneinander ab: Die Antwort auf die Frage nach der Existenz einer Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert ist - zufälligerweise bei Rowe und Rankin - positiv, während die auf das Vorhandensein einer Zivilgesellschaft generell negativ ist. Leider haben die beiden Autoren weder präzise Arbeitsdefinitionen für „Zivilgesellschaft /Öffentlichkeit“ gegeben noch die Beziehung zwischen den beiden Begriffen geklärt.1 Was Wakemans Einwände betrifft, so handelt es sich eigentlich nicht um die konkreten Beschreibungen in den historischen Studien, sondern um die Verwendbarkeit der Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ im chinesischen Kontext. Die Kontroverse zwischen Wakeman und den Historikern der „Pro-Fraktion“ besteht m. E. darin, dass Wakeman eine „fundamentalistische“ Stellungnahme zur Zivilgesellschaftstheorie abgibt, die noch immer auf einer engen und alten Definition und Theorie (z. B. Habermas) beharrt, während die Historiker eine „revisionistische“ (oder amplifizierte) Stellungnahme zur Zivilgesellschaftstheorie in China hervorbrachten, die eine universale Verwendbarkeit der Theorie im voraus angenommen haben. Solche Spannungen sind m. E. in Geistes- und Sozialwissenschaft üblich: zwischen Universalitätsanspruch der Theorie und Einzelfall der Empirie müssen wir einen Mittelweg finden. Die beiden Parteien haben ihre Stärken und Schwächen. Wenn die Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ im chinesischen Kontext nicht anwendbar und streng auf die westeuropäische Geschichte bezogen wären, dann müsste man doch fragen, ob sie überhaupt anwendbar sind: in (mittel)osteuropäischen und sogar in außereuropäischen Kontexten? Wenn man wie Wakeman behauptet, dass die Begriffe und entsprechenden Theorien nur im engsten (westeuropäischen) Sinn benutzt werden dürfen, dann müssen sie auf ihren Universalitätsanspruch verzichten. Abgesehen davon, dass Habermas’ Theorie in den letzten Jahrzehnten viel revidiert worden ist, haben die Zivilgesellschaftstheorien sich seit den letzten 30 Jahren über

1 Ein anderer Autor, Madsen, dessen Aufsatz auch in die Sonderausgabe aufgenommen wurde, hat sein Verständnis von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Er versteht Zivilgesellschaft als eine erforderliche Bedingung für die Entstehung der Öffentlichkeit. Der Kernteil einer Zivilgesellschaft seien moderne oder sich modernisierende Formen von Assoziationen. Siehe Madsen, Richard, "The Public Sphere, Civil Society and Moral Community: A Research Agenda for Contemporary China Studies", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 187-8.

50 Westeuropa hinaus weiter entwickelt, wie oben angedeutet, und verfügen über mehrere Merkmale und Modelle. Sich auf die veraltete Theorie zu beschränken, wäre nicht sinnvoll. Wakemans Stellungnahme ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel, besonders wenn man die Zivilgesellschaftstheorie in nicht-politikwissenschaftlichen Disziplinen übernehmen möchte. Im Vergleich zu Wakeman könnten Rowe und Rankin einer Gefahr begegnen, die als die „teleologische Annahme“ bezeichnet werden kann. Man muss nämlich berücksichtigen, dass die beiden Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ über einen normativen Aspekt verfügen, der eine bestimmte teleologische Zielsetzung für die Gesellschaft enthält. Sucht man nach der oder will man die Existenz von Zivilgesellschaft oder Öffentlichkeit in der Geschichte Chinas beweisen, so setzt die Verwendung der Begriffe m. E. die teleologische Annahme voraus, dass China der Entwicklungslinie Westeuropas folgen müsse oder solle. Diese Annahme ist weder mit empirischen Materialien beweisbar noch methodisch legitimierbar. Stattdessen repräsentiert die teleologische Annahme mehr oder weniger die realpolitischen Wünsche und Absichten, die aber unreflektiert und wissenschaftlich unhaltbar sind. Um sich von dieser teleologischen Annahme zu distanzieren, hat Huang den Begriff „third realm“ eingeführt, damit man das normative Element der Zivilgellschafts- und Öffentlichkeitstheorie ausschalten kann. Aber diese passive Lösung bedeutet m. E. gleichzeitig, auf die Vielfalt und den Umfang der Zivilgesellschaftstheorie zu verzichten. Eigentlich ist Rowe sich der Gefahr der teleologischen Annahme ziemlich bewusst. Er schlug vor, „Zivilgesellschaft“ als ein analytisches Werkzeug (analytic device) zu benutzen:1

“If civil society was not a material entity, nor an established political institution (like the throne or the bureaucracy), nor even an item of contemporary discourse, it can only be a heuristic device constructed

1 Rowe, William T., "The Problem of 'Civil Society' in Late Imperial China", in: Modern China, Vol. 2, 1993, 141f.

51 after the fact by later scholars for their own analytic purposes.”1

Das bedeutet, dass die Suche nach Zivilgesellschaft in China fruchtlos sein könnte. Allerdings kann „Zivilgesellschaft“ als analytisches Werkzeug in weiteren Forschungen eingeführt werden, um die Dynamik, den Mechanismus, die inneren Spannungen und die langfristige Transformation der chinesischen Gesellschaft aufzuzeigen und anschließend zu verstehen. Dies könnte m. E. eine aktive Lösung sowie eine fruchtbare Richtung in der Forschung zu Zivilgesellschaft werden.

3.2. Die chinesische Diskussion

3.2.1. Ma Min: Die „Keim-These“

Diese hitzige Debatte der amerikanischen Wissenschaftler erregte die Aufmerksamkeit der chinesischen Intellektuellen, und wenige Jahre später fand eine neue Diskussionsrunde auf der anderen Seite des Pazifiks statt. In der 1995 veröffentlichten geschichtswissenschaftlichen Studie von Ma Min stellte der Historiker zum ersten Mal im chinesischen wissenschaftlichen Kreis die „Keim-These“ (萌芽论) zur Zivilgesellschaft auf. Seiner Meinung nach entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einigen hoch entwickelten Handelshäfen - v. a. derjenigen Metropolen an der Küste wie Shanghai - eine dem Abendland ähnliche Zivilgesellschaft, die mit Habermas’ Begriff „bürgerliche Öffentlichkeit“ vergleichbar sei. Das Merkmal dafür war seiner Ansicht nach das Entstehen von modernen nichtstaatlichen Selbstorganisationen.2 Aber die damalige Zivilgesellschaft habe noch versucht, eine Balance zwischen dem Staat und der Privatsphäre zu halten. Außerdem setzte sie große Erwartungen in staatliche Anerkennung und staatlichen Schutz. In manchen Städten ersetzten solche Selbstorganisationen, die noch einen quasi-amtlichen Charakter hatten, teilweise die staatliche Funktion lokaler Behörden. Daneben besaßen die meisten Mitglieder der zivilgesellschaftlichen Institutionen

1 Ibid., 143. 2 Ma, Min 马敏, Guanshang zhijian: shehui jubian zhong de jindai shenshang 官商之间:社会剧变 中的近代绅商, 282-5.

52 quasi-bürokratische Posten.1 Aus diesen Gründen könne die Zivilgesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts in China nur als der „Keim“ einer Zivilgesellschaft bezeichnet werden.

3.2.2. Die Diskussionsrunde in Lishi Yanjiu (历史研究)

Im Jahr 1996 erschien eine Serie von Aufsätzen2 im geschichtswissenschaftlichen Periodikum Lishi Yanjiu (历史研究), in denen die Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ in verschiedenen Forschungen zur regionalen Geschichte als zentrale analytische Kategorien verwendetet wurden. Wang Dis Aufsatz versucht, die soziologische Funktion der Gentry-Schicht in der Spätzeit der Qing-Dynastie am Jangtse-Oberlauf, d. h. in der Provinz Sichuan zu untersuchen. Mit Hilfe eines ausführlichen Studiums der lokalen Dokumente zeigte Wang, dass schon während der Rekonstruktion in der Frühzeit der Qing-Dynastie die lokale Gentry aktiv am Wiederaufbau der Ahnentempel, der Handelskammern und Gildenhallen, an Sozialdienstleistungen, Wohltätigkeiten sowie Bildungsanstalten beteiligt war, wodurch sie eine potenziell von der Regierung unabhängige „traditionelle Öffentlichkeit“ herausbildete. 3 Der Modernisierungsdruck und die veränderten sozio-ökonomischen Bedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe dazu geführt, dass sich die „traditionelle Öffentlichkeit“ in eine „moderne Öffentlichkeit“ gewandelt habe, indem sich die Gentry mehr mit der Gründung des modernen Druckgewerbes, der öffentlichen Meinungsbildung und den neuen Funktionen der Gilden beschäftigte.4 Wang Di zufolge sollte man die positive Rolle der Regierung in der Herausbildung der Öffentlichkeit nicht unterschätzen, weil ohne

1 Ibid., 289-292. 2 Siehe Wang, Di 王笛, "Wangqing changjiang shangyou diqu gonggong lingyu de fazhan" 晚清长江 上游地区公共领域的发展, in: 历史研究, Vol. 1, 1996, 5-16. Wang, Xianming 王先明, "Wanqing shishen jiceng shehui diwei de lishi biandong" 晚清士绅基层社会地位的历史变动, in: 历史研究, Vol. 1, 1996, 17-29. Ma, Min 马敏, "Shangshi caipan yu shanghui- lun wanqing shangshi jiufen de tiaochu" 商事裁判与商会——论晚清苏州商事纠纷的调处, in: 历史研究, Vol. 1, 1996, 30-43. 3 Wang, Di 王笛, "Wangqing changjiang shangyou diqu gonggong lingyu de fazhan" 晚清长江上游 地区公共领域的发展, in: 历史研究, Vol. 1, 1996, 5-6. 4 Ibid., 7-8.

53 die Unterstützung der Regierung die Ausbreitung und der funktionelle Wandel der Öffentlichkeit undenkbar gewesen seien. Die Kooperation zwischen Regierung und Gentry könnte eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung von Öffentlichkeit in der Qing-Dynastie sein. Zahlreiche Beispiele haben darauf hingewiesen, dass viele lokale Beamte sogar ihre Kontrolle mancher gesellschaftlichen Bereiche an die Gentry übergeben haben. 1 Wang ist der Überzeugung, dass in der Spätzeit der Qing-Dynastie am Jangtse-Oberlauf die Entwicklung der Öffentlichkeit zur Entstehung einer Zivilgesellschaft beigetragen habe. Trotzdem sollte man jedoch die Tiefe und den Umfang einer solchen Öffentlichkeit nicht überschätzen.2 Wang Xianmings Studie erforschte die Veränderung des Standes der Gentry-Schicht in der Spätzeit der Qing-Dynastie. In seinem Aufsatz Die historische Statusänderung der Genty-Schicht in der späten Qing-Zeit hat darauf hingewiesen, dass das Baojia-System (保甲制), das für die regierungsamtliche Kontrolle über die lokale Gesellschaft zuständig gewesen sein soll, ab der Xianfeng (1851-61)/Tongzhi-Zeit (1861-1874) allmählich durch das überwiegend von der Gentry organisierte Tuanlian-System (团练) geschwächt oder sogar komplett ersetzt wurde. Dieses System war finanziell und organisatorisch von der Regierung unabhängig.3 Eine solche Änderung stellte eine Rivalität zwischen den staatlichen und lokalen Mächten dar. Als Folge neigte sich die historische Entwicklung in die Richtung, die der Entstehung einer mit dem Staat konkurrenzfähigen Öffentlichkeit zugute kam. Zumindest ermöglichte das Aufkommen der Gentry-Macht, dass auf der lokalen Ebene die gemeinsamen Interessen des Volkes außerhalb von Regierung und Familien vertreten und dadurch geschützt werden konnten.4 Ma Mins Aufsatz untersucht die Rolle der Gilden in Suzhou (苏州), indem einige konkrete Fallbeispiele aus der Spätzeit der Qing-Dynastie angeführt werden. Zur

1 Ibid., 12-15. 2 Ibid., 16. 3 Der deutsche Titel des Aufsatzes ist übersetzt von mir. Wang, Xianming 王先明, "Wanqing shishen jiceng shehui diwei de lishi biandong" 晚清士绅基层社会地位的历史变动, in: 历史研究, Vol. 1, 1996, 17-19. 4 Ibid., 24-5.

54 Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert übernahmen die Gilden in Suzhou die Verantwortung, geschäftliche Dispute und Streite zu schlichten, was vorher lokalen staatlichen Behörden oblag. Dafür wurden ausführliche Vorschriften und Satzungen entworfen und anschließend in Kraft gesetzt.1 Ma Min teilt die Ansicht, dass solch eine neue quasi-juristische Funktion der Gilden einen diskursiven Raum außerhalb der staatlichen Macht entstehen ließ, den es in der chinesischen Geschichte zuvor nie gegeben hatte. Doch eine scharfe theoretische Trennung von Staat und Privatsphäre sei noch immer schwierig.2

3.2.3. Fazit

Nach dem Urteil des Historikers Zhu Ying vertreten die Aufsätze eigentlich den gleichen Standpunkt wie die „Keim-These“ (oder manchmal auch „Prototyp-These“ genannt, 雏型论), die von Ma Min in die Diskussion eingebracht wurde.3 Zhu zufolge bieten die Begriffe „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ eine ganz neue Perspektive in der Erforschung der modernen Geschichte Chinas, um über die dominante Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft hinausgehen zu können. Außerdem könnte ein neues „Interaktionsmodell“ das „Konfliktmodell“ von Staat und Gesellschaft ersetzen.4 An den Studien ist deutlich abzulesen, dass die erforschten Gilden und viele andere kommerzielle Selbstorganisationen über die Merkmale einer Zivilgesellschaft verfügten, weil sie (1) unabhängig vom unmittelbaren staatlichen Eingriff waren und gewissermaßen Selbstständigkeit und Autonomie genossen; (2) dem „Kontrakt-Prinzip“ statt dem traditionellen Clanverwandtschaftsprinzip folgten; (3) freiwillige und demokratische Teilnahme in Anspruch nahmen.5 Allerdings waren die Wirkungen solcher Organisationen unter den damaligen politischen Rahmenbedingungen immer noch sehr begrenzt, obwohl sie die staatliche Aktivität in

1 Ma, Min 马敏, "Shangshi caipan yu shanghui- lun wanqing suzhou shangshi jiufen de tiaochu" 商 事裁判与商会——论晚清苏州商事纠纷的调处, in: 历史研究, Vol. 1, 1996, 30-32. 2 Ibid., 41-43. 3 Zhu, Ying 朱英, "Guanyu wanqing shimin shehui yanjiu de sikao" 关于晚清市民社会研究的思考, in: 历史研究, Vol. 4, 1996, 123. 4 Ibid., 122. 5 Ibid., 124-5.

55 bestimmten Bereichen weitgehend einschränkten. Mit anderen Worten, die staatliche Politik spielte gegenüber diesen Organisationen eine beherrschende Rolle in der Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft. Deswegen befand sich die chinesische Zivilgesellschaft zur Spätzeit der Qing-Dynastie in einem unausgereiften und nicht völlig entfalteten Zustand, der nur als „Keim“ einer Zivilgesellschaft bezeichnet werden dürfte. Wenn man die Aufsätze der chinesischen Historiker liest, ist ein sog. „China-Hat(te)-Auch-Komplex“ deutlich zu erkennen,1 der seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder in der chinesischen Geistes- und Sozialwissenschaft auftauchte. Der „China-Hat(te)-Auch-Komplex“ bezieht sich auf die folgenden Phänomene: Die Kategorien und Theorien (definiens), die auf einer abendländischen empirischen Basis aufgebaut sind, werden vorbehaltlos und unreflektiert im chinesischen Kontext verwendet. Anschließend wird deren entsprechende Äquivalenz gesucht, um zu beweisen, dass China als keine Ausnahme von den westlichen Theorien gilt und das definiendum auch besitzt oder besaß. Aber die „China-Hat(te)-Auch-Komplex“-Theoretiker erheben gleichzeitig, unvermeidlich, einen Anspruch darauf, die originalen Kategorien und Theorien zu revidieren, um sie chinesischen Spezifika anpassen zu können. Der „China-Hat(te)-Auch-Komplex“ ist m. E. nur eine andere Formulierung für die „teleologische Annahme“, die von denselben normativen Prämissen ausgegangen ist. Darüber hinaus ist in der chinesischen Literatur ein Ungleichgewicht zwischen Empirie und Theorie deutlich erkennbar, was den unzureichenden Zustand der Forschung über Zivilgesellschaftstheorien in China widerspiegelt. Die chinesischen Historiker haben zwar wesentliche Forschritte in der Sammlung von Quellen und in der historisch orientierten Regionsgeschichte gemacht, sich aber leider nicht systematisch mit den gegenwärtigen Zivilgesellschaftstheorien auseinandergesetzt.2

1 Yu, Xinzhong 余新忠, "Zhongguo de minjian liliang yu gonggong lingyu- jinnian zhongmei guanyu jinshi shimin shehui yanjiu de huigu yu sikao" 中国的民间力量与公共领域——近年中美关于近世 市民社会研究的回顾与思考, in: 学习与探索, Vol. 4, 1999, 119. 2 Zum chinesischen Diskurs über Zivilgesellschaft siehe Ma, Shu-Yun, "The Chinese Discourse on Civil Society", in: The China Quarterly, Vol. 137, 1994, 180-193. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden andauernd Aufsätze und sogar Monographien über Hegels und Karl Marxs

56 Die nicht ausdifferenzierte und nicht abgestufte Zivilgesellschaftstheorie engt die weitere Auffächerung der wissenschaftlichen Diskussion über Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit in China ein.

„Bürgerliche Gesellschaft“ veröffentlicht, die sich überwiegend auf die philosophische Geschichte beschränkten. In den jüngsten wissenschaftlichen Arbeiten gilt das Interesse der meisten chinesischen Verfasser lediglich der Einführung und Initiierung der westlichen Zivilgesellschaftstheorie in China. Siehe Wang, Xinsheng 王新生, "Xiandai shimin shehui gainian de xingcheng" 现代市民社会概念的 形成, in: 南开学报(哲学社会科学版), Vol. 3, 2000b, 22-27. Dai, Guibin 戴桂斌, "Xifang shimin shehui neihan de lishi yanjin" 西方市民社会内涵的历史演进, in: 求索, Vol. 4, 2005, 184-7. Und Chen, Yanqing ; Wan Xinsheng 陈晏清;王新生, "Shimin shehui guannian de dangdai yanbian jiqi yiyi" 市民社会观念的当代演变及其意义, in: 南开学报(哲学社会科学版), Vol. 6, 2001, 29-37. Ganz wenig Forscher haben sich mit der terminologischen Vorgeschichte und der Verwendbarkeit des Begriffs Zivilgesellschaft auseinandergesetzt. Im Folgenden seien einige Bespiele genannt: Wang, Xinsheng 王新生, "Shimin shehui gainian de sanchong yiyun" 市民社会概念的三重意蕴, in: 学海, Vol. 1, 2000a, 27-31 Chen, Zhongyuan 陈仲元, "Fansi zhongguo shimin shehui lilun yanjiu" 反思中 国市民社会理论研究, in: 学海, Vol. 5, 2005, 176-180 und Dou, Xiaodong 钭晓东, "Shimin shehui lilun yanjiu jidian de zhankai jiqi zai zhongguo yujing zhong de yingyongxing yanjiu" 市民社会理论 研究基点的展开及其在中国语境中的应用性研究, in: 浙江学刊, Vol. 4, 2007, 125-132. Ein anderer erwähnenswerter Beitrag ist Liang, Zhiping 梁治平, "'Minjian','minjian shehui' he civil society-civil society gainian zai jiantao" “民间”、“民间社会”和 CIVIL SOCIETY——CIVIL SOCIETY 概念再 检讨, in: 云南大学学报(社会科学版), Vol. 1, 2003, 56-68. In dem Aufsatz sind die wörtlichen Bedeutungen von „Zivilgesellschaft“ und entsprechenden Übersetzungsmöglichkeiten ausführlich behandelt. Der Sinologe Metzger hat den Zivilgesellschaftsbegriff in engem Zusammenhang mit dem traditionellen Konfuzianismus und der ideengeschichtlichen Entwicklung Chinas im 20. Jahrhundert erörtert, siehe Metzger, Thomas A.. 1998. "The Western Concept of the Civil Society in the Context of Chinese Society." Hoover Essays 21. Unter http://www.hoover.org/publications/he/2896546.html, abgerufen im November 2008.

57

4. Religion und Zivilgesellschaft

Nach der Beschränkung des Forschungsthemas auf den chinesischen Kontext können wir das Forschungsgebiet weiter präzisieren, nämlich auf Religion und Zivilgesellschaft. Theoretische Vorarbeiten gibt es lediglich zum abendländischen Kontext. Über chinesische Religion liegen kaum entsprechende Erörterungen vor.1

4.1. Zaret: Religion als Habermas’ „blinder Fleck“

Als ein in der Umgebung der kritischen Theorie aufgewachsener Theoretiker teilte Habermas die allgemeine negative Stellungnahme der Aufklärung zur Religion. Seine Vernachlässigung der Religion spiegelt sich auch im Buch Der Strukturwandel der Öffentlichkeit wider, in dem Religion nur als ein Überbleibsel der Aufklärung behandelt wurde.2 Dies führte zu Zarets Kritik:

“Aside from a few scattered reference in the text and in a long footnote, Habermas’ account glosses over the relevance of religion for the emergence of a public sphere in politics at a time when religious discourse was a, if not the, predominant means by which individuals defined and debated issues in this sphere.”3

Indem Zaret den Zusammenhang zwischen der sog. „puritanischen Revolution“ und

1 Der einzige Aufsatz, den ich bisher gefunden habe, ist „Ritual as Space: Civil Society or Popular Religion“, Siehe Dean, Kenneth, "Ritual and Space: Civil Society or Popular Religion", in: Brook, Timothy, Civil Society in China, 172-192. Kenneth Dean geht von seinem Forschungsschwerpunkt aus, nämlich der Volksreligion und den entsprechenden Ritualen in der südöstlichen Provinz Fujian Chinas. Er versucht in diesem Aufsatz, die volksreligiösen Rituale in der ländlichen Region des gegenwärtigen China als Gegensatz zu den Begriffen „Zivilgesellschaft“ und „Öffentlichkeit“ darzustellen. Seiner Meinung nach sind die Terminologien wie Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit, die eine Dichtonomie zwischen Staat und Gesellschaft annehmen, generell nicht verwendbar im chinesischen Kontext. Stattdessen hat er ein Model der „multiple public sphere“ vorgeschlagen, dessen Definition leider nicht klar ist. 2 Calhoun, Craig, "Introduction: Habermas and the Public Sphere", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 35-6. 3 Zaret, David, "Religion, Science, and Printing in the Public Spheres in Seventeenth-Century England", in: Calhoun, Craig, Habermas and the Public Sphere, 213.

58 der Entstehung der Öffentlichkeit in England im 17. Jahrhundert darlegte, wies er darauf hin, dass die Religion ein unabdingbares Element der Öffentlichkeit sei. Zaret zufolge hat die Entwicklung des Protestantismus eine Öffentlichkeit in der Religion erschaffen, die eine fast gleich kritische, rationale Gewohnheit des Denkens, wie die von Habermas beschriebene Öffentlichkeit, förderte.

“It thus seems unlikely that the relevance of religious developments for the subsequent rise of a public sphere in politics lies in a simple transformation of religious ideas on spiritual equality into democratic models of political life. Rather, this relevance can be found in the creation of a public sphere in religious life that initially legitimated the reasonableness of public opinion as a forum and arbiter for criticism and debate.”1

4.2. Casanova: Religion und Demokratisierung

Jose Casanova ist wahrscheinlich der bekannteste Theoretiker, der sich mit dem Zusammenhang von Zivilgesellschaft und Religion beschäftigt. Bevor wir auf seine wissenschaftliche Arbeit eingehen, müssen jedoch einige Punkte geklärt werden: (1) Seine Arbeiten beziehen sich meistens auf gegenwärtige Religionen. (2) Seine Theorie über Religion kann nicht ohne zeitliche Begrenzung verallgemeinert, sondern nur im Kontext der Modernisierung verstanden werden. (3) Die Säkularisierungsthese gilt als die wichtigste wissenschaftsgeschichtliche Vorbedingung von Casanovas Theoriebildung. Seine Strategie lässt sich in seinem Aufsatz Private and Public Religion deutlich erkennen. Die Zielsetzung dieses Beitrags ist es nicht, eine Religionstheorie über „Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit“ zu entwerfen, sondern die vorher dominante Privatisierungsthese empirisch zu widerlegen, indem die sog. „public religion“ und „Deprivatisierung“ als alternativer Gegensatz zur Privatisierungsthese vorgebracht

1 Ibid., 223.

59 wird. 1 Aus diesem Grund ist die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre keine zentrale Aufgabe von Casanova. Deswegen hat er nur die vier Definitionen zu „private/public“ von Jeff Weintraub eingeführt, ohne sich weiter ausreichend mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. 2 Seine anschließenden aufschlussreichen Erörterungen ziehen keine endgültige Schlussfolgerung: einerseits ist die Säkularisierungsthese nicht vollständig entkräftet, andererseits ist Religion auch nicht aus der Öffentlichkeit verschwunden. In dem Beitrag Civil Society and Religion: Retrospective Reflections on Catholicism and Prospective Reflection on Islam führte er die Rolle der katholischen Kirche in der sog. „third wave of democratization“ als ein aussagekräftiges Beispiel für religiöse Beiträge im Politikwandel (in Spanien, Polen, Brasilien) an. Er wies darauf hin, dass Religion allgemein, v. a. die (katholischen) Kirchen, als autonomer öffentlicher Raum (public space) und Gegenmacht zum Staat fungieren können. Die Kirchen, die selbst nicht zur Institution der Zivilgesellschaft gehören, könnten zweifellos unter bestimmten Bedingungen zur Bildung einer Zivilgesellschaft beitragen.3 Ihm zufolge ist diese Wiederpositionierung der Kirchen - vom Staat und politischen Bereich heraus in die Zivilgesellschaft - die Vorraussetzung dafür, die Entwicklung einer modernen öffentlichen Religion oder einer modernen Form des öffentlichen Katholizismus zu ermöglichen. Damit wird ein Argument parallel zur Privatisierungsthese vorgetragen, das als „Deprivatisierung der Religion“ bezeichnet wird und wonach Religion in der Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft eintritt, um normative Themen aufzubringen und sich an einer normativen Diskussion zu beteiligen.4 Casanova hat die religiöse Intervention in der Öffentlichkeit in den USA, einem Vertreter der hochentwickelten modernen Gesellschaft, in drei Formen zusammengefasst: (1) Die religiöse Mobilisierung schützt die traditionelle Lebenswelt

1 Casanova, Jose, "Private and Public Religions", in: Social Research, Vol. 1, 1992, 19-20. 2 Ibid., 20-22. siehe auch Casanova, Jose, Public Religion in the Modern World, 40-65. 3 Casanova, Jose, "Civil Society and Religion: Restrospective Reflections on Catholicism and Prospective Reflections on Islam", in: Social Research, Vol. 4, 2001, 1044. 4 Ibid., 1047-8.

60 vor unterschiedlichen Formen der Durchdringung durch den Markt und den Staat. (2) Die in der Öffentlichkeit auftretenden Religionen fechten die Behauptungen der zwei Hauptsysteme, nämlich des Staates und des Marktes, an, und zwar je nach ihren eigenen immanenten funktionalistischen Normen, jedoch ohne Bezug auf die externen moralischen Normen. (3) Die religiösen Traditionen erhalten das Prinzip von „common good“ gegen die individualistische moderne liberale Theorie aufrecht, welche die „common good“ in die Summe von individuellen „rational choices“ reduzieren will.1 In der zweiten Hälfte des Beitrages projiziert Casanova diese strittige katholische Version der Öffentlichkeitsthese auf einen erweiterten Verwendungsbereich, nämlich auf islamische Länder (Türkei, Iran und Indonesien). Die Nebeneinanderstellung von Katholizismus und Islam erfordert m. E. unbedingt als Voraussetzung die teleologische Annahme, die ohne normative Vorbestimmung nicht legitimiert werden kann. Eigentlich entspricht Casanovas Begriff „Öffentlichkeit“, wie er ihn in den konkreten Beispielen, sowohl auf der katholischen Seite als auch auf der islamischen Seite, anwendet, nichts anderem als Demokratisierung. Er setzte große persönliche Erwartungen in die Demokratisierung der islamischen Länder. Allerdings ist die Korrelation zwischen Religion und Demokratisierung empirisch nicht leicht überprüfbar, d. h. es ist immer noch sehr schwierig, Religion in der hochkomplizierten Realpolitik als die leitende Variable im Demokratisierungsprozess zu isolieren und zu identifizieren. Casanovas „Öffentlichkeitstheorie“ bleibt entweder Prognose, die in die deutschsprachige Religionswissenschaft normalerweise nicht übertragen werden darf, oder eine Äußerung seiner persönlichen realpolitischen Wünsche, deren Verwirklichung in der politischen Wirklichkeit nicht zu beobachten ist.

4.3. Zivilgesellschaft und Demokratisierung

Zivilgesellschaft wird in der jüngsten politischen Diskussion als ein Bestandteil der Demokratisierungstheorie dargestellt. Die Diskussionsgeschichte der Religion und

1 Ibid., 1048-9.

61 deren politischen Auswirkungen hat seit der Aufklärung eine Pendelbewegung durchgemacht: Eine übliche aufklärerische Annahme behauptet, dass Religion keine entscheidende Bedeutung mehr in der säkularisierten politischen Entscheidung haben (solle) und deswegen übersehen werden könne (oder solle).1 Aber seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts haben laut Herbert die politischen Ereignisse in Mittel- und Osteuropa deutlich gezeigt, dass Religion mindestens in vier Aspekten zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft im spätkommunistischen Regime beigetragen hat: (1) Religion hat einen Beitrag zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft geleistet, anstelle einer totalitären Gesellschaft einen institutionalisierten Raum zu setzen, in dem es ermöglicht wurde, unterschiedliche Oppositionsformen gegenüber dem (kommunistischen) Staat zu organisieren. 2 (2) Religion bot eine symbolische Ressource oder ein Fundament der kollektiven Erinnerung, die sich der vom Staat aufgedrängten kommunistischen Ideologie entgegensetzen oder sie stürzen können.3 (3) Religion funktionierte wie eine institutionalisierte und ideologische Verbindung mit einer internationalen Ordnung, die über dem Staat und dem kommunistischen Block stand, z. B. die katholische Kirche in Polen und die lutherische Kirche zwischen DDR und BRD.4 (4) Religion funktionierte wie eine intellektuelle Macht, mit der Oppositions-Gedanken und Identität selbstbewusst aufgebaut werden konnten.5 Solche historischen Ereignisse haben die oben erwähnte aufklärerische Annahme widerlegt, die zum Teil zu der Säkularisierungsthese gehört. Anders formuliert, die positiven Beiträge von Religion im Demokratisierungsprozess wurden wegen der aufklärerischen Annahme seit langem vernachlässigt. Allerdings sei es zu früh, voreilige Schlüsse zu ziehen, dass Zivilgesellschaft allein die Demokratisierung auslösen könne, 6 weil die Kausalbeziehung der beiden Begleiterscheinungen dennoch unklar ist. Religion ist wahrscheinlich eine der vielen fördernden Bedingungen anstatt des einzigen Antriebs der Demokratisierung.

1 Herbert, David, Religion and Civil Society: Rethinking Public Religion in the Contemporary World, 69. 2 Ibid., 69. 3 Ibid., 70. 4 Ibid., 70. 5 Ibid., 70. 6 Ibid., 63.

62 “Democratization appears to depend on civil, economic and political society and especially on the development of culture of social trust allowing for freedom of development within these spheres, a key symptom of which is respect for the rule of law. Without agreement on the basic political unit of the state, the development of such trust is extremely difficult. International factors also play a growing role in a global information economy. Civil society, then, is just one factor on the process of democratization. Disillusionment with civil society as failing to deliver democratization may in part be due to the failure to recognize this multifactorial and multiple contingent process.”1

Es ist deutlich geworden, dass Zivilgesellschaft keine hinreichende Bedingung ist, die von sich aus die Demokratisierung zustande bringt. 2 Aus Sicht des deskriptiv-analytischen Ansatzes ist keine Korrelation zwischen Zivilgesellschaft und Demokratisierung festzustellen. Trotzdem bleibt das Festhalten an dieser Hypothese als eine normativ-idealistische Überzeugung weiter in der Realpolitik wirksam. Aus diesen Überlegungen heraus ist die Erörterung über Religion und Demokratisierung für die vorliegende Forschung, die kein Interesse an Realpolitik hat, wohl irrelevant und unwesentlich.

1 Ibid., 66. 2 Ibid., 66.

63

5. Operationalisierung der Fragestellung

Nach einem langwierigen Marsch durch den Zivilgesellschaftsdschungel sind wir endlich auf trittfestem Boden angelangt, auf dem die Fragestellung der vorliegenden Forschung fußt. Auf der Grundlage der bisherigen Erörterungen soll nun die ursprünglich von Katz thematisierte Frage, nämlich den Zusammenhang zwischen Zivilgesellschaft und volksreligiösem Fest in China, erneut aufgestellt werden. Außerdem wird das Verhältnis zwischen der Zivilgesellschaftstheorie und dem ausgewählten historischen Forschungsgegenstand genauer beleuchtet.

5.1. Zusammenfassung des Forschungsstandes

Wir wollen zunächst den Forschungsstand noch einmal kurz rekapitulieren, um den roten Faden dieser Arbeit wieder aufzugreifen. Der Sinologe Paul Katz hat am Ende seiner historischen Studie die These aufgestellt, dass die volksreligiösen Feste und die daran beteiligten Organisationen in der späten Kaiserzeit Chinas eine Zivilgesellschaft herausgebildet hätten. Aber aufgrund eines Mangels an Quellen und von Lücken in der Argumentation ist diese These m. E. weder endgültig bewiesen noch widerlegt. Um in dieser Frage einen Schritt weiter zu kommen, wurden in der vorliegenden Arbeit bisher hauptsächlich zwei Bereiche weiter verfolgt: Erstens wurde in die Zivilgesellschaftstheorien, die grundsätzlich im abendländischen Kontext entwickelt worden sind, eingeführt und sie kurz skizziert. Zweitens wurden die empirischen und historischen Studien über Zivilgesellschaft in China, die seit den letzten 20 Jahren überwiegend in den USA und in China erschienen sind, verarbeitet. Die Auseinandersetzung mit diesen beiden Gebieten kann grob als theoretische und empirische Forschungsvorbereitung verstanden werden, aus der zahlreiche Erkenntnisse ableitbar sind. Im empirischen Teil haben wir zunächst die unterschiedlichen Meinungen zur Brauchbarkeit des Begriffs „Zivilgesellschaft“ im chinesischen Kontext wieder

64 gegeben, die sich in der sog. „Modern China Debate“ niedergeschlagen haben. Obwohl aus dieser Debatte keine gemeinsame Schlussfolgerung hervorging, haben wir eine tief verborgene Annahme aufzeigen können, die als die „teleologische Annahme“ bezeichnet werden kann. Methodologisch undurchdacht und nicht legitimiert, postuliert diese Annahme, dass China den Entwicklungsvorgang der europäischen Zivilgesellschaft wiederholen und ihm nachfolgen solle oder müsse. Als Folge davon werden die kulturellen Eigenarten Chinas vernachlässigt und der Geltungsbereich der Zivilgesellschaftstheorie zu weit gefasst. Außerdem könnte diese Annahme zu einem politischen sowie kulturellen Überlegenheitsgefühl seitens der selbstbehaupteten Zivilgesellschaft führen. Was die chinesischen Forscher zu diesem Forschungsthema beigetragen haben, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Erstens sollte sich angesichts der geographischen und kulturellen Vielfalt in China die Einzelforschung zur Zivilgesellschaft im chinesischen Kontext nicht allgemein auf ganz China beziehen, sondern sich auf eine bestimmte Region und einen bestimmten Zeitraum beschränken. Dementsprechend beziehen sich die meisten bisherigen Studien auf die Wende zum letzten Jahrhundert. Zweitens haben die chinesischen Historiker mittlerweile eine sog. „Keim-These“ entwickelt, die von einer unreifen und nicht komplett herausgebildeten Zivilgesellschaft zum Ende der Kaiserzeit und Anfang der Republikzeit in China ausgeht. Allerdings haben wir gleichzeitig auch die Schwächen der chinesischen Forscher bemerkt: Sie haben zwar die Begriffe, wie Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit, verwendet, aber sich leider nicht mit der Begrifflichkeit und den gegenwärtigen Zivilgesellschaftstheorien auseinandergesetzt. Darüber hinaus teilen die meisten chinesischen Veröffentlichungen eine Gemeinsamkeit, die als „China-hat(te)-auch-Komplex“ bezeichnet werden kann. Der Komplex ist m. E. nur eine Variante der oben erwähnten teleologischen Annahme, die in vielen wissenschaftlichen Forschungen tief verborgen bleibt und ohne normative Aussage nicht legitimierbar ist. Die Versäumnisse der chinesischen Historiker spiegeln einerseits die Mängel der Forschung über die Zivilgesellschaftstheorie in chinesischen wissenschaftlichen

65 Kreisen wider. Andererseits gehen sie auch zurück auf die Begriffs- und Theorienverwirrung über Zivilgesellschaft, die oft auch in den westlichen Forschungen festzustellen ist. Dies spiegelt sich in der Verschärfung der zwei Ansätze der Zivilgesellschaftstheorien und deren Anwendung wider. Es handelt sich dabei zum einen um den analytisch-deskriptiven und zum anderen den idealistisch-präskriptiven Ansatz. In der vorliegenden Arbeit wird der erstere der beiden zugrunde gelegt, der letztere dagegen nicht weiter verfolgt. Dies soll in den folgenden Abschnitten ausführlich begründet werden.

5.2. Die Gefahr des idealistisch-präskriptiven Ansatzes

Eine idealistisch-präskriptive Arbeit geht normalerweise, wie oben angedeutet, von einer positiven Änderung der betreffenden Gesellschaft oder von ihrer Annäherung an die Zivilgesellschaft durch Kritik, Motivierung und politisches Versprechen aus. Dabei wird die Zivilgesellschaft als eine selbstverständliche politische Zielsetzung vorausgesetzt. Aber diese Verwendung der Zivilgesellschaftstheorie kann m. E. nur dann wirksam und fruchtbar sein, wenn die Kritik unmittelbar an der aktuellen Politik geübt oder die Motivierung direkt in der Gegenwart einsetzen würde. Wenn man in Bezug auf die Geschichte die Zivilgesellschaftstheorie in ihrer normativen und idealistischen Ausprägung verwendet, könnte es unter Umständen zu dem Nebeneffekt führen, dass ein politisches oder kulturelles Über- oder Unterlegenheitsgefühl entsteht, das keine Wirkung auf die Verbesserung der betroffenen Gesellschaft erzielen kann. Aus diesem Grund werde ich in der vorliegenden Forschung auf den idealistisch-präskriptiven Ansatz grundsätzlich verzichten. Werturteile, Prognosen, Beziehungen zur Realpolitik etc. sollen aus dieser Arbeit ausgeklammert werden. Stattdessen wird der analytisch-deskriptive Ansatz zur Zivilgesellschaft verfolgt, ohne die Existenz einer vorhandenen Zivilgesellschaft Chinas zu präsumieren, damit die teleologische Annahme vermieden wird, die eine m. E. unlegitimierbare normative Haltung zur Geschichte Chinas impliziert. Deswegen besteht die Zentralaufgabe

66 meiner Forschung nicht darin, die Ja-Nein-Frage zu beantworten, ob es in der chinesischen Geschichte je eine Zivilgesellschaft gegeben hat, sondern darin, einen dynamischen Prozess innerhalb der Gesellschaft im 20. Jahrhundert genau zu beobachten. Der Charakter dieser Forschung soll ausschließlich als historisch-deskriptiv verstanden werden. Die Forschungsaufgabe beschränkt sich auf geschichtliche Beobachtungen, Betrachtungen, Beschreibungen, auf Analyse und Erklärung.

5.3. Zivilgesellschaftstheorie als Idealtypus im Weberschen Sinn

Mit oben erwähnten Überlegungen möchte ich an dieser Stelle die Idealtypus-Konzeption von Max Weber1 einführen, um das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaftstheorie und meinem empirischen Forschungsgegenstand (volksreligiöse Feste) zu verdeutlichen. Kurz: Ich werde die Zivilgesellschaftstheorie in der vorliegenden Forschung als einen Idealtypus verwenden, um den historischen Forschungsgegenstand, nämlich volksreligiöse Feste in China, zu betrachten und besser zu verstehen. Max Weber versteht einen Idealtypus deswegen als „Ideal“, nicht weil er als ein gesetztes, zu erreichendes Ziel, sondern weil er als ein von der Wirklichkeit unabhängiges ideales „Gedankenbild“ verstanden wird:

„Er (Idealtypus) wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich

1 Normalerweise muss man die Idealtypus-Konzeption in der Methodologie der wert(urteils)freien Soziologie von Max Weber, v. a. im „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904) und Wirtschaft und Gesellschaft verstehen. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ist die Begriffsbildung natürlich auch vielen zeitgenössischen Autoren, z. B. Simmel und Schütz, zu verdanken. Siehe Gerhardt, Uta, Idealtypus: Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie, 15, 61-72. Nach Meinung der Autorin ist die Erarbeitung der Idealtypus-Konzeption nur im Verlauf der viereinhalb Jahrzehnte zwischen 1892 und 1937 zu klären. Allerdings steht die Rezeption der weberschen Soziologie eng mit der Wiederentdeckung Webers als Klassiker der soziologischen Theorie durch Parsons in Zusammenhang.

67 einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, ...“ 1

Er bezeichnet Idealtypus an einer anderen Stelle des Objektivitäts-Aufsatzes als „gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d. h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamer Zusammenhängen (…) betrachtet.2 Viele Wissenschaftler haben zu Recht darauf hingewiesen, dass „der Idealtypus (...) ein operationaler Begriff [ist]. Das heißt für uns: er ist ein schematischer Begriff, eine formale Konstruktion; er ist kein Wesensbegriff dauerhafter Größe“. 3 Weber zufolge dient der Idealtypus folgendem Zweck:

„Er (Idealtypus) ist keine ‚Hypothese’, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.“ 4

„Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen.“ 5

Eine Autorin hat in ihrer Studie über Webers Idealtypus-Begriff seine Funktion folgendermaßen beschrieben:

1 Weber, Max, "Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", in: Winckelmann, Johannes, (Hg.) Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 191. 2 Ibid., 201. 3 Saegesser, Barbara, Der Idealtypus Max Webers und der naturwissenschaftliche Modellbegriff: Ein begriffskritischer Versuch, 83. 4 Weber, Max, "Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", in: Winckelmann, Johannes, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 190. 5 Ibid., 202.

68 „Er (Idealtypus) ist Instrument zur Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung. Er darf also unter keinen Umständen als Erkenntnisziel der Kulturwissenschaften verstanden werden. Denn als Begriff ist er immer nur Mittel, typisches Mittel zum Erkennen der Sinnzusammenhänge innerhalb der sinnbezogenen Wirklichkeit; mit anderen Worten, die idealtypische Begriffsbildung kann nur im Bereich der Kultur und nicht auch im Bereich der ‚sinnfremden’ Natur als Instrument des Erkennens dienen. Idealtypen vermitteln nicht Wahrheitserkenntnis ‚eo ipso’, sondern ihre wissenschaftliche Relevanz erweist sich erst am Erfolg und aus der wissenschaftlichen Ergiebigkeit.“ 1

Kurz gesagt, ich verwende Zivilgesellschaft als einen Idealtypus bzw. eine gedankliche Konstruktion, um die Kulturbedeutung der volksreligiösen Feste (individuelle Wirklichkeit) in China zu erkennen. Zivilgesellschaft wird nicht als eine (unerfüllte) Zielsetzung der politischen Transformation der chinesischen Gesellschaft, sondern nur als ein Instrument oder analytisches Werkzeug zum Zweck wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns im Bereich der Religionswissenschaft eingeführt.

5.4. Die ungelösten Fragen und der Nutzen der Zivilgesellschaftstheorie

Nun ist uns eine Frage sehr wichtig: Warum ist die Zivilgesellschaftstheorie für die vorliegende Forschung relevant und nützlich? Worin besteht der Vorteil der Zivilgesellschaftstheorie als Idealtypus bei Behandlung der besagten Forschungsgegenstände? Wenn wir uns an den Ausgangspunkt und ursprünglichen Forschungsgegenstand erinnern, nämlich die volksreligiösen Feste und Rituale in China, wie Marschall Wens Prozession in Katzs Studie, dann sind m. E. die folgenden Punkte aus der Zivilgesellschaftstheorie für die Bearbeitung des

1 Saegesser, Barbara, Der Idealtypus Max Webers und der naturwissenschaftliche Modellbegriff: Ein begriffskritischer Versuch, 100-101.

69 Forschungsgegenstands sehr geeignet und können für seine Klärung fruchtbar sein: Wenn Katz die Besonderheit der volksreligiösen Feste richtig rekonstruiert hat, dann kann man feststellen, dass die Teilnehmer an solchen Festen hinsichtlich Beruf, Stand und Herkunft auf keinen Fall Homogenität zeigten. Stattdessen stellten die Teilnehmer, Veranstalter und Aktivisten der Feste ein sehr breites Spektrum der chinesischen Gesellschaft dar, von hochrangigen lokalen Beamten bis zu Wanderbettlern.1 Die Teilnehmer der volksreligiösen Feste waren wahrscheinlich keine unorganisierten, unmobilisierten Einzelne. Um solche aufwendigen Veranstaltungen vorbereiten und durchführen zu können, mussten die Partizipanten gewissermaßen gegliedert, strukturiert und organisiert werden. Man kann sogar vermuten, dass eine Art von Vereinigung, Verein oder Organisation nötig war, um die Feste als komplizierte, öffentliche Aufgaben zu verwirklichen. Aus dieser Überlegung heraus werden die vorhandenen Assoziationsmodelle in der Zivilgesellschaftstheorie sehr hilfreich sein für die Beobachtung und Analyse der vorliegenden Forschung. Zunächst sollte man herausfinden, ob in Bezug auf die volksreligiösen Feste eine gewisse Organisation existierte. Danach sollte man auch ermitteln, inwiefern eine solche Organisation hinsichtlich des Organisationsgrads entwickelt war. Besonders berücksichtigt werden müssen die Arbeitsteilung, die Macht- sowie Organisationsstruktur und der Mobilisierungsmechanismus. Schließlich sollte man auch klären, welche Funktionen, in personeller wie finanzieller Hinsicht, die Organisationen eventuell bei den Festen und der Erhaltung der betreffenden Tempel hatten. Katz hat in seiner Studie kurz erwähnt, dass ein Beamter namens Yang Changjun (杨 昌濬) in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts alle Feste in Hangzhou mit der Begründung der Geldverschwendung für ungesetzlich erklärte, so dass Marschall Wens Fest in der späten Qing-Dynastie zum Untergang verurteilt worden sei. Anschließend wurde das Fest nach einer Wiederbelebung noch einmal verboten.2 Der Autor behauptet, dass die sog. „Gegen-Aberglauben-Kampagne“ zum Ende der

1 Katz, Paul. R., Demon Hordes and Burning Boats: The Cult of Marshall Wen in Late Imperial Chekiang, 167. Katz hat dies zumindest so behauptet. Aber er hat m. E. keine ausreichenden historischen Beweise gegeben. 2 Ibid., 166.

70 Qing-Dynastie und Anfang der Republik für solche volksreligiösen Feste die Totenglocke geläutet habe.1 Es sieht so aus, dass Wens Fest von lokalen Beamten bzw. dem Staat nicht toleriert wurde. An einer anderen Stelle hat der Autor aber erwähnt, dass jeder Beamter in der Stadt (Wenzhou) an den Tempelriten (des Festes von Marschall Wen) beteiligt war. 2 Außerdem ist zu beobachten, dass die lokale Regierung bzw. die staatliche Macht für die Feste die Erlaubnis gab. Die zwei Aussagen stellen einen rätselhaften Widerspruch dar, und zwar in Bezug auf die Frage, wie genau die offizielle Haltung zu den volksreligiösen Festen war. Wurden die Feste und Prozessionen von der Regierung verboten oder erlaubt? Gab es eine ständige Politik oder Stellungnahme zu solchen volksreligiösen Festen? Wenn ja, wie wurde sie in der politischen Praxis umgesetzt? Darüber hinaus sieht man einen anderen Widerspruch: Einerseits gingen die volksreligiösen Feste offensichtlich nicht auf bestimmte Familien oder Stämme zurück, andererseits waren die Feste doch sehr lokal begrenzt bzw. mit bestimmten Bezirken, Kreisen oder Regionen verbunden. Das Phänomen ist m. E. sehr erklärungsbedürftig. Gab es in diesem Zusammenhang eine absichtliche politische Unterdrückung durch den Staat, um die Ausbreitung der besagten Kulte zu behindern, oder spielten die regionalen Einflüsse der Gottheiten eine Rolle? Wenn man diese zwei Widersprüche oder Spannungen in Bezug auf die volksreligiösen Feste in Betracht zieht, dann wird die klassische Achse der Zivilgesellschaft, nämlich die Achse zwischen Privatsphäre und öffentlicher Macht (Staat), ein geeigneter Ansatz sein, um die volksreligiösen Feste im Rahmen der politischen Auseinandersetzung zu untersuchen. Die tatsächliche Beziehung zwischen den Kulten und der staatlichen Macht bzw. lokalen Regierung muss genau erläutert werden. Wenn es für die volksreligiösen Feste tatsächlich Verbote oder Unterdrückung gab, müssen diese genau rekonstruiert werden, d. h. die Begründungen und Argumente für oder gegen die volksreligiösen Feste müssen aufgezeigt werden. Logischerweise darf man gleichzeitig die Reaktion oder eventuelle Gegenmaßnahmen der Kulte und Tempel nicht aus den Augen lassen.

1 Ibid., 145. Den Punkt hat Katz leider nicht ausführlich erörtert und keine Quelle angegeben. 2 Ibid., 155.

71 Darüber hinaus sollte man den ökonomischen Aspekt der volksreligiösen Feste nicht vernachlässigen oder unterschätzen. Ich gehe davon aus, dass die von Katz erwähnten Feste neben ihrer religiösen Bedeutung auch bedeutende wirtschaftliche Ereignisse gewesen sein mussten, die eine Stadt oder Region alljährlich im Hinblick auf die große Zahl von Besuchern und Schaulustigen ökonomisch reizten. 1 Genauer formuliert lässt sich der ökonomische Aspekt der volksreligiösen Feste grob in zwei Bereiche teilen: a) Die kurzfristige Finanzierung der Feste innerhalb der festgesetzten Festtage und ihre ökonomischen Beiträge für die Stadt bzw. Region. Wer veranstaltete die Feste und wer nahm daran teil? Wer finanzierte die aufwendigen Feste und die feierlichen Prozessionen? b) Die langfristige Finanzierung der betreffenden Tempel eines ganzen Jahreszyklusses oder mehrerer Jahre und ihr ökonomisches Verhältnis zur Stadt bzw. Region. Wie wurden die Tempel, in denen die betreffenden Gottheiten ihren Sitz hatten, erhalten? Welche ökonomische Beziehung bestand zwischen den Tempeln und der Stadt bzw. Region? Natürlich kann es durchaus möglich sein, dass die kurzfristige und die langfristige Finanzierung nicht komplett getrennt waren, sondern dass ein überlappendes Finanzierungsmodell zwischen den Tempeln und Festen herrschte. Geht man davon aus, so müsste das dreieckige Problemfeld der Zivilgesellschaft (Staat-Ökonomie-Privatsphäre) 2 als eine erweiterte Betrachtungsperspektive für das Verstehen und die Analyse der volksreligiösen Feste tauglich und sinnvoll sein. Meines Erachtens ist es eine oft festzustellende Schwäche der bisherigen Forschung, dass man bei einer „religiösen“ Veranstaltung nur ihre „religiöse“ Bedeutung in Betracht zieht und die ökonomische Dimension außer Acht lässt. Dies könnte derjenigen Forschung besonders abträglich sein, die sich hauptsächlich auf Laiengemeinden konzentriert, weil die Motivationen nicht ausschließlich auf das religiöse Engagement zurück zu führen sind. Viele Historiker haben bereits darauf hingewiesen, dass in der Volksreligion Chinas andere Motive, z.

1 Katz hat in der Schlussfolgerung seiner Studie die Frage zur Finanzierung der volksreligiösen Feste kurz beantwortet. Ihm zufolge waren zwei Gruppen die Hauptsponsoren der Feste, nämlich a) die Gentry und die gelehrten Beamten und b) die Geschäftsmänner aus den lokalen Eliten. Ibid., 176-7. Er hat auch darauf hingewiesen, dass nicht die zwei besagten Gruppen selbst, sondern die Mitglieder des sog. Tempelkomitees die Verwaltung der Tempel und Vorbereitung der Feste führten. Aber leider ist er auf die Finanzierungs- und Verwaltungsfragen nicht weiter eingegangen. 2 Siehe 2.2.

72 B. Prestigegewinn und sogar richtiger Kapitalgewinn durch Verwaltung des Tempelbesitzes, auch eine bedeutende Rolle bei der Beteiligung und dem Mäzenatentum von Laien (v. a. Gentry und Geschäftsmänner) spielen.1 Zusammenfassend kann man sagen: Um unseren Forschungsgegenstand bis ins kleinste Detail beobachten und besser verstehen zu können, fungiert die Zivilgesellschaftstheorie als ein ausgezeichnetes analytisches Werkzeug, mit dem die Spannung, in der religiöse Organisationen im Dreieck zwischen Ökonomie, Staat und Privatsphäre stehen, hervorragend ins Licht gebracht werden kann.

5.5. Volksreligiöses Fest als Indikator der chinesischen Gesellschaft

Obwohl es nach der systematischen Beschäftigung mit der Zivilgesellschaftstheorie so aussieht, dass es nicht sinnvoll wäre, die These von Paul Katz weiter beweisen zu wollen oder an seiner Fragestellung festzuhalten, so hat er doch ein viel versprechendes, aber seit langem vernachlässigtes Forschungsgebiet aufgezeigt, nämlich die Rolle der Volksreligion und ihrer Feste in der chinesischen Gesellschaft. Meine Forschung geht nicht davon aus, dass China eine Zivilgesellschaft im europäischen Sinne besaß oder besitzt. Allerdings kann man überprüfen, welche Merkmale und Modelle nach der Zivilgesellschaftstheorie auf die Realität der volksreligiösen Feste zutreffen. Die oben eingeführten sechs Merkmale und sechs Modelle der Zivilgesellschaft aus dem abendländischen Kontext 2 können einen operationalisierten Betrachtungsaufbau bieten. Meiner Meinung nach gelten Religion, v. a. volksreligiöses Fest, und ihre Handlungen als optimale „Indikatoren“ der chinesischen Gesellschaft, deren eingehende Untersuchung bisher immer noch eine Forschungslücke ist. Die Finanzierung, Verwaltung und Erhaltung der volksreligiösen Feste, eventuell auch ihre bestehenden

1 Siehe Timothy Brooks Analyse über die Spenden der Gentry an buddhistische Klöster in der Ming-Dynastie. Brook, Timothy 卜正民, wei quanli qidao: fojiao yu wanming zhongguo shisheng shehui de xingcheng 为权力祈祷:佛教与晚明中国士绅社会的形成, 317-20. 2 Siehe 2.4 und 2.5. Das sechste Modell der Zivilgesellschaft, nämlich „die globale Zivilgesellschaft“, kann m. E. aufgrund der absehbaren Gegebenheiten der Forschungsgegenstände ausgeklammert werden. Die anderen Merkmale und Modelle bieten nicht nur eine Checkliste, sondern eher viele heuristische Betrachtungsrichtungen und Blickwinkel, mit und aus denen die historischen Quellen ausschöpfend erschlossen werden können.

73 Organisationen, Tempelkomitees, Vereinigungen und entsprechenden kollektiven Handlungen und Zeremonien decken die Machtkonkurrenz von Staat, Ökonomie und Privatsphäre auf. Die sozial-politischen Verhältnisse der damaligen chinesischen Gesellschaft können beispielsweise durch die Beantwortung der folgenden Fragen beleuchtet werden: Inwiefern genossen die volksreligiösen Organisationen Autonomie, Eigenständigkeit und Abhängigkeit und inwiefern konnten sie die Entscheidung staatlicher Behörden und der öffentlichen Politik beeinflussen? Volksreligion könnte ferner möglicherweise als eine Transformationskraft der Gesellschaft betrachtet werden. Durch die von Katz geöffnete Tür lassen sich im Spiegel der Zivilgesellschaftstheorie schon viele offene Fragen erschließen: Welche Einflüsse aus Staat, Ökonomie und Privatsphäre haben zur Entstehung und Entwicklung der Volksreligion und entsprechender Gruppen beigetragen? Inwiefern bestand ein öffentlicher Raum zwischen Privatsphäre, Ökonomie und Staat, in dem die Volksreligion auftreten und ihre Rolle spielen konnte? Bestand ein Spannungsfeld zwischen staatlichen Behörden und volksreligiösen Organisationen und warum? Inwiefern führte die Auseinandersetzung zum öffentlichen Meinungsaustausch, Streit und sogar Konflikt? Inwiefern hat der öffentliche Meinungsaustausch vernünftig und friedlich stattgefunden? Welche Interessengruppen haben daran teilgenommen? Inwiefern war der Meinungsaustausch für die Konfliktlösung wirksam? Welche religiösen Besonderheiten und Eigenarten der Volksreligion haben Auswirkungen auf die Eskalation oder Beruhigung des Konflikts gehabt? Ähnlich wie Paul Katzs Strategie hat die vorliegende Forschung eine zweistufige Aufgabe: Erst nachdem auf der Mikro-Ebene die konkreten Tätigkeiten und das Handeln der jeweiligen volksreligiösen Tempel und deren Vorbereitungen für die Feste beleuchtet worden sind, kann man auf die Makro-Ebene gehen, um die Zivilgesellschaftstheorie anzuwenden und anschließend die Funktion der Volksreligion in der gesamten chinesischen Gesellschaft zu verstehen. Die unterschiedlichen volksreligiösen Gruppen sollen getrennt behandelt werden, um sie danach möglicherweise in einem breiteren Bild chinesischer Religion(en) typologisieren zu können.

74

6. Einführung in die Gottbegrüßungsprozession in China

„Neben dem Neujahrsfest gehören die Prozessionen zu Ehren der Götter zu jenen Festen, auf die sich die Kinder am meisten freuen. Leider lag mein Elternhaus sehr abgeschieden, so dass die Prozessionen erst nachmittags bei uns vorbeizogen. Dann allerdings waren Flaggen, Waffen und andere Dinge dieser Art kaum noch zu sehen, weil sich der ganze Umzug schon in Auflösung befand. Häufig warteten wir stundenlang, verrenkten uns die Hälse, um schließlich doch nur ein Dutzend Männer zu sehen, die eilig mit einem gold- oder rotblaugesichtigen Götterbildnis an uns vorbeieilten. Das war dann alles. … Die Prozessionen waren - anders als heutzutage die Qipao in Shanghai und die Gespräche über Politik in Peking- behördlich nicht verboten, dennoch durften Frauen und Kinder ihnen nicht beiwohnen, und auch die Gebildeten, besonders jene sogenannten Gelehrten, gingen im allgemeinen nicht hin. Nur Taugenichtse und Müßiggänger drängten sich vor dem Tempel oder Yamen, um dem Trubel zuzuschauen. Und das meiste, was ich über diese Prozessionen weiß, verdanke ich ihren Beschreibungen, wie sie die Wissenschaftler so schätzen. Allerdings erinnere ich mich, auch selbst einmal eine recht aufwendige Prozession miterlebt zu haben. Sie wurde von einem Kind, dem sogenannten "Tangbao- Ausrufer", hoch zu Roß angeführt. Nach einer ganzen Weile folgte der "Gaozhao"- eine lange Bambusstange mit einer großen Fahne, die ein schweißtriefender dicker Mann in beiden Händen schwang. Wenn ihm der Sinn danach stand, balancierte er die Stange auf seinem Kopf, den Zähnen oder sogar auf der Nasenspitze. Ihm folgten die sogenannten ‚Stelzenläufer’, ‚Pavillonträger’ und

75 ‚Pferdeköpfe’. Dann gab es noch einige Leute, die sich mit roten Gewändern und hölzernen Kragen als Verbrecher verkleidet hatten. Auch unter diesen sah man Kinder. Damals empfand ich diese Prozessionen als ruhmreiche Unternehmungen und betrachtete die Teilnehmer als Glückspilze, wahrscheinlich beneidete ich sie darum, sich dermaßen hervortun zu können. Am liebsten wäre ich schwer erkrankt, um meine Mutter zu veranlassen, in den Tempel zu eilen und zu geloben, mich ebenfalls als Verbrecher zu verkleiden. Leider habe ich bis heute keine Verbindung zu diesen Prozessionen knüpfen können.“

Diese von , einem der berühmtesten chinesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, am 25. Mai 1927 geschriebene Erinnerung unter dem Titel „Das Fest der fünf zügellosen Götter“ 1 stellt eine skizzenhafte Strichzeichnung der Gottbegrüßungsprozession - eine der wichtigsten volksreligiösen Veranstaltungen Chinas - dar, die der Forschungsgegenstand dieser Studie sein wird. Die erwähnte Prozession fand höchstwahrscheinlich in der Umgebung der Heimatstadt Lu Xuns, Shaoxing (绍兴, in der Zhejiang Provinz, etwa 200 km südlich von Shanghai) statt, einer faszinierenden Stadt mit der typisch südchinesischen gewässerreichen Landschaft, wo der Autor seine sorgenlose Kindheit verbrachte. Als Schriftsteller und Intellektueller hat er dennoch die längste und gleichzeitig seine bedeutendste und auch sorgenvollste Zeit in der nahe seiner Heimat liegenden Metropole Shanghai durchlebt (1927-36). Sein Lebenslauf markiert deutlich eine typische Änderung jenes Zeitalters in China: geboren und verwurzelt auf dem natürlichen und scheinbar stillstehenden Land, lebte er später in einer unruhigen und turbulenten Stadt. Überraschenderweise zeigt schon das obige kurze Zitat, dass trotz aller unterschiedlichen Namen und gewidmeten Götter die Prozessionen aus Lu Xuns

1 Ins Deutsche übersetzt von Petra Häring-Kuan, Lu-Xun 鲁迅, "Das Fest der fünf zügellosen Götter" 五猖会, Blumen der Frühe am Abend gelesen: Erinnerungen., 42-44.

76 Erinnerung denen aus der Beschreibung von Paul Katz1 sehr ähneln, egal, ob sie auf dem Land oder in der Stadt stattfanden. Lu Xuns Erlebnisse sowie seine Erinnerung haben, obwohl sehr literarisch wiedergegeben, fast alle in der vorliegenden Forschung zu behandelnden Fragen berührt. Allerdings können wir uns nicht mit dieser Quelle begnügen, sondern müssen weitere Primärquellen berücksichtigen, um die normalerweise für einen Schriftsteller nicht interessanten, aber für die Religionswissenschaft zentralen Fragen zu beantworten: Was ist eigentlich eine Gottbegrüßungsprozession? Wie verläuft eine Prozession? Wann und warum findet eine Prozession statt? Wer organisiert Prozessionen und wer nimmt an Prozessionen teil? Während wir in vorigen Kapiteln auf die theoretischen Hintergründe dieser Forschung, nämlich die Zivilgesellschaftstheorie, eingegangen sind, soll in diesem Kapitel versucht werden, zunächst eine vorläufige Arbeitsdefinition der Gottbegrüßungsprozession zu geben. Anschließend wird die Prozession als Indiz für die kommunale Religion in China vorgestellt, um die Prozession im Gesamtbild der chinesischen Religionslandschaft zu lokalisieren. Grob skizziert werden auch die kosmologische Ordnung und die damit verbundenen Vorstellungen über Prozessionen. Danach wird mit Hilfe der Folklore-Sammelbände die Lage der Prozessionen in den einzelnen Provinzen (oder Regionen) erfasst. Abschließend wird der Forschungsstand zur Prozession und die Problematik, die Ausgangspunkt meiner Forschung ist, kurz zusammengefasst.

6.1. Etymologie und Sprachgebrauch

Gottbegrüßungsprozession (迎神赛会, oder Gottempfangsprozession) sowie viele andere ähnliche Namen (出会、出巡、出堂) sind die Selbstbezeichnungen der volksreligiösen Rituale, die zu den bedeutendsten Zeremonien des Religionslebens des chinesischen Volks zählen dürften. Die genaue Entstehungszeit der Gottbegrüßungsprozession ist mit den heute noch erhaltenen historischen Quellen

1 Siehe Kapitel 1, Vorbemerkung und Thematisierung.

77 nicht genau zu datieren. Allerdings kann man feststellen, dass Prozessionen in China bereits eine über tausendjährige Geschichte haben, sodass das Wort „Saihui“ (赛会) als seine älteste und ursprüngliche Bedeutung, die in der modernen chinesischen Sprache selten benutzt wird, beinahe in Vergessenheit geraten ist. Das Zeichen „Sai“( 赛 ) bedeutet normalerweise im gegenwärtigen Chinesisch „Spiel“ oder „Wettkampf“1, in der Wortverbindung „Saihui“ allerdings Gegendienst, Belohnung oder Erwiderung.2 Als ein Verb wurde „Sai“ im mittelalterlichen Chinesisch oft zusammen mit „Gottheit“ (神) (Saishen, 赛神) benutzt, um die Opfergabe-Rituale zu bezeichnen, in denen die Gläubigen der Gottheit ihre Dankbarkeit bezeugten.3 Die Wortkombination „Yingshen“ ( 迎神) ist ein häufig verwendetes Synonym für „Saishen“, die die Bedeutung betont, dass die Menschen die Götter oder Gottheiten ins Alltagsleben einladen oder sie begrüßen, um sie um Segen anzuflehen und Unheil zu vermeiden. 4 Aus oben erwähnten Wortzusammenfügungen wurde wahrscheinlich später das Wort Gottbegrüßungsprozession ( 迎神赛会) zusammengestellt, das den Vorgang der Veranstaltung hervorhebt, dass die Statuen oder Bilder der Gottheiten in einem Umzug durch bestimmte Gebiete getragen wurden.5 Das Wort taucht sowohl in amtlichen Dokumenten als auch in der Literatur,

1 Gottbegrüßungsprozessionen boten in der traditionellen chinesischen Gesellschaft den Gemeinden eine Gelegenheit, den Umfang und die Zahl derTeilnehmer ihrer Prozessionen mit denen von Nachbargemeinden oder unterschiedlichen Tempelgemeinden zu vergleichen und dadurch zu konkurrieren. Gewiss bildeten die Prozessionen unintendiert einen Wettbewerb aus, der aber unmittelbar nichts mit der wörtlichen Bedeutung von „Sai“ (赛, Spiel oder Wettkampf) zu tun hat. 2 Siehe den Eintrag „赛“ in Ci Yuan (CY, 辞源). 3 Siehe Ibid. und den Eintrag aus Wanlis Wörterbuch für klassisches Chinesisch (WLGHYCD, 王力古 汉语字典). Die zweite Bedeutung von Saihui, die häufig in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu lesen ist, ist Ausstellung oder Messe. Ein anderes ähnliches Wort ist Saishe (赛社), welches bedeutet: die Opfergabe (Wein und Lebensmittel) an die Ackerbau-Gottheit (田神) nach der Erntezeit jedes Jahres. Sogar in der Zhou-Zeit (1046?-256 v. u. Z.) gab es schon ein ähnliches Ritual, das damals als La (蜡) bezeichnet wurde. Siehe Ci Yuan (CY, 辞源). Nach Angabe des Ci Yuan ist das Opfer damals im zwölften Monat sowohl an Gottheiten als auch an Gespenster dargebracht worden. Die erste offizielle Geschichtsbeschreibung Chinas, das Shiji (史记, erschienen 104-91 v.u.Z.), enthält im Kapitel (封禅书) folgende Wortgruppe “冬赛祷祠“, die bedeutet, dass man im Winter Opfer (an Gottheiten) darbringt und in der Ahnenhalle betet. 4 Siehe den Eintrag „迎神“ in HYDCD (汉语大词典), Bd.10, S.747. Eine solche Zeremonie wurde normalerweise von Trommelschlägen und Musikklängen begleitet. Aber hier bezieht sich das Wort nicht spezifisch auf volksreligiöse Rituale, sondern auf alle möglichen religiösen Veranstaltungen, sogar auf die staatliche Opfergabe. Siehe 汉书·礼乐志: „大祝迎神于庙门,奏嘉至,尤古之降神之 乐也.“ A. a. O. 5 A.a.O. Siehe den Eintrag „Gottbegrüßungsprozession“ (迎神赛会).

78 etwa in Romanen, und in Reiseberichten, auf.1 Gottbegrüßungsprozessionen stehen seit langer Zeit nicht im Mittelpunkt der Beobachtung der vom Konfuzianismus tief geprägten chinesischen Intellektuellen, trotzdem haben sie vereinzelte schriftliche Spuren in literarischen Quellen hinterlassen. In der Yuan-Dynastie wurden Prozessionen als gewöhnliche Veranstaltungen nebenbei in den so genannten Qu2 dokumentiert. Ein berühmter Qu-Schriftsteller beschrieb im spöttischen Ton einen Bauern, der zum ersten Mal in die Großstadt ging und eine Theateraufführung mit einer Prozession verwechselte.3 Die Aufzeichnung deutet darauf hin, dass Prozessionen im 13. Jahrhundert schon eine gebräuchliche Veranstaltung waren, deren Grundform bereits ähnlich wie die der Republikzeit gewesen zu sein scheint, wie Lu Xun sie in seinen Erinnerungen erzählte. Sogar die diskriminierende Einstellung von Intellektuellen ist schon aus den historischen Quellen deutlich abzulesen. Darüber hinaus zeigen sie auch, dass vor dem 12. Jahrhundert Prozessionen höchstwahrscheinlich schon einige Jahrhunderte existiert hatten. In vielen anderen literarischen Quellen aus der Ming- (1368-1644) und der Qing-Dynastie (1636-1911) werden Prozessionen ebenso häufig als eine übliche Veranstaltung erwähnt.4 Man muss dabei berücksichtigen, dass umgangssprachlich betrachtet jede Prozession einen eigenen Einzelnamen hat, z. B. wurde die Prozession in Lun Xuns Erzählung als

1 A.a.O.《快心编初集》, 第一回: “只要扬州城里有那一处迎神赛会, 唱戏烧香, 便聚了一班好胜 之人, 无有不到.” 《金史·世宗纪上》: “甲戌, 除迎神赛佛禁令.” 《初刻拍案惊奇》, 卷六: “二 月十九日观音菩萨生辰, 街上迎会.” 《燕京岁时记·江南城隍庙》: “每岁中元及清明、十月一日 有庙市, 都人迎神祀孤.” 2 Qu ist eine Art von liedhaften Gedichten mit unregelmäßig gereimten Versen, populär besonders in der Yuan-Dynastie (1271-1368). 3 Siehe Du Renjies (杜仁杰, 1197?-1282)《耍孩儿·庄家不识构阑》:“抬头觑是个钟楼模样,往下 觑却是人旋窝。见几个妇女向台儿上坐,又不是迎神赛社,不住的擂鼓筛锣。“ Li, Xiusheng 李 修生 (Hg.), Yuanqu dacidian 元曲大辞典, 478. 4 z.B. Huang Yu aus der Ming-Zeit 黄瑜 《双槐岁钞·妖僧扇乱》:“伪立寺额,遇圣节,輒为赛会。” Und der Roman aus der Qing-Zeit《儒林外史》第四三回:“那别庄燕同冯君瑞假扮做一班赛会的, 各把短刀藏在身边,半夜来到北门。” Wu, Jingzi 吴敬梓, Rulin waishi 儒林外史, 423. 钱泳 (1759-1844)《履园丛话·恶俗·出会》:“每当三春无事,疑鬼疑神,名曰出会,咸谓可以驱邪降 福,消难除蝗。一时哄动,举邑若狂。”王浚卿《冷眼观》第六回:“我有一天,刚挑了一担柴进 城叫卖,走到那一带红墙的庙宇左近,忽然遇见出会……见他们后面抬的,不是庙里那种泥塑木 雕的神像,是抬的个活菩萨。” 郑观应 《盛世危言·赛会》:“泰西以商立国,其振兴商务有三 要焉,以赛会开其始,以公司持其继,以税则要其终。” 康有为 《上清帝第二书》:“泰西赛会, 非骋游乐,所以广见闻,发心思,辨良楛。”

79 „das Fest der fünf zügellosen Götter“ (五猖会) bezeichnet. Nicht jede Prozession wird in der Praxis mit dem allgemeinen Begriff „Prozession“ bezeichnet. Und umgekehrt wurde auch nicht bei jeder als „Prozession“ bezeichneten Veranstaltung tatsächlich eine Prozession durchgeführt. Meine Forschung entleiht das Wort „Gottbegrüßungsprozession“ aus dem chinesischen umgangssprachlichen Wortgebrauch als einen Oberbegriff für alle Prozessionen, weil es bisher keinen religionswissenschaftlichen Terminus gibt.1 Um Ungenauigkeiten zu vermeiden, wird im Folgenden eine Arbeitsdefinition vorgestellt, damit Intension sowie Extension des Begriffes präzise eingegrenzt werden.

6.2. Arbeitsdefinition

Unter Gottbegrüßungsprozession (verkürzt „Prozession“2) versteht man ein feierliches, religiöses Ritual in China, das die folgenden Merkmale besitzt: (1) das Ritual wird einer Gottheit (oder mehreren Gottheiten) geweiht: Das religiöse Merkmal; (2) das Bild oder die Statue jener Gottheit wird von deren alltäglichen Sitz aus, z.B. einem Tempel, durch ein bestimmtes Gebiet getragen: Das Prozessionsmerkmal; (3) das gesamte Ritual und damit verbundene Tempel werden weder von buddhistischen Mönchen noch taoistischen Priestern, sondern hauptsächlich von einer oder mehreren Laien-Gemeinde(n), Organisation(en), von einem Verband oder mehreren Verbänden oder Vereinigungen finanziert, organisiert und veranstaltet: Das volksreligiöse Merkmal. Nach dieser vorläufigen Arbeitsdefinition sind die oben erwähnten drei Merkmale notwendig, um ein Ritual als Prozession zu erkennen. Das bedeutet, nur wenn ein Ritual alle drei Merkmale gleichzeitig besitzt, darf es in der vorliegenden Forschung als Gottbegrüßungsprozession bezeichnet werden. Aber natürlich haben Prozessionen

1 Bei der Verwendung des Begriffes “Gottbegrüßungsprozession” muss man berücksichtigen, dass eine Unterscheidung zwischen der “Objektsprache” (Sprache der Quellen) und der “Metasprache” (allgemeine wissenschaftliche Termini) gemacht werden muss. 2 Falls nicht speziell gekennzeichnet, wird die Bedeutung von „Prozession“ in dieser Arbeit mit „Gottbegrüßungsprozession“gleichgesetzt.

80 in der Praxis oft mehr konkretere Merkmale als die in der Arbeitsdefinition gegebenen. Diese Arbeitsdefinition dient nur dazu, den zu untersuchenden Forschungsgegenstand zu bestimmen und für die vorliegende Arbeit irrelevante (möglicherweise bestehende) andere religiöse oder nichtreligiöse Rituale auszuschließen. Am Ende der Arbeit ist die Arbeitsdefinition eventuell zu modifizieren.

6.3. Prozession als das Kennzeichen der kommunalen Religion

6.3.1. Die Problematik des Begriffs „Volksreligion“

Der Begriff „Volksreligion“ im chinesischen Kontext wird seit langem in vielen wissenschaftlichen Bereichen willkürlich definiert und missverständlich verwendet. Allgemein betrachtet weist die Verwendung von „Volksreligion“ in der Religionswissenschaft auf zwei Tendenzen hin: (1) Volksreligion wird als ein Pauschalbegriff benutzt, d. h. er umfasst alles Religiöse außerhalb der drei Hauptreligionen Chinas, nämlich Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus. 1 Diese Definition basiert auf einer nicht ausdiskutierten Klassifizierung der chinesischen Religionen, nämlich auf dem Drei-Lehren-Modell. Diesem Modell zufolge werden die Religionen in China hauptsächlich den drei institutionalisierten Religionen zugeordnet. Alles andere wird als Volksreligion klassifiziert. 2 Der

1 Teiser bezeichnet den Begriff “popular religion” als “left-over category” und “catch-all term”,Teiser, Stephen F., "Popular Religion", in: The Journal of Asian Studies, Vol. 2, 1995, 378. Siehe auch Seiwert, Hubert, Popular Religious Movements and Heterodox Sects in Chinese History, 486. Wang Mingming ist m.E. der Vertreter des Pauschalbegriffs im chinesischen akademischen Kreis. Er hat in einer retrospektiven Zusammenfassung aus der sozial-anthropologischen Perspektive eine Definition der Volksreligion vorgelegt. Ihm zufolge versteht man unter “Volksreligion” hauptsächlich vier Dimensionen: (1) der Glaube an Götter, Ahnen und Geister; (2) die Tempelopfer, jährliche Opfergaben und Rituale im Jahreszyklus; (3) Ritualorganisation der Blutsverwandtschaftsfamilien und territorialen Tempel; (4) das Symbolsystem der Weltauffassung und Kosmologie. Siehe Wang, Mingming 王铭铭, "Zhongguo minjian zongjiao: guowai renleixue yanjiu zongshu" 中国民间宗教:国外人类学研究综 述, in: 世界宗教研究, Vol. 2, 1996, 126. 2 Natürlich hat die Ungenauigkeit des Begriffs „Volksreligion“ ihre wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe. Vor der Entstehung der modernen Religionswissenschaft hatten die Missionare und Reisenden aus Europa schon ihre „Feldforschungen“ über Religion in China durchgeführt. Die Missionare betrachteten v.a. die institutionalisierten Religionen Chinas als die potenziellen Gegner oder Hemmnisse ihrer Missionierung, während die sog. Volksreligion als das Äquivalent angesehen wurde. Aus diesem Grund stand die Volksreligion bis Ende des Zweiten Weltkrieges nicht im Zentrum der wissenschaftlichen Forschung über chinesische Religionen. Über die Vorgeschichte des Begriffs „Volksreligion“ siehe Li, Tiangang 李天纲, "Zhongguo minjian zongjiao yanjiu erbainian" 中国民间 宗教研究二百年, in: 历史教学问题, Vol. 5, 2008, 33-35. Diese historische Vorgehensweise hat auch

81 Nachteil dieser Definitionsmethode besteht darin, dass im Laufe der Zeit die Konnotation des Begriffs verwässert wird während die Denotation vergrößert wird. Folglich ist der Begriff unpräzise und schwammig geworden. Ferner werden die Vielfalt innerhalb der Volksreligion und die regionalen Unterschiede aufgrund der Pauschalisierung vernachlässigt. 1 Hinter dem Begriff versteckt sich m. E. die grundlegende Schwierigkeit, die chinesische(n) Religion(en) überhaupt zu typologisieren und wissenschaftlich zu beschreiben.2 (2) Volksreligion wird von unterschiedlichen Autoren aus unterschiedlichen Fachbereichen respektiv definiert und verwendet, sodass bis heute eine Mehrdeutigkeit und Begriffsverwirrung herrscht. Bisher ist keine Vereinbarung oder Übereinstimmung über die Begriffsbestimmung errreicht, 3 obwohl schon einige die Begriffsbildung langfristig tief geprägt. Als Folge wird „Volksreligion“ immer noch als eine Notlösing eingesetzt. Ein anderer Grund besteht m.E. in der philologischen Vortradition der Religionswissenschaft. Die erste Generation der Religionswissenschaftler hatte meistens einen Bildungshintergrund als Philologen. Dies war im Forschungsbereich chinesischer Religionen nicht anders. Deswegen konzentrierten die ersten Forscher sich auf die schriftlichen Texte, bzw. Religionslehren chinesischer Religion. Die sog. Drei-Lehren, nämlich Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus, wurden mit dem Kriterium des Textes kategorisiert. Eine solche textbezogene und auf Text zentrierte Forschungsrichtung ist m.E. sehr von den drei Abrahamitischen Religionen geprägt, die jeweils durch eigene heilige Bücher charakterisiert sind und damit die Identitäten erschaffen. Wenn man das Kriterium im chinesischen Kontext anwenden möchte, muss man die Eigenschaft chinesischer Religionen beachten. Allein die Notwendigkeit des Begriffs „Volksreligion“ zeigt, dass das textorientierte Kriterium für chinesische Religion nicht völlig geeignet und verwendbar ist. Eine Folge der textzentrierten Forschung ist, dass die Dogmen bzw. die Gedankensysteme des Glaubens im Mittelpunkt der Beobachtung stehen, während die Praxis, bzw. die religiöse Handlung möglicherweise vernächlässigt wird. Bei der chinesischen Volksreligion wird dieser Widerspruch besondes verschärft, weil die Dogmen mangels schriftlicher Quellen sehr schwer zu resümieren sind. Stattdessen sind die religiösen Handlungen, bzw. die Riten, relativ leicht zu beobachten. Aus diesen Gründen würde ich vorschlagen, eine methodische Verschiebung des Forschungsschwerpunkts der chinesischen Religion zu starten, nämlich von einer text- bzw. dogmenorientierten Forschung hin zu einer handlungs- bzw. ritualorientierten Forschung. 1 Die Volksreligion wissenschaftlich als einheitliche bzw. homogene Einheit zu betrachten, ist m. E. sehr fragwürdig. Overmyer hat in einer Review darauf hingewiesen, “recent research has revealed popular religion not as a residual category”. Dean, Kenneth, Lord of the three in one: the spread of a cult in Southeast China, 315. 2 Das Drei-Lehren-Modell stößt an seine Grenzen, wenn man versucht, den sog. “Volksbuddhismus” oder „Laientaoismus“ in das Modell zu integrieren. Das wesentliche Problem ist m. E., dass die Verhältnisse zwischen den drei Hauptreligionen und der Volksreligion nicht gründlich geklärt sind. Wenn man trotzdem beim Drei-Lehren-Modell bleiben möchte, hat man zwei Einordnungsmöglichkeiten: Entweder wird die Volksreligion als ein vereinheitlichtes Ganzes neben den drei Hauptreligionen angeordnet oder sie wird als die Grundlage oder das Fundament der drei Hauptreligionen verstanden. Allerdings ist es m. E. fraglich, ob die Volksreligion als ein Ganzes behandelt werden darf. 3 Catherine Bell hat in einer aufschlussreichen Review ein drei-Phasen-Modell der Forschungsgeschichte der Volksreligion entwickelt. Demzufolge kämpft die „popular religion“ von ihrer Geburt an gegen die Dichotomie zwischen „universal“ und „folk“, „universal“ und „local“ Religion. In der ersten Phase wird die Gesellschaft grob in zwei Schichten, nämlich die Eliten und das Volk, geteilt. In der zweiten Phase versucht man, diese Dichotomie herauszufordern und die

82 Versuche unternommen und Einwände vorgebracht worden sind.1 Im bahnbrechenden Werk von Ma und Han wird Volksreligion mit der Unterschicht der chinesischen Gesellschaft verbunden. Ihnen zufolge existierte sie in der Kaiserzeit wegen der Diskriminierung der Außenstehenden oder der politischen Verfolgungen quasi als Untergrundbewegungen.2 Religionstypologisch betrachtet haben die von Ma und Han ausgewählten Religionsgruppen meistens die Eigenschaft von Sekten, die unter Umständen auch mit der „geheimen Gesellschaft“3 verknüpft sind. Einige andere Wissenschaftler verzichten aufgrund der Ungenauigkeit auf den Begriff der Volksreligion. Stattdessen führen sie den Begriff Sekte (eng. cult) ein, um die

gesellschaftliche Einheit zu betonen. In der dritten Phase wird der Terminus „religious culture“ eingeführt, um den Akzent der Forschung darauf zu setzen, dass die Gesellschaft mit ihren kulturellen Kategorien und der Sozialorganisation gleichzeitig die Differenzierung und Vereinheitlichung erzeugt. Bell schlägt vor, mehr über die symbolischen Handlungen, z .B. Rituale, Pilgerfahrten etc., zu forschen. Bell, Catherine, "Religion and Chinese Culture: Toward an Assessment of 'Popular Religion'", in: History of Religions, Vol. 1, 1989, 36-39. 1 Der japanische Anthropologe Watanabe konzipiert den Begriff „Folklore-Religion“ (民俗宗教), um die Mehrdeutigkeit, die mit dem Begriff „Volksreligion“ verbunden ist, zu vermeiden. Dubian, Xinxiong 渡边欣雄, Hanzu de minsu zongjiao 汉族的民俗宗教, 3. Er weist darauf hin, dass die Folklore-Religion die einzige gemeinsame Religion der Han-Nation ist. Der Terminus ist wegen seiner Wortbildung im Japanischen oder im Chinesischen leicht verständlich. Aber er könnte für westliche Leser un- oder missverständlich sein, weil das Wort „Folklore“in den westlichne Sprachen meistens als ein Fach oder als Gesamtbegriff der volksmündlichen Überlieferung verstanden wird, die keine Verbindung zur Religion, im amerikanisch-europäischen Sinn, hat. Außerdem ist die Definition von Watanabe nicht sehr scharf. Unter den Namen „Folklore-Religion“ werden alle möglichen religiösen Handlungen in China subsumiert, von einzelnen Opfergaben der Familien bis zu Gemeinderitualen. Im April 2008 fand an der Fudan Universität in Shanghai eine Tagung über die Volksreligion und die Methodologie der Forschung statt. Einige Historiker haben sich mit dem Begriff „chinesischer Volkglaube“ und dem geschichtswissenschaftlichen Ansatz sytematisch auseinandergesetzt. Einige chinesische Wissenschaftler sind sich bereits bewusst, dass dem Forschungsbereich bisher jedes Nachdenken über die Termini fehlt. Einige von ihnen wiesen darauf hin, dass „minjian“ (民间), der Volksglaube, sich nicht auf eine Schicht oder Gruppe, sondern auf einen öffentlichen Raum bezieht. Siehe die Zusammenfassung der Tagung Pi, Qingsheng 皮庆生, "'Zhongguo minjian xinyang:lishixue yanjiu de fangfa yu lichang' xueshu yantaohui zongshu" ‘中国民间信仰:历史学研究的方法与立场’ 学术研讨会综述, in: 世界宗教研究, Vol. 3, 2008, 149-150. 2 Unangemessen angesichts der umfangreichen und beispielhaften Forschung haben Ma und Han keine klare Definition in ihrem Werk angegeben. Siehe Ma, Xisha ; Han Bingfang 马西沙;韩秉方, Zhongguo minjian zongjiaoshi 中国民间宗教史, 2 und 10-12. Aus den historischen Beispielen kann man ungefähr schließen, dass mit „der Volksreligion“ die sektenmäßigen kleinen Religionsgruppen gemeint sind. Die Verbindung mit der Unterschicht lässt sich wahrscheinlich auf die unsystematischen Lehren sowie die mehrheitlich aus der Unterschicht zusammengesetzte Mitgliedschaft zurückführen. Aber die Autoren schließen die Verbindung der Volksreligion mit der sog. „Herrschaftsschicht“ (统治 阶级) nicht völlig aus. Ma, Xisha ; Han Bingfang 马西沙;韩秉方, Zhongguo minjian zongjiaoshi 中 国民间宗教史, 2. Seiwert hat bereits den Einwand vorgebracht, dass es keine klare Abgrenzung zwischen der Volksreligion und der Elitenkultur gab. Statttdessen existiere nur ein fließender Übergang. Seiwert, Hubert, Popular Religious Movements and Heterodox Sects in Chinese History, 498. 3 Viele chinesische Historiker haben deshalb den Begriff “Volksreligion” mit dem Begriff “Geheimkult” (秘密教门) gleichgesetzt. Siehe Pu, Wenqi 濮文起, Mimi jiaomen-- zhongguo minjian mimi zongjiao suyuan 秘密教门——中国民间秘密宗教溯源, 1.

83 synkretisierten religiösen Gruppen zu bezeichnen.1 Ein anderes Problem besteht in der Übersetzung2 und der Mehrsprachigkeit des Begriffs. Allein im Chinesischen gibt es mehrere Synonyme für „Volksreligion“.3 Wegen der unterschiedlichen terminologischen Traditionen der Disziplinen haben manchmal die gleichen Termini, die ursprünglich für die Volksreligion in China konzipiert wurden, ganz unterschiedliche Bedeutungen.4 Außerdem ist Volksreligion im chinesischen Kontext nicht neutral, sondern Werte-überladen. Sie wird in der sozialistisch-kommunistischen Ideologie offziell als Aberglaube (Superstition, 迷信)

1 Dean, Kenneth, Lord of the three in one: the spread of a cult in Southeast China, 11-13. Der Autor weist darauf hin, dass die Dichotomie von Kirche und Sekte im chinesischen Kontext problematisch sein könnte. Der Terminuswechsel könnte m. E. in der einzelnen Forschung eine Lösung sein. Aber eine gründsätzlichere Frage bleibt ungelöst, nämlich wie die Sekten in der gesamten Religionslandschaft Chinas eingeordnet werden. Die überwiegenden Beispiele des Synkretismus aus China gehören zum unintendierten Typ, d. h. die Einflüsse aus anderen alten Traditionen werden nicht absichtlich übernommen. Der intendierte Synkretisums, in dem die alten Traditionen bewusst miteinander verschmelzen, z. B. bei Lin Zhao’en, ist offensichtlich selten zu beobachten. Außerdem fehlt m. E. der synkretistischen These genügend empirische bzw. historische Untermauerung, weil die gegenseitige Beeinflussung zwischen den institutionalisierten Religionen und den sog. Sekten immer noch nicht gründlich geklärt ist. Sogar Overmyer vertritt diesen synkretistischen Standpunkt. Er glaubt, dass die Volksreligion hat “defining structure of its own, within which influences from other traditions are reshaped to meet the needs of ordinary folk.” Overmyer, Daniel L. ; Gary Arbuckle ; Dru C. Gladney ; John R. McRae ; Rodney L.Taylor, "Introduction (Chinese Religions- The State of the Field. Part II: Living Religioous Traditions: Taoism, Confucianism, , Islam and Popular Religion)", in: The Journal of Asian Studies, Vol. 2, 1995, 315. 2 Die Standardübersetzung für das englische Wort “popular religion” ist “minjian zongjiao” (民间宗 教). Aber mittlerweile versuchen die chinesischen Wissenschaftler neue Übersetzungen einzuführen. Zum Beispiel übersetzt Chen Zhongdan (陈仲丹) „popular religion“ als „dazhong zongjiao“ (大众宗 教). Er meint, dass das chinesische Wort „minjian zongjiao“ die Übersetzung für „folk religion“ sein solle. Siehe „Nachwort des Übersetzers“ Averill, Stephen C. 韦思谛 (Hg.), Zhongguo dazhong zongjiao 中国大众宗教, 298. 3 Der Experte Zheng Zhiming (郑志明) aus Taiwan versucht in einem Aufsatz eine Unterscheidung zwischen “Volksglauben” (民间信仰) und „Volksreligion“ (民间宗教) zu machen. Ihm zufolge bezieht sich der Volksglauben auf die traditionelle Religion der Han-Chinesen unter den alltäglichen Bräuchen, während die Volksreligion die geheimen Religionen (秘密宗教) umfasst, die versuchten, sich aus der „little tradition“ hin zur „great tradition“ zu entwickeln, aber von der Regierung nicht anerkannt und dann als „Heterodoxie “ angesehen wurden. Wie er andeutet, sind weder der Begriff „Volksreligion“ noch „Volkglauben“ von den Han-Chinesen oder den religiösen Gruppen akzeptiert. Sie sind nur wissenschaftliche Notbehelfe der Kategorisierung. Siehe Zheng, Zhiming 郑志明, "Guanyu 'minjian xinyang', 'minjian zongjiao' yu 'xinxing zongjiao' zhi wojian" 关于‘民间信仰’、‘民 间宗教’与‘新兴宗教’之我见, in: 文史哲, Vol. 1, 2006, 10-12. 4 Siehe Wu, Zhen 吴真, "Minjian xinyang yanjiu sanshinian" 民间信仰研究三十年, in: 民俗研究, Vol. 4, 2008, 40. Der Autor hat auf das Problem aufmerksam gemacht, dass zwischen den im Chinesischen und, Englischen ähnlichen Begriffen, z.B. „民间宗教“, „民间信仰“, „folk religion“ und „popular religion“, Diskrepanzen in der Verwendung vorhanden sind. Das ist m.E. zwar ein klassisches Problem zwischen definiens und definiendum, es ist aber wegen der Mehrsprachigkeit mehrfach durcheinander geraten. Ein strittiger Punkt bei den chinesischen Wissenschaftlern ist, ob die von westlichen Religionswissenschaftlern definierte Volksreligion wirklich als eine Religion gezählt werden darf. Wegen der abwertenden Haltung in der Geschichte wurde Volksreligion normalerweise nicht als eine eigenständige Tradition angesehen. Von offizieller Seite wird sie nicht anerkannt.

84 verstanden.1 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man mit dem Terminus „Volksreligion“ vorsichtig umgehen sollte. Wenn man in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht völlig auf ihn verzichten kann, so sollte man ihn bewusst als einen Behelfsbegriff verwenden. Um die oben erwähnten Nachteile des Begriffs „Volksreligion“ zu vermeiden, möchte ich hier ein neues Modell chinesischer Religion vorschlagen.

6.3.2. Ein Vier-Ebenen-Modell

Um die oben erwähnten Definitions- sowie Kategorisierungsprobleme zu umgehen, versuche ich hier ein Vier-Ebenen-Modell chinesischer Religion zu entwickeln. Das Modell lässt sich mit folgenden Merkmalen beschreiben: (1) Das Modell fokussiert nicht auf die Religionsexperten und -Spezialisten, nämlich die buddhistischen Mönche und taoistischen Priester, die wohl nur eine nebensächliche Rolle im alltäglichen Religionsleben spielen, sondern auf die Laien bzw. Laienorganisationen; (2) Das Modell konzentriert sich nicht auf die textbasierten Dogmen bzw. Lehren des Glaubens, sondern auf die beobachtbaren Handlungen und Praktiken, die möglicherweise die Organisationsform betreffender Religionsgemeinschaften widerspiegeln. Zwar gehe ich nicht davon aus, dass systematisch formulierte Doktrinen, die meistens im chinesischen Kontext fehlen, für die Gruppenbildung und -Identität marginal und irrelevant sein könnten. Aber man muss sie ignorieren, bevor man die beobachtbaren Elemente, z.B. Sozialformen, untersucht hat. (3) Anders formuliert: Im Mittelpunkt des Modells stehen nicht die schriftlichen Quellen, die die Dogmen bzw. Glaubensbekenntnisse dokumentieren, sondern die Riten, Rituale, Zeremonien und Veranstaltungen, die wahrscheinlich nicht unmittelbar von Dogmen

1 Ibid., 40-43. Erst in den 80er Jahren begannen einige chinesische Ethnologen, den Begriff “Volksreligion” (oder Volksglauben) anstatt Aberglaube wieder einzuführen, um die Neutralität der Wissenschaft hervorzuheben. Aber ob man die Volksreligion als eine Religion bezeichnen darf, ist im chinesischen Diskurs immer noch umstritten. Interessanterweise handelt es sich m. E. nicht um eine wissenschaftliche Definition, sondern eher um die staatliche Anerkennung. Die überwiegenden Einwände basieren auf dem Legitimitätsargument, während man sich kaum Gedanken über die Begrifflichkeit gemacht hat.

85 getrieben oder motiviert werden.1 (4) Das Modell braucht ein geeignetes Kriterium, um die Ebenen bzw. Typen operationalisierbar zu unterteilen. Ich nehme in der vorliegenden Forschung Teilnahme-Ausmass bzw. –Bereich des einzelnen Rituals als das Kriterium, das sich teilweise mit der geographischen Aufteilung überlappt, um die vier Ebenen auszudifferenzieren und zu kennzeichnen. Mit dem Kriterium lassen sich die religiösen Handlungen, bzw. Rituale grob in die folgenden vier Ebenen aufteilen, ohne die Lehre oder Dogmen einer Handlung in Betracht zu ziehen: (A) Die Individuum-bezogene Ebene Auf dieser Ebene wird die religiöse Handlung vereinzelt vom Individuum ausgeübt.2 Erwähnenswert sind die folgenden Aktionen im chinesischen Kontext: (un)regelmäßiger Einzelbesuch religiöser Stätte, z.B. Tempel, Kloster und Schrein; Beten vor der Gottheit um Heil oder Glück; individuelle Zitierung religiöser oder weltauffassungsrelevanter Texte, usw. 3 (B) Die Familie-/ -bezogene Ebene Auf dieser Ebene werden die Rituale innerhalb einer verwandtschaftlichen Einheit durchgeführt, die hauptsächlich durch Eheschließung und familiäre Reproduktion natürlich gebildet wird. Die Einheit kann unter Umständen hinsichtlich der Größe unterschiedlich sein. Darin gibt es stufenweise: Kernfamilie/Haushalt (Eltern mit Kind[ern]), Großfamilien mit mehreren Generationen (Großeltern plus Kernfamilie[n]), Clan (lineage, mehrere agnatische Großfamilienverbände), Sippe und im Extremfall sogar ganzes Dorf. Die typischen Rituale unter dieser Kategorie sind

1 Edmund Husserls (philosophische) phänomenologische Methodologie “Epoché” (Zurückhaltung) könnte hier hilfreich sein. Man sollte zuerst alle theoretischen Annahmen über den betrachteten Gegenstand ausschalten und dann die Existenz des Gegenstandes insofern außer Betracht lassen, dass sich nur die „Washeit“ zeigt, also das, was der Gegenstand ist, sein Wesen. In unserem Fall sollte man zwei Annahmen, die üblicherweise im westlichen Kontext gültig, aber im chinesischen Kontext fraglich sind, erst einmal ignorieren, nämlich: a) Es gibt eine klare Trennung zwischen Laien und Religionsspezialisten, wobei die letzteren eine führende Rolle im Ritual spielen; b) Es gibt eine Lehre oder einige Dogmen, die eine Religion charaktisieren und von anderen Religionsgruppen abgrenzen können. Von dieser Überlegung ausgehehend, habe ich hier die ersten drei Merkmale des neuen Modells konzipiert. 2 Das heißt aber nicht, dass die Handlung im Sinne der kulturellen Ausbreitung individuell ist. Stattdessen muss man davon ausgehen, dass jeder Agent von seiner kulturellen Umgebung beeinflusst wird. 3 Aber die Individualität religiöser Handlungen bedeutet nicht, dass das Verhalten des Individuums aus sich selbst heraus konzipiert ist. Menschen werden in ihrem Leben andauernd von ihrer kulturellen Umgebung beeinflusst. Religion ist hier keine Ausnahme. Was betont wird, ist nicht die Herkunft des einzelnen Verhaltens, sondern die Individualität des Verhaltens.

86 beispielsweise die Verehrung des Herdgotts (normalerweise innerhalb einer Kernfamilie vor dem chinesischen Neujahr1), Beerdigungszeremonie und Ahnenkult im Jahreszykluss (am Qingming-Fest und Neujahr). (C) Die Kommunal-/ Gemeinde-bezogene Ebene Über die Familie-/ Clan-bezogene Ebene hinaus sind die Verwandtschaftsbande zwar immer noch wichtig, aber nicht mehr zentral, um die Rituale zu organisieren und durchzuführen. Auf dieser Ebene bildet eine Siedlung, z. B. ein Dorf, eine Kommune, Gemeinde, ein Kreis und sogar eine Region, eine kollektive Ritualeinheit. Solche Rituale, zu denen beispielsweise die Verehrung des Erdgottes und die Verehrung der mannigfaltigen Schutzgötter der jeweiligen Gemeinde etc. zählen, werden das Zentralthema der vorliegenden Forschung sein. 2 Fast alle Gottbegrüßungsprozessionen, deren Tempelvereinigungen und Aktivistenverbände sich normalerweise auf eine einzelne Gemeinde oder Kommune beschränkten, fanden auf dieser Ebene statt. Man kann die auf der Kommunal-/ Gemeinde-bezogenen Ebene stattfindenden Veranstaltungen als „die kommunale Religion“ 3 Chinas bezeichnen. (D) Die überregionale Ebene Um eine überregionale Ritualeinheit zu bilden, sind ein Netzwerk und große Mobilisierungskräfte nötig, die in der Kaiserzeit außergewöhnlich waren und oft die Wachsamkeit der Regierung erregten. Auf dieser Ebene findet man die meisten sektenartigen Religionsgruppen in China. Einige überregionale Pilgergruppen gehörten deshalb dazu, weil die Mitglieder einer solchen Gruppe normalerweise aus

1 Weibliche Familienangehörige dürfen normalerweise nicht daran teilnehmen. 2 Siehe unten 6.3.3. 3 Unter der „kommunalen Religion“ versteht man eine Art von Glauben und dessen Rituale im chinesischen Kontext, deren Gottheit ihre Anhänger geographisch üblicherweise nur innerhalb einer Kommune oder Gemeinde gewinnen konnte, d. h. das Glaubensgebiet einer Gottheit war sehr kommunal-regional beschränkt. Aus diesem Grund war es unüblich, von einer lokalen Gottheit aus eine überregionale religiöse Gemeinde zu bilden. Allerdings hatte(n) diese Religion(en) in den unterschiedlichen Regionen Chinas ähnliche Veranstaltungsformen, obwohl es dort zahlreiche unterschiedliche Götter und Gottheiten gab. Deswegen möchte ich hier besonders hervorheben, dass mit der Singularität des Begriffs „die kommunale Religion“ nicht eine vereinheitlichte oder monotheistische Religion gemeint ist, sondern nur die ähnliche Grundform der nicht miteinander zusammenhängenden religiösen Praxis. Ohne dass jeweils speziell darauf hingewiesen wird, werden „die kommunale Religion “ und „die Kommunalreligion“ in der vorliegenden Arbeit als Synonyme verwendet.

87 den naheliegenden Dörfern oder Gemeinden stammten, die gemeinsam zu einem Pilgerort, z. B. einem heiligen Berg, fuhren. Die oben erwähnten vier Ebenen sind nur ein idealtypisch dargestelltes Analysewerkzeug, das vielleicht dazu beitragen kann, dass in der künftigen Forschung weniger terminologische Ungenauigkeit vorherrscht. Aber man darf nicht vergessen, dass in der Praxis die vier Ebenen auf keinen Fall übergangsfreie Extremfälle, sondern ein Kontinuum bilden.

6.3.3. Die kommunale Religion Chinas

Viele Wissenschaftler weisen darauf hin, dass es einen neuen Aufschwung in der Forschung über die Gemeinde-bezogenen religiösen Praxen in der chinesischen Gesellschaft gegeben habe. Statt pauschal die hochinstitutionalisierten Religionen, nämlich den Buddhismus, Taoismus und den Konfuzianismus, zu betrachten, konzentriert man sich allmählich auf die lokale und nicht-textbasierte Tradition religiöser Praxis. 1 Man kann sogar behaupten, dass die kommunale Religion in China in den vergangenen Jahrzehnten entdeckt wurde. So wird die Gottbegrüßungsprozession von einigen Soziologen als das Kennzeichen der „kommunalen Religion“ Chinas bezeichnet. C. K. Yang führte in seiner systematischen Studie über die chinesische Religion zum ersten Mal den Begriff „communal cult“ ein. Er weist darauf hin, dass es im vor-kommunistischen China Tempel gab, die sich dem Schutz und der Wohlfahrt der lokalen Gemeinde gewidmet haben. Ihre Tempelkulte hätten große Bedeutung für die Gemeindeorganisation.2 Er macht eine typologische Unterscheidung zwischen der

1 Wu, Zhen 吴真, "Minjian xinyang yanjiu sanshinian" 民间信仰研究三十年, in: 民俗研究, Vol. 4, 2008, 43-47. 2 Yang, C. K., Religion in Chinese Society: A Study of Contemporary Social Function of Religion and Some of Their Historical Factors, 11-12. An dieser Stelle hat Yang seinen theoretischen Teil der Forschung noch nicht eröffnet. Stattdessen versucht er nur die Vielfalt der Götter und die religiösen Organisationen der Gemeinde grob zu skizzieren. Unter dem “communal cult” hat er auch viele andere Typen erwähnt, z.B. den Fruchtbarkeitskult, der die Familien v. a. Frauen angeht. Außerdem gab es auch diejenigen Kulte, die die moralischen oder politischen Ordnungen verstärkten, wie Stadtgott und . Erwähnenswert sind auch die ökonomisch-orientierten Kulte, die Agrargottheiten wie Shennong (神农). Man kann an Yangs Aufzählung ablesen, dass er mit dem Begriff „communal cult“ nur das organisatorische Ausmaß der religiösen Gemeinden betont. Die Bozogenheit der Kommunalkulte muss aber nicht unbedingt kommunal, sondern kann auch individuell, familiär oder

88 „communal“ und der „voluntary“ Religion in China, um die politische Rolle der Religionen in China zu verdeutlichen. Seiner Ansicht nach ist die Han-Dynastie der Wendepunkt der zwei Typen. Vor der Han-Dynastie habe die Kommunalreligion als einzige dominante Form das Religionsleben in China beherrscht, d.h. das Individuum habe nur die Wahl gehabt, sich an den Kommunalreligionen zu beteiligen, da eine Kummune oder Gemeinde alle Bewohner als Mitglieder der Kommunalreligionen angenommen habe. Yang zufolge war damals die Religion ein integrierter Teil des Kommunallebens.1 Aber nach der Han-Dynastie, mit dem Aufstieg von Buddhismus und Taoismus in China, habe sich die religiöse Landschaft grundsätzlich verändert. Die Mitgliedschaft der zwei institutionalisierten Religionen basierte nicht auf der Zughörigkeit eines Individuums zu einer Gemeinde, sondern auf der freiwilligen Wahl des jeweiligen Glaubens. Diese Verschiebung habe offensichtlich die politische Bedeutung, dass die „voluntary religion“ entweder eine politische Macht unterstützen/sanktionieren oder sich zu einer politischen Bewegung entwickeln könne.2 Erst vier Jahrezehnte nach Yangs Studie rückt der Begriff Kommunalreligion wieder ins Blickfeld der Religionswissenschaft. Durch Kenneth Deans langjährige Feldforschung in süd-östlichen Provinzen Chinas, v. a. in der Provinz Fujian, betont der Begriff die Besonderheit der chinesischen Religion in China:

„Definitions of religion derived from Western critical traditions (including Marxism in China) focus on four features: religious doctrine, institutional organization, a hierarchical priesthood and rites that express particular beliefs. These features are not particularly useful for understanding local communal religion, or "popular religion," in China, which involves participation in communal rituals centred in

sogar staatlich sein. 1 Ibid., 111. Yangs Unterscheidung zwischen “voluntary” und “communal religion” ist m. E. viel zu vereinfacht. Ihr fehlt eine genügende empirische Untermauerung. 2 Ibid., 111-112. Unklar ist dennoch, was mit der Kommunalreligion geschah, nachdem sich Buddhismus und Taoismus in China ausgebreitet hatten. Yangs Forschungsinteresse liegt hauptsächlich auf der “voluntary religion”. Er erwähnt die “communal religion” oft als Beispiel der diffundierten Religion (diffused religion) Chinas. Siehe Ibid., 297.

89 temples dedicated to a variety of gods from a vast pantheon, many of local origin. In addition to participating in communal rites on important annual ceremonies such as Chinese New Year and Lantern Festival, or on the birthdays of the gods, individuals can go to village temples any time to worship the local gods by bowing and praying, proclaiming vows, making offerings of food and drink, and burning incense and spirit money.“1

Dean führt den Begriff „local communal religion“ ein mit der Absicht, die Mehrdeutigkeit des Terminus Volksreligion (popolar religion)2 zu vermeiden. Aber dies könnte auch einen neuen Forschungsbereich eröffnen, der seit langem von der Religionswissenschaft vernachlässigt worden ist. Dean weist darauf hin, dass die Verehrung der lokalen Gottheiten in den Tempeln sowohl eine komplizierte lokale Organisation als auch Ritualspezialisten benötigt.3 Diese Beobachtung ist mit Yangs Annahme nicht erklärbar, dass die führenden Personen der Gemeinde als Priester (in der Kommunalreligion) fungiert hätten und die gesamte Bevölkerung die Kongregation gewesen sei.4 Ich gehe davon aus, dass es eine differenzierte Organisationsform, zumindest eine funktionierende rationale Arbeitsteilung, gegeben haben muss, um eine aufwendige Veranstaltung wie die Gottbegrüßungsprozession durchführen zu können. Diese These muss natürlich in den Fallbeispielen belegt werden.

1 Dean, Kenneth, "Local Communal Religion in Contemporary South-East China", in: The China Quarterly, Vol. 17, 2003, 338. 2 Die Verwendung des Terminus Volksreligion (poplar religion, 民间宗教) ist m. E. bisher im wissenschaftlichen Kreis sehr willkürlich. 3 Dean, Kenneth, "Local Communal Religion in Contemporary South-East China", in: The China Quarterly, Vol. 17, 2003, 338-339. Dean hat auch bemerkt, dass die buddhistischen Mönche und taoistischen Priester als Ritualspezialisten zu einigen kommunalreligiösen Veranstaltungen eingeladen wurden. Ibid., 342. Wenn man die politische Funktion der sog. “voluntary religion” nicht als zentralen Betrachtungspunkt nimmt, ist die “voluntary religion” im Vergleich zur “communal religion” m. E. wahrscheinlich nicht so wichtig im Alltag der Chinesen. Man darf sogar mit der oben erwähnten Entdeckung behaupten, dass die voluntary religion von der Kommunalreligion abhängig gewesen sein könnte, oder anders formuliert, die “voluntary religion” teilweise in der Kommunalreligion eingebettet gewesen sein müsste, um ihre Rolle als Ritualspezialisten zu stablisieren. Zumindest kann man sagen, dass die religiöse Landschaft viel komplizierter ist als die Dichotomie von “voluntary” und “communal religion”. 4 Yang, C. K., Religion in Chinese Society: A Study of Contemporary Social Function of Religion and Some of Their Historical Factors, 297.

90 6.4. Die kosmologische Ordnung

Um die Geistervorstellung und die Notwendigkeit einer Gottbegrüßungsprozession in der chinesischen Gedankenwelt zu verstehen, ist das Verstehen der volksreligiösen Kosmologie wohl unentbehrlich. Obwohl diese Kosmologie selten von den Gläubigen zu einer philosophisch-theologischen Lehre systematisiert wurde, ist sie durch religionswissenschaftliche sowie anthropologische Untersuchungen seit den vergangenen Jahrzehnten zum Ausdruck gebracht und zusammengefasst. 1 Der volksreligiöse Kosmos lässt sich grob in drei Teile gliedern: der Himmel (die Oberwelt, 天界), die Welt (阳界) und die Unterwelt (阴界).2 Dementsprechend lassen alle Wesen sich auch in drei Kategorien klassifizieren, nämlich die Gottheiten, die Menschen und die Geister, die jeweils in den drei Welten ansässig sein sollen. Nach dieser Dreiteilung soll sich ein Mensch nach dem Tod entweder zu einem übermenschlichen Wesen (Gottheit oder Gott) im Himmel wandeln, falls er zu seinen Lebzeiten übermenschliche Fähigkeiten bewiesen hat,3 oder er wird – was in der Mehrzahl der Fall ist - in die Unterwelt4 kommen und zum Geist werden.

1 Dubian, Xinxiong 渡边欣雄, Hanzu de minsu zongjiao 汉族的民俗宗教, 39-30 und 112. 2 Das Kosmosbild wird in einem ausgegrabenen Seidengemälde aus Mawangdui (马王堆, einem archäologischen Grabfund aus der Han-Zeit) wunderbar dargestellt. Liu, Daochao 刘道超, Zhongguo shan'e baoying xisu 中国善恶报应习俗, 86. Dieser archäologische Fund deutet darauf hin, dass vor der Ausbreitung des Buddhismus nach China diese kosmologische Anschauung bereits existiert hatte. Natürlich wurde sie später durch die buddhistische Wiedergeburtsvorstellung erweitet und tief geprägt. 3 Nicht zu vergessen ist, dass die meisten volksreligiösen Gottheiten vom Kaiser nominiert und anschließend ernannt wurden. Natürlich galten diese kaiserlich und staatlich anerkannten Gottheiten als moralische Vorbilder, die entweder mit ihrer Loyalität die monarchische Herrschaft erhalten haben oder sie waren wegen ihres Selbstopfers oder ihrer Barmherzigkeit bei den Bewohnern einer Region sehr beliebt und wurden verehrt . Zur Geistervorstellung siehe Wolf, A. P., "Gods, Ghost, and Ancestors", in: Wolf, A. P, Religion and Ritual in Chinese Society, 169-176; und auch Wolf, A. P., "Taiwan minjian xinyang yanjiu- meiguoren de guandian 台湾民间信仰研究——美国人的观点", in: 张珣, Taiwan bentu zongjiao yanjiu de xin shiye he xin siwei 台湾本土宗教研究的新视野和新思维, 263- 269. Der letzte Aufsatz ist eine chinesische Übersetzung des ersten. In diesem hervorragenden Aufsatz hat Wolf ein dreifältiges Modell der chinesischen Glaubenswelt entwickelt, nämlich „Gods“, „Ghosts“ und „Ancestors“. Hier verwende ich in meiner Forschung „der Geist“ als Synonym für „Ghost“(鬼, gui). Mehr zur Terminologie von gui im deutschsprachlichen Raum siehe auch Seiwert, Hubert, "Ausgrenzung der Dämonen- am Beispiel der chinesischen Religionsgeschichte", Sonderdruck aus SAECULUM XXXIV, 317-319. Im Aufsatz wird „gui“ als „Dämon“ übersetzt. In der Wuyue-Region (dem heutigen Taihu-Flussgebiet einschließlich der Jangtse-Mündung) werden die Geister besonders beachtet. Siehe Jiang, Bin 姜彬, Wuyue minjian xinyang minsu 吴越民间信仰 民俗,, 72. 4 Normalerweise wird der heilige Berg Taishan (泰山) als der Ort der Unterwelt angenommen. Nach dieser Vorstellung, die schon in der Han-Dynastie entstand, kehren die Geister der verstorbenen

91 Der Platz, den jemand in dieser kosmologischen Ordnung einnimmt, wird weder sofort nach dem Tod geschaffen noch auf immer und ewig gesichert. Stattdessen gibt es immer Grenzfälle, Ausnahmezustände und Wechselbeziehungen zwischen den drei Welten. Um die kosmologische Ordnung aufrechtzuerhalten, muss man sie nach dieser Vorstellung stets pflegen. Opfergabe und Prozession waren wohl die zwei bedeutendsten Methoden gegen die Unordnung. Die regelmäßige Opfergabe war als eine zentrale Pflicht für die Kinder der Verstorbenen deswegen wichtig, weil sie quasi als die jenseitige Ernährung für die Geister verstanden wurde.1 Ein Geist, der in der Unterwelt kein Opfer (regelmäßige Opfergabe wie Geldpapier, Essen u.a. am Frühlingsfest und Qingming-Fest) von den Nachkommen bekam oder möglicherweise keine Nachkommen hatte, wird angeblich zu einem Wildgeist (野鬼) oder einem verhungerten Geist (饿鬼). In einem anderen Fall, und zwar wenn der Tod eine unnatürliche Ursache (横死) hat - z.B. Kriege, Ermordung und Unfall -, entwickelt sich ein Mensch unter Umständen zu einem ruhelosen Geist (厉鬼). In den beiden oben erwähnten Fällen wird der Geist nicht ruhig in der Unterwelt bleiben, in der er eigentlich sein sollte, sondern er wird eventuell in die Menschenwelt zurückkehren. Man glaubt, dass solche Geister den Menschen Unglück bringen können, weil solche anormalen Umstände die Grundordnung des Kosmos’ beschädigen.2 Die meisten Opfer wurden von den Familien oder Clanen in den jeweiligen

Menschen zum Taishan zurück. Im Laufe der Zeit wurde die Vorstellung allmählich bereichert. Es wurde sogar behauptet, dass auf dem Taishan ein Gericht eingerichtet sei, das die Tat eines Menschen verurteilen soll. Mittlerweile ist die volksreligiöse Vorstellung über die Unterwelt mit der buddhistischen Wiedergeburtsvorstellung verschmolzen (Sanskrit Naraka, chin.地狱). Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰风俗辞典, 464-6. 1 Der japanische Anthropologe Watanabe spricht sogar von der „ Fürsorge / Wohlfahrt des Jenseits“ (他界福利), um die Notwendigkeit der Opfergabe in der chinesischen Glaubenswelt zu bezeichnen. Dubian, Xinxiong 渡边欣雄, Hanzu de minsu zongjiao 汉族的民俗宗教, 115, 123 und 132-133. Wolf hat in einem Aufsatz hervorgehoben, dass die Geister in der chinesischen Kultur die Eigenschaft etwa von Bettlern und Banditen haben, d.h. die Opfergabe könne sie zeitweilig beruhigen, damit sie die Menschen nicht stören oder belästigen. Wolf, A. P., "Gods, Ghost, and Ancestors", in: Wolf, A. P, Religion and Ritual in Chinese Society, 170-171. Ein Geist wurde auch allgemein als ein fremdes Dasein verstanden, das böswillig gegen die Menschen sei. Wolf, A. P., "Gods, Ghost, and Ancestors", in: Wolf, A. P, Religion and Ritual in Chinese Society, 170 und 174. 2 Dubian, Xinxiong 渡边欣雄, Hanzu de minsu zongjiao 汉族的民俗宗教, 122-127. Siehe auch Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰 风俗辞典, 475.

92 Ahnenkulten dargebracht, während die Prozessionen normalerweise für die Erhaltung der kosmologischen Ordnung einer über-familiären Einheit, z. B. eines Dorfes oder einer Gemeinde, sorgen sollten. Das heißt, dass eine Prozession eine auf das Gemeinschaftsinteresse gezielte kollektive Veranstaltung war. Eine Prozession diente entweder dazu, um den Schutz der lokalen Gottheit vor bestimmten natürlichen Katastrophen - z. B. Dürre, Überschwemmung oder Heuschrecken - zu bitten, oder dazu, die von den Geistern geschädigte kosmologische Ordnung wieder herzustellen, indem die Gottheit gebeten wird, die Geister in die Unterwelt zu treiben.1 Im chinesischen Jahreszyklus werden einige Tage z.B. das Qingming-Fest (5. April), das Zhongyuan-Fest (中元节, 15.7. nach dem chinesischen Kalender) und 1.des zehnten Monats (十月朝) als die Tage der Geister oder Geisterfeste (鬼节) verstanden. Sie gelten als Ausnahmezustände der kosmologischen Ordnung eines Jahres, in denen die Geister aus der Unterwelt wieder in die Menschenwelt zurückkehren dürfen. Diese Ausnahmen erlauben den Geistern, die Opfergabe in der Welt zu empfangen und ihre Nachkommen bzw. Familien zu besuchen. Dieser Vorgang aber wird von den betreffenden Gottheiten überwacht. Sie übernehmen quasi als Wächter der Geister die Verantwortung. Falls ein Geist nach der Frist nicht zurück in der Unterwelt sein sollte, müsse die zuständige Gottheit ihn finden und ihn anschließend unter Zwang zurück in die Unterwelt bringen.2

6.5. Die Gottbegrüßungsprozessionen in den Provinzen Chinas

Obwohl Shanghai seine einzigartigen historischen Gegebenheiten hat, ist es in Bezug auf die Gottbegrüßungsprozession keine Ausnahme im gesamten chinesischen

1 Manchmal wird auch behauptet, dass einige Naturkatastrophen durch ausgewanderte Geister verursacht werden. Die Geister (鬼) wurden in der chinesischen Kultur allgemein als negativ, schädlich, nachteilig angenommen. Viele Unfälle, Unfruchtbarkeit, Krankheiten und Todesfälle verschuldeten die Geister. Siehe Wolf, A. P., "Gods, Ghost, and Ancestors", in: Wolf, A. P, Religion and Ritual in Chinese Society, 169. Über die Vorstellung von Göttern und Geistern siehe auch Seiwert, Hubert, Volksreligion und nationale Tradition in Taiwan, 138-144. 2 Man kann eine solche volksreligiöse Vorstellung leicht nachvollziehen, indem man die Unterwelt metaphorisch als ein jenseitiges Gefängnis versteht, zu dem die Geister für eine ewiglange Haftung verurteilt sind. Nur an den Geisterfesten dürfen sie kurzzeitig aus dem Gefängnis zum Familientreffen entlassen werden. Aber wenn die Frist abgelaufen ist, d.h. nach dem Ende der Geisterfeste, müssen sie alle ohne Ausnahme wieder zurück ins Gefängnis.

93 Kulturraum, d. h. zahlreiche andere Gottbegrüßungsprozessionen fanden ab Anfang der Qing-Zeit bis in die Republikzeit hinein kontinuierlich in anderen Provinzen statt. Dies ist durch einige Sammelbände zur Folklore in China deutlich belegt. Im nordöstlichen Teil Chinas waren zwei Gottheiten in den Prozessionen sehr stark vertreten, nämlich der Stadtgott und der Drachenkönig (龙王)1. Die Prozessionen der Stadtgötter fanden meistens regelmäßig am Qingming-Fest oder im fünften Monat nach dem chinesischen Kalender statt2, während die des Drachenkönigs nur in Dürrezeiten durchgeführt wurden, um für Regen zu beten.3 Außerdem gab es auch zwei einzelne Prozessionen für Guandi (关帝)4 und den Heilkräuterkönig (药王). 5 In Nordchina wurde die überwiegende Zahl der Prozessionen den Stadtgöttern geweiht, die entweder jeweils am Qingming-Fest, 15.7 und 1.106 oder zu den

1 Der Drachenkönig ist im chinesischen Volksglauben für das Wasser (Niederschlag, Regen, See, Meer etc.) zuständig und deswegen auch für Überschwemmung und Dürre verantwortlich. Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰风俗辞典, 166-7. 2 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, dongbei juan 中国地方志民俗资料汇编·东北卷, 76, am 10.5. im Kreis Haicheng (海城县), Provinz Liaoning; 115, im Kreis Tieling (铁岭县), Provinz Liaoning; Ibid., 207, 1.5. im Kreis Yi (义县), Provinz Liaoning. Die Stadtgott-Prozessionen in der Provinz Jilin fanden sehr regelmäßig dreimal jährlich statt, nämlich am Qingming-Fest, am 15.7, sowie am 1. 10. Siehe Ibid, 251, 296 und 345. 3 Ibid., 83 und 91, jeweils in den Kreisen Haicheng (海城县) und Huanren (桓仁县), Provinz Liaoning. 4 Guandi ist auch als Guangong (关公) oder Guandiye (关帝爷) bekannt. Sein Name war ursprünglich Guanyu (关羽), geboren am Ende der östlichen Han-Dynastie (25-220 n. u. Z.). Er war ein General und politscher Führer der Shu-Herrschaft (蜀) in der Zeit der drei Reiche (220-280). Im chinesischen Volksmund wurde er als die Verkörperung der Royalität verehrt. Später wurde er auch als der Gott des Reichtums (财神) angesehen. Siehe Lin, Jinyuan 林进源, Zhongguo shenming baike baodian 中国神 明百科宝典, 289-291. 5 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, dongbei juan 中国地方志民俗资料汇编·东北卷, 53 und 177, jeweils in den Kreisen Xinmin (新民县) und Fengcheng (凤城县), Provinz Liaoning. Der Heilkräuterkönig ist eine volksreligiöse Gottheit, die das Volk vor Krankheiten schützen oder mit ihrem Wissen über Heilkräuter Krankheiten heilen können soll. Die Identität des Heilkräuterkönigs ist regional und zeitlich unterschiedlich, aber lässt sich auf zwei Urtypen zurückführen: entweder die Urkönige (z.B. Fuxi 伏曦, Shennong 神农, Xuanyuan 轩辕 = der gelbe Kaiser), die zur Entstehung oder Entwicklung der chinesischen Heilkunde beigetragen haben, oder die berühmten Ärzte (z.B. Pian Que 扁鹊, Sun Ximiao 孙思邈, Wei Ciyang 韦慈藏), die nach dem Tod als Gottheiten verehrt wurden. Siehe Dongfang, Jibai 东方暨白, Minjian shenyou da tongshu 民 间神佑大通书, 209-213. Die oben erwähnten Heilkräuterkönige sind in den Quellen nicht zu identifizieren. 6 Siehe Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huabei juan 中国地方志民俗资料汇编·华北卷, 17-8, in der Präfektur Yanqing (延庆州), heute Teil von Beijing; Ibid., 27, in der Präfektur Tong (通州), ebenda; 48, am Qingming-Fest und 1.10. in Tianjing; Ibid., 138, am Qingming-Fest im Kreis Longmen (龙门县), Provinz Hebei; Ibid., 225, am Qingming-Fest im Kreis Yongping (永平县), Provinz Hebei; Ibid., 232, im Kreis Changli (昌黎县), Provinz Hebei; 286, am 1.10. im Kreis Xianghe (香河县), Provinz Hebei; 471-2, dreimal im Jahr im

94 jeweiligen Geburtstagen der Stadtgötter stattfanden.1 Darüber hinaus gab es die Prozessionen für die Göttin Mazu2 sowie den Drachenkönig3 und Guandi4. In den Regionalbeschreibungen über die Provinz sind viele Prozessionen der Stadtgötter dokumentiert, die regelmäßig stattfanden.5 Im Yangtse-Flussgebiet waren die Prozessionen vergleichsweise vielfältiger als die in Nordchina: In der Provinz Hubei waren die Stadtgötter ebenfalls stark in den Prozessionen vertreten. 6 Außerdem wurden Prozessionen auch den weniger bekannten Gottheiten, z.B. Nantang (南塘神),7 geweiht. In der Provinz Hunan waren die Prozessionen ähnlich wie die in Hubei. Außer ein paar Stadtgötter8 waren viele lokale Gottheiten in den

Kreis Wu’an (武安县), Provinz Hebei; Ibid., 621, nur am 1. 10., im Kreis Yangcheng (阳城县), Provinz Shanxi; 755, am 15.7., im Kreis Guisui (归绥县), in der inneren Mongolei. Qingming-Fest (清明节), 15.7. (中元) und 1.10. (十月朝) sind die drei sog. „Feste des Totenreichs“ (冥节) in einem Jahreszyklus, an denen den Verstorbenen Opfer dargebracht werden sollen. 1 Ibid., 48, am 6. und 8. 4. in Tianjing (天津); Ibid., 303, am 26.3. im Kreis Yongqing (永清县), Provinz Hebei; Ibid., 657, am 22.4. im Kreis Yicheng (翼城县), Provinz Shanxi; und ganz selten am 5.5 (Drachenbootfest) im Kreis Xiangning (乡宁县), Provinz Shanxi, Ibid., 685. 2 In Nordchina wurde Mazu normalerweise mit ihrem Ehrennamen Himmelskaiserin (天后) bezeichnet. Ibid., 48, am 16., 18., 20. und 22. des dritten Monats in Tianjing. Die Prozession wurde auch als Kaiserin-Versammlung (皇会) bezeichnet. 3 Ibid., 305, am 13. 6. in der Präfektur Baoding (保定府); Ibid., 328, am 13.6. im Kreis Tang (唐县), Provinz Heibei. Ibid., 544, zur Dürre im Kreis Xinhe (新河县), Provinz Hebei; Ibid., 665, am 21.3. im Kreis Xi (隰县), Provinz Shanxi. 4 Ibid., 546. Am 23.6. in den Kreisen Datong (大同县), Provinz Shanxi, und Nanpi (南皮县), Provinz Hebei, wurden zur Dürrezeit der Drachenkönig und Guandi gemeinsam in einer Prozession getragen. Seihe Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huabei juan 中国地方志民俗资料汇编·华北卷, 406-7. 5 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, zhongnan juan 中国地方志民俗资料汇编·中南卷, 6, am 15.7.im Kreis Zheng (郑县); Ibid.,51, am Qingming-Fest, 15.7. und 1.10. im Kreis Xinxiang (新乡县); Ibid.,60, am Qingming-Fest und 15. 10 im Kreis Fengqiu (封丘县); Ibid.,116, am 15.7. im Kreis Hua (滑县); Ibid., 219, am Qingming-Fest im Kreis Ru’nan (汝南县); Ibid., 262, am 1.10. im Kreis Luoyang (洛阳县); Ibid., 279, am Qingming-Fest, 15.7. und 1.10. im Kreis Shengchi (渑池县); Ibid., 292, am 15.7. im Kreis Yiyang (宜阳县); Ibid., 294, am 1.10. im Kreis Yongning (永宁县). In der Kaiserzeit mußen der Kreisvorsteher und andere Beamte persönlich an den Stadtgott-Prozessionen teilnehmen. An manchen Orten in Henan wurde die Stadtgott-Prozession als „Freilassung der Gespenster“ (放鬼) bezeichnet. 6 Ibid., 359, am 28.5. im Kreis Luotian (罗田县); Ibid., 437, am 27.5 und 1.10. im Kreis En’shi (恩施 县); Ibid., 447, am 15.7. im Kreis Laifeng (来凤县). 7 Ibid., 325, am Qingming-Fest im Kreis Daye (大冶县). In der Regionalbeschreibung über die Präfektur Qi (蕲州) aus der Qing-Zeit sind einige Prozessionen erwähnt, in denen sogar fiktionale Romanfiguren, z .B. der Affenkönig (孙悟空) und Erlang (二郎神) als Gottheiten verehrt wurden. Siehe Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, zhongnan juan 中国地方志民俗资料汇编·中南卷, 364. Die zwei Figuren stammen aus dem berühmten Roman „Die Reise nach Westen“ (西游记) von Wu Cheng’en (吴承恩). 8 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, zhongnan

95 Prozessionen zu beobachten1. In den südlichen Küstenprovinzen scheinen Prozessionen populärer gewesen zu sein, wobei die Gottheiten viel mannigfaltiger waren als die in den Binnenprovinzen. Allein in der Provinz Guangdong sind im Folklore-Sammelband zwanzig Prozessionen von der Qing- bis in die Republikzeit dokumentiert. An vielen Stellen wird kein Name der Gottheit erwähnt. Stattdessen weisen die Regionalbeschreibungen darauf hin, dass die Statuen zahlreicher Gottheiten aus mehreren Tempeln gleichzeitig2 oder eine nach der anderen in eine tagelange Prozession eingeführt wurden3. Sowohl einige sehr beliebte Gottheiten - z.B. Mazu,4 Beidi5 - als auch viele unbekannte lokale Gottheiten6 traten

juan 中国地方志民俗资料汇编·中南卷, 630, am 28.5. im Kreis Guzhangping (古丈坪厅). Eventuell wurden auch in Dürrezeiten Stadtgott-Prozessionen durchgeführt, um um Regen zu beten; Ibid., 643, am 28.5. in Baojing (保靖); Ibid., 657, am 28.5. in Wuling (武陵县); Ibid., 667, am 20.5 im Kreis Cili (慈利县); Ibid., 678-9, am 28.5. im Kreis Ningxiang (宁乡县). 1 Ibid., 551, im fünften Monat sollen vier lokale Gottheiten, nämlich Kangwang (康王), Mawang (马 王), Huafu (华夫) und Tianfu (天符), zu einer Prozession „eingeladen“ werden, um Seuchen zu verhindern. Als Vorbereitung der Prozession sollen einige Tage vorher, etwa gegen Ende des vierten Monats, zwei Höllenrichter (判官) in einer Vorprozession durch die Straßen geführt werden, um die Route und Umgebung zu reinigen. Kangwang soll nach Angaben der Regionalbeschreibung der erste Kaiser der frühen Song-Dynastie (420-479, n. u. Z), (420-422) sein, und Mawang der König Mayin (852-930, 马殷) vom Chu-Reich während der Zeit der „Fünf Dynastien und zehn Reiche“. Ibid., 643, im sechsten Monat in Baojing veranstaltete man eine Prozession für den Himmelskönig Di (帝天 王). Ibid., 667, am 11.5. in Cili soll eine Guandi-Prozession stattfinden. Und am 12.6. wurde General Liumeng (刘猛) durch die Straßen getragen, der (in Paul Katzs Studie) in Zhejiang als Marschall Liu bezeichnet wurde, um Schädlinge zu vertreiben. 2 Ibid., 743, im achten Monat im Kreis Dongguan (东莞县); Ibid., 777, im ersten Monat im Kreis Haiyang (海阳县); Ibid., 832, am 15.1. im Kreis Shicheng (石城县); Ibid., 834, am 15.1. in der Präfektur Hua (化州); Ibid., 860, von 1.bis 5. 5. im Kreis Guangning (广宁县). Währenddessen wurden die Statuen der Gottheiten in Drachenboote geladen, d.h. die Prozession fand teilweise auf dem Wasser oder entlang des Flusses statt; und zum Neujahr im Kreis Sihui (四会县). 3 Ibid., 734-5, im achten Monat im Kreis Shayuan (沙源县). 4 Ibid., 734-5, am 13. bis 19.1. im Kreis Shayuan (沙源县). Darüber hinaus fanden in den folgenden Tagen drei Mazu Prozessionen in demselben Kreis jeweils am 13., 16. und 19. statt, die von unterschiedlichen Tempeln organisiert wurden. Siehe auch Ibid., 832, am 9.2. fand im Kreis Shicheng (石城县) eine Mazu-Prozession vom südlichen Himmelspalast (南天宫) statt. Danach folgte ein fünf Tage langes Theater. 5 Beidi (北帝), auch als Oberster Kaiser des dunklen Himmels (玄天上帝) bekannt, ist die personifizierte Gottheit des Nordsterns, die angeblich für die Vermeidung von Hochwasser und für die Orientierung der Schifffahrt zuständig ist. Beidi ist besonders beliebt in den südchinesischen Küstenprovinzen, v.a. im Perlfluss-Delta (in der heutigen Provinz Guangdong), in der Beidi viele Tempel geweiht sind. Siehe Lin, Jinyuan 林进源, Zhongguo shenming baike baodian 中国神明百科 宝典, 335-338. In den Regionalbeschreibungen aus der Provinz Guangdong sind folgende Aufzeichnungen über Beidis Prozessionen auffindbar: Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, zhongnan juan 中国地方志民俗资料汇编·中南卷, 700, am 6.1. und 3.3. in Foshan (佛山); Ibid., 860, am 9.9. im Kreis Guangning (广宁县). 6 Der oben erwähnte Kangwang kann gelegentlich auch in den Prozessionen in der Guangdong Provinz gesehen werden:Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu

96 in den Prozessionen auf. Sogar aus einigen buddhistischen Klöstern trugen die Mönche am 8.4., dem sog. „Buddha-Bad-Fest“ (浴佛节), die Statue von Siddharta Gautama durch die Städte.1 Die Provinz Guangxi (广西), in der viele ethnische Minderheiten beheimatet sind, bildet ebenfalls keine Ausnahme in Bezug auf die Gottbegrüßungsprozessionen. Wie in anderen Provinzen Chinas waren dort die Gottheiten Mazu2, Stadtgötter3 und Beidi4 stark vertreten. Obwohl in der Qing-Zeit die Hainan-Inseln (海南岛) noch unterentwickelt und unwichtig waren, fanden dort auch regelmäßig Gottbegrüßungsprozessionen statt.5 In der Küstenprovinz Shangdong waren alle der sieben dokumentierten Prozessionen dem Stadtgott geweiht. 6 Im Yangtse-Unterlauf scheinen die Prozessionen der Folklorebeschreibung zufolge beim Volk besonders beliebt gewesen zu sein. Die Anzahl der Prozessionen und die Anzahl der geweihten Gottheiten ist jeweils deutlich höher als in anderen Regionen. In der an Shanghai angrenzenden Provinz (江 苏省) sind insgesamt 49 Prozessionen dokumentiert. Unter ihnen sind zwei ziliao huibian, zhongnan juan 中国地方志民俗资料汇编·中南卷, 829, im Frühling im Kreis Maoming (茂名县). 1 Siehe Ibid., 729, im Kreis Ruyuan (乳源县) und Ibid., 754 im Kreis Dapu (大埔县). Siddhartha Gautama wurde dort nicht als „Buddha“, sondern als „Erbprinz“ bezeichnet. Hier ist die einzige gefundene Ausnahme, dass die Klostermönche eine Prozession außerhalb des Klostergeländes veranstalteten. Nach unserer Arbeitsdefinition zählen solche Umzüge nicht zu Gottbegrüßungsprozessionen. Ich wollte nur zeigen, über welches breite Spektrum die lokale religiöse Praxis verfügt. Man kann aber auch die Hypothese aufstellen, dass nicht die institutionalisierten Religionen (wie Buddhismus und Taoismus) die Rituale der Volksreligion beeinflusst haben, sondern dass umgekehrt die Volksreligion die Rituale der institutionalisierten Religionen weitgehend bestimmt haben könnte. Oder anders formuliert, diese Religionen könnten im Zuge ihrer Institutionalisierung viele Elemente der Volksreligion, z.B. Gottheiten, Rituale, aufgenommen haben. 2 Ibid., 994, am 6.6. im Kreis Lingchuan (灵川县); Ibid., 1015-6, am 23.3. im Kreis Pingdong (平东 县); Ibid., 1039, auch am 23.3. in der Präfektur Yulin (郁林州); und Ibid., 1074, am 22. und 23. 3. in der Präfektur Qin (钦州). 3 Ibid., 912, am 24.7. im Kreis Tongzheng (同正县); Ibid., 980, am Qingming-Fest und 15.7. im Kreis Laibin (来宾县); Ibid., 1074, am 28.5. in der Präfektur Qin (钦州). 4 Ibid., 913, am 3.3. im Kreis Tongzheng (同正县); Ibid., 984-6, am 3.3. im Kreis Laibin (来宾县). 5 Ibid., 1117, am Qingming-Fest im Kreis Ding’an (定安县); Ibid., 1120, am 12.1. und am 11.5. die Guandi-Prozession in Wanzhou (万州). 6 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huadong juan 中国地方志民俗资料汇编·华东卷, 102, am 25.3. im Kreis Boshan (博山县); Ibid., 108, am 1.10. im Kreis Teng (滕县): Ibid., 209, am 1.5. im Kreis Wei (潍县); Ibid., 221, am 15.7. in der Präfekur Deng (登州); Ibid., 222, am Qingming-Fest im Kreis Penglai (蓬莱); Ibid., 240, am 15.7. im Kreis Laiyang (莱阳县); Ibid., 288, dreimal jährlich jeweils am Qingming-Fest, 15.7. und 1.10. im Kreis Zizang (滋阳县).

97 Gottheiten in Hinblick auf die Erwähnungshäufigkeit besonders auffällig, nämlich der Stadtgott1 und der Dongyue-Großkaiser (东岳大帝)2. Interessanterweise findet man auch zwei Prozessionen, die sehr buddhistisch gefärbt waren, und zwar eine für Guanyin (观音)3 und eine andere für Siddhartha Gautama (释迦牟尼)4. Außerdem fanden zur gleichen Zeit an vielen Orten eine oder mehrere Prozessionen für mehrere Gottheiten statt, deren Namen nicht ausführlich dokumentiert sind. 5 In den Aufzeichnungen ist keine Spannung oder kein Konflikt zwischen ihnen zu erkennen. In der anderen an Shanghai angrenzenden Provinz Zhejiang ( 浙江省) sind Prozessionen ebenso häufig in den historischen Quellen dokumentiert. 6 Beispielsweise wurde in einer in der Qing-Zeit verfassten Sittenbeschreibung über Hangzhou eine dem Marschall Wen gewidmete Prozession ausführlich aufgezeichnet. Nach ihren Angaben fand regelmäßig am 16. 5. jedes Jahres die Prozession statt, um

1 Ibid., 362, am 1.10. in der heutigen Provinzhauptstadt Nanjing (南京); Ibid., 378-9, am Qingming-Fest im Kreis Wu (吴县); Ibid., 390, am Qingming-Fest im Dorf Zhouzhuang (周庄镇); Ibid., 394, am 4.3. im Kreis Huangdai (黄埭县); Ibid., 421, am Qingming-Fest in Xijing (茜泾); Ibid., 437 und 439, am 3.3., 1.10. im Kreis Shenghu (盛湖县); Ibid., 450, 451 und 452, jeweils am 15.4., 28.5. und 19.9. in Xijin (锡金); Ibid., 458, am 28.3. im Kreis Jiangyin (江阴县); Ibid., 489, dreimal im Jahr in der Stadt Yangzhou (扬州); und Ibid., 499, auch dreimal jeweils am Qingming-Fest, 15.7. und 1.10. in der Präfektur Gua (瓜州). 2 Fast alle Prozessionen des Dongyue-Großkaisers in der Provinz Jiangsu fanden alljährlich am 28.3. (nach dem chinesischen Kalender) statt. Siehe Ibid., 365, im Kreis Liuhe (六合县); Ibid., 372, in Suzhou (苏州); Ibid., 399, ausnahmeweise am 20.7. in Xiangcheng (相城); Ibid., 421, in Xijing (茜泾); Ibid., 437, in Shenghu (盛湖); Ibid., 450, in Xijin (锡金); Der Dongyue-Großkaiser ist angeblich der Gebieter oder Herrscher der Unterwelt. Er war urspünglich die Verkörperung des heiligen Bergs Taishan (泰山). Taishan wurde im Volksglauben als das Reich der Toten angesehen. Deswegen wird der personifizierte Taishan oder Dongyue als der Aufseher der Geister verstanden, der für den Tod und das Leben des Menschen zuständig sein sollte. Im Laufe der Zeit wurden ihm von vielen Kaisern unterschiedliche Titel verliehen. Dongyue ist wahrscheinlich einer der bekanntesten und am häufigsten verehrten Götter im chinesischen Volksglauben. Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰风俗辞典, 169-171, 448-9. 3 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huadong juan 中国地方志民俗资料汇编·华东卷,438, am 17.5. in Shenghu (盛湖). 4 Ibid., 537, am 8.4. im Kreis Xuyi (盱眙县). Unklar ist dennoch, ob diese Prozession von den buddhistischen Mönchen oder von den lokalen Laiengemeinden organisiert wurde. Ich nehme an, dass diese auf den ersten Blick sehr buddhistische Veranstaltung höchstwahrscheinlich nicht unbedingt etwas mit buddhistischen Mönchen zu tun hat, sondern dass sie nur die buddhistischen Figuren und Vorstellungen nutzt. 5 Ibid., 351, in Nanjing (南京); Ibid., 378, im 2. Monat in Kreis Wu (吴县); Ibid., 440, am 15.8. in Lili (黎里); Ibid., 451, am 18.5. in Xijin (锡金). 6 Allein in der oben zitierten Folklorebeschreibung sind 50 Prozessionen aus der Provinz Zhejiang dokumentiert.

98 den Geburtstag Marschall Wens am 18.5. zu feiern.1 Neben dem Sitz des Marschalls Wen, dem Jingde Tempel (旌德观), gab es noch vier Tempel, deren Gottheiten auch als Marschall bezeichnet wurden. Aber nur Marschall Wen nahm an der Prozession teil. Der Umzug setzte sich aus 400 bis 500 Personen zusammen, die zu unterschiedlichen Aufführungseinheiten gehörend auch unterschiedlich gekleidet waren. Wegen der großen Anzahl von Zuschauern brachte die Prozession wirtschaftliche Gewinne. Die Miete der sich direkt an der Prozessionsroute befindenden Geschäfte war um ein Vielfaches gestiegen. Und sogar die Straßenverkäufer verdienten am Tag dreimal so viel wie normalerweise.2 Allgemein betrachtet waren die betreffenden Gottheiten in Zhejiang sogar mannigfaltiger als in der Provinz Jiangsu. Außer dem Stadtgott3 und dem Dongyue-Großkaiser 4 sind in der Folklorebeschreibung zwei weibliche Gottheiten erwähnt, nämlich die heilige Mutter Weifang (卫房圣母 Weifang-Shengmu)5 und die Land-schützende Madame

1 Die Genesis über Marschall Wen ist der des Herrn Yang in Shanghai auffällig ähnlich. Nach Angaben der Sittenbeschreibung ist er ein Absolvent der Kreisbeamtenprüfung der Ming-Zeit gewesen. Eines Tages in der Nacht sah er ein Gespenst, das gerade das Brunnenwasser mit Seuchen vergiftete. Um die Bewohner zu warnen, warf er sich in den Brunnen. Am nächsten Tag wurde seine Leiche, die wegen der Vergiftung schon schwarz geworden war, gefunden und aus dem Brunnen herausgeholt. Die Prozession wurde dann als „Aufräumung von Seuchen“ (收瘟) bezeichnet. Fan, Zushu 范祖述, Hangsu yifeng 杭俗遗风, 15. Offensichtlich kann diese Erzählung nicht erklären, warum er den Militärtitel eines Marschalls erhalten hat. Aber die Geschichte kann als Mustererzählung über die Genesis einer Gottheit in der Volksreligion angesehen werden. 2 Ibid., 15-16. Nach Angaben der Sittenbeschreibung war die Prozession in Hangzhou von der Regierung schon seit langem verboten. Erst in der Guangxu-Zeit (1875-1908) wurde sie wegen häufiger grassierender Seuchen wieder durchgeführt. 3 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huadong juan 中国地方志民俗资料汇编·华东卷, 586, am 1.10. in Hangzhou (杭州); Ibid., 593-4, am Qingming-Fest im Kreis Qiantang (钱塘县); Ibid., 628, am 10.2. im Kreis Shouchang (寿昌县); Ibid., 652, am 3.3. im Kreis Jiaxing (嘉兴县); Ibid., 662-3, am 11.4. im Kreis Haining (海宁县); Ibid., 717, am 15.7. im Dorf Wuqing (乌清镇); Ibid., 746, im Sommer im Kreis Deqing (德清县); Ibid., 752, am 15.5. im Kreis Anji (安吉县); Ibid., 816, jeweils am Qingming-Fest, 15.7. und 1.10. im Kreis Dinghai (定海县); Ibid., 833, am 19.10. im Kreis Zhuji (诸暨县); Ibid., 871, am 16.4. im Kreis Tangxi (汤溪 县); Ibid., 873-4, am 2.2. im Kreis Lanxi (兰溪县); Ibid., 894-5, am Qingming-Fest im Kreis Qu (衢 县); Ibid., 926, am 17.5. im Kreis Xuanping (宣平县); Ibid., 930, im zweiten Monat im Kreis Songyang (松阳县). 4 Ibid., 683, am 28.3. im Kreis Gui’an (归安县); Ibid., 703-4, auch am 28.3. im Dorf Shuanglin (双林 镇); Ibid., 751, am 28.3. im Kreis Anji (安吉县); Ibid., 816, ausnahmsweise am 15.3. im Kreis Dinghai (定海县); Ibid., 836-7, im zweiten Monat im Kreis Shangyu (上虞县). 5 Ibid.,746, im Kreis Deqing (德清县). Die Heilige Mutter Weifang war urspünglich eine der drei Göttinnen der Fruchtbarkeit der Bai-Minderheit (白族) in China. Siehe Jin, Shaoping 金少萍, "Zongjiao wenhua zhong de shehui xingbie jiangou--baizu nvxing yu benzhu chongbai" 宗教文化中 的社会性别建构——白族女性与本主崇拜, in: 中央民族大学学报(哲学社会科学版), Vol. 1, 2008, 78; Weifang ist in vielen anderen Regionen Chinas für die Han-Chinesen als Bixiayuanjun (碧霞元君) ,

99 Shunyi (护国夫人顺懿 Shunyi-Furen)1, die für die Frauen sehr wichtig waren, deren Biographien aber anhand der vorhandenen Quellen nicht genau zu rekonstruieren sind. Darüber hinaus waren zwei andere Gottheiten in Zhejiang besonders beliebt, nämlich der Marschall Wen (温元帅)2 und der Guangong (关公)3. In der Provinz Anhui (安徽) war der Stadtgott4 in den Prozessionen sehr stark vertreten. In der Provinz Jiangxi (江西) sind die Aufzeichnungen über die Gottheiten viel zu ungenau, um die allgemeine Lage zusammenfassen zu können. In der südöstlichen Küstenprovinz Fujian (福建), die in Bezug auf die kommunale Religion und Prozession als die bisher am häufigsten erforschte Region gelten darf, sind neben dem Stadtgott5 viele andere lokale Schutzgottheiten dokumentiert, z. B. Mazu6und

die Tochter des Dongyue-Großkaisers (东岳大帝), bekannt. Sie soll besonders wichtig sein für die weibliche Fruchtbarkeit.Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰风俗辞典, 315-6. 1 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huadong juan 中国地方志民俗资料汇编·华东卷, 933, im Kreis Yunhe (云和县). Shunyi war ein Ehrentitel für Chen Jinggu (陈靖姑), die in vielen Regionalbeschreibungen Fujians dokumentiert wurde. Ihre Gestalt im Volksglauben war ähnlich wie die Mazus. Sie soll die Fähigkeit besitzen, in der Dürrezeit Regen zu bringen und den Frauen Kinder zu schenken. Sie war die zweitbekannteste weibliche Gottheit neben Mazu in Fujian und Taiwan. Siehe Huang, Anrong 黄安榕, "Mintai Chenjinggu xinyang" 闽台 陈靖姑信仰, in: 炎黄纵横, Vol. 5, 2007, 56-57. Ob es sich hier um die ethnische Gruppe handelt, ist unklar. 2 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huadong juan 中国地方志民俗资料汇编·华东卷, 571, am 16.5. in Hangzhou (杭州); Ibid., 916, im zweiten Monat in der Präfkektur Chu (处州); Ibid., 918, am 3.3. im Kreis Lishui (丽水县); Ibid., 930, im zweiten Monat im Kreis Songyang (松阳县); und Ibid., 931, auch im zweiten Monat im Kreis Suichang (遂昌县). Marschall Wen wurde normalerweise als der Aufseher der Unterwelt verstanden. Er soll für den Tod und das Leben der Menschen zuständig sein. In vielen Regionen ist er auch als der General Wen (温将军) und gleichzeitig der Untergeordnete des Dongyue-Großkaisers (东岳大帝) bekannt. Seine Geschichte ist dokumentiert in den Quellen aus der Song-Dynastie. Siehe Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰风俗辞 典, 457-8. 3 Ding, Shiliang ; Zhao Fang 丁世良;赵放 (Hg.), Zhongguo difangzhi minsu ziliao huibian, huadong juan 中国地方志民俗资料汇编·华东卷, 679, am 13.5. im Kreis Wucheng (乌程县); Ibid., 752, am 15.5. im Kreis Anji (安吉县); Ibid., 760, am 13.5. im Kreis Changxing (长兴县). Interessanterweise wird hier Guangong ohne Ausnahme als der Shouting-Herzog der Han (汉寿亭侯) bezeichnet. 4 Ibid., 946, am 15.5. in der Präfektur He (和州); Ibid., 970, am 28.5. im Kreis Susong (宿松县); Ibid., 974, am 15.5. im Kreis Qianshan (潜山县); Ibid., 1015, am 1.5. im Kreis Wuhu (芜湖县); Ibid., 1021, im dritten Monat im Kreis Fanchang (繁昌县); Ibid., 1044, am 18.5. im Kreis Shidai (石埭县). 5 Ibid., 1278 und 1280, am 13.1. und 15.7. im Kreis Xiapu (霞浦县); Ibid., 1298 und 1301, am 15.1. und 15.2. in der Präfektur/dem Kreis Yongchun (永春州/县); Ibid., 1323, am 15.1. im Kreis Pinghe (平 和县); Ibid., 1330, am 10.1. im Kreis Zhangping (漳平县). 6 Ibid., 1255, am 23.3. im Kreis Chong’an (崇安县); Ibid., 1278, auch am 23.3. im Kreis Xiapu (霞浦 县).

100 Baosheng-Großkaiser 1 . Die Prozessionen auf der Insel Taiwan werden in der Folklorebeschreibung nicht ausführlich dokumentiert, doch man kann eine deutliche Orientierung auf die Gottheiten des Festlandes erkennen, z. B. auf den Kaizhang-Shenwang (开漳圣王)2 aus der Zhangzhou-Region Fujians. Generell betrachtet ist festzustellen, dass die Gottbegrüßungsprozession auf keinen Fall ein auf bestimmte Regionen Chinas beschränktes Phänomen darstellte, sondern eine in fast allen Provinzen ausgeübte volksreligiöse Praxis war. Anhand der Quellen lassen sich jedoch einige Tendenzen beobachten: (1) Die Prozessionen wurden in den unterschiedlichen Provinzen geographisch ungleichmäßig ausgeübt. Die Zahl der in den Provinzen Zhejiang (50) und Jiangsu (49) erwähnten Prozessionen ist deutlich höher als die in anderen Provinzen. Ihre Zahl in den Küstenprovinzen, z. B. Shanghai3, Fujian, Guangdong und Guangxi wiederum ist höher als die in den Binnenprovinzen. Dieser regionale Unterschied lässt sich wahrscheinlich auf die jeweilige wirtschaftliche Lage zurückführen: Im Vergleich zu den nord- und nordwestlichen Provinzen war das Yangtse-Flussgebiet im Allgemeinen finanzkräftiger. Seine besseren wirtschaftlichen sowie finanziellen Bedingungen machten es möglich, die kostspieligen Prozessionen häufig und regelmäßig durchzuführen. 4 Eine andere Erklärungsmöglichkeit besteht darin, dass die Religiosität des Volkes tiefgehende wesentliche regionale Unterschiede aufwies. Viele Regionalbeschreibungen fassen die Mentalität und die Bräuche der beschriebenen Regionen mit den Worten zusammen, dass „die Bewohner die illegitimen Tempel schätzen“ (好淫祠) oder „die Bewohner an Hexerei und Geister glauben“ (尚巫鬼)5, um zu zeigen, dass die Einheimischen

1 Ibid., 1235, im Kreis Tong’an (同安县). 2 Er war ursprünglich ein General namens Chen Yuanguang (陈元光) in der Xizong-Zeit (僖宗, 873-888) der Tang-Dynastie, der wegen seiner Leistung der Kolonisierung in der Zhangzhou-Region (漳州) in Fujian bekannt wurde. Nach seinem Tod wurde er vom Kaiser als Schutzgott der Region ernannt. Die Auswanderer aus der Region brachten den Glauben nach Taiwan und bauten zahlreiche Tempel in ihren Siedlungen. Siehe Lin, Jinyuan 林进源, Zhongguo shenming baike baodian 中国神 明百科宝典, 119. 3 Insgesamt 24 Prozessionen werden in dem Folkloresammelband für Shanghai erwähnt. Siehe Tabelle 1: Die Gottbegrüßungsprozessionen in China. Viele von ihnen wurden bereits in den vorherigen Abschnitten genannt, weshalb ich sie hier nicht noch einmal zusammenfasse. 4 Man kann auch die These aufstellen, dass das Yangtse-Gebiet die geschichtliche Entstehungsregion für die Prozession sein könnte. Allerdings lässt sich diese These wegen des Mangels an Quellen nicht beweisen. 5 Wegen der offiziellen konfuzianischen Ideologie haben die Regionalbeschreibungen aus der

101 religiöser waren als die Menschen in anderen Regionen.1 (2) Bei den an den Prozessionen beteiligten Gottheiten gab es ebenfalls wesentliche regionale Unterschiede. Es lässt sich grob sagen, dass es in Südchina, besonders in den Yangtse- und Küstenregionen, mehr Gottheiten gab als in Nordchina und den westlichen Provinzen. Die meisten Gottheiten in Nord- und Westchina, denen die Prozessionen geweiht wurden, hatten die Funktion, Regen zu bringen und Dürre zu besiegen, während die in Ost- und Südchina Epidemien jeglicher Art vermeiden sollten. Der Unterschied lässt sich mit den klimatischen sowie geographischen Bedingungen erklären. Außerdem kann man grob sagen, dass je südlicher die Region ist, desto mehr weibliche Gottheiten waren in den Prozessionen vertreten.

6.6. Gesetzliche Verbote in der Kaiserzeit

Obwohl in den Erinnerungen Lu Xuns die Prozessionen in den 20er bis 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht verboten waren, scheint die damalige lockere Gesetzeslage nur eine Ausnahmephase im vergangenen Jahrtausend gewesen zu sein. In der offiziellen Geschichtsbeschreibung der Jin-Dynastie (1125–1234, n. u. Z.), dem Jin Shi (金史), findet man folgende Aufzeichnung: Im Jahr 1162 schaffte der fünfte Kaiser Wanyan Yong ( 金世宗完颜雍, herrschte 1161-1189) das Prozessionsverbot ab.2 Doch während der darauf folgenden mongolischen Herrschaft waren Prozessionen streng verboten. Dem Strafgesetzbuch der Yuan-Dynastie

Kaiserzeit grundsätzlich eine negative Haltung zur Volksreligion. Aus diesem Grund beschrieben die Verfasser der Regionalbeschreibungen, v.a. lokale Literati, die Volksreligion oft mit pejorativem Wortschatz. Diejenigen Tempel, die nicht offiziell anerkannt und erlaubt waren, wurden als „illegitim“ bezeichnet. Und die Ritualexperten, die weder buddhistische Mönche noch taoistische Priester waren, wurden „Hexe“ genannt. Zu solchen Formulierungen in den Regionalbeschreibungen aus der Umgebung siehe Gao, Rugui ; Wan Yizen 高如圭;万以增 (Hg.), Zhanglian xiaozhi 章练小志, 38, Zhu, Fukun ; Chen Qinglin ; Wan Yizeng 诸福坤;陈庆林;万以增 (Hg.), Dianhu xiaozhi 淀湖小志, 8, Zhou, Houdi 周厚地 (Hg.), Ganshan zhi 干山志, 34,Zhang, Renjing 张人镜 (Hg.), Yuepu zhi 月浦志, 190, Qin, Li 秦立 (Hg.), Songnan zhi 淞南志, 16, Gu, Chuanjin 顾传金 (Hg.), Qibaozhen xiaozhi 七宝镇小志, 10. Die Religiosität wurde später in der Volksrepublik als feudaler Aberglaube (封建迷信) bezeichnet. Viele Historiker weisen darauf hin, dass allgemein betrachtet die Bewohner der Chu-, Wu- und Yue-Region (jeweils des heutigen Mittel- und Unterlaufs des Yangtses) religiöser waren als die in anderen Regionen Chinas. 1 Man muss dabei berücksichtigen, dass diese Erklärung zu einem tautologischen oder ahistorischen Argument führen könnte. Die Religiosität der Bewohner einer Region ist nicht a priori gegeben. Sie könnte auf die geographischen Gegebenheiten und das historische Geschehen zurückzuführen sein. 2 JS, Bd.1, S.125. (金史/本紀/卷六,本紀第六/世宗上/大定二年: „甲戌,除迎賽神佛禁令。“)

102 (1271-1368) gemäß sollte ein Offizier, der eine Prozession organisiert oder veranstaltet, mit Stockhieben bestraft werden.1 In der Ming-Dynastie (1368-1644) war die Gesetzeslage ähnlich wie die aus der Jin- und Yuan-Dynastie. Veranstalter oder Teilnehmer an Prozessionen sollten ebenfalls mit Stockhieben bestraft werden, die Strafe war jedoch höher.2 Die Gesetzessammlung der Ming-Dynastie wurde später von den mandschurischen Herrschern (Qing-Dynastie 1644-1911) weiter benutzt. Das Verbot von Prozessionen richtete sich explizit an zwei Gruppen, nämlich die Veranstalter von Prozessionen und Frauen. In der Gesetzbuchsammlung der Qing-Dynastie ist der folgende Satz deutlich zu lesen: Frauen dürfen nicht im Tempel Weihrauch verbrennen oder an der Prozession teilnehmen.3 Und neben der Gründung von Sekten wurden auch die Organisation und die Durchführung von Prozessionen streng untergesagt.4 Die Gründe für das Verbot von Prozessionen waren vielfältig. Die staatliche ideologische negative Einstellung zur Prozession steht vielleicht nicht im Vordergrund. Ein (chinesischer) Historiker hat die Befürchtungen der Regierung wie folgt zusammengefasst: 1) Prozessionen zogen normalerweise unzählige Schaulustige an, sodass es manchmal zu tödlichen Unfällen beispielsweise durch Massenpaniken kam; 2) die lokalen Kriminellen konnten die Gelegenheit ausnutzen, kriminelle Handlungen,

1 Der Verbrecher musste mit einem Holz- oder Bambusstock 57-mal auf den Rücken oder das Gesäß geschlagen werden, und sein Adjutant 27-mal. Außerdem musste ein Vergehen aktenkundig gemacht werden. Siehe YS, Bd.9, S. 2684. (元史/志/卷一百五, 志第五十三/刑法四/禁令: „諸以非理 迎賽祈禱,惑眾亂民者,禁之。……諸軍官鳩財聚眾,張設儀衞,鳴鑼擊鼓,迎賽神社,以為民 倡者,笞五十七,其副二十七,並記過。“) 2 Die Zahl der Stockhiebe wurde auf 100 verschärft. Siehe SKQS, Bd. 1454, S. 234. (四库全书/集部/ 總集類/明文海/卷一百九: 粧扮神像鳴鑼擊鼓迎神賽會者杖壹百。) Wenn der Verantwortliche des Viertels über eine Prozession informiert war, den Behörden aber nichts darüber berichte, sollte er ebenfalls mit Stockhieben (40) bestraft werden. Siehe GJTSJC, Bd.49, S.59818.(古今图书集成/博物 彙編神異典/神異總部/彙考/明: 若軍民妝扮神像,鳴鑼擊鼓,迎神賽會者,杖一百,罪坐為首之 人。里長知而不首者,各笞四十。其民間春秋義社不在禁限。)Siehe auch BDGJTSJC, 标点古 今图书集成/經濟彙編祥刑典/律令部/彙考/律例 (Bd. 768, S. 7 und Bd. 769, S.5), GJTSJC, Bd.49, S.59818. (古今图书集成/博物彙編神異典/神異總部/彙考/明: 明定私家告天拜斗, 褻瀆神明, 僧道 師巫, 假降邪神及一切迎神賽會禁制.) 3 Siehe SKQS, Bd. 662, S.887. (四库全书/史部/政書類/通制之屬/欽定大清會典則例/卷九十二: 禁 軍民妻女入廟燒香及扮神賽會。) In einigen Provinzen wurde das Verbot der Partizipation von Frauen an Prozessionen besonders betont. Siehe SKQS, Bd. 562, S.300. (四库全书/史部/地理類/都會郡縣之 屬/廣東通志/卷七:禁迎神賽會婦女嬉遊。) 4 Siehe SKQS, Bd. 619, S.498. (四库全书/史部/政書類/通制之屬/欽定大清會典/卷五十五: 誘致愚 民男女擾雜擊鼓鳴金迎神賽會者……嚴行禁止。)

103 z. B. Diebstahl, Prügelei, zu begehen; 3) Die Regierung war der Meinung, dass Prozessionen eine negative Wirkung auf staatliche Steuereinnahmen haben, weil die Prozessionsteilnehmer immer eine große Menge an Geld für Prozessionen ausgeben und aufwenden mussten.1 Es handelte sich also grundsätzlich um Probleme der öffentlichen Ordnung und der staatlichen Steuereinnahmen, für die jede Regierung sorgen muss. Zumindest kann man behaupten, dass die Überlegungen und Bedenken der Regierung nicht unnötig und völlig berechtigt waren. Aber ironischerweise wird trotz aller Verbote in denselben Quellen aus der Ming- und Qing-Dynastie2 über viele Prozessionen in einigen Regionen berichtet, d. h. die strengen Verbote wurden von den lokalen Behörden oder Beamten nicht ernsthaft eingehalten oder waren überhaupt nicht einhaltbar. Sogar der Kaiser selbst wusste unter manchen Umständen nicht, wie er gegen die von seiner Bevölkerung so sehr geliebten Prozessionen vorgehen konnte. Deshalb musste er manchmal kompromissbereit sein. In einer Anweisung an den Militärminister schrieb der Qianlong-Kaiser (乾隆, herrschte 1735-1795): „Die von den unwissenden Bauern (in Sichuan-Provinz) ausgeübten Prozessionen sind ähnlich wie die Opfergabe-Rituale unserer Vorfahren. Sie sollen ausnahmsweise nicht verboten werden, wenn das Verbot zur Störung (des Volkes) führen könnte.“ Trotzdem empfahl Qianlong ihm, ein paar Spitzel hinzuschicken.3 Zum Verstoß gegen das Verbot könnte auch eine gewisse Schwammigkeit des gesetzlichen Wortlautes beigetragen haben. In vielen Gesetzbüchern aus der Ming- und Qing-Dynastie folgt dem Satz des Prozessionsverbots direkt eine Ausnahmeerklärung, die lautet: die volkstümlichen Opfergabe-Rituale im Frühling und Herbst gelten als Ausnahme.4 Das heißt, sie wurden von der Regierung toleriert,

1 Wang, Jian 王健, "Sidian sisi yu yinci: mingqing yilai suzhou diqu minjian xinyang kaocha" 祀典、 私祀与淫祀:明清以来苏州地区民间信仰考察, in: 史林, Vol. 1, 2003, 55-56. 2 BDGJTSJC, 标点古今图书集成/方輿彙編職方典/蘇州府部/彙考/蘇州府風俗考 (Bd. 115, S.25); 古今图书集成/方輿彙編職方典/常州府部/彙考/常州府風俗考 (Bd. 118, S.4); 标点古今图书集成/ 方輿彙編職方典/徽州府部/彙考/徽州府風俗考 (Bd. 123, S.20); und 标点古今图书集成/方輿彙編 職方典/廣德州部/彙考/廣德州風俗考 (Bd. 127, S.25). 3 QSL, Bd.11, S.449. (清高宗纯皇帝实录,卷一百九十) 4„民閒春秋義社祈報者不在此例“. Siehe SKQS, Bd. 662, S. 887. (四库全书/史部/政書類/通制之屬/ 欽定大清會典則例/卷九十二); GJTSJC, Bd. 49, S. 59818. (古今图书集成/博物彙編神異典/神異總

104 anerkannt und sogar gefördert. Deswegen waren solche Rituale völlig legitim und durften nicht durch die lokalen Behörden gestört oder verboten werden. Aber die anerkannten und die gesetzwidrigen Rituale, die v. a. durch die Gottheiten gekennzeichnet wurden, ließen sich praktisch anhand von Form oder Ablauf nicht leicht unterscheiden. Zudem gibt es in den Gesetzbüchern keine klare Definition von Prozessionen oder Opfergabe-Ritualen. Diese gesetzliche Ausnahmeerklärung führte dazu, dass die lokalen Beamten faktisch nichts unternehmen konnten, wenn sich die Prozessionen als traditionelle Opfergabe-Rituale bezeichneten. Eine kaiserliche Anweisung an den Gouverneur der Provinz Jiangxi kann die Tendenz solcher intendierten Verschmelzungen beweisen. Der Qianlong-Kaiser schrieb: „Die Opfergabe-Rituale im Frühling und Herbst sind natürlich nicht verboten. Aber aus diesem Grund sind Prozessionen heutzutage eine Unsitte geworden. Die Opfergabe-Rituale dürfen deswegen forthin nicht über die Gemeindegrenzen hinaus, sondern nur innerhalb der jeweiligen Gemeinden durchgeführt werden. Eine Gottheit darf nicht von mehreren Dörfern gleichzeitig verehrt werden, um mögliche Konflikte (zwischen den Dörfern) zu vermeiden.“1 Ob die ausführliche Anweisung in der alltäglichen politischen Praxis von lokalen Behörden und niedrigrangigen Beamten wirklich strikt befolgt wurde, wissen wir nicht. Aber zumindest verrät sie uns zwei andere Probleme von Prozessionen, die dem Kaiser Sorge machten: Prozessionen wurden allgemein so sehr von der Bevölkerung geschätzt, dass sie für die Gemeinden sowohl eine prestigebringende als auch eine unter Umständen prestigeabträgliche Veranstaltung sein konnte. Wenn eine Prozession ohne Ankündigung oder Benachrichtigung in die Nachbargemeinde hineinläuft, dann wird sie als Provokation angenommen; Wenn zwei oder mehrere Gemeinden gleichzeitig an einer Prozession teilnehmen, befinden sie sich in einer konkurrierenden und höchst angespannten Beziehung, weil jede durch die Schönheit und das Ausmaß des Umzuges den anderen besiegen und seinen eigenen Ruf

部/彙考/明); BDGJTSJC, 标点古今图书集成/經濟彙編祥刑典/律令部/彙考/律例 (Bd. 768, S. 7 und Bd. 769, S. 5). 1 QSL, Bd.12, S. 330. (清高宗纯皇帝实录,卷二百五十七).

105 bewahren will. In diesen Fällen könnten im Prinzip durch Kleinigkeiten oder Reibereien jederzeit unerwartete Konflikte ausgelöst werden. Es war für die lokalen Beamten keine leichte Aufgabe, die Prozessionen zu verhindern, bevor sie starteten. In einem Bericht an den Guangxu-Kaiser (光绪, herrschte 1871-1908) warf der Gouverneur (卞宝第, Bian Baodi, 1825-1893) der Provinz Hunan dem Kreisvorsteher Changshans vor, dass er bei einer Prozession nicht richtig verfahren sei, sodass die Bauern sich am Amtssitz sammelten und demonstrierten. Der Kreisvorsteher Li (李宗莲) stand deswegen unter Beobachtung.1 Das heißt, wenn man das Verbot von Prozessionen in der Praxis starr befolgte, konnte man sogar ein noch größeres Problem bekommen. Für die lokalen Beamten waren Konflikte zwischen den Bauern und der Regierung offensichtlich schlimmer als die zwischen den Bauern, weil wie oben angedeutet, die erste Art des Konflikts sie ihren Amtstitel kosten konnte. Diejenigen Beamten, die die Intention der Kaiser und der Gesetzgeber richtig verstanden haben, wussten, dass es manchmal besser ist, nichts gegen Prozessionen zu unternehmen, anstatt sie kompromisslos zu unterdrücken. Dies kann wiederum erklären, warum trotz aller gesetzlichen Verbote Prozessionen in der Kaiserzeit immer wieder häufig zu sehen waren.

6.7. Forschungsgeschichte und Problematik

Die Forschung über die Prozessionen in China sowohl in westlichen als auch in chinesischen wissenschaftlichen Diskursen ist bisher vereinzelt und ungenügend. Die Gründe dafür sind m. E. folgende: Erstens sind Prozessionen nicht als ein selbstständiges religiöses Phänomen, sondern als eine untergeordnete volksbelustigende Aktivität innerhalb des Tempelfestes betrachtet worden. Das heißt, die religiöse Eigenschaft der Prozession in China wird von den Religionswissenschaftlern bis heute nicht allgemein anerkannt. Stattdessen sind einige Studien in Nachbardisziplinen, z. B. Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Kulturanthropologie, durchgeführt worden, die rein deskriptiv sind. Zweitens, und in

1 QSL, Bd. 54, S. 964. (清德宗景皇帝实录,卷二百十).

106 seiner Wirkung wesentlich tiefer und langfristiger, wurden meiner Meinung nach die kommunale Religion Chinas und deren Rituale oft vernachlässigt. Der Grund liegt an bestimmten Termini und darauf basierend einer Kategorisierung chinesischer Religion, die v. a. auf Religionsforschungen zurückgehen, die ihrerseits auf die europäische Religionsempirie bezogen sind. Die Kommunalreligion wird oft als eine synkretistische oder degenerierte Form der drei Lehren, nämlich des Konfuzianismus, des Taoismus und des Buddhismus angesehen.1 Drittens führen die beiden oben erwähnten Probleme zu einer Verwechslung der Begriffe in der Volksreligionsforschung. Gottbegrüßungsprozessionen werden häufig mit anderen Veranstaltungen - z. B. Jahrmarkt, Tempelfest -, die ohne feierliche Umzüge stattfanden oder keine Bezüge zu den volksreligiösen Gottheiten hatten, verwechselt. Die bisherigen Studien über Gottbegrüßungsprozessionen in China können grundsätzlich in zwei Teile aufgeschlüsselt werden, die jeweils durch eigene Forschungsmethoden und -Quellen charakterisiert sind. Der erste Teil der Studien wird überwiegend von Historikern bzw. Sinologen durchgeführt, die geschichtliche Dokumente, v. a. Regionalbeschreibungen, als Primärquellen verwenden. Der zweite Teil wird von Anthropologen, Ethnologen und Soziologen betrieben, deren Hauptmethode die teilnehmende Beobachtung ist. Die Problematik der beiden Forschungsrichtungen ist leicht bemerkbar: Für die Historiker sind die Regionalbeschreibungen und auch andere historische Quellen über Prozessionen meistens sehr kurz. Den historischen Dokumenten fehlen zumeist ausführliche und detaillierte Beschreibungen. Die einzige in einer Monographie erschienene systematische Studie über die Prozession ist Die Studie über Volksglaube in Shanghai (上海民间信仰研究) der Historikerin Fan Yin. Das vierte Kapitel des Buches ist dem Thema „Volksprozessionen in Shanghai und ihre gesellschaftliche Funktion“ gewidmet.2 In

1 Ironischerweise wurde die Religionspolitik Chinas seit Anfang des 20. Jahrhunderts im tiefsten Sinne von diesem Religionsverständnis beeinflusst, sodass die Volksreligion und ihre Tempel als „feudalistischer Aberglaube“ (feudalistic superstition, 封建迷信) bezeichnet und in unterschiedlichen politischen Kontexten diskriminiert, unterdrückt oder verboten worden sind. 2 Fan, Ying 范荧, Shanghai minjian xinyang yanjiu 上海民间信仰研究, 283-329.

107 den drei Teilen des Kapitels hat Fan sich jeweils mit „den Typen und Formen der Volksprozessionen“, mit „Organisation und Kostensammlung der Volksprozessionen“ und „Sozialfunktionen der Volksprozessionen“ auseinandergesetzt. Volksreligiöse Prozessionen werden in dieser Studie zum ersten Mal als ein eigenständiger Forschungsgegenstand bestimmt. Trotz ihrer Pionierarbeit sind die Schwächen dieser Studie deutlich erkennbar: 1) Die Definition von Prozession ist m. E. unklar und irreführend. Nach ihrer Definition kann man eine Unterscheidung zwischen sog. „sitzenden Versammlungen“ und „laufenden Versammlungen“ machen. Aber die sitzenden Versammlungen sind nichts anderes als Tempelfeste oder Jahrmärkte. 1 2) Aufgrund der Begrenztheit der verwendeten Regionalbeschreibungen wird kein einziger konkreter Ablauf der Prozession rekonstruiert, sodass die Analyse von Prozessionen zwar umfangreich, aber nicht tiefgehend ist.2 3) Die Prozessionen werden nicht im gesellschaftlichen Kontext betrachtet. Die äußeren Bedingungen der Prozessionen bzw. die negative Stellungnahme von Gebildeten und das gesetzliche Verbot durch lokale Behörden seit mehreren Jahrhunderten werden vernachlässigt. Als Folge wird die Spannung zwischen der politischen Macht und den religiösen Motivationen nicht beleuchtet, obwohl die wirtschaftlichen Aspekte der Prozession sehr gut behandelt werden. Außer der Studie von Fan Yin gibt es bisher nur vereinzelt wissenschaftliche Aufsätze, die die Gottbegrüßungsprozession aus rein historischem Interesse unsystematisch behandelt haben. Ein Blickwinkel ist die gesellschaftliche Transformation. 3 Ein

1 Siehe Ibid., 290-291. Nach meiner Arbeitsdefinition darf nur die sog. laufende Versammlung als eine Gottbegrüßungsprozession angesehen werden. Die sitzende Versammlung führt keinen Umzug durch, sodass ihre Bezugnahme zur Gottheit deswegen unwahrscheinlich ist. Fans Definition könnte wieder zur Verwechslung des Forschungsgegenstandes führen. In einer Fußnote (S. 283) hat Fan eine Erklärung zur Definition gegeben, in der sie eine Zweiteilung zwischen „Volksgottheiten“(民间俗神) und „buddhistisch-taoistischen Gottheiten“ (佛道神灵) unternimmt. Ihrer Meinung nach bezieht sich die Volksprozession nur auf diejenigen Veranstaltungen, die Volksgottheiten verehren. Abgesehen davon, dass die von Fan verwendete Terminologie religionswissenschaftlich inakzeptabel ist, ist diese Unterscheidung in der volksreligiösen Praxis ebenso problematisch, weil die Gottheiten allein durch deren Gestalten und Erscheinungen nicht leicht zu identifizieren sind. 2 Religionswissenschaftlich betrachtet ist Fans Studie so gut wie eine Sammlung und Bearbeitung von historischen Quellen. Es wurde keine theoretische Frage gestellt, obwohl sie am Ende des Kapitels versucht, die Funktionen der Volksprozessionen zu beleuchten. 3 Li, Xuechang ; Dong Jianbo 李学昌; 董建波, "Ershi shiji shangbanye yingshen saihui shuailuo yinsu qianxi" 20 世纪上半叶杭县迎神赛会衰落因素浅析, in: 华东师范大学学报(哲学社会科学版), Vol. 39/5, 2007, 49-53.Gestützt auf regionale Quellen aus den umliegenden Bezirken Hangzhous, der

108 anderer Blickwinkel der historischen Forschung ist der Konflikt zwischen der chinesischen Tradition und ausländischen Religionen, v. a. dem Christentum.1 Der dritte Blickwinkel wird aus dem Interesse der Wirtschaftsgeschichte abgeleitet, d. h. Prozessionen werden als ein bedeutender Anlaß zur Entwicklung der Märkte und des Konsums betrachtet. 2 Darüber hinaus werden Prozessionen auch als eine der wichtigsten Unterhaltungsangelegenheiten in der traditionellen chinesischen Gesellschaft angesehen. 3 Ganz wenige Studien schenken dem organisatorischen Aspekt der Prozessionen Aufmerksamkeit.4 Die Spannung zwischen der Regierung

Hauptstadt der Provinz Zhejiang, haben die Historiker eine merkwürdige Abnahme der Prozessionen von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren des 20. Jahrhundert entdeckt. Nach ihrer Meinung lässt sich die Abnahme der Prozessionen auf ein Zusammenwirken der radikalen gesellschaftlichen Transformationen zurückführen. Erstens wurde nach der nationalistischen Revolution und der Begründung der nationalistischen Regierung in Nanjing in den 20er Jahren eine politische Bewegung gegen den sog. „religiösen Aberglauben“ hervorgerufen, die die Prozessionen wegen ihres Aufwands und der Verbreitung des Aberglaubens allgemein verbot. Weiterhin mussten die volksgläubigen Tempel gemäß der in den 30er Jahren dekretierten Vorschrift über den Bestand der Tempel geschlossen oder in ein öffentliches Gebäude, z. B. eine Schule, umfunktioniert werden. Zweitens erlitten die Mäzene und Großspender der Prozessionen, die Gentryschicht, einen Verfall im Modernisierungsprozess, während die neu entstandenen Patriziate, v. a. bürgerliche Geschäftmänner und Intellektuelle, wegen ihrer von den westlichen Naturwissenschaften beeinflussten Bildung und Weltanschauung die Prozessionen grundsätzlich ablehnten. Drittens geriet die traditionelle Kleinindustrie der Seidenproduktion der Region, deren Einkommen die Hauptquellen der Prozessionen gewesen war, zu dieser Zeit in eine Krise, sodass sich die finanziellen Bedingungen der jeweiligen Tempelgemeinden und -Organisationen unvermeidlich verschlechterten. 1 Zhao, Yingxia 赵英霞, "Xiangtu xinyang yu yiyu wenhua zhi jiuge-cong yingshen saishe kan jindai shanxi minjiao chongtu" 乡土信仰与异域文化之纠葛——从迎神赛社看近代山西民教冲突, in: 清 史研究, Vol. 2, 2002, 68-75. Mit einigen Beispielen aus der Provinz Shanxi in der späten Qing-Zeit hat die Historikerin bewiesen, dass die im 19. Jahrhundert neu zum Christentum konvertierten Chinesen die vorher homogenisierte Identitäts- und Religionslandschaft der Region gründlich veränderten. Die Konflikte zwischen der christlichen und der volksreligiösen Gemeinde wurde in den Prozessionen zugespitzt, indem die Christen ablehnten, den Prozessionsbeitrag zu zahlen. Dies rief den gegenseitigen Hass zwischen beiden Seiten hervor, der sich im Boxer-Aufstand brutal entlud. Ein anderes Beispiel siehe Wen, Qinhu 温钦虎, "Cong jindai jiao'an kan jidujiao he zhongguo shehui xisu de chongtu" 从近代教案看基督教和中国社会习俗的冲突, in: 甘肃社会科学, Vol. 3, 2000, 47-48. 2 Yu, Deyu 余德馀, "Gudai shaoxing de shizhen he jishi" 古代绍兴的市镇和集市, in: 绍兴文理学 院学报, Vol. 4, 1994, 24ff; Zhao, Jianqun 赵建群, "Shisu mingqing fujian diqu shechixing xiaofei fengshang de diyu biaoxian" 试述明清福建地区奢侈性消费风尚的地域性表现, in: 福建师范大学 学报(哲学社会科学版), Vol. 6, 2004, 117-8; 3 Gong, Baoli 宫宝利, "Qingdai minjian choushen yanxi yu shequ wenyu huodong" 清代民间酬神 演戏与社区文娱活动, in: 天津师范大学学报(社会科学版), Vol. 2, 1999, 4 Die einzige bisher erschienene Studie darüber ist Xiao-Tian 小田, "Shequ chuantong de jindai mingyun- yi suzhou 'qionglong lao hui' wei duixiang de lian yanjiu" 社区传统的近代命运——以苏 州“穹窿老会”为对象的例案研究, in: 历史学研究, Vol. 6, 2002, 141-147. die eine siebenjährliche Prozession namens Qionglong-Laohui (穹窿老会) in Suzhou als ein Beispiel der Transformation der traditionellen Gemeinde Chinas erforscht. Die Konflikte um die Ausübung und das Verbot der Prozession in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt dieser geschichtswissenschaftlichen Studie. Der Autor hat verdeutlicht, dass der Veranstalter der Prozession (段头) eine zentrale Rolle bei der Verhandlung mit zwei lokalen prozessionsfeindlichen Verbänden

109 und der Prozession wurde auch selten behandelt.1 Im Gegensatz zur historischen Methode haben die Anthropologen, Ethnologen und Soziologen den großen Vorteil, in der Feldforschung persönlich vor Ort die Prozession direkt beobachten und mit technischen Ausrüstungen den gesamten Ablauf dokumentieren zu können. Aber wenn man nur kurzzeitig an einer Prozession teilnimmt, kennt man nur die sichtbare Erscheinungsform einer Prozession, z. B. den feierlichen Umzug innerhalb der festgesetzten Tage. Viele wichtige Aspekte, wie organisatorische Angelegenheiten, Finanzierungsformen, der Unterhalt von Tempeln etc., die bei der teilnehmenden Beobachtung nicht sichtbar sind, werden wahrscheinlich vernachlässigt. Ein erwähnenswertes Beispiel der Teilnahmebeobachtung von westlichen Wissenschaftlichern ist das Buch Taoist Ritual and Popular Cults of Southeast China von Kenneth Dean, in der der Autor zwei Mal Feldforschungen in der südöstlichen Küstenprovinz Fujian durchführte. 2 Leider hat seine Ausgangsfrage, nämlich inwiefern die taoistischen Rituale als ein Strukturelement die Feste der lokalen Gottheiten unterstützen, weitgehend verhindert, die volksreligiösen Veranstaltungen zu verstehen.3 Ein anderes Beispiel der teilnehmenden Beobachtung findet man im spielte. Deswegen wird der Veranstalter der Prozession als Meinungsführer (opinion leader) der Gemeinde bezeichnet. Also konzentriert sich der Autor in der zweiten Hälfte der Studie mehr auf die Maßnahmen gegen prozessionsfeindliche Verbände, die den Bauern von der Prozession abraten wollten. 1 Siehe Wang, Jian 王健, "Sidian sisi yu yinci: mingqing yilai suzhou diqu minjian xinyang kaocha" 祀典、私祀与淫祀:明清以来苏州地区民间信仰考察, in: 史林, Vol. 1, 2003, 50-56. Der Historiker macht eine Unterscheidung zwischen drei Typen von religiösen Häusern und Gottheiten in der Umgebung Suzhous in der Kaiserzeit je nach der Anerkennung von der Regierung, nämlich den vom Staat anerkannten, privaten und illegale (祀典, 私祀, 淫祀). Die überwiegenden in den Prozessionen verehrten Gottheiten gehörten zu der dritten Kategorie, und wurden deswegen von der Regierung verboten. Aber der Autor hat auch darauf hingewiesen, dass das Verbot in der Praxis nicht leicht befolgt werden konnte. Im Gegenteil wurden viele Prozession von den lokalen Behörden toleriert. Sogar langfristig gesehen wurden einige ursprünglich illegale Gottheiten in der staatlich anerkannten Pantheon-Liste aufgenommen, damit die Regierung die Rituale besser regulieren und kontrollieren konnte. Ein anderer Historiker hat die Anwesenheit Krimineller während der Prozession in Anhui Provinz in der Kaiserzeit berücksichtigt. Siehe Bian, Li 卞利, "Mingdai huizhou de dipi wulai yu huizhou shehui" 明代徽州的地痞无赖与徽州社会, in: 安徽大学学报(哲学社会科学版), Vol. 5, 1996, 32. 2 Siehe Dean, Kenneth, Taoist Ritual and Popular Cults of Southeast China, Kapitel 3. Das Kapitel enthält die zwei ausführlichen Beschreibungen der Feldforschungen, die jeweils 1986 und 1987 im Dorf Penglai des Kreises Anxi stattfanden. Die Prozessionen wurden dem Patriarch des reinen Wassers (清水祖师) gewidmet. Ob der Patriarch zu den taoistischen Gottheiten zählen darf, ist strittig. 3 Dean benutzt das Wort „Taoist liturgical framework“, um die Reglementierungsfunktion der taoistischen Rituale in der lokalen volksreligiösen Praxis, v. a. in den Festen, zu betonen. Dean zufolge

110 Kapitel „official and local cults“ in Feuchtwangs Studie.1 Der Autor bringt einige Thesen über die Prozession in China vor. Zum Beispiel behauptet er, dass die gesamte Landschaft des chinesischen Kaiserreichs in territoriale Kulte eingeteilt werden könne.2 Er deutet auch darauf hin, dass die regionalen Kulte, wie die der Stadtgötter, die Spannung zwischen der offiziellen Interpretation und der des Volkes in sich einschließen sollen. 3 Auch richtet er seine Aufmerksamkeit richtig auf die organisatorischen Elemente der Prozession, nämlich die Machtstruktur eines Dorfes und die lokalen Eliten.4 Darüber hinaus ist er der Meinung, dass die volksreligiösen Feste, wie die Prozessionen, die vereinfachte Form des taoistischen Rituals „Jiao“ (醮) seien. 5 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kurzzeitige teilnehmende Beobachtung dazu führt, dass die Anthropologen und Soziologen nur auf wenige Ritualspezialisten (in diesem Fall taoistische Priester) und den Ablauf des Festes achten. Die langfristigen Aspekte jedoch, besonders die bedeutende Rolle der Laiengemeinde, die höchstwahrscheinlich eine führende Organisations- und

soll also gewissermaßen das taoistische Ritual als ein Muster für die volksreligiösen Feste fungieren. Ibid., 14. Aus diesem Verständnis heraus ist die Studie auf die schriftliche Tradition des Taoismus in der Region und die Funktion der taoistischen Priester innerhalb der Rituale fokussiert. Dean behauptet, dass die Anwesenheit von taoistischen Priestern und die Durchführung der taoistischen Rituale bei einem volksreligiösen Fest unentbehrlich (indispensable) seien, obwohl die lokalen Kultgruppen äußerst autonom sein konnten. Abgesehen davon, dass er keine operationalisierte Definition von „taoistisch“ oder „Taoismus“ gegeben hat, ist der Standpunkt selbst im Hauptteil des Buches leider nicht haltbar. Im dritten Kapitel hat der Autor dokumentiert, dass während des Festes am 6.1. buddhistische Mönche und taoistische Priester gleichzeitig eingeladen werden, um die Eröffnungszeremonie zu feiern und anschließend den Umzug zu begleiten. Dramatischerweise wurden einige Priester und Mönche von der lokalen Polizei kurzzeitig verhaftet. Der feierliche Umzug und die gesamte Veranstaltung liefen jedoch problemlos weiter. Dean, Kenneth, Taoist Ritual and Popular Cults of Southeast China, 105ff. Die Anwesenheit von buddhistischen Mönchen wird vom Autor ignoriert. Ansonsten müsste „die buddhistische Liturgie“ auch in solchen Festen eine wichtige Rolle spielen. Dean zog in seiner Zusammenfassung die Schlussfolgerung, dass die taoistischen Priester ein liturgisches Gefüge (liturgical framework) bieten, damit die unterschiedlichen Sozialgruppen ihre eigene Stelle in den Ritualen der Gemeinschaft finden. Dean, Kenneth, Taoist Ritual and Popular Cults of Southeast China, 179. Aber m. E. sind die Argumente nicht ausreichend, um dies endgültig zu beweisen. 1 Feuchtwang, Stephan, Popular Religion in China: The Imperial Metaphor, 63-95. Der Autor bezeichnet die Veranstaltung als “competitive procession assemblies for greeting spirits”. Diese wörtliche Übersetzung aus dem chinesischen Wort “yingshen saihui” (迎神赛会) hat m. E. die Bedeutung des Wortes teilweise falsch interpretiert. „Saihui“ hat keine wörtliche Konnotation wie „Wertbewerb“ im klassischen Chinesisch. Siehe 6.1. 2 Ibid., 65. 3 Ibid., 67. 4 Ibid., 68-69. 5 Ibid., 71. Diese These ist m. E. nicht überzeugend. Hier scheint es, dass die Kommunalreligion als eine degenerierte oder synkretisierte Form der institutionalisierten Religion angenommen wird. Dies ist mit seiner Quelle aber nicht nachzuweisen.

111 Finanzierungsfunktion bei der Prozession hatte, steht nicht im Mittelpunkt der Feldforschung. Die meisten Feldforschungen über die Prozession sind seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der südostlichen Provinz Fujian oder in Taiwan durchgeführt worden, während die überwiegenden historischen Studien sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrieren. Man muss bekennen, dass die bisherigen Forschungsregionen, nämlich Fujian und Taiwan,1 geographisch sehr begrenzt sind und mit ihnen kein Überblick über den ganzen chinesischen Kulturraum gewonnen werden kann. Außerdem besteht eine zeitliche Lücke zwischen der Kaiserzeit und der Gegenwart. Die Ausübung von Prozessionen war auf dem chinesischen Festland ab 1949 wegen der herrschenden atheistischen Ideologie erschwert. Erst ab den 80er Jahren des 20. Jahrehunderts tauchten einige Aufsätze im Namen der Ethnologie auf, die auf den Erinnerungen der damaligen Prozessionsteilnehmer oder -zuschauer basierten. Sie könnten als eine Ersatzform der teilnehmenden Beobachtung nützlich sein, obwohl die Prozessionsteilnehmer und -zuschauer keine geschulten oder gebildeten Wissenschaftler sind. Die überwiegende Mehrzahl der Aufsätze2 dieser Art legen großen Wert auf die ausführlichen Beschreibungen der feierlichen Umzüge. Diese Artikel haben also kaum berücksichtigt, wie die Tempelkomitees und Laiengemeinden im Alltag funktionierten. Trotzdem sind bedeutsame Spuren von

1 Sowohl in Fujian als auch in Taiwan wird der Minnan-Dialekt (闽南) gesprochen. Kaum eine Untersuchung zur Prozession geht über die Minnan-Dialektsregion hinaus. Ich persönlich finde es problematisch, weil man die riesigen regionalen Unterschiede und die Einflüsse der Dialekte berücksichtigen muss, wenn man ein solches Thema wie Prozession behandelt. 2 Siehe Lü, Shaoquan ; Tang Zonglong 吕绍泉;唐宗龙, "Sanyuesan 'Taizi hui'" 三月三‘太子会’, in: 浙江民俗, Vol. 2, 1982, 23-24. Die Prozession am 3. des dritten Monats (nach dem chinesischen Kalender) wurde dem Drachenprinz gewidmet, der Krankheiten des Volkes heilen können soll. Außerdem hat der Aufsatz erwähnt, dass ein sog. „Prinzverband“ (太子会) aus 20 jungen Männern fürs Tragen der Sänfte des Drachenprinzen im Umzug zuständig sein soll; Ye, Dabing 叶大兵, "Wenzhou de teshu fengsu-- lanjiefu" 温州的特殊风俗——拦街福, in: 浙江民俗, Vol. 3, 1983, 15. Die am 3. des dritten Monats (nach dem chinesischen Kalender) stattfindende Dongyue-Prozession in Wenzhou (温州) dauerte 10-20 Tage. Verehrt wurde Marschall Wen, der ein Unteroffizier des Dongyue (der Gottheit des Tai-Berges) gewesen sein soll; Zou, Songshou 邹松寿, "Yuyao miaohui diaocha" 余姚庙 会调查, in: 浙江民俗, Vol. 2, 1987, 1-9. Der Aufsatz hat mehr als 50 unterschiedliche Prozessionen in der Umgebung von Yuyao (余姚) aufgezählt. Zur Finanzierung der Prozession und Unterhaltung der betreffenden Tempel mussten Vorstände gebildet werden. Manche Tempel hatten eigenes Land, dessen Pacht zur Finanzierung der Prozession oder Unterhaltung des Tempels benutzt wurde. SieheZou, Songshou 邹松寿, "Yuyao miaohui diaocha" 余姚庙会调查, in: 浙江民俗, Vol. 2, 1987, 7.

112 Prozessionen in diesen Aufsätzen dokumentiert. Ein Aufsatz weist darauf hin, dass die lokalen Handelskammern und Gilden eine wichtige finanzielle Rolle bei der Prozession in einer südchinesischen Stadt spielten.1 Seit der Durchführung der Reform- und Öffnungspolitik in den 80er Jahren sind sowohl die atheistische Ideologie als auch die Kontrolle von Prozessionen lockerer geworden. In vielen Provinzen, besonders in Südchina, finden heutzutage wieder Prozessionen statt, die für die wissenschaftliche teilnehmende Beobachtung wieder zugänglich sind.2 Um die zeitliche Lücke zwischen der historischen Forschung aus der Kaiserzeit und der gegenwärtigen teilnehmenden Beobachtung zu füllen, habe ich als Forschungszeitraum die Republikzeit ausgesucht, in der eine radikale gesellschaftliche Transformation stattfand. Besonders bemerkenswert ist, dass die ausgewählten Fallbeispiele, die in den folgenden Kapiteln ausführlich dargestellt werden, mehr oder weniger in einer Konfliktsituation stehen, die ganz anders ist als der alltägliche Normalzustand. Die Ausnahmezustände können uns einen Querschnitt der Prozession einschließlich ihrer organisatorischen Struktur bieten, der sich den Religionswissenschaftlern bei Betrachtung lediglich des Normalzustands nicht erschließen würde. Damit sollen die Nachteile der zwei bisherigen oben erwähnten Forschungsmethoden vermieden und ein völlständiges Bild über die Prozession ans Licht gebracht werden.

1 Wang, Genfa 王根法, "Jiangyan yingshen saihui" 姜堰迎神赛会, in: 东南文化, Vol. 2, 1995, 96. Am 28.3. jedes Jahres vor 1945 wurde in Jiangyan (姜堰) der Provinz Jiangsu mehreren Gottheiten eine festliche Prozession gewidmet. Die lokalen Heimatverbände und Gilden finanzierten eigene Aufführungseinheiten im Prozessionsumzug. Sogar die Reihenfolge der jeweiligen Einheiten wurde durch die finanziellen Beiträge der Heimatverbände und Gilden bestimmt. Selbst die Prozessionsroute muss den Sponsoren, v.a. Heimatverbände und Gilden, in Rechnung gestellt werden. Wang, Genfa 王 根法, "Jiangyan yingshen saihui" 姜堰迎神赛会, in: 东南文化, Vol. 2, 1995, 100. 2 Gan, Mantang 甘满堂, "Minhouxian fuzhu taishangong yingshen saihui diaocha" 闽侯县傅筑泰山 宫迎神赛会调查, in: 民俗研究, Vol. 2, 2004, 86-98. Der Soziologe hat eine Feldforschung in der Nähe von Fuzhou (福州), der Hauptstadt der Provinz Fujian durchgeführt, bei der er die jährliche Prozession des Taishan-Palastes (泰山宫) am 13. des zweiten Monats nach dem chinesischen Kalender direkt vor Ort beobachtete. Nach seinen Angaben wird die Prozession abwechselnd von drei Dörfern organisiert. Außerdem gibt es einen Tempelrat, der in der Normalzeit aus 18 alten Männern mit großem Ansehen aus den drei Dörfern und in der Prozessionszeit aus 100 Männern besteht. Für die Prozession im Jahr 2002 wurden 23.600 Yuan (RMB) gesammelt. Davon wurde 18.800 Yuan für die Prozession und die anschließenden Theaterstücke ausgegeben.

113 6.8. Anhang: Karten und Tabellen

Tabelle 1: Die Gottbegrüßungsprozessionen in China

Provinz Gottheit Datum1 Quelle Jahr Sammelband Seite

Ding Shiliang;Zhao Fang, Liaoning Guandi 13.5 新民县志 1926 53 1997a

Liaoning Stadtgott 10.5 海城县志 1937 Ibid. 76

Liaoning Stadtgott Qingming/15.7/1.10 海城县志 1937 Ibid. 81-82

Liaoning Drachenkönig unregelmäßig 海城县志 1937 Ibid. 83

Liaoning Drachenkönig unregelmäßig 桓仁县志 1930 Ibid. 91

Liaoning Stadtgott Qingming/15.7/1.10 铁岭县志 1933 Ibid. 115

Liaoning Yaowang 28.4 凤城县志 1921 Ibid. 177

Liaoning Stadtgott 1.5 义县志 1931 Ibid. 207

Jilin Stadtgott Qingming 吉林通志 1891 Ibid. 251

Jilin Stadtgott Qingming 安图县志 1929 Ibid. 296

Jilin Stadtgott Qingming/15.7/1.10 怀德县志 1929 Ibid. 345

Jilin ? unregelmäßig 龙城旧闻 1919 Ibid. 392

Jilin ? unregelmäßig 呼兰县志 1920 Ibid. 412

Jilin Drachenkönig unregelmäßig 双城县志 1926 Ibid. 426

Drachenkönig/ Jilin unregelmäßig 绥化县志 1920 Ibid. 444 Guandi

Jilin ? unregelmäßig 望奎县志 1919 Ibid. 458

Jilin ? unregelmäßig 安达县志 1936 Ibid. 467

Jilin ? unregelmäßig 宝清县志 1975 Ibid. 487

Jilin ? unregelmäßig 瑷珲县志 1920 Ibid. 499

Ding Shiliang;Zhao Fang, Beijing Stadtgott Qingming/15.7/1.10 延庆县志 1742 17 1997b

Beijing Stadtgott 26.4 顺义县志 1915 Ibid. 20

Beijing Stadtgott Qingming/15.7 通州志 1879 Ibid. 27 天津县县 Tianjin Stadtgott Qingming/6-6.4/1.10 1870 Ibid. 48 续志 天津县县 Tianjin Mazu 20/22.3 1870 Ibid. 48 续志

Hebei Stadtgott Qingming 龙门县志 1712 Ibid. 138

Hebei Stadtgott 2.3 怀来县志 1882 Ibid. 140

1834/ Hebei Stadtgott Qingming/15.7/1.10 万全县志 Ibid. 207 1745

Hebei Stadtgott Qingming 永平府志 1774 Ibid. 225

Hebei Stadtgott 3.3/15.7/1.10 昌黎县志 1933 Ibid. 232

1 Alle Daten in dieser Tabelle werden nach dem chinesischen Kalender dokumentiert.

114 Hebei Stadtgott 1.10 青河县志 1936 Ibid. 286

Hebei Stadtgott 15.7 固安县志 1923 Ibid. 296

Hebei Stadtgott 26.3 永清县志 1875 Ibid. 303

Hebei Drachenkönig 13.6 保定县志 1886 Ibid. 305

Hebei Drachenkönig 13.6 唐县志 1878 Ibid. 328

Drachenkönig/ Hebei unregelmäßig 南皮县志 1933 Ibid. 406-7 Guandi

Hebei Stadtgott Qingming/15.7/1.10 武安县志 1940 Ibid. 471-2

Hebei Stadtgott Qingming/1.10 新河县志 1929 Ibid. 503

Shanxi Guandi 23.6 大同县志 1830 Ibid. 546

Shanxi Stadtgott 1.10 阳城县志 1874 Ibid. 621

Shanxi ? Frühling u. Herbst 沁水县志 1881 Ibid. 638

Shanxi Stadtgott 22.4 冀城县志 1929 Ibid. 657

Shanxi Drachenkönig 28.3 隰州志 1709 Ibid. 665

Shanxi Stadtgott 5.5 乡宁县志 1917 Ibid. 685

Shanxi ? ? 闻喜县志 1919 Ibid. 700

Innere Stadtgott 15.7 归绥县志 1934 Ibid. 755 Mongolei

Ding Shiliang;Zhao Fang, Henan Stadtgott 15.7 郑县志 1916 6 1997c 新乡县续 Henan Stadtgott Qingming/15.7/1.10 1923 Ibid. 51 志 封丘县续 Henan Stadtgott Qingming/1.10 1937 Ibid. 60 志

Henan Stadtgott 15.7 滑县志 1932 Ibid. 116

Henan Stadtgott Qingming 汝南县志 1938 Ibid. 219

Henan Stadtgott 1.10 洛阳县志 1813 Ibid. 262

Henan Stadtgott Qingming/15.7/1.10 绳县志 1810 Ibid. 279

Henan Stadtgott 15.7 宜阳县志 1881 Ibid. 292

Henan Stadtgott 1.10 永宁县志 1915 Ibid. 294

Nantang( 南塘 Hubei Qingming 大冶县志 1867 Ibid. 325 神)

Hubei Stadtgott 28.5 罗田县志 1876 Ibid. 359

Hubei Erliangshen 26.6 蕲州志 1882 Ibid. 364

Hubei ? ? 江夏县志 1869 Ibid. 381

Hubei Wenshen 17.5 武昌县志 1763 Ibid. 382

Hubei Stadtgott 27.5/1.10 恩施县志 1937 Ibid. 437

Hubei Stadtgott 15.7 来凤县志 1866 Ibid. 447

Kangwang,Ma Hunan wang,Huafu,Ti 5.Monat 衡山县志 1828 Ibid. 551 anfu 古丈坪厅 Hunan Stadtgott 28.5/15.10 1821 Ibid. 630 志

115 保靖志稿 Hunan Stadtgott 28.5 1869 Ibid. 643 辑要

Baidi 保靖志稿 Hunan 6.Monat 1869 Ibid. 643 Tianwang 辑要

Hunan Stadtgott 28.5 武陵县志 1868 Ibid. 657

Hunan Stadtgott 27.5 慈利县志 1869 Ibid. 667

Hunan Guandi 11.5 慈利县志 1869 Ibid. 667

Hunan Liumeng 12.6 慈利县志 1869 Ibid. 667

Hunan ? 5.5 益阳县志 1874 Ibid. 674

Hunan Stadtgott 28.5 宁乡县志 1867 Ibid. 678-9 佛山忠义 Guangdong Beidi 6.1/3.3 1753 Ibid. 700 乡志

Houqueguangu Guangdong 2.1 曲江县志 1875 Ibid. 704 an(候榷关官)

Guangdong Yuanwudi 3.3 曲江县志 1875 Ibid. 704

Siddhartha Guangdong 8.4 乳源县志 1663 Ibid. 729 Gautama

Guangdong ? 27.3 归善县志 1782 Ibid. 731

Guangdong Tianhou 13.1 沙源县志 1874 Ibid. 734-5

Guangdong Mehere 8.Monat 沙源县志 1874 Ibid. 734-6

Guangdong Mehere 8.Monat 东莞县志 1927 Ibid. 743-4

Siddhartha 民国新修 Guangdong 8.4 1943 Ibid. 754 Gautama 大埔县志

Guangdong Mehere 1.Monat 海阳县志 1900 Ibid. 777

Guangdong ? ? 香山县志 1879 Ibid. 807

Guangdong Kangwang Frühling 茂名县志 1888 Ibid. 829

Guangdong ? 15.1 石城县志 1931 Ibid. 832

Guangdong Tianhou 9.2 石城县志 1931 Ibid. 832

Guangdong Mehere 15.1 化州志 1890 Ibid. 834

Guangdong ? 2/12-3.1 阳江县志 1925 Ibid. 842

Guangdong ? 1-5.5 广宁县志 1824 Ibid. 860

Guangdong Beidi 9.9 广宁县志 1824 Ibid. 860

Guangdong ? ? 四会县志 1925 Ibid. 869

Guangxi Yuandi 3.3 新宁州志 1879 Ibid. 906

Xuantianshang Guangxi 3.3 同正县志 1933 Ibid. 912 di

Guangxi Stadtgott 24.7 同正县志 1933 Ibid. 913

Guangxi ? ? 融县志 1936 Ibid. 953

Hualin-Sheng Guangxi 6.6 来宾县志 1927 Ibid. 980 mu(花林圣母)

Guangxi Stadtgott 15.7 来宾县志 1927 Ibid. 980

Guangxi Beidi 3.3/16.7 来宾县志 1927 Ibid. 984-6

Guangxi Tianhou 6.6 灵川县志 1929 Ibid. 994

116 Guangxi Tianhou 23.3 平东县志 1940 Ibid. 1015-6

Guangxi Buddha 16.1 平东县志 1940 Ibid. 1016

Guangxi Tianhou 23-4.3 荔浦县志 1914 Ibid. 1022

Guangxi ? 15.1/15.7/15.10 信都县志 1936 Ibid. 1032

Guangxi ? Neujahr 昭平县志 1934 Ibid. 1037

Guangxi Mehere 16.1 郁林县志 1934 Ibid. 1039

Guangxi Tianhou 23.3 郁林县志 1934 Ibid. 1039

Guangxi Mehere ? 桂平县志 1920 Ibid. 1056

Guangxi ? ? 陆川县志 1924 Ibid. 1064

Guangxi Tianhou 22.3 钦州志 1834 Ibid. 1074

Guangxi Stadtgott 28.5 钦州志 1834 Ibid. 1074

Hainan ? Qingming 定安县志 1878 Ibid. 1117

Sansheng-nian Hainan gniang(三圣娘 12.1 万州志 1828 Ibid. 1120 娘)

Hainan Guandi 11.5 万州志 1828 Ibid. 1120

drei Tage vor dem Shanghai Stadtgott 松江府志 1817 Ding Shiliang;Zhao Fang, 1995 3-4 Qingming-Fest

Tag vor dem Shanghai Stadtgott 上海县志 1783 Ibid. 6 Qingming-Fest

Shanghai Stadtgott Qingming-Fest 上海县志 1871 Ibid. 7-8

Shanghai Stadtgott Qingming-Fest 法华乡志 1922 Ibid. 10

Qingming-Fest/15.7/ Shanghai Stadtgott 蒲溪小志 1961 Ibid. 14-5 1.10

Qingming-Fest/15.7/ Shanghai Stadtgott 华亭县志 1879 Ibid. 17 1.10

Shanghai Stadtgott 26.-28.3 娄县志 1788 Ibid. 18

Shanghai ? Qingming-Fest 寒圩小志 1962 Ibid. 19

Qingming-Fest/15.7/ 川沙抚民 Shanghai Stadtgott 1836 Ibid. 20 1.10 厅志

Qingming-Fest/15.7/ Shanghai Stadtgott 川沙厅志 1879 Ibid. 21 1.10

Shanghai ? ? 川沙县志 1937 Ibid. 33

Qingming-Fest/15.7/ Shanghai Stadtgott 奉贤县志 1758 Ibid. 35 1.10

Dongyue( 岳 Shanghai 28.3 奉贤县志 1758 Ibid. 35 神)

Shanghai Stadtgott Qingming-Fest 金山县志 1752 Ibid. 37

Dongyue( 岳 Shanghai 28.3 金山县志 1752 Ibid. 37 神)

Shanghai ? Qingming-Fest 朱泾志 1916 Ibid. 38

Shanghai Stadtgott Qingming-Fest 青浦县志 1788 Ibid. 44-5

117 Qingming-Fest/15.7/ Shanghai Stadtgott 青浦县志 1879 Ibid. 46 1.10 青浦县续 Shanghai Xuandi(玄帝) 1.3 1934 Ibid. 48 志 青浦县续 Shanghai Yangye(杨爷) 28.3 1934 Ibid. 48 志

Shanghai Stadtgott Qingming-Fest 章练小志 1918 Ibid. 51

Shanghai Yangyi(杨彝) 28.3 外冈志 1961 Ibid. 63

Dongyue-Groß Shanghai 28.3 罗店镇志 1889 Ibid. 76 kaiser

Shanghai Stadtgott Qingming-Fest 崇明县志 1930 Ibid. 86

Shandong Stadtgott 25.3 博山县志 1753 Ibid. 102 滕县续志 Shandong Stadtgott 1.10 1911 Ibid. 108 稿

Shandong Stadtgott 1.5 潍县志稿 1941 Ibid. 209 增修登州 Shandong Stadtgott 15.7 1881 Ibid. 221 府志

Shandong Stadtgott Qingming-Fest 蓬莱县志 1673 Ibid. 222

Shandong Stadtgott 15.7 莱阳县志 1935 Ibid. 240

Qingming-Fest/15.7/ Shandong Stadtgott 滋阳县志 1859 Ibid. 288 1.10

Jiangsu Mehere Frühling/Herbest 新京备乘 1932 Ibid. 351

Jiangsu Stadtgott 1.10 首都志 1935 Ibid. 362

Dongyue-Groß Jiangsu 28.3 六合县志 1880 Ibid. 365 kaiser

Liumeng( 刘 Jiangsu 5.oder 6.Monat 苏州府志 1882 Ibid. 372 猛)

Anshanshen( Jiangsu 15.4 苏州府志 1882 Ibid. 372 鞍山神)

Jiangsu Zhenwu(真武) 3.3 苏州府志 1882 Ibid. 372

Cishan-Dadi( Jiangsu 8.2 苏州府志 1882 Ibid. 372 祠山大帝)

Dongyue-Groß Jiangsu 28.3 苏州府志 1882 Ibid. 372 kaiser

Jiangsu Mehere 2.Monat 吴县志 1933 Ibid. 378

Jiangsu Stadtgott Qingming-Fest 吴县志 1933 Ibid. 378-9

Jiangsu Stadtgott Qingming-Fest 周庄镇志 1882 Ibid. 390

Jiangsu ? Qingming-Fest 光福志 1929 Ibid. 392

Jiangsu ? 3.Monat 黄埭志 1922 Ibid. 394

Jiangsu Stadtgott 4.3 黄埭志 1922 Ibid. 394

Jiangsu Erdegott 28.3 相城小志 1930 Ibid. 398

Dongyue-Groß Jiangsu 20.7 相城小志 1930 Ibid. 399 kaiser

118 Shanshen( 山 Jiangsu 15.4 昆山县志 1576 Ibid. 401 神) 昆新两县 Jiangsu ? 3.3 1826 Ibid. 403-4 志 昆新两县 Jiangsu ? 19.3 1826 Ibid. 403-4 志

Dongyue-Groß 昆新两县 Jiangsu 28.3 1826 Ibid. 403-4 kaiser 志

Ma’anshanshe 昆新两县 Jiangsu 19.4 1826 Ibid. 403-4 n(马鞍山神) 志 昆新两县 Jiangsu Stadtgott 19.5 1826 Ibid. 403-4 志

Shanshen( 山 昆新两县 Jiangsu 15.4 1880 Ibid. 408 神) 续修合志 直隶太仓 Jiangsu ? 3.und 4.Monat 1802 Ibid. 413 州志

Jiangsu Stadtgott Qingming-Fest 茜泾记略 1870 Ibid. 421

Dongyue-Groß Jiangsu 28.3 茜泾记略 1870 Ibid. 421 kaiser

Jiangsu Stadtgott 3.3 盛湖志 1925 Ibid. 437

Dongyue-Groß Jiangsu 28.3 盛湖志 1925 Ibid. 437 kaiser

Jiangsu Guanyin(观音) 15.7 盛湖志 1925 Ibid. 438

Jiangsu Stadtgott 1.10 盛湖志 1925 Ibid. 439

Jiangsu Mehere 15.8 黎里志 1805 Ibid. 440

Cishanshen( 祠 锡金识小 Jiangsu 8.2 1896 Ibid. 449 山神) 录

Nanshuixian( 锡金识小 Jiangsu 7.3 1896 Ibid. 449 南水仙) 录

Dongyue-Groß 锡金识小 Jiangsu 28.3 1896 Ibid. 450 kaiser 录 锡金识小 Jiangsu Stadtgott 15.4 1896 Ibid. 450 录 锡金识小 Jiangsu ? 16.4 1896 Ibid. 450 录 锡金识小 Jiangsu Mehere 18.5 1896 Ibid. 451 录 锡金识小 Jiangsu Stadtgott 28.5 1896 Ibid. 451 录

Xishuixian( 西 锡金识小 Jiangsu 11.6 1896 Ibid. 451 水仙) 录

Suiyangshen( 锡金识小 Jiangsu 25.7 1896 Ibid. 451 睢阳神) 录

119 Yanshousi( 延 锡金识小 Jiangsu 18.8 1896 Ibid. 451 寿司) 录 锡金识小 Jiangsu Stadtgott 19.9 1896 Ibid. 452 录

Jiangsu Stadtgott 28.3 江阴县志 1840 Ibid. 458

Qingming-Fest/15.7/ 重修扬州 Jiangsu Stadtgott 1810 Ibid. 489 1.10 府志 重修扬州 Jiangsu Erdegott 15.7 1810 Ibid. 490 府志

Qingming-Fest/15.7/ Jiangsu Stadtgott 瓜州续志 1927 Ibid. 499 1.10

Jiangsu ? 3. oder 4.Monat 瓜州续志 1927 Ibid. 499

Siddhartha 盱眙县志 Jiangsu Gautama( 释迦 8.4 1936 Ibid. 537 略 牟尼)

Wenshen( 瘟 盱眙县志 Jiangsu 1.5 1936 Ibid. 537 神) 略

Marschall Wen Zhejiang 16.5 杭州府志 1922 Ibid. 571 (温元帅)

Zhejiang Stadtgott 1.10 杭州府志 1922 Ibid. 586

Zhejiang Mehere 13.7 杭州府志 1922 Ibid. 592

Zhejiang Stadtgott Qingming-Fest 钱塘县志 1718 Ibid. 593-4

Chenming Zhejiang Fujun( 陈明府 15.2 余杭县志 1919 Ibid. 607 君)

Chenlao Zhejiang Xianggong( 陈 6.6 建德县志 1919 Ibid. 626 老相公)

Zhejiang Stadtgott 10.2 寿昌县志 1930 Ibid. 628

Zhejiang Stadtgott 3.3 嘉兴县志 1908 Ibid. 652

1675/ Zhejiang Stadtgott 11.4 海宁县志 Ibid. 662-3 1683

10 Tage nach dem 海宁州志 Zhejiang Wudi(武帝) 1922 Ibid. 668 Qingming-Fest 稿

Guangong( 汉 Zhejiang 13.5 乌程县志 1740 Ibid. 679 寿亭侯)

Dongyue-Groß Zhejiang 28.3 归安县志 1882 Ibid. 683 kaiser

Jinyuan-Zongg Zhejiang 5.7 菱湖县志 1893 Ibid. 690 uan(金元总管)

Madame Zhejiang Sheshen( 社神 8.7 菱湖县志 1893 Ibid. 690 夫人)

120 Zhejiang Sheshen(社神) 9.7 菱湖县志 1893 Ibid. 690

Madame Zhejiang Taichang(太场 10.7 菱湖县志 1893 Ibid. 690 夫人)

Dongyue-Groß Zhejiang 28.3 双林镇志 1917 Ibid. 703-4 kaiser

Zhejiang Wudi(武帝) 13.5 双林镇志 1917 Ibid. 704

Huachengqiao- Zhejiang Zongguan( 化 6.7 双林镇志 1917 Ibid. 705 成桥总管)

Zhejiang Stadtgott 15.7 乌清镇志 1936 Ibid. 717 德清县新 Zhejiang Daihou(戴侯) Qingming-Fest 1932 Ibid. 745 志 德清县新 Zhejiang Stadtgott Sommer 1932 Ibid. 746 志

Weifang-Shen 德清县新 Zhejiang gmu( 卫房圣 ? 1932 Ibid. 746 志 母)

Dongyue-Groß Zhejiang 28.3 安吉县志 1874 Ibid. 751 kaiser

Guangong( 汉 Zhejiang 15.5 安吉县志 1874 Ibid. 752 寿亭侯)

Zhejiang Stadtgott 15.5 安吉县志 1874 Ibid. 752

Guangong( 汉 Zhejiang 13.5 长兴县志 1805 Ibid. 760 寿亭侯)

Jinyuan-Zongg Zhejiang 7.7 长兴县志 1805 Ibid. 760 uan(金元总管)

Dongyue-Groß Zhejiang 15.3 定海县志 1924 Ibid. 816 kaiser

Zhejiang Dushen(都神) 15.2 定海县志 1924 Ibid. 816

Qingming-Fest/15.7/ Zhejiang Stadtgott 定海县志 1924 Ibid. 816 1.10

Yangshen( 杨 Zhejiang 15.9 诸暨县志 1910 Ibid. 832-3 神)

Zhejiang Stadtgott 19.10 诸暨县志 1910 Ibid. 833

Dongyue-Groß 上虞县志 Zhejiang 2.Monat 1899 Ibid. 836-7 kaiser 校续

Zhejiang Stadtgott 16.4 汤溪县志 1931 Ibid. 871

Zhejiang Stadtgott 2.2 兰溪县志 1800 Ibid. 873

Zhejiang Stadtgott 2.2 兰溪县志 1899 Ibid. 874

Marschall Wen Zhejiang 16.5 兰溪县志 1899 Ibid. 874 (温元帅)

Zhejiang Mehere 14.1 武义县志 1698 Ibid. 875-6

121 Zhejiang Mehere 8.Monat 西安县志 1811 Ibid. 886

Zhejiang Stadtgott Qingming-Fest 衢县志 1937 Ibid. 894-5

Zhejiang Mehere 1.3 常山县志 1886 Ibid. 903-4

Marschall Wen Zhejiang 2.Monat 处州府志 1877 Ibid. 916 (温元帅)

Marschall Wen Zhejiang 3.3 丽水县志 1874 Ibid. 918 (温元帅)

Zhejiang Stadtgott 17.5 宣平县志 1934 Ibid. 926

Zhejiang Erdegott 20.5 宣平县志 1934 Ibid. 926

Yanggong( 晏 Zhejiang 24.5 宣平县志 1934 Ibid. 926 公)

Stadtgott u. Zhejiang Marschall Wen 2.Monat 松阳县志 1769 Ibid. 930 (温元帅)

Marschall Wen Zhejiang 2.Monat 遂昌县志 1896 Ibid. 931 (温元帅)

Shunyi-Furen( Zhejiang 护国夫人顺懿 ? 云和县志 1864 Ibid. 933 夫人) 直隶和州 Anhui ? 15.1 1901 Ibid. 946 志 直隶和州 Anhui Stadtgott 15.5 1901 Ibid. 946 志

Dongyue-Groß 续修桐城 Anhui 27.3 1940 Ibid. 964 kaiser 县志

Anhui Stadtgott 28.5 宿松县志 1921 Ibid. 970

Anhui Guandi 13.5 潜山县志 1675 Ibid. 974

Anhui Stadtgott 15.5 潜山县志 1675 Ibid. 974

Anhui Stadtgott 1.5 芜湖县志 1919 Ibid. 1015

Anhui Huodi(火帝) 15.4 芜湖县志 1919 Ibid. 1015

Anhui Stadtgott 3.Monat 繁昌县志 1937 Ibid. 1021

Anhui ? 1.-8.4. 歙县志 1690 Ibid. 1033

Marschall( 元 Anhui 1.5 祁门县志 1873 Ibid. 1037 帅)

Anhui Guandi 13.5 石埭县志 1935 Ibid. 1044

Anhui Stadtgott 18.5 石埭县志 1935 Ibid. 1044

Zhaoming-She Anhui ngdi( 昭明圣 15.8 石埭县志 1935 Ibid. 1044 帝)

Jiangxi ? Neujahr 南昌县志 1935 Ibid. 1059

Jiangxi ? Neujahr 昭萍志略 1935 Ibid. 1071

Jiangxi ? 1.Monat 分宜县志 1940 Ibid. 1079

122 Baiyishen( 白 Jiangxi 19.6 会昌县志 1872 Ibid. 1171 衣神)

Jiangxi Laishen(赖神) 7.7 会昌县志 1872 Ibid. 1171

Fujian ? 15.1 闽侯县志 1933 Ibid. 1201

Fujian Erdegott um Qingming-Fest 罗源县志 1831 Ibid. 1203

Fujian ? 15.1 平潭县志 1923 Ibid. 1217

Baosheng-Dad Fujian ? 同安县志 1929 Ibid. 1235 i(保生大帝)

Fujian Mazu 23.3 崇安县志 1942 Ibid. 1255

Shunyi-Furen( Fujian 15.1 政和县志 1919 Ibid. 1261 顺懿夫人)

Fujian Stadtgott 13.1 霞浦县志 1929 Ibid. 1278

Fujian Mazu 23.3 霞浦县志 1930 Ibid. 1278

Fujian Mehere ? 霞浦县志 1931 Ibid. 1278-9

Fujian Stadtgott 15.7 霞浦县志 1932 Ibid. 1280

Fujian ? 10.-20.1 古田县志 1942 Ibid. 1289

Fujian ? 15.1 泉州府志 1927 Ibid. 1294-5

Fujian Stadtgott 15.1 永春州志 1787 Ibid. 1298

Fujian Stadtgott 15.2 永春县志 1930 Ibid. 1301

Weihuiwang( Fujian 13.1 平和县志 1719 Ibid. 1323 威惠王)

Fujian Stadtgott 15.1 平和县志 1719 Ibid. 1323

Fujian Mehere 1.Monat 龙岩州志 1890 Ibid. 1329

Fujian Stadtgott 10.1 漳平县志 1935 Ibid. 1330

Fujian Mehere 15.1 宁洋县志 1879 Ibid. 1331

Fujian ? 3.Monat 上杭县志 1760 Ibid. 1334

Madame Fujian Huili( 惠利夫 9.6 明溪县志 1943 Ibid. 1344 人)

Fujian ? 3.3 沙县志 1928 Ibid. 1349

Xuantanye( 玄 台湾省通 1950 Taiwan 15.1 Ibid. 1366 坛爷) 志稿 -65

Kaizhang-shen 1954 Taiwan gwang(开漳圣 15.2 基隆县志 Ibid. 1588 -59 王)

1954 Taiwan Mazu 23.3 基隆县志 Ibid. 1588-9 -60

1954 Taiwan Stadtgott 15.8 基隆县志 Ibid. 1594 -61

云林县志 1977 Taiwan Mazu 13.2 Ibid. 1743 稿 -83

1976 Taiwan ? 15.1 嘉义县志 Ibid. 1781 -83

123

Abb. 3 Die Gottbegrüßungsprozessionen in den Provinzen Chinas

124

7. Die Gottbegrüßungsprozessionen in Shanghai

7.1. Eingrenzung des Forschungsgegenstandes

7.1.1. Zeitliche Eingrenzung: Die Republikzeit

Meine Forschung bezieht sich auf die Republikzeit, nämlich zwischen der Entstehung der Republik China (1912) und der Gründung der Volksrepublik China (1949). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat China als eine politische und kulturelle Einheit die tiefste weltanschauliche Krise und gleichzeitig die radikalste sozio-ökonomische Transformation seiner Geschichte erlebt. Die aufeinanderfolgenden Niederlagen gegen die westlichen Mächte und die begleitenden ungleichen Verträge lösten im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich eine Kettenreaktion von erzwungenen und freiwilligen, intendierten und unintendierten Reformen aus. Der Untergang der letzten Dynastie Chinas im Jahr 1911, der dem 2000 Jahre währenden chinesischen Kaiserreich und der entsprechenden Monarchie ihr Ende setzte, galt als die symbolische Scheidelinie von zwei Ären. Seit der Gründung der ersten Republik (1912) in der Geschichte Chinas (sogar des gesamten asiatischen Raumes) veränderte sich die chinesische Gesellschaft auf allen Gebieten. Im ökonomischen Bereich erlebte die nationale Wirtschaft trotz kontinuierlicher Warlord-Kriege eine andauernde Konjunktur, sodass man den Zeitraum 1914-24 als das „Goldene Jahrzehnt“ bezeichnet. Im intellektuell-kulturellen Bereich herrschten in der Republikzeit zwei Hauptströmungen vor: Einerseits wurden die westlichen Naturwissenschaften sowie damalige Geistesströmungen vor allem aus Europa durch die Gründung moderner Schulen und Universitäten, durch die Heimkehr unzähliger Studenten aus dem Ausland und schließlich durch die Ausbreitung der modernen öffentlichen Druckmedien systematisch in China eingeführt. Andererseits wurden die traditionelle chinesische Weltauffassung, Philosophie und Selbsteinschätzung kritisch und gründlich reflektiert. Der Zusammenstoß der beiden Strömungen führte zu einer

125 dynamischen, aber manchmal auch widerspruchsvollen kulturell-intellektuellen Landschaft. Im religiösen Bereich gab es jede Art von Ambivalenz und Paradox. Auf der juristischen Ebene wurde zum ersten Mal die Religionsfreiheit als Grundrecht der Bürger klar und deutlich in der Verfassung der Republik verankert.1 Aber es fehlten dem Zivilrecht und dem Verwaltungsrecht die konkreten Rechtsbestimmugen, die die Religionsfreiheit präzise definieren und in der gesetzlichen Praxis tatsächlich vor Verletzung bewahren konnten. Aufgrund anderer als dringender empfundenen politischer und militärischer Angelegenheiten, z. B. Bürgerkrieg, hatte Religion zu jener Zeit keinerlei Vorrangstellung auf der Agenda der wechselhaften Parlamente und Regierungen. 2 Aus diesem Grund sind politische Beeinträchtigung oder systematische Verfolgung religiöser Gruppen im betreffenden Zeitraum kaum zu beobachten.3

1 Laut Satz 7, Artikel 6, Kapitel 2 “Das Volk” der provisorischen Verfassung der Republik China (中国 民国临时约法, 1912) „genießt das Volk die Religionsfreiheit“ (人民有信教之自由), siehe "Zhonghua minguo linshi yuefa 中华民国临时约法", Laut Satz 7, Artikel 5, Kapitel 2 der Verfassung der Republik China (中国民国约法, 1914) „genießt das Volk im Rahmen der Gesetze die Religionsfreiheit“ (人民于法律范围内有信教之自由), siehe "Zhonghua minguo yuefa 中华民国约 法", Kapitel 2, Satz 7. 2 Erst im Jahr 1928, kurz nach dem Sieg der Expedition gegen den Warlord in Nordchina, entstand eine Zentralregierung in Nanjing, die überwiegend von der chinesischen Nationalpartei (Kuomintang) geführt wurde. 3 Die einzige erwähnenswerte Religionspolitik in der Republikzeit ist die sog. „Registrierung des Tempelbesitzes“ (庙产登记). Das Innenministerium der Peking-Regierung und viele Provinzregierungen erließen ab 1913 eine Serie von Vorschriften und Gesetzen, die forderten, alle Tempel und Klöster bei den lokalen Behörden umgehend melden zu lassen. Die bis zum Ablauf der Anmeldungsfrist noch nicht registrierten Tempel und Klöster sollten gemäß den Vorschriften konfisziert und anschließend in öffentliche Einrichtungen, z. B. Schulen, umfunktioniert werden. Diese Politik rief einen brisanten Streit und tiefstes gegenseitiges Misstrauen zwischen der Regierung und den buddhistischen sowie taoistischen Vereinigungen hervor. Obwohl die Vorschriften später zweimal (1928 und 1935) abgeschwächt wurden, führte diese Politik zum heftigen Widerstand von Buddhismus und Taoismus. Siehe Chen, Jinlong 陈金龙, "Cong miaochan guanli kan nanjing guomin zhengfu shiqi de zhengjiao guanxi-yi 1927-1937 nian wei zhongxin de kaocha" 从庙产管理看南京国民政府时期 的政教关系——以 1927-1937 年为中心的考察, in: 华南师范大学学报(社会科学版), Vol. 5, 2006, 103-111; Lin, Dafeng 林达丰, "Minchu miaochan lifa jiantao" 民初庙产立法检讨, in: 江西财经大 学学报, Vol. 3, 2007, 99-103. Zu den Einflüssen jeweils auf lokalen Buddhismus und Taoismus und deren Reaktionen siehe Geng, Jing 耿敬, "'Miaochan xingxue' yundong ji fojiaojie de huiying" ‘庙产 兴学’运动及佛教界的回应, in: 五台山研究, Vol. 2, 2003, 11-16; Wang, Guanghua 汪光华, "Minguo shiqi jiangxi sichan shanbian de yanjiu" 民国时期江西寺产嬗变的研究, in: 江西科技师范 学院学报, Vol. 2, 2003, 26-33; Liu, Chengyou 刘成有, "Luelun miaochan xingxue jiqi dui daojiao de yingxiang- cong 1928 de yiduan difangzhi ziliao tongji shuoqi" 略论庙产兴学及其对道教的影响— —从 1928 年的一段地方志资料统计说起, in: 中国道教, Vol. 1, 2004, 50-52. Diese Politik war eigentlich eine variierte Fortsetzung der Religionspolitik der Qing-Regierung, die forderte, dass der

126 Wenn man einzelne Religionen betrachtet, bestand bei den traditionellen institutionalisierten Religionen, vor allem Buddhismus und Taoismus, eine Spannung zwischen der Oberflächenerscheinung und dem praktischen Verfall. Auf der einen Seite gründeten ganz wenige buddhistische und taoistische Führungspersonen zahlreiche nationale Verbände, Vereinigungen und Organisationen, die in der Kaiserzeit nie existiert hatten. Elitemönche und -Priester versuchten, eine Reformation sowohl im organisatorischen als auch im konfessionellen Bereich zu starten, um auf die Herausforderungen des radikalen Wandels der chinesischen Gesellschaft reagieren zu können. Aber solche Versuche wirkten sich lediglich auf die hochrangige Priesterschaft aus. Sie hatten kaum bedeutenden Einfluss auf die Unterschicht der Mönche und Priester, geschweige denn auf Laiengläubige. Auf der anderen Seite verloren Buddhismus und Taoismus nach dem Untergang des Kaiserreiches plötzlich die staatliche Unterstützung. Sie mussten um Überleben und Finanzierung kämpfen. Die Mönche und Priester, die auf die traditionelle Meister-Schüler-Beziehung beharrten, waren wegen ihrer schlechten Ausbildung kaum in der Lage, die Tradition neu zu interpretieren oder die Probleme seitens der Laiengläubigen zu lösen. Konfrontiert mit einer aufklärerischen kulturellen Neigung standen die Mönche und Priester quasi für eine konservative, modernisierungsfeindliche Gruppe in der chinesischen Gesellschaft.1 Demgegenüber zeigte das Christentum eine rasche Entwicklung. Unterstützt von hunderten ausländischen Missionswerken stiegen die Zahlen von evangelischen und katholischen Mitgliedern und Kirchen in der Republikzeit ausgesprochen schnell an. Trotz der radikalen Anti-Christentum-Bewegung (非基运动) in den 20er Jahren engagierten sich die christlichen Institutionen aktiv in Schulwesen, Sozialwesen und sogar in der Politik.2

Tempelbesitz das Schulwesen fördern solle (庙产兴学). Siehe Xu, Yue 徐跃, "Qingmo miaochan xingxue zhengce de yuanqi he yanbian" 清末庙产兴学政策的缘起和演变, in: 社会科学研究, Vol. 4, 2007, 151-8; Wang, Leiquan 王雷泉, "Dui zhongguo jindai liangci miaochan xingxue fengchao de fansi" 对中国近代两次庙产兴学风潮的反思, in: 法音, Vol. 12, 1994, 14-19. 1 Mou, Zhongjian ; Zhang Jian 牟钟鉴;张践, Zhongguo minguo zongjiaoshi 中国民国宗教史, Einführung, S.1-8; Kapitel 2 und 3, 14-75. 2 Ibid., Kapitel 5, 105-129.

127 Wirft man einen Blick auf die damalige lokale religiöse Praxis, dann sieht man eine widerspruchsvolle Szene: von Innen betrachtet haben die Gläubigen und Anhänger der nicht-institutionalisierten Volksreligion nie das Selbstbewusstsein gehabt, Anhänger einer „Religion“ zu sein. Von Außen betrachtet war die Situation doppelseitig: Einerseits hatte die neu gegründete Republik den Konfuzianismus, die offizielle Ideologie sowie weltanschauliche Lehre des untergegangenen Kaiserreiches, grundsätzlich aufgegeben.1 Die volksreligiösen Veranstaltungen, z.B. Prozessionen, die in der Kaiserzeit sowohl vom Kaiser als auch von konfuzianisch gebildeten Beamten als „Aberglaube“ oder „Heterodoxie“ diskriminiert, unterdrückt und eventuell verboten wurden, verloren ihren alten weltanschaulichen „Gegner“. Andererseits wurden Volksreligion und fast alle anderen Religionen von aufklärerischen Studenten und Intellektuellen als Hindernis für die Modernisierung Chinas heftig kritisiert und angegriffen. Die neuen Opponenten rüsteten sich mit der brandneuen ideologischen Waffe, z.B. Fortschrittsidee und Wissenschaft, aus dem Okzident aus. Die negative Haltung zur Religion blieb dieselbe wie die ihrer Vorgänger aus der Kaiserzeit. Die Republikzeit (1912-1949) wird normalerweise als eine Übergangsphase zwischen der Qing-Dynastie und der Volksrepublik China angesehen. Viele politische Entscheidungen und gesellschaftliche Transformationen konnten in diesen wenigen Jahrzehnten nicht vollständig erzielen. Die japanische Invasion im Jahr 1937 führte zu einer Umwälzung der ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen Chinas. Die japanischen Besatzer setzten in Shanghai eine Marionettenregierung ein, um die Chinesen zu kontrollieren und mögliche Unruhen zu unterdrücken. Abgesehen davon, dass alle großen religiösen Veranstaltungen und Gruppen wahrscheinlich direkt von der Besatzungssicherheitstruppe ausspioniert wurden, verschlechterte sich die Lebensqualität in Shanghai seit dem Ausbruch des Pazifikkrieges (1941) dramatisch. Die Rationierung der Lebensmittel durch Bezugsscheine und der Mangel an

1 Trotzdem wurden die traditionellen konfuzianischen Opferrituale sowohl von der Zentralregierung als auch von manchen Lokalregierungen in den ersten zehn Jahren der Republik auch weiterhin praktiziert. Außerdem gab es zu dieser Zeit eine Bewegung, die den Konfuzianismus zur Staatsreligion der Republik erheben wollte.

128 finanzieller Unterstützung in der Kriegszeit machte die kostspieligen religiösen Veranstaltungen unmöglich. Davon waren auch die Prozessionen stark betroffen. Folglich ist anhand der heute zugänglichen Quellen keine einzige Prozession in Shanghai in den Jahren 1937 bis 1945 verifizierbar.

7.1.2. Räumliche Eingrenzung: Shanghai

Westliche Beobachter haben darauf hingewiesen, dass Shanghai im Mittelpunkt der bisherigen Forschung über die städtische Zivilgesellschaft in China steht.1 Diese Forschung beschränkt sich räumlich auf die am Mündungsgebiet des Yangtze liegende Metropole Shanghai. Wegen mehrmaliger Änderungen von Verwaltungsbereichen bezog sich der Ortsname „Shanghai“ im Laufe der Zeit auf ganz unterschiedliche geographische Gebiete und Verwaltungseinheiten. Um Ungenauigkeiten zu vermeiden und den geographischen Forschungsrahmen zu begrenzen, bezeichnet „Shanghai“ in der vorliegenden Forschung nur das geographische Gebiet der heutigen regierungsunmittelbaren Stadt (直辖市) Shanghai, deren Fläche ca. 6300 km2 beträgt.2 Shanghai ist zweifellos seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der wichtigste Hafen und das wirtschaftliche Zentrum Chinas gewesen. Ab den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden ausländische Konzessionen (von Großbritannien 1842, Frankreich 1847, den USA 1863 und Japan 1895) in Shanghai eingerichtet, in denen die Ausländer Immunität genossen. Der Kontrast und die wechselseitige kulturelle Vermischung zwischen den Konzessionen und dem chinesischen Teil bildete eine einzigartige geschichtliche Konstellation in Shanghai. Auf der einen Seite lebte die einheimische Tradition im alten chinesischen und ländlichen Teil Shanghais ohne tiefgehende Änderung weiterhin fort. Auf der anderen Seite wurden sowohl in den Konzessionen als auch im chinesischen Teil der Stadt viele Neuheiten systematisch eingeführt. Zahlreiche in Shanghai publizierte moderne Druckmedien (chinesische

1 Bergère, Marie-Claire, "Civil Society and Urban Change in Republican China", in: The China Quarterly, Vol. 150, 1997, 313. 2 Siehe die Karte im Anhang, Bezirke des heutigen Shanghais (Stand: 2000).

129 und fremdsprachige Zeitungen und Zeitschriften), neue Kommunikationsmittel (Telegramm, Telefon) und Druckereien bereiteten die materiellen Bedingungen für den kulturellen Aufschwung vor. 1 Übersetzungsbüros, Verlage und Bibliotheken wurden gegründet, um dem chinesischen Publikum die westlichen Natur- und Geisteswissenschaften zu vermitteln.2 Darüber hinaus riefen Ausländer und Chinesen viele Schulen, Universitäten und Bildungsanstalten ins Leben. 3 Unter diesen einzigartigen Umständen bildet Shanghai einen optimalen Forschungsgegenstand zur Transformation der chinesischen Gesellschaft. Ein anderer Grund, warum Shanghai als Forschungsgebiet gewählt wurde, liegt in der Zugänglichkeit und dem Bearbeitungszustand der Quellen.

7.2. Quellen

Die in meiner Forschung verwendeten Primärquellen bestehen grundsätzlich aus drei Teilen: Zeitungsartikel, Regionalbeschreibungen und Archivakten. Dank der Entstehung der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Westen nach China eingeführten modernen Massenmedien (Zeitungen, Zeitschriften, etc.) und der Tatsache, dass auch weiterhin lokale chinesische Dokumente angelegt wurden, steht der soziologischen Forschung eine vergleichsweise gute Quellenlage zur Republikzeit zur Verfügung. Zeitung: Shenbao (申报)4, die kontinuierlich von April 1897 bis Mai 1949 vor allem in Shanghai und nur zum Ausbruch des Sino- japanischen Krieges kurzzeitig auch in Hong Kong und Hankou veröffentlicht wurde, ist die einflussreichste chinesische Tageszeitung in der modernen Geschichte Chinas, deren durchschnittliche tägliche Auflage bereits im Jahr 1926 bei 140.000 lag und wenige Jahre später den Maximalwert von 150.000 erreicht hatte. Mit Hilfe eines thematisch angelegten

1 Siehe Xiong, ; Zhang Min 熊月之;张敏, Wanqing wenhua (shanghai tongshi-di liu juan ) 晚 清文化(上海通史·第 6 卷), 39-81. 2 Ibid., 95-7. 3 Ibid., 212-321. 4 Bei der Zitierung wird kein Volltitel, sondern nur die Indexziffer (aus dem Photokopie-Nachdruck) des Artikels angegeben, die folgendermaßen zusammengestellt ist: XX[Band]-XXX[Seite] (X)[Kolume]. Alle Texte der Zeitungsartikel werden vom Verfasser übersetzt.

130 Indexes sind ca. 200 relevante Artikel zu den Themen „Religion“, „Aberglaube“, „Feste“, „Sitten und Bräuche“ u. a. auffindbar, die folgende Artikelarten beinhalten: Nachricht, Kurzmitteilung, Kommentar, Leitartikel, Leserbrief und Karikatur. Unter „Regionalbeschreibung“ (地方志 oder 方志) versteht man einen einzigartigen Typ von Dokumenten in China, der die Sachlage einer lokalen Verwaltungseinheit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes ausführlich aufzeichnet und dokumentiert. In den verschiedenen Erscheinungsjahren folgten die regionalen Beschreibungen jeweils einer ähnlichen Gliederung sowie einem ähnlichen redaktionellen Aufbau. Obwohl es in den Beschreibungen der Kaiserzeit kein gesondertes Kapitel namens „Religion“ gibt, lassen sich die Aufzeichnungen über Religion doch unter Rubriken wie „Sitte“, „Feste“ und „Öffentliche Einrichtungen“ finden. Aus den 205 gefundenen Beschreibungen stammen zwei aus der Ming-Zeit, 57 aus der Qing-Zeit, 22 aus der Republikzeit und 124 aus der heutigen Volksrepublik. Darunter gibt es vier wichtige Regionalbeschreibungsserien, nämlich die Serie der Bezirksbeschreibungen Shanghais ( 上海区县志系列), die Serie der Gemeinde- und Dorfzentrenbeschreibungen Shanghais ( 上海乡镇志系列), die Serie der alten Gemeinde- und Dorfzentrenbeschreibungen Shanghais (上海乡镇旧志丛书) und die Serie der „Folklore in Shanghai“ (“民俗上海”系列), die fast 80% der heute zugänglichen Regionalbeschreibungen Shanghais ausmachen. In den im Shanghaier Hauptarchiv gesammelten drei Millionen Akten wurden insgesamt 33 relevante Aktensammelbände1 gefunden. In diesen Sammelbänden sind amtliche Dokumente, Aktenaustausch zwischen unterschiedlichen Behörden, Anmeldeformulare der religiösen Gemeinden, Beschwerdebriefe und Polizeigenehmigungen zu finden, die relevante Informationen über die volksreligiösen Gesellschaften und deren Tätigkeiten enthalten. Wie im ersten Kapitel erwähnt, ist es mit den von Paul Katz verwendeten Quellen aus zwei Gründen problematisch, die zu erforschende Prozession komplett und

1 Bei der Zitierung wird die Literaturangabe der Archiveakte folgendermaßen dargestellt: “Shanghaier Hauptarchiv, XXX(Band)-X(Index)-XXX(Akte), XXX(Seitenzahl).” Die Seitenzahl stand ursprünglich nicht im Akt. Sie wurde erst bei der Bearbeitung des Aktensammelbands vom Archiv eingeführt. Die Texte aus den Archivakten werden vom Verfasser übersetzt.

131 wissenschaftlich zu rekonstruieren: (1) Die wenigen Primärquellen verteilen sich auf einen viel zu langen Forschungszeitraum, nämlich über 1000 Jahre, während die zu beschreibenden Prozessionen nur innerhalb von 200 Jahren des genannten Zeitraums abgehalten wurden. Uneinheitlichkeit und Knappheit der Quellen verwässern die Aussagekraft der Studie; (2) Zwischen den Erscheinungsjahren der Quellen und dem Zeitpunkt der Prozessionen besteht ein großer zeitlicher Abstand, der unvermeidlich auch der Aussagekraft der Studie schaden kann. Um das erste Problem lösen zu können, muss man gleichzeitig den Forschungszeitraum auf jede erdenkliche Weise verkleinern und mehrere Quellen zum Forschungszeitraum finden. Die Verwendung von Zeitungsartikeln kann das zweite Problem, die spätere Veröffentlichung der Quellen, lösen, weil die Nachrichten und Meldungen aus einer Tageszeitung normalerweise über die aktuellen Ereignisse von ein bis zwei Tagen zuvor berichten. Eventuelle Ungenauigkeiten und Unzuverlässigkeiten der Zeitungsartikel können mittels der offiziellen Archivakten ausgeglichen werden. Da erst Anfang des 20. Jahrhunderts die modernen Zeitungen und Archivakten in China aufkamen, ist es angemessen zu sagen, dass im Vergleich zu anderen Zeiten die Republikzeit über eine optimale Quellenlage zu Prozessionen verfügt.

7.3. Grundform einer Prozession

Der feierliche Umzug, der an den festgelegten Tagen1 innerhalb eines territorialen Raumes (Region, Bezirk, Stadt, Dorfgemeinde oder Dorf) veranstaltet wurde, gilt als der Mittelpunkt einer Gottbegrüßungsprozession. Innerhalb dieser Tage wurden die Statue (oder Figur, Bild) einer Gottheit oder mehrerer Gottheiten zeitweilig aus dem Tempel geholt, durch den betreffenden Bezirk getragen und schließlich wieder in den Tempel zurückgebracht. Normalerweise bestand ein Prozessionszug nicht nur aus den Trägern der Statue, sondern aus mehreren Einheiten. Eine Reihe von Tanzgruppen und Akrobaten folgte unmittelbar der Statue der Gottheit. Manche Prozessionen hielten auf einem Platz, auf dem die Opfergabe-Zeremonie durchgeführt wurde. Die Länge

1 Eine Prozession dauerte einen Tag oder mehre Tage lang.

132 der Route und die zeitliche Dauer der Prozessionen konnten äußerst unterschiedlich sein. Ein solcher Umzug lässt sich in zwei Phasen (Hin- und Rückweg) teilen, in denen jeweils der Tempel verlassen wurde oder die Teilnehmer sich ihm näherten. Bei manchen Prozessionen fanden die zwei Teile möglicherweise jeweils am Tag und am Abend statt, weshalb sie als „Tagesprozession“ und „Abendprozession“ bezeichnet wurden. Außerdem wurden kurz vor Abmarsch und nach Ankunft eines Prozessionszuges im betreffenden Tempel eventuell auch Rituale durchgeführt. Der oben erwähnte Ablauf ist der Kernteil einer Prozession. Zahlreiche nicht-religiöse Veranstaltungen gehören aber als unabdingbarer Teil auch zu einer Prozession. Nach der Beendigung eines Prozessionszuges fand normalerweise ein Empfang statt, zu dem alle Beteiligten und Aktivisten des Prozessionszuges eingeladen wurden. Außerdem wurden am selben Abend im Zentrum des Tempelbezirks, z. B. in einem Dorfzentrum, Dialekt-Opern und Theaterstücke im Freien - beispielweise auf einem Platz oder auf einer provisorischen Bühne - gespielt. Die Schauspieler wurden üblicherweise von dem Tempelkomitee angestellt und bezahlt, wobei alle Bewohner des Dorfes oder der Gemeinde zuschauen durften. Die Themen der Oper- und Theaterstücke mussten nicht unbedingt religiös sein.1 Bedeutung und Wahrnehmung eines Umzugs konnten für unterschiedliche Menschengruppen (z. B. Aktivisten und Schaulustige) äußerst unterschiedlich sein. Während die akrobatischen Einheiten als auch die Theaterstücke für die Schaulustigen grundsätzlich mehr Unterhaltungscharakter hatten, besaß eine Prozession für die Veranstalter und Aktivisten einen sakralen Sinn, der unverletzlich und sakrosankt war. Aufgrund der Vielzahl von Schaulustigen und Teilnehmern war eine Prozession die perfekte Gelegenheit für Geschäft und Handel. Am Prozessionstag fand manchmal gleichzeitig eine Art Jahrmarkt im Dorfzentrum oder Gemeindezentrum statt, der unzählige Bewohner aus den Nachbargemeinden oder sogar Nachbarprovinzen anzog und den Umfang der Prozession wiederum vergrößerte. Die ökonomische

1 Die überwiegenden Themen der Opern und der Theateraufführungen befassen sich mit legendären oder mythologischen Persönlichkeiten, die als moralische Vorbilder angesehen werden. Deswegen könnten sie eventuell die Funktion haben, die Zuschauer zu belehren.

133 (Neben)Bedeutung darf man nicht übersehen. Man kann also sagen, dass sich rund um die Prozession ein Anziehungspunkt herausgebildet hatte, der zum bedeutendsten und feierlichsten Ereignis einer Gemeinde oder eines Bezirkes im Jahreszyklus gezählt haben dürfte. Im Hinblick auf diese peripheren nichtreligiösen Veranstaltungen ist eine Gottbegrüßungsprozession leicht mit einem Tempelfest (庙会) 1 zu verwechseln. In den Tempelfesten in der Umgebung Shanghais, die normalerweise von buddhistischen Klostermönchen organisiert wurden, wurden die Zeremonien nur innerhalb des Tempel- und Klostergeländes durchgeführt, während bei einer Gottbegrüßungsprozession, die üblicherweise von Laiengemeinden veranstaltet wurde, die Rituale hauptsächlich außerhalb des Tempels, bzw. innerhalb des gesamten Bezirkes ausgeübt wurden. Weil die Form der Finanzierung durch kurzzeitige teilnehmende Beobachtung nicht leicht zu beobachten ist, galt der Umzug (der Statue oder des Bildes) einer (oder mehrerer) Gottheit(en) als der auffälligste Unterschied zwischen Tempelfest und Prozession. In der Republikzeit gab es einige berühmte Tempelfeste 2 in Shanghai, die ohne Ausnahme von buddhistischen Klöstern veranstaltet wurden. Am Tag dieser Tempelfeste fanden üblicherweise auch große Märkte in der Nähe der Tempel statt. Es wurde jedoch keine Prozession durchgeführt. Die Verwechselung zwischen Tempelfest und Gottbegrüßungsprozession, sowohl im

1 Ein wichtiger Grund dafür ist die willkürliche Verwendung des Wortes „Tempelfest“ sowohl im wissenschaftlichen als auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Viele Prozessionen (nach meiner Arbeitsdefinition) bezeichnen sich manchmal auch als Tempelfest, so dass die Religionsforscher einfach die Selbstbezeichnung als wissenschaftliche Terminologie annehmen, ohne die kleinen aber bedeutsamen Unterschiede zu bemerken. 2 Erwähnenswert sind die Tempelfeste der Tempel Longhua und Jing’an. Das Longhua-Tempelfest findet am 3. des dritten Monats. (nach dem chinesischen Kalender) statt. Longhuazhen-renmin-zhengfu 龙华镇人民政府 (Hg.), Longhua zhenzhi 龙华镇志, 168-169. Im Jahr 1921 mussten Sonderzüge zwischen dem Shanghaier Hauptbahnhof und dem Longhua-Bahnhof 45 Tage lang eingesetzt werden, um die Pilger zu transportieren. Sogar eine Infanteriebatterie wurde dort stationiert, um die öffentliche Ordnung zu wahren. Siehe Shenbao, 169-644(6). Vermutlich erreichte die Anzahl von Besuchern 50 tausend. Siehe Shenbao, 169-919(3). Zu anderen Aufzeichnungen über das Longhua-Tempelfest in der Republikzeit siehe auch Shenbao, 201-142(3); 201-296(4); 201-398(2); 211-51(2); 222-292(2); 223-43(1). Der Jing’an-Tempel ist bekannt für sein Buddha-Bad-Fest (浴佛节, am 8. des vierten Monats, nach dem chinesischen Kalender), siehe Shanghaishi-jing'an-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上 海市静安区志编纂委员会 (Hg.), Jing'an quzhi 静安区志, 65-66. Shenbao, 223-465(4); 223-480(1). Im Jahr 1934 musste sogar die Zahl der Höker und Händler während des Buddha-Bad-Festes durch die Behörden aus Sicherheitsgründen auf 1500 beschränkt werden. Shenbao, 315-133(1). Die Stadtverwaltung (工部局) sollte das Sondergenehigungsrecht für die Straßenverkäufer während des Buddha-Fests haben. Siehe Zhou, Shixun 周世勋 (Hg.), Shanghaishi daguan 上海市大观, 237.

134 alltäglichen als auch im religionswissenschaftlichen Sprachgebrauch, bringt für die vorliegende Forschung ein großes terminologisches Problem mit sich.1 Deshalb konzentrieren wir uns auf die gegebene Forschungsregion, nämlich Shanghai. In den in Shanghai vorhandenen Quellen werden das überwiegend von buddhistischen Mönchen veranstaltete Tempelfest und die von Laiengemeinden und Aktivistenvereinigungen organisierte Gottbegrüßungsprozession deutlich auseinander gehalten. Außerdem können der Ausübungsraum (innerhalb oder außerhalb des Tempelgeländes) und der Umzug hilfreich sein, ein Tempelfest von einer Prozession zu unterscheiden. Aber ob diese vorläufigen Unterscheidungsmerkmale auch für andere Regionen Chinas galten, bleibt fraglich.

7.4. Die alternativen Formen

Neben der oben erwähnten Grundform der Gottbegrüßungsprozession sind einige alternative Formen aus den historischen Quellen zu erkennen, die leicht von der Grundform abweichen oder aber auch trotz einer ähnlichen Form anders betont oder interpretiert werden. Eine davon ist die sog. „Lieferung der Getreidesteuergelder“ (oder „Abführung des himmlischen Wartegeldes“, chin. 解粮 钱, 解皇钱, 解黄钱, 解天饷), die vor allem in den Bezirken Jiading, Baoshan, Chongming und Pudong in Shanghai stattfand. Durch diese Zeremonie wurde eine „Vorgesetzte-Untergebene-Beziehung“2 innerhalb

1 Einige chinesische Anthropologen und Folklore-Forscher weisen darauf hin, dass ein ideales Tempelfest vier Bestandteile haben sollte, nämlich Tempel, Religion, Unterhaltung und Handel. Nach der Definition kann das Tempelfest in vier Kategorien unterschieden werden , je nach dem Verhältnis der erwähnten Bestandteile: komplettes Tempelfest (完全型庙会), religionsorientiertes Tempelfest (宗 教主导型庙会), unterhaltungsorientiertes Tempelfest (娱乐主导型庙会) und Handelorientiertes Tempelfest (商贸主导型庙会). Siehe Hua, Zhiya ; Rong Cao 华智亚;曹荣, Minjian miaohui 民间 庙会, 11-39. Diese Unterscheidung ist zwar aufschlussreich, aber relgionswissenschaftlich nicht haltbar, weil die Autoren keine klaren Kriterien angegeben haben, wie man das Verhältnis der vier Bestandteile in einem Tempelfest operationalisiert feststellen kann. Ohne die Kriterien könnte m. E. die Kategorisierung, die von der Ansicht der Beobachter abhängig ist, willkürlich sein. 2 Nach einigen Überlieferungen sind die volksreligiösen Götter und Gottheiten nicht gleichrangig. Also ist es durchaus üblich, dass eine Gottheit als der Untergegebene einer anderen Gottheit, und vice versa eine als der Vorgesetzte einer anderen, angesehen wurde. Diese Beziehung lässt sich wahrscheinlich zurück zu zwei Mustern führen: (1) die betreffenden Gottheiten waren tatsächlich Vorgesetzter und Untergegebener im historischen Bürokatiesystem als Beamte oder Offiziere gewesen, bevor sie deifiziert wurden; (2) die Gottheiten, die keinen historischen Zusammenhang gehabt hatten, wurden im Laufe der Zeit je nach deren Zauberkräften als Vorgesetzte oder Untergegebene eingeordnet. Egal wie die Genesis dieser Beziehung war, sie spiegelt die hierarchische Gottheitsvorstellung in der

135 des volksreligiösen Pantheons bekräftigt. Beispielsweise mussten am 7. des ersten Monats nach dem chinesischen Kalender, der der Geburtstag des Jadekaisers (玉皇) sein soll, alle anderen Gottheiten im Bezirk Baoshan in den Tempel des Jadekaisers getragen werden, um dessen Geburtstag zu feiern. Dabei musste eine große Menge an Papiergeld zum Tempel geliefert werden.1 Diese Zeremonie wird als „Abführung des Kaisersgeldes“ (解皇钱) bezeichnet, die die Lieferung des Steuergeldes in der Kaiserzeit nachahmte. 2 Gleichzeitig sollte die Gelegenheit genutzt werden, den jährlichen Rapport der Gottheiten beim Jadekaiser durchzuführen. Im benachbarten Bezirk Jiading wurde die Reziprozität zwischen Gottheiten und Menschen durch dieselbe Zeremonie besonders betont. Jedes Jahr kurz vor dem Qingming-Fest wurde Papiergeld (eventuell auch echtes Geld) gesammelt, damit später Papiergelder zum Jadekaiser des himmlischen Kaiserhofs geliefert werden konnten. Jeder Einwohner einer Gemeinde musste einen Beitrag zahlen, für den man sogar einen „Steuerzahlungsschein“ bekam, mit dem wiederum angeblich ein Wunsch durch die Gottheit erfüllt werden konnte. Am Tag der Prozession wurde der Papergeldberg als Gegenleistung für das göttliche Heil in den „Palast der Versammlung der Unsterblichen“ (集仙宫) geliefert und anschließend dort dem Jadekaiser gewidmet bzw. verbrannt. 3 In diesem Fall wird die Zeremonie der „Lieferung des himmlischen Wartegeldes“ als Bestandteil einer Prozession verstanden. Aber hier muss man klar machen, dass der eigentlichen Gegenstand der Verehrung (der Jadekaiser) nicht am feierlichen Umzug teilnahm, sondern in seiner Residenz, nämlich im Tempel, blieb. Die in der Prozession getragenen Gottheiten sollen nach dem Verständnis der Gläubigen nur die subalternen Gottheiten des Jadekaisers sein.

Volksreligion wider, die die historischen bürokratischen Systeme nachahmt oder metaphorisch behält. 1 Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-weiyuanhui ; Shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-renmin-zhengfu 中共上海市宝山区罗店镇委员会;上海市宝山 区罗店镇人民政府 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 669. 2 Siehe auch Pan, Lüxiang 潘履祥 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 17. Dieses Dokument nennt den 9. des ersten Monats als festgesetzten Tag. Die Zeremonie konnte auch „Prüfung des Papiergeldes“ (验禇) genannt werden. Vgl. Liang, Pugui ; Wu Kangshou ; Zhu Yanshe ; Pan Lüxiang 梁蒲贵;吴康寿;朱延射;潘履祥 (Hg.), Guangxu baoshan xianzhi 光绪宝山县志, 403 und 405. Am 28.3. im Dongyue-Palast (东岳宫). 3 Yin, Jizuo ; Xu Ming ; Zhao Danni 尹继佐;许明;赵丹妮 (Hg.), Minsu shanghai- jiading juan 民俗 上海·嘉定卷, 41.

136 Abgesehen von dieser winzigen Nuance waren Formation und Reihenfolge der Aufführungseinheiten denen der anderen Gottbegrüßungsprozessionen in Shanghai fast gleich.1 Eine andere alternative Form der Gottbegrüßungsprozession ist durch die geographischen Gegebenheiten des westlichen Teils Shanghais bedingt, in dem eine wasserreiche Fluss-Netzwerk-Landschaft vorherrscht. Die Wasserstraßen sind so eng miteinander verbunden und dicht, dass viele Orte in der Region nur mit Booten per Flussweg erreichbar sind. Deswegen fanden die Gottbegrüßungsprozessionen in der Region nicht auf dem Land, sondern auf dem Wasser (auf den Flüssen oder Bächen) statt. In der Umgebung des an der Provinzgrenze liegenden Dorfes Fengwei (枫围) im Bezirk Jinshan mussten jedes Jahr 19 Boote zum Einsatz gebracht werden, um am 3. des neunten Monats (nach dem chinesischen Kalender) die Prozession des -Tempels (张文庙) zu veranstalten.2

7.5. Aufbau eines Umzuges

Geweiht wurden Prozessionen unterschiedlichen Gottheiten, aber die Grundform und

1 Luo, Shunxiang ; Wu Guchun 吕舜祥;武嘏纯 (Hg.), Minguo jiading Liudong zhi 民国嘉定疁东志, 110. Am 9. des ersten Monats nach dem chinesischen Kalender fand eine ähnliche Zeremonie, die sog. “Abgabe des himmlischen Berichtes” (上天表), in Jiading statt. Ibid.,123. Eine Auffzeichnung in Pudong siehe Zhang, Duanmu 张端木 (Hg.), Jiangdong zhi 江东志, 7. Am 25. des dritten Monats wurde das Getreidegeld zum Dongyue-Kaiser (东岳大帝) geliefert, um seinen Geburtstag am 28. des dritten Monats zu feiern. Auch auf der Inseln Chongming in der Mündung Yangtses gab es diese Zeremonie. Am Qingming-Fest soll der Stadtgott das himmlische Wartegeld an den Dongyue-Kaiser liefern. Zhu, Yidian ; Huang Guoyi 朱衣点;黄国彝 (Hg.), Kangxi chongming xianzhi 康熙崇明县志, 390. Siehe auch Cao, Binlin 曹炳麟 (Hg.), Minguo chongming xianzhi 民国崇明县志, 533. 2 Shanghaishi-jinshanxian-fengweixiang-renmin-zhengfu 上海市金山县枫围乡人民政府 (Hg.), Fengwei xiangzhi 枫围乡志, 328. Drei davon waren Wellenboote (浪船), die breite Booträume zur Verfügung haben. Auf den Booten wurde zur Prozession ein Schutzdach mit Glasfenstern eingerichtet, um die Statuen der Gottheiten kurzzeitig aufrichten zu können. Die 16 anderen Boote sind die sog. Ruderboote (梢船), die im Vergleich zu den Wellenbooten kleiner sind, aber doch 16-24 Matrosen erfordern. Als die mit Blumen dekorierte Prozessionsflotte die Wasserstraßen entlang segelte, wurde auch Musik, ähnliche wie bei einer Prozession auf dem Land, auf den Booten gespielt. Auch im 9. und 10. Monat wurden ähnliche Wasserprozessionen von anderen Tempeln im selben Dorf durchgeführt. In einem anderen wasserreichen Bezirk Qingpu (青浦) fanden am 28. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender zur Zeit der Prozessionen an mehreren Orten gleichzeitig Boot-Paraden statt. Aber die Statuen oder Bilder wurden nicht auf den Booten transportiert. Solche Veranstaltungen wurden als „Schnellboot-Treiben“ (摇快船) bezeichnet, die im Grunde mehr sportlich und wettbewerbsmäßig waren. Siehe Jinze-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《金泽志》编纂委员会 (Hg.), Jinze zhi 金泽志, 534-5; Liansheng-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《莲盛志》编纂委员会 (Hg.), Liansheng zhi 莲盛志, 284; Shanghaishi-qingpuxian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市青浦县县志编纂委员会 (Hg.), Qingpu xianzhi 青浦县志, 749-50.

137 der Aufbau eines Umzuges waren überraschend ähnlich sowohl in der Umgebung Shanghais als auch in ganz China. Ein vollständiger Umzug lässt sich normalerweise grob in vier Abschnitte unterteilen:1 1) Der Eröffnungsteil Dieser Teil, der üblicherweise an der Spitze eines Umzuges stand, war eine Nachahmung des Aufzugs von Beamten in der Kaiserzeit. Da die Gottheiten immer als die jenseitigen Kollegen der kaiserlichen Beamten betrachtet wurden, sollte eine Prozession der Gottheit auch ähnlich wie der feierliche Aufzug eines kaiserlichen

1 Die nachstehenden Beschreibungen der Grundform und des Aufbaus eines Umzuges fassen die Aufzeichnungen der folgenden Regionalbeschreibungen aus Shanghai zusammen: Sijingzhen-bianshi-xiuzhi-lingdao-xiaozu 泗泾镇编史修志领导小组 (Hg.), Sijing zhenzhi 泗泾镇 志, 219; Songjiangxian-jiutingxiang-renmin-zhengfu 松江县九亭乡人民政府 (Hg.), Jiuting zhi 九亭 志, 196; Hangtou-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 航头镇志编纂委员会 (Hg.), Hangtou zhenzhi 航头 镇志, 358; Wanxiang-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 万祥镇志编纂委员会 (Hg.), Wanxiang zhenzhi 万祥镇志, 332-3; Waxie-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 瓦屑镇志编纂委员会 (Hg.), Waxie zhenzhi 瓦屑镇志, 365; Xuanqiao-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 宣桥镇志编纂委员会 (Hg.), Xuanqiao zhenzhi 宣桥镇志, 323; Zhoupu-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 周浦镇志编纂委员会 (Hg.), Zhoupu zhenzhi 周浦镇志, 444; Yancang-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 盐仓镇志编纂委员会 (Hg.), Yancang zhenzhi 盐仓镇志, 287; Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-weiyuanhui ; Shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-renmin-zhengfu 中共上海市宝山区罗店镇委员会;上海市宝山 区罗店镇人民政府 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 654; Shanghaishi-fengxianxian-tairixiang-tairi-zhi-bianxiezu 上海市奉贤县泰日乡《泰日志》编写组 (Hg.), Tairi zhi 泰日志, 205; Shanghaishi-fengxianxian-qingcunxiang-qingcun-zhi-bianxiezu 上海市奉贤县 青村乡《青村志》编写组 (Hg.), Qingcun zhi 青村志, 274; Shanghaishi-jiadingqu-antingzhen-xiuzhi-lingdao-xiaozu 上海市嘉定区安亭镇修志领导小组 (Hg.), Anting zhi 安亭志, 274 und 276; Fengxian-jianghai-xiang-"jianghaizhi"-bianxiezu 奉贤县江海乡《江 海志》编写组 (Hg.), Jianghai zhi 江海志, 292f; Shanghaishi-jiadingqu-malu-zhi-xiuzhi-lingdao-xiaozu 上海市嘉定区《马陆志》修志领导小组 (Hg.), Malu zhi 马陆志, 309-10; Xu, Yanfu 徐燕夫 (Hg.), Jiading zhenzhi 嘉定镇志, 383; Jinshanxian-songyin-zhi-bianxiezu 金山县松隐志编写组 (Hg.), Songyin zhi 松隐志, 235; Shanghaishi-jinshanxian-lüxiangzhen-renmin-zhengfu 上海市金山县吕巷镇人民政府 (Hg.), Lü xiang zhenzhi 吕巷镇志, 261; Zhujing-xiangzhi-bianzuan-weiyuanhui 朱泾乡志编纂委员会 (Hg.), Zhujing xiangzhi 朱泾乡志, 317; Jinshanxiang-tingxinxiang-renmin-zhengfu 金山县亭新乡人民政 府 (Hg.), Tingxin xiangzhi 亭新乡志, 235; Jinshanxian-xinnong-zhi-bianxiezu 金山县新农志编写 组 (Hg.), Xinnong zhi 新农志, 285; Yuan, Bingrong 袁炳荣 (Hg.), Fengjing zhenzhi 枫泾镇志, 345f; Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾 镇人民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 132-3; Shanghaishi-yangpuqu-wujiaochangzhen-renmin-zhengfu 上海市杨浦区五角场镇人民政府 (Hg.), Wujiaochang zhenzhi 五角场镇志, 234; Zhenruzhen-renmin-zhengfu 真如镇人民政府 (Hg.), Zhenfu zhenzhi 真如镇志, 164-5; Yin, Jizuo ; Wang Honggang 尹继佐;王宏刚 (Hg.), Minsu shanghai- luwan juan 民俗上海·卢湾卷, 219; Yin, Jizuo ; Cai Fengming ; Zhu Xiangying 尹继佐; 蔡丰明;朱响应 (Hg.), Minsu shanghai- nanhui juan 民俗上海·南汇卷, 155-6; Yin, Jizuo ; Hu Jianping ; Cai Fengming 尹继佐;胡建平;蔡丰明 (Hg.), Minsu shanghai- pudong juan 民俗上海·浦 东卷, 187,189; Yin, Jizuo ; Yu Xiufen ; Zhang Zheren ; Cai Fengming 尹继佐;于秀芬;张喆人;蔡丰明 (Hg.), Minsu shanghai-yangpu juan 民俗上海·杨浦卷, 149-50; Zhang, Yangxian 张仰先 (Hg.), Dachang lizhi 大场里志, 121.

138 Beamten aussehen. Der Eröffnungsteil bestand normalerweise aus folgenden Einheiten, die von kostümierten Freiwilligen dargestellt wurden: Kleingespenst (小 鬼), Fahnen- und Flaggenträger, Trommel- und Gongträger, Schauschildträger. Der Eröffnungsteil dient dazu, ähnlich dem echten Aufzug eines Beamten, eine angemessene feierliche Atmosphäre auf der Straße zu schaffen und bei einer Prozession die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu erregen. 2) Der Schauteil Dieser Teil, der aus Tanz-, Musik-, Akrobatik- und Beter-Gruppen bestand, war vielleicht aus der Sicht der Schaulustigen der spannendste und amüsanteste Abschnitt des gesamten Umzuges. Obwohl diese lärmenden Gruppen in den Augen eines einfachen Schaulustigen sehr chaotisch daherkommen, verfügten fast alle Gruppen über festgelegte traditionelle Ausdrucksformen und Gestalten. Darüber hinaus hatte sogar jede Einheit eine spezifische Bezeichnung. Beispielsweise bezeichnete die sog. Perlmuschel-Fee (蚌壳精) eine bestimmte Tanzart, in der sich eine junge Frau als Perlmuschel-Fee verkleidet und während des Tanzes die zwei Muschelschalen abwechselnd öffnet und schließt1. Die sog. „Paddelboote“ (荡河船) sind ebenso eine unerlässliche Tanzart einer Prozession in Shanghai, die ausnahmslos von jungen Frauen mit bootartigen Kostümen dargestellt werden sollen.2 Ähnliche volkstümliche Tänze sind z.B. auch „fünffarbiges Pferd“(五彩马) und „Bambusstock-Tanz“ (打莲 湘 ). 3 Darüber hinaus gibt es weitere Tanzarten wie Drachentanz, Tigertanz,

1 Siehe Shanghaishi-nanhuixian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市南汇县县志编纂委员会 (Hg.), Nanhui xianzhi 南汇县志, 548. 2 Siehe Jiading-wenhua-zhi-bianxiuzu 《嘉定文化志》编修组 (Hg.), Jiading wenhua zhi 嘉定文化 志, 321. Und auch Jiading-wenhua-zhi-bianxiuzu 《嘉定文化志》编修组 (Hg.), Jiading wenhua zhi 嘉定文化志, 322. 3 Der sog. Bambusstock-Tanz braucht ein Requisit, nämlich einen speziell angefertigten Bambusstock. Er soll ungefähr ein Meter lang sein und auf ihm sollen ein paar Kupfermünzen festgebunden werden, damit während des Tanzes beim Schlagen unterschiedliche Klänge hervorgebracht und Takte geschlagen werden können. Siehe Shanghaishi-nanhuixian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市南汇 县县志编纂委员会 (Hg.), Nanhui xianzhi 南汇县志, 547. Siehe auch Shanghaishi-jinshanxian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市金山县县志编纂委员会 (Hg.), Jinshan xianzhi 金山县志, 826. Die oben erwähnten Tanzarten haben bestimmte Tanzschritte und Tanztechniken, die sowohl für Solotanz als auch für Paar- und Gruppentanz geeignet sind. Als besonders schön galt, wenn solche Tänze in großen Gruppen während des Einmarsches der Prozession aufgeführt wurden. Mehr zur Tanzform in Shanghai siehe Shanghaishi-songjiangxian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市松江县县志编纂委员会 (Hg.), Songjian xianzhi 松江县志, 819-823 und Shanghaishi-shanghai-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海

139 Stelzenläufer etc., die in anderen großen feierlichen Veranstaltungen, wie der Parade zum Frühlingsfest, oft zu sehen sind.1 Musik wurde gespielt mit chinesischen traditionellen Musikinstrumenten, sowohl Saiteninstrumenten (Erhu2, zweisaitige chinesische Geige) als auch Blasinstrumenten (wie Trompete, Suona3). In Shanghai wurden solche Musikgruppen normalerweise als Qingyin-Band (清音班)4 bezeichnet. Anfang der Republikzeit wurde der Musikstil in den Prozessionen allmählich von der westlichen Musik beeinflusst. Eine Musikgruppe im westlichen Stil wurde „Militärmusikgruppe“(军乐队) genannt. Der aufwendigste und wertvollste Teil eines Prozessionsumzuges war höchstwahrscheinlich die sog. „Taige“ (抬阁 oder 台阁), eine von Menschen getragene Tribüne aus Bambus oder Holz. Dabei wurde ein Kind unter zehn Jahren auf einem mehrstufigen Holz- oder Bambusgestell festgehalten und getragen. Das Kind musste in prächtiger Tracht kostümiert werden, und das Gestell musste ebenso mit wertvollen Stoffen dekoriert sein. Außerdem versuchte die organisierende

市上海县县志编纂委员会 (Hg.), Shanghai xianzhi 上海县志, 956-958. 1 Im nordöstlichen China waren die Tanzformen im Prozessionsumzug zwar grundsätzlich ähnlich wie die in Südchina, aber sie besaßen viele Tanzeinheiten des Volkstanzes Yangko (秧歌). Chinesische Musikwissenschaftler und Erforscher der Tanzkunst haben sich in den vergangenen Jahren mit den Tänzen in den Prozessionen im nordöstlichen China auseinandergesetzt und die historischen Tanzformen ausführlich dokumentiert. Siehe Li, Yu 李浴, Dongbei yishushi 东北艺术史, 502-520, der viele interessante historische Fotos und Strichzeichnungen der Tänze und akrobatischen Aufführungen während der Prozessionen wiedergibt. Mehr zum Tanz in den Prozessionen in der Wuyue-Region siehe Jiang, Bin 姜彬, Wuyue minjian xinyang minsu 吴越民间信仰民俗, 460-470. Jiang zufolge soll ein Umzug in drei Abschnitte unterteilt sein, nämlich die Parade (der Gottheit), die Tänze und die akrobatischen Einheiten. Seiner Meinung nach hat der Volkstanz in der Prozession den Glauben konkretisiert und visualisiert, damit die Publizität des Volksglaubens vergrößert wird. 2 Erhu (二胡) ist ein zweisaitiges chinesisches Streichinstrument ohne Bünde und ohne Griffbrett, das besonders popular in der Region des mittleren und unteren Yangtse ist. 3 Suona (唢呐) ist ein traditionelles chinesisches Holzblasinstrument, das ähnlich wie eine westliche Oboe ist. Suona ist sehr wichtig für die nordchinesische Volksmusik. 4 Eine Qingyin-Band besteht normalerweise aus 8-12 oder 12-20 Männern. In der Umgebung Shanghais gab es zwei Formen von Qingyin-Bands: die sog. „Schüler-Qingyin“ (门徒清音) und die sog. „Amateur-Qingyin“(白相清音). Die Erstere bestand aus professionellen Musikern, die aus Profitgründen zusammenspielten. Die letztere bestand nur aus Amateuren und war eine aus Freude am Musizieren entstandene Organisation. Allein im Kreis Nanhui gab es vor 1911 mehr als hundert solcher Bands. Siehe Shanghaishi-nanhuixian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市南汇县县志编纂委员会 (Hg.), Nanhui xianzhi 南汇县志, 549. Nach Angaben einer anderen Quelle bot die Qingyin-Band normalerweise den Bewohnern gegen Bezahlung für Hochzeit, Beerdigung und Geburtstagsfeier ihre Musik an. Aber die Zahlung war nicht streng festgelegt. Manchmal wurde die Band auch zum Empfang des Auftraggebers eingeladen. Sie akzeptierte auch kleinere Geschenke. Aber zu einer Prozession spielte sie oft umsonst. Siehe Wang, Lede ; Chuanshaxian-wenhuazhi-bianxiuzu 王乐德;川沙县文化 志编修组 (Hg.), Chuanshaxian wenhuazhi 川沙县文化志, 44.

140 Gemeinde, das Kind mit vielen Schätzen - wie Schmuck, Perlen, Jadekunstwerken usw. - zu schmücken bzw. diese auf dem Gestell auszustellen, um ihren Reichtum und Geschmack zu präsentieren.1 Solche akrobatischen Einheiten konnten sowohl aus freiwilligen Teilnehmern aus der Gemeinde als auch gegebenenfalls aus zeitweilig angestellten professionellen Tänzern und Akrobaten bestehen. 3) „Die Missetäter“ Besonders auffällig war die Gruppe der sog. „Missetäter“ (罪人), die entweder sich selbst peinigten oder sich erniedrigten, um den Gottheiten öffentlich ihre Andacht und Frömmigkeit zu zeigen. Andererseits glaubten „die Missetäter“, sie könnten damit die Barmherzigkeit und das Heil der Gottheiten als Belohnung gewinnen. Unter den „Missetätern“ gab es üblicherweise zwei Gruppen, Männer und Kranke: Die Männer übten Selbstfolter aus, die normalerweise als „Fleischweihrauch“(肉香) bezeichnet wurde. Sie mussten mit bloßem Oberkörper am Umzug teilnehmen. In die Haut ihres Oberarms wurde ein Haken aus Metall gestochen und dort befestigt. Unter dem Haken wurde ein mehrere Kilogramm schweres Weihrauchgefäß aufgehängt, in dem der Weihrauch während der gesamten Prozession brennen sollte. Die Verletzung konnte zur Dauerblutung führen, was für die Schaulustigen eine brutale und erschreckende Szene war. Aber für den Missetäter selbst konnte eine solche körperliche Quälerei eine geistige Erlösung oder Buße sein. Im Vergleich zu den selbsttraktierenden Männern hatten die Kranken, vor allem Frauen, eine andere Art und Weise, vor der Gottheit ihre Ehrfurcht auszudrücken. Die Frauen selbst oder deren engste Verwandte, die meistens unter langjähriger oder unheilbarer Krankheit litten, sollten im Umzug ein blutrotes Kleid tragen. Damit bezeichneten sie sich als „Häftlinge“ (犯人), weil in der Kaiserzeit diese Farbe normalerweise nur für Häftlingsanzüge verwendet wurde. Sie waren der Überzeugung, dass sie mit solch

1 Mitunter spielte sich dabei auch eine Tragödie ab. Nach Angaben eines Berichtes soll im Jahr 1884 in Tianjing ein sechsjähriges Kind, das auf einem Taige während einer Prozession als Himmelskönigin (王母娘娘) gekleidet war, wegen eines Sonnenstiches gestorben sein. Darüber hinaus waren solch üppig geschmückten Taige immer das Ziel von Kriminellen. Ein Mal zur Prozession in Tianjing wurde eine Perle, die so groß wie ein Ei war, auf einem Taige dekoriert. Allein diese Perle zog 300 Meisterdiebe aus Peking an. Und schließlich wurde sie auch gestohlen. Yi, Yongwen 伊永文, Gudai zhongguo zhaji 古代中国札记, 225-6.

141 selbstdemütigendem und erniedrigendem Auftreten zur Gottheit flehen konnten, ihre eigene Krankheit oder die der Verwandten zu heilen. 4) Sänfte der Gottheit Die Statue oder das Bild der verehrten Gottheit bildet das Kernstück des gesamten Umzugs. Sie wurde meistens auf eine festlich dekorierte Sänfte (oder ein offenes Holzgestell) gesetzt, die von vier oder acht Männern getragen wurde. Die Kleider der Gottheit sollen kurz vor der Prozession ausgetauscht werden. Wenn die Sänfte an den Haustüren der ansässigen Familien vorbeigetragen wurde, sollten diese Opfer (Obst, Imbiss oder Blumen) darbringen, Weihrauch anzünden und Kotaus machen. Die Sänfte der Gottheit stellte immer den Höhepunkt des Umzugs dar. Der gesamte Umzug kann sich bis zu zwei oder drei Kilometer ausdehnen, und der Durchlauf kann mehrere Stunden dauern. Die oben erwähnten vier Abschnitte sind idealtypisch dargestellt, um den Aufbau eines Umzuges klarer zu erkennen. Manchmal wurde der Eröffnungsteil dem Gottheitsabschnitt zugeordnet. Natürlich variierten in der Praxis die unterschiedlichen Umzüge in Länge und Ausmaß, je nachdem wie viel Geld und Ressourcen den Veranstaltern zur Verfügung standen. Man kann davon ausgehen, dass keine zwei Umzüge genau gleich waren. Um die Umzüge in Shanghai anschaulicher zu illustrieren, wird im Folgenden eine historische Aufzeichnung angeführt. In einer Regionalbeschreibung ist die Reihenfolge eines feierlichen Umzugs aus der Republikzeit in einer Gemeinde des östlichen Shanghai ausführlich dokumentiert:1 1) Gespensterjäger: Zwei Männer, die eine Stahlgabel in den Händen halten und gegeneinander schlagen und damit Lärm machen, eröffnen den Umzug. Man glaubt, die Männer könnten auf diese Weise die unreinen Gespenster aus der Umgebung verjagen. Die Einwohner [der Gemeinde] ihrerseits verbrennen Weihrauch, um die Gottheit zu empfangen. Als Trinkgeld [für die Gespensterjäger] werden einige Kupfermünzen auf den Tisch gelegt.

1 Zhuqiao-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 祝桥镇志编纂委员会 (Hg.), Zhuqiao zhenzhi 祝桥镇志, 357.

142 2) Erstes Banner: Zwei Männer tragen ein dreieckiges Banner mit dem eingestickten Namen der Gottheit, z.B. „der zehntausendjährige König Liu“ (万寿王刘). 3) Erstes Tamtam: Zwei Männer tragen und schlagen Bronzetamtams. Hinter den Tamtamstäben werden gelbe Fahnen aufgehängt, auf denen „Goldtrommel“ (金鼓) geschrieben steht. 4) Bunte Fahnen und Schauschilde: Die Zahlen sind unterschiedlich, normalerweise werden sie von mehr als zehn Männern getragen. 5) Tamtam- und Weihrauchträger: Männer tragen Tamtams oder Weihrauchfässer. Die Tamtams und Weihrauchfässer werden an einem Haken aufgehängt, der in der Unterarmhaut (etwa am Handgelenk) der Männer durchgestochen wird. Diejenigen, die die Tamtams tragen, heißen „Tamtamträger“ ( 托锣) und diejenigen, die Weihrauchgefäße oder Kerzenständer tragen, „Weihrauchträger“ (托香). 6) Akrobatische Einheiten: Diese sind Drachentanz, Bambusstock-Tanz, „Paddelboote“, „Perlmuschel-Fee“, Salzverkäuferin (卖盐婆)1, Stelzenläufer und Taige usw. Anzahl und Ausmaß ändern sich von Jahr zu Jahr. Alle Einheiten wollen ihre Kunstfertigkeit beweisen. Sie sind formreich und attraktiv. 7) Sänfte der Gottheit: Die Statue der Gottheit wird in der Vier-Männer-Sänfte getragen. Vor der Gottheitssänfte gibt es Tigerkopfschilder-Träger, Wachparade und Musikkapelle. Auf den sog. Tigerkopfschildern stehen die Zeichen „Ruhe!“ (肃静) und „Wegtreten!“ (回避) geschrieben. Die Wachparade hat unterschiedliche Waffen (keine echten, sondern nur aus Silberpapier hergestellte). Dazu gibt es noch zwei Wegbereiter mit schwarz-roten Kopfbedeckungen und schwarzer Robe, die „zum Bedienen“ schreien. Hinter der Gottheitssänfte folgen zwei Sonnenschirme. Sie gehen mit würdevollem Auftreten in dichten Reihen voran.

1 Dieser Tanz war auch als „Verkauf von Salz und Tee“ (卖盐茶) bekannt. Der Salzverkauf von privaten Unternehmen war in der Kaiserzeit streng verboten. Dieser Tanz spiegelt die anschauliche und drollige Szene der illegalen Salzverkäuferin wider. Siehe Shanghaishi-nanhuixian-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市南汇县县志编纂委员会 (Hg.), Nanhui xianzhi 南汇县志, 548.

143 7.6. Glaubensgegenstand: Gottheiten der Prozessionen

Geweiht werden Prozessionen ganz unterschiedlichen Göttern und Gottheiten - wie Stadtgott(城隍)1, Erdgott(土地), Guandi(关帝), Dongyue-Großkaiser (东岳大帝)2, General Liumeng (刘猛将军), Herzog Shi (施相公), etc. -, die als funktionsfähige Schutzpatron(inn)en in bestimmten Regionen - z.B. gegen Epidemien, gegen Trockenheit oder Überschwemmungen sowie gegen Heuschreckenkatastrophen - vom lokalen Volk hochgeehrt und angesehen wurden. Fast jede Gottheit hat seine eigene konkrete Biographie (oder Legende, mündliche Überlieferung, Sage), die allesamt in den historischen Quellen dokumentiert sind. Aber es ist auch üblich, dass die unterschiedlichen Quellen zur selben Person widersprüchliche Aufzeichnungen enthalten. Obwohl sich die geschichtliche Genauigkeit der Aufzeichnungen über die Gottheiten nicht überprüfen lässt, sollte man ihre religiöse Wirkung auf die Gläubigen nicht unterschätzen. Liumeng (刘猛, 孟将, 猛将, 莽将, 刘鞈) ist eine der beliebtesten Gottheiten in der Umgebung Shanghais. Nach Angabe einer Regionalbeschreibung starb der in der Song-Zeit lebende General Liu Rui (刘锐) durch einen Pfeil im Kampf3 gegen die Jin-Dynastie (1125–1234) im Jahr 1140. Er wurde wegen seiner militärischen Leistungen und Würde posthum vom Kaiser zum Yangwei-Fürst (扬威侯) ernannt. Aber erst im Jahr 1734 wurde er wegen seines Verdienstes im Zusammenhang mit einer Heuschreckenplage ins staatliche Pantheon aufgenommen. Danach sollen ihm jedes Jahr am 13. des ersten Monats (nach dem chinesischen Kalender) und kurz nach der Wintersonnenwende Opfer dargebracht werden.4

1 Die Geschichte und Bedeutung der Stadtgötter Chinas wird ausführlich im nächsten Kapitel behandelt. 2 “Dongyue” (东岳, wörtlich: der östliche Berg) ist eine andere Bezeichnung für Taishan (泰山) . Dongyue-Großkaiser ist der vermenschlichte Gott des heiligen Bergs. 3 Die sog. Shunchang-Kampagne (顺昌之战) fand in der Nähe des heutigen Fuyang (阜阳) in der Provinz Anhui statt. Als Oberbefehlshaber trug General Liu mit einer klaren Unterzahl von Soldaten (20.000 versus 100.000) einen haushohen Sieg gegen die gepanzerten Kavallerietruppen davon. 4 Unbekannt 佚名 (Hg.), Sanlin xiangzhi cangao 三林乡志残稿, 147. In einer anderen Regionalbeschreibung wird sein Tod anders dokumentiert: General Liu wurde als Gesandter zum nördlichen Jin-Staat der Dschurdschen geschickt und später dort getötet. In der Hongwu-Zeit(1368-1398) der Ming-Dynastie wurden er und sogar seine beiden Söhne als „Prinzregenten der Dongyu-Könige“ (东狱摄政王) und „die Land schützenden Behüter der Berge und

144 Eine andere Gottheit namens „alter Herr Yang“ (杨老爷, 杨王, 杨滋/镃, 照天侯, 杨继盛, 宋忠惠侯) ist ebenfalls häufig in vielen Regionalbeschreibungen aus Shanghai zu finden. Nach Angabe einer Regionalbeschreibung soll der Name von Yang-Laoye Yang Zezhi (杨则之) gewesen sein. Der Beamte aus der Song-Zeit stammte aus Waigang (外冈) im Bezirk Jiading des heutigen Shanghai. Er war angeblich in der Lage, direkt mit den Göttern zu kommunizieren und dadurch Unglücke zu verhindern. Nach seinem Tod wurde er als „Fürst der Erstrahlung des Himmels“ (照天侯) nominiert. Sein Urenkel namens Yang Zi (杨镃 oder 杨滋) war auch als Beamter in der Song-Zeit tätig. Er starb während eines Grenzkrieges und wurde später von Kaiser (赵昀, 宋理宗, lebte 1224-1264) zum „Land schützenden Fürsten der Loyalität und Weisheit“ (护国忠惠侯) ernannt.1 Sie beide wurden von den Bewohnern aus der Region hochgeachtet und als gnadenvolle Yangs bezeichnet.2 Aber in einer anderen Regionalbeschreibung ist der gnadenvolle Yang als ein Beamter mit dem Namen Yang Jisheng (杨继盛) dokumentiert, der in der Jiajing-Zeit (嘉靖, 1522-1566) der Ming-Dynastie im Militärministerium tätig war. Er wurde wegen eines Prozesses gegen den damaligen korrupten Kanzler Yan Song (严嵩, 1480-1556) zum Tode verurteilt.3 Die dritte Angabe über den gnadenvollen Yang basiert auf einer mündlichen Überlieferung. Ihr zufolge soll Yang ein Junge gewesen sein, der in der Qing-Dynastie in Luodian (罗店) im Bezirk Jiading lebte. Eines Jahres, am 30. des siebten Monats (nach dem chinesischen Kalender), kostete er das vergiftete Wasser aus einem

Flüsse“ (护国山川节度使) ernannt. Siehe Gu, Chuanjin 顾传金 (Hg.), Qibaozhen xiaozhi 七宝镇小 志, 28. 1 Pan, Lüxiang 潘履祥 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 20. Siehe auch Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-weiyuanhui ; Shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-renmin-zhengfu 中共上海市宝山区罗店镇委员会;上海市宝山 区罗店镇人民政府 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 655. Nach dieser Regionalbeschreibung wurde Yang Zi sogar in seinem Geburtsort Waigang begraben. 2 In anderen Regionalbeschreibungen wird der Name Yangs als Yang Xi (杨彝) dokumentiert, an dessen Geburtstag (28. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender) eine Prozession stattfinden soll. Siehe Yin, 殷聘尹 (Hg.), Waigang zhi 外冈志,11; Qian, Zhaoran 钱肇然 (Hg.), Xu waigang zhi 续外冈志, 13; und auch Zhang, Guiyuan 章圭瑑 (Hg.), Huangdu xuzhi 黄渡续志, 20. 3 Xiasha-zhenzhi-bianzuan-weiyuanhui 下沙镇志编纂委员会 (Hg.), Xiasha zhenzhi 下沙镇志, 472.

145 Brunnen, um die anderen Bewohner des Dorfes zu retten. Nach seinem Tod bauten die Dorfbewohner einen Tempel, um an ihn zu erinnern. Die Statue des Tempels wurde schwarz gefärbt, weil der Junge an Vergiftung gestorben sein soll. Die Prozession musste auch jedes Jahres am 30. des siebten Monats stattfinden.1 Die ihm gewidmete Prozession soll die Bewohner vor Epidemien schützen. Herzog Shi (施相公, 施全, 宋后军使臣) war bekannt als Seefahrt-Schutzgottheit. Herr Shi ist vermutlich Shi Quan (施全) oder Shi E(施谔) aus der Song-Zeit. Er wurde angeblich im Alter von neun Jahren eine Gottheit. Im Jahr 1264 wurde er vom Kaiser anerkannt und in der Ming-Zeit zum „Land schützender Fürst der Meer-Abschreckung“ (护国镇海侯) ernannt.2 Alle oben erwähnten berühmten Gottheiten aus der Umgebung Shanghais, wie üblicherweise auch in anderen Regionen Chinas, haben eine Gemeinsamkeit, nämlich dass sie den Überlieferungen oder Legenden zufolge in den jeweiligen Regionen gelebt haben oder als Beamte tätig waren. Jede Gottheit verkörpert eine bestimmte Tugend oder Moral, die durch deren Tod oder Heldentaten dramatisch zum Ausdruck gebracht wurden. Nur die kaiserliche Anerkennung, Nominierung oder Verleihung der Titel legitimierten die Gottheit und deren Prozessionen, die seit langem bereits in der Region existiert hatten. Es ist durchaus möglich, dass die biografischen Legenden und Überlieferungen über die Gottheit im Laufe der Zeit allmählich angereichert wurden oder sogar mit den Biographien anderer Gottheiten verschmolzen.

7.7. Häufigkeit und Dauer

Häufigkeit und Dauer der Gottbegrüßungsprozessionen waren äußerst unterschiedlich.

1 Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-weiyuanhui ; Shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-renmin-zhengfu 中共上海市宝山区罗店镇委员会;上海市宝山 区罗店镇人民政府 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 749-50. In derselben Regionalbeschreibung gibt es eine andere Legende, die folgendes behauptet: Der Yang-Tempel war ursprünglich nicht besonders beliebt gewesen. Eines Tages im Winter 1797 kam ein Besucher aus einer weit entfernten Region. Dieser erklärte der Tempelaufsicht, dass Herr Yang seine Krankheit geheilt und ihm diese Adresse hinterlassen habe. Er war sehr überrascht, dass es unter dieser Adresse einen Tempel gab. Und er bemerkte sogar, dass das Gesicht der Statue im Tempel ähnlich wie das des Mannes war, dem er begegnet war. Danach wurde die Geschichte so interpretiert, dass der gnadenvolle Yang einen Arzt verkörperte, um Menschen zu helfen. Und dies machte den Yang-Tempel sehr bekannt in der Region. Ibid. 753. 2 Unbekannt 佚名 (Hg.), Sanlin xiangzhi cangao 三林乡志残稿, 151.

146 Manche Gottbegrüßungsprozessionen fanden dreimal im Jahr und manche nur einmal in drei Jahren statt. Einige dauerten bis zu 15 Tage lang, die meisten jedoch nur ein bis drei Tage. Gottbegrüßungsprozessionen in der Umgebung Shanghais lassen sich je nach Regelmäßigkeit grob in zwei Gruppen einteilen: die regelmäßigen und die unregelmäßigen Prozessionen. Die ersteren fanden normalerweise an festgesetzten Tagen eines Jahres statt, während die letzteren keinen festgesetzten Termin hatten. Das Datum oder die Daten einer unregelmäßigen Prozession wurden durch Vereinbarung der betreffenden Laiengemeinden oder Tempelkomitees beschlossen, die sich normalerweise bei außerordentlichen Ereignissen oder Notfällen, z.B. Dürrekatastrophen, Überschwemmungen und Heuschreckenkatastrophen, trafen, damit die Naturkatastrophen und Notfälle durch die Durchführung einer Prozession von der Gottheit beendet oder vermieden werden sollten. Jahreszeitlich betrachtet teilen sich die regelmäßigen Prozessionen zwar ungleichmäßig, aber regelmäßig auf. Kurz vor dem Qingming-Fest (normalerweise am 5. April) und nach der Herbsternte, jeweils nach dem chinesischen Kalender im 3. und 9. Monat eines Jahres, wurden die meisten Prozessionen durchgeführt. Die überwiegenden regelmäßigen Prozessionen wurden anläßlich des Geburtstages oder des Datums der Vergöttlichung der Gottheit durchgeführt. Deswegen sind Häufigkeit und Dauer einer regelmäßigen Prozession von der Vorstellung der jeweiligen Gottheit und der Überlieferung zu ihr stark abhängig. Aber das bedeutet nicht, dass tatsächlich an jedem festgesetzten Tag eine Prozession stattfand, weil eine Gottbegrüßungsprozession immer eine kostspielige Angelegenheit war. Das heißt, die Häufigkeit und Dauer waren auch durch die Finanzierungsfähigkeit einer Gemeinde oder eines Tempelkomitees mitbedingt. Die Funktion und der Zweck einer Prozession werden in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich interpretiert. Nach dem Selbstverständnis der Anhänger und Aktivisten, die daran teilnahmen sowie Zeit und Geld investierten, drückten sie während der Prozession ihre Dankbarkeit für die erfüllten Wünsche aus, wobei neue Gelöbnisse abgelegt wurden. Damit bildete sich ein Zyklus zwischen Menschen und

147 Gott heraus. Außer dem individuellen Motiv - wie Krankheitsheilung - galt das kollektive Motiv, welches das gemeinsame Interesse einer Gemeinde betraf, als der wichtigste Anlass einer Gottbegrüßungsprozession. Gottbegrüßungsprozessionen boten auch Gelegenheiten, mit den Nachbargemeinden zu konkurrieren, um Prestige zu gewinnen oder es zu wahren.

7.8. Geographische Differenzierung

Wenn man die Sicht auf den geographischen Raum des heutigen Shanghai beschränkt, überrascht es nach Sichtung der Quellen festzustellen, dass es im Zeitraum zwischen 1912 und 1949 über 200 Prozessionen gab. 1 Abgesehen davon, dass es noch zusätzliche Prozessionen gegeben haben könnte, die aber aus unterschiedlichen Gründen keine Spuren in den schriftlichen Quellen hinterlassen haben, zeigt die Anzahl doch deutlich, dass Prozessionen nichts Seltsames und Außergewöhnliches, sondern ein beliebtes und verbreitetes Phänomen in Shanghai waren. Obwohl die Ausübungszeiträume mancher Prozessionen anhand der vorhandenen Quellen nicht identifizierbar sind, beziehen sich fast alle verwendeten Aufzeichnungen auf die Republikzeit (1912-49). Man kann auf Abbildung 2 deutlich sehen, dass sich die Prozessionen in Shanghai regional gleichmäßig verteilen. Die einzige Lücke auf der Karte ist der südöstliche Bezirk Fengxian an der Küste. Aber die geringe Zahl von Prozessionen des Bezirks liegt wohl an den Regionalbeschreibungen, die die Prozessionen wegen der Vorurteile des Verfassers gegenüber Prozessionen nicht aufgenommen haben. Viele davon könnten aufgrund der verwechselbaren Begriffe auch als Tempelfest dokumentiert sein.

1 Siehe die Abblidung im Anhang, auf der die beschriebenen Prozessionen lokalisiert sind. Die Quellen der betreffenden Prozessionen sind in den anschließend eingefügten Tabellen zu finden, die auch die Bezeichnungen, Tempel, Orte, Häufigkeit, Dauer und andere Informationen enthalten.

148 7.9. Anhang: Karten und Tabellen

Abb. 4 Bezirke des heutigen Shanghai (Stand: 2000)

149

Abb. 5 Prozessionen in Shanghai aus vier Regionalbeschreibungsserien

Die Ziffern auf dieser Karte entsprechen den Ordnungsnummern der folgenden vier Tabellen.

150 Tabelle 2: Prozessionen aus der Serie der Gemeinden- und Dorfzentrenbeschreibungen

Shanghais (上海乡镇志丛书 )

Nr. Bezeichnung Gottheit Ort Tempel Datum Quelle

Shanghaishi-baoshanqu-changxing 1 出会 猛将 厚朴镇(宝山) 猛将庙 19.6. xiang-zhengfu-xiangzhi-bianxiezu, 1990, 236

Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu -dachangzhen-weiyuanhui;Shangha 2 迎神宴会 大场镇(宝山) 1.10. ishi-baoshanqu-dachangzhen-renmi n-zhengfu, 2001, 325

3 出会 大场镇(宝山) 30.7. Ibid., 325

Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu -luodianzhen-weiyuanhui;Shanghai 4 出会 杨王神 罗店镇(宝山) 杨王庙 30.7. shi-baoshanqu-luodianzhen-renmin -zhengfu, 2005, 655

Shanghaishi-fengxianxian-tairixian 5 迎神赛会 李若水 泰日镇(奉贤) 慈云庵 10.10. g-tairi-zhi-bianxiezu, 1986, 205

6 迎神 泰日镇(奉贤) 资福寺 1.10. Ibid., 206 泰日镇周家弄 7 迎神 15.10. Ibid., 206 (奉贤)

8 迎神 泰日(奉贤) 13.5. Ibid., 206

出会,老爷 Shanghaishi-jiadingqu-malu-zhi-xi 9 马陆(嘉定) 生日 uzhi-lingdao-xiaozu, 1994, 309-10

10 迎神赛会 杨滋,城隍 嘉定镇(嘉定) 15.7./1.10. Xu Yanfu, 1994, 383

老爷出巡, um Jinshanxian-songyin-zhi-bianxiezu, 11 杨老爷 松隐(金山) 杨公庙 出会 Qingming-Fest 1991, 235

迎神赛会, Shanghaishi-jinshanxian-lüxiangzh 12 吕巷镇(金山) 老爷出会 en-renmin-zhengfu, 1991 ,261

迎神赛会, Qingming - Shanghaishi-jinshanxian-langxiaxia 13 廊下(金山) 老爷出会 Fest/1.10. ng-renmin-zhengfu, 1991, 285

Shanghai-jinshanxian-jinweixiang-r 城隍巡城, Qingming - enmin-zhengfu, 1992, 14 城隍 金山卫(金山) 城隍庙 老爷出会 Fest/15.7./1.11. 363/Shanghai-jinshanxian-qianxuxi ang-renmin-zhengfu, 1993, 253

迎神赛会, Shanghaishi-jinshanxian-tinglinzhe 15 亭林镇(金山) Frühling/Herbst 老爷出会 n-renmin-zhengfu, 1993, 276

迎神赛会, Qingming - Shanghaishi-jinshanxian-zhuhangxi 16 朱行乡(金山) 老爷出会 Fest/1.10. ang-renmin-zhengfu, 1993, 241

迎神赛会, Zhujing-xiangzhi-bianzuan-weiyua 17 朱泾乡(金山) Frühling/Herbst 老爷出会 nhui, 1993, 317

151 迎神赛会, Shanghaishi-jinshanxian-ganxiangx 18 干巷乡(金山) Frühling/Herbst 老爷出会 iang-renmin-zhengfu, 1993, 225

Shanghaishi-jinshanxian-fengweixi 19 庙会,做社 枫围(金山) 张文庙 3.9. ang-renmin-zhengfu, 1993, 328

20 老爷出堂 枫围(金山) 猛将庙 12.7. Ibid., 330

21 迎神赛会 枫围(金山) 猛将庙 18.3. Ibid., 331

22 出堂赛会 枫围(金山) 猛将庙 18.8. Ibid., 331

23 庙会 枫围(金山) 贝叶庵 18-19.3. Ibid., 331 斋祭老爷, 24 枫围(金山) 猛将庙 10.9. Ibid., 332 庙会

庙会,老爷 Shanghaishi-jinshanxian-xingtaxian 25 兴塔(金山) 出会 g-renmin-zhengfu, 1993, 311

迎神赛会, Jinshanxiang-tingxinxiang-renmin- 26 亭新乡(金山) Qingming-Fest 出会 zhengfu, 1994, 235

Qingming-Fest/ Jinshanxian-shanyangxiang-shanya 27 庙会 山阳(金山) 翁家庙 1.10. ng-zhi-lingdao-xiaozu, 1994, 308 九龙庙

28 猛将出巡 中天王刘 山阳(金山) (猛将 18.8 Ibid., 308 庙) 城隍、猛 迎神赛会, Jinshanxian-zhangyanzhen-zhenzhi 29 将、杨老 张堰镇(金山) Frühling 老爷出会 -bangongshi, 1995, 257 爷

Jinshanxian-xinnong-zhi-bianxiezu, 30 老爷出会 新农(金山) 五龙庙 1987?, 285

31 老爷出会 施老爷 新农(金山) 8.8. Ibid., 285

32 老爷出会 新农(金山) 氽来庙 unregelmäßig Ibid., 285 钱家圩,张家 迎神赛会, nach dem Shanghai-jinshanxian-qianxuxiang- 33 桥,刘家堰桥附 老爷出会 Qingming-Fest renmin-zhengfu, 1993, 239 近,钱圩(金山)

迎神赛会, 城隍、猛 ab Caojing-zhi-bianzuan-weiyuanhui, 34 漕泾(金山) 老爷出会 将、财神 Qingming-Fest 1995, 312 上圣庙 (西护 35 老爷出会 漕泾(金山) Qingming-Fest Ibid., 315 塘城隍

庙) 迎神赛会, 南城隍 36 城隍 枫泾镇(金山) 4.4. Yuan Bingrong, 1993, 345 老爷出会 庙 迎神赛会, 北镇东 37 城隍 枫泾镇(金山) Qingming-Fest Ibid., 345 老爷出会 城隍庙

38 赛会 枫泾镇(金山) 施王庙 2.8/ab 30.7. Ibid., 347

Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanz 39 庙会 刘鞈 江湾(市区) 东隍庙 28.3. hen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianx iezu, 1986, 132-3

152 Shanghaishi-jiadingxian-taopu-xian 40 出会 桃浦(市区) 15.1. gzhi-bianxiezu, 1995, 358

漕河泾镇(市 Shanghaishi-shanghaixian-caohejin 41 请城隍 城隍 城隍庙 Qingming-Fest 区) gzhen-zhenzhengfu, 1989, 111

Qingming-Fest/ Longhuazhen-renmin-zhengfu, 42 出会 龙华镇(市区) 1.10. 1996, 171-2 老爷、城 隍、杨爷、 43 迎神赛会 龙华镇(市区) 漕河庙 unregelmäßig Ibid., 171-2 孟将、越

王、张显 抬佛,抬老 城隍、老 44 龙华镇(市区) Jan./Okt. Ibid., 172-3 爷 爷、孟将

五角场镇(市 Shanghaishi-yangpuqu-wujiaochan 45 庙会 15.3. 区) gzhen-renmin-zhengfu, 1991, 208 东岳王 五角场镇(市 46 迎神赛会 东隍庙 28.3. Ibid., 234-5 (刘琦) 区)

Zhenruzhen-renmin-zhengfu, 1994, 47 麦黄会 真如镇(市区) 18.4. 164 秦公(秦 48 龙灯会 真如镇(市区) 秦公庙 13.-17.1. Ibid., 165 叔宝)

真如镇城 Qingming-Fest/ 49 三巡会 真如镇(市区) Ibid., 166 隍(韩成) 15.7/1.10.

Hangtou-zhenzhi-bianzuan-weiyua 50 城隍庙会 城隍 航头镇(南汇) 5.- 6.10. nhui, 2003, 358

51 灵官庙庙会 航头镇(南汇) 灵官庙 24.-25.10. Ibid., 358 杨老爷, Qingming-Fest/ 城隍老爷 Tanzhi-zhenzhi-bianzuan-weiyuanh 52 出会 坦直镇(南汇) 15.7/1.10./unre (孚惠 ui, 2003, 358 gelmäßig 伯) 承风庙 Liuzao-zhenzhi-bianzuan-weiyuanh 53 蓝门会 六灶镇(南汇) (镇港 24.6. ui, 2003, 361 庙) 沙涂 孟太、万 54 圩蓝胜会 陈桥镇(南汇) 庙、南 24.7. Ibid., 361 寿王 星庙

55 赶瘟疫 六灶镇(南汇) 强家庙 unregelmäßig Ibid., 361

Wanxiang-zhenzhi-bianzuan-weiyu 56 庙会,出会 万祥镇(南汇) unregelmäßig anhui, 2004, 332

下沙节度使 下沙节 Xiasha-zhenzhi-bianzuan-weiyuanh 57 刘鞈 下沙镇(南汇) 28.3. 庙庙会 度使庙 ui, 2004, 471-2 照天候 下沙尚场庙 下沙尚 58 (杨继 下沙镇(南汇) 9.9. Ibid., 472 庙会 场庙 盛)

153 沈庄城隍庙 沈庄城 59 下沙镇(南汇) 5.10. Ibid., 472 庙会 隍庙 王楼村邱家 王楼村 60 下沙镇(南汇) 19.9. Ibid., 472 庙庙会 邱家庙 牌楼村泾港 牌楼村 61 下沙镇(南汇) 8.- 9.10. Ibid., 472 庙庙会 泾港庙

62 三角场庙会 下沙镇(南汇) 6.10. Ibid., 472

出会,赶节, Waxie-zhenzhi-bianzuan-weiyuanh 63 杨老爷 瓦屑镇(南汇) 14.-16.7. 兰盆会 ui, 2004, 365

出会,赶节 Xuanqiao-zhenzhi-bianzuan-weiyu 64 宣桥镇(南汇) 场 anhui, 2004, 323

65 出会 猛将 宣桥镇(南汇) 猛将堂 unregelmäßig Ibid., 329

Sandun-zhenzhi-bianzuan-weiyuan 66 出堂 杨老爷 三墩镇(南汇) 杨社庙 unregelmäßig hui, 2004,339 中度庵 Sanzao-zhenzhi-bianzuan-weiyuan 67 巡街 赵玄坛 三灶镇(南汇) (周家 4.1. hui, 2004, 330 庙) 新庙

68 出巡 孚惠伯 三灶镇(南汇) (城隍 unregelmäßig Ibid., 331 庙) 城隍庙

69 出巡 城隍 三灶镇(南汇) (施相 15.10. Ibid., 332 公庙)

70 出巡 三灶镇(南汇) 杨社庙 Ibid., 332

Zhoupu-zhenzhi-bianzuan-weiyuan 71 城隍庙会 城隍 周浦镇(南汇) 20.5. hui, 2005, 444

72 岳王庙会 岳王 周浦镇(南汇) 29.9. Ibid, 444

73 沈庄庙会 周浦镇(南汇) 5.10. Ibid., 444

Zhuqiao-zhenzhi-bianzuan-weiyua 74 庙会 祝桥镇(南汇) 1.7 nhui, 2005, 357.

Nicheng-zhenzhi-bianzuan-weiyua 75 老爷出会 泥城镇(南汇) 向阳庙 unregelmäßig nhui, 2005, 291

Yancang-zhenzhi-bianzuan-weiyua 76 行会、出会 盐仓镇(南汇) unregelmäßig nhui, 2006, 287

Gaonanxiang-zhengfu-bianzhizu, 77 接老爷 高南(浦东) 15.7. 248 朝王、赵 78 朝晁王庙 高南(浦东) 晁王庙 27.-28.3. Ibid., 268 玄坛

79 迎神赛会 西宁王 高南(浦东) 岳王庙 Sommer Ibid., 268

靖江王施 孙家宅 Yangsixiang-renmin-zhengfu, 80 迎神赛会 杨思乡(浦东) 16.-17.1. 全 长寿庵 1997, 78

154 杨老爷, 泗泾镇道院弄 Sijingzhen-bianshi-xiuzhi-lingdao- 81 杨老爷出会 杨公子, unregelmäßig (松江) xiaozu, 1989, 219 瘟神 戚灵公、 照天候。 82 猛将庙出会 泗泾镇(松江) 猛将庙 Herbst Ibid., 219 中天王

(猛将) 张管山城隍 83 城隍 泗泾镇(松江) Herbst Ibid., 219 老爷出会 猛将、施 Songjiangxian-jiutingxiang-renmin 84 出庙会 老爷、城 九亭(松江) -zhengfu, 1993, 196 隍 三官

庙会、老爷 堂、太 Zhaotun-zhi-bianzuan-weiyuanhui, 85 赵屯(青浦) 出堂、出会 平桥土 2003, 440 地庙

老爷出堂, 东风村商榻(青 Shangta-zhi-bianzuan-weiyuanhui, 86 猛将 25.3. 出会 浦) 2003, 286

87 出会 杨老爷 金泽镇(青浦) 9.9. Ibid., 286 念八香汛, 东狱大 Jinze-zhi-bianzuan-weiyuanhui, 88 老爷出会,摇 帝、杨老 金泽镇(青浦) 27.-28. 3./ 9.9 2004, 500-1 快船 爷

Liantang-zhi-bianzuan-weiyuanhui, 89 迎神赛会 练塘(青浦) 15.7. 2004, 538

Xianghuaqiao-zhi-bianzuan-weiyua 90 出堂、出庙 玄帝老爷 香花桥(青浦) 1.3. nhui, 2005, 486

91 城隍出巡 城隍 陈行(闵行) Qingming-Fest Li Qiusheng, 1985, 230

迎神会、抬 Shanghaixian-xinzhuangxiang-ren 92 城隍 莘庄(闵行) 19.6. 城隍 min-zhengfu, 1987, 225 孟将、城 93 求神 莘庄(闵行) Herbst Ibid., 232 隍

94 出会 莘庄(闵行) 8.-10.9. Ibid., 232 迎神赛会、 95 孟将 塘湾(闵行) Unbekannt, 1987, 195 秋苗社 吴冲泾 96 出会 城隍 塘湾(闵行) 1.10. Ibid., 195-6 庙

97 招神游村 雷祖 塘湾(闵行) 斗姆阁 unregelmäßig Ibid., 196 城隍 城隍、七 Shanghaishi-minhangqu-luhuizhen- 98 蓝门会 鲁汇(闵行) 庙、三 28.-30.7. 老爷 luhui-zhi-bianxiezu, 1999, 318 官堂

155

Tabelle 3: Prozessionen aus der Serie der Bezirksbeschreibungen Shanghais (上海区县志丛

书)

Nr. Bezeichnung Gottheit Ort Tempel Datum Quelle

Qingming-Fest/ Baoshanxian-xianzhi-bianzuan- 1 三巡会 宝山县城隍 宝山 15.7./ 1.10. weiyuanhui, 1984, 279

Sahnghaishi-chongmingxian-xia 刘猛将军、 2 迎神赛会 崇明 ungregelmäßig nzhi-bianzuan-weiyuanhui, 城隍 1989, 825-6

Shanghaishi-fengxianxian-xianz 3 出巡 城隍 奉贤 ungregelmäßig hi-bianzuan-weiyuanhui, 1987, 1017 菩萨出巡,老 4 奉贤 k.A. Ibid., 1020-21 爷出会

Shanghaishi-jiadingqu-jiadingxi 出会、城隍 5 嘉定 an-xuzhi-bianzuan-weiyuanhui, 会、土地会 1999, 136

Shanghaishi-jinshanxian-xianzhi 迎神赛会,老 Frühling oder 6 金山 -bianzuan-weiyuanhui, 1990, 爷出会 Herbst 1086 城隍 Shanghaishi-nanhuixian-xianzhi- 7 雷斋会 六灶(南汇) 庙、镇 24.6. bianzuan-weiyuanhui, 1992, 739 港庙

8 出会 黄路(南汇) 杨社庙 9.8. Ibid., 739

9 兰盆会 三灶(南汇) 猛将堂 15.8. Ibid., 739

10 出会 下沙(南汇) 邱家庙 19.9. Ibid., 739

11 出会 祝桥(南汇) 1.7. Ibid., 739

12 出会 瓦屑(南汇) 灶王庙 15.7. Ibid., 739

13 灶君会 坦直(南汇) 3.8. Ibid., 739

14 出会 下沙(南汇) 28.3. Ibid., 725

15 出会 周浦(南汇) 28.3. Ibid., 725

16 出会 新场(南汇) 28.3. Ibid., 725

17 出会 惠南镇(南汇) 12.4. Ibid., 725

18 城隍庙会 南汇 20.5. Ibid., 725

19 出会 南汇 岳王庙 29.9. Ibid., 725

Shanghaishi-qingpuxian-xianzhi 老爷出堂,出 20 朱家角(青浦) 27.7. -bianzuan-weiyuanhui, 1990, 会 880 老爷出堂,出 21 杨老爷 金泽(青浦) 28.3. Ibid., 880 会

156 老爷出堂,出 22 金泽(青浦) 东岳庙 9.9. Ibid., 880 会 老爷出堂,出 23 白鹤(青浦) 青龙寺 15.3. Ibid., 880 会 老爷出堂,出 24 城隍 青浦镇(青浦) 26.6. Ibid., 880 会

Shanghaishi-wusong-quzhi-bian 25 迎神赛会 吴淞(宝山) 东岳庙 28.3. zuan-weiyuanhui, 1996, 464

东岳大帝,刘 Shanghaishi-yangpu-quzhi-bianz 26 迎神赛会 鞈代大帝巡 杨浦 28.3. uan-weiyuanhui, 1995, 950 视

杨老爷、城 um 27 迎神赛会 杨浦 道堂庙 Ibid., 951 隍、财神 Qingming-Fest

Tabelle 4: Prozessionen aus der Serie der „Alten Gemeinden- und Dorfzentrenbeschreibungen

Shanghais“ (上海乡镇旧志丛书)

Nr. Bezeichnung Gottheit Ort Tempel Datum Quelle

Frühling und Luo Shunxiang;Wu 1 待佛 嘉定东部 Herbst Guchun, 2004, 112

2 出会、神会 嘉定东部 Frühling Ibid., 123

3 出会 嘉定东部 罗店杨王庙 30.7. Ibid., 113

4 香市 杨彝 外冈嘉定 28.3. Yin Pinyin, 2004, 11

Qingming-Fest/1 5 祭厉坛 钱门塘嘉定 Tong Shigao, 2004, 39 5.7/1.10.

6 出巡 杨忠惠侯 黄渡嘉定 28.3. Zhang Guiyuan, 2004, 20

7 迎神赛会 真如市区 4. Monat Lu Li;Mu Chou, 2004, 238

Qingming-Fest/1 8 赛会 朱泾金山 Zhu Dong, 2005, 10 5.7/1.10.

Yao Yulian;Fan Bingyuan, 9 神诞 五路 张堰金山 5.1. 2005, 21

Cao Xiangjun;Guangyong 10 迎神报赛 枫泾金山 Neujahr Xu, 2005, 16

11 报赛 枫泾金山 都巡司庙 1.10. Ibid., 42 城隍庙、杨 Tang Chengpu;Ge Zhijian, 12 报赛 西岑青浦 爷庙、清莲 2005, 4 庙

Zhou Fengchi;Cai Zishen, 13 赛会 东岳神 金泽青浦 28.3./9.9. 2005, 19

Qingming-Fest/1 Gao Rugui;Wan Yizen, 14 城隍 章练青浦 5.7./ 1.10. 2005, 39

15 钱幡会 岳神 干山松江 岳祠 28.3. Zhou Houdi, 2005, 35-6

157 16 东岳大帝诞辰 东岳大帝 月浦宝山 28.3. Zhang Renjing, 2006, 192 城隍庙、杨 Chen Liangxi;Chen 17 城隍诞辰 城隍 杨行宝山 爷庙、清莲 13.10. Kexiang, 2006, 76 庙

Qingming-Fest/1 18 三巡会 城隍 杨行宝山 Ibid., 76 5.7./ 1.10. 丁公庙、蔡 司庙、驸马

庙、石庙、 Qingming-Fest/1 19 三巡会 杨行宝山 Ibid., 76 大庙、小庙、 5.7./1.11. 印家庙、火

漕庙

20 走外婆家 杨行宝山 活观音堂 15.1. Ibid., 102

Zhonggong-shanghaishi-ba oshanqu-luodianzhen-weiy 21 出巡 杨王 罗店宝山 杨王庙 30.7. uanhui;Shanghaishi-baosha nqu-luodianzhen-renmin-z hengfu, 2005, 19-20

30.7./Qingming- Zhang Yangxian, 2006, 22 迎神赛会 查老爷 大场宝山 Fest/1.10. 120

23 迎神赛会 韩晟 大场宝山 西城隍庙 1.10. Ibid., 121

Wang Zhong;Jin 24 北极神诞 北极神 法华镇市区 Xiangfeng, 2006, 24

25 舁神 城隍 法华镇市区 Qingming-Fest Hu Renfeng, 2006, 32

26 武帝 法华镇市区 13.5./13.9. Ibid., 33

27 城隍 漕河泾市区 1.10. Tang Xirui, 2006, 7

Qingming-Fest/1 28 三巡 城隍 七宝闵行 Gu Chuanjin, 2006, 11 5.7./ 1.10. 鹤坡庙、射 Qingming-Fest/0 29 赛会 城隍 陈行浦东 猎庙、排马 Sun Xiangbai, 2006, 10 1.10. 庙

30 赛会 三林浦东 霜降/1.-0.10. Unbekannt, 2006, 71

Qingming-Fest/1 31 出巡 城隍 三林浦东 东西城隍庙 Ibid., 75-6 5.7/1.10.

Gaohangqu-zhizheng-weiy Qingming-Fest/0 32 迎神赛会 高行浦东 uanhui-bangongshi, 2006, 1.10. 7 浦东东南、 33 迎神出殿 bei Dürre Chu Xuezhu, 2006, 106 南汇东北

158

Tabelle 5: Prozessionen aus der Serie der „Folklore in Shanghai“ (“民俗上海”系列)

Nr. Bezeichnung Gottheit Ort Tempel Datum Quelle

Yin Jizuo;Zhou Mingzhu;Wang 1 城隍神会 城隍 宝山 1.10. Xiaoyu;Zhong Fulan, 2007, 64-65

2 出会、庙会 宝山 28.3. Ibid., 68

3 庙会 猛将 长兴宝山 Juli Ibid., 68

4 庙会 横沙宝山 6.6. Ibid., 68

5 十月朝 杨行宝山 1.10. Ibid., 69

6 庙会、老爷出堂 刘行宝山 Ibid., 68

7 猛将庙会 猛将 罗店宝山 30.7. Ibid., 168-70

迎神赛会、三节 Qingming-Fes Yin Jizuo;Xu Ming;Zhao Danni, 8 嘉定 会 t/15.7./1.10. 2007, 21

城隍出巡、老爷 Yin Jizuo;Wang Honggang, 2007a, 9 金山 出会 38-39

猛将、龙 10 出巡 金山 五龙庙 Ibid., 40 王

Yin Jizuo;Wang Honggang, 2007b, 11 迎神赛会 卢湾 nach der Ernte 136

12 三巡会 城隍 市区 城隍庙 Ibid., 219

迎神赛会,出 Yin Jizuo;Li Yun;Zhong Fulan, 2007, 13 闵行 unregelmäßig 会,老爷出巡 85

Yin Jizuo;Cai Fengming;Zhu 14 庙会 杨老爷 新场南汇 东岳庙 27.-28.3. Xiangying, 2007, 152

12. 4. oder spontan bei 15 城隍出巡 城隍 惠南南汇 Ibid., 154 natürlichen Katastrophen

Yin Jizuo;Hu Jianping;Cai Fengming, 16 三老爷庙会 金桥浦东 社庄庙 11.3. 2007, 187 东狱大 17 赛会 高桥浦东 东狱庙 28.3. Ibid., 189 帝

18 迎神赛会 金泽青浦 东岳庙 28.3/9.9. Yin Jizuo, 2007a, 82 青浦镇青 19 城隍庙会 城隍 6.6. Ibid., 83 浦

20 出会 松江 2/3 Yin Jizuo, 2007b,35

东岳大 Yin Jizuo;Yu Xiufen;Zhang 21 景德观赛会 杨浦 景德观 28.3. 帝 Zheren;Cai Fengming, 2007, 148

159

8. Die Haltung der Regierung und ihre mediale Repräsentation

Allgemein betrachtet, hatten die Zentralregierung und die lokalen Behörden in der Republikzeit eine sehr negative Haltung zur Prozession, obwohl letztere, wie in den vorigen Kapiteln angedeutet, in der Kaiserzeit unter Umständen geduldet und toleriert worden war. Diese Haltung blieb in der Republikzeit fast unverändert. Außerdem entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den großen Städten, wie Shanghai, die moderne Presse, die auf die Einstellung der gebildeten Stadtbewohner und wohlhabenden Bürgerschicht einen großen Einfluss ausübte. Einerseits wurden die überwiegend von Dorfbewohnern durchgeführten Prozessionen in der Presse sehr abwertend dargestellt oder sogar verunglimpft. Andererseits engagierten sich dennoch unzählige Aktivisten nach wie vor für unterschiedliche Prozessionen im ländlichen und städtischen Gebiet. In diesem Kapitel wird versucht werden, die negative Haltung sowohl der Regierung als auch der Prozessionsgegner zu rekonstruieren und ihre Argumente darzustellen.

8.1. Die schlechte Erinnerung: Der Vorfall aus dem 18. Jahrhundert

Wie im letzten Kapitel erwähnt, kam es bei Prozessionen manchmal wegen Missverständnissen oder Provokationen zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten, Gemeinden oder Nachbardörfern. Shanghai bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Ein Vorfall aus dem 18. Jahrhundert hatte die lokale kollektive Erinnerung sogar so tief geprägt, dass er als ein negatives Beispiel in eine Dorfchronik einging. Die Dorfbewohner von Caohejing (漕河泾)1 pflegten den Brauch, alljährlich am Qingming-Fest den Stadtgott durch die Gemeinde zu tragen. Während des sogenannten Stadtgott-Inspektionsrundgangs sollten die lokalen Bewohner dem Stadtgott auf den Straßen Opfer darbringen. Ursprünglich teilte sich das Dorf

1 Caohejing befindet sich im südwestlichen Teil des heutigen Shanghai.

160 Caohejing mit dem Nachbardorf Longhua (龙华) einen Stadtgott, dessen Tempel sich an der Grenze zu Longhua befand. Im Jahr 1719 planten die Dorfbewohner Caohejings, einen eigenen neuen Stadtgotttempel einzurichten und von da an die Prozession aus Longhua abzulehnen. Die Route der Prozession sollte deshalb dementsprechend geändert werden, d. h. der Stadtgott-Inspektionsrundgang aus Longhua sollte nicht mehr durch Caohejing führen. Aber am Qingming-Fest tauchte der Prozessionsumzug aus Longhua trotzdem in Caohejing auf. Diesmal war er jedoch nicht willkommen, und der Stadtgott bekam deshalb kein Opfer mehr. Die Prozessionsteilnehmer aus Longhua sahen dies als eine schwere Beleidigung an. Diese Missverständnisse 1 führten letztlich zu mehrmaligen Massenprügeleien zwischen beiden Dörfern. Es kamen sogar mehrere Menschen ums Leben, und der Stadtgotttempel in Longhua wurde beschädigt. Der darauf folgende Prozess dauerte fünf Jahre. Erst 1811, als der Stadtgotttempel in Caohejing mit der finanziellen Unterstützung der einheimischen Gentry endlich fertig gestellt worden war, endete die fast jahrhundertlange Auseinandersetzung mit einer neuen Klärung des Tempelgebiets (庙界)2 der beiden Dörfer.3 An diesem Vorfall kann man deutlich ablesen, dass eine Prozession unter Umständen einen Zusammenprall oder Konflikt zwischen Nachbargemeinden auslösen kann. Wenn die Prozessionsteilnehmer die Prozession und die damit verbundene Ehre hochachten, sind sie sogar dazu bereit, jeden Preis zu zahlen, um die Prozession vollständig durchführen und eine Störung beseitigen zu können. Seitens der Regierung und lokalen Behörden wurde solch ein großes Engagement, solch eine Motivation selbstverständlich als Gewaltpotential wahrgenommen, dessen Kraft sich im Laufe der Prozession überraschend entfalten konnte. Dabei darf man nicht außer

1 Der Quelle kann man nicht entnehmen, ob die Gemeinde Caohejing bereits vorher die Gemeinde Longhua über die Planung eines neuen Tempels informiert hatte. Es ist nicht auszuschließen, dass die Aktivisten aus Longhua trotz der Benachrichtigung den Umzug weiter in Caohejing einlaufen ließen, weil sie die Ablehnung ihres Stadtgottes als eine Beleidigung empfunden haben könnten. 2 DasTempelgebiet, das normalerweise durch Vereinbarung der Nachbardörfer bestimmt wurde, war die maximale Grenze einer Prozession. Überschreitung des Tempelgebietes bei einer Prozession wurde als Provokation oder Beleidigung wahrgenommen. 3 Shanghaishi-shanghaixian-caohejingzhen-zhenzhengfu 上海市上海县漕河泾镇镇政府 (Hg.), Caohejing zhenzhi 漕河泾镇志, 111.

161 Acht lassen, dass eine Prozession eine Vielzahl von Teilnehmern und Schaulustigen anzieht. Die lokalen Behörden, d. h. vor allem die Polizei, die für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zuständig sind, könnten während der Prozession überlastet und überfordert sein, so dass sie eventuell nicht in der Lage sind, Kriminalität zu verhindern oder zu unterdrücken. Aus diesem Grund sahen viele lokale Beamte eine Prozession verständlicherweise als eine Brutstätte für Kriminalität und Unruhe an. Deswegen tendierten die meisten lokalen Beamten dazu, Prozessionen gesetzmäßig zu verbieten und damit zu vermeiden. Aber wenn die Durchführung einer Prozession nicht mehr zu verhindern war, sollten aus ihrer Sicht Dauer und Ausmaß auf einen akzeptablen Umfang beschränkt werden.1 Dieser Einwand gegen die Prozession seitens der Regierung und lokalen Behörden kann als das Sicherheits-Argument bezeichnet werden.

8.2. Die Vorschriften und Gegenmaßnahmen der Behörden

In den Statuten des Munizipiums der öffentlichen Konzession Shanghais (公共租界 公部局), die 1909 ausgearbeitet wurden, wurden Prozessionen zwar noch nicht strikt verboten, aber schon stark eingeschränkt. Es wurde festgesetzt, dass Prozessionen innerhalb der öffentlichen Konzession nicht eigenmächtig durchgeführt werden durften, d. h. die Genehmigung musste drei Tage vor einer Prozession beim Munizipium beantragt werden. Außerdem gab es einige Beschränkungen bezüglich der Zeiten und Orte: Erstens durften Prozessionen nicht innerhalb des Zentrums bzw. des Bereichs östlich der Henan-Straße (河南路) stattfinden; zweitens durften sie in bestimmten Zeiträumen, nämlich von 8 bis 9 Uhr 30, 12 bis 14 Uhr 30 und 16 bis 18 Uhr, nicht die Nanjing-Straße (南京路), die Jing’an-Tempel-Straße (静安寺路)2 oder den Bereich östlich der Xiaoshadu Straße (小沙渡路)3 überschreiten.1 Drittens

1 Wenn darüber hinaus ein Prozess, der sich einem Konflikt anschloss, verwickelt war, wie im oben erwähnten Vorfall in Caohejing, musste das Gericht ein hohes Maß an Arbeitskraft und Geld einsetzen, um den Fall zu untersuchen. Ein langjähriger Prozess, in dem manchmal kein Urteil gefällt werden konnte, wurde als reine Verschwendung der juristischen Ressource verstanden. Aus solch einem Prozess konnte kein klarer Sieger hervorgehen: Es gab nur Verlierer. 2 Die Jing’an-Tempel-Straße ist die heutige westliche Nanjing-Straße (南京西路). 3 Die Xiaoshadu-Straße ist die heutige Xikang-Straße (西康路) in Jing’an und im Putuo-Distrikt. Die Straße, die sich in der damaligen französischen Konzession befand, hieß vor 1943 auf Französisch

162 musste dem Munizipium vorher mitgeteilt werden, wenn Soldaten oder Bewaffnete an der Prozession teilnahmen. 2 Die ausführlichen Maßnahmen gegen Prozessionen deuten darauf hin, dass letztere in der Republikzeit auf keinen Fall ungewöhnliche, sondern häufig vorkommende Veranstaltungen waren. Die Behörden versuchten, die Prozessionen mit den innerhalb der Konzession geltenden Vorschriften zu regulieren, um potenzielle Sicherheitsprobleme zu vermeiden, zumindest aber, um mögliche Risiken erkennbar zu machen. Ob diese Maßnahmen erfolgreich waren, können wir an dieser Stelle leider nicht beurteilen, weil keine schriftlichen Aufzeichnungen über Prozessionen in der öffentlichen Konzession hinterlassen wurden. Man könnte sogar daran zweifeln, dass Prozessionen in der Republikzeit innerhalb der öffentlichen Konzession tatsächlich stattgefunden haben, oder dass sie wirklich vom Munizipium genehmigt wurden. Vielleicht liegt es daran, dass sich die meisten volksreligiösen Tempel im chinesischen Stadtteil befanden und die Prozessionen wohl nur dort durchgeführt wurden. Oder anders formuliert, die strengen Maßnahmen gegen Prozessionen innerhalb der öffentlichen Konzession führten dazu, dass die Durchführung der Prozessionen aufgrund des bürokratischen Genehmigungsverfahrens verhindert wurden, während das Verbot innerhalb der chinesischen Altstadt nur auf dem Papier stand und daher ein großer Spielraum für die Prozessionen bestand.3 Obwohl es in vielen (Nachbar-)Regionen Shanghais keine klaren schriftlichen Verbote von Prozessionen gab, wurden letztere durch die Anweisungen der lokalen Regierung

„Route Lafayette“. 1 Siehe im Anhang die Abbildung “Prozession-Sperrzonen der Konzessionen in Shanghai”. 2 Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 632. Satz 25. 3 Allgemeines zur Jurisdiktion über Prozessionen in der Republikzeit: In der Republikzeit wurde die religiöse Organisation der Sozialorganisation untergeordnet. Im ersten Jahr der Republik (1912) wurde eine Sektion der 2. Abteilung des Innenministeriums eingerichtet, um die religiösen Angelegenheiten und die religiösen Organisationen zu regulieren. Nach der Gründung der Nanjing-Regierung (1927) übernahm die Kuomintang (chinesische nationalistische Partei) teilweise die Verantwortung für die Regulierung der Religionen, und innerhalb der Regierung sollte das Innenministerium dafür zuständig sein. Entsprechend sollten auf der Provinzebene das Parteikomitee in Shanghai und die Sozialbehörde dafür verantwortlich sein. Siehe Shanghai-zongjiao-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上海宗教志》编纂委 员会 (Hg.), Shanghai zongjiao zhi 上海宗教志, 602. Aber in der Praxis war die lokale Polizei immer die erste verantwortliche Behörde, weil sie unmittelbar für die Genehmigung der öffentlichen Veranstaltung zuständig und verantwortlich war. Zudem sollte sie die öffentliche Ordnung gewährleisten, wenn eine Prozession stattfand.

163 oder die Beschlüsse der lokalen Parteiorgane unterdrückt, untersagt oder sogar komplett verboten. So wurden im Jahr 1929 die Prozessionen in Jiashan (嘉善)1 verboten und die Einhaltung dieses Verbots durch die lokale Polizei gewährleistet. Die Regierung vertrat den Standpunkt, dass durch die Prozessionen sich der Aberglaube des Volkes in der Gegend ausbreiten könnte.2 Im Juni 1936 untersagte das lokale Parteiorgan die Prozession des Stadtgottes in Changshu (常熟) 3 kurz vor den festgesetzten Tagen (13. und 14. Juni). Nach dem Bericht einer Zeitung waren alle Hotelzimmer und Restaurants in der Stadt trotz eines Preisanstiegs von 20 Prozent schon ausgebucht. Sogar mehrere Sonderbuslinien waren extra für die Prozession eingesetzt worden, um die Besucher aus anderen Städten transportieren zu können. Aber auf Anweisung des lokalen Parteiorgans wurde die Veranstaltung wegen ihres abergläubigen Charakters kurzfristig von der Stadtregierung untersagt. Die Polizei wurde verstärkt, um potenzielle Unruhen zu verhindern. Die Geschäftsmänner, die sich bereits auf die Prozession vorbereitet hatten, konnten außer einer Petition nichts dagegen unternehmen.4

8.3. Die Zwischenfälle in Shanghai

8.3.1. Der Brandanschlag auf die Polizeiwache in Luodian (1914)

1914 veranstaltete der Stadtgotttempel in Luodian ( 罗店) eine dreitägige Peking-Oper-Aufführung, um den Geburtstag des Stadtgottes zu feiern. 5 Diese Aufführung wurde von den lokalen Geschäftsmännern finanziell unterstützt. Alle Bewohner im Dorf wurden eingeladen. Aber ein Polizeichef namens Liu Danshan (刘 丹山) untersagte dem Tempelkomitee, die Opern aufzuführen. Die lokalen Dorfbewohner waren unzufrieden mit dem Verbot und ließen die Aufführung trotzdem stattfinden. Auf Lius Befehl wurde daraufhin auf einen Theaterdarsteller

1 Jiashan ist ein Kreis ca. 80 Km westlich von Shanghai. 2 Shenbao, 256-896(5). 3 Changshu ist eine Stadt ca. 70 km nordwestlich von Shanghai. 4 Shenbao, 341-281(7). 5 Solche Aufführungen wurden nicht nur als eine profane Vergnügungsangelegenheit für die Menschen, sondern auch als ein symbolisches „Opfer“ für die Gottheit angesehen, mit dem die Menschen letztere günstig stimmen konnten.

164 geschossen, der dabei verletzt wurde. Die wütenden Dorfbewohner steckten anschließend die Polizeiwache1 mit Petroleum in Brand. Um die Unruhestifter zu besänftigen, musste sich schließlich der Polizeichef an Jin Yinliu (金饮六) wenden, einen großen Geschäftsmann voller Prestige und gleichzeitig Hauptmitglied des Tempelkomitees. Der Polizeichef lenkte daraufhin ein und zog als Entschuldigung das Aufführungsverbot zurück.2 Obwohl diese Opernaufführung nach unserer Arbeitsdefinition keine richtige Prozession war, kann man diesem Zwischenfall folgendes entnehmen: Dass die betreffenden Beamten die staatliche Gewalt unflexibel anwandten, führte zu einer gewalttätigen (Über)Reaktion des Volkes, die wiederum das Ansehen des jeweiligen lokalen Beamten sowie die staatliche Autorität beschädigte. Die Widerstandsbereitschaft und -fähigkeit des Volks waren also nicht zu unterschätzen.3

8.3.2. Das Janusgesicht der staatlichen Macht (1926)

Jedes Jahr im dritten Monat nach dem traditionellen chinesischen Kalender sollten die Einwanderer aus der Jianghuai-Region (江淮)4 die Dutian-Prozession (都天神会)5 im Bezirk Zhaibei (闸北区)6 feiern. Nach Angabe einer lokalen Zeitung1 bestand der

1 Die lokale Polizei benutzte den Feuergott-Tempel (火神庙) als ihr Bürohaus. Der ausgebrannte Teil war nur die Bühne des Tempels. 2 Zhonggong-shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-weiyuanhui ; Shanghaishi-baoshanqu-luodianzhen-renmin-zhengfu 中共上海市宝山区罗店镇委员会;上海市宝山 区罗店镇人民政府 (Hg.), Luodian zhenzhi 罗店镇志, 748. 3 Darüber hinaus muss man beachten, dass die Mittelschicht, in diesem Fall der Geschäftsmann und das Mitglied des Tempelkomitees, eine Schlüsselfunktion bei dem Meinungsaustausch und der Vermittlung zwischen der Regierung und den lokalen Dorfbewohnern einnehmen konnte. In der Kaiserzeit hatte die Gentry auch eine ähnliche Vermittlerrolle. 4 Die Jianghuai-Region bezieht sich auf das Gebiet zwischen dem Huai-Fluss (淮河) und Yangtse (auf Chinesisch als „Jiang“ abgekürzt), das der heutigen Provinz Jiangsu und der Mitte der Provinz Anhui entspricht. 5 Diese verehrte Gottheit geht vermutlich auf den General Zhang Xun (张巡, 709-757) zurück. Er starb im Kampf gegen die Anshi-Rebellion (安史之乱, 755-763). Später wurde er wegen seiner Heldentat von den Stadtbewohnern in Suiyang (睢阳) in der Jianghuai-Region als Gottheit verehrt. In der Umgangssprache wird er auch als „der alte Herr Dutian“ (都天大老爷) bezeichnet. Wenn diese Vermutung richtig ist, müsste die Prozession eine typische Veranstaltung der Einwanderergruppe aus der Jianghuai-Region gewesen sein. In der Bezirksbeschreibung gibt es einen Tempel namens „Dutian“ (都天庙), der dem Taoismus zugeordnet wird. Merkwürdigerweise stammten die Priester des Tempels nach dieser Aufzeichnung ausschließlich auch aus der Jianghuai-Region. Siehe Shanghaishi-zhabei-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市闸北区志编纂委员会 (Hg.), Zhabei quzhi 闸北区志, 1140. 6 Der Zhabei-Bezirk liegt nördlich des Suzhou-Flusses (苏州河). Er ist bekannt wegen seiner großen

165 Umzug aus mehreren Einheiten, z.B. den Drachenlaternen, dem Arm-Weihrauch (臂 香)2 und bekleideten Gefängnisaufsehern. Die Zeitung beschrieb diese Veranstaltung mit den Worten „bezaubernd und dionysisch“. Im Jahr 1926 beantragten zwei Veranstalter namens Gu Degao (顾德高) und Li Fengxiang (李凤祥) bei dem Ausnahmezustandsquartier3 und Polizeipräsidium Shanghais die Genehmigung für diese Prozession. Sie begründeten ihren Antrag damit, dass die Prozession Unglück und Katastrophen verhüten könne. Interessantweise reagierten die beiden betreffenden Behörden widersprüchlich. Ein Polizeichef namens Yan4 lehnte den Antrag mit zwei Argumenten ab: Erstens sei über die Stadt derzeit eine Ausgangssperre verhängt worden, so dass sie sich in einem Ausnahmezustand befinde; zweitens sei die Prozession seiner Ansicht nach eine reine Verschwendung von Geldern. Er erteilte sogar den Befehl, dass der Bezirksverantwortliche das Verbot bekannt machen und vollziehen müsse. Aber das Ausnahmezustandshauptquartier war anderer Meinung: Es genehmigte die Prozession, weil „die Geschäftsmänner und Bevölkerung dort mehrmals darum gebeten“ hatten. Die Prozession fand tatsächlich reibungslos am 14. April statt. Es lässt sich deutlich ablesen, dass der Meinungsunterschied zwischen den unterschiedlichen Behörden bzw. innerhalb des Staatsapparates das Verbot der Prozession schwächte. Die unklare Machtverteilung zwischen den Behörden oder die sich überschneidende Machtstruktur (besonders in der Republikzeit) boten einen Spielraum für die Prozessionen. Obwohl die Gründe für den Meinungsunterschied mit Hilfe der heutigen Quellen nicht mehr rekonstruierbar sind, kann man dennoch vermuten, dass sie höchstwahrscheinlich mit der Kollision der Interessen und der

Anzahl an Einwanderern, die vor 1949 überwiegend als Schwerarbeiter tätig waren. 1 Shenbao, 222-335(2). 2 Der „Arm-Weihrauch“ trat vermutlich ähnlich wie der sogenannte Fleisch-Weihrauch oder Muskel-Weihrauch bei den Stadtgott-Inspektionsrundgängen und anderen Prozessionen in Shanghai auf. Die Teilnehmer übten eine Art blutige Selbstverletzung aus, um von der Gottheit Entsühnung oder Schutz zu erwirken. 3 Das Armee-Oberkommando in Shanghai wurde während des Warlord-Krieges zeitweilig in das Ausnahmezustandshauptquartier (戒严司令部) umbenannt. 4 Der vollständige Name des Polizeichefs lautet Yan Chunyang (严春阳). Er war nur von Dezember 1915 bis November 1916 als Polizeichef Shanghais tätig. Siehe Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 61.

166 Korruption verbunden waren. Nun leiten wir zum nächsten historischen Beispiel über, mit dem das unerklärbare Rätsel gelöst wird.

8.4. Die Zwischenfälle in der Nachbarregion und ihre mediale Repräsentation in Shanghai

Die Artikel und Kommentare in den Zeitungen, die in der Republikzeit die dominierenden Kanäle der Medien waren, fungierten als eine Wetterfahne der öffentlichen Meinung, zumindest der gut gebildeten und aufgeklärten Mittel- und Oberschicht in Shanghai. Die Prozessionen wurden in den Medien oft abwertend dargestellt, indem sie als Überrest des unzivilisierten und unaufgeklärten Bestandteils chinesischer Kultur interpretiert wurden. Über die von den Prozessionen ausgelösten Konflikte in der Nachbarprovinz wurde in der Presse Shanghais berichtet, indem sie scharf kritisiert wurden. Die mediale Darstellung der Prozessionen außerhalb Shanghais beeinflusste maßgeblich die Meinung der Stadtbewohner Shanghais zur Prozession.

8.4.1. Die Prozessionen in Zhenjiang (1919-20)

Am 20. August 1919 berichtete eine Kurzmeldung 1 in Shenbao, dass im südwestlichen Teil Zhenjiangs (镇江)2 die Stadtbewohner planten, eine einwöchige Prozession3 durchzuführen, weil sie von einer tödlichen Seuche schwer getroffen seien. Der Autor der Kurzmeldung schrieb in einer Anmerkung, dass wegen der Ignoranz der Dorfbewohner, sich nicht auf die moderne Medizin zu stützen (es ist sehr fraglich, ob diese Medizin dort überhaupt praktiziert wurde und ob die Bewohner sie sich hätten leisten können), innerhalb weniger Stunden mehrere Menschen einer Familie an der Seuche gestorben seien. Ein Jahr später, am 30. Mai 1920, berichtete die Shenbao wiederum über eine

1 Shenbao, 158-843(5). 2 Zhenjiang ist eine Stadt im süd-westlichen Teil der Provinz Jiangsu, die ca. 240 km westlich von Shanghai entfernt ist. 3 Der gewidmete Gott war General Yangsi (杨四将军) vom Jixiang Nonnenkloster (吉祥庵). Er ist vermutlich der häufigste verehrte Gott gegen Epidemie und Krankheit in der Yangtse-Region.

167 Prozession in Zhenjiang. 1 Diesmal war die Prozession besonders feierlich und aufwendig, weil die Seuche im Jahr zuvor ungewöhnlich schlimm gewesen war. An ihr nahmen insgesamt 36 unterschiedliche Laienvereinigungen teil, die jeweils nach ihren Berufen aufgeteilt wurden, z.B. die Leiguogong-Vereinigung (雷国公会) der Fleischer, die Jingfu-Vereinigung (景福会) der Seidenindustrie, usw. Der Umzug dauerte vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Nach dieser Meldung waren die Straßen durch die Teilnehmer und Schaulustigen der Prozession vollkommen verstopft. Der lokale Polizeichef namens Xiong schickte Polizisten dorthin, um die Ordnung zu wahren. Der Autor kommentierte herablassend, dass die Stadtbewohner von Zhenjiang im Zeitalter des globalen Fortschrittes immer noch an eine göttliche Macht glaubten, als ob sie noch in der Zeit der Primitiven lebten. Solche Veranstaltungen gründeten sich nicht nur auf Nichtwissen, sondern seien auch eine Verschwendung von Arbeitskraft und Ressourcen. Aus diesem Kommentar kann man wiederum deutlich herauslesen, dass die Presse in Shanghai eine weltanschauliche Überlegenheit gegenüber den Teilnehmern sowie Veranstaltern der Prozessionen beanspruchte, um aus dieser Überlegenheit heraus Kritik an ihnen üben zu können. Aus der Sicht des Autors wurde die medizinische Versorgung, mit der die Seuche hätte bekämpft können, vermutlich unabsichtlich vernachlässigt. Außerdem scheint es, dass die lokale Polizei nichts gegen die Prozession unternahm. Stattdessen demonstrierte ihre Anwesenheit die staatliche Macht, die die Prozession vor Kriminalität und Massenpanik schützen sollte.

8.4.2. Der Zwischenfall in Jiangshan zu Ningbo (1922)

Zwei Jahre später, am 29. März 1922, berichtete Shenbao einen Zwischenfall in Jiangshan, der von einer Prozession ausgelöst wurde2. Kurz vor dem festgesetzten Termin, dem 25. März, meldete ein Bürger namens Chen Junming (陈峻明) der lokalen Regierung die bevorstehende Prozession. An demselben Tag führten die

1 Shenbao, 164-525(4). 2 Shenbao, 178-550 (1). Siehe auch Shenbao, 179-135 (3). Jiangshan (姜山) ist ein Dorf, dass zu Ningbo (宁波) gehört, dessen Einwohner überwiegend Fischer waren. Jiangshan liegt ca. 5 km südlich vom Zentrum Ningbos und 120 km südlich von Shanghai.

168 Dorfbewohner eine Vorprozession durch, obwohl die Regierung einhundert Polizisten und Soldaten geschickt hatte, um die Veranstaltung zu unterbinden. Die Situation spitzte sich langsam zu. Am 26. März planten die Prozessionsteilnehmer, den Umzug an der Polizeiwache vorbeizuführen, was wahrscheinlich als eine Provokation und Vergeltungsaktion wegen des Polizeieinsatzes am Tag zuvor gemeint war. Die Polizei war jedoch darüber informiert und stationierte dort eine Verteidigungstruppe von hundert bewaffneten Polizisten und Soldaten. Als der Umzug an der Polizeiwache vorbeikam, ließ die Polizei die Statue der Gottheit zunächst passieren. Aber die Prozessionsteilnehmer umstellten den Eingang der Polizeiwache, was sofort zu einem Zusammenstoß beider Parteien führte. Die Polizei feuerte mehrere Warnschüsse ab, um die Prozessionsaktivisten abzuschrecken. Aber die Situation geriet schnell außer Kontrolle. Als die Fischer, die sich im Umzug als Missetäter verkleidet hatten, in die Polizeiwache einzudringen versuchten, eröffnete die Polizei das Feuer auf sie. Drei Prozessionsteilnehmer wurden erschossen und mehrere verwundet. Ein Schaulustiger namens Qi Changshou (齐长寿) war von einer verirrten Kugel in der Hand getroffen worden. Auch seitens der Polizei gab es mehrere Verletzte. Außerdem wurden drei Soldaten an einem anderen Ort von den wütenden Prozessionsteilnehmern in den Fluss geworfen und anschließend von unbeteiligten Personen gerettet. Gegen 15 Uhr versammelten sich die Prozessionsteilnehmer, um kurz über die Situation zu beraten. Anschließend stürmten sie Chen Junmings Privatwohnung, weil sie der Überzeugung waren, dass Chen wegen seiner Meldung bei der Polizei für den Konflikt verantwortlich sei. Chen war am Vormittag zwar kurz nach dem Zusammenstoß zwischen den Prozessionsteilnehmern und der Polizei bereits nach Shanghai geflohen, aber sein Haus wurde niedergebrannt. Um 17 Uhr wurden zwei Truppen, die jeweils aus 50 Soldaten und 40 Polizisten bestanden, nach Jiangshan geschickt, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach dem Konflikt waren fast alle Geschäfte in Jiangshan demonstrativ geschlossen. Gleichzeitig hatten die Dorfbewohner auch Angst, auf die Straße zu gehen. Am nächsten Tag wurde ein Sonderermittlungsteam vom lokalen Gericht nach

169 Jiangshan geschickt, das aus einem Staatsanwalt namens Zheng Herun (郑鹤润), vier Justizpolizisten1 und 20 Schutzpolizisten bestand. Das Team führte umgehend eine Ermittlung durch. Nach der Obduktion wurde festgestellt, dass zwei erschossene Prozessionsteilnehmer jeweils an der Stirn und am Brustkorb getroffen worden waren. Danach wurde die lokale Polizei befragt. Einer der beiden erschossenen Prozessionsteilnehmer namens Li Yongxing (李永兴), der als Koch in Shanghai gearbeitet hatte, stammte aus einer wohlhabenden Familie. Der 19-jährige hatte gerade im letzten Jahr unter einer schweren Krankheit gelitten. Seine Eltern hatten ihm befohlen, bei der Gottheit des Xianyan-Tempels (仙严寺) ein Gelöbnis abzulegen, das die Verpflichtung beinhaltete, als Missetäter verkleidet am Prozessionsumzug teilzunehmen. Aus diesem Anlass war er zurück in die Heimatstadt gereist. Die andere erschossene Person, ein 23-jähriger Schaulustiger, war von einer verirrten Kugel getroffen worden. Wenige Tage später veröffentlichte der Polizeipräsident Ningbos einen Bericht. Diesem Bericht zufolge hatten die Prozessionsteilnehmer versucht, die Polizeiwache zu stürmen und die Waffen der Polizei gewaltsam an sich zu nehmen. In dieser Situation seien die Polizisten gezwungen gewesen, auf die Teilnehmer zu schießen. Interessanterweise wurde der Polizeipräsident namens Lin Yingqing (林映清) in einer Erklärung des Oberkommandanten der Armee in Ningbo kritisiert. In dieser Erklärung stand, dass der Polizeipräsident einen grausamen Charakter habe. Zudem sei er nicht genügend gegen die Prozession gewappnet gewesen, und als die Situation eskalierte, habe er versucht, die wütenden Prozessionsteilnehmer mit Gewalt niederzuschlagen. Das Resultat sei ziemlich schlimm: drei Tote, mehr als zehn Verwundete, vier niedergebrannte Häuser und unzählige leicht Verletzte. Hätte es keine Unterstützung der Armee gegeben, hätte es noch schlimmer enden können. Nach Meinung des Oberkommandanten war die Prozession in Ningbo zwar ein bekannter unsinniger Brauch der lokalen Bewohner, aber die Prozessionsteilnehmer hätten gar nicht die

1 Justizpolizei (司法警察) war die polizeiliche Mitarbeiter der Justizbehörde, die für die Bewahrung der Ordnung innerhalb des Gerichtshofs zuständig sein sollte. Sie wurde unmittelbar vom Gerichtspräsident nominiert. Siehe Shanghai-shenpanzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海审判志编纂委员 会 (Hg.), Shanghai shenpanzhi 上海审判志, 107.

170 Absicht gehabt, Unruhe zu stiften. Daher sei es unnötig gewesen, auf die Teilnehmer zu schießen, und der Polizeipräsident müsse gesetzlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Stellungnahme der Polizei deutet wiederum darauf hin, dass innerhalb des Staatsapparats eine Meinungsdiskrepanz zwischen der Armee und der Polizei vorlag. Ob solch eine Diskrepanz schon seit langem bestanden hat, lässt sich allerdings bezweifeln. Stattdessen lässt sich vermuten, dass die Armee nach dem Konflikt versuchte, sich von der lokalen Polizei zu distanzieren und sie zum Sündenbock zu machen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Nach einem inoffiziellen Bericht hatten alle Geschäfte in Jiangshan zu einem Händlerstreik am 26. März aufgerufen. Der Verkehr in der Gegend der Polizeiwache wurde komplett behindert, weil zahlreiche Bewohner dort stehen blieben. Ein Bauer wurde wegen seines Protestes verhaftet, später jedoch aufgrund der Bürgschaft anderer Bewohner frei gelassen.1 Aus diesen Vorfällen kann man deutlich ablesen, dass die Stimmung in Jiangshan aufgeheizt war, weil die Bürger aufgebracht waren.

8.4.3. Das Echo in Shanghai

Die Auswirkungen des Konflikts beschränkten sich nicht nur auf Jiangshan, sondern lösten eine heftige Debatte in der Öffentlichkeit in Shanghai aus. Am 19. April tauchte ein Kommentar 2 in Shenbao auf, der eine schrittweise Reform der Prozession vorschlug. Nach Meinung des Autors sollte das Geld für die Prozession in einem ersten Schritt zur Unterstützung der Armen gespendet werden. Der Autor erkannte, dass Prozessionen im Allgemeinen dem Vergnügen dienten. Aus diesem Grund sollten Bibliotheken, Musikhallen, Parks und Sportplätze für das Volk eingerichtet werden, so dass das Bedürfnis nach einer Prozession umkanalisiert werden könne. Er hoffte sogar, dass in zehn Jahren die Prozessionen in der Provinz Zhejiang endgültig umgestaltet werden würden, wenn man auf seine Vorschläge tatsächlich eingehen würde. Am 22. April erschien ein anderer Kommentar in Shenbao mit dem Titel

1 Shenbao, 178-550(1). 2 Shenbao, 179-398(1).

171 „Prozessionen sind unnütz“1, der einen noch radikaleren Standpunkt vertrat. Der Autor erwähnte einen unbekannten Tempel auf dem Wolfsberg ( 狼山), um aufzuzeigen, dass die Pilger und Gläubigen jährlich ca. zehntausend Yuan für die Pilgerfahrt aufbrächten. Da es in der Provinz Zhejiang nicht weniger als zehn solcher Tempel gebe, werde jährlich allein in der Provinz Zhejiang für derlei religiöse Tätigkeiten umgerechnet eine Million Yuan ausgegeben. Der Autor erwähnte auch, dass er zwei Jahre zuvor als Schaulustiger einmal eine Prozession im Kreis Tai (泰县) gesehen habe. Nach seiner Einschätzung wurden über hunderttausend Yuan für die Vorbereitung und den Umzug ausgegeben. Der Autor war der Meinung, dass es keine Götter gebe. Wenn es aber tatsächlich Götter gäbe, so dienten solche Aktionen, wie das Verbrennen von Räucherstäbchen, Kotaus und Prozessionen, nicht dazu, die Belohnung oder Segnung der Götter zu erlangen. Der Autor erzählte weiter, dass ein Jahr zuvor ein Pilger auf dem Weg zum Wolfsberg bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Dieser Unfall sei von anderen Pilgern als Zeichen der Unfrömmigkeit des Verstorbenen interpretiert worden, weil er angeblich den Vegetarismus nicht eingehalten habe. Anschließend übertrug der Autor seine Kritik auf den Vorfall in Jiangshan und fragte ironisch, ob all die Prozessionsteilnehmer in Jiangshan den Vegetarismus nicht eingehalten hätten, und aus welchem Grund diejenigen, die sich gegen die Prozession ausgesprochen hätten, nicht von den Göttern bestraft worden seien. Zum Schluss schlug der Autor vor, dass man nur dann Unglück vermeiden und Glück erlangen könne, wenn man sich sparsam und gesetzestreu verhalte. Am Qingming-Fest (5. April) 1923 erschien ebenfalls ein Kommentar2 in Shenbao mit demselben Titel „Prozessionen sind unnütz“. Der Kommentar richtete sich gegen die berühmtesten Prozessionen in Shanghai, nämlich den Stadtgott-Inspektionsrundgang und die Gaochang-Prozession3. Nach Meinung des Autors war die Prozession einschließlich der Vorbereitung für den Umzug sowie der

1 Shenbao, 179-438(1). 2 Shenbao, 190-106(2). 3 Gaochang (高昌) wurde normalerweise als die Nebengottheit des Stadtgottes in Shanghai angesehen.

172 Kostüme sehr verschwenderisch. Außerdem könnten solche Veranstaltungen die Sittlichkeit des Volkes verderben. Dass sich die Kranken in rote Gewänder hüllten und als Häftlinge verkleideten, sei äußerst widersinnig gewesen. Der Autor war der Meinung, dass ein solches Phänomen mit der Mentalität des Volkes zu tun habe. Er schlug vor, dass man in dieser unruhigen Zeit auf dem Land Fabriken bauen und Arbeitsplätze schaffen solle statt Prozessionen durchzuführen.

Man könnte aus den oben erwähnten Berichten und Meldungen schlussfolgern, dass fast alle in der Zeitung veröffentlichten Kommentare eine negative Haltung zur Prozession hatten, die vermutlich den Standpunkt der gut gebildeten Stadtbewohner in Shanghai widerspiegelte. Die Kritiken gegen die Prozessionen basierten hauptsächlich auf zwei Argumenten: (1) Das ökonomische Argument: Diesem Argument zufolge waren die Prozessionen eine riesige Verschwendung, da sie das Geld der Armen verschlangen und dadurch die staatlichen Steuereinnamen beeinträchtigten. Deshalb solle das Geld in sinnvollere Bereiche, wie Bildung, Infrastruktur usw., investiert werden. Viele Vorschläge zur alternativen Nutzung des Geldes sind aus heutiger Sicht durchaus annehmbar und konstruktiv. Aber ob diese Vorschläge die Spender und Unterstützer der Prozessionen überzeugen konnten, bleibt dennoch fraglich. Außerdem negierte dieses Argument das Verfügungsrecht jener Personen, die gern Prozessionen spendeten, über ihren Besitz und ihr Geld. Somit ignoriert das ökonomische Argument die Mentalität und die Motivation derjenigen, die sich in den Prozessionen engagierten. Solange sich das ökonomische Argument auf die öffentliche Meinung beschränkte, verfügte es über keine reale Macht, den Prozessionsaktivisten das Geld „aus der Tasche zu ziehen“. Inwiefern die Art der Ausgabe von Geld durch die Aufrufe und Aufklärungsversuche in der Presse geändert wurde, lässt sich mit Hilfe der vorhandenen Quellen nicht beantworten. (2) Das weltanschauliche Argument: Hinter dem ökonomischen Argument versteckt sich das weltanschauliche Argument. Danach sind die Prozessionen und andere religiöse Tätigkeiten Überreste einer vergangenen Ära, die der Zeit des Forschritts

173 unangemessen seien und bald verschwinden sollten. Das weltanschauliche Argument fungiert somit eigentlich als die Untermauerung des ökonomischen Arguments. Es spiegelte eine typisch aufklärerische Denkweise wider, die unmittelbar und unreflektiert vom zeitgenössischen Westen auf die chinesische Gesellschaft übertragen worden war. Diese aufklärerische Denkweise richtete sich vielleicht nicht speziell gegen die volksreligiösen Prozessionen, sondern gegen alle religiösen Tätigkeiten, 1 die den Verfechtern dieses Arguments zufolge in der Moderne untergehen oder endgültig aussterben sollten. Es ist durchaus möglich, dass die Haltung der Zeitungskommentatoren sich am Publikumsgeschmack der Mehrheit orientierte. Die Meinungen der Prozessionsveranstalter und -aktivisten sind nicht in der Zeitung vertreten. Ob sie keinen Zugang zu solchen Pressemedien hatten oder in der Öffentlichkeit keine Stellung nehmen wollten, ist dabei unklar. Was wir feststellen können, ist, dass die Kommentare in Shenbao keinen gegenseitigen Meinungsaustausch darstellten. Ob eine Korrelation zwischen der Meinungsdiskrepanz zur Prozession und den sozialen Schichten bestand, muss noch anhand der folgenden Fallbeispiele geprüft werden. Ohne Zweifel befand sich das Aufklärungsmodell in der Öffentlichkeit des damaligen China auf dem Vormarsch, zumindest in den Pressemedien der großen Städte wie Shanghai. Die Meinungsunterschiede zur Prozession waren zwar groß, aber nicht außergewöhnlich während der Republikzeit in China, in der eine Umwälzung in fast allen Sozialbereichen gefördert wurde und teilweise auch tatsächlich stattfand.

1 Vgl. Shenbao, 183-509 (1), Leserbrief „Meine Meinung zur Yulanpen-Veranstaltung“ (我对盂兰盆 会之意见). Yulanpen ist auch eine traditionelle feierliche Veranstaltung am 15. 7. (nach dem chinesischen Kalender), die als das Geister-Fest verstanden wird. Das Fest soll angeblich die Geister besänftigen und zur Wiedergeburt schicken, damit Unglücksfälle, wie z.B. Epidemien, in dieser Welt verhindert werden. In dem Leserbrief wurde die Yulanpen-Veranstaltung als „Aberglaube“ bezeichnet, der nach Meinung des Autors abgeschafft werden soll. Der Autor schlug vor, das Fest folgendermaßen zu reformieren: (1) Das Geld solle für den Aufbau der Schulen umgelenkt werden, damit die Armen die Chance erhielten, eine kostenlose Bildung zu erhalten. (2) Die Spenden für die Prozession sollten für die Einrichtung von Fabriken ausgegeben werden, damit die Arbeitslosen eine Anstellung finden könnten. (3) Das Geld solle für die Verbesserung der öffentlichen Hygiene verwendet werden, um im Sommer ansteckende Krankheiten zu vermeiden. (4) Man solle mit dem Geld die von den Ausländern gebauten Straßen zurückkaufen.

174 8.4.4. Die Ermahnungen (1936)

Anfang November 1936 gaben die Bezirksregierungen Nanhui (南汇) und Shanghai gemeinsam bekannt, dass im Namen der sog. „Ersparnis-Bewegung“ (节约运动) die Prozessionen in den zwei Bezirken verboten werden sollen. Nach Angabe der Regierung fanden alljährlich im Spätherbst in den Gegenden von Sanlin (三林), Chenhang (陈行), Tangkou (塘口) und Tiqiao (题桥) viele Prozessionen statt. Mehr als zehntausend Schaulustige verstopften dabei sogar die Straßen in der Region. Der Bezirksleiter namens Zhao Qianli ( 赵千里) war der Meinung, dass solche Prozessionen, die nur Nachteile und keinen Vorteil brächten, verboten werden sollten. Ein anderer Bezirksleiter namens Xing Zhigang ( 邢志刚) glaubte, dass die Prozessionen eine Art Aberglaube seien. Sie seien geld- und zeitaufwendig und belasteten zudem das Volk, da es unsinnig sei, dass Bauern ihr Einkommen dafür verwendeten. Deswegen versuchten die lokalen Regierungen, die einheimische Bevölkerung von den Prozessionen abzubringen. 1 Aber welche Wirkung diese Ermahnungen hatten, ist unklar.

8.5. Die Situation in der Nachkriegszeit

8.5.1. Das bekräftigte Verbot

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Verbot der Prozessionen bekräftigt, zumindest schriftlich verankert. Am 17. April 1946 verteilte das Polizeipräsidium Shanghais an jeden Polizeibezirk eine Direktive, die aufgrund einer anderen Anweisung aus dem Innenministerium erlassen wurde. Diese Direktive richtete sich direkt gegen den sog. Aberglauben und andere „unpassende religiöse Tätigkeiten“. Ihr wurde ein Anhang namens „die Maßnahmen gegen schlechte volkstümliche Bräuche“ beigefügt, in dem zahlreiche Beispiele von „Aberglauben“ ausführlich aufgelistet waren. Darunter wurden auch die Prozessionen nachdrücklich erwähnt. Der Direktive gemäß sollte die Behörde folgendermaßen vorgehen, falls eine

1 Shenbao, 346-69(6).

175 Prozession stattfinde: Erstens müsse die Prozession sofort abgebrochen und aufgelöst sowie alle Utensilien konfisziert werden; zweitens solle die Behörde eine Geldstrafe von höchstens 50 Yuan verhängen; drittens (im Extremfall) sollten sich der Täter bzw. die Prozessionsveranstalter vor dem Gerichtshof verantworten.1 Ob die Strafen in der Praxis auch verhängt wurden und das Verbot eingehalten wurde, lässt sich an einigen Polizeiakten deutlich ablesen, wie im Folgenden gezeigt wird.

8.5.2. Das wirkungslose Verbot (1946)

Am 28. Februar 1946 schrieb Herr Lin, ein Buddhist der Jin Xiu Gemeinde (静修社), einen Beschwerdebrief an den Polizeichef Shanghais. Darin beklagte er sich, dass innerhalb eines halben Monats, nämlich zwischen dem 14. 2. und dem 28. 2. (nach dem chinesischen Kalender) sieben oder acht Prozessionen in Pudong (in der Region am Huangpu-Fluss, südlich von Zhoujiadu 周家渡, nördlich bis zum Yangjing Dorf 洋泾镇) stattgefunden hätten. Lin war der Meinung, es sei unsinnig, während einer Finanzkrise2 solche Prozessionen zu veranstalten. Der Geldaufwand zehrte seiner Meinung an den Bewohnern, die gerade einen langjährigen Krieg überlebt hätten. Zudem böten die Prozessionen auch eine Plattform für Kriminalität, welche die lokale Sicherheit und Ordnung gefährde. Außerdem sei gerade die Zeit gewesen, in der die Reispflanzen keimten. Es bestehe die Gefahr, dass die Teilnehmer und Schaulustigen der Prozession den Reis niederträten und somit einen Ernteschaden anrichteten. Das Schlimmste an den Prozessionen sei jedoch die Beleidigung Buddhas und der buddhistischen Lehre. Aus den oben erwähnten Gründen schlug er vor, die lokale Behörde (hier auf die Polizei bezogen) solle die Prozessionen entschieden unterbinden.3 Zwei Tage später verteilte der Polizeichef Xuan Tiewu (宣铁吾) in den Polizeibezirken Shanghais eine vierzeilige Anordnung, dass die Prozessionen streng verboten werden müssten.4 Der Beschwerdebrief deutet darauf hin, dass trotz des vorgeschriebenen Verbots die

1 Shanghaier Hauptarchiv, Q134-5-145. Satz 3.5 und 9.1-9.3. 2 Mit Finanzkrise ist hier die Hyperinflation im Bürgerkrieg gemeint. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q131-4-201, S.002. 4 Shanghaier Hauptarchiv: Q131-4-201, S.003.

176 Prozessionen tatsächlich stattfanden, und zwar nicht vereinzelt, sondern massenhaft und intensiv zugleich. Das heißt auch, dass die lokale Polizei höchstwahrscheinlich gar nichts dagegen unternahm oder unternehmen konnte bzw. wollte. Die Gründe für die Passivität der Polizei können im vorliegenden Kapitel nicht geklärt werden. Stattdessen werden wir das widersprüchliche Verhalten der Polizei anhand von Fallbeispielen analysieren. Die Anordnung des Polizeichefs stellte vermutlich nicht die echte Intention, sondern nur die politisch korrekte Stellungnahme der Polizei dar. Das Verbot gegen die Prozessionen blieb jedoch offenbar immer noch wirkungslos, da die Prozessionen im folgenden Jahr anscheinend wieder durchgeführt wurden: So wurde das Verbot aufgrund eines weiteren Beschwerdebriefs erneut von der Polizei bekräftigt. Solche bürokratischen Kreisläufe und Pflichtverweigerungen bringen die Meinungsdiskrepanz gegenüber den Prozessionen ans Licht, die sogar innerhalb der Polizei bestand. Die Polizei sollte ihre Pflicht erfüllen, die Prozessionen gesetzmäßig zu verhindern. Die Befürchtungen der Gesetzgeber waren unter dem Aspekt der Sicherheit völlig berechtigt, weil, wie oben angedeutet, die Prozessionen oft Massenpanik, Prügelei, Konflikte zwischen Nachbargemeinden und andere Kriminalität hervorriefen. Aber wenn wir unsere Perspektive wechseln, müssen wir uns dennoch die Frage stellen, ob die Gesetze in der Realität umsetzbar waren. Angesichts der Bereitschaft und des Engagements der hoch motivierten, leidenschaftlichen und manchmal sogar rücksichtslosen Aktivisten war die Polizei als staatliche Gewalt machtlos. Aus der Perspektive der Polizei war es durchaus vernünftig, den Umzug und seine Aktivisten zu umgehen, um Konflikte zu vermeiden. Wenn die Polizei das Verbot der Prozessionen streng durchgesetzt hätte, hätte sie nicht die Oberhand über die Mehrzahl der Aktivisten gewonnen. Die Folge eines solchen Konflikts hätte beiden Seiten zum Nachteil gereichen können, wie im oben erwähnten Beispiel gezeigt wurde. Es ist auch durchaus möglich, dass die Interessen zwischen hochrangigen Polizeibeamten und Polizisten mittleren und niederen Ranges unterschiedlich waren. Dieser Unterschied führte möglicherweise zu einer Meinungsdiskrepanz und zu

177 Spannungen innerhalb der Polizei, die schließlich die Wirkungslosigkeit des Verbots verursachten. Diese vorläufigen Anhaltspunkte bzw. Spekulationen müssen auf jeden Fall anhand der folgenden Fallbeispiele ausführlich untersucht werden.

8.6. Anhang

Abb. 6 Prozessions-Sperrzonen der Konzessionen in Shanghai

178

9. Stadtgott-Inspektionsrundgang (城隍出巡)

Der Stadtgott-Inspektionsrundgang ist eine regelmäßige festliche religiöse Veranstaltung, die dreimal im Jahr in der Umgebung der damaligen Altstadt Shanghais (des südlichen Teils des Bezirks Nanshi) stattfand. Die Termine sind nach dem chinesischen Bauernkalender1 jeweils Qingming (清明), Zhongyuan (中元, 15. des siebten Monats nach dem chinesischen Kalender) und 1. des zehnten Monats (十 月初一), deren entsprechenden Daten nach der heutigen Zeitrechnung ungefähr Anfang April, Mitte August, und Anfang November liegen. Deswegen werden die Stadtgott-Inspektionsrundgänge auch als „Drei- Rundgänge- Versammlung“(三巡会) benannt.2 Am festgesetzten Tag wurde die Statue des Stadtgottes sowie die Statuen der anderen vier Nebengottheiten aus dem Stadtgotttempel und durch die Straßen in der Innenstadt getragen. Der Inspektionsroute entlang brachten die Stadtbewohner Opfer dar. An einigen wichtigen Orten in der Stadt wurden feierliche Liturgien durchgeführt. Begleitet von zahlreichen Aufführungen, Inszenierungen und Akrobatikshows, dauerte die gesamte Veranstaltung normalerweise vom Mittag bis tief in die Nacht, so dass man den Stadtgott-Inspektionsrundgang als den „Shanghaier Fasching“ bezeichnet. Der Stadtgott-Inspektionsrundgang entstand in der Ming-Zeit und erreichte seine Blütezeit in der Qing- und der Republikzeit.

1 Der chinesische Bauernkalender oder Agrarkalender (农历, 阴历) wird normalerweise als Mondkalender betrachtet. Das ist aber nach Ansicht der Kalenderkunde ein häufiges Missverständnis über den chinesischen Kalender. Eigentlich ist der Bauernkalender ein Lunisolar-Kalender, der sich sowohl nach dem Lauf der Sonne als auch nach dem des Mondes richtet. Er hat mehr Ähnlichkeiten mit dem gregorianischen Kalender (dem heutigen Solarkalender) als mit dem Mondkalender, z.B. Schaltjahr und Gemeinjahr. 2 Man sollte darauf achten, den Stattgott- Inspektionsrundgang (SGIRG) nicht mit den Sanyuan-Festen (三元节) zu verwechseln. Die Sanyuan-Feste finden jeweils am 15.01, 15.07 und 15.10 (nach dem chinesischen Bauernkalender) statt. Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass es zwischen den beiden irgendwelche geschichtlichen oder konfessionellen Verknüpfungen gibt.

179 9.1. Einleitung

9.1.1. Stadtgottglaube in der chinesischen Geschichte

Stadtgott (chin. 城隍, Chenghuang) ist ein uralter Gott des chinesischen Volkes, dessen Urtyp sich nach Meinung der meisten Historiker auf den Ansiedlungsschutzgott der chinesischen Vorfahren in der Vorgeschichte zurückverfolgen lässt. Etymologisch betrachtet ist „Chenghuang“ eigentlich eine Wortkombination aus „Cheng“ (城, die Stadt) und „Huang“ (chin. 隍). Letzteres bezeichnet im klassischen Chinesisch den Stadt(wasser)graben, der die Stadt umschließt und vor Angriffen von Wildtieren und Feinden schützt.1 Die Genesis des Stadtgottglaubens lässt sich bisher nicht genau datieren.2 Ab der Tang-Dynastie (618-907 n.u.Z.) findet man zahlreiche Aufzeichnungen über die Stadtgötter, v.a. in Südchina3. In der Song-Dynastie (960-1179 n.u.Z.) neigte man dazu, den ursprünglich nicht-persönlichen Stadtgott allmählich zu

1Zheng, Tuyou ; Liu Qiaolin 郑土有;刘巧林, Hucheng xingshi--chenghuang xinyang de renleixue kaocha 护城兴市——城隍信仰的人类学考察, 1-3. Zur Entstehung des Stadtgottglaubens in China siehe auch Zheng, Tuyou ; Wa Xianmiao 郑土有;王贤淼, Zhongguo chenghuang xinyang 中国城隍 信仰, 75-93. Ganz wenige Historiker sind dagegen der Meinung, dass der Stadtgott nicht aus der Zeit des Entstehens von Stadtmauern oder von Stadtgräben stammt. Siehe Rong, Zhen 荣真, Zhongguo gudai minjian xinyang yanjiu-- yi sanhuang he chenghuang wei zhongxin 中国古代民间信仰研究— —以三皇和城隍为中心, 179-186. Er geht davon aus, dass wenn der Stadtgott mit Stadtmauer oder Stadtgraben zu tun hätte, hätte der Stadtgottglaube mit der Entstehung von Stadtmauer und Stadtgraben gleichzeitig aufkommen müssen. Aber die früheste Aufzeichnung über „Stadtgott“ in China datiert offensichtlich mehrere Jahrhunderte nach der Ausbreitung von Stadtmauer und Stadtgraben. Das heißt, aufgrund des Mangels an Quellen haben die beiden Seiten keine konkreten historischen Beweise, sondern nur etymologische oder philologische Begründungen gegeben. 2 Bekannt sind vier strittige Vermutungen über die Genesis des Stadtgottglaubens in China: (1) die legendäre urkaiserliche Yao-Zeit (尧); (2) Kurz vor der Qin-Dynastie (221-207 v.u.Z.); (3) Han-Dynastie (206 v.u.Z. bis 220 n.u.Z.); und (4) Weijin-Zeit (魏晋, 220-420 n.u.Z.). Siehe Deng, Siyu 邓嗣禹, "Chenghuang kao" 城隍考, in: Huang, Pei; Tao Jinsheng 黄培;陶晋生 (Hg.), Deng Siyu xiansheng xueshu lunwen xuanji 邓嗣禹先生学术论文选集, 55-59; und auch Rong, Zhen 荣真, Zhongguo gudai minjian xinyang yanjiu-- yi sanhuang he chenghuang wei zhongxin 中国古代民间信 仰研究——以三皇和城隍为中心, 186f. 3 Anhand der historischen Quellen läßt sich feststellen, dass die Aufzeichnungen über den Stadtgott zuerst im Jangtse-Mittelflussgebiet (heutiger Hunan, Hubei, Zhejiang, Jiangxi, Anhui und Fujian-Provinz) in Erscheinung traten. Dann verbreiteten sie sich jeweils nördlich zum Gelbflussgebiet und anschließend südlich zum Zhujiang-Flussgebiet. Schließlich erreichten sie das nordöstliche China (东北). Daraus folgt, dass der Stadtgottglaube für viele Regionen Chinas auch nicht einheimisch ist. Die Wiege des Stadtgottes ist höchstwahrscheinlich das Jangtse-Mittelflussgebiet. Deng, Siyu 邓嗣禹, "Chenghuang kao" 城隍考, in: Huang, Pei; Tao Jinsheng 黄培;陶晋生 (Hg.), Deng Siyu xiansheng xueshu lunwen xuanji 邓嗣禹先生学术论文选集, 65-67.

180 anthropomorphisieren und eng mit Geister- und Gottheitsvorstellungen zu verknüpfen.1 Außerdem gab es bereits einige Beispiele dafür, dass Stadtgötter in das staatliche Opfersystem aufgenommen wurden. 2 Trotz der mongolischen Fremdherrschaft war in der Yuan-Dynastie (1271-1368) bereits der Stadtgottglaube überall in China zu beobachten. Manchmal nahmen sogar lokale Beamte an den Opfergaberitualen teil, obwohl sie dazu durch etwaige Vorschriften nicht verpflichtet waren.3 Erst zur Hongwu- Zeit (洪武, 1368-98, Anfang der Ming Dynastie) wurde der Stadtgott vom Kaiser offiziell und gesetzlich als Lokalschutzgott allgemein anerkannt. 4 Auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen 5 wurden zahlreiche Stadtgötter ernannt, denen später Ehrentitel verliehen wurden. Danach entstanden systematische Vorschriften für Tempelbau, Liturgien, Opfergaben sowie die Bekleidungsnorm des Stadtgottes, 6 so dass die Opfergabe-Rituale fortan durch staatliche Finanzierung gewährleistet und gleichzeitig nach den gesetzlichen Vorschriften geregelt wurden.7 Kaiser Zhu Yuanzhang (朱元璋) gab sogar persönlich

1 Rong, Zhen 荣真, Zhongguo gudai minjian xinyang yanjiu-- yi sanhuang he chenghuang wei zhongxin 中国古代民间信仰研究——以三皇和城隍为中心, 192-196. 2 Darum hat es auch Kontroversen gegeben. Einige Historiker sind der Meinung, dass diese Politik, die Stadtgötter in das staatliche Opfersystem aufzunehmen, nicht speziell auf die Stadtgötter gerichtet war. Das Ziel der damaligen Regierung war demnach einfach, die Volksreligion zu regulieren und die unorganisierten Opfergaberituale unter Kontrolle zu bringen. Siehe Ibid., 196-7. 3 Ibid., 200-201. 4 Im Jahr 1369 promulgierte der Kaiser Zhu Yuanzhang (朱元璋) eine Satzung besonders zum Stadtgott, die besagt, dass der Kaiser und sein Beamtenapparat für die Opfergabe für die Stadtgötter zuständig seien. Ibid., 201-202. 5 Normalerweise liest man in den historischen Quellen von drei Verwaltungsebenen, deren Stadtgötter auch bestimmten Vorschriften zur Opfergabe und Rangklassen entsprechen mussten, nämlich der Gouvernement-Stadtgott (州城隍), der Präfektur-Stadtgott (府城隍) und der Kreis-Stadtgott (县城隍). 6 Zheng, Tuyou ; Liu Qiaolin 郑土有;刘巧林, Hucheng xingshi--chenghuang xinyang de renleixue kaocha 护城兴市——城隍信仰的人类学考察, 12-19; Zheng, Tuyou ; Wa Xianmiao 郑土有;王贤淼, Zhongguo chenghuang xinyang 中国城隍信仰, 107- 123; Rong, Zhen 荣真, Zhongguo gudai minjian xinyang yanjiu-- yi sanhuang he chenghuang wei zhongxin 中国古代民间信仰研究——以三皇和城 隍为中心, 201ff. 7 Trotzdem muss man fragen, inwiefern diese Politik gegenüber dem Stadtgott für die kaiserliche Herrschaft erfolgreich war. Viele Historiker haben darauf hingewiesen, dass trotz der offiziellen Anerkennung des Stadtgottes große Spannungen zwischen dem seit Jahrhunderten existierenden Stadtgottglauben des Volks und der mit Macht durchgeführten gesetzlichen Ordnung entstanden. In vielen Beispielen kann man sogar sehen, dass das Volk die gesetzliche Anerkennung ausnutzte, um diejenigen Gottheiten zu verehren, die aus Sicht der Regierung illegitim und illegal waren. Dagegen konnten die lokalen Beamten nichts unternehmen, sondern mussten meistens die volkstümlichen Rituale und Feste stillschweigend akzeptierten, solange sie keine Unruhe auslösten. Rong, Zhen 荣真, Zhongguo gudai minjian xinyang yanjiu-- yi sanhuang he chenghuang wei zhongxin 中国古代民间信 仰研究——以三皇和城隍为中心, 209-10.

181 die Anordnung, dass der dreimalige Inspektionsrundgang des Stadtgottes in jedem Kreis stattfinden soll. 1 Die nachfolgenden mandschurischen Herrscher der Qing-Dynastie (1644-1911) setzten die Vorschriften ohne wesentliche Veränderung fort. Die damaligen Quellen enthalten bereits viele Aufzeichnungen über den Stadtgott-Inspektionsrundgang, der zwei- oder dreimal in einem Jahr stattfand.2 Aus der Geschichte des Stadtgottes lässt sich deutlich ablesen, dass der Stadtgottglaube und die entsprechenden Rituale auf der lokalen bzw. kommunalen Ebene als eine altehrwürdige und beharrliche Tradition schon seit mehr als ein Jahrtausend Jahren in China existiert hatten, bevor sie schließlich im 14. Jahrhundert vom Kaiser in das staatliche Opfergabesystem aufgenommen und anschließend systematisiert wurden.

9.1.2. Grundglaube, Vorstellung und Überlieferung

Die Geister (鬼) zu besänftigen und zu unterdrücken soll aus Sicht der Gläubigen die zentrale Funktion des Stadtgott-Inspektionsrundgangs sein. Um die Rolle der Geister im Stadtgott-Inspektionsrundgang zu verstehen, versuche ich im Folgenden zwei parallelen Linien zu folgen, nämlich der geschichtlichen Entstehung des Stadtgott-Inspektionsrundgangs in Shanghai und der Vorstellung über die bösen Geister in der chinesischen Glaubens- und Religionswelt.

9.1.2.1. Die Entstehungsgeschichte

Zum Ende der Yuan-Dynastie (1271- 1368) geriet China in den brutalsten und grausamsten Bürgerkrieg. Im Jahr 1358 riefen zwei Großgrundbesitzer aus Shanghai namens Qian Hegao (钱鹤皋)3 und Zhang Shicheng (张士诚) eine Armee gegen Zhu

1 Ibid., 211. 2 Deng, Siyu 邓嗣禹, "Chenghuang kao" 城隍考, in: Huang, Pei; Tao Jinsheng 黄培;陶晋生 (Hg.), Deng Siyu xiansheng xueshu lunwen xuanji 邓嗣禹先生学术论文选集, 73-74. Nach einer Vorschrift soll die Opfergabe in der Hauptstadt sowie in den Präfekturen zweimal (jeweils am Qingming-Fest und am 1.10.) stattfinden, in den Kreisen und Gemeinden dagegen dreimal (jeweils drei Tage nach dem Qingming-Fest, 15.7. und 3.10.). SKQS, Bd. 137, S.1083. (經部/禮類/通禮之屬/五禮通考/卷一百二 十七.) 3 Zur Biographie von Qian Hegao siehe auch Shanghaishi-shanghai-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上 海市上海县县志编纂委员会 (Hg.), Shanghai xianzhi 上海县志, 1161.

182 Yuanzhang (朱元璋) zusammen, der später als der erste Kaiser der Ming- Dynastie den Thron bestieg. Nach jahrlangen blutigen Kämpfen zerschlug Zhus Armee letztendlich die Qians und Zhangs. Qian flüchtete daraufhin zurück nach Shanghai. Er wurde schließlich gefasst und in der damaligen Hauptstadt Jinling (金陵, dem heutigen Nanjing 南京), enthauptet. Aber das aus seinem Körper quellende Blut soll angeblich nicht rot, sondern weiß gewesen und Qians Leiche nach der Enthauptung immer noch lebendig gewesen sein. Zhu war total erschrocken. Er glaubte, dass Qian ein böser Geist geworden sein musste. Um den bösen Geist zu unterdrücken, erteilte der Kaiser den Befehl, dass fortan jeweils am Qingming, Zhongyuan und Shiyuechao (十月朝) in jeder Stadt ein Opferaltar (祭坛) errichtet und Traufeierlichkeiten veranstaltet werden mussten. 1 Aus diesem historischen Grund wird der Stadtgott-Inspektionsrundgang auch als die „Opferaltar-Versammlung“ (祭坛会) bezeichnet.2 Weil Shanghai Qians Heimatstadt war, musste dort die Veranstaltung besonders ernsthaft durchgeführt werden. Außer einem Hauptopferaltar in der Innenstadt wurden auch zahlreiche kleine Opferaltäre in jeder Lokalgemeinde (里) errichtet. 3

9.1.2.2. Stadtgötter: Jenseitige Verwaltungsbeamte aus dem Diesseits

Um die Geister zu beruhigen, soll es zwei Möglichkeiten geben: Entweder man ruft die Autorität des Jenseits an, in unserem Fall den Stadtgott, und hofft, durch dessen Autorität die Geister unterdrücken und sie schließlich zur Unterwelt4 zurückbringen zu können, wo sie hingehören; oder man bringt ihnen Opfer, v. a. man verbrennt Papiergeld und bringt Lebensmittel dar, wie üblich in anderen volksreligiösen Ritualen. Kurz gesagt, kann man die Strategie als „Zuckerbrot und

1 Diese Geschichte ist zwar aus naturalistischer Sicht unwahrscheinlich, bietet aber eine individuell-psychologische Erklärung dafür, warum Kaiser Zhu Yuanzhang die Rituale des Stadtgottes in das staatliche Opfergabesystem aufnehmen und überall in China Tempel für Stadtgötter einrichten ließ. Siehe Xue, Liyong 薛理勇, Shanghai laochengxiang shihua 上海老城厢史话, 83. 2 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 27. 3 Nach Angaben einer Regionalbeschreibung gab es zur Qianlong- Zeit (乾隆, 1711-99) der Qing- Dynastie insgesamt 730 Opferaltäre in Shanghai. Ibid., 27. 4 Über die dreiteilige kosmologische Ordnung im chinesischen Volksglauben siehe 6.4.

183 Peitsche“ bezeichnen. In einem Stadtgott-Inspektionsrundgang wird beides gleichzeitig erfüllt. Da der Stadtgott die Stadt „inspizierte“, konnte man alle Riten sowohl zeitlich als auch räumlich anordnen. Mit anderen Worten, wenn die Statue des Stadtgottes an einem Ort (z. B. einen Kleinopferaltar) eintraf, wurden dort Opfer dargebracht und entsprechende Rituale (z.B. Kotau und Weihrauch-Brennen) durchgeführt. Im chinesischen Volksglauben wurde ein Stadtgott als der Kreisbürgermeister (县令, oder Kreisvorsteher) des Jenseits (阴间, oder der Unterwelt 冥界) verstanden, d. h., der Stadtgott ist dafür zuständig, die kosmologische Ordnung1 im Jenseits (oder in der Unterwelt) zu gewährleisten und genau wie ein Beamter die öffentliche Ordnung in seinem Bezirk aufrechtzuerhalten. In unserem Fall soll ein Stadtgott dafür sorgen, dass die wilden und verhungerten Geister ordnungsgemäß in die Unterwelt zurückkehren. Interessanterweise teilen die Stadtgötter und ihre diesseitigen Kollegen das gleiche bürokratische System und sogar die Rangordnung. Mit anderen Worten, die diesseitige profane bürokratische Hierarchie wurde fast unverändert vom Stadtgott-Glauben imitiert. Jeder Stadtgott hat einen eigenen Titel und einen entsprechenden Autoritätsbereich. Bei einem Inspektionsrundgang soll der gleichrangige kaiserliche Beamte mit dem Stadtgott zusammenarbeiten, nämlich die Rituale ausüben. Eine solche Arbeitsteilung wurde als „die getrennte Verwaltung vom Diesseits und Jenseits“ (阴阳分治 oder 阴阳表里) bezeichnet.2 Selbst der Stadtgott soll quasi eine staatsanwaltschaftliche Verantwortung übernehmen, den gleichrangigen Beamten vom Diesseits zu überwachen und zu beaufsichtigen.3 Bemerkenswert ist, dass fast alle schriftlich dokumentierten Stadtgötter in China über eine eigene konkrete Biographie verfügten, d. h. sie hatten als reale Menschen gelebt,

1 Dazu siehe 6.4. 2 Rong, Zhen 荣真, Zhongguo gudai minjian xinyang yanjiu-- yi sanhuang he chenghuang wei zhongxin 中国古代民间信仰研究——以三皇和城隍为中心, 208; Deng, Siyu 邓嗣禹, "Chenghuang kao" 城隍考, in: Huang, Pei; Tao Jinsheng 黄培;陶晋生 (Hg.), Deng Siyu xiansheng xueshu lunwen xuanji 邓嗣禹先生学术论文选集, 77-79 und 92-94. 3 Auch wenn ein neuer Beamter sein Amt antritt, soll er zuerst den lokalen Stadtgotttempel besuchen. Deng, Siyu 邓嗣禹, "Chenghuang kao" 城隍考, in: Huang, Pei; Tao Jinsheng 黄培;陶晋生 (Hg.), Deng Siyu xiansheng xueshu lunwen xuanji 邓嗣禹先生学术论文选集, 92-93. Nach Einschätzung des Historikers hat der Stadtgottglaube dazu beigetragen, die moralische Ordnung sowohl innerhalb des bürokratischen Verwaltungssystems als auch des Volks zu unterstützen und zu stabilisieren.

184 bevor sie als Stadtgötter ernannt und später verehrt wurden. 1 Die moralisch vorbildlichen Biographien, die teilweise im Laufe der Zeit mit zahlreichen Überlieferungen verschmolzen sind, konnten m. E. die Gläubigkeit nicht schwächen, sondern im Gegenteil die Verbundenheit zwischen den Göttern und ihren Anhängern verstärken und die Gestalten der Stadtgötter volksnah und lebendig gemacht haben.2 Nach einem historischen Dokument zählen zu den Empfängern von Opfergaben folgende Personengruppen: diejenigen, denen von niemandem geopfert wird; die Menschen, die aus unbekanntem Grund gestorbenen sind; die durch Waffen Gestorbenen; die durch Wasser oder Brand Gestorbenen; diejenigen, die wegen des Geldverlusts gestorben sind; die wegen des Fortnehmens einer Frau gestorben sind; die durch Strafe oder Unglück schmachvoll Gestorbenen; die an Epidemie während einer Naturkatastrophe Gestorbenen; die durch ein wildes Tier oder ein giftiges Insekt Getöteten; die wegen des Hungers Erfrorenen (sic!); die Kriegsgefallenen; die Selbstmörder; die durch einen Mauereinsturz Getöteten; diejenigen, die nach dem Tod keine Nachkommen haben; diejenigen, die wegen eines Krieges aus der Heimat ausgewandert sind; diejenigen, deren Namen in Vergessenheit geraten sind und auch viele andere unbekannte Verstorbene.3 Ein Opfergabetext auf Gemeindeebene betont die Strafe und die Warnung unmoralischer Menschen durch den Stadtgott. Folgende Menschen wurden verflucht: diejenigen, die ungehorsam gegenüber Eltern und Verwandten sind; diejenigen, die arglistig sind; diejenigen, die Gesetze nicht beachten; die mit Ungerechtigkeit die Guten unter Druck setzen; diejenigen, die sich absichtlich vor dem gesetzlichen Dienst drücken und diejenigen, die arme Familien schädigen, usw. Nach dem Text soll der Stadtgott den lokalen Beamten die Taten mitteilen, damit die Unmoralischen

1 Ein Historiker hat die Typen des Stadtgottes zusammengefasst. Seiner Meinung nach gibt es sechs Typen: die lokalen Beamten, die verdienstvollen Staatsmänner, die ehrlichen Personen, die Barmherzigen, die Wundertäter und die seelenguten Gespenster. Fast alle Stadtgötter in China lassen sich auf o.g. Persönlichkeiten zurückführen. Siehe Zheng, Tuyou ; Wa Xianmiao 郑土有;王贤淼, Zhongguo chenghuang xinyang 中国城隍信仰, 51-66. 2 Dass der Mensch sich angeblich nach dem Tod zum übernatürlichen Wesen, z.B. Geister oder Gottheit, verwandeln kann, ist in der chinesischen Kultur (mündliche Überlieferungen, Mythos, Roman, Weltauffassung etc.) tief eingebettet. 3 SKQS, Bd. 137, S.1083. 經部/禮類/通禮之屬/五禮通考/卷一百二十七.

185 gesetzlich verurteilt werden können. Deren Familien sollen sogar mit einer Seuche angesteckt werden. Die herzensguten und anständigen Menschen dagegen werden vom Stadtgott geschützt. Als Gegenleistung sollen sie harmonische Familien und gute Ernten verdienen.1 Offensichtlich konnten solche Vorstellungen der Stärkung und Stabilisierung sowohl moralischer als auch gesetzlicher Ordnungen zugute kommen. Die Zusammenarbeit der Stadtgötter und ihrer diesseitigen Kollegen können im Idealfall Ordnungen schaffen.

9.1.3. Stadtgötter und Stadtgotttempel in Shanghai2

9.1.3.1. Die Tempelgeschichte

Der heutige Stadtgotttempel ist nicht der erste Stadtgotttempel in Shanghai. In der Song-Dynastie (960-1279 n. u. Z.) gab es schon einen Stadtgotttempel in der Nähe des heutigen Danjing-Tempels (淡井庙). Aber verehrt wurde damals der Stadtgott von Jinshan, einem damaligen Nachbarkreis Shanghais3, weil zu der Zeit Shanghai nur ein Dorf war und keinen eigenen Stadtgott haben durfte. Deswegen wurde der Stadtgotttempel in Shanghai damals als eine zeitweilige Residenz des Jinshan-Stadtgottes verstanden. Im Jahr 1292 (Yuan-Dynastie) wurde Shanghai zum Kreis erhoben, so dass es fortan seinen eigenen Stadtgott haben durfte. Aber der alte Tempel wurde weiter benutzt. Erst Anfang der Ming-Dynastie wurde der heutige Tempel vom Kreisvorsteher Zhang Shouyue ( 张守约) auf der Stelle des Jinshan-Tempels (um)gebaut.4 Von der Ming-Dynastie bis zum Anfang der Republikzeit wurde der Stadtgotttempel viele Male durch Brände oder Kriege beschädigt und danach saniert, renoviert, um-

1 SKQS, Bd. 137, S.1083-4. 經部/禮類/通禮之屬/五禮通考/卷一百二十七. 2 Auf dem Gebiet der heutigen unmittelbaren Verwaltungsstadt Shanghai hat es im Laufe der Zeit an verschiedenen Orten zahlreiche Stadtgotttempel gegeben. Aber in diesem Kapital über den„Stadtgott-Inspektionsrundgang“ behandeln wir nur den bekanntesten Stadtgotttempel, der sich heute in der Altstadt Shanghais (Straße Fangbangzhong 方浜中路, Nr. 249) befindet. Dieser Stadtgotttempel wird auch als „der alte Stadtgotttempel“ (老城隍庙) bezeichnet. In den vor 1949 publizierten Dokumenten wurde der Stadtgotttempel meistens als „Stadttempel“ (邑庙) bezeichnet. 3 Jinshan ist heute ein Bezirk von Shanghai. 4 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 1.

186 und ausgebaut.1 Zur Wende zwischen Kaiser- und Republikzeit (um 1911) änderte sich die Lage des Stadtgotttempels allgemein in China dramatisch. Die neu gegründete Republik und deren Regierung distanzierten sich von traditionellen religiösen Weltvorstellungen, weil ideologisch gesehen die politische Macht nicht mehr durch religiöse Weltauffassungen oder die kosmologische Ordnung legitimiert wurde, sondern sich stark auf die aus dem Westen eingeführten modernen Wissenschaften und Fortschrittsglauben stützen wollte. Das heißt, für die Stadtgotttempel sowie viele andere religiöse Institutionen war dies ein ganz verfängliches Problem, denn sie verloren nicht nur die symbolische Schirmherrschaft, sondern auch die finanzielle Unterstützung des Staates. Die Warlord-Kriege kurz nach der Republikgründung verschlechterten die finanzielle Situation. Im September 1915 berichtete der Abt des Shanghaier Stadtgotttempels, dass die zwei Arkaden und die Bühne des Tempels schon sehr verfault waren, so dass sie - besonders nach einem Tornado - jederzeit in sich zusammenfallen konnten. Aber der Tempel konnte die Reparaturen nicht selbst finanzieren. Stattdessen wandte sich der Abt an das „Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai“ (上海县款产管理处) um Hilfe. Diesmal kostete die Sanierung 7453 Silbertaler.2 Wenige Jahre später, im Dezember 1922, wurden mehrere Räume und sogar die Großhalle durch einen Brand beschädigt. Im nächsten Jahr bezahlte das Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai noch einmal für die Reparatur. Im Jahr 1924 spendeten drei Großkaufmänner Huang

1 Zur Geschichte des Stadtgotttempels zwischen der Ming- und der Republikzeit siehe Ibid., 2-4. Die überwiegenden Um- und Ausbauarbeiten vor der Republikzeit wurden von den Kreisvorstehern oder lokalen Beamten finanziert. Natürlich haben die Sammlungen, die von den Äbten und taoistischen Priestern des Tempels initiiert wurden, auch erheblich zum Um- und Ausbau des Tempels beigetragen, z.B. im Jahr 1735. Zur Geschichte des Stadtgotttempels vor der Republikzeit siehe auch Tu, Shipin 屠 诗聘 (Hg.), Shanghaishi daguan 上海市大观, Teil 2, 28ff. Und auch Lu, Yinquan 陆印泉, "Ye tan shanghai lao chenghuangmiao" 也谈上海老城隍庙, in: wenshiguan, Shanghaishi; Shanghaishi renmin zhengfu canshishi wenshi ziliao gongzuo weiyuanhui 上海市文史馆;上海市人民政府参事室文史资 料工作委员会 (Hg.), Lishi wenhua mingcheng-shanghai (shanghai difangshi ziliao 6) 历史文化名城 ——上海(上海地方史资料 6), 110-115. Gu, Tingpei 顾廷培, "Shanghai chenghuangmiao de gujin wanglai (shang) " 上海城隍庙的古今往来(上), in: Zhengxie-shangshishi-nanshiqu-weiyuanhui-wenshi-weiyuanhui 政协上海市南市区委员会文史委员 会 (Hg.), Nanshi wenshi ziliao xuanji (san): jinian shanghai jiancheng qibai zhounian 南市文史资料 选辑(三):纪念上海建城七百周年, 22-26. 2 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 3.

187 Jinrong (黄金荣), Du Yuesheng (杜月笙) und Zhang Xiaolin (张啸林) 3500 Silbertaler, um die zwei Flaggenstöcke1 und andere Anlagen des Tempels neu zu bauen.2

9.1.3.2. Stadtgötter

Der Stadtgotttempel Shanghais ist äußerst ungewöhnlich, weil er gleichzeitig zwei Stadtgötter hat, einen in der Vorderhalle und einen anderen in der Großhalle. Der erste Stadtgott namens Huo Guang (霍光) war ursprünglich ein General aus der Han- Dynastie (206 v. u. Z.- 24 n. u. Z.), der in Jinshan (金山, ein Dorfzentrum am Meer, damaliger Huating 华亭 Kreis, ca. 60 km südwestlich vom Zentrum Shanghais, im heutigen Jinshan-Bezirk Shanghais3) gegen den versalzten Boden kämpfte und die Salzwelle besiegte. Er wurde später als der Schutzgott von Jinshan verehrt.4 Deshalb wurde ihm dort ein Tempel gewidmet. Bis zur Song-Dynastie (960- 1179 n. Chr.) entstand am Ort der heutigen Altstadt Shanghais ein kleines Dorfzentrum. Um dem Bedürfnis der Bewohner an einem Schutzgott zu entsprechen, baute man dort einen zweiten Tempel für Huo, der als Zweigtempel des Tempels in Jinshan angesehen wurde. Erst im Jahr 1292 wurde Shanghai zum Kreis erhoben, so dass es einen eigenen Stadtgott haben durfte. Aber in der Realität gab es keinen eigenen Stadtgotttempel bis zum Anfang der Ming-Zeit. Zu dieser Zeit wurde der Tempel für Huo als Stadtgotttempel Shanghais umgebaut und offiziell als der Stadtgotttempel

1 Die zwei Flaggenstöcke befanden sich vor dem Eingang des Tempels. Nach Angaben eines offiziellen Dokuments waren sie ca. 30 Meter hoch. Der Grundteil der Flaggenstöcke kann nur mit den Armen von drei Männern umschlossen werden. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: B6-2-271, S.058. Siehe auch Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 12. 2 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 3. 3 In der Han - Zeit war an der Stelle der heutigen Altstadt Shanghais und ihres östlichen Teils noch Schwemmland unter dem Meeresspiegel. Untersuchungen der modernen Geologie und der geschichtlichen Geographie zeigen, dass die Küstenlinie vor 6000 Jahren ungefähr 40 km weiter westlich lag, als die heutige. Im Laufe der Zeit wuchs das Schwemmland durch Ablagerungen des Jangtse und Auswaschungen des ostchinesischen Meeres allmählich zum heutigen Festland Shanghais. Die allgemeine Tendenz ist folgende: der östliche Teil wächst immer noch ins Meer, während die südliche Küstenlinie langsam zurücktritt. Zur Entstehung des Landes und Änderung der Küstenlinie Shanghais siehe Zhou, Zhenghe 周振鹤 (Hg.), Shanghai lishi tituji 上海历史地图集, 15-16. „Shanghais Karte“ (2. n. Chr. und 140 n. Chr.); Chu, Shaotang 褚绍唐, Shanghai lishi lidi 上海历史 地理,1-5; Zhu, Peng 祝鹏, Shanghaishi yange dili 上海市沿革地理, 1-27. 4 Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 12.

188 Shanghais anerkannt.1 Huo Guang wurde jedoch immer als der erste Stadtgott Shanghais verstanden. Der zweite Stadtgott Shanghais ist als Qin Yubo (秦裕伯) bekannt.2 Qin lebte zur Zeit der Wende von der Yuan- zur Ming-Dynastie, bzw. in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Er stammte aus einer intellektuellen Familie in Shanghai und war in Fujian (福建) als Provinzpräfekt für die vor dem Untergang stehende Yuan-Dynastie tätig. Einer Überlieferung nach wurde Qin während seiner Amtszeit von dem Volk sehr geliebt und verehrt. Nach der Ablösung der Yuan-Dynastie durch die Ming- Dynastie zog er sich von der Öffentlichkeit zurück und lebte als ein Eremit in einem Dorf namens Chenjiaqiao (陈家桥) in der Nähe von Shanghai. Zhu Yuanzhang, der erste Kaiser der Ming-Dynastie, bat Qin wegen seiner hervorragenden Fähigkeiten und seines guten Rufes viele Male, politisch tätig zu werden. Aber Qin lehnte immer taktvoll ab. Nach seinem Tod (1373) ernannte ihn der Kaiser zum Stadtgott für Shanghai.3 Aber der alte Stadtgott, Huo Guang, wurde in Shanghai vom Volk nicht aufgegeben. Als Folge besitzt Shanghai zwei Stadtgötter in einem Tempel.

9.1.3.3. Die Umgebung des Tempels

Der Stadtgotttempel wurde immer als das Symbol und das funktionale (wirtschaftliche sowie kulturelle) Zentrum der Stadt Shanghai angesehen. In der

1 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 1. Eine andere Aussage behauptet, dass dazwischen Shanghai mit der Präfektur Songjiang (松江府) einen gemeinsamen Stadtgott namens Li Shiwen (李侍问) teilte. Siehe: Gui, Guoqiang 上海城隍庙大观, Shanghai chenghuangmiao daguan 桂国强, 6-7. 2 Eigentlich war sein ursprünglicher Vorname Jingrong(景蓉), der normalerweise von Unbekannten nicht ausgesprochen werden durfte. Wie im vorneuzeitlichen China üblich, gab er sich selbst als Volljähriger den Beinamen (号) „Yubo“. Shenbao, 205-402(2); Gui, Guoqiang 上海城隍庙大观, Shanghai chenghuangmiao daguan 桂国强, 10-13. Mehr zu Qins Clan in Shanghai siehe Xue, Liyong 薛理勇, Shanghai laochengxiang shihua 上海老城厢史话, 87-92. 3 Eine andere Aussage behauptet, dass Qin als Stadtgott für Jiangdu (江都), dem heutigen Zhenjiang (镇江), nominiert wurde. Aber das Volk in Shanghai sah Qin als seinen eigenen Schutzgott an. Um in zwei vom Jangtse Fluss verbundenen Städten gleichzeitig tätig sein zu können, baute man sogar ein Schiff, mit dem er halbmonatlich zur anderen Stadt fahren konnte. Deswegen wurde im alten Stadtgotttempel Shanghais unter einem Trägerbalken ein Schiffsmodell aufgehängt. Shenbao, 205-402(2). Einer Volkssage nach begegneten eines Tages in der Qing-Zeit viele Getreideschiffe aus Shanghai auf dem Meer einem Fabelwesen. Die Matrosen auf einem Schiff hissten eine Fahne mit Qins Bildnis und verjagten damit das Fabelwesen. Danach wurde Qin vom Kaiserhof extra zum „Herrn des Seeschutzes“ (护海公) ernannt. Ibid.

189 Umgebung des Tempels entwickelten sich unzählige Läden und Geschäfte. 1 Vor der Republikzeit wurden auch einige berühmte Gärten in der Nähe des Tempels angelegt.2 Der Tempel an sich und die Gärten bilden einen Anziehungspunkt im Zentrum der Altstadt Shanghais. Aus diesem Grund war die Gegend des Stadtgotttempels in der Republikzeit das bedeutendste Geschäftsviertel in Shanghai. Unzählige Läden (Goldschmied, Juwelier, Haustierladen, Schreibwarenladen, Weihrauchladen, Lederwarengeschäft, Restaurant etc.) rivalisierten miteinander um bessere Geschäftslagen in der Gegend des Stadtgotttempels, um mehr Kunden zu gewinnen. Außerdem sammelten sich tausend Straßenverkäufer in der Nähe des Tempels, um ihre Sachen (Imbiss, Süßigkeiten, Blumen, Spielzeug usw.) besser verkaufen zu können. Darüber hinaus gab es auch zahlreiche Teehäuser in der Gegend, in denen die Tempelbesucher und Touristen sich kurz ausruhen und Tee genießen konnten.3 Die Geschäftsmänner aus Shanghai verhandelten gerne dort, weil viele Gilden und die Handelskammer sich in der Gegend befanden. 4 Fast alle wichtigen jährlichen Feierlichkeiten, wie die Orchidee-Ausstellung im April und die Chrysanthemen-Ausstellung im September, fanden am Stadtgotttempel statt.5 Bis heute sind der Stadtgotttempel und seine Umgebung eine nicht zu verpassende Sehenswürdigkeit und eine der bedeutendsten Einkaufszentren in Shanghai.

1 Shanghaier Hauptarchiv, B6-2-271. 2 Es gibt zwei berühmte Gärten in der Umgebung des Stadtgotttempels, nämlich den Westgarten (西园) und den Ostgarten (东园). Der Westgarten, der eigentlich nördlich des Tempels liegt, ist auch als Yu-Garten bekannt (豫园). Er wurde im 16. Jahrhundert als ein privater Garten eines Beamten gebaut, dessen Fläche ca. 46700 Quadratmeter beträgt. Der Ostgarten ist relativ kleiner, aber sehr berühmt für seine künstlichen Felsen. Siehe Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 10-21. Siehe auch Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙 风光, 15-16. 3 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 21-23. 4 Ibid., 26. Insgesamt 14 Gilden fanden ihren Sitz in der Nähe des Stadtgotttempels. 5 Shanghai-tongshe 上海通社 (Hg.), Shanghai yanjiu ziliao 上海研究资料, 512.

190

Abb. 7 Die Umgebung des Stadtgotttempels in Shanghai während der Republikzeit

9.2. Die Stadtgott-Inspektionsrundgänge in der Republikzeit

Um das Ziel der Arbeit erreichen zu können, müssen wir nun zu den historischen Details der Stadtgott-Inspektionsrundgänge in der Republikzeit übergehen. Ich werde versuchen, zunächst den Neubau und die Gründung des Aufsichtsrats des

191 Stadtgotttempels in den zwanziger Jahren zu beschreiben. Daran anschließend werden die Finanzierung und die Selbstorganisationen, die für den Inspektionsrundgang nötig waren, analysiert und schließlich soll der Streit zwischen den betreffenden Parteien geklärt werden.

9.2.1. Der Neubau und der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels

9.2.1.1. Der Brand (1924) - Der auslösende Funke

Am 15.08.1924 (chin. Kalender 15.07.), einem glühenden Sommertag, war das jährliche Zhongyuan-Fest. 1 Als der Stadtgott Shanghais auf seinem Weg der festlichen Inspektionsparade war, fing seine Residenz, der Stadtgotttempel, plötzlich Feuer. Das Feuer griff rasch auf die umliegenden Gebäude über. Wenige Minuten, nachdem das Feuer zu lodern begann, sah man eine schmerzliche Szene: Die ganze Haupthalle brannte total nieder. Die in der Nähe liegende Mittelhalle, die Musiktribüne vor der Haupthalle, die westlichen sowie die östlichen Wandelgänge und Nebenhallen brannten teilweise nieder. Am tragischsten war, dass die Statue des Stadtgottes Huo Guang eingeäschert wurde. Zum Glück kam niemand im Brand ums Leben. Die Statue der Stadtgottesgattin (城隍奶奶) wurde von einem Priester aus dem Feuer gerettet.2

1 Das Zhongyuan-Fest fand immer am 15.7. nach dem chinesischen Kalender statt, der normalerweise als das Fest der Geister (鬼节) verstanden wurde. An dem Tag fand auch andere volkstümliche Veranstaltung wie Yulanpen (盂兰盆) statt. 2 Shenbao, 205-402(2); 205-454(2); Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 3. Die Statue im alten Stadtgotttempel Shanghais war keine Skulptur aus Ton, sondern aus einem alten Ginkobaum (lat. Ginkgo biloba), der genau an dieser Stelle gewachsen war. Das heißt, dieser Ginkobaum wurde speziell als Mittelpunkt und Grundstück des Tempels ausgewählt. Erst nach dem Aufbau des Tempels wurde die Stadtgottstatue aus dem Ginkobaum herausgemeißelt, geschnitzt, bemalt und anschließend bekleidet. Shenbao, 205-402(2). Deswegen war diese Statue (Huo Guang) nicht zu bewegen. Höchstwahrscheinlich ist das Phänomen auf die uralte Baumverehrung in der Region zurückzuführen. Der Ginkobaum ist eine der hochgeachteten Baumarten, die gewissermaßen als heiliges Wesen mit magischer Macht angesehen werden. Siehe Jiang, Bin 姜彬, Wuyue minjian xinyang minsu 吴越民间信仰民俗, 29-30. In der Umgangssprache nannte man diesen Stadtgott „den in der Halle sitzenden Stadtgott (坐殿城隍)“. Natürlich mussten die Inspektionsrundgänge vom anderen Stadtgott (Qin Yubo) durchgeführt werden. Meines Erachtens hat das Phänomen höchstwahrscheinlich mit einem uralten chinesischen Glauben zu tun, nach dem ein großer Stein oder Baum die Fähigkeit hat, die Bewohner in den naheliegenden Dörfern oder Siedlungen vor Naturkatastrophen zu schützen. Zur Baumverehrung siehe Wu, Bing'an 乌丙安, Zhongguo minjian xinyang 中国民间信仰, 91-95.

192 Dieser schwere Unfall brachte die Rolle sowie die Unzuverlässigkeit der Priester im Stadtgotttempel ans Licht, das sich normalerweise im Verborgenen abspielte. Kurz danach übte die lokale Presse harte Kritik an den Priestern des Tempels. Im Dezember 1923 hatte es schon einen Brand gegeben, der den östlichen Wandelgang, viele andere Räume sowie die Haupthalle teilweise beschädigte.1 Eigentlich gehörte der Stadtgotttempel nicht den Priestern, die im Tempel die alltäglichen Riten durchführten und die Routinearbeiten verrichteten, sondern dem o. g. „Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai“ (上海县款产管理处), einer halboffiziellen Institution.2 Die Priester waren nur mit der Aufgabe der Aufsicht und Ritenausübung des Tempels beauftragt. Doch in einem der Kreisregierung Shanghais übergebenen Bericht standen die folgenden Sätze: „... Die Priester waren in den letzten Jahren unerwartet faul. Oft waren sie nicht im Tempel. Sie sind ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, so dass der Stadtgotttempel seit drei Jahren zwei große Unfälle erlitten hat. Folglich sind 60% des Tempels zerstört. Der Verlust ist empfindlich ...“3 Die Unzufriedenheit des Auftraggebers ist ziemlich deutlich. Nach einer Angabe wurde der Brand 1924 durch eine Menge von Papiergeld4 verursacht, das von den Gläubigen für das Zhongyuan-Fest gespendet worden war und von den Priestern nachlässig in der Haupthalle aufgehäuft wurde. Wahrscheinlich was es an einem trockenen und heißen Sommertag ein kleiner Funke aus den Räucherstäbchen oder Kerzen, der alles entzündete.5

1 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 3. 2 Shenbao. 231-728(4). Im Jahr 1915 verkündete das Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai, dass der Stadtgotttempel Shanghais öffentliches Eigentum war. Anschließend übernahm das Büro den Tempel. Die Priester im Tempel wurden weiter angestellt. Shanghai-tongzhi-bianzuan-weiyuanhui 上 海通志编纂委员会 (Hg.), Shanghai tongzhi 上海通志, Bd. 2, 1496. 3 Ibid. 4 Der Barren („ding“ 锭 oder yuanbao 元宝) war ein offizielles Zahlungsmittel (-Einheit) im vormodernen China, das in genormten Größen in Gold oder Silber gegossen wurde. Papiergeld ist kein Geldschein, sondern eine Nachbildung des Barrens, die mit dem verzinnten oder verkupferten Papier gefalzt wird. Solches Papiergeld für Verstorbene zu verbrennen, ist eine Sitte und ein Brauch in Shanghai. 5 Shenbao, 205-402(2).

193 9.2.1.2. Neubau des Tempels (1926-7)

Eine Stadt wie Shanghai durfte nicht ohne Stadtgotttempel sein. Kurz nach dem Brand von 1924 wurde der Neubau auf die Tagesordnung gesetzt. Eigentlich war in den 20er Jahren die Umgebung des Stadtgotttempels und des angrenzenden Yu- Gartens (豫园) ein problematisches Viertel geworden. Wegen der raschen Urbanisierung Shanghais war die alte Innenstadt am Anfang des 20. Jahrhunderts schon übervölkert. Die Behörde verlor manchmal die Kontrolle über die Situation. Mangels Hilfskräften verschlammte der Teich im Yu-Garten und wurde anschießend die Müllkippe der Stadtbewohner. Der Markt und das Einkaufszentrum wurden mit Bettlern und Taschendieben überschwemmt.1 Um eine Wende herbeiführen zu können, wurde „das Umbaukomitee für den Stadtgotttempel und den Yu-Garten“ (整理邑庙豫园委员会, UKSY) gegründet. Das UKSY ergriff eine Reihe von Maßnahmen. Die Innenmauer sowie der Innenteil des Yu-Gartens waren bereits 1920 repariert worden.2 Die Polizei in der Umgebung wurde verstärkt, um die Bettler zu vertreiben.3 Allerdings waren das diffizilste Problem des Neubaus natürlich die Geldmittel. Die Kosten des Neubaus wurden auf über 100.000 yuan geschätzt.4 Das UKSY gab im September 1925 sogar zwei Annoncen in der Shenbao auf, um die Gesellschaft um Spenden zu bitten. Nach deren Angaben belief sich das Budget allein des Umbaus des Yu-Gartens auf 15.000 yuan. 5 Das Kreisamt Shanghais stellte dem UKSY sogar die Sozialsteuern für den Yu-Garten und seine Umgebung zur Verfügung.6 Die ganze Stadt, v. a. die Schicht der Geschäftsleute, begann eine Reihe von Aktionen zu unternehmen. Beispielweise veranstaltete das berühmte Vergnügungszentrum „Die kleine Welt“(小世界7) im November 1925 eine dreitägige Sonderversammlung, um

1 Shenbao, 216-569(2). 2 Shenbao, 167-185(3); 180-160(5); siehe auch Shanghaishi-nanshi-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海 市南市区志编纂委员会 (Hg.), Nanshi quzhi 南市区志, 913. „Aufzeichnungen über die Neusanierung des Innengartens “(重修内园记). 3 Shenbao, 216-461(4). 4 Shenbao, 205-402(2). 5 Shenbao, 216-287(4); 216-569(2). 6 Shenbao, 217-559(2). 7 „Die kleine Welt“ war ein Vergnügungszentrum am Stadtgotttempel. Es wurde nach dem Ausbruch des sino-japanischen Krieges geschlossen. Nach dem Krieg zog es in ein Kaufhaus um. Das Vergenügungszentrum wollte den Neubau des Stadtgotttempels m. E. deswegen unterstützen, weil sein

194 Geld für die Umgestaltung der Umgebung des Yu-Gartens und des Stadtgotttempels zu sammeln. Das Vergnügungszentrum versprach, die Einnahmen für die Eintrittskarten innerhalb dieser drei Tage dem UKSY zu spenden. 1 Trotzdem waren die Geldmittel knapp, so dass anderthalb Jahre nach dem Brand der Neubau immer noch nicht beginnen konnte. Erst Anfang 1926 änderte sich die Situation. Am 26. Januar fand eine Sitzung für den Neubau statt. Obwohl die Kosten neu kalkuliert (150.000 yuan) wurden, traf man folgende Entscheidungen: der Bau sollte am 14. März (1.2. nach dem chinesischen Kalender) beginnen; die Fertigstellung war für Ende des Jahres geplant; insgesamt fünf Hallen mussten komplett neu gebaut werden; die neuen Hallen mussten mit Stahlbeton gebaut werden, um potenzielle Schäden durch Brände zu vermeiden; ein vorbereitender Ausschuss wurde gegründet, damit er alle o. g. Entscheidungen durchführen konnte; die öffentlichen Spenden wurden von der Huada-Bank (华大银 行 ) kommissarisch verwaltet. Während des Frühlingsfests sollten vor dem Stadtgotttempel Spenden der Bürger gesammelt werden. Vier Teilnehmer dieser Sitzung, von denen jeder vor Ort 20.000 yuan spendete, waren so auffällig, dass allein ihre Anwesenheit schon ein Ereignis in Shanghai war, weil sie, Fan Huichun (范回春), Huang Jinrong (黄金荣), Zhang Xiaolin (张啸林) und Du Yuesheng (杜月笙), als die Großkopfeten der lokalen Mafia und gleichzeitig die reichsten Geschäftsmänner in Shanghai bekannt waren.2 Am 3. Mai gingen die Bauarbeiten, drei Monate später als geplant, schließlich los. Das Kreisamt Shanghais gab einen Tag zuvor eine Bekanntmachung in der Shenbao heraus, dass die Baufirma Jiuji (久记营造厂) das Bauprojekt in Angriff nehme. Die Polizei wurde in der Gegend verstärkt, um die Bauarbeiten vor Diebstählen zu schützen. Außerdem sollten die Geschäfte vor dem Tempel, die zu ihm gehörten und

Geschäft sehr von dem Tempel und dessen Besuchern abhing. Siehe Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上 海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 24-25. Das Vergnügungszentrum wurde während des Krieges in eine Freistätte umfunktioniert. Nach dem Krieg wurde das Haus saniert und in ihm ein neues Kino eröffnet. Bis dahin hatten viele berühmte Geschäftsmänner wie Fan Huichun, Huang Jinrong in es investiert. Siehe Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 28. 1 Shenbao, 218-538(3). 2 Shenbao, 220-563(6).

195 vermietet worden waren, von jenem Tag an eingestellt werden. Selbstverständlich bezahlten die Geschäftsinhaber nicht mehr die Miete.1

9.2.1.3. Die Gründung des Aufsichtsrats (1926)

Als die Bauarbeiten in Gang kamen, beschäftigte man sich gleichzeitig mit etwas anderem, nämlich der Gründung einer Verwaltungseinheit für den Stadtgotttempel, die langfristig gesehen viel wichtiger war als die Bauarbeiten an sich. Am 5. Dezember 1926 wurde der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels (邑庙董事会) in der den Brand überlebenden Qunxiu-Halle (群秀堂) des Tempels gegründet. Zum Vorsitzenden wurde Qin Xitian (秦锡田), der Urenkel des Stadtgottes Qin Yubo, gewählt. Am gleichen Tag wurde die „Kurzsatzung des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels“(邑庙董 事会简章, KSVS) in der Sitzung vorgelesen und von den Teilnehmern gebilligt.2 Aus einer Archivakte geht hervor, dass das Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai den Aufsichtsrat beauftragte, die Gebäude des Stadtgotttempels einschließlich der neu gebauten Großhalle zu verwalten. Diese Änderung wurde am 22.1.1927 im Amt des Kreisvorstehers Shanghais (上海县知事公署)3 in einer Akte aufgenommen. Im Jahr 1936 wurde der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels gemäß der „Ordnung für die Anmeldung von Tempeln und Klöstern“ (寺庙登记规则) des Innenministeriums bei der Sozialbehörde Shanghais (上海市社会局) registriert. Im September desselben Jahres beantragte der Aufsichtsrat beim Parteibüro der chinesischen Nationalpartei Shanghais ( 市党部) eine Urkunde für Sozialorganisationen. 4

1 Shenbao, 223-40(1). Zu den drei Großkopfeten siehe Shao, Yong 邵雍, Zhongguo mimi shehui, di liu juan, minguo banghui 中国秘密社会. 第 6 卷. 民国帮会, 114- 116. Ihre Geheimbünde waren ursprünglich geheime religiöse Gesellschaften. Aber bisher sind keine Hinweise dafür gefunden worden, dass jene Gesellschaften in geschichtlichem Zusammenhang mit dem Stadtgottesglauben stehen. 2 Shenbao, 230-152(5). 3 Der Vorgänger des Amts des Kreisvorstehers von Shanghai war das Zivilverwaltungsbüro des Kreises Shanghai (上海县民政部), das am 7. November 1911 gegründet wurde. Im Januar 1913 wurde das Büro umbenannt. Im März 1927 wurde das Amt zur Kreisregierung umgebaut. Siehe Shanghaishi-shanghai-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市上海县县志编纂委员会 (Hg.), Shanghai xianzhi 上海县志, 224. 4 Shanghaier Hauptarchiv, Q6-10-347,S.017. Viele Bearbeitungen von bürokratischen Anträgen waren bis zum Ausbruch des Krieges am 13. August 1937 in Shanghai noch nicht vollendet. Sie mussten

196 9.2.1.4. Die Satzungen des Aufsichtsrats (1927)

In der im Februar 1927 veröffentlichten KSVS wurde deutlich erklärt (Kapitel 1, Satz 1), dass der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels mit der gemeinsamen Zustimmung des Besitzverwaltungsbüros des Kreises Shanghai, des Amtes der Stadt Shanghai (上海市 公所), des Wohltätigkeitsverbandes Shanghais ( 上海慈善团), des Shanghaier Krankenhauses (上海医院) und des Erziehungshauses für die Bettler Shanghais (上海 乞丐教养院) gegründet wurde.1 Weder ein taoistischer Priester noch eine taoistische Vereinigung wurden erwähnt. Die Zielsetzung des KSVS (Kapitel 2, Satz 2) lautet: die Herrlichkeit des Stadtgotttempels zu bewahren; kommerzielles Wachstum zu unterstützen; die Vorschriften für die Gebete zu reorganisieren und einen Sozialfond [für Wohltätigkeiten] zu gründen.2 Das Grundstück des Stadtgotttempels wurde eindeutig abgegrenzt (Kapitel 4, Satz 4): es reichte im Osten bis zur Mengjiang-Gasse ( 猛将弄), im Süden bis zum Haupteingang (bzw. Haupttor), im Westen bis zum Huaitong-Haus (怀通楼) und im Norden bis zur alten Poststation (古驿).3 Die Verteilung der Mitglieder im Aufsichtsrat wurde ebenfalls festgelegt (Kapitel 5, Satz 5): zwei sollten aus dem Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai stammen, zwei aus dem Amt der Stadt Shanghai, zwei aus dem Wohltätigkeitsverband Shanghais. Hinzu kamen zwei Großspender sowie jeweils ein Vertreter des Shanghaier Krankenhauses, des Erziehungshauses für die Bettler Shanghais und des Umbaukomitees für den Stadtgotttempel und den Yu-Garten. Insgesamt bestand der Aufsichtsrat aus elf Mitgliedern. Sie wählten aus ihrer Reihe einen Vorsitzenden (会

später in der Zeit des Krieges auf Eis gelegt werden. 1 Shenbao, 231-728(4). In der Mengjiang-Gasse gab es einen Mengjiang-Tempel, der wahrscheinlich dem General Liumeng gewidmet war. Daneben gab es noch den Yue-Tempel (岳庙) und die Halle der Volkshelden (群忠祠). Siehe Shanghaishi-shanghai-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市上海县县志 编纂委员会 (Hg.), Shanghai xianzhi 上海县志, Anhang: Stadtplan in der Tongzhi-Zeit der Qing-Dynastie (清同治年间上海县城图). Der Block des Stadtgotttempels war in der Qing- und Ming-Zeit quasi ein Viertel der Religionsanstalten in der alten Innenstadt Shanghais. Die alte Poststation existierte in der Republikzeit nicht mehr. Die war nur als ein Ortsname geblieben. 2 Siehe auch Shanghaier Hauptarchiv Q6-10-347, S.006, Das Anmeldeformular des Stadtgotttempels bei der Sozialbehörde Shanghais. 3 Shenbao, 231-728(4).

197 长) und einen Vizevorsitzenden (副会长), deren Amtsdauer drei Jahre betrug (Kapitel 5, Satz 6-8). Der erste Vorsitzende war Qin Xitian (秦锡田) und der Vizevorsitzende Ye Zengming (叶增铭).1 Gemäß der Satzung hat der Vorsitzende die Pflicht, alle drei Monate (jeweils im dritten, sechsten und neunten Monat nach dem chinesischen Kalender) eine Sitzung einzuberufen (Kapitel 5, Satz 11). In Kapitel 6, Satz 13 wurde die Organisationsstruktur des KSVS festgelegt. Sie wird in der Abbildung unten dargestellt.

Abb. 8 Die Organisationsstruktur des Aufsichtsrats vom Stadtgotttempel

In einem Zeitungsartikel wurde die Zusammensetzung der Mitarbeiter im Aufsichtsrat ausführlicher dokumentiert.

1 Die beiden Namen wurden an einem anderen Ort auch als Qin Huaiqi (秦槐畦) und Ye Huijun(叶惠 钧) angegeben. Shenbao, 230-152(5).

198

Abb. 9 Die Zusammensetzung der Mitarbeiter des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels (1927)

Der Vorsitzende bekleidete gleichzeitig - als zweites Amt – das Amt des Buchhalters. Im Vergleich zu den buddhistischen Klöstern im damaligen Shanghai war der Aufsichtsrat nur eine kleine Institution. Schließlich behandelte die Vorschrift die taoistischen Priester, die wegen der Brände scharf kritisiert worden waren. Gemäß Satz 22 stellte der Aufsichtsrat lediglich zwei Äbte weiter an. Sie sollten für die Ausübung der Riten, die Aufbewahrung aller Schriften, für Bekleidung und liturgische Geräte verantwortlich sein.1 Kurz vor der Neueröffnung des Stadtgotttempels tauchte eine interessante Nachricht in Shenbao auf. Der Artikel berichtete, dass der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels einige Schwindler entdeckt hatte, die fälschlicherweise im Namen des Aufsichtsrates Spenden für den Neubau des Tempels sammelten,. Bevor sie gefasst wurden, hätten sie schon gut 300 yuan ergaunert. Der Aufsichtsrat bat die Bürger um Vorsicht, weil er nie eine solche Spendeaktion durchgeführt habe.2 Diese Straftat ist für uns irrelevant, doch zwei Dinge werden klar: (1) Der Aufsichtsrat hatte endgültig das Finanzierungsproblem gelöst und brauchte keine einzige Spende mehr von den Bürgern. Die Neueröffnung des Stadtgotttempels war nun nur noch eine Frage der Zeit. (2) Die symbolische Bedeutung des Stadtgotttempels war trotz aller Sozialtransformationen Anfang der Republikzeit nicht zu unterschätzen, andernfalls

1 Shenbao, 231-728(4). 2 Shenbao, 241-424(4).

199 hätten die Straftäter den Namen des Stadtgotttempels nicht ausnutzen können, um Geld zu erschleichen.

9.2.1.5. Neueröffnung des Stadtgotttempels (1927)

Im Laufe der Bauarbeiten gab es einige Zwischenfälle, deren zentrale Auseinandersetzung den Mieterschutz betraf. Der VRST plante einen erweiterten Umbau im März 1927, der nicht im Umbauplan von 1926 enthalten war. Es ging um zwei Wandelgänge, die für Geschäftszwecke vermietet worden waren. Der Umbauplan löste unter den Geschäftsmännern, die in den Wandelgängen ihre Geschäfte betrieben, Panik aus. Um einen möglichen Prozess zu vermeiden, erreichten die beiden Parteien letztendlich den folgenden Kompromiss: Die Geschäfte mussten bis zum 13. März ausgezogen sein; der Umbau musste bis Ende Mai beendet sein. Danach durften sich die Geschäfte vorbehaltlos wieder an ihren ursprünglichen Orten in den Wandelgängen niederlassen.1 In der Zwischenzeit wurden die Geschäfte erneut vermessen und in drei Typen gruppiert, für die nach dem neuen Tarif monatlich jeweils 3, 2,4 und 2 yuan Miete bezahlt werden musste. Die Miete sollte vom 5. bis zum 10. jedes Monats zwischen 18 und 21 Uhr an den Aufsichtsrat gezahlt werden. Nach dem Umbau durften in den Wandelgängen keine Imbissstuben mehr eröffnet werden.2 Darüber hinaus wurde die Yuewang-Halle (岳王殿) auf vier Geschosse erhöht, von denen das oberste Geschoss als Wohnheim der Polizei genutzt werden sollte.3 Es scheint, dass das Religiöse und das Säkulare, die Ordnung des Jenseits und des Diesseits, unmittelbar nebeneinander, sogar durcheinander, existieren mussten. Am 18. Dezember 1927 feierte man nach einer 17-monatigen Umbauarbeit endlich die Neueröffnung des Stadtgotttempels. Eine Woche zuvor konnte man schon einen Artikel in der Shenbao lesen, in dem die Einweihung der neuen Haupthalle sowie die Feierlichkeiten zur Neueröffnung bekannt gegeben wurden. In dem Artikel wurden die Großspender, Huang Jinrong, Zhang Xiaolin und Du Yuesheng, als große

1 Shenbao, 232-10(5); 232-54(3); 232-76(4); 232-104(1). 2 Shenbao, 232-76(4). 3 Shenbao, 232-104(1).

200 Wohltäter bezeichnet.1 Auf dem Titelblatt der Shenbao vom 17. Dezember, einen Tag vor der Neueröffnung, gab es sogar eine Annonce des Aufsichtsrats, mit der die Gläubigen zur Einweihungszeremonie und dazu eingeladen wurden, an dem Tag Räucherstäbchen zu verbrennen und zusammen zu beten.2 Um 7 Uhr des entsprechenden Tages begann die Eröffnungszeremonie (开光). Der gesamte Aufsichtsrat und die Großspender kamen als erste in den Tempel. Als Privileg und Ehre durften sie Weihrauch verbrennen. Ab 16 Uhr wurde die Liturgie folgendermaßen durchgeführt: a) Beginn der Feierlichkeiten; b) Der Hauptliturgienleiter (主祭者) nahm seinen Platz ein; c) Die Nebenliturgienleiter nahmen ihre Plätze ein; d) Die anderen Liturgienleiter erfüllten ihre Aufgaben: Es wurde Musik gespielt. Der Hauptliturgienleiter verbrannte Weihrauch und brachte dem Stadtgott seine Verehrung dar. Anschließend wurden Reiswein, Lebensmittel und Blumen dargebracht. e) Ein Liturgienleiter las die Festschrift vor; f) Man verabschiedete den Stadtgott; g) Weihrauch und Kerzen wurden angezündet; Eine Menge von Papiergeld wurde verbrannt (望燎); h) Alle Liturgienleiter traten zurück; i) Ende. 3 Nach Angaben der Shenbao drängten sich bis 21 Uhr unzählige Gläubige in dem Tempel. Den ganzen Tag wurde der Stadtgotttempel vom dunstigen Weihrauchsmog eingenebelt.4

9.2.1.6. Die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats

Wenn man einen Blick auf die Namensliste der Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats wirft, sieht man sehr viele berühmte Persönlichkeiten Shanghais, die wahrscheinlich

1 Shenbao, 241-245(6). 2 Shenbao, 241-361(2). 3 Shenbao, 241-424(4). 4 Shenbao, 241-424(4).

201 bedeutenden Einfluss sowie auf den Stadtgotttempel an sich als auch auf die Durchführung der Stadtgott-Inspektionsrundgänge nehmen konnten. Anhand ihrer bemerkenswerten Biografien lassen sich die Grundlagen ihrer Macht und ihres Ansehens sehr gut erkennen. Qin Xitian (秦锡田) und Ye Huijun (叶惠钧) wurden bei der Gründung des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels zum Vorsitzenden und Vizevorsitzenden gewählt. Qin Xitian (1861-1940) stammte aus einer berühmten Großfamilie in Shanghai. Er war einer der sieben Mitglieder des Stadtrates des Kreises Shanghai (上海县参事 会).1 Zu seinen Lebzeiten war er in Shanghai als Pädagoge sowie Intellektueller bekannt und gehörte zu den Honoratioren der Stadt. Gegen 1900 war er als niedriger Beamter in der Provinz Hubei tätig. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Shanghai engagierte er sich aktiv im Schulwesen und beteiligte sich an Wohltätigkeiten. Er gründete mehrere Grund- und Mittelschulen im damaligen Kreis Shanghai und war später als ihr Direktor tätig. Ab 1921 amtierte er als Vorsitzender des Besitzverwaltungsbüros des Kreises Shanghai. Gleichzeitig bekleidete er mehrere Titel, z. B. Vorstand des Wohltätigkeitsvereins Shanghais (上海慈善团), Vorsitzender des Fürsorgeheims für Behinderte Shanghais (上海残疾院)2 und des Shanghaier Krankenhauses (上海医院). Im Jahr 1927, als der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels gegründet wurde, begründete er das Erziehungshaus für Bettler in Shanghai (上海游 民习勤所)3, das bis 1936 insgesamt 800 Bettler berufsorientiert ausbildete. Qin setzte sich systematisch mit Hydrotechnik auseinander, so dass er als Berater von mehreren Wasserbauinstitutionen angestellt war. Außerdem war er sehr engagiert im Verfassen

1 Das Stadtparlament vom Kreis Shanghai (上海县议事会) ist eine der frühesten selbst regierenden Institutionen in Shanghai Anfang der Republikzeit. Es wurde am 24.1.1912 gegründet. Im August desselben Jahres wurde das Stadtparlament in „Stadtrat“ (上海县参事会) umbenannt. Die Mitglieder des Stadtrats wurden aus der Gruppe der einheimischen Honoratioren gewählt. Siehe Shanghai-jiu-zhengquan-jianzhi-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上海旧政权建置志》编纂委员会 (Hg.), Shanghai jiu zhengquan jianzhi zhi 上海旧政权建置志, 74. Qin trat im Januar 1913 zurück. 2 Das Fürsorgeheim für die Behinderten Shanghais wurde im Dezember 1912 auf Vorschlag von Geschäftsmännern und der Gentry in Shanghai gegründet. Dessen Ziele waren: Arbeitstechniken zu vermitteln, die Lebenstüchtigkeit zu verbessern und gesellschaftliche Ordnungen zu schaffen. Siehe Zhang, Liheng 张礼恒, "Luelun minguo shiqi shanghai de cishan shiye" 略论民国时期上海的慈善 事业, in: 民国档案, Vol. 3, 1996, 142. 3 Das Erziehungshaus für Bettler wurde 1927 mit Unterstützung von Kreisbehörde und Kreispolizei eingerichtet. Bis Juni 1931 hat das Erziehungshaus insgesamt 1347 Personen aufgenommen, 763 von ihnen wurden später arbeitsfähig und verließen das Erziehungshaus. Siehe Ibid., 142.

202 von Regionalbeschreibungen. Er war sogar der Hauptverfasser einer Regionalbeschreibung des Kreises Shanghai.1 Ye Huijuns (1862-1932, erster Vizevorsitzender des Aufsichtsrats) Biographie ist ganz anders als die Qins. Er stammte aus Gaohang (高行), einem Dorf im nördlichen Teil Shanghais. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, bevor er im Frühling 1911, kurz vor der Xinhai-Revolution, der Tongmenghui (同盟会) 2 beitrat. Er engagierte sich in der Bewegung gegen Korruption und war sehr bekannt für seine Vortragskunst. Auf seinen Vorschlag rekrutierte der Gewerbeverein Shanghais eine Miliz. Im April 1911 wurde er auf der Versammlung des nationalen Gewerbevereins (全国商团联合会) zum Vizepräsidenten gewählt. Am 3. November 1912 führte er persönlich den Angriff gegen den Rüstungsbetrieb in Shanghai (制造局) an, mit dem der bürgerliche Aufstand gegen die Qing-Herrschaft in Shanghai eröffnet und schließlich das mandschurische Regime gestürzt wurde. Im Jahr 1913 beteiligte er sich an der Konspiration gegen Yuan Shikai (袁世凯), der vorhatte, sich zum neuen Kaiser Chinas zu erklären. Die Konspiration wurde später enthüllt, und Ye musste nach Japan fliehen. Nach der Rückkehr nach Shanghai lehnte er alle politischen Ämter ab und konzentrierte sich auf sein Geschäft. An seinem Lebensabend setzte er sich mit der buddhistischen Lehre auseinander.3 Bald nach Gründung des Aufsichtsrats verstarben Qin und Ye kurz nacheinander. In der Übergangsphase bis zur Neuwahl übernahmen mehrere Personen ihre Stellen. Schließlich wurden Huang Jinrong und Mao Zijian als Vorsitzender und Vizevorsitzender des Aufsichtsrats gewählt.4 Über die anderen Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrates in den 30er Jahren wissen wir nicht viel. Bekannt ist nur die folgende Tabelle über die Vorstandsmitglieder nach

1 Shanghaishi-shanghai-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市上海县县志编纂委员会 (Hg.), Shanghai xianzhi 上海县志, 1172-73. 2 Tongmenghui ist eine von Sun Yatsen 1905 in Tokio gegründete Gesellschaft, deren Ziel war: Vertreibung der tartarischen „Lumpen“, Wiederbelebung der chinesischen Nation, Gründung der Republik, Durchführung einer Landreform in China. 3 Shanghaishi-chuanshaxian-xianzhi-bainxiu-weiyuanhui 上海市川沙县县志编修委员会 (Hg.), Chuansha xianzhi 川沙县志, 952. Über die Rolle von Ye im bürgerlichen Aufstand 1911 Siehe auch Ding, Richu 丁日初, "Shanghai zibenjia zai xinhai qiyi ji shengli hou de jiji biaoxian" 上海资本家在 辛亥起义及胜利后的积极表现, in: 近代史研究, Vol. 1, 1983, 220-222. 4 Q6-10-347, S.006, Geschichte.

203 dem Zweiten Weltkrieg (1946), die als Anlage in Archivakten aufgenommen ist.

Name Alter Herkunft Beruf Stelle Huang Jinrong 79 Shanghai Vorsitzender (黄金荣) Vorsitzender der Mao Zijian 65 Shanghai Hunan-Feuerwehr Vizevorsitzender (毛子坚) (沪南救火会) Präsident des Shanghaier Huang Hanzhi 72 Shanghai Wohltätigkeitsvereins Vo r stand (黄涵之) (上海慈善团) Präsident vom Yao Muliang 70 Shanghai Neidi-Wasserwerk Vo r stand (姚慕莲) (内地自来水公司) Yao Xinzhi Yiqun Firma 55 Shanghai Vo r stand (姚鑫之) (益群事务所) Fan Huichun Präsident der Jiading-Bank 69 Zhejiang Vo r stand (范回春) (嘉定银行) Vorstand vom Haus für die Qin Zhiquan 29 Shanghai Behinderten Shanghais Vo r stand (秦之泉) (上海残疾院) Generaldirektor der Pei Yunqin 66 Zhejiang Tongrun-Bank Vo r stand (裴云卿) (同润钱庄) Vorstand des Shanghaier Ma Jiliang 69 Zhejiang Wohltätigkeitsvereins Vo r stand (马骥良) (上海慈善团) Tabelle 6. Die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats (1946)1

Mit Hilfe anderer historischer Quellen versuche ich, einige Schlüsselfiguren des Aufsichtsrats zu analysieren. Huang Jinrong (黄金荣, 1867-1953) ist ohne Zweifel der auffälligste Name aus der Tabelle. Huang war eine der berühmten Persönlichkeiten in Shanghai, im negativen Sinn. Er ist vor allem als Mafiaboss im kollektiven Gedächtnis der Stadt geblieben. In seiner Frühzeit war er als Lehrling für Malerei und Tapezieren eines Ladens für Kalligraphie und Malerei in Shanghai tätig.2 Im Jahr 1892 gelang es ihm, Polizist der französischen Konzession in Shanghai zu

1 Q6-10-347, S.006 und 015. Die Anschriften der Mitglieder in der originalen Tabelle wurden weggelassen. 2 Wang, Huiqiang 王辉强, Qingbang daheng: huang jinrong 青帮大亨: 黄金荣, 13f.

204 werden.1 Inzwischen konnte er ein paar Mitglieder der lokalen Mafia kennen lernen und mit ihnen einen Kompromiss schließen, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Er befreundete sich mit zwei Mafia-Anführern und schloss mit ihnen sogar Blutsbrüderschaft. Fortan fing er an, sein eigenes Netzwerk aufzubauen.2 Zur Jahrhundertwende klärte er mehrere schwere Kriminalfälle, sodass er 1917 zum einzigen chinesischen Polizeidirektor der französischen Konzession befördert wurde. In der Zwischenzeit war er in die größte Unterweltorganisation Chinas, Qing Bang ( 青帮) 3, eingetreten. Viele Funktionäre der Konzessionsbehörden und Geschäftsmänner sammelten sich um Huang in dieser geheimen Organisation. 4 Danach führte er unter legaler Deckung durch die Sanxin-Firma (三鑫公司) mit anderen Qing Bang-Mitgliedern das Opiumgeschäft.5 Mit den Profiten aus dem Opiumgeschäft eröffnete Huang anschließend mehrere Kasinos, Etablissements und Theater.6 Inzwischen unterstützte er auch die politische Tätigkeit von Sun Zhongshan (孙中山) und Jiang Jieshi (蒋介石).7 Im Jahr 1927 musste Huang offiziell den Posten des Polizeidirektors verlassen und in Rente gehen. Aber er hatte die Polizei der Konzessionen und die Unterwelt immer noch im Griff.8 Während der japanischen Besatzung lehnte Huang die Einladung der japanischen Besatzungsbehörde ab, ihr Berater zu sein.9 In der sog. Gegen-Revolutions-Bewegung veröffentlichte Huang am 20. Mai 1951 in den Zeitungen in Shanghai seine „Bekenntnisse“.10 Kurz danach starb er in seiner Residenz im Alter von 86 Jahren.11

1 Ibid., 37-38. 2 Ibid., 39-42. 3 Qing Bang war eine hoch disziplinierte Mafia-Organisation, die sich tief in der chinesischen Volksreligion in der Ming- und der Qing-Dynastie verwurzelte. 4 Nach der Erinnerung eines Mitgliedes bestanden die Mitglieder grundsätzlich aus den folgenden gesellschaftlichen Gruppen: die chinesischen Polizeibeamten der Konzessionen, zu denen Huang durch berufliche Verbindungen engen Kontakt hatte; das Gesindel und Kriminelle sowie die Geschäftsmänner aus Shanghai. Wang, Huiqiang 王辉强, Qingbang daheng: huang jinrong 青帮大亨: 黄金荣, 95-96. Unter denen waren auch Du Yuesheng (杜月笙) und Zhang Xiaolin (张啸林), zwei engste Helfer und Freunde von Huang, die später zusammen mit Huang “die drei Großmafiabosse” genannt wurden. Siehe Wang, Huiqiang 王辉强, Qingbang daheng: huang jinrong 青帮大亨: 黄金荣, 97-104. 5 Wang, Huiqiang 王辉强, Qingbang daheng: huang jinrong 青帮大亨: 黄金荣, 108-118. 6 Ibid., 122-130. 7 Ibid., 137-143. 8 Ibid., 177-183. 9 Ibid., 200 ff. 10 Ibid., 224-226. 11 Ibid., 228.

205 Der Vizevorsitzende Mao Zijian (毛子坚) bekleidete neben dem Vorsitzenden der Hunan-Feuerwehr gleichzeitig den Vizevorsitzenden der Miliz Shanghais (上海保卫 团) 1. Huang Hanzhi ( 黄涵之, 1875-1961) war Präsident des Wohltätigkeitsvereins Shanghais (上海慈善团) 2 und auch Vizepräsident der vereinigten Vereinigung der Wohltätigkeitsverbände in Shanghai (上海慈善团体联合会副委员长).3 Er hatte in der Kaiserzeit eine traditionelle Bildung erlangt und sogar einen Titel der Kreisbeamtenprüfung erhalten. Danach war er in der Provinz Hubei als Kreisvorsteher tätig. In der späten Guangxu-Zeit (gegen 1900) trat er zurück und fuhr nach Japan zum Studium. Nach dem Studium kehrte er in der Xuantong-Zeit (1909-1911) zurück nach Shanghai und gründete mehrere Bildungsanstalten. Anfang der Republikzeit war er als hochrangiger Beamter in der Stadtregierung tätig. Nach dem Warlordkrieg bekleidete er das Amt des Chefs der Sozialbehörde Shanghais (上 海公益局). Huang ist auch als Buddhist bekannt. Er veröffentlichte mehrere Einführungen in die buddhistische Lehre.4 Seine Rolle im Aufsichtsrat war deswegen wichtig, weil er eine Verbindung zwischen dem Stadtgotttempel und Wohltätigkeitsverbänden herstellen konnte. Das Vorstandsmitglied Yao Muliang (姚慕莲, 1876-1950?) stammte aus einer Großhändlerfamilie in Jiaxing (嘉兴) in der Provinz Zhejiang, in der mehrere Verwandte als hochrangige Beamte in der kaiserlichen Regierung tätig waren. 5 Er

1 Zhou, Songqing 周松青, "Difang zizhi yu qingmo minchu de shanghai ping'an chengshi jianshe" 地 方自治与清末民初的上海平安城市建设, in: 法治论丛(上海政法学院学报), Vol. 3, 2007, 58. Die Miliz Shanghais war eine von der bürgerlichen Schicht selbstorganisierte militärische Einheit, die im Juli 1913, kurz nach der Gründung der Republik, zum Zweck der Verteidigung der Stadt und der Bewahrung der Ordnung gegründet wurde. 2 Der Wohltätigkeitsverein Shanghais war eine der größten Wohltätigkeitsverbände in der Republikzeit in China, der sich aus 14 Wohltätigkeitsverbänden zusammensetzte. Im Jahr 1931 besaß er den Grundbesitz von 8.078 mu, der einen Wert von 7,6 Millionen yuan hatte. Sein Hausbesitz kostete insgesamt 1,1 Millionen yuan. Das jährliche Einkommen des Vereins betrug 390.000 yuan im Jahr 1937, das zum großen Teil aus den Einnahmen von Immobilien kam. Siehe Wang, Hua 汪华, "Cihui yu shangdao: jindai shanghai cishan zizhi xingqi de yuanyin tanxi" 慈惠与商道:近代上海慈善组织 兴起的原因探析, in: 社会科学, Vol. 10, 2007, 158-9. 3 Ibid., 157. 4 http://www.plm.org.hk/dispArticle.asp?id=2711, abgerufen im Nov. 2008. 5 http://www.zjol.com.cn/05zjtz/system/2005/11/30/006384900.shtml, abgerufen im Nov. 2008. Siehe auch 姚宝燕, „关于姚慕莲二三事“, 文史资料通讯 2005 年第四十二期, verfasst im Jahr 1983, unter http://user.jiaxing.gov.cn/sites/jxszx/col1024/article.htm1?id=23888, abgerufen im Nov. 2008.

206 war gleichzeitig Geschäftsmann und Vorstandsmitglied mehrerer Wohltätigkeitsverbände in Shanghai.1 Im August 1915 brachte Yao Mulian genügend Kapital auf und übernahm das Neidi-Wasserwerk (内地自来水公司) in Shanghai. Nach der Übernahme veranlasste er, dass neue technische Anlagen gekauft wurden, damit die Wasserqualität erheblich verbessert werden konnte.2 Er engagierte sich sehr in neuen öffentlichen Infrastrukturunternehmen in Shanghai und trug gleichzeitig viele Titel: Vorstand des Postamts, Chefdirektor des Pekinger Telegrammamtes (北京 电报局), Vorstand der Zhejiang-Bahn (浙江铁路公司), Vorstand des chinesischen roten Kreuzes (中国红十字会) etc. Er war auch Besitzer oder Vorstandsmitglied von mehreren öffentlichen Unternehmen, z. B. des Shanghaier Neidi-Wasserwerks (上海 内地自来水公司), der Shanghaier Hengtong Bank (上海衡通钱庄) und des Shanghaier Huashang Stromversorgers ( 上海华商电气公司). 3 Neben seinem geschäftlichen Erfolg engagierte er sich sehr in lokalen Wohltätigkeitsvereinen. Im Jahr 1921, nach der großen Flutkatastrophe in mehreren Provinzen Südchinas, gründete Yao Mulian einen Hilfsverband für die Flüchtlinge.4 Im Januar 1927 zur Gründung des Erziehungshauses für Bettler in Shanghai (上海乞丐教养院) sowie 1929 zur Gründung des Umerziehungshauses für Arbeitslose (上海游民习勤所) wurde Yao zum Vizepräsidenten der beiden Institutionen gewählt.5 Anfang 1922 hatte er wegen Krankheit seine öffentlichen Dienste quittiert. Trotzdem besaß Yao unzählige Firmen und Immobilien in Shanghai. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg verkaufte er wegen der katastrophalen Wirtschaftslage alle Aktien und lebte nur vom Ruhegehalt. Darüber hinaus war Yao ein bekehrter Katholik.6

1 Tao, Shuimu 陶水木, "Beiyang zhengfu shiqi lühu zheshang de cishan huodong" 北洋政府时期旅 沪浙商的慈善活动, in: 浙江社会科学, Vol. 6, 2005, 180. 2 Shangban-shanghai-neidi-zilaishui-gufen-youxian-gongsi 商办上海内地自来水股份有限公司, "Jiu shanghai gongyong shiye jigou fazhan gaikuang ziliao (2) " 旧上海公用事业机构发展概况资料(二), in: 档案与史学, Vol. 2, 2003, 21. 3 http://www.zjol.com.cn/05zjtz/system/2005/11/30/006384900.shtml, abgerufen im Nov.2008. Siehe auch 姚宝燕, „关于姚慕莲二三事“, 文史资料通讯 2005 年第四十二期, verfasst im Jahr 1983, unter http://user.jiaxing.gov.cn/sites/jxszx/col1024/article.htm1?id=23888, abgerufen im Nov. 2008. 4 Tao, Shuimu 陶水木, "Beiyang zhengfu shiqi lühu zheshang de cishan huodong" 北洋政府时期旅 沪浙商的慈善活动, in: 浙江社会科学, Vol. 6, 2005, 181. 5 Luo, Guohui 罗国辉, "Minguo shiqi qigai ji qigai de jiuji- yi shanghai qigai qunti weili" 民国时期 乞丐及乞丐的救济——以上海乞丐群体为例, in: 沙洋师范高等专科学校学报, Vol. 3, 2007, 25. 6 http://www.zjol.com.cn/05zjtz/system/2005/11/30/006384900.shtml, abgerufen im Nov.2008. Siehe

207 Das Vorstandsmitglied Fan Huichun ( 范回春) gehörte zu einem der engsten Geschäftspartner und Freunde von Huang Jinrong. Er war sehr aktiv in der größten Rauschgift-Handelsgesellschaft in China, der Sanxin-Firma ( 三鑫公司), die eigentlich Huang Jinrong und anderen Mafiabossen gehörte. Er war Vizemanager der Firma, die vermutlich zwischen 1918 und 1919 gegründet worden war.1 Außerdem hatte Fan zusammen mit dem Geschäftsmann Su Jiashan (苏嘉善) sein eigenes Opium-Geschäft, das er unter der Deckung einer legalen Firma, der Jufeng Handelsgesellschaft (聚丰贸易公司), betrieb, die sich ihrerseits unter der Protektion von Lu Yongxiang (卢永祥), einem General, befand.2 Über die Biographie des Vorstandsmitglieds Qin Zhiquan (秦之泉) wissen wir kaum etwas. Vermutlich war er ein Nachkomme von Qin Xitian, dem ersten Vorsitzenden des Aufsichtsrats. Seine familiäre Herkunft, die sich unmittelbar zum Stadtgott Qin Yubo zurückverfolgen lässt, hatte große symbolische Bedeutung für den Stadtgotttempel und den Aufsichtsrat. Ein anderes Vorstandsmitglied, Pei Yunqin (裴云卿), stammte aus Shangyu (上虞) der Zhejiang Provinz. Er war eine sehr berühmte Persönlichkeit im Bankwesen Shanghais. Ab dem Alter von 18 Jahren arbeitete er in der Bank. Danach bekleidete er die Posten als Direktor, Chefdirektor und Vorstandsmitglied mehrerer Banken. Er war in den 30er Jahren der Direktor der Tongchun-Bank (同春钱庄) und gleichzeitig Mitglied des Erhaltungskomitees von Einwohnern Shanghais (上海市民地方维持 会). 3 Bei Ausbruch des sino-japanischen Krieges im Juli 1937 wurde er vom

auch 姚宝燕, „关于姚慕莲二三事“, 文史资料通讯 2005 年第四十二期, verfasst im Jahr 1983, unter http://user.jiaxing.gov.cn/sites/jxszx/col1024/article.htm1?id=23888, abgerufen im Nov. 2008. 1 Su, Zhiliang ; Yao Fei 苏智良;姚霏, "Jindai zhongguo shehui zhuanxing shiqi de fandu jubo" 近代 中国社会转型期的贩毒巨擘——旧上海三鑫公司研究, in: 上海师范大学学报(哲学社会科学版), Vol. 1, 2005, 128-129 und 131. 2 Wei, Peide 魏斐德, "Jindai shanghai de yapian yu fanzui" 近代上海的鸦片与犯罪, in: 档案与史 学, Vol. 3, 2003, 74. 3 Das Erhaltungskomitee von Einwohnern Shanghais wurde am 31. Januar 1932 gegründet. Sein Vorläufer war ein Salon von Bankern und Intellektuellen in Shanghai. Sein Ziel war, eine Strategie für die drei Tage zuvor zwischen der chinesischen und der japanischen Armee ausgebrochene militärische Auseinandersetzung in Shanghai (一二八抗战) zu finden, während die Stadtregierung und andere Behörden ratlos waren. An der ersten Sitzung des Komitees nahmen 32 Personen teil. Das Komitee hat vieles unternommen, um einerseits den chinesischen Soldaten beizustehen und andererseits die Finanzen und die Wirtschaft in Shanghai zu stabilisieren. Bai, Huashan 白华山, "Difang jingying yu shanghai kangzhan-yi 'yi er ba' shibian qijian de shanghai shimin difang weichihui

208 Unterstützungsverband Shanghais (上海各界抗敌后援会) als Mitglied in den ständigen Ausschuss gewählt.1 Er war auch sehr engagiert in der Wohltätigkeitsarbeit. Er spendete viel Geld für das Zheshao-Krankenhaus (浙绍医院), den Vorläufer des heutigen Beizhan-Krankenhauses (北站医院) im Zhabei-Bezirk. Bei Ausbruch des sino-japanischen Weltkrieges floh er nicht wie andere Großbanker nach Hong Kong. Stattdessen blieb er in Shanghai, um sich um die Banken zu kümmern. In der Kriegszeit war er der einzige einstweilige Vertreter des Shanghaier Gewerbevereins, der in Shanghai geblieben war. Nach 1949 wurde sein Aufenthalt während des Krieges für ihn ein politischer Schandfleck. Aber nach langjähriger Ermittlung wurde alles aufgeklärt. Pei wurde sogar als Mitglied der politischen Konsultativkonferenz des Zhabei-Bezirks gewählt.2 Obwohl wir über die anderen Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats, z. B. Yao Xinzhi (姚鑫之) und Ma Jiliang (马骥良), nicht vieles wissen, können wir doch anhand der Biografienrecherche feststellen, dass der Aufsichtsrat aus den mächtigen, einflussreichen und wohlhabenden Persönlichkeiten Shanghais bestand, die ihre sichtbare und unsichtbare Macht in den Angelegenheiten des Tempels und der Stadtgott-Inspektionsrundgänge ausüben konnten.

weili" 地方精英与上海抗战——以“一二八”事变期间的上海市民地方维持会为例, in: 史林, Vol. 4, 2007, 151-152. 1 Cao, Jun 曹峻, "Shanghai ningbo bang de kangri jiuguo huodong " 上海宁波帮的抗日救国活动, in: 抗日战争研究, Vol. 1, 1997, 121. 2 „钱业两“卿”,秦润卿与裴云卿“, unter http://www.ciicvision.com/view_info_detail.asp?co_id=5779, abgerufen im Nov. 2008. Über Peis Tätigkeit in der Kriegszeit in Shanghai gibt es nur ganz wenige schriftliche Aufzeichnungen. Er wurde Mitglied des Vorsitzendengremiums der ersten ständigen Vollversammlung der Handelskammer Shanghais (上海市商会) 1943. Er hielt sogar den Jahresbericht. Er war auch einer der 39 Vorstandsmitglieder der zweiten Mitgliedersammlung der Handelskammer Shanghais. Siehe Shanghai-gongshang-shetuan-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上海工商社团志》编纂委 员会 (Hg.), Shanghai gongshang shetuan zhi 上海工商社团志, 358. In der Republik wurde das Bankwesen in Shanghai fast monopolisiert von denjenigen, die aus Ningbo und seiner Umgebung stammten. Sie waren sehr bekannt für ihre Vertrauenswürdigkeit. Pei gehörte auch zum sog. Ningbo-Klüngel, der insgesamt elf Banken im Griff hatte. Seihe 范学文, „四十年代前 在上海的“宁波帮”“, unter http://www.nbzx.gov.cn/article.jsp?aid=3211, abgerufen im Nov. 2008.

209 9.2.2. Besitz und Finanzierung des Stadtgotttempels

9.2.2.1. Der Tempelbesitz

Nach Angaben des Aufsichtsrats hatte der Stadtgotttempel einen Besitz (1946-47) von mehr als 1.500 Millionen yuan.1 Die Besitzverhältnisse sind wie folgt: Tempel und Markt 830 Millionen yuan (insgesamt 83 Räume und Hallen2); das Gelände 745,7 Millionen yuan (7,457 Mu3); Statuen und Möbel 20 Millionen yuan; Pfand4 700 tausend yuan; Wertpapiere 70 tausend yuan; Bankdepot ca. 42,85 Millionen yuan.

Besitz des Tempels (1946/7)

0.07 42.85 0% 3% 0.7 20 0% 1%

745.7 830 45% 51%

Tempel und Markt Gelände Statuen und Möbel Pfand Wertpapier Bankdepot

Abb. 10 Der Tempelbesitz des Stadtgotttempels (nach Angaben des Aufsichtsrats 1946/7)

Man kann an der Abbildung deutlich sehen, dass die überwiegende Mehrheit des Tempelvermögens aus dem Tempel an sich und dem dazu gehörigen Markt und

1 Shanghaier Hauptarchiv, Q6-10-347, S.013. 2 Offensichtlich bewertete der Aufsichtsrat jede(n) Raum/Halle mit durchschnittlich einer Million yuan. Ob die Sachanlage des Tempels richtig veranschlagt oder zu niedrig angesetzt war, lässt sich nicht beurteilen. 3 Mu ist eine alte chinesische Flächeneinheit. Ein Mu ist 666,6667 Quadratmeter. Umgerechnet soll das Gelände des Stadtgotttempels ca. 5.000 Quadratmeter sein. 4 Worauf bezieht sich “Pfand” hier ist unklar.

210 Gelände bestand. Außerdem waren die beiden Anteile, wie im Folgenden gezeigt wird, auch die Einnahmequellen des Tempels. Darüber hinaus besaß der Tempel zwei Wohltätigkeits- bzw. Bildungsanstalten, nämlich die Poliklinik des Stadtgotttempels ( 邑庙施医所) und die Jingrong-Grundschule (景荣小学). Alle Kosten der beiden Anstalten sollten vom Aufsichtsrat gegen Rechnung erstattet werden. 1

9.2.2.2. Der Finanzierungsplan gemäß der Satzung

Die Finanzierung ist wahrscheinlich der wichtigste Teil der Satzung, der uns Einblicke in die alltägliche Erhaltung des Tempels geben kann. Sie ist in Kapitel 7 der Kurzsatzung des Aufsichtsrats festgelegt. Danach sollen sich die Einnahme des Tempels aus den folgenden Teilen zusammensetzen (Satz 18)2: a) Miete für die Halle der Sterne (星宿殿3); b) Miete für den Eingangsraum und die zwei Wandelgänge; c) Spenden für den Stadtgotttempel; d) Weihrauchgeld (香金)4; e) Sonderspenden. Die Ausgaben des Tempels setzten sich gemäß der Satzung aus den folgenden Teilen zusammen (Satz 19)5: a) Zuschuss für das Shanghaier Krankenhaus; b) Zuschuss für das Erziehungshaus für Bettler in Shanghai; c) Erhaltungskosten des Tempels und das Nachkaufen neuer Ausrüstungen;

1 Die Poliklinik befand sich direkt am Stadtgotttempel in der Hausnummer 36 der Wenchang Straße. Der Betreuer war Jiang Zhenxun (姜振勋). Die Klinik bot jährlich 90 tausend Personen (täglich 300 mal 300 Tage) kostenlose Behandlung. Die Schule befand sich südlich des Yuboti-Brücke-Dorfes (裕伯 题桥镇) im östlichen Teil Shanghais. Der Betreuer hieß Xu Yuecai (徐悦才). Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.006. Anmeldeformular des Aufsichtsrats vom Stadtgotttempel. 2 Shenbao, 231-728(4). In der Archivakte (Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.021-025.) ist auch eine andere leicht revidierte Satzung dokumentiert. 3 In der Halle der Sterne befinden sich die 28 Sterne (星宿, pinyin: xingxiu, nach der chinesischen Konstellation), die als die Schutzgottheiten der verschiedenen Jahrgänge betrachtet werden. 4 Wenn ein Besucher an eine Gottheit im Tempel besonders glaubt, wird er in die Sammelbüchse jener Gottheit extra Geld einwerfen. Dies wurde als Weihrauchgeld bezeichnet. 5 Shenbao, 231-728(4).

211 d) Aufwendungen des Aufsichtsrats.1 Aus diesen Sätzen geht klar hervor, dass die Gründer des Aufsichtsrates von Anfang an versuchten, eine Bilanz von Einnahmen und Ausgaben zu erreichen. Ein großer Vorteil bestand darin, dass der Stadtgotttempel über ein eigenes Grundstück verfügte, das nicht religiösen Zwecken diente, sondern als Geschäftsgelände vermietet wurde. Dadurch konnten die Einnahmen für Sozialleistungen und gemeinnützige Zwecke gespendet werden. So ist ein Kreislauf entstanden, zumindest wurde es nach der Satzung so ausgelegt.2 Der Aufsichtsrat sollte für jede Halle3 einen Aufseher abordnen, der die Einnahme des Weihrauchgeldes der jeweiligen Halle im Prinzip jeden Tag beim Buchhalter abführen musste. Aber dies konnte auch flexibel gehandhabt werden, so dass das gespendete Bargeld nur wenige Mal abgeführt wurde, solange der Aufsichtsrat es genehmigte.4

9.2.2.3. Die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben

Über die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben des Aufsichtsrats haben wir zwei Quellen aus zwei verschiedenen Zeiten: eine ist der Antrag5 an die Sozialbehörde (社 会局), der über die Finanzierung vor dem Ausbruch des Sino-Japanischen Krieges (1937) berichtet. Nach dessen Angaben betrugen die jährlichen Einnahmen insgesamt

1 Shenbao, 231-728(4). 2 In der Republikzeit besaßen die meisten religiösen Gemeinden in Shanghai Grundbesitz und Immobilien, die zum Zweck der Finanzierung der Tempel oder Klöster vermietet wurden. Nach einer Ermittlung im Jahr 1955 besaßen alle religiösen Gemeinden in Shanghai insgesamt 1570 Häuser. Im Jahr 1936 hatten alle Wohltätigkeitsverbände eine Gesamteinnahme von 404.541 yuan, davon Mieten 182.985 yuan, Grundrente 63.953 yuan und Pacht für Agrarland 38.071 yuan, d.h. die drei Einnahmen aus Grundbesitz und Immobilien machten mehr als 70% der Gesamteinnahmen aus. Siehe Lu, Wenda 陆文达, Shanghai fangdichan zhi 上海房地产志, 176. Siehe auch Wang, Hua 汪华, "Cihui yu shangdao: jindai shanghai cishan zizhi xingqi de yuanyin tanxi" 慈惠与商道:近代上海慈善组织兴起 的原因探析, in: 社会科学, Vol. 10, 2007, 159-161. Tao, Shuimu 陶水木, "Beiyang zhengfu shiqi shanghai cishan zijin laiyuan chutan" 北洋政府时期上海慈善资金来源初探, in: 档案与史学, Vol. 1, 2004, 53. Danach galt der Stadtgotttempel nicht als Ausnahme im Hinblick auf die Finanzierung religiöser bzw. wohltätiger Organisationen im damaligen Shanghai. 3 Insgesamt wurden neun Hallen in der Vorschrift erwähnt, nämlich die Hexuan-Großhalle(鹤轩大殿), die Mittelhalle(中厅), der Schlafpalast(寝宫), der Hinterpalast(后宫), die Halle für die Geldgottheit(财 神殿), der Yuqing-Palast(玉清宫), die Wenchang-Halle(文昌宫), die Halle der Sterne (星宿殿) und die Halle des Todesgottes(阎王殿). Ibid. 4 Shenbao, 231-728(4). Satz 20. 5 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.002.

212 67.900 yuan. Die Ausgaben waren folgendermaßen verteilt: 57,08% der Gesamteinnahmen wurden für die Unterstützung des Hunan-Krankenhauses (沪南医 院), des Umerziehungshauses für Bettler (游民习勤所), für das Xinpu-Waisenhaus (新普育堂), die Volkspoliklinik (平民医药所), die Entziehungsanstalt (戒烟所), für das Fürsorgeheim für Frauen und Kinder (救济妇孺会), das Fürsorgeheim für Behinderte ( 残疾院) und für eine Notunterkunft [für Obdachlose] ( 庇寒所) ausgegeben; 12,60% wurden für die Erhaltung von zwei Institutionen, die der Aufsichtsrat besaß, ausgegeben, und zwar die Poliklinik des Stadtgotttempels (邑庙施 医所)1 und die Jingrong-Grundschule (景容小学)2. Dem Anmeldeformular3 des Aufsichtsrats für die Sozialbehörde, das im Jahr 1946 erneut eingereicht wurde, kann man die Einnahmen des Tempels entnehmen. Danach setzten sich die monatlichen Einnahmen hauptsächlich aus drei Quellen zusammen, nämlich der Miete (für die Räume und die Hallen)4, den Spenden (der Besucher5) und der Miete (für die Geschäftsstände innerhalb des Tempelgeländes), die jeweils 140.000, 44.100 und 65.340 yuan betrugen. Die monatlichen Einnahmen machten insgesamt 249.440 yuan aus, ein beträchtlicher Betrag! Die Ausgaben bestanden aus folgenden Teilen: Die Auszahlung für die

1 Die Klinik hatte jährlich 90-tausend Besucher. Die Behandlungen und die Medizin waren für die Besucher kostenlos. Die Kosten wurden vom Aufsichtsrat übernommen. Siehe Hauptarchiv: Q6-10-347, S.006. 2 Die Schule hatte ca. 40 Schüler. Die Kosten wurden alle vom Aufsichtsrat erstattet. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.006. Im Jahr 1948 beantragte die Jinrong-Grundschule eine Erhöhung der finanziellen Unterstützung durch den Aufsichtsrat. In der Aufsichtsratssitzung vom 12. Jan. 1948 wurde beschlossen, dass 20% aller Weihrauchgeldeinnahmen für die Schule zur Verfügung gestellt werden sollen. Die vorherige monatliche Zuwendung in Höhe von 800-tausend yuan wurde fortan abgesetzt. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.019. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.016. 4 Nach Angaben eines Priesters, der im Tempel gearbeitet hatte, fing der Aufsichtsrat erst im Jahr 1929 an, die Hallen des Tempels zu vermieten. Siehe Chen, Liansheng ; Chen Yaoting 陈莲笙;陈耀庭, "Shanghai daojiao yu zhuyao daoguan" 上海道教与主要道观, in: Shanghaishi-wenshiguan; Shanghaishi-renmin-zhengfu-canshishi-wenshi-ziliao-gongzuo-weiyuanhui 上海市文史馆;上海市人 民政府参事室文史资料工作委员会 (Hg.), Lishi wenhua mingcheng-shanghai (shanghai difangshi ziliao 6) 历史文化名城——上海(上海地方史资料 6), 250. Die taoistischen Priester im Tempel wurden tatsächlich vom Aufsichtsrat angestellt. Ein anderer Artikel dokumentiert, dass die wirkliche Übernahme des Aufsichtsrats erst am 30. Juni 1930 begann. Siehe Gu, Tingpei 顾廷培, "Shanghai chenghuangmiao de gujin wanglai (shang) " 上海城隍庙的古今往来(上), in: Zhengxie-shangshishi-nanshiqu-weiyuanhui-wenshi-weiyuanhui 政协上海市南市区委员会文史委员 会 (Hg.), Nanshi wenshi ziliao xuanji (san): jinian shanghai jiancheng qibai zhounian 南市文史资料 选辑(三):纪念上海建城七百周年, 29. 5 Diese wurden normalerweise als „Weihrauchgeld“ (香金) bezeichnet.

213 gemeinnützige Arbeit: 3.000 yuan; die Verwaltungskosten (事务费): 246.440 yuan. Die Ausgaben betrugen insgesamt genau 249.440 yuan. Der Tempel erreichte scheinbar tatsächlich eine ausgeglichene Bilanz von Einnahmen und Ausgaben. Außer diesem Anmeldeformular ist eine ausführliche Tabelle1 über die Mieten für die Hallen des Stadtgotttempels im Jahr 1936 und 1948 angeführt:

Beitrag des zweiten Beitrag des ersten Halbjahres Name der Halle 19362 Halbjahres 1948 1948 (Millionen) (Millionen) Großhalle (大殿) 33.369 80 250 Halle der Sterne (星宿 8.169 30,8232 96,3225 殿) Halle vom Gott des Reichtums 4.760 17,9632 56,135 (财神殿) Halle der Zehn-Könige 3109 11,7288 36,6525 (十王殿) Yuqing Palast (玉清宫) 3.024 11,454 35,6375 Xuzhenjun-Halle (许真 1.224 4,6104 10,4075 君殿) Wenchang-Halle (文昌 920 3,4704 10,845 殿) Insgesamt 54.575 160 500

Tabelle 7. Die Mieteinahmen aus den Hallen des Stadtgotttempels (1936 und 1948)

1 Q6-10-347, S.035. 2 Diese Zahlen in dieser Spalte kommen aus Q6-10-347, S.044.

214 Die Miete aus den Hallen

4.6104 3.4704 3% 2% 11.454 11.7288 7% 7%

17.9632 80 11% 51%

30.8232 19%

Großhalle Halle der Sterne (大殿) (星宿殿) Halle von Gott des Reichtums Halle der Zehn-Jade (财神殿) (十玉殿) Yuqing-Palast Xuzhenjun-Halle (玉清宫) (许真君殿) Wenchang-Halle (文昌殿)

Abb. 11. Die Aufteilung der Mieteinnahmen aus den Hallen des Stadtgotttempels (Das erste

Halbjahr 1948)

Es ist deutlich zu sehen, dass die Mieteinnahmen für die Großhalle allein etwa genau so viel ausmachten wie die Mieteinnahmen für alle anderen Hallen und Räume. In einem anderen Anhang1 sind die monatlichen Ausgaben und Einnahmen ausführlich aufgelistet: Einnahmen: Miete für die Hallen und Räume: 140.000 yuan Weihrauchgeld : 44.100 yuan Miete für die Geschäfte (innerhalb des Tempelgeländes): 65.340 yuan Insgesamt: 249.440 yuan Ausgaben: Ausgaben für gemeinnützige Aktivitäten: 3.000 yuan

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.016.

215 Honorar: 100.000 yuan Lohn für die Mitarbeiter: 40.000 yuan Stromverbrauch: 6.500 yuan Heizkosten: 35.000 yuan Nebenausgaben: 24.440 yuan Schreibwaren: 10.000 yuan Reparaturen: 15.000 yuan Erwerb1: 10.000 yuan Stempelsteuer: 5.000 yuan Mitgliederbeiträge: 500 yuan Insgesamt: 249.440 yuan

Die monatlichen Ausgaben des Aufsichtsrats (1948)

500, 0.20% Ausgabe für die Wohltätigkeit

5000, 2.00% Honorar 3000, 1.20% 10000, 4.01% Lohn

15000, 6.01% Stromverbrauch

10000, 4.01% Brennverbrauch

Nebenausgaben 24440, 9.80% 100000, 40.09% Schreibwaren

35000, 14.03% Reparatur 40000, 16.04% 6500, 2.61% Erwerb

Stempelsteuer

Mitgliedergeld

Abb. 12 Die monatlichen Ausgaben des Aufsichtsrats (1948)

Wenn man die beiden Quellen zur Finanzierung des Aufsichtsrats vergleicht, sieht man auf den ersten Blick die Diskrepanz in der Ausgabenverteilung: Nach Angaben

1 Worauf bezieht sich “Erwerb” hier ist unklar.

216 der ersten Quelle wurden fast 60% der Gesamteinnahmen für gemeinnützige Zwecke ausgegeben, nach Angaben der zweiten Quelle dagegen nur ein sehr geringer Prozentsatz (3000/249.440: 1.2%). Da keine weiteren Quellen zur Finanzierung des Aufsichtsrats zur Verfügung stehen, können wir nur folgendes vermuten: 1) Die Beiträge sind in den Quellen unterschiedlich definiert. „Honorar“ und „Lohn für die Mitarbeiter“ aus der zweiten Quelle könnten auch die Ausgaben für die Poliklinik, die Schule und für die anderen wohltätigen Anstalten implizieren.1 2) Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Tempel sehr stark von der Finanzkrise betroffen, sodass die Ausgaben für gemeinnützige Zwecke dramatisch schrumpfen mussten. Was wir feststellen können, ist, dass der Aufsichtsrat über eine moderne Buchhaltung verfügte, die bei anderen Tempelkomitees zu der Zeit kaum zu beobachten war. Der Stadtgotttempel konnte ab der Gründung des Aufsichtsrats finanziell eigenverantwortlich handeln, d. h. der Aufsichtsrat übernahm die volle Verantwortung für Gewinne und Verluste des Tempels. Der Tempel bekam keine Subventionen und keine andere Art finanzieller Unterstützung von der Regierung bzw. dem Staat. Außerdem ist zu beachten, dass der Aufsichtsrat auf keinen Fall ein gewinn-orientiertes Unternehmen war, obwohl er die Hallen und Räume des Tempels und sogar das Tempelgelände vermietete. Das Ziel war, durch die Mieten den Tempel finanziell zu unterhalten und wenn möglich gemeinnützige Arbeit bzw. Bildung in der Stadt zu fördern.

9.2.2.4. Analyse der Finanzierung

Bis jetzt wurde die Finanzlage des Tempels nur mit abstrakten Zahlen dargestellt. In diesem Abschnitt werde ich versuchen, zwei wichtige Fragen zu beantworten, nämlich: 1) Blieben die Einnahmen während der Republikzeit stabil? Haben sich die Einnahmen des Tempels in den drei Jahrzehnten verändert? Und 2) Wie wertvoll waren die Einnahmen bzw. was bedeutete die Summe damals für den Tempel und die

1 Der Begriff “Verwaltungskosten” (事务费) ist sehr unpräzise. Unter ihm kann man alles verstehen.

217 Stadt? Wegen mehrmaliger Währungsreformen1 während der Republikzeit und der Hyperinflation nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Wert der Währungen schwer einzuschätzen. Deswegen muss eine langjährige Kennziffer eingeführt werden, um den Wert und die Änderung des Wertes vergleichbar zu machen. Die folgende Tabelle, mit der die drei kontinuierlichen Indizes zur Änderung der Lebenskosten in Shanghai von 1936 bis 1948 gezeigt werden sollen, wurde auf der Grundlage der Sekundärliteratur zusammengestellt.

Lebenshaltungsindex3 Lebenshaltungsindex4 Jahr Preisindex2 (Angestellte) (Arbeiter)

1936 100 100 100

1937 103 Keine Angabe Keine Angabe

1938 131 Keine Angabe Keine Angabe

1939 220 Keine Angabe Keine Angabe

1940 513 Keine Angabe Keine Angabe

1941 1.296 Keine Angabe Keine Angabe

1942 3.900 1.480,0 1.953,6

1943 12.936 5.176,4 7.225,6

1944 43.197 37.481,3 47.750,5

1945 163.160 4.213.941,0 6.058.103,0

1946 378.536 332.573,0 405.476,7

Januar: 7.945.000,0 1947 Keine Angabe 2.523.294,8 Dezember: 68.200.000,0

Januar: 95200000.0 1948 Keine Angabe 150000000.0 Dezember: 710000000.0

Tabelle 8 Index der Lebenskosten in Shanghai (1936-48)

1 Die Nanjing-Regierung führte von 1935 bis 1949 insgesamt zwei Währungsreformen durch. Was den Zeitraum dieser Forschung betrifft, so ist nur das erste Währungssystem der Nanjing-Regierung, nämlich das Fiatgeld (Fiat money, 法币), das von Ende 1935 bis August 1948 als das gesetzliche Zahlungsmittel benutzt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte das Währungssystem zur Hyperinflation aufgrund der riesigen Ausgaben für den Bürgerkrieg. Das Fiatgeld wurde im August 1948 durch das Jinyuan-System, eine Goldwährung, ersetzt, um die finanzielle Lage zu stabilisieren. Mehr zu den Währungsreformen siehe Huang, Rutong 黄如桐, "1935 nian guomindang zhengfu fabi zhengce gaishu jiqi pingjia" 一九三五年国民党政府法币政策概述及其评价, in: 近代史研究, Vol. 6, 1985, Sun, Zhaiwei 孙宅巍, "Fabi, jinyuanquan, yinyuanquan" 法币·金元券·银元券, in: 史学 月刊, Vol. 6, 1986, 103-4; Und Ye, Shichang 叶世昌, "Shixing fabi zhengce de yuanyin guocheng jiqi lishi zuoyong" 实行法币政策的原因、过程及其历史作用, in: 上海经济研究, Vol. 4, 1988, 65-70. 2 He, Shuijin 贺水金, "Nanjing zhengfu zhongyang yinhang fan tonghuo pengzhang zhengce jiqi jixiao pingxi" 南京政府中央银行反通货膨胀政策及其绩效评析, in: 中国经济史研究, Vol. 3, 2008, 100, Tabelle 5. 3 Chen, Da 陈达, "Shanghai gongren de shenghuofei (1929-1948 nian) " 上海工人的生活费 (1929-1948 年), in: 教学与研究, Vol. 5, 1957b, 46, Tabelle 4. 4 Ibid., 46, Tabelle 3.

218 Anhand dieser Tabelle kann man deutlich sehen, dass die Preise und die Lebenshaltungskosten nach dem Zweiten Weltkrieg in Shanghai (1946) im Vergleich zur Vorkriegszeit (1936, Basiswert als 100) jeweils um das 3325-Fache (Angestellte) und das 4054-Fache (Arbeiter) gestiegen sind, was die Inflationsrate des Zeitraums approximativ widerspiegelt. Nun nehmen wir an, dass die überschlägige Inflationsrate (1936 bis 1947) bei 350.000 Prozent lag. Die jährlichen Einnahmen im Jahr 1937 (67.900 yuan) sind bekannt. Nach dieser Berechnung müssten die jährlichen Einnahmen (Soll-Wert) im Jahr 1947 ca. 237 Millionen betragen. Aber nach Angaben der Archivakten betrugen die monatlichen Einnahmen des Aufsichtsrats im Jahr 1948 249.440 yuan. 1 Somit können wir ausrechnen: die tatsächlichen jährlichen Einnahmen (1948) betrugen ca. 2,9 Millionen (249.440 mal 12, Ist-Wert). Kalkuliert man die astronomische Inflationsrate der Jahre 1947 und 1948 ein, so wird deutlich: Die tatsächlichen Einnahmen nahmen nach dem Krieg deutlich ab! Der Ist-Wert ist nur 1.22% des Soll-Wertes. Mit anderen Worten: Die tatsächlichen Einnahmen sind im Vergleich zur Vorkriegszeit nicht gestiegen, sondern dramatisch gesunken. Der Verlust lässt sich wohl mit den allgemein schlechteren ökonomischen Bedingungen erklären. Nun kommen wir zur zweiten Frage, nämlich wie wertvoll die Einnahmen waren. Wir wissen bereits, dass die jährlichen Einnahmen 67.900 yuan im Jahr 1937 betrugen. Der durchschnittliche Stundenlohn eines Arbeiters in der Textilindustrie betrug 0,04 yuan im Jahr 1937 und in der Druckindustrie 0,14 (der höchste Lohn aller Industrien).2 Das durchschnittliche monatliche Einkommen eines Arbeiters in der Textilindustrie im Jahr 1937 betrug 9,3 yuan und in der Druckindustrie 30,2 (der höchste Lohn aller Industrien).3 Das durchschnittliche monatliche Einkommen der Arbeiter in Shanghai insgesamt betrug im Jahr 1936 und 1937 jeweils 12,2 und 13,3 yuan.4 Daraus folgt, dass die jährlichen Einnahmen des Aufsichtsrates so viel wie die

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.006. 2 Chen, Da 陈达, "Shanghai gongren de gongzi yu shizai shouru (1930-1946 nian) " 上海工人的工 资与实在收入(1930-1946 年), in: 教学与研究, Vol. 4, 1957a, 40, Tabelle 1. 3 Ibid., 40, Tabelle 3. 4 Ibid., 41, Tabelle 4.

219 Einkommen von ca. 470 Arbeitern betrugen - ein großes Vermögen! Um es anschaulicher zu machen: Die durchschnittliche monatliche Miete einer Wohnung im Jahr 1931 betrug nur 2,29 yuan.1 Die gesamten Einnahmen der Stadtregierung Shanghais beliefen sich im Jahr 1931 auf 7,3 Millionen. 2 Das gesamte Verwaltungsbudget der Stadtregierung im Jahr 1937 betrug nur 1,73 Millionen.3 Man kann also leicht ausrechnen, dass die jährlichen Einnahmen (1937) des Aufsichtsrats (67.900) etwa 4% des gesamten Verwaltungsbudgets der Stadtregierung entsprachen! Es gab gute Gründe, den Aufsichtsrat zu beneiden.4

9.2.3. Andere Selbstorganisationen: Aktivistenverbände

Der Aufsichtsrat investierte zweifellos Geld in die Stadtgott-Inspektionsrundgänge.5 Allerdings lassen sich die Beiträge heute nicht feststellen. Um einen Inspektionsrundgang erfolgreich durchführen zu können, mussten sich nicht nur der Aufsichtsrat, sondern auch viele andere Aktivistenverbände beteiligen. Die Vorbereitung eines Inspektionsrundgangs musste ca. 15 Tage zuvor beginnen. Die Aktivisten mussten je nach dem Titel, den sie trugen, auch einen Beitrag zahlen. Innerhalb eines Aktivistenverbandes herrschte eine strenge Arbeitsteilung und Hierarchie, d. h. die Rolle eines Mitglieds soll vor seinem Eintritt bereits in einem Anmeldebuch festgeschrieben gewesen sein und durfte später nicht geändert werden. Nur wenn ein Mitglied gestorben ist, durfte ein neues Mitglied dem Verband beitreten. 6

1 Shanghaishi-difang-xiehui 上海市地方协会 (Hg.), Shanghaishi tongji: minguo ershier nian 上海 市统计:民国二十二年,Preise in Shanghai (1928-31), 上海零售物价表(十七年至二十年). 2 Ibid., Einnahmen der Regierung (1928-31), 上海市政府收入统计表(十七年度至十九年度). 3 Shanghai-caizheng-shuiwu-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上海财政税务志》编纂委员会 (Hg.), Shanghai caizheng shuiwu zhi 上海财政税务志, 209. 4 Im Jahr 1947 das gesamte Budget der Stadtregierung betrug 26.4 Milliarden. Ibid. Die jährlichen Einnahmen des Aufsichtsrates betrugen 2.9 Millionen. Das heißt, die jährlichen Einnahmen des Aufsichtsrates immer noch gut 1% des gesamten Budgets der Stadtregierung entsprach. 5 Xu, Songde 徐颂德, "Liushi nian lai chenghuangmiao de fengsu" 60 年来城隍庙的风俗, in: Zhengxie-shanghaishi-nanshiqu-weiyuanhui-wenshi-weiyuanhui 政协上海市南市区委员会文史委员 会 (Hg.), Nanshi wenshi ziliao xuanji (san): jinian shanghai jiancheng qibai zhounian 南市文史资料 选辑(三):纪念上海建城七百周年, 230-231. 6 Tang, Weikang ; Du Li 汤伟康;杜黎, Hucheng fengsuji 沪城风俗记, 61.

220 9.2.3.1. Der Aktivistenverband des Stadtgotttempels

Der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels war nicht in der Lage, allein einen Inspektionsrundgang durchzuführen, weil er grundsätzlich für die Verwaltung, Finanzierung und Erhaltung des Tempels zuständig war. Tatsächlich gab es eine andere Selbstorganisation, welche die Vorbereitung und Durchführung des Inspektionsrundgangs übernahm. Der sog. „Huang’er-Aktivistenverband des Stadtgotttempels“ ( 邑庙黄二会首1 ) wurde im Jahr 1947 offiziell bei der Sozialbehörde Shanghais ( 上海市社会局) unter der Kategorie „religiöse Vereinigung“ registriert.2 Der Antragsteller der Registrierung namens Yu A’Xiang (郁 阿祥), zu der Zeit 64 Jahre alt, schrieb im Antragsformular, dass der Aktivistenverband in der Altstadt Shanghais eine Halle3 als Sitz zur Verfügung habe.4 Nach der Beantragung schickte die Sozialbehörde einen Ermittler namens Ding Guanyan (丁冠颜) zur Überprüfung der Sachlage. In dessen Bericht wurde Yus Aussage bestätigt. Außerdem hat der Ermittler folgendes festgehalten:5 (1) Der Charakter der Halle: Die Yiyou-Halle (仪友堂) wird von den Veranstaltern des Huang’er-Aktivistenverbands des Stadtgotttempels (邑庙黄二会首) genutzt. Der Verband hat ca. 200 Mitglieder, die bei den drei Inspektionsrundgängen im Umzug sich als Büttel bekleiden und auch für die anderen organisatorischen Angelegenheiten der Prozession zuständig sein sollten. Der Verband wird von sich selbst, also von den Mitgliedern, finanziert. Er war tatsächlich eine religiöse Gruppe.

1 Unter Huishou (会首) versteht man normalerweise den oder die Veranstalter, Aktivisten oder Teilnehmer einer Prozession, die sowohl für den Aufbau des Umzugs Verantwortung übernahmen als auch sich selbst eventuell am Umzug beteiligten. 2 Trotzdem sollte man nicht annehmen, dass diese Organisation erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Ich gehe davon aus, dass der Freundeskreis als eine langjährige, funktionsfähige Selbstorganisation schon lange vor der Anmeldung im Jahr 1947 existiert hatte. Die Anmeldung bei der Behörde geschah nur, damit die Organisation offiziell von der Regierung anerkannt wurde. Laut dem offiziellen Akt ist als Gründungsjahr nur unpräzise „Qing-Dynastie“ eingetragen. Shanghai Hauptarchiv: Q6-10-166, S.008. 3 Die Anschrift lautet Nr. 102, Xiepi Gasse (屑皮弄), Nanshi Distrikt. Ob das Haus nur zum Zweck des Inspektionsrundgangs genutzt wurde, ist unklar. Da der Inspektionsrundgang dreimal im Jahr stattfinden sollte, wurde das Haus höchstwahrscheinlich nur zeitweilig kur vor und nach dem Inspektionsrundgang benötigt. In dem Anmeldeformular steht, dass die bewegliche Habe des Verbands nur aus ein paar Möbeln bestand. Der Antragsteller Yu hatte eine andere Anschrift, nämlich Kangding Str. (康定路) 544, ein Tofu-Laden. 4 Shanghai Hauptarchiv: Q6-10-166, S.002-003. 5 Shanghai Hauptarchiv: Q6-10-166, S.008.

221 (2) Die Geschichte der Halle: Die Halle wurde mit Hilfe einer Spende der Mitglieder zum Ende der Qing-Dynastie gegründet. Im Jahr 1925 wurde die Halle von Yao Nan (姚南) und Shen Mei (沈梅)1 verpfändet. Später im Jahr 1942 wurde die Halle von dem damaligen „Chefbüttel“ 2 Yu A’Xiang wieder zurückgekauft. Eine von der Immobilienbehörde (上海市地政局) ausgestellte Urkunde3, die das Eigentumsrecht der Halle bestätigt, wurde den Akten beigelegt. (3) Das Eigentumsrecht der Halle: Das Vorstandsmitglied des Aufsichtsrats vom Stadtgotttempl Qin Zhiquan (秦之泉) und der Sekretär Lu Baoshan (陆宝珊) bestätigten, dass die Halle das Eigentum des Huang’er-Aktivistenverbands und der Vertreter Yu A’Xiang war. Der Ermittler erwähnte sogar, dass die besagten Aussagen der Aufschrift des Gedenksteins in der Halle entsprachen. Bemerkenswert war die Beziehung zwischen dem Aufsichtsrat und dem Huang’er Verband. Einerseits kann man feststellen, dass zumindest in der Theorie keine direkte finanzielle Beziehung zwischen den beiden Organisationen bestand. Andererseits deuten die zwei im offiziellen Akt angefügten Bestätigungen des Aufsichtsrates darauf hin, dass der Aufsichtsrat quasi als Schirmherr des Verbands fungierte. Das Sozialprestige des Aufsichtsrats half dem Verband bei der Anmeldung, sodass er schon drei Wochen später die Bewilligung von der Sozialbehörde bekam. Es ist nicht vorstellbar, dass der Aufsichtsrat dem Verband ohne eine enge Verbindung erlaubte, den Titel des Stadtgotttempels weiter zu tragen. Und umgekehrt, ohne die aktive Partizipation und das Engagement des Verbands war der Aufsichtsrat nicht fähig, allein einen Inspektionsrundgang durchzuführen, weil es ihm an hoch motivierten und erfahrenen Veranstaltern mangelte. Nur wenn die zwei Organisationen, die sich quasi als Bruderorganisationen bezeichnen konnten, eng miteinander arbeiteten und sich auch gegenseitig unterstützten, konnte ein Inspektionsrundgang reibungslos stattfinden.

1 Die zwei Männer bekleideten sich normalerweise im Unzug als Chefbüttel. Deswegen wurden sie als Chefbüttel (捕头) bezeichnet. Vermutlich spiegelte die Rolle im Umzug den Status im realen Leben, also innerhalb des Verbands, wider. 2 Vermutlich ist „Chefbüttel“ oder „Haupthäscher“(捕头) eine der Titel des Verbandes, die das System des alten Kreisamtes nachahmt. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-166, S.006.

222 9.2.3.2. Die Sanban-Gemeinde

Diese Organisation hatte kein schriftliches Dokument hinterlassen, bis sie sich im Jahr 1956 in dem sog. „sozialistischen Umbau“ (社会主义改造) selbst auflöste. Nach einem Bericht der Sozialbehörde der Volksregierung Shanghais (上海市人民政府民 政局) wurde die Organisation bereits vor dem Sino-japanischen Krieg gegründet, um beim Inspektionsrundgang des Stadtgottes mitzuwirken. Die Mitglieder hatten Geld gesammelt und in der Zhangjia-Gasse (张家弄) der Altstadt (Nanshi-Bezirk) ein Haus mit insgesamt acht Zimmern gekauft. Das Haus wurde später als Versammlungsort und auch als Stätte für den Empfang nach dem Inspektionsrundgang genutzt. 1

9.2.3.3. Straßenhändlerverband vom Stadtgotttempel und Yu-Garten

Der Straßenhändlerverband vom Stadtgotttempel und Yu-Garten (邑庙摊贩联谊会, SHSY) bildete zusammen eine Selbstorganisation, deren Mitglieder aus den kleinen Straßenhändlern und –verkäufern bestanden, die auf dem Gelände des Stadtgotttempels ihr Geschäft betrieben. Zwischen den einzelnen Straßenhändlern und dem Aufsichtsrat bestand in erster Linie eine wirtschaftliche Beziehung ähnlich wie die zwischen Vermieter und Mieter. Der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels verlieh den Straßenhändlern gegen Miete das Geschäftsrecht innerhalb des Tempelgeländes.2 Er hatte die Entscheidungsbefugnis, den Standort und die Fläche jedes einzelnen Geschäfts zu vergeben. Für die Händler wurden als Gegenleistung Verkaufsstände vor der Großhalle eingerichtet.3 Nach Angaben der Sozialbehörde gab es vor dem Krieg (1937) insgesamt 172 Mitglieder in dem Verband, deren monatliche Miete 360 yuan betrug. Umgerechnet zahlte jedes Mitglied dem Aufsichtsrat monatlich

1 Shanghai Hauptarchiv: B168-1-816, S.010 und 014. Nach Angaben der Vertreter der Organisation wurde das Haus nur zeitweilig für den Inspektionsrundgang genutzt. Zu anderen Zeiten wurde das Haus von einem Mitglied beaufsichtigt. Ab dem sino-japanischen Krieg wurde das Haus als Wohnhaus genutzt. Nach dem Krieg verstarben die Gründer der Gemeinde nacheinander. Vier Vertreter wurden ausgewählt, um die Gemeinde weiter zu erhalten. Die Vertreter waren Chen Yuxian (陈裕仙 Besitzer einer Tischlerei), Fang Yinkun (方银坤 Arbeitsloser), Chui Baoxuan (崔莹旋 Angestellter einer Immobilienfirma) und Chen Xiasheng (陈夏生). Shanghai Hauptarchiv: B168-1-816, S.014 und 016. 2 Die an den Aufsichtsrat gezahlte Miete wurde teilweise an die Finanzbehörde weitergegeben. Aber der Prozentsatz ist unklar. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.047.

223 durchschnittlich 2,1 yuan.1 Die Zahl der Mitglieder verdoppelte sich nach dem Krieg. Im Jahr 1948 gab es auf der Namensliste des Verbands insgesamt 316 Mitglieder. Aber die Zahl der Straßenhändler innerhalb des Tempelgeländes blieb unverändert.2 Die Motivation der Mitglieder, dem Verband beizutreten, ist m. E. ökonomischer Natur. Als ein Mitglied des Verbands (damals nur diejenigen, die ihr Geschäft im Tempelgelände betrieben) hatte man unüberschaubare steuerliche Vorteile. Ab November 1928 musste jeder Einzelverkäufer in Shanghai monatlich je nach Ort und Größe mit 1,2 bis 3 yuan besteuert werden. 3 Die Verkaufsstände zählten offensichtlich zu der besten Verkaufslage in Shanghai. Aber wie oben erwähnt, zahlte jedes Mitglied 1937 durchschnittlich 2,1 yuan. Die Steuerermäßigung im Vergleich zu anderen Straßenverkäufern war schon beachtlich. Im Jahr 1946 zahlte jeder Straßenverkäufer monatlich durchschnittlich ca. 380 yuan (65.3404 yuan dividiert durch 172) für den Aufsichtsrat. Umgerechnet war das so viel wie ca. ein yuan des Vorkriegswerts. Die Miete sank sogar nach dem Krieg. Obwohl zwischen dem Verband und dem Aufsichtsrat hauptsächlich eine ökonomische bzw. wirtschaftliche Beziehung bestand, handelte der Aufsichtsrat nicht nur nach dem Prinzip, Kapital zu vermehren. Dies ist deutlich abzulesen an dem Steuerstreit zwischen dem Aufsichtsrat und der Finanzbehörde.5 Der Aufsichtsrat fungierte quasi als Schirmherr und als eine Dachorganisation des Straßenhändlerverbands, der den einzelnen Verkäufer vor der korrupten Polizei und korrupten Beamten schützen konnte.

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.046. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-106, S.001-008. Die 316 Mitglieder sind in zwei Gruppen (171 und 145 Mitglieder) geteilt, die jeweils mit dem Kennzeichen „Dong“ (董) und „Cai“ (财) gekennzeichnet sind. „Dong“ steht für diejenigen, die ihre Miete an den Aufsichtsrat zahlten. „Cai “ ist die Abkürzung für die Finanzbehörde (财政局). Die Gruppe zahlte ihre Miete direkt an die Finanzbehörde. Die Letzteren hatten ihr Geschäft nicht auf dem Gelände des Stadtgotttempels, sondern in der Gegend des Yu-Gartens. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.047. Das heißt, dass nur die Dong-Gruppe ein Mietverhältnis mit dem Aufsichtsrat hatte. 3 Shanghai-caizheng-shuiwu-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上海财政税务志》编纂委员会 (Hg.), Shanghai caizheng shuiwu zhi 上海财政税务志, 533. Andere Steuern wie Gewerbesteuer und Umsatzsteuer wurden hier noch nicht einkalkuliert. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste jedes Gewerbe monatlich je nach dem Kapitalwert mit drei bis 50% besteuert werden. Ibid., 458. 4 Die monatlichen Einnahmen des Aufsichtsrats aus der Miete. 5 Siehe 9.4.3.

224 9.3. Ausführlicher Ablauf eines Stadtgott-Inspektionsrundgangs

9.3.1. Vorbereitungen vor dem festgelegten Tag

In der Kaiserzeit spielte der Kreisvorsteher (县令) Shanghais, der als Kollege des Stadtgottes (im Diesseits) angesehen wurde, im Stadtgott-Inspektionsrundgang eine wichtige Rolle. Zwei Tage vor dem festgelegten Tag sollte der Kreisvorsteher ein amtliches Dokument (移牒, yidie)1 ausstellen und es dem Stadtgott darbringen. Damit wurde dem Stadtgott mitgeteilt, dass er in zwei Tagen eine Inspektion in der Stadt ausführen sollte.2 Einen Tag vor dem festgelegten Tag wurde vor der Haupthalle des Stadtgotttempels eine Wohnkabine (暖阁) eingerichtet, in der ein Amtstisch aufgestellt werden musste. Anschließend wurde die Statue des Stadtgottes von einem Prozessionsaktivisten (会首) in die Wohnkabine eingeladen. Der Stadtgott saß am Amtstisch. Die Sekretäre, Gerichtsdiener, Schergen, Amtsgehilfen, Hauptkommissare und Büttel, die wohl alle von Aktivisten dargestellt wurden, stellten sich in zwei Reihen, links und rechts, an der Wohnkabine des Stadtgottes auf. Dies war genau wie an einem Arbeitstag des Kreisvorstehers im Tribunal. Alle diese Hilfskräfte mussten sich dann vor dem Stadtgott niederwerfen. Danach legte ein Diensthabender (值堂人) dem Stadtgott ein Buch vor, in dem die Namen der „Missetäter“ standen. Diese Namen wurden anschließend von einem Meldegänger (传事人) vorgelesen. Die Schergen mussten auf jede Namensnennung antworten: “Die Straftäter sind abgeführt.“3 Daran anschließend wurden die Inspektionsrouten der vier Nebengottheiten des Stadtgottes, Xinjiang (新江), Changren (长人), Gaochang (高昌) und Caibo (财帛)4,

1 Im bürokratischen System des alten China wurde yidie zum Zweck der offiziellen Kommunikation zwischen Regierungsämtern oder Beamten, die den gleichen Dienstgrad hatten, verwendet. Um die bürokratische Ordnung einzuhalten, hatte der Kreisvorsteher die Berechtigung und Pflicht, in dieser Art und Weise den Stadtgott zum Stadtgott-Inspektionsrundgang einzuladen. 2 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 27-28. Vor der Republikzeit musste der Kreisvorsteher Shanghais im Stadtgott-Inspektionsrundgang der Statue des Stadtgottes folgen. 3 Ibid. 4 Die Namen und Amtstitel dieser Nebengottheiten sind folgende: Jiang Fanying (蒋芳镛), Haichonghou (海崇侯); Huang Xie (黄歇), Chunshenhou (春申侯), Shi Wanche (石万彻), Yongninghou (永宁侯); Du Xuewen (杜学文), Huguogong (护国公). Ihre Ursprünge sind unklar. Aber

225 mitgeteilt. Dieser Ritus, der als Peitang (排堂) bezeichnet wurde, fand in der Kaiserzeit normalerweise in der Nacht oder Mitternacht statt. Aber in der Republikzeit wurde er auf den Abend oder sogar auf den Tag vorverlegt. 1

9.3.2. Am festgelegten Tag

Am für den Stadtgott-Inspektionsrundgang festgelegten Tag befand sich die ganze Stadt Shanghai im Ausnahmezustand. Vor der Großparade wurden die Statuen des Stadtgottes und der vier Nebengottheiten neu bekleidet. Genau um 10 Uhr begann der Inspektionsrundgang. Jede der oben genannten Statuen wurde auf einer Acht- Männer-Sänfte getragen. Als sie den Stadtgotttempel verließen, wurde Musik gespielt und Feuerwerk angezündet. Zehn Reiter (马值事) mussten an der Spitze des Inspektionszugs den Weg freimachen. Und dann kamen die Statuen und ihre Sänften. Danach kamen die Sekretäre, Gerichtsdiener, Schergen, Amtsgehilfen, Hauptkommissare und Büttel. 2 Währenddessen wurde auch Papiergeld verbrannt. 3 Hinter diesem „offiziellen“ Zug kamen anschließend zahlreiche inoffizielle Teilnehmer der Inspektionsroute: 4 1) Zehn- Kinder- Einheit (小十番): Sie wurden als Mönche verkleidet. 2) Kleine Wusong (小武松): Einige Jungen wurden als Wusong, einer sehr berühmten Theaterfigur, geschminkt. Sie trugen Schwerter und ritten auf Pferden. 3) „Die Missetäter“ ( 罪人): Diese Rollen wurden von normalen Bürgern, überwiegend weiblichen, gespielt. Die meisten von ihnen hatten wegen Krankheit vor dem Stadtgott geschworen, nach der Heilung im Stadtgott-Inspektionsrundgang einen

vermutlich waren sie lokale Volkshelden oder bekleideten beim Volk beliebte Ämter in der Region. Darüber hinaus hatte der Gaochang einen eigenen Tempel außerhalb des Stadtgotttempels, am Danan-Tor (大南门). Siehe Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 29. Nach einer Angabe sollte der Gaochang einen Tag nach dem Stadtgott-Inspektionsrundgang noch einmal die gleiche Inspektion durchführen. Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 20. 1 Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 27-28. 2 A. a. O. Siehe auch Shenbao, 226-589(1). 3 Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 20; Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文 献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 29. 4 Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 22- 24.

226 Sünder zu verkörpern. Sie trugen Ketten und Fesseln sowie rote Kleider, die in der Kaiserzeit sich normalerweise nur die Häftlinge anzogen. Deswegen wurden sie auch „Rote-Kleider-Gesellschaft“ (红衣会) genannt. 1 4) „Weihrauch-Gesellschaft“ (拜香会): Zu ihr gehörten die gläubigsten männlichen Anhänger des Stadtgottes. In der Haut ihres Arms wurde ein Haken festgehakt, an dem ein mehrere Kilogramm schweres Weihrauchgefäß aufgehängt wurde. Im Laufe des Stadtgott-Inspektionsrundgangs wurde in den Weihrauchgefäßen Weihrauch verbrannt. 2 5) Andere Aufführungen Vor der Haustür jedes Hauses, an dem die Statue des Stadtgottes vorbeikam, wurden Weihrauch und Kerzen angezündet, um den Stadtgott zu verehren. Manche Gläubige machten während der ganzen Inspektionsparade sogar 108 Kotaus.3 Die gesamte Länge eines Inspektionszugs konnte bis zu drei Kilometer betragen. Ein Zuschauer, der während der ganzen Inspektionsparade am selben Ort blieb, kalkulierte, dass der Zug von der Spitze bis zum Ende eine Stunde dauerte.4 Das Ziel des Inspektionsrundgangs war ein Altar, an dem eine Menge Papiergeld verbrannt werden sollte.5 Aber zur Republikzeit waren am Ort des Altars viele Häuser gebaut worden, sodass man zu der Zeit nur auf einem freien Platz in der Nähe das Papiergeld verbrennen konnte.6 Der Stadtgott musste am gleichen Tag in den Stadtgotttempel zurückkehren. Weil die Inspektionsstrecken normalerweise sehr lang waren und die Umzüge sehr lange dauerten, setzte sich ein Stadtgott-Inspektionsrundgang normalerweise bis in die Nacht fort. Der Rundgang in der Nacht wurde auch als „Nacht-Versammlung“ (夜会)

1 Shenbao, 226-589(1). 2 Shen, Shanchang 沈善昌, Yimiao fengguang 邑庙风光, 24. 3 Shenbao, 226-589(1). 4 Ibid. 5 Der erste Altar für den Stadtgott-Inspektionsrundgang wurde kurz nach dem Erlassen der Vorschriften im Jahr 1370 im Norden der Altstadt eingerichtet. Aber Ende der Qing-Dynastie wurde der Altar nach Westen umverlegt, weil das ursprüngliche Gebiet als ausländische Konzession verpachtet wurde. In der Republikzeit wurden auch am Ort des Westaltars Häuser gebaut. Man konnte nur die Freiflächen benutzen, um Papiergeld zu verbrennen. Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 27 und 29. 6 Ibid., 29.

227 bezeichnet.1 Die genaue Zahl der Teilnehmer eines Stadtgott-Inspektionsrundgangs war schwer zu kalkulieren. Nach einer Angabe nahmen 100.000 Bürger am Stadtgott-Inspektionsrundgang des Qingming-Fests im Jahr 1937 teil.2 Die detaillierte Paraderoute3 wurde einige Tage zuvor oder genau am Tag eines Stadtgott-Inspektionsrundgangs in der Zeitung und auf den Aushängen in den Straßen bekannt gegeben, um die Stadtbewohner darüber zu informieren, wo und wann sie dem Stadtgott das vorbereitete Opfer darbringen oder einfach der Parade beiwohnen konnten. Ein anderer Grund für die Bekanntmachung der festgelegten Route liegt höchstwahrscheinlich darin, dass die Veranstalter eine Genehmigung von der Polizei brauchten, sodass diese die notwendigen Sicherheitskräfte, z. B. Polizisten oder Soldaten, mobilisieren konnte. Die öffentliche Gefahr maximal zu reduzieren, kann ebenfalls als Grund für die Routenplanung und –festlegung angesehen werden.

9.3.3. Das Verbot und die Wirklichkeit

Es gab vom Ende der Kaiserzeit bis in die Republikzeit hinein immer einen auffälligen Widerspruch zwischen dem Verbot, das allgemein für Prozessionen galt, und den tatsächlich stattgefundenen Stadtgott-Inspektionsrundgängen. Einerseits wurde das Verbot immer wieder von der Stadtregierung oder den zuständigen Behörden wiederholt. Andererseits aber gibt es eine Berichterstattung über die stattgefundenen Inspektionsrundgänge in der lokalen Zeitung oder als Aufzeichnung in historischen Dokumenten. Beispielsweise erließ in der Tongzhi-Zeit (1862-1874) der Qing-Dynastie der damalige Kreisvorsteher Ye Tingjuan (叶廷眷) persönlich ein Verbot für den Stadtgott-Inspektionsrundgang.4 Obwohl man nicht weiß, ob das

1 Shenbao, 226-589(1). 2 Shanghai-tongzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海通志编纂委员会 (Hg.), Shanghai tongzhi 上海通志, Bd. 2, 1496. 3 In den in der Shenbao gefundenen Artikeln gibt es insgesamt mehrere Bekanntmachungen über die SGIRG- Routen, die jeweils aus den Jahren 1919, 1920, 1924 und 1926 stammen: z.B. Shenbao, 161-379(2); 167-167(4); 201-75(2); 226-537(5). Zusammen mit einem damaligen Stadtplan sind die Routen leicht zu rekonstruieren. Die Routenkarten der Stadtgott-Inspektionsrundgänge siehe im Anhang. 4 Shanghai-tongshe 上海通社 (Hg.), Shanghai yanjiu ziliao 上海研究资料, 511-2. Man muss beachten, dass das Verbot nur auf die normalen Bürger bezogen war. Es beschädigte die Autorität des Stadtgottes innerhalb des staatlichen Pantheons überhaupt nicht. Der Kreivorsteher musste persönlich jeweils am 1. und 15. eines Monats (nach dem chinesischen Kalender) dem Stadtgott Weihrauch

228 Verbot streng eingehalten wurde oder nicht, blieb es in den Frühjahren der Republik unverändert. Am Qingming-Fest 1915 las man eine Meldung in der Shenbao, dass man versuchte, die Tradition des Stadtgott-Inspektionsrundgangs, die am Anfang der Republik abgebrochen worden war, wieder aufleben zu lassen. Einen Tag zuvor hatte man sogar schon die Statue des Stadtgottes aus der Halle genommen.1 Aber der bevorstehende Inspektionsrundgang scheiterte in den letzten Minuten. Der Kreisvorsteher Shen schickte Beamte zum Tempel, um den Inspektionsrundgang zu verbieten. Das Songhu-Polizeipräsidium wiederholte das Verbot in einer Bekanntmachung in der Zeitung.2 Das Verbot wurde in den folgenden Jahren (1917 und 1918) erneut betont. Der Priester namens Luo Keyu ( 罗克裕) des Stadtgotttempels beantragte vor dem Qingming-Fest 1918 sogar beim Kreisamt, das Verbot des Inspektionsrundgangs abzuschaffen. Aber dieser Antrag wurde vom Kreisvorsteher Shen zurückgewiesen. Der Priester und die hoch motivierten Aktivisten waren folglich sehr enttäuscht.3 Aber zum Shiyuechao (十月朝) 1919 kam es zu einem Durchbruch. Nach einer langjährigen Pause fand der Stadtgott-Inspektionsrundgang am 22. November wieder statt. Die Zeitung berichtete, dass die Kostüme der Aktivisten zum großen Teil neu angefertigt waren. Trotz der öffentlichen Kritik am Inspektionsrundgang als Aberglaube kam die Polizei zum Einsatz, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.4 Unklar ist dennoch, was hinter der Szene passierte. Warum erlaubte die Regierung diesmal den seit langer Zeit verbotenen Stadtgott-Inspektionsrundgang? Im nächsten Jahr wurde das Verbot gegen Prozessionen vor dem Qingming-Fest vom Songhu-Polizeichef Xu jedoch erneuert.5 Trotzdem wurde der Stadtgott-Inspektionsrundgang sehr feierlich durchgeführt. Die Polizei kam auch zum Einsatz! Da das Wetter sehr gut war, war die Zahl der

darbringen, außer, wenn er wegen einer Dienstreise nicht in Shanghai war. Siehe Shanghai-tongshe 上 海通社 (Hg.), Shanghai yanjiu ziliao 上海研究资料, 534. 1 Shenbao, 133-566 (3), am 5. 4. 1915. 2 Shenbao, 133-598 (4), am 7. 4. 1915. 3 Siehe Shenbao, 145-640 (4) und 151-566 (4). 4 Shenbao, 161-379 (2). 5 Shenbao, 163-567 (3). Das Verbot richtete sich nicht auf den Stadtgott-Inspektionsrundgang im städtischen Gebiet Shanghais, sondern auf die bevorstehenden Prozessionen in den ländlichen Bezirken in Pudong.

229 Schaulustigen sehr groß.1 Zum Zhongyuan-Fest und Shiyuechao des Jahres fand der Inspektionsrundgang noch zweimal statt. Der Polizeichef schien einen Kompromiss geschlossen zu haben. Der Inspektionsrundgang des Zhongyuan-Fests wurde zeitlich auf 8 Uhr bis 15 Uhr beschränkt.2 Aber zum Inspektionsrundgang des Shiyuechaos wurde die zeitliche Beschränkung aufgehoben. Es kam sogar eine neue Reiter-Einheit zum Umzug. 3 Zum ersten Mal in der Republikzeit fand der Stadtgott-Inspektionsrundgang alle drei Male im Jahr statt. Vielleicht mussten die Inspektionsrundgänge von 1921 bis 1923 wegen des Warlord-Krieges ausfallen. Erst am Qingming-Fest 1924 fand der nächste Inspektionsrundgang wieder statt.4 Aber die schöne Zeit dauerte nicht lange. Am Zhongyuan-Fest des Jahres wurde die Großhalle des Stadtgotttempels niedergebrannt. Die Aktivisten beschlossen daraufhin, die zwei Inspektionsrundgänge im November 1924 und Mai 1925 einzustellen. Aber das Papiergeld wurde trotzdem eingesammelt und am Altar verbrannt.5 Am Zhongyuan-Fest 1926 fand der Inspektionsrundgang noch einmal statt.6 Danach musste eine fast zehnjährige Pause eingelegt werden. Die zweite Hälfte der 30er Jahre galt als Höhepunkt des Stadtgott-Inspektionsrundgangs in der gesamten Republikzeit. Am 3. April 1934, kurz vor dem Qingming-Fest, sprachen das Polizeipräsidium und die Sozialbehörde Shanghais gemeinsam ein Verbot der Prozession aus, das besonders auf den Stadtgott-Inspektionsrundgang gerichtet war. 7 Aber in den nächsten drei Jahren fanden die Stadtgott-Inspektionsrundgänge trotzdem regelmäßig statt. Die Rundgangsrouten wurden sogar ausnahmslos bereits kurz vor dem festgesetzten Tag in der Zeitung bekannt gegeben.8 Von keiner Störung von der Polizei oder jeglicher

1 Shenbao, 163-659 (1) und 163-675 (3). 2 Shenbao, 165-1055(2). Ein Stadtgott-Inspektionsrundgang fing normalerweise gegen Mittag an und dauerte bis in die Nacht an. 3 Shenbao, 167-167 (4). Das Verbot wurde einen Tag später in der Zeitung wiederholt. Siehe Shenbao, 167-185(3). 4 Shenbao, 201-75 (2). 5 Shenbao, 211-89 (4). 6 Shenbao, 226-537 (5). 7 Shenbao, 315-76(1) und 315-101 (8). 8 Qingming-Fest 1935, Shenbao 327-156(5); Zhongyuan-Fest 1935, Shenbao 331-321(5); Shiyuechao 1935, Shenbao 333-770(7); Qingming-Fest 1936, Shenbao 339-124(7); Zhongyuan-Fest 1936, Shenbao 343-796(7); Qingming-Fest 1937, Shenbao 351-102(3). Die einzige Lücke war der Shiyuechao im Jahr

230 staatlichen Macht war in der Zeitung zu lesen. Die Bekanntmachung des Stadtgotttempels hob sogar besonders hervor, dass die Schaulustigen die öffentliche Ordnung beachten sollen.1 Die lokale Zeitung berichtete, dass am Qingming-Fest 1937 im südlichen Teil der Altstadt die Straßen von Schaulustigen des Inspektionsrundgangs blockiert waren.2 Die Zahl der Teilnehmer und Schaulustigen war schätzungsweise über Einhunderttausend.3 Die Stadtgott-Inspektionsrundgänge hätten weiter stattgefunden, wenn der sino-japanische Krieg (im August 1937) nicht ausgebrochen wäre. Diese unerwartete Umwälzung bremste plötzlich die Stadtgott-Inspektionsrundgänge, die ihren Höhepunkt gerade erreicht hatten.4

9.4. Die Streitpunkte zwischen der Regierung und dem Aufsichtsrat

Sowohl die Art und Weise, wie der Stadtgotttempel in den 20er Jahren neu gebaut wurde, als auch die beneidenswerten Einnahmen des Aufsichtsrats durch Vermietung der Hallen und des Tempelgeländes deuten den Streit zwischen der lokalen Regierung und dem Aufsichtsrat an. Allerdings brach alles erst nach dem Krieg hervor, als die ökonomischen Bedingungen sich verschlechterten.

1936. 1 Shenbao, 331-321(5). 2 Shenbao, 333-770(7). 3 Shanghai-tongzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海通志编纂委员会 (Hg.), Shanghai tongzhi 上海通志, 1496. 4 Aufgrund der japanischen Invasion (im August 1937) erlitt Shanghai eine wirtschaftliche und kulturelle Regression. Zu dieser Zeit kam der SGIRG auch zu einem Ende. Siehe Shanghaishi-nanshi-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市南市区志编纂委员会 (Hg.), Nanshi quzhi 南市区志,Vol. 30, Kap. 3, Abschnitt 3. (Seitezahl unbekannt). Siehe auch: Shanghai-wenxian-weiyuanhui 上海文献委员会 (Hg.), Shanghai chenghuangmiao 上海城隍庙, 27-29. Nach dem Ausbruch des sino-japanischen Krieges wurde die chinesische Altstadt (Distrikt Nanshi, in dem sich der Stadtgotttempel befand) zur Flüchtlingszone erklärt. Die Straßen zwischen der Altstadt und den ausländischen Konzessionen wurden gesperrt. Die Einwohner in anderen Stadtteilen konnten nicht den Stadtgotttempel besuchen. Im naheliegenden Geschäftsviertel herrschte sofort Stagnation. Mit der Unterstützung von einigen Honoratioren und Geschäftsmännern wurde im Jahr 1940 in der französischen Konzession (Danshui Straße 淡水路) ein neuer Stadtgotttempel gebaut. Deshalb nannte man fortan den Stadtgotttempel in der Altstadt „den alten Stadtgotttempel“ (老城隍庙). Nach dem Krieg wurde der alte Tempel sofort reaktiviert, und der neue Tempel wurde geschlossen. Siehe Xu, Songde 徐颂德, "Lao chenghuangmiao de fengsu" 老城隍庙的风俗, in: Shanghaishi-zhengxie-wenshi-ziliao-weiyuanhui 上海市政协文史资料委员会 (Hg.), Shanghai wenshi ziliao cungao huibian- di shiyi juan (shehui fazhi) 上海文史资料存稿汇编·第 11 卷(社会法 制), 19. Eine andere Aussage behauptet, dass der neue Stadtgotttempel zu einer Filmkulisse umgebaut worden sein soll. Siehe Xue, Liyong 薛理勇, Shanghai laochengxiang shihua 上海老城厢史话, 84.

231 9.4.1. Der Streit ums Eigentumsrecht (1946)

Wie oben angedeutet, wurde der Stadtgotttempel Shanghais auf Befehl des Kreisvorstehers erbaut, weil der Stadtgott offiziell im kaiserlich anerkannten Pantheon aufgenommen war. Der Stadtgotttempel bekam in der Kaiserzeit zwar finanzielle Unterstützung vom Schatzamt, aber zu seinem Unterhalt trugen hauptsächlich Spenden der lokalen Gentry, der Geschäftsmänner und Stadtbewohner bei. Dieses Finanzierungsmodell konnte sich in der Republikzeit nicht mehr halten, weil die Stadt dem Tempel kein Budget zur Verfügung stellen konnte. Trotzdem deklarierte das Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai (上海县公款公产经理处)1 im Jahr 1915 den Stadtgotttempel als öffentlichen Besitz.2 Folglich sollte das Büro die volle Verantwortung für die Erhaltung und Renovierung des Tempels übernehmen. Aber das Büro allein war offensichtlich nicht in der Lage, den Tempel nach mehreren Bränden (1922, Juli und November 1924) wieder aufzubauen. Erst mit finanzieller Hilfe der lokalen Großkaufmänner konnte der Tempel neu gebaut werden. Im Jahr 1927, kurz nach der Gründung des Aufsichtsrats, wurden alle Gebäude des Tempels dem Aufsichtsrat überlassen.3 Gleichzeitig übernahm der Aufsichtsrat die Verantwortung für die Erhaltung, Reparatur und den Neubau des Tempels. Das Problem des Eigentumsrechts wurde nur zeitweilig verschoben: nach dem Krieg tauchte es wieder auf.4 Am 16. Februar 1946 fand eine Anhörung bei der Polizei des Yimiao-Bezirks

1 Die Institution war als das Büro für die Verwaltung des öffentlichen Besitzes (上海县公款公产经理 处) oder das Komitee für die Verwaltung des öffentlichen Besitzes (上海县公款公产管理委员会) bekannt. Nach der Wende zwischen der Kaiserzeit und der Republikzeit wurde es zum Zweck der Bewirtschaftung des öffentlichen Besitzes gegründet, der meistens aus der vorherigen Regierung der Qing-Dynastie übernommen worden war. Zahlreiche öffentliche Gebäude wurden dem Büro (oder Komitee) unterstellt, um möglichen Verlust zu vermeiden, den Wert des Besitzes zu erhöhen und damit die Finanzierung der Stadtregierung zu unterstützen. Von 1912 bis 1926 hat das Büro für die Verwaltung des öffentlichen Besitzes insgesamt 45.000 yuan ausgegeben. Die jährlichen Verwaltungskosten der Stadtregierung Shanghais betrugen vor 1926 ca. 26.500 yuan. Siehe Shanghai-caizheng-shuiwu-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上海财政税务志》编纂委员会 (Hg.), Shanghai caizheng shuiwu zhi 上海财政税务志, 208-9. 2 Shanghai-tongzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海通志编纂委员会 (Hg.), Shanghai tongzhi 上海通志, 1496. Die Löhne der taoistischen Priester im Tempel wurden auch von dem Besitzverwaltungsbüro bezahlt. 3 Der Aufsichtsrat erklärte sich damit einverstanden, dass der Tempel vor dem Brand zum „Besitzverwaltungsbüro des Kreises Shanghai“ gehörte. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.017. 4 Das Besitzverwaltungsbüro hatte nur zwei Vorstandsmitglieder im Aufsichtsrat.

232 (邑庙区) statt, in der die Frage des Eigentumsrechts am Tempel erneut gestellt wurde. Es handelte sich offensichtlich darum, welche Institution (der Aufsichtsrat oder die Finanzbehörde) die Steuern innerhalb des Tempelgeländes eintreiben sollte. Der Aufsichtsrat hielt daran fest, dass der Stadtgotttempel ein privates Eigentum (des Aufsichtsrats) sei. Die Regierung schien nicht in der Lage zu sein, dem mächtigen Aufsichtsrat das Eigentumsrecht zu entziehen. Die beiden Parteien schlossen in der zweiten Sitzung am 15. Juni 1946 einen Kompromiss: Der Aufsichtsrat zahlte die Hälfte der gesamten Kosten für den Umbau der Umgebung (Straßen, öffentliche Einrichtungen) des Tempels.1

9.4.2. Der Streit ums Steuerrecht

Wie oben erwähnt, gab es in der Nähe des Stadtgotttempels in der Republikzeit zahlreiche Läden und Geschäfte. Das Verfahren der Steuererhebung war seit langem ein Streitpunkt zwischen dem Aufsichtsrat und der Regierung. Nach einem Bericht der Sozialbehörde wurde folgendermaßen vorgegangen: die Steuer in dem Bereich vor (südlich von) dem Tempel sollte vom Aufsichtsrat erhoben werden, während die Steuer in der Nähe vom Yu-Garten (nördlich vom Tempel) von der Finanzbehörde eingetrieben werden sollte. In dem Bereich des Aufsichtsrats gab es im Jahr 1947 insgesamt 172 Geschäfte (davon überwiegend Straßenhändler). Das Geschäftsrecht wurde vom Aufsichtsrat bestimmt. Die Miete wurde je nach Ort und Fläche festgelegt.2 Zwischen dem Haupteingang und der Großhalle gab es zwei Reihen von Geschäftsständen. Die Finanzbehörde versuchte bei der Einrichtung dieser Geschäftsstände, sie zu verbieten. Die Polizei versuchte auch, sie abzuschlagen. Aber die Versuche scheiterten aufgrund des Widerstands vom Straßenhändlerverband des Stadtgotttempels.3

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-63. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.047. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.047.

233 9.4.3. Die Auseinandersetzung mit der Sozialbehörde (1946-7)

9.4.3.1. Der Anschuldigungsbrief (Nov. 1946)

Die Finanzkrise im Bürgerkrieg (1945-49): Die Sozialbehörde Shanghais erhielt am 18. November 1946 einen Brief 1 , in dem anonym über die Korruption des Aufsichtsrats Meldung gemacht wurde. Der Anschuldigung zufolge hatte der Aufsichtsrat vor dem Sino-japanischen Krieg (1937) jährliche Einnahmen von 60.000 yuan, die vor allem aus der Miete kamen. Nach dem Ausbruch des Sino-japanischen Krieges wurde die chinesische Altstadt (Nanshi-Bezirk, in dem sich der Stadtgotttempel befand) zur Flüchtlingszone erklärt. Alle Tätigkeiten des Stadtgotttempels kamen zum Stillstand. 1943 wurden die Abriegelungen zwischen der chinesischen Altstadt und der französischen Konzession aufgegeben. Das Tempelleben konnte sich wieder normalisieren. 2 In der Anschuldigung wurde behauptet, dass die Mieter seitdem kein Geld abgeliefert hätten. Der Aufsichtsrat habe nach dem Krieg keine öffentliche Auktion zu den Geschäftsrechten des Tempelgeländes abgehalten. Weiterhin wurde behauptet, jemand habe dem Aufsichtsrat angeblich 300 yuan Schmiergeld gezahlt, um die Geschäftsrechte innerhalb des Tempelgeländes zu erhalten. Diejenigen Verkaufsstände aus Aluminiumblech, die sich auf dem Bürgersteig [der öffentlichen Straße] befanden, seien außer Kontrolle geraten. Keine Behörde habe eingegriffen. Ihnen sollte die Genehmigung entzogen werden, so der Anschuldigungsbrief weiter. Nach Meinung des Anklägers behinderten sie den öffentlichen Verkehr und beeinträchtigten das Stadtbild. Der Ankläger forderte umgehend eine öffentliche Versteigerung der Betriebserlaubnisse innerhalb des Tempelgeländes. Die Geschäfte außerhalb des Tempelgeländes sollten auch sofort verboten werden.3 Der Ankläger war vermutlich ein Insider. Ansonsten wäre er nicht so gut über den

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.040. 2 Xu, Songde 徐颂德, "Liushi nian lai chenghuangmiao de fengsu" 60 年来城隍庙的风俗, in: Zhengxie-shanghaishi-nanshiqu-weiyuanhui-wenshi-weiyuanhui 政协上海市南市区委员会文史委员 会 (Hg.), Nanshi wenshi ziliao xuanji (san): jinian shanghai jiancheng qibai zhounian 南市文史资料 选辑(三):纪念上海建城七百周年, 231. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.040.

234 Aufsichtsrat und dessen Geschäfte informiert. Oder sollte man annehmen, dass die Anschuldigung von der Sozialbehörde selbst formuliert worden war, um eine Ermittlung oder Klage gegen den Aufsichtsrat in Gang zu setzen. Egal, wer die Anschuldigung schrieb, wenige Tage später begann eine ausführliche Ermittlung über den Aufsichtsrat des Stadtgotttempels, die ein Jahr dauerte. Der Oberbürgermeister Wu Guozhen (吴国桢) erteilte der Sozialbehörde sogar den Befehl, den Fall genau zu untersuchen.1

9.4.3.2. Der Bericht der Sozialbehörde (März 1947)

Am 22. März 1947 gab die Sozialbehörde bei der Stadtregierung einen detaillierten Bericht über die Finanzierung des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels ab.2 Nach dessen Angaben war die Lage seit dem Ausbruch des Sino-japanischen Krieges so schlecht gewesen, dass die Einnahmen der Mieten aller Hallen die Kosten für die Erhaltung nur knapp ausgleichen konnten. Der Aufsichtsrat habe nach dem Krieg beschlossen, die Miete für die Hallen bis Ende 1945 nicht zu erhöhen, um den Mietern für ihre Leistung während des Krieges zu danken. Im Dezember 1945 sollte eine Auktion stattfinden, um die Betriebserlaubnisse für die Hallen erneut öffentlich zu versteigern.3 Aber die Mieter forderten vom Aufsichtsrat eine Verlängerung der Mietverträge um zwei Jahre (bis Ende 1947), um ihre Verluste aus dem Krieg auszugleichen. Gleichzeitig sollte die Miete wegen der Hyperinflation ab Januar 1946 um das 25-Fache erhöht werden. Schließlich sprach der Aufsichtsrat nur eine Verlängerung von sechs Monaten aus.4 Aufgrund der Hyperinflation nach dem Krieg beschloss der Aufsichtsrat, dass die Miete für das Geschäftsrecht innerhalb des Tempelgeländes ab Februar 1946 um das 60-Fache und ab Mai 1946 um das 100-Fache erhöht werden sollte. Aber die 172 Straßenhändler baten gemeinsam um eine Mietsenkung. Die Verhandlungen wurden weiter erfolglos fortgesetzt. Der Bericht wies auch darauf hin, dass die dem Aufsichtsrat vorgeworfene Korruption

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.042. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.043-047. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.044-045. 4 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.045.

235 nicht zu beweisen war. Die Polizei habe versucht, die gesetzwidrigen Verkaufsstände vor der Großhalle abzureißen. Aber wegen der Widerstände des Straßenhändlerverbands sei es ihr nicht gelungen. 1 Am Ende dieser Ermittlung schlug die Behörde keine konkreten Maßnahmen gegen den Aufsichtsrat vor. Am Bericht kann man ablesen, dass die drei Gruppen, nämlich der Aufsichtsrat, der Straßenhändlerverband und die Mieter der Hallen, eine solidarische Koalition bildeten, die einerseits die Risiken gemeinsam trug, andererseits unter Umständen gemeinsam gegen die Einmischung der staatlichen Macht hinsichtlich der Steuer- bzw. Mieterhöhung eintrat. Das Kapital zu vermehren, war nicht das einzige Prinzip, das der Aufsichtsrat verfolgte.

9.4.4. Auseinandersetzung mit der Zivilverwaltungsbehörde (1947-9)

9.4.4.1. Der Anspruch auf Nachzahlung (1947-8)

Ende 1947 übernahm die Zivilverwaltungsbehörde (民政局) von der Sozialbehörde die Verantwortung für die Angelegenheiten der sog. Sitten und Gebräuche.2 Nun hatte der Aufsichtsrat einen neuen Ansprechpartner des Staates. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Bedingungen nach dem Krieg bat der Aufsichtsrat um eine Steuerermäßigung, die die Stadtregierung aber nicht genehmigte. Im April 1947 schrieb der Oberbürgermeister Yu Guocheng (俞国成), dass der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels umgehend acht Millionen yuan nachzahlen sollte. Die Nachzahlung könne das Geschäftsrecht für nur sechs Monate (bis Ende Juni 1947) verbürgen. Es sollte unverzüglich eine Auktion des Geschäftsrechts geben, um die Einnahmen zu erhöhen. Er wies sogar persönlich an, dass der Aufsichtsrat das Weihrauchgeld um 20 Millionen yuan erhöhe. In diesem Fall dürfe er das Geschäftsrecht bis zum Ende des Jahres behalten.3 Der Oberbürgermeister wollte offensichtlich den Aufsichtsrat unter Druck setzen: der Aufsichtsrat musste entweder auf die Steuerermäßigung verzichten oder er würde das Verfügungsrecht über das Geschäftsrecht verlieren.

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-347, S.046-047. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q6-10-496, S.098-100.. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.002.

236 Der Aufsichtsrat hatte seinen Gegenzug zur Entscheidung der Stadtregierung. Der Vorsitzende Huang Jinrong schrieb an den Chef der Zivilverwaltungsbehörde Zhang, dass er in Vertretung aller Mieter und Geschäftsmänner des Stadtgotttempels eine Verlängerung des Geschäftsrechts wünsche. Gleichzeitig hob er die durch die Finanzkrise und den Bürgerkrieg verursachten Probleme hervor.1 Er bat um eine Nachzahlung von zwei Millionen yuan (ein Viertel des verlangten Betrages), um das Geschäftsrecht zu verlängern. Obwohl er sehr bescheiden formulierte, war Huang Jinrong bereit, mit der Stadtregierung und Zivilverwaltungsbehörde in Verhandlungen einzutreten. Die beiden Parteien artikulierten deutlich ihre Haltungen. In einem offiziellen Ermittlungsbericht2 wurde die Begründung seitens des Aufsichtsrats dargestellt. Nach dessen Angaben hatten die Mieter (Zhang Baosheng 张保生 und andere) einen dreijährigen Mietvertrag unterzeichnet, der vom 19. Oktober 1936 bis zum 18. Oktober 1939 lief. Aber seit dem unerwarteten Ausbruch des Sino-japanischen Krieges (August 1937) hatten die Mieter riesige Verluste erlitten.3 Lediglich in knapp einem Jahr konnten sie Gewinne verzeichnen. Die Mieter wünschten, dass der Vertrag nach dem Krieg noch gültig sein sollte, um ihre Verluste auszugleichen. Huang Jinrong ging davon aus, dass diese Mieter es verdienten, das Geschäftsrecht weiter zu behalten, weil sie während der Besatzungszeit viel mitgelitten und den Tempel geschützt hatten.4 Aus oben erwähnten Gründen beanspruchten die Mieter eine automatische Verlängerung des Mietvertrages um fünf Jahre. Huang Jinrong stimmte nur drei Jahren zu.5 Es wird deutlich, dass der Aufsichtsrat nicht nur Gewinnstreben im Sinn hatte, sondern auch die traditionellen Werte wie Loyalität und Anstand

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.003. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.009-013. 3 In Archivakte Q119-5-116, S. 014 stehen sieben Namen der Pächter: Zhang Baosheng(张保生, die Großhalle), Wang Xinxiang (王鑫祥, die Halle der Sterne), Wang Guanglin (王广林, die Halle der Gottheit des Reichtums), Tan Kunsheng (谈坤生, die Yuqing-Halle), Tan Fugen (谈富根, die Halle der zehn Könige), Tan Jinyuan (谈金远, die Wenchang-Halle), Lin Dazhao (林大钊, Xuzhenjun Halle). 4 In demselben Bericht wird dokumentiert, dass die Japaner während der Besatzung mehrmals versuchten, den Tempel zu besetzen. Aber wegen des Einsatzes von Huang Jinrong und des Schutzes durch die Pächter blieben die Versuche der Japaner erfolglos. Der Tempel konnte dann ohne Schaden den Krieg und die Besatzungszeit überleben. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.011. 5 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.010.

237 beachtete. Von Seiten der Regierung, eines bürokratischen Systems, wurden diese Werte nicht berücksichtigt. Aber die andere Partei, die Stadtregierung und die Zivilverwaltungsbehörde, reagierte dieses Mal hartnäckig und kompromisslos. Im Dezember 1947 erteilte die Stadtregierung der Sozialbehörde den Befehl, umgehend eine Versteigerung der Geschäftsrechte zu veranlassen, sobald die alten Geschäftsgenehmigungen am 1. Januar 1948 abgelaufen seien.1 Am 22. Januar 1948 genehmigte die Zivilverwaltungsbehörde die Verlängerung (bis Ende 1948) des Geschäftsrechts des Aufsichtsrates.2 Der Aufsichtsrat hatte vorher schon eingelenkt. In einer Vorstandssitzung am 12. Januar hatten die Vorstandsmitglieder drei Punkte beschlossen: (1) Die Geschäftsfrist soll am 31.Dezember 1948 enden. (2) Die Miete soll jedes Halbjahr an den Lebenshaltungsindex angepasst werden. (3) Vor dem Ende der Geschäftsfrist soll es eine Auktion geben.3 Es gab noch einen Punkt, der nicht in dieses Sitzungsprotokoll hinein geschrieben war: Der Aufsichtsrat hatte vor der Sitzung acht Million yuan an die Sozialbehörde abgeführt. 4 Damit endete diese Runde zwischen den beiden Parteien unentschieden: Der Aufsichtsrat bekam die Verlängerung des Geschäftsrechts bis Ende 1948. Die Stadtregierung und die Zivilverwaltungsbehörde erhielten das erwünschte Geld.

9.4.4.2. Sinnesänderung der Regierung (1948-9)

Doch kurz nach dem Einvernehmen zwischen den beiden Parteien Anfang 1948 verschlechterte sich die finanzielle Situation dramatisch. Eine katastrophale Hyperinflation brachte den Streit wieder auf den Tisch. Nun genügten die acht Millionen yuan nicht mehr für das Geschäftsrecht für ein ganzes Jahr. Der Oberbürgermeister wollte, dass die Geschäftsfrist Ende Juni endet. 5 Natürlich

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.007. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.015-016. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.019. 4 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.018. 5 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.021.

238 beschwerte sich der Aufsichtsrat, dass eine solche vorzeitige Vertragsänderung unakzeptabel sei.1 Dieses Mal stand sogar die Sozialbehörde auf der Seite des Aufsichtsrats. Sie schlug vor, die Miete zu erhöhen, da der derzeitige Beitrag angesichts der Hyperinflation nicht mehr angemessen sei.2 Nach einer langen Reihe von Argumenten war die Stadtregierung kompromissbereit. Sie antwortete am 25. Juni mit einer neuen Auflage, nämlich, dass die Miete im Jahr 1948 auf 500 Millionen yuan steigen sollte und dass sie Anfang Juli abgeführt werden müsste.3 Kurz vor Ende des Jahres 1949 erteilte die Zivilverwaltungsbehörde dem Aufsichtsrat den Befehl, die vorher versprochene Auktion für die Vergabe der Geschäftsrechte vorzubereiten.4 Nach einer Diskussion im Aufsichtsrat wurde jedoch beschlossen, die Auktion unter den gegebenen Umständen zu verweigern. Der Aufsichtsrat verlangte deshalb eine Verschiebung der Auktion.5 Die Zivilverwaltungsbehörde stellte einen überarbeiteten Plan auf, in dem eine Grundmiete pro Monat vorgeschlagen wurde. Die Monatsmiete sollte je nach Lebenshaltungsindex monatlich neu berechnet werden.6 Aber über die Höhe dieser Grundmiete wurde immer wieder gestritten. Hinzu kam die Umrechnung zwischen den zwei Währungen. 7 Sogar die Stadtregierung und die Zivilverwaltungsbehörde hatten dazu unterschiedliche Meinungen. 8 Die Stadtregierung verlangte immer wieder eine höhere Zahl. Aber der Aufsichtsrat weigerte sich mit der Begründung, dass er in einer solch schwierigen Lage das Geld nicht auszahlen konnte. Der Streit setzte sich in einem Briefwechsel bis in den Frühling 1949 hinein fort. 9 Als Huang Jinrong der Zivilverwaltungsbehörde die letzte schriftliche Erklärung10 übergab (am 2. Mai 1949),

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.022-023. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.023. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.029. 4 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.036. 5 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.037-038. 6 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.037-039. Die Gleichung ist wie folgt: Die Grundmiete + die Grundmiete mal Lebenshaltungsindex. 7 Im September wurde das sog. Jinyuanquan (金圆券) als neue Währung eingeführt, um die Hyperinflation aufzuhalten. Der Wechselkurs war zu der Zeit ein Jinyuanquan zu 30 Millionen yuan (法币, Fiatgeld). 8 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.039-052. 9 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.053-055. 10 Shanghaier Hauptarchiv: Q119-5-116, S.056-057.

239 hörten die Stadtbewohner schon den Kanonendonner der kommunistischen Volksbefreiungsarmee, die zu der Zeit die Stadt schon eingekesselt hatte und sie bald (25. Mai) vollständig eroberte.

9.4.5. Die Widersprüche der Polizei

9.4.5.1. Der Antrag auf Stadtgott-Inspektionsrundgang (1946)

Am 26. 8. 1946 beantragte die sog. Vereinigung für den Stadtgott- bzw. den Vier Nebengottheiten-Inspektionsrundgang (邑神四司三巡联合会)1 bei der Polizei die Genehmigung für den zweitägigen Inspektionsrundgang am 30. und 31. August. Die Beantragung wurde in einem sehr bedächtigen und bescheidenen Stil formuliert. Der Antragsteller gab einerseits zu, dass eine Zeit der Wissenschaft gekommen sei, betonte aber andererseits gleichzeitig, dass die Stadtgott-Inspektionsrundgänge (einschließlich der vier Nebengottheiten) eine altehrwürdige Veranstaltung der Stadt gewesen war. Der Inspektionsrundgang habe als Ziel, Seuchen zu bekämpfen und den Geistern Opfer darzubringen. Die Vereinigung ging davon aus, dass der Inspektionsrundgang gute Sozialnormen propagiere und das Volk zum Guten beeinflusse, obwohl er zum Aberglauben führen könne, der in einer Zeit der Wissenschaft nichts zu suchen habe. Da nach dem Inspektionsrundgang nachgefragt worden sei, wollten die Mitglieder der Vereinigung besonders sorgfältig daran arbeiten, einen Inspektionsrundgang vorzubreiten und vorsichtig durchzuführen. Zum Schluss des Antrages bat die Vereinigung die Polizei um Genehmigung und um den Schutz von Polizisten entlang der Route.2 Da in der Akte keine offizielle schriftliche Genehmigung zu finden ist, können die Fragen, nämlich ob der Antrag von der Polizei schließlich genehmigt wurde oder der Inspektionsrundgang tatsächlich stattfand, nicht beantwortet werden. Aber man kann hier festhalten dass die Vereinigung nicht bereit war, den Inspektionsrundgang ohne Genehmigung durchzuführen. Stattdessen

1 Bisher ist keine schriftliche Quelle über die Organisation zu finden. Sie war vermutlich auch eine Selbstorganisation der Aktivisten, die sich sehr aktiv für die Vorbereitung und andere Angelegenheiten der Stadtgott-Inspektionsrundgänge engagierten. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.026-027.

240 versuchte sie, wenn auch mit geringer Chance, ihr Glück in einem hoffungslosen bürokratischen Verfahren.

9.4.5.2. Die Anweisung des Polizeichefs (April 1947)

Am 4. April 1947 berichtete die Polizei des Nanshi-Bezirks (in dem der Stadtgotttempel sich befand) dem Polizeichef Shanghais über die Beantragung eines Inspektionsrundganges am nächsten Tag (den 5. April, Qingming-Fest!). Es war schon merkwürdig, dass trotz aller Prozessionsverbote die Polizei des Nanshi-Bezirks vorschlug, Polizisten zum Inspektionsrundgang zu schicken, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Polizei war sogar schon darüber informiert gewesen, wie die geplante Route ungefähr verlaufen werde. Die Polizei wusste auch, dass die Teilnehmerzahl schätzungsweise über eintausend liegen werde.1 Die handschriftliche Anweisung verrät den Ärger des Polizeichefs. Er schrieb: „Der Stadtgott-Inspektionsrundgang ist Aberglaube. Die Polizei des [Nanshi-Bezirks] hat vorher nichts unternommen, um ihn zu verhindern. Das aber ist unfassbar und gesetzwidrig! Wenn nächstes Mal so etwas wieder vorkommt, müssen [die Verantwortlichen] streng bestraft werden!“2 Wir haben keine weitere Quelle, die beweisen kann, ob der beantragte Inspektionsrundgang tatsächlich verboten wurde. Aber es ist sehr interessant zu beobachten, dass die Polizei des Nanshi-Bezirks dem Polizeichef so kurzfristig darüber berichtete. Es scheint klare Meinungsunterschiede zwischen dem hochrangigen und den niederrangigen Polizeibeamten bzw. Polizisten gegeben zu haben: die Polizei des Bezirks neigte dazu, den Inspektionsrundgang zu erlauben und Polizeikräfte zum Einsatz zu schicken, während der Polizeichef darauf bestand, das Prozessionsverbot bedingungslos durchzusetzen.

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.033. 2 Ibid.

241 9.4.6. Ein Tag: zwei Prozessionen (am 13.11.1947)

9.4.6.1. Die Anfrage (15. Nov. 1947)

Am 15. November 1947 schickte das Hauptquartier des Songhu-Sicherheitskommandanten (淞沪警备区) eine Botschaft1 an das Shanghaier Polizeipräsidium mit der Aufforderung, die Polizei solle umgehend über den am 13.11. stattgefundenen Stadtgott-Inspektionsrundgang ermitteln und die Hauptveranstalter herausfinden. Die Botschaft teilte mit, dass nach dem Bericht der Zeitung (!) vor zwei Tagen ein Stadtgott-Inspektionsrundgang in der Altstadt stattgefunden habe. Mehr als einhundert Teilnehmer sollen sich als Häftlinge verkleidet haben und mit Handschellen und Fußfesseln durch die Stadt gelaufen sein. Nach Angaben der Zeitung nahmen insgesamt zehntausend Personen (!) an dem Umzug teil. Die Ausgaben sollen über 150.000 yuan betragen haben. Der öffentliche Verkehr in der Altstadt wurde vom Umzug sogar komplett blockiert. Das Hauptquartier war damit sichtlich unzufrieden und schrieb dazu die folgenden Kommentare: Eine solche abergläubige Veranstaltung sei (1) schlecht für das internationale Ansehen der Stadt und (2) im Grunde gesetzwidrig. Außerdem sei sie auch eine unsinnige Verschwendung. Das Hauptquartier war der Meinung, dass eine Prozession leicht zu Kriminalität führen könne. Aus diesen Gründen beklagte es sich, dass die lokale Polizei die Prozession nicht verhindert habe. Dass der Umzug eigenmächtig durch die Stadt habe laufen können, war aus der Sicht des Hauptquartiers ein Beweis für die Pflichtverletzung der Polizei. Das Hauptquartier verlangte deswegen eine sofortige Ermittlung über den Inspektionsrundgang. Sowohl die Hauptveranstalter des Inspektionsrundgangs als auch die betreffenden Verantwortlichen (der Polizei) sollten seiner Meinung nach streng bestraft werden.2 Was kann uns diese Anfrage verraten? Erstens ist es natürlich merkwürdig, dass die lokale Polizei vor der Prozession nichts gegen sie unternommen hatte. Zweitens ist es

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.046. 2 Ibid.

242 auffällig, dass das Hauptquartier des Songhu-Sicherheitskommandanten1 erst einen Tag später durch eine Zeitungsmeldung vom Geschehen erfuhr. Dies war zweifellos eine Ironie für die Gesetzeshüter. Alles deutete darauf hin, dass die Unterdrückung und Kontrolle der Prozessionen von der Polizei nicht so streng eingehalten wurde, wie man dachte. Man kann sogar die Frage stellen: Gab es damals überhaupt eine geheime Überwachung oder Ausspionierung? Wenn ja, wie konnte die Behörde so ohnmächtig sein? Zwei Tage später gab der Polizeichef seinem Nachgeordneten auf einem Zettel eine Anweisung2, um folgendes zu erklären: (1) Wer waren die Hauptveranstalter des Inspektionsrundgangs? (2) Durch welchen Polizeibezirk war der Umzug gelaufen? (3) Gab es Polizisten, die dort die Ordnung aufrechterhielten? Der Polizeichef schrieb unter diesem Punkt, dass er persönlich einige Polizisten bei einer Prozession am letzten Sonntag in der Nähe der Tilan-Brücke (提篮桥) im Hongkou-Bezirk (虹口区) gesehen habe! (4) Die Start- und Endzeit der Prozession; (5) Was hat die Polizei dem Verbot gemäß gegen die Prozessionen unternommen?

9.4.6.2. Zwei Berichte über zwei Prozessionen

Zwei Tage später erreichten den Polizeichef zwei Berichte. Der erste Bericht wurde von einem Polizeibeamten namens Jiang Shipu (江世溥) verfasst, der die vom Polizeichef persönlich gesehene Prozession erklärte. Nach Jiangs Angaben wurde jene Prozession, die alljährlich am selben Tag stattfand, dem Geburtstag einer Gottheit (unklar) des Xiahai-Tempels (夏海庙) gewidmet. Die Tempelbesitzer Ji Hongshan (纪洪山) und Shen Weixuan (沈维轩) hatten die Prozession vorher bei der Polizei angekündigt. Aus dem Grund, dass dieser Brauch nicht abschaffbar war, bewilligte die lokale Polizei die Veranstaltung - mit einigen Bedingungen: (1) Der Umzug sollte nicht zu aufwendig sein. (2) Die Route musste vorher schon festgelegt werden. (3) Die Teilnehmerzahl des Umzuges durfte über einhundert sein. An dem Tag wurden

1 Der derzeitige Stadtkommandant war Xuan Wutie (宣吾铁), der vor einigen Jahren den Posten des Shanghaier Polizeichefs bekleidet hatte. Er war vermutlich ein Hardliner gegen Prozessionen. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.047.

243 zehn Polizisten dorthin geschickt, um für die öffentliche Ordnung zu sorgen. Die Anzahl der Teilnehmer (Schaulustige nicht eingeschlossen) war gut einhundert. 1 Der Polizeichef hatte offensichtlich diesen Umzug mit dem des Stadtgott-Inspektionsrundgangs verwechselt, der normalerweise in der Altstadt (Nanshi-Bezirk) stattfand.2 Allein nach Aussehen oder Aufbau des Umzuges sind sie nicht leicht zu unterscheiden. Obwohl der Polizeichef allgemein streng gegen Prozessionen war, verfügte er über sehr wenig Kenntnisse über die Prozessionen. Auch kannten sich die Gesetzgeber nicht mehr darüber aus und konnten keine in der Praxis durchsetzbaren Vorschriften erlassen. Der zweite Bericht klärte den Stadtgott-Inspektionsrundgang am 13. November auf. Der Polizeibeamte namens Bao Tianyi (包天一) gliederte den Bericht nach den Fragen, die der Polizeichef zwei Tage zuvor gestellt hatte: (1) Die Hauptveranstalter waren Cheng Xiwen (程锡文, Direktor des Theaters „Kleinwelt“ 小世界) und Huang Jinrong ( 黄金荣, der Ehrenvorsitzende des Aufsichtsrats-Vorstands des Stadtgotttempels). (2) Die Route des Stadtgott-Inspektionsrundgangs: Stadtgotttempel - Guangqi Str. - Fuxing Str. - Penglai Str., dann bis in den Penglai-Straße-Polizeibezirk (蓬莱路分局). (3) Nach Wang Jianxians (王建贤, Abteilungsleiter der ersten Abteilung des Polizeibezirks) Angaben wurde kein Polizist zur Überwachung der Ordnung des Inspektionsrundganges geschickt. Was der Polizeichef sah, gehörte wahrscheinlich zu einer anderen Prozession. Eine Ermittlung durch den Tilan-Brücke-Polizeibezirk sollte darauf folgend angestellt werden. (4) Die Zeit [des Inspektionsrundgangs]: 17 Uhr bis 20 Uhr, 13. November. (5) Das Verbot der Prozessionen wurde inzwischen vier Mal (einschließlich einmal intern) bekannt gegeben.3

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.047. 2 Meine Aussage in der Einleitung über die Prozessionen in Shanghai kann durch diesen Bericht erhärtet werden, dass an einem Tag (wie Qingming-Fest und am 1. des zehnten Monats nach dem chinesischen Kalender) in der Stadt gleichzeitig mehrere Prozessionen (für unterschiedliche Gottheiten) durchgeführt wurden. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.048. Eine angeführte Bekanntmachung (Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.051) kann den fünften Punkt des Berichts bestätigen, dass am 1. 11. der Abteilungsleiter Wang Jianxian das Verbot anlässlich einer Anweisung aus dem Polizeipräsidium Shanghais amtlich wiederholte.

244 9.4.6.3. Der Bericht des Polizeipräsidiums

Am 14. November erreichte den Yimiao-Polizeibezirk ein Versprechen von Cheng Xiwen und Zong Cailiang (宗才良), die das Geschehen vom 13. November erklärte. Nach deren Angaben versammelte sich an dem Tag eine Vielzahl von Gläubigen vor dem Stadtgotttempel. Sie befürchteten, dass die Situation einen Unfall verursachen könne. Um den öffentlichen Verkehr am Stadtgotttempel nicht zu behindern und den potenziellen Unfall zu vermeiden, entschieden sie sich, trotz des Verbots den Umzug zu starten. Nach diesem Inspektionsrundgang versprachen sie, nie wieder einen zu veranstalten.1 Eigentlich war die Situation nicht so entspannt wie die Beschreibung in diesem kurzen Text vorgibt. An demselben Tag verfasste die erste Abteilung des Polizeipräsidiums (行政处) auch einen Bericht, der den Vorgang vom 13. November dokumentiert. Er basiert auf der Aussage von Shen Deheng (沈德亨, Polizeidirektor des Bezirks Yimiao). Danach ist der Polizeibeamte namens Luo Bujiang (罗布疆, gehörte zur Polizeistelle Fuyou Straße 福佑路派出所) schon vor dem bevorstehenden Inspektionsrundgang über ihn informiert gewesen. Er hatte dem Polizeidirektor Shen Deheng mündlich darüber berichtet. Der Polizeidirektor wiederholte das Verbot der Prozession. Die Angelegenheit wurde dem Abteilungsleiter Wang Jianxian zugewiesen. Dieser plante ein Treffen und lud die Verantwortlichen Chen Xiwen und Zong Liangcai ein. Bei dem Treffen wiederholte er noch einmal das Verbot der Prozession. Aber die Mahnung der Polizei sei ohne Wirkung geblieben. Gegen 4 Uhr am 13. November versammelten sich viele Gläubige und Teilnehmer des Inspektionsrundgangs. Die Situation konne jederzeit außer Kontrolle geraten. Die Polizei war gezwungen, einen spontanen Kompromiss zu schließen. Sie befahl, den Inspektionsrundgang innerhalb von drei Stunden zu beenden. Die Hauptveranstalter wurden später von der Polizei zurechtgewiesen. Sie versprachen, nie wieder eine Prozession zu veranstalten (deswegen hinterließen sie das oben zitierte Versprechen). Der Bericht fasste die Begründungen für den

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.052.

245 Inspektionsrundgang folgendermaßen zusammen: Die Prozessionen seien ein schlechter Brauch, der seit langem klar und deutlich verboten wurde. Aber die Sitten seien tief in der Mentalität des Volks verankert und nicht leicht in kurzer Zeit zu beseitigen. Der Bericht schlug deswegen vor, dass die Zivilverwaltungsbehörde (民政 局) die Verantwortung übernehmen solle. Die lokalen Gemeindefunktionäre sollten die Einwohner überreden, sich zu benehmen.1

9.4.6.4. Die Erklärung des Aufsichtsrats

Einen Tag nach dem Inspektionsrundgang, am 14. Novemver, reichte der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels beim Polizeichef Shanghais, Yu, eine Erklärung ein. Die von Huang Jinrong besiegelte Schrift behauptete folgendes: Ihm persönlich sei sehr klar, dass der Inspektionsrundgang eine Art von Aberglaube sei. Trotzdem sei es angemessen gewesen, ihn auszuüben. Er habe jedoch versucht, die Mitglieder (die Gläubigen und Anhänger) zu überreden [den Inspektionsrundgang nicht zu veranstalten]. Leider sei Huang auch nicht in der Lage gewesen, die Gläubigen davon abzuraten. Die folgende Beschreibung ist ähnlich wie die der Polizei: Gegen Mittag des 13. November versammelte sich eine Unzahl von den Gläubigen, die aus allen Bezirken Shanghais kamen, um ihre Versprechen, eine Prozession durchzuführen, zu halten. Huang zufolge wurden sofort Polizisten des Yimiao-Polizeibezirks dorthin geschickt, um den startbereiten Inspektionsrundgang zu unterdrücken. Aber wegen der Überzahl der Gläubigen2 und deren Besessenheit waren die Polizisten nicht in der Lage, Ordnung zu schaffen. Huang behauptet, dass er aus Angst vor einer Massenpanik als Kompromiss vorgeschlagen habe, den Inspektionsrundgang in einer ruhigen Gegend durchzuführen. Erst dann seien die Gläubigen los gegangen. Um 16 Uhr sei der Umzug die Guangqi-Str. entlang direkt zum Südaltar gelaufen. Nach der Zeremonie sei der Umzug wieder friedlich in den Tempel zurückgekehrt. Nichts Schlimmes sei passiert. Darüber hinaus betont Huang in dieser Erklärung, dass es

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.053. 2 In einem anderen offiziellen Dokument der Polizei wird die Anzahl der Teilnehmer auf ca. zehntausend geschätzt. Siehe Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.062.

246 nicht stimme, dass jeder Teilnehmer einen Beitrag von 15 yuan bezahlen musste. „Es ist ein reines Gerücht.“1 Es wird klar, dass Huang mit der Schrift, statt die lokale Polizei zu decken, die Machtlosigkeit der Polizei gegen die Gläubigen verdeutlichte.

9.4.6.5. Die internen Ermittlungen der Polizei

Die Ermittlungen innerhalb der Polizei blieben nicht ohne Konsequenzen. Am 19. November, nur zwei Tage nach dem Beginn der Ermittlungen, wurde dem Polizeidirektor des Tilan-Brücke-Polizeibezirks wegen seines Pflichtversäumnisses eine interne Disziplinarstrafe auferlegt. Sein Vergehen wurde aktenkundig gemacht.2 Am 22. November wurde der Polizeidirektor des Yimiao-Polizeibezirks mit der gleichen Disziplinarstrafe belegt. 3 Die beiden Strafen wurden dem Sicherheitskommandanten Xuan mitgeteilt.4 Der Sicherheitskommandant reagierte darauf mit der Mitteilung, dass der Fall bezüglich der Prozessionen nicht weiter ermittelt werden sollte. 5 Sicherlich wollte er seine Kollegen nicht weiter in Verlegenheit bringen. Es gab also ein für alle rühmliches und anständiges Ergebnis. Wenige Tage später erteilte das Polizeipräsidium allen Polizeibezirken in Shanghai einen Befehl, in dem die beiden Fälle - der im Yimiao-Polizeibezirk und der im Tilan-Brücke-Polizeibezirk - als negative Beispiele erwähnt wurden. Das Verbot aller Prozessionen wurde mit Nachdruck wiederholt. Die Unfähigkeit der zwei Polizeibezirke wurde drakonisch kritisiert. Der Polizeichef warnte diejenigen Polizeibeamten, die in Zukunft sich bei Prozessionen der Pflichtverletzung schuldig machten, dass härtere Strafe auf sie zukommen könnte.6

9.4.6.6. Die Analyse über die Polizei

Die Beispiele zeigen, dass es innerhalb der Polizei in Shanghai unterschiedliche Meinungen oder Interessen in Bezug auf Prozessionen gab. Die hochrangigen

1 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.057. 2 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.049. 3 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.058. 4 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.058-060. 5 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.061. 6 Shanghaier Hauptarchiv: Q134-4-201, S.062.

247 Polizeibeamten (z.B. der Polizeichef und sein Polizeipräsidium) waren die Hardliner, die das Verbot der Prozessionen in der Praxis bedenkenlos durchsetzen wollten. Aber die niederrangigen Polizeibeamten (z.B. die zwei bestraften Polizeichefs der Polizeireviere) hatten offensichtlich eine andere Einstellung. Einerseits wollten sie ihre Rolle im öffentlichen Dienst nicht verletzen. Andererseits neigten sie dazu, die Prozessionen stillschweigend zu akzeptieren und zu dulden, obwohl sie damit gegen das Gesetz verstießen. Sie versuchten einfach, ihre Augen vor der Prozession zu verschließen, obwohl sie offenkundig schon darüber informiert gewesen waren. Gleichzeitig schickten sie nur wenige Polizisten, die die Staatsmacht symbolisierten, zum Ort der Prozessionen. Ironischerweise waren die namenlosen Polizisten, die sich der Überzahl der Prozessionsteilnehmer gegenüber sahen, nicht in der Lage, die Prozession zu unterbinden oder zu verhindern. Sie symbolisierten für das Volk lediglich die Machtlosigkeit des Staates. Warum hatte die Polizei eine so widersprüchliche Haltung zu Prozessionen? Ohne Quellen können wir nur ein paar Vermutungen anstellen: (1) Die Korruptions-Vermutung: Wie oben erwähnt, waren viele Polizeibeamte in der Republikzeit sehr korrupt. Die Prozessionen wurden einerseits gesetzlich verboten, waren aber andererseits von den Aktivisten und Gläubigen sehr nachgefragt. Dieser Widerspruch bildete einen Raum für Korruption. Die Polizei in den betreffenden Bezirken könnte von den Veranstaltern der Prozessionen bestochen worden sein, um die Prozessionen stillschweigend zu erlauben. Solange der Polizeichef oder das Polizeipräsidium nichts von den Veranstaltungen erfuhren, konnten sie reibungslos durchgeführt werden. (2) Die Mafia-Vermutung: Der Vorsitzende des Aufsichtsrats, Huang Jinrong, war selbst Polizeidirektor gewesen und wurde nach seiner Pensionierung der größte Mafiaboss in Shanghai. Die Polizei musste seine verborgene Macht in Erwägung ziehen, bevor sie etwas gegen die Stadtgott-Inspektionsrundgänge unternahm. Im Extremfall ist nicht auszuschließen, dass einige Polizeibeamte Mitglieder des Mafianetzwerks waren oder dass sie enge Beziehungen zur Mafiaorganisation hatten. Möglicherweise hatten sie auch eine private und persönliche Beziehung zu Huang. (3) Die Honoratioren-Vermutung: Ohne eine

248 illegale Macht zu vermuten, muss man doch berücksichtigen, dass die Veranstalter der Prozessionen teilweise die lokalen Honoratioren waren, die bedeutenden Einfluss auf die lokalen Angelegenheiten ausüben konnten. Eine hoch angesehene und machtvolle Institution, wie der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels, verfügte durch seine Mitglieder über beachtliches Sozialkapital. Dies kann auch zur Durchführung eines Stadtgott-Inspektionsrundgangs beigetragen haben. (4) Die Glaubensvermutung: Ein Polizist selbst kann auch ein Anhänger oder Gläubiger des Stadtgottes gewesen sein. Einerseits zwang ihn seine öffentliche Stellung, im Sinne der Dienstpflicht auf der Seite der Opposition des Inspektionsrundgangs, nämlich der Polizei, zu sein. Andererseits hatte er persönliche Sympathien für den Stadtgott-Inspektionsrundgang. Das könnte auch einen bedeutenden Einfluss auf seine Entscheidung gehabt haben. (5) Die Einsatzfähigkeits-Vermutung: Auch wenn wir nicht alle oben vorgestellten negativen Vermutungen der Polizei annehmen, müssen wir doch fragen, ob - wenn die Polizei tatsächlich das Verbot gegenüber den Prozessionen einhalten wollte - eine Handvoll Polizisten wirklich in der Lage waren, sich mehreren tausend fieberhaften Gläubigen entgegenzusetzen.1 Jeder Entscheidungsvorgang, entweder gegen oder für einen Stadtgott-Inspektionsrundgang bzw. eine Prozession, befand sich in einem hoch komplizierten Netzwerk, in dem man zahlreiche Elemente in die Überlegung einbeziehen und ihre Folgen rational kalkulieren musste. Ich gehe davon aus, dass ein erfolgreich durchgeführter Stadtgott-Inspektionsrundgang das Ergebnis dessen war, dass die oben erwähnten Elemente zusammenwirkten.

9.5. Fazit

Der Stadtgottglaube hatte vor seiner Systematisierung in der Hongwu-Zeit eine lange Vorgeschichte, die quasi parallel zu dem hoch institutionalisierten Buddhismus und Taoismus existierte und gleichzeitig in manchen Regionen größere Popularität unter dem Volk besaß. Obwohl die kaiserlichen Befehle der eigentliche Grund für die Entstehung des Stadtgott-Inspektionsrundgangs gewesen waren, waren der

1 Diese Überlegung wird deutlicher in den Fallbeispielen in Pudong.

249 Stadtgotttempel und seine Veranstaltungen immer eine „lokale“ Angelegenheit. Einerseits waren ab der Hongwu-Zeit der Ming-Dynastie die Stadtgötter und ihre Tempel Bestandteil des staatlichen Opfergabesystems. So wurden die Titel der Stadtgötter von den Kaisern verliehen. Die Stadtgotttempel bekamen auf den unterschiedlichen Ebenen (Provinz, Gemeinde, Dorf) ständig symbolische und finanzielle Unterstützung vom Staat. Die lokalen Beamten waren verpflichtet, sich als diesseitige Kollegen der Stadtgötter an den jährlichen Stadtgott-Inspektionsrundgängen zu beteiligen. Aber andererseits spielten die lokale Gentry, die Geschäftsmänner, die Laien-Aktivisten und die Honoratioren auch eine unübersehbare Rolle im Hinblick auf den Stadtgotttempel und die Stadtgott-Inspektionsrundgänge. Ihre Rollen sind in den vorherigen Forschungen oft vernachlässigt worden. Man kann sagen, dass die staatliche Förderung und die lokale Beteiligung die zwei wichtigsten Säulen des Stadtgottglaubens vor der Republikzeit waren. Aber die Zusammenarbeit änderte sich dramatisch mit der Gründung der Republik Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Stadtgottglaube verlor plötzlich die Unterstützung des Staates bzw. der Regierung, die sich nicht mehr auf die traditionelle Weltauffassung, sondern die vom Westen eingeführten Naturwissenschaften und politischen Ideen stützte. Eine Säule war zusammengebrochen. Diese Umwälzung fand schnell ihren Niederschlag im ökonomischen Bereich, nämlich in der Frage der Erhaltung und Finanzierung des Stadtgotttempels, während sich ihre symbolischen Wirkungen langsamer in der Gesellschaft entfalteten. Nach dem Brand des Stadtgotttempels im Jahr 1924 wollte, sollte und konnte die Regierung ihn nicht wiederaufbauen. Folglich übernahmen die lokalen Stadtbewohner, Geschäftsmänner und Honoratioren die Verantwortung dafür, den Tempel neu aufzubauen und den Stadtgottglauben in einer Zeit der Transformation und Verzweiflung wieder auferstehen zu lassen. Die Gründung des Aufsichtsrates des Stadtgotttempels in Shanghai galt als ein Wendepunkt in dieser Entwicklung: der Stadtgotttempel gründete nicht mehr auf zwei Säulen, sondern auf einer Säule. Langfristig betrachtet ist die Gründung des Aufsichtsrats, der überwiegend aus Privatpersonen bestand, eine unvermeidliche Lösung bzw. eine notwendige Folge des Wechsels in der

250 Verantwortung in Bezug auf den Stadtgotttempel.1 Selbstverständlich änderte sich damit die Funktion der Regierung vom Sponsor zum Regulator des Stadtgottglaubens. Die Gründung des Aufsichtsrates des Stadtgotttempels in Shanghai ist m. E. ein Meilenstein in der gesamten Geschichte der Kommunalreligion in China. Von Anfang an wurde der Aufsichtsrat als eine nicht Gewinn orientierte Vereinigung konzipiert, die einerseits den Stadtgottglauben gut bewahren und andererseits durch ihre Selbstfinanzierung gemeinnützige Arbeit in Shanghai aktiv unterstützen sollte. Die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Aufsichtsrats waren sowohl in seiner Organisationsstruktur als auch in der Finanzierung deutlich zu sehen. Die Beteiligung einiger staatlicher Institutionen als Vorstandsmitglieder im Aufsichtsrat, welche die Anerkennung des Staates und die historische Verbindung zum Staat verkörperte, hatte eher symbolische Bedeutung als die Bedeutung des Mitbestimmungsrechts. Die Intention, die Einflüsse seitens des Staates bzw. der Regierung abzulegen, ist auch an den Satzungen des Aufsichtsrats eindeutig abzulesen, besonders an den Passagen zur Frage der Finanzierung. Außerdem spielten die vom Aufsichtsrat angestellten taoistischen Priester eine nebensächliche Rolle in den Angelegenheiten des Stadtgotttempels. Sie sollten quasi nur als Ritualexperten Aufgaben in bestimmten Zeremonien und Ritualen erfüllen. Bei den finanziellen Angelegenheiten des Stadtgotttempels hatten sie kaum Mitspracherechte. In den folgenden Aspekten unterscheidet sich der Aufsichtsrat deutlich von anderen traditionellen Prozessionsverbänden in der Geschichte der Kommunalreligion Chinas: (1) Der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels in Shanghai war eine langjährige, ständige Organisation, während die konventionellen Aktivistenverbände der Gottbegrüßungsprozession nur kurzzeitig aus Anlass der Prozession zusammengerufen oder versammelt wurden. Die Langjährigkeit und Beständigkeit des Aufsichtsrats garantierte Kontinuität bei der Durchsetzung der Tempelplanung.

1 Wenn man ein Jahrhundert als den zeitlichen Maßstab der Beobachtung nimmt, sind die Ming- und Qing-Zeit nur eine Ausnahmephase hinsichtlich des Stadtgottglaubens, in der der Staat teilweise die Verantwortung für die Stadtgötter und ihre Tempel übernahm und den Stadtgottglauben unterstützte. Mit der Gründung des Aufsichtsrats in der Republikzeit endete die Geschichte eine Pendelbewegung, indem der ursprüngliche volkstümliche Glauben (vor der Ming-Zeit) wieder dem Volk zurückgegeben wurde.

251 Der Aufsichtsrat fungierte als ein über viele Jahre bestehender, ständiger Ansprechpartner der Behörden bzw. der Regierung in Bezug auf Tempel- und Prozessionsangelegenheiten, was bei den konventionellen Aktivistenverbänden meistens fehlte. Dies bot den beiden Parteien, nämlich der regulierenden Regierung und dem Tempel, die Möglichkeit, bei Auseinandersetzungen, Missverständnisse zu klären, Meinungen auszutauschen und über die Stadtgott-Inspektionsrundgänge zu verhandeln. Außerdem fungierte der Aufsichtsrat quasi als eine Dachorganisation oder als Schirmherr der anderen kleinen Organisationen, z. B. des Sanban-Aktivistenverbandes und des Straßenhändlerverbandes. Die Motivation, in solche kleinen Organisationen einzutreten, war m. E. sehr unterschiedlich. Die Mitglieder des Straßenhändlerverbandes waren hauptsächlich an den Steuerermäßigungen unter dem Aufsichtsrat interessiert, traten also aus ökonomischen Überlegungen bei, während die Aktivisten der Sanban-Gemeinde ihren persönlichen Glauben an den Stadtgott verfolgen wollten. Sie waren der Überzeugung, dass durch ihre engagierte Beteiligung an den Stadtgott-Inspektionsrundgängen Krankheiten geheilt und Sünden vergeben werden konnten. Was die unorganisierten Schaulustigen anging, so sind ihre Motive noch schwieriger zu analysieren. Vielleicht glaubten einige Stadtbewohner immer noch fest daran, dass durch die Inspektionsrundgänge die Geister wieder in die Unterwelt zurückkehrten und damit die Stadt „gereinigt“ werden konnte. Für andere dagegen war die feierliche Veranstaltung möglicherweise nur eine Unterhaltung, so dass sie dreimal jährlich den atemberaubenden Umzug ohne jegliche religiöse Assoziation einfach zuschauten und ihn genossen. Die Gruppen rund um den Stadtgotttempel und seine Inspektionsrundgänge waren auf keinen Fall homogen oder undifferenziert. Der Aufsichtsrat fungierte für alle Organisationen und Gruppen als Anknüpfungspunkt, der ihre Interessen koordinierte und öffentlich vertrat. (2) Der Aufsichtsrat verlangte durch seine Anmeldung bei der Sozialbehörde völlig bewusst die gesetzliche Anerkennung des Staates, während die konventionellen Aktivistenverbände vor der Republikzeit meistens mit stillschweigender Einwilligung der lokalen Beamten existierten, solange sie keine schlimmen Unfälle oder Konflikte

252 bei den Prozessionen verursachten. (3) Der Aufsichtsrat besaß eine Satzung, in der die Rechte und die Pflichten der Mitglieder klar und deutlich beschrieben waren, was bei den konventionellen Aktivistenverbänden selten zu beobachten war. Außerdem verfügte der Aufsichtsrat über eine Organisationsform, die zwar relativ einfach und flach war, die aber effizient funktionierte. Bewerkenswert ist auch die Buchhaltung des Aufsichtsrats, die den Tempelbesitz rational und professionell verwaltete und die Finanzlage des Tempels ausführlich dokumentierte. Aus dieser Sicht war der Aufsichtsrat quasi eine Art „Stadtgotttempel GmbH“, die einer kommerziellen Firma ähnelte. Allerdings weist die Auseinandersetzung über die Mietregelung zwischen dem Aufsichtsrat und der Regierung darauf hin, dass der Aufsichtsrat nicht bloß auf Gewinn gerichtet war, sondern großen Wert auf traditionelle Werte - z. B. Solidarität - legte. (4) Der Aufsichtsrat versuchte durch die Vermietung der Hallen und des Tempelgeländes einen Gewinn zu erzielen, von dem er große Teile für wohltätige Einrichtungen in der Stadt, für medizinische Fürsorge und das Bildungswesen spendete. Durch die erfolgreiche Verwaltung des Tempelbesitzes, vor allem des Tempelgeländes, bildete sich ein nachhaltiger Kreislauf, der nicht nur den Tempel selbst finanzieren und erhalten, sondern auch sehr viel für gemeinnützige Arbeit beitragen konnte. Allerdings waren dafür zwei wichtige Voraussetzungen nötig, nämlich die Fachkenntnisse über Kapitalverwaltung und der Standort des Tempels. Der Standort des Stadtgotttempels in Shanghai war so einzigartig, dass dies wahrscheinlich nicht auf andere Tempel oder Aktivistenverbände übertragbar ist. Die Einnahmen der konventionellen Prozessions-Aktivistenverbände, die hauptsächlich aus Spenden der Aktivisten bestanden, wurden größtenteils für die Vorbereitung und Durchführung der Prozessionen verwendet. (5) Die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrates waren nicht namenlose kleine Bürger, sondern berühmte Persönlichkeiten der Stadt, die entweder unübersehbares Vermögen oder unsichtbare Macht besaßen, während die Mitglieder bzw. Aktivisten der anderen Prozessionsverbände meistens nur aus normalen Stadtbewohnern oder sogar Bauern bestanden, die weder gut gebildet noch einflussreich waren. Der Status der

253 prestigevollen Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats, z. B. Mafiabosse, Großgeschäftsmänner und Honoratioren der Stadt, ist gut geeignet zu erklären, warum zahlreiche Stadtgott-Inspektionsrundgänge in dem in der vorliegenden Arbeit betrachteten Zeitraum trotz des Prozessionsverbots reibungslos verliefen. Die meisten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen dem Aufsichtsrat und den lokalen Behörden bzw. der Stadtregierung betrafen nicht Sicherheitsfragen oder den abergläubischen Charakter des Stadtgott-Inspektionsrundgangs, sondern die Finanzierung und ökonomische Fragen. Von keinem einzigen vom Stadtgott-Inspektionsrundgang ausgelösten Konflikt ist in den gesammelten historischen Materialien zu lesen. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass unterschiedliche Behörden - vor allem innerhalb der Polizei – eine unterschiedliche Meinung zum Stadtgott-Inspektionsrundgang hatten. Die Stadtregierung und ihre Behörden mischten sich in Themen wie Steuer und Regelung der Mieten des Tempelgeländes ein, nicht weil der Tempel und seine Stadtgott-Inspektionsrundgänge offiziell betrachtet Aberglaube waren, sondern weil die riesigen Einnahmen des Aufsichtsrats für die sich in der Finanzkrise befindende Regierung unwiderstehlich waren. Die Regierung versuchte, die Kontrolle über den Stadtgotttempel wieder zu gewinnen, die sie nach der Gründung des Aufsichtsrats schon grundsätzlich verloren hatte, indem sie den Aufsichtsrat bei solchen Problemen wie Steuer- und Mietrecht schikanierte. Aber die Versuche blieben aufgrund der Ablehnung und des dagegen Ankämpfens des Aufsichtsrats fast ergebnislos. Aus Sicht des Aufsichtsrats war es seine Hauptaufgabe, sich vor der Wiedereinmischung des Staates bzw. der Regierung zu hüten. Wenn er die Kontrolle über den Tempelbesitz oder die Finanzierung des Tempels verloren hätte, hätte er auch seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit eingebüsst. Der Machtkampf zwischen dem Aufsichtsrat und der Regierung stellte sich grundsätzlich im ökonomischen Bereich dar, solange der Aufsichtsrat keinen Anspruch auf politische Themen formulierte.

254

Abb. 13 Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten und Kontrolleuren des

Stadtgott-Inspektionsrundgangs

255

9.6. Anhang

Abb. 14 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 22. Nov., 1919

256

Abb. 15 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 10. Nov., 1920

257

Abb. 16 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 5. April, 1924

258

Abb. 17 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 22. Aug., 1926

259

Abb. 18 Die Routen der Gaochang-Prozession am 23. Aug., 1926

260

Abb. 19 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 6. April, 1935

261

Abb. 20 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 13. Aug., 1935

262

Abb. 21 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 5. April, 1936

263

Abb. 22 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 31. Aug., 1936

264

Abb. 23 Die Routen der Gaochang-Prozession am 1. September. 1936

265

Abb. 24 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 5. April, 1937

266

10. Die Prozessionen und Konflikte in Pudong (1919-35)

10.1. Die geographischen Gegebenheiten Pudongs

Der knapp 100 Kilometer lange Fluss Huangpu fließt von Süd nach Nord durch das Yangtse-Delta und mündet kurz vor dem Meer letztendlich in den Yangtse. Zwischen dem Meer und dem Fluss Huangpu liegt das Gebiet Pudong1. Die geographischen Gegebenheiten bieten ideale Bedingungen für einen Hafen, der das gesamte Yangtse-Stromgebiet und den Pazifik verbinden kann. Zur Republikzeit befanden sich die chinesische Altstadt und die ausländischen Konzessionen, die seit dem Opiumkrieg errichtet worden waren, westlich des Huangpus, während Pudong sehr dünn besiedelt und überwiegend ländlich geprägt war.2 Das Land am Meer war teilweise Schwemmland und wegen seines versalzten Bodens nicht zur landwirtschaftlichen Nutzung geeignet. Aus diesem Grund war Pudong, allgemein betrachtet, ungünstigen natürlichen Bedingungen ausgesetzt und folglich ärmer als das Gebiet westlich des Flusses Huangpu. Dieser Fluss, der eine durchschnittliche Breite von ca. 300 Metern hat, war Anfang des 20. Jahrhunderts technisch gesehen unmöglich mit einer Brücke zu überspannen. Deswegen konnte man ihn damals nur mit kleinen Fährschiffen überqueren.3

10.2. Die Prozessionen und der Umzug

Die Prozessionen waren für die Bewohner in Pudong ein sehr wichtiger Bestandteil des Jahreszyklus’. In der Republikzeit gab es viele Prozessionen in Pudong, die nicht nur unter der ansässigen Bevölkerung beliebt, sondern auch in den Nachbarregionen sehr bekannt waren. Erwähnenswert sind „die Versammlung der

1 Pudong (浦东) bedeutet wörtlich „östlich des Huangpu-Flusses“, während Puxi (浦西) für das Gebiet westlich des Huangpu-Flusses steht. „Pu“ ist die Abkürzung für den Huangpu-Fluss. Der heutige Stadtbezirk Pudong hat eine Fläche von ca. 1200 Quadratkilometern. 2 Tu, Shipin 屠诗聘 (Hg.), Shanghaishi daguan 上海市大观, II, 4-5. 3 Ibid., II, 41.

267 Blumen-Gottheit“ (花神会) vom Drachenkönig-Tempel (龙王庙) am 29. 3 (nach dem chinesischen Kalender), das Tempelfest des dritten Altherren (三老爷庙会) vom Shezhuang-Tempel (社庄庙) am 11. 3., das Tempelfest des Jadekönigs (玉皇大帝庙 会) vom Shunji-Kloster (顺济庵) am 28.3., das Buddha-Badfest (浴佛节庙会) vom Klein-Putuo (小普陀) am 8.4. und das Qinlian-Tempelfest (钦琏庙会) von der Halle des Herrn Qin (钦公祠)1 am 15. und 16. 4.2 Interessanterweise waren nach den mündlichen Überlieferungen die meisten verehrten Götter und Gottheiten berühmte Persönlichkeiten, die tatsächlich in Pudong gelebt und einen außergewöhnlichen Beitrag für die lokale Entwicklung geleistet haben sollen.3 Normalerweise fanden die Prozessionen im Frühling (um das Qingming-Fest herum am 5. April) statt. Vor der Prozession mussten die festgesetzten Daten im Namen des Gottes bekannt gemacht werden. Den Aktivisten sollten ein paar Anordnungen mitgeteilt werden, um die umfangreichen Vorbereitungen in Gang setzen zu können. Gleichzeitig konnten die einheimischen Bewohner in Pudong ihren Verwandten, Freunden und Bekannten eine Einladung zur Prozession schicken. Natürlich zogen solche feierlichen Veranstaltungen auch zahlreiche Geschäftsmänner, Straßenverkäufer, Schausteller, Straßenmusikanten und Bänkelsänger aus den Nachbarbezirken oder sogar den Nachbarprovinzen an.4 Ein oder zwei Tage vor der Prozession mussten sich die Aktivisten im Tempel melden. Der Gottheit wurden alkoholische Getränke und Lebensmittel als Opfer dargebracht. Die Musikanten fingen an, laute traditionelle Musik zu spielen. Und die Straßenverkäufer nutzten auch gerne die Gelegenheit, um Geschäfte zu machen.5 Die gesamte Prozession erreichte ihren Höhepunkt mit dem großangelegten feierlichen

1 Eine „Ci“ oder Halle ist ein Gebäude, das einem Ahnentempel ähnelt. In der chinesischen Geschichte konnte eine Ci sowohl privat als auch staatlich eingerichtet werden, um an die berühmten Persönlichkeiten zu errinnen. Eine Halle wird normalerweise nach einer Persönlichkeit oder einer Familie genannt, genau so hier "die Halle des Herrn Qin". 2 Pudong-lao-fengqing-bianweihui 《浦东老风情》编委会 (Hg.), Pudong lao fengqing 浦东老风情, 157. Obwohl viele Prozessionen und Tempel dokumentiert sind, bleiben die verehrten Gottheiten unbekannt. Einige der erwähnten Tempel sind lokalisiert in der Abbildung „Die Tempel und Polizeibezirke in Pudong“ im Anhang. 3 Ibid., 157. 4 Ibid., 157. 5 Ibid., 157-8.

268 Umzug. Am frühen Morgen des festgesetzten Tages sollten sich alle Aktivisten und Teilnehmer des Umzuges vor dem Tempel versammeln. Nach einem Kanonenschlag gingen alle Einheiten nacheinander los. Die Schaulustigen, die entlang der Straße standen, mussten sogar Holzbänke mitbringen, um den Umzug über die Schultern und Köpfe der anderen hinweg überhaupt sehen zu können.1

10.3. Die Prozessionen im Jahr 1919

10.3.1. Die Vorbereitungen der Tempelgemeinden

Im März 1919 bereiteten mehr als zehn Tempel in Pudong ihre Prozessionen vor. Allein in einer Kurzmeldung der Shenbao wurden folgende Tempel erwähnt: Shezhuang Tempel (社庄庙, umgangsprachlich auch als „die 360 Berufe“ 三百六十 行 bekannt2), Sanzhuang Tempel (三庄庙), Östlicher Tempel Qis (东戚家庙)1, Yus

1 Ibid., 158-9. Der Aufbau eines Umzugs in Pudong unterscheidet sich kaum von den üblichen Prozessionsumzügen in Südchina.. Vgl. die Beschreibungen im Kapitel „Einführung in die Prozession in China“. Eine typische Reihenfolge ist folgende: Die Eröffnungseinheit, die Statue (und die Sänfte) der Gottheit, die Dämonen, die Adels- und Drachen-Einheit, die Fahnen-Einheit, die Schmuckträger mit Kindern (抬阁), die Tanzgruppe, die Weihrauch-Gruppe, die Musikgruppe, die Kampfkunst-Einheit, die akrobatische Einheit, die geschmückten Stiere und Pferde und die „Häftlinge“ am Ende des Umzuges. Siehe Pudong-lao-fengqing-bianweihui 《浦东老风情》编委会 (Hg.), Pudong lao fengqing 浦东老风情, 158-163. 2 Der Shezhuang-Tempel ist in einem geschichtlichen Dokument aufgelistet. Siehe Chen, Shaoneng 陈少能 (Hg.), Shanghaishi pudong xinqu diming zhi 上海市浦东新区地名志, 690. Aber die Angabe ist ziemlich vage. Der Aufzeichnung zufolge wurde der Tempel Anfang der Qing-Dynastie gebaut. Der Tempel befand sich im Dorf Youyi (友谊村) der Gemeinde Jinqiao (金桥乡). Siehe auch Cao, Zhongxing 曹中兴, "Shezhuang yu shezhuang miao " 社庄与社庄庙, in: Tang Guoliang, 唐国良, Pudong lao diming 浦东老地名, 235-6: Der Tempel wurde dem sog. „dritten Gnade“ (三老爷) namens Jin geweiht. Er sei ein Fürst gewesen, der zu Lebzeiten alle handwerklichen Berufe in der Region unterstützt haben soll. Nach seinem Tod wurde er verehrt. Das Tempelfest soll jeweils am 10.3. und 15.10 (nach dem chinesischen Kalender) stattfinden. Im Tempel wurden auch seine Gattin und sein Sohn verehrt. Der heutige Shezhuang-Tempel befindet sich im Dorf Sanqiao (三桥村) in der Gemeinde Jinqiao (金桥镇). Er besteht eigentlich aus einem Zusammenschluss von drei Tempeln, nämlich dem Qijia-Tempel (戚家庙), dem Guanyin-Tempel Chens (陈家观音庙) und dem alten Shezhuang-Tempel. Es gab noch einen neuen Tempel namens Shezhuang in Shanghai, der sich im östlichen Teil Shanghais befand. Sein Anmeldeformular wird im Shanghaier Stadtarchiv aufbewahrt. Dem zufolge wurde der Tempel 1919 gebaut. Die Anschrift war Huade-Straße (华德路), nördlich der Gaolan-Brücke (高郎桥). Shanghaier Hauptarchiv, Q6-10-95. Verehrt wurde neben anderen Göttern auch die sog. „dritte Gattin“ (三太太), die angeblich die Ehrfrau des „dritten Gnades“ vom Shezhuang-Tempel in Pudong gewesen war. Der Shezhuang-Tempel in Pudong galt als der Muttertempel des neuen Shezhuang-Tempels. Deswegen wurde der neue Tempel nach dem Muttertempel benannt. Die dritte Gattin wurde als Leihgöttin angesehen. Die ursprünglich verehrten Götter wurden 1937 durch einen japanischen Luftangriff zerstört. Siehe Shanghaishi-yangpu-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市杨浦 区志编纂委员会 (Hg.), Yangpu quzhi 杨浦区志, 946. Der Gründer namens Li Shilin (李石林), der aus Pudong stammte, lieh die Göttin vermutlich aus seinem Heimatdorf.

269 Tempel (俞家庙)2, Wenxin Nonnenkloster (问心庵) und Datang Tempel (大堂庙). Der Anlass für die Prozessionen war angeblich, die Gottheiten um eine gute Ernte zu bitten. Die gesamten Ausgaben betrugen schätzungsweise 400.000 Yuan, 3 was umgerechnet den jährlichen Ausgaben von 2.000 lokalen Familien 4 oder dem Doppelten der jährlichen Ausgaben der Stadtregierung entsprach!5 Die großangelegten Vorbereitungen erregten unvermeidlich die Aufmerksamkeit der lokalen Regierung und Beamten. Ein Beamter namens Zen Yongkui (曾永奎, der Gemeindeleiter der 3. Gemeinde der Lanni-Furt 烂泥渡三区署长) bemerkte, dass sich die Bauern in jenem Jahr in dem Bezirk mit besonderem Aufwand auf die Prozessionen vorbereiteten, obwohl jedes Jahr zum Qingming-Fest Prozessionen durchgeführt wurden. 6 Ein führender Aktivist des Wujiating-Tempels (吴家厅) namens Gao A’hu (高阿虎) wurde sogar zur Polizei gerufen. Erst nachdem er garantiert hatte, die Prozession nicht weiter durchzuführen, wurde er gegen Kaution freigelassen, so berichtete die Zeitung. Über die Prozessionen wurde auch die lokale Polizei informiert. Ein Polizeibeamter namens Wang Jianwen (王简文, 洋泾三区二 分驻所警佐) erfuhr davon, dass sich allein in seinem Bezirk sieben Tempel auf die Prozessionen vorbereiteten. Er schickte deswegen zwei Polizisten (巡官史九经, 巡 长江世永) zu diesen Tempeln, um die bevorstehenden Prozessionen zu verbieten. Die Tempelaufseher und die Leiter der Aktivisten wurden anschließend zur Polizei

1 Der Tempel befand sich in der Shenjia-Gasse 4 (沈家弄) des Dorfes Jianzhuang (建庄村) in der Gemeinde Jinqiao (金桥乡). 2 Der Yujia-Tempel befand sich in der heutigen Yujia-Straße 69. Den Tempel soll bereits in der Hongzhi-Zeit (1488-1505) eine Familie namens Yu aus Dankbarkeit gegenüber einer Gottheit gebaut haben. 1923 wurde der Tempel ausgebaut, dessen Fläche ca. 4000 Quadratmeter betrug. Im Tempel wurden Guanyin und mehr als 100 weitere Gottheiten verehrt. 1951 wurde der Tempel von einer Mittelschule übernommen und 1956 schließlich geschlossen. Siehe Chen, Shaoneng 陈少能 (Hg.), Shanghaishi pudong xinqu diming zhi 上海市浦东新区地名志, 686. Vgl. Wang, Hongquan 王洪泉 (Hg.), Pudong jingu daguan- shanghai pudong kaifaqu 浦东今古大观——上海浦东开发区, 454-5. 3 Shenbao, 157-91(4). 4 Die durchschnittlichen Familienausgaben der Region lagen im Jahr 1933 bei ca. 200 yuan. Siehe Shanghaishi-difang-xiehui 上海市地方协会 (Hg.), Shanghaishi tongji: minguo ershier nian 上海市 统计:民国二十二年, 47, die Tabelle über die jährliche Verteilung der Ausgaben der 800 Bauerfamilien im Bezirk Luhang in Shanghai. Wenn man die Inflationsrate von 1919 bis 1933 einrechnet, müsste es um ein Vielfaches höher sein. 5 Die Ausgaben der Stadtregierung Shanghais im Jahr 1928 betrugen ca. 22.000 yuan. Siehe Ibid.,, Finanzierung 1, die Tabelle über die Ausgaben der Stadtregierung einschließlich aller Behörden (1928-31). Die Inflationsrate von 1919 bis 1928 wird wegen Quellenmangels nicht eingerechnet. 6 Shenbao, 157-251(4).

270 gerufen. Dort wurde ihnen befohlen, die Vorbereitungen der Prozessionen sofort abzubrechen. Sogar die lokalen Gemeindevertreter wurden für das Verbot der Prozession mobilisiert. Beispielsweise garantierte der Gemeindevertreter namens Ma Chuqiao, (图董马楚桥) Zhous Guanyin-Halle (周家观音堂) von der Prozession abzuraten.1 Aber dem Shezhuang Tempel, der an der Grenze zu Sanqiao (三桥) lag, war es schwer auszureden, weil er zahlreiche Anhänger hatte. Die Aktivistenleiter bereiteten die Prozessionen trotz aller Abmahnungen weiter vor. Am 15. März wurde der Tempelaufseher Ding Yuqing (丁裕卿) zur örtlichen Polizei gerufen. Aber er sagte, dass die Prozession nicht von ihm allein angeregt, sondern von den Bewohnern, die Anhänger des Buddhismus waren, veranstaltet wurde. Er allein könne die Prozession nicht ausfallen lassen. Der örtliche Polizist Wang befahl ihm, wieder in den Tempel zurückzukehren und den anderen die Prozession auszureden. Aber Ding sagte, dass er lieber in Haft bliebe.2 Die Prozessionen schienen sich nicht vermeiden zu lassen. Die lokalen Machthaber begriffen langsam, dass der Daotang Tempel der Familie Ju in Shiqiao3 (居家石桥之道堂庙, auch als Gao Tempel 高庙 bekannt) mit dem 2. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender das früheste Prozessionsdatum (die

1 Shenbao, 157-251(4). 2 Shenbao, 157-251(4). 3 Der Daotang-Tempel befand sich in der Daotang-Straße 8. Er wurde in der Tongzhi-Zeit (1862-1864) gebaut. Der alte Tempel befand sich am Fluss Huangpu und wurde 1860 im Zuge des Taiping-Aufstands zerstört. Die Anwohner spendeten Geld und bauten einen neuen Tempel, dessen Fläche 685 Quadratmeter betrug. Verehrt wurden mehrere Gottheiten. Jeweils am 21. des zweiten Monats, 1. des siebten Monats und 29. des neunten Monats (nach dem chinesischen Kalender) fanden im Tempel Festtage statt, in denen die Anhänger den Tempel besuchen, spenden und religiöse Schriften zitieren sollten. Sieben Tage vor und acht Tage nach dem Qingming-Fest war das Tempelfest, in dem eine Prozession des Stadtgottes durchgeführt werden sollte. Deshalb war der Tempel als der Stadtgotttempel in Pudong bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel der Tempel. Nach 1949 wurde er aufgegeben. Wang, Hongquan 王洪泉 (Hg.), Pudong jingu daguan- shanghai pudong kaifaqu 浦东今古大观——上海浦东开发区, 457-8. Nach der Aufzeichnung einer anderen Quelle hat es bereits vor der Qing-Dynastie am selben Ort einen Tempel gegeben, der im Jahr 1860 durch Krieg (vermutlich den Taiping-Aufstand) zerstört wurde. Der in der Tongzhi-Zeit neu gebaute Tempel hatte 18 Zimmer. Verehrt wurden der Stadtgott, der Gott des Reichtums (财神) und der alte Herr Yang (杨老 爷), der für die Unterwelt zuständig sein soll. Den Aufzeichnungen zufolge wurde die Prozession des Stadtgottes am Qingming-Fest bis ins Jahr 1948 hinein immer noch durchgeführt. Danach erlitt der Tempel wegen des erneut aufflammenden Bürgerkriegs seinen Untergang. Kurz vor 1949 gab es nur noch 2-3 angestellte taoistische Priester. 1958 während der Bewegung der Volkskommune (人民公社) wurde der Tempel letztendlich aufgegeben. Siehe Shanghaishi-chuanshaxian-xianzhi-bainxiu-weiyuanhui 上海市川沙县县志编修委员会 (Hg.), Chuansha xianzhi 川沙县志, 951.

271 sog. „Freilassung der Unterwelt am Qingming-Fest“, 清明节阴曹放假会) hatte. Wenn man diese Prozession verhindert, so dachten sie, könnten die anderen Prozessionen möglicherweise auch vereitelt werden. Aus dieser Überlegung heraus gab der Kreisvorsteher Shen (上海县沈知事) dem Polizisten Li (第六区李区员) den Befehl, diese Prozession auf jeden Fall zu stoppen. Außerdem wurde die Polizei besonders angewiesen, die Prozession des Dishui-Nonnenklosters (定水庵) (in dem der alte Herr Yang verehrt wurde) im Dorf Yangjing (洋泾镇) zu verbieten. Polizisten wurden sofort zu diesem Tempel geschickt und dort stationiert. Diese Tempelvereinigung wurde umgangsprachlich als die sog. „Gesellschaft für die Beendung der Ferientage der Unterwelt“ (阴曹收假会) bezeichnet. Die Anhänger glaubten, dass man krank würde, führte man keine Prozession durch, was bedeutet, dass die bösen Geister nicht wieder in die Unterwelt zurückkehrten. In den Jahren zuvor hatte die Polizei schon viele Male versucht, diese Prozession zu verbieten. Aber wegen der Überzahl der Prozessionsaktivisten waren die Versuche immer wieder gescheitert.1

10.3.2. Die Gegenmaßnahmen der Regierung

Die lokale Regierung hatte eigentlich schon Anfang März ein klares Zeichen gegen die Prozessionen gesetzt. Am 6. März erschien in der Zeitung eine Stellungnahme2, die im Namen des Kreisvorstehers von Shanghai Shen (上海县沈知事) und des Polizeikommandanten der Song-Hu Bereitschaftsregion ( 淞沪警察厅长) Xu Guoliang (徐国梁) gemeinsam herausgegeben wurde. Die beiden lokalen Beamten warnten davor, dass die Prozessionen - wenn die Anhänger Widerstand leisten sollten - von der Armee mit Gewalt unterdrückt werden würden, um diese üblen Volksbräuche zu beseitigen. Sogar der Stadtkommandant Shanghais Lu Yongxiang (淞沪护军使卢永祥)3 äußerte seine Übereinstimmung mit seinen beiden Kollegen.

1 Shenbao, 157-251(4). 2 Shenbao, 157-91(4). 3 Stadtkommandant war ein Militärtitel, der direkt vom Präsidenten ernannt wurde. Erst ab 1913 entstand dieses System. Er war v. a. für Militärangelegenheiten zuständig, konnte aber unter manchen Umständen auch für zivile Angelegenheiten zuständig sein. Der Stadtkommandant war der oberste Befehlshaber der örtlichen stationierten Armeen eines Wehrbereichs, z. B. einer Provinz oder einer

272 Die drei Beamten waren der gleichen Meinung, dass die Prozession ein schlechter Brauch der Bauern in Pudong sei, der schon seit langem aktenkundig verboten sei. Außerdem verstanden sie die Prozession als Aberglaube und reine Geldverschwendung, die gemeingefährlich seien und Ausschreitungen auslösen könnten. Nebenbei begründeten die Beamten das Verbot der Prozession damit, dass zu dieser Zeit Shanghai besonders auf Ordnung angewiesen sei, weil die Rückführung der deutschen Bürger gerade stattfand.1 Diese öffentliche Stellungnahme machte zum Schluss auch klar und deutlich, dass die Hauptveranstalter und –aktivisten verhaftet und gnadenlos bestraft werden würden. Die spitzen Formulierungen der Stellungnahme schreckten die Verantwortlichen offensichtlich nicht ab, die Prozession vorzubereiten. Am 24. März wiederholte der Polizeipräsident Xu das Verbot, weil die Prozessionsleiter „am Aberglauben festhielten“.2 Um die Prozessionen durchführen zu können, wollten sich einige Prozessionsleiter sogar den Strafbehörden stellen. Sie bereiteten die Umzüge und die Ausrüstungen, wie Fahnen, Sonnenschirme und Laternen, weiter vor. Unter diesen Umständen befahl der Polizeipräsident Xu dem dritten Polizeibezirk (第三区警署) noch einmal ganz drastisch, die Prozessionen unbedingt zu verbieten. Diejenigen, die dennoch gegen das Verbot handeln, sollten rigoros bestraft werden. Vier Tage später, am 27. März, traf der Kreisvorsteher eine neue Anordnung für die Beamten der Gemeinde Luhang (陆行乡).3 Das Song-Hu Polizeipräsidium berichtete,

Region. Shanghai stand unter dem Zuständigkeitsbereich der Song-Hu (Abkürzung für Songjiang und Shanghai) Wehrbereitschaftsregion, der zwei Divisionen (die 4. und 10. Division) in Songjiang und Shanghai zur Verfügung stehen sollten. Shanghai-jiu-zhengquan-jianzhi-zhi-bianzuan-weiyuanhui 《上 海旧政权建置志》编纂委员会 (Hg.), Shanghai jiu zhengquan jianzhi zhi 上海旧政权建置志, 53-54. 1 Nach dem Ersten Weltkrieg gründete die Peking-Regierung in Shanghai im Februar 1919 „das Büro für Rückführungsangelegenheiten von Auswanderern aus Feindesländern“ (遣送敌侨事务局). Der damalige Stadtkommandant Lu Yongxiang wurde als Leiter dieses Büros ernannt. Die Auswanderer aus Feindesländern, v. a. aus Deutschland, sollten zuerst aus den Provinzen Chinas nach Shanghai transportiert und anschließend zurück nach Europa heimgeschickt werden. Am 13. März und am 3. April wurden jeweils 1801 und 382 Auswanderer von diesem Büro per Schiff aus Shanghai abtransportiert. Siehe Shanghai-waishi-zhi-bianjishi 《上海外事志》编辑室 (Hg.), Shanghai waishi zhi 上海外事志, 224. 2 Shenbao, 157-385(3). Die Berichterstattung erklärte als Ziele der Prozessionen folgendes: die Bauern glaubten, dass angeblich dank der Hilfe der Gottheit die Dörfer in Pudong im vergangenen Herbst eine außergewöhnliche Ernte hatten. Deswegen müssten sie der Gottheit durch feierliche Prozessionen ihre Dankbarkeit zeigen. 3 Shenbao, 157-451(2).

273 dass nach Angabe des Polizisten Wang Jianwen ( 王简文, aus der zweiten Polizeiwache des dritten Polizeibezirks) die Anzahl der Prozessionen in Pudong in jenem Frühling im Vergleich zu vergangenen Jahren dramatisch gestiegen sei. Um die Prozessionen zu verhindern, übermittelte die örtliche Polizei dem Tempel das Verbot. Außerdem wurden Anschlagzettel verteilt. In der Anordnung waren die sieben Tempel aufgelistet, die in der Region regelmäßig Prozessionen durchführten: der Shezhuang-Tempel (社庄庙, umgangssprachlich auch als Sanbai-liushihang bekannt 三百六十行), der Tempel des Meerschutzherrn in Sanzhuang (护海公三庄庙), das Dingshui-Nonnenkloster(定水庵) 1, die Liugong-Halle (刘公祠)2, die Guanyin-Halle (观音堂) und der östliche Qiwang Tempel (东戚王庙). Nach Polizeiangaben bereiteten vier davon weiterhin die Prozessionen vor. Einige Prozessionsleiter hätten sich sogar versteckt und wollten nicht auftauchen, um dem Aufruf der Polizei auszuweichen. Die Polizei ging davon aus, dass es ziemlich schwer sein würde, alle zu verbieten, wenn in den vier Kreisen gleichzeitig Prozessionen stattfänden. Aus diesem Grund entschloss sich die Regierung, zwei negative Vorbilder auszusuchen und deren Prozession zu verbieten, um alle anderen einzuschüchtern. Ein Vorbild war der Shenzhuang-Tempel. Unter den oben erwähnten Tempeln hatte er wahrscheinlich die

1 Heute gibt es kaum schriftliche Quellen über das Dingshui Nonnenkloster. Was wir wissen ist, dass das Nonnenkloster von 1898 bis 1911 als eine Polizeiwache genutzt wurde. Das Nonnenkloster befand sich vermutlich in der heutigen Dingshui-Straße (定水路) in Pudong. Siehe Shanghaishi-huangpu-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市黄浦区志编纂委员会 (Hg.), Huangpu quzhi 黄浦区志, 996. 2 Vermutlich ist die Liugong-Halle mit dem Ligiong-Tempel (刘公庙) identisch. Der Liugong-Tempel befand sich in Wujiating (吴家厅) 41. Der Tempel wurde 1874 gebaut. Geweiht wurde er dem General Liumeng (刘孟), der angeblich Heuschrecken verjagen konnte und nach dem Untergang der Yuan-Dynastie Selbstmord begangen haben soll. Der Tempel war ca. 300 Quadratmeter groß. Neben dem General Liumeng wurden im Tempel auch Quanyin und Mazu verehrt. Die Tätigkeit des Tempels wurde 1964 eingestellt. Das Gebäude wurde in Wohnhäuser umgebaut und später abgerissen. Chen, Shaoneng 陈少能 (Hg.), Shanghaishi pudong xinqu diming zhi 上海市浦东新区地名志, 686. Vgl. Wang, Hongquan 王洪泉 (Hg.), Pudong jingu daguan- shanghai pudong kaifaqu 浦东今古大观—— 上海浦东开发区, 458. Nach dessen Angaben soll Anfang des 20.Jahrhunderts alljährlich eine Prozession gegen das Qingming-Fest stattgefunden haben. Ein Dokument über den Liugong-Tempel ist auch im Shanghaier Hauptarchiv aufbewahrt. Nach dessen Angaben befand sich der Tempel in Wujiating (吴家厅, Ortsname) 31. Der Tempel wurde 1881 durch eine Spende der Anhänger gebaut. Siehe Q6-18-353, „das Anmeldeformular des Liugong-Tempels“ (28. Feb. 1934). Es gab nur drei Mitarbeiter im Tempel: den Tempelaufseher Hu A’jin (胡阿金, 66 Jahre alt), den Wahrsager Ma Ziliang (马子良, 78 Jahre alt) und die Weihrauch-Aufsicht Shen A’kai (沈阿开, 29 Jahre alt).

274 größte Bekanntheit in der Region. Er lag ca. 5,5 Kilometer südöstlich der zweiten Polizeiwache des dritten Polizeibezirks (三区二分驻所) an der Grenze zu Nanhui (南 汇). Seine Tempelvereinigung bestand aus Mitgliedern und Prozessionsaktivisten aus vier Bezirken (Shanghai, Nanhui 南汇, Chusha 川沙 und Baoshan 宝山). Die örtliche Polizei war davon überzeugt, dass, wenn die Prozession am 11. des dritten Monats (nach dem chinesischen Kalender) durchgeführt werden würde, Kriminalität, wie Diebstahl und Raub, nicht verhindert werden könnte.1 Ein anderes negatives Vorbild war der Daotang-Tempel (道堂庙, in der Gemeinde Luhang 陆行乡), der sich im 6. Polizeibezirk ( 警察第六区域) befand. Er hatte das früheste Prozessionsdatum (2. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender, 3.April) im Jahr. Die Polizei war der Meinung, dass - wenn diese Prozession durchgeführt werden würde - die anderen es nachmachen würden. Deswegen mussten diese zwei Prozessionen, die größte und die früheste, unbedingt verboten werden.2 Die Umsetzung der Strategie verlief offensichtlich nicht reibungslos. Am 29. März druckte die Zeitung folgende Nachricht:3 Der Tempelaufseher Ding (丁某) vom Shezhuang-Tempel wurde auf Befehl des Polizeipräsidenten des dritten Polizeibezirks verhaftet und es wurde daraufhin angeordnet, die Prozession nicht weiter durchzuführen. Die Gentry dieses Bezirks kam zur Polizeiwache und bezahlte eine Kaution für Ding. Sie baten darum, die Prozession weiterhin durchführen zu dürfen! Und sie garantierten, dabei keinen Schaden anzurichten. Die Polizei ließ den Tempelaufseher letztendlich frei. Danach verdeutlichte Polizeipräsident Xu aber seine Stellung noch einmal: Trotz der Freilassung von Ding blieb die Prozession streng verboten. Sollte jemand gegen das Verbot handeln, würde Ding wieder verhaftet werden.

1 Einige Beamte der untersten lokalen Organisation waren auch mitverantwortlich für das Verbot der Prozession. Zum Beispiel auf der Ebene Tu (图), die kleinste Selbstverwaltungseinheit im ländlichen Gebiet, wurde der Tu-Vertreter (图董) als mitschuldig angesehen, wenn eine Prozession in seiner Tu stattfand. In unserem Beispiel, dem Shezhuang-Tempel, versprach der Tu-Vertreter namens Gu Mingji (顾名骥) im Jahr 1912 wegen Behinderung des Prozessionsverbots am Kreisamt, in seiner Tu niemals Prozessionen zu erlauben. Aber in der Praxis konnte er das Versprechen nicht einhalten. Siehe Shenbao, 157-451(2). 2 Shenbao, 157-451(2). 3 Shenbao, 157-467(4).

275 10.3.3. Die Prozession des Shezhuang-Tempels am 11. April

Am 9. April wurden Soldaten zum Shezhuang-Tempel geschickt, um die bevorstehende Prozession eventuell mit Gewalt zu verhindern. Die Anhänger und Aktivisten wurden langsam unruhig. Es entstanden viele Gerüchte. Die zwei Volksvertreter des Dorfes Yangjing (洋泾市经董刘潘二君), Herr Liu und Herr Pan, sahen die Situation und befürchteten, dass es zu einem Unglück kommen würde. Sie baten die Polizeibeamten Zeng und Wang des dritten Polizeibezirks (三区曾警正王警 佐), ihren Vorgesetzten darüber zu berichten. Am nächsten Tag wurde die Truppe zur Stationsstelle zurückgezogen. Daraufhin beruhigten sich die Anhänger und Aktivisten wieder.1 Um 6 Uhr am 11. April ging die Prozession los. Der feierliche Umzug sollte erst das Dorf Yangjing (洋泾) erreichen und anschließend kurz in der Qinciyang-Halle (钦赐 仰殿)2 anhalten. Danach kehrte der Umzug zurück zum Shezhuang-Tempel an der Grenze zwischen Chuansha (川沙) und Nanhui (南汇). Der Umzug bestand aus folgenden Einheiten: der Einheit der Abführung des Getreidegeldes (解粮会)3, der Fahnen und Schirm-Einheit, zehn Männern mit Schwert und Streitkolben (sog. „Reise nach Westen“ 西游记), der Tanzgruppe des sog. „Glücks der Bauernfamilien“ (农家 乐) mit Ackergeräten und frischem Gemüse in der Hand, der Gärtnergruppe mit Blumenkörben, der Taige-Einheit (抬阁), der Weihrauch-Einheit (托香), und der Gruppe aus Volksmusikanten und Dialekt-Oper, der Tanzgruppe der sog.

1 Shenbao, 157-710(6). 13. April, 1919. 2 Die Qinciyang-Halle oder der Qinciyang-Tempel ist ein bekanntes taoistisches Kloster in Pudong, dessen Geschichte bis in dieTang-Dynastie (618-907) zurückverfolgt werden kann. Die verehrte Hauptgottheit ist der Dongyue-Großkaiser (东岳大帝). Am 18. Mai 1930 wurde das Kloster von den Parteimitgliedern der Kuomintang zertrümmert. In den 80er Jahren wurde es renoviert und der taoistischen Vereinigung in Shanghai übergeben. Shanghai-tongzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海通志编 纂委员会 (Hg.), Shanghai tongzhi 上海通志, 1495-6. Der Tempel befindet sich heute in der Hausnummer 10 der Yuanshen Straße (源深路). Chen, Shaoneng 陈少能 (Hg.), Shanghaishi pudong xinqu diming zhi 上海市浦东新区地名志, 685. Eine andere Quelle dokumentiert, dass die Entstehungszeit des Tempels sogar auf die Zeit der drei Reiche (ca.208-280) zurückzuverfolgen ist. siehe Wang, Hongquan 王洪泉 (Hg.), Pudong jingu daguan- shanghai pudong kaifaqu 浦东今古大 观——上海浦东开发区, 456-7. Weil der Dongyue-Großkaiser eine hochrangige Position im chinesischen volksreligiösen Pantheon hat, fungiert der Qinciyang-Tempel quasi als ein Muttertempel oder Zentraltempel in Pudong. 3 Das ist eine alternative Form der üblichen Prozession in Shanghai. Siehe „die Prozession in Shanghai“, die alternativen Formen. Vermutlich wurde die Gottheit des Shenzhuang-Tempel als ein Untergeordneter des Dongyue-Großkaisers angesehen.

276 schwingenden Boote (荡河船) und „Lotus-Sänger“ (唱莲花).1 Der Versuch seitens der Regierung, diese Prozession zu verhindern, war offensichtlich gescheitert. Entlang der Prozessionsroute herrschte überall eine faszinierende, feierliche und festliche Stimmung. Die lokale Zeitung berichtete, dass die Prozession unzählige Männer und Frauen in der Gegend anlockte. Die Geschäfte und Läden, v. a. Teehäuser, Kneipen und Restaurants, in der Region profitierten immens an diesem Tag. Beispielweise verkaufte ein Imbiss namens Wanghesheng (王合盛点心店) im Dorf Yangjing (洋泾 镇) gut 5000 Dampfbrötchen. Die Stoffläden haben sogar ihren gesamten Bestand ausverkauft. Der wirtschaftliche Anreiz der Prozession war erheblich. Außerdem bot die Prozession auch eine Gelegenheit für Familientreffen. Die Hausfrauen mussten sich tagelang darum kümmern, die zur Prozession angereisten Verwandten zu empfangen. Der Autor des Zeitungsartikels beurteilte dies als wirtschaftlich beeinträchtigende Nebenwirkung der Prozession, weil die Hausfrauen an diesen Tagen ihrer Arbeit, z. B. dem Spinnen und Weben, nicht nachgehen konnten. Sogar die Fabriken in der Region wurden mangels Arbeitskräfte zeitweilig in ihrer Arbeit beeinträchtigt. „Gott sei Dank! So eine aufwendige Prozession findet nur alle paar Jahre statt!“, kommentierte der Autor.2 Die Situation am 11. April war relativ entspannt. Das von Polizei und Regierung befürchtete Durcheinander und Kriminalität traten glücklicherweise nicht ein. Der Reporter berichtete, dass an diesem Tag in der Region kaum Prügeleien zu sehen waren. Nur eine nebensächliche Episode dürfte die feierliche Stimmung etwas getrübt haben. Als der Prozessionszug am Qinciyang-Tempel vorbeikam, wurde das Torhaus des Tempels durch brennendes Papiergeld entzündet. Die berittene Polizei und Streifenpolizei waren jedoch schnell vor Ort. Die Polizisten, die vermutlich aus anderen Provinzen stammten, brüllten in unhöflicher und bedrohlicher Weise den Schaulustigen und Aktivisten entgegen, das Feuer sofort zu löschen. Wegen sprachlicher Verständigungsprobleme führte dies zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Aktivisten. Erst als der Polizeikapitän Li Jingzhai (李静

1 Shenbao, 157-710(6). 2 Shenbao, 157-710(6).

277 斋) eintraf, wurden die Missverständnisse geklärt. Das Feuer wurde schließlich gelöscht. Der Schaden war gering.1 Leider endete der feierliche Tag nicht zur Zufriedenheit aller. Am späten Abend hörte man eine schreckliche Nachricht, dass am Yangjing-Hafen (洋泾港) am Fluss Huangpu eine Fähre gesunken sei und mehrere Menschen ums Leben gekommen seien. Später wurde „die Tragödie“ aufgeklärt: Nach der Prozession wollten viele Schaulustige mit der Fähre2 in den westlichen Teil Shanghais zurückkehren. Als das Boot die Anlegebrücke des Youche-Hafens in Yangshupu (杨树浦油车码头) fast erreicht hatte, beeilten die Menschen sich, auszusteigen, sodass das Boot das Gleichgewicht verlor und umkippte. Glücklicherweise war das Boot schon am Flussufer. Das Wasser dort war nicht tief. Die Fahrgäste waren nur pitschnass geworden. Niemand wurde jedoch lebensgefährlich verletzt.3

10.3.4. Der Zwischenfall des Wujiating-Tempels am 14. April

10.3.4.1. Schüsse der Polizei

Die relativ ruhige Lage dauerte leider nur einen Tag. Der nächste Tag, der 12. April, war der festgesetzte Tag für die Prozession des Wujiating-Tempels (吴家厅). Der Polizeibeamte namens Zeng Yongkui (曾永奎警正) aus dem dritten Polizeibezirk hatte zuvor schon mehrmals das Verbot der Prozession proklamiert. Aber die Ankündigungen der Polizei schienen wirkungslos gewesen zu sein. An dem Vormittag fuhren der Polizeibeamte Zeng und der Polizeikapitän Du (aus der 4. Polizeistreifeneinheit 游巡四队杜队长) zusammen zum Tempel, um die Prozession zu verbieten. Zu der Zeit waren mehrere hundert Bauern, die Gongs und Fahnen hielten, auf dem Platz vor dem Tempel versammelt. Und trotz der Anwesenheit der Polizei versuchten sie, die Statue des Gottes4 gewaltsam aus dem Tempel zu tragen.5

1 Shenbao, 157-710(6). 2 Pudong ist ein Gebiet mit einem dichten Flussnetz. Die meisten Dörfer sind durch Wasserwege leicht erreichbar. 3 Shenbao, 157-710(6). 4 Diese Prozession wurde dem sog. „Königs des Mittelhimmels“ (中天王) gewidmet. 5 Shenbao, 157-727(3). 14. April, 1919.

278 Die Polizisten wollten die Prozessionsaktivisten aufhalten. Aber die Bauern leisteten den Anordnungen der Polizei nicht Folge. Die beiden Parteien gerieten schnell in Streit miteinander. Um die aufgeregten Bauern zu vertreiben, schoss ein Polizist einen Warnschuss in die Luft. Trotzdem waren die Aktivisten nicht eingeschüchtert. Sie verweigerten die Prozession abzubrechen und die Versammlung aufzulösen. Plötzlich schoss ein draufgängerischer Polizist zweimal in den Pulk von Menschen. Vier Aktivisten wurden getroffen und stürzten zu Boden. Obwohl der Polizeibeamte Zeng sofort befahl, das Feuer einzustellen, fingen die wütenden Bauern an, Steine und Ziegel auf die Polizisten zu werfen. Einige von ihnen wurden am Kopf getroffen. Der Polizeibeamte Zeng erlegte den anderen Polizisten auf, sich sofort zurückzuziehen.1 Die vier Verletzten wurden umgehend in Begleitung des örtlichen Volksvertreters Liu (刘经董) ins Krankenhaus des Roten Kreuzes in Shiliupu (十六铺) transportiert. Yang Jinsheng (杨金生), der in der sog. „Acht-Rote-Acht-Schwarze“-Einheit (八红八黑) war, war am Bein verletzt. Der Schaulustige Zhang Tangsheng (张唐生) und der dreizehnjährige Pan Maomao (潘毛毛) waren beide ebenfalls am Bein verletzt. Jiang A’er (江阿二), der Gong-Spieler, hatte eine Durchschusswunde im Oberschenkel und schwebte in Lebensgefahr.2 Kurz danach breitete sich ein Gerücht aus, dass die Prozessionsaktivisten die Polizeiwache stürmen wollten. Die örtliche Gentry trat persönlich auf, um die Bauern zu beruhigen. Sie garantierten sogar, dass diejenigen Polizisten, die geschossen hatten, gesetzmäßig verurteilt und bestraft werden würden. Sie verlangten aber auch, dass die Bauern umgehend nach Hause gehen und nicht mehr provozieren sollten. Daraufhin begaben sich die Aktivisten zurück in den Tempel und die Prozession wurde planmäßig fortgesetzt. Die Statue des Gottes wurde anschließend durch mehrere Dörfer in der Region (Yangjiadu 杨家渡, Tangqiao 塘桥 und Yangjing 洋泾) getragen, ohne jegliche Störungen der Polizei. Dann kehrte der Umzug zurück in den Tempel und löste sich auf.3

1 Shenbao, 157-727(3). 2 Shenbao, 157-727(3). 3 Shenbao, 157-727(3).

279 Nach der Behandlung im Krankenhaus stabilisierte sich der Zustand der vier Verletzten. Weil ein Geschoss in Zhang Tangshengs Bein geblieben war, konnte man nicht feststellen, aus welcher Pistole (oder welchem Gewehr) es abgefeuert worden war.1

10.3.4.2. Die Nachwirkungen

Nach dem Zwischenfall häuften sich die Nachrichten am nächsten Tag. Die Zeitung berichtete, dass die Prozession wie geplant mehrere Kilometer lang problemlos durch den gesamten Bezirk geführt geworden war. Gegen 2 Uhr in der Nacht, als der Umzug zurück in den Tempel eingelaufen war, habe dort eine Krisensitzung der Prozessionsaktivisten stattgefunden, um eine Lösung für den Konflikt zu finden. Sie einigten sich in den folgenden Punkten: (1) Die Religionsfreiheit stand klar und deutlich in der Verfassung. Jiang A´er und die anderen wurden wegen der Verehrung des Gottes angeschossen und verletzt. Falls einer von ihnen an der Verletzung stürbe, sollte Geld gesammelt werden, um eine Gedenkstatue für ihn zu errichten. Darüber hinaus sollten die Verstorbenen im Tempel verehrt werden. (2) Gleichzeitig wurde ein Vertreter ausgewählt, der beim Gerichtshof eine Anklage (gegen die Polizei) erheben sollte. Nach der Besprechung machten alle Teilnehmer einen Kotau vor dem Gott und sprachen einen Schwur aus. Dann verließen sie den Tempel.2 Die Angehörigen der vier Verletzten kamen am nächsten Tag (15. April) ins Krankenhaus, um sie zu besuchen. Der Zustand der vier Verletzten war schon relativ stabil. Auch Yang Jinsheng schwebte nicht mehr in Lebensgefahr. Das Geschoss hatte sein Bein durchschossen. Eine Kugel blieb in Jiang A´ers Bein. Er hatte viel Blut verloren. Deswegen musste er sich einige Tage ausruhen. Erst danach konnte eine Operation durchgeführt werden, um das Geschoss herauszuziehen.3 Welcher Polizist an dem Prozessionstag auf die Aktivisten geschossen hatte, war am nächsten Tag noch nicht feststellbar. Der Polizeipräsident Xu Guoliang hatte einen

1 Shenbao, 157-727(3). 2 Shenbao, 157-743(2). 15. April, 1919. 3 Shenbao, 157-743(2). Siehe auch Shenbao, 157-759(1). 16. April, 1919.

280 Sonderermittler nach Pudong geschickt, um den Zwischenfall geheim, aber gründlich zu untersuchen. Es wurde auch berichtet, dass nach dem Konflikt die Bauern ihren Ärger an dem Prozessionsleiter Gao A´hu (高阿虎) ausgelassen hätten. Dutzend Bauern seien in Gaos Haus gestürmt und hätten seine Möbel zertrümmert. Der Volksvertreter namens Liu Jieyun (刘颉云经董) sei dazu gekommen und habe versucht, die Bauern zu beruhigen. Er habe auch zusätzlich vier Personen zu den Bauern geschickt, um sie zu besänftigen. Seiner Meinung nach sollten die Bauern lieber ruhig auf eine friedliche Lösung warten und keine Provokationen hervorrufen.1 Der Stadtkommandant Lu (卢护军使) habe auch von dem Geschehen erfahren und einen Ermittler namens Lei Yingchun (稽查员雷应春) ernannt, um die Details zu untersuchen und danach darüber zu berichten. Außerdem habe er dem Song-Hu Polizeipräsidium (淞沪警察厅) befohlen, ihn über den Verlauf ausführlich zu informieren. Darüber hinaus hörte man, dass die Prozession des Xiaowang-Tempels (萧王庙) an der Grenze zwischen Shanghai und Baoshan (宝山) aufgrund von Regen verlegt werden würde.2 Der von der Prozession ausgelöste Zwischenfall erregte so viel Aufmerksamkeit des Publikums in Shanghai, dass die lokale Zeitung wochenlang die weitere Entwicklung und die Ermittlungen verfolgte. Am 16. April berichtete die Zeitung, dass die Bauern sich beruhigt hätten. Sie waren schon wieder zu ihrem normalen Lebensalltag zurückgekehrt. Das Polizeipräsidium habe angefangen, die Ursache des Unglückes herauszufinden.3 Am 17. April behauptete die Polizei, dass die Streifenpolizei des 3. Polizeibezirks an dem Tag nicht geschossen habe. Die Verletzungen von Jiang A’er u. a. seien von den dort stationierten Soldaten verursacht worden.4 Es blieb also rätselhaft, wer auf die Prozessionsaktivisten geschossen hatte. Die drei Verletzten, Yang Jinsheng, Pan Maomao und Zhang Tangsheng, waren drei Tage nach dem Zwischenfall wieder gesund und konnten das Krankenhaus verlassen. Nur die Geschosse in Jiang A’ers Bein waren noch nicht herausgenommen worden. Die

1 Shenbao, 157-743(2). 2 Shenbao, 157-743(2). 3 Shenbao, 157-759(1). 4 Shenbao, 157-775(1). 17. April, 1919.

281 Angehörigen der Verletzten gingen gemeinsam zur örtlichen Anklagebehörde (地检署) und baten um eine gründliche Ermittlung. Die Anklagebehörde schickte daraufhin den Staatsanwalt zum Krankenhaus. Nachdem die Art der Verletzung festgestellt worden sei, sollten die Ermittlungen sofort fortgesetzt werden.1 Am 17. April ergab sich eine subtile Entwicklung. Die Zeitung berichtete, dass die Schiedsmänner und die Gentry mittlerweile zwischen beiden Seiten geschlichtet hätten, so dass die Bauern keinen Prozess mehr anstrengten. Während der Prozession des Shezhuang-Tempels hätten die Bauern ihrerseits einen Polizisten namens Zhou Jisheng (周纪胜) verletzt. Die beiden Fälle sollten gegeneinander aufgewogen und keine weiteren Ermittlungen angestellt werden. Die Bauern gingen davon aus, dass ein Prozess sehr zeit- und geldaufwendig werden könnte und wollten nicht prozessieren.2 Es schien, als hätten die Bauern einen Kompromiss mit der Polizei geschlossen. Was die Verantwortung für den Zwischenfall anging, kam es auch zum Durchbruch. Die meisten Augenzeugen sagten aus, dass der Streifenpolizeikapitän Du Chengfu (杜 澄甫) auf die Aktivisten geschossen habe. Er habe es auch dem Volksvertreter Liu (刘 经董) gestanden.3 Die Zeitung berichtete auch über die Verwundungen. Die zwei Verletzten, Zhang und Pan hatten nur leichte Verletzungen. Yang Jinsheng war am Bein verletzt. Die Kugel in Jiang A’ers Bein war zerplatzt. Er hatte am Kopf, in den Rippen und in der Niere noch zehn andere kleine Wunden. Der Arzt wies darauf hin, dass die Bruchstücke des Geschosses wegen der an vielen Orten verteilten Verletzungen schwer herauszunehmen seien. Außerdem hatte Jiang A’er wegen der Verletzungen viel Blut verloren und hatte Fieber. Deswegen wurde die geplante Operation verschoben. Der Stadtkommandant und der Polizeipräsident hätten Ermittler ins Krankenhaus geschickt, um die Wahrheit herauszufinden.4 Wenige Tage später berichtete die Zeitung, dass die beiden Seiten inzwischen keine weiteren Maßnahmen ergriffen hätten. Nun wartete man auf die Genesung der

1 Shenbao, 157-775(1). 2 Shenbao, 157-791(2). 18.April, 1919. 3 Shenbao, 157-791(2). 4 Shenbao, 157-791(2).

282 Verletzten. Erst wenn sie wieder gesund seien, würde die Schlichtung weiter gehen. Zhang, Pan und Yang konnten binnen einer Woche das Krankenhaus verlassen. Einzig Jiang war immer noch sehr schwach. Am 20. April besuchten ihn seine Angehörigen. Aufgrund des Fiebers konnte die Operation zur Entfernung der drei Geschosse jedoch nicht durchgeführt werden.1

10.3.4.3. Die Schlichtung und der Kompromiss

Eine Woche nach dem Zwischenfall kamen mehrere Details ans Licht. Die Zeitung berichtete2, dass die Prozession des Wujiating-Tempels am 13. April stattfinden sollte. Einen Tag zuvor habe der Polizeibeamte Zeng (曾警正) einen Brief von einem Arzt namens Shen (沈医生) erhalten. Der Arzt habe berichtet, dass die Polizeiwache sowie die Schiedsmänner (经董) von jemandem überredet worden seien, die Prozession stillschweigend zu erlauben. Die Prozession würde auf jeden Fall stattfinden. Der Polizeibeamte Zeng sei erstaunt gewesen. Am nächsten Tag ging er mit dem Schiedsmann Liu Zhitao (经董刘志涛) und der Polizei zum Wujiating-Tempel, um die Prozession zu unterdrücken. Zu der Zeit sammelten sich die Aktivisten. Im Tempel gab es ungeheuer viele Menschen. Nach der Tradition sollte die Prozession mit dem Hauptgong (头锣) geleitet werden. Als erster musste der Hauptgongspieler losfahren, dann sollten die Aktivisten folgen. An dem Tag bekleidete Jiang A’er, ein Alteingesessener und Maschinenhandwerker, das Amt als Scharfrichter (刽子手). Der Hauptgonghalter wagte aufgrund der Polizei nicht, den Gong zu schlagen. Jiang ersetzte ihn und schlug den Gong, um den Umzug zu starten. Der Polizist neben ihm betrachtete ihn als einen Gesetzesbrecher, der gegen das Prozessionsverbot verstößt. Er brüllte ihn an und zeigte ihm die Pistole als Warnung. Jiang ließ sich jedoch nicht einschüchtern und der Polizist schoss ab. Dadurch wurden Jiang und die Anderen verletzt. Die Aktivisten waren sehr zornig, so dass sie die Polizisten überfielen. Glücklicherweise war der Schiedsmann Liu auch vor Ort. Er setzte alles daran, die Bauern von dem Überfall abzuhalten. Deswegen entstand nach dem Zwischenfall kein

1 Shenbao, 157-838(6). 21. April, 1919. 2 Shenbao, 157-854(4). 22. April, 1919.

283 Aufstand und Liu habe mit dem Polizeibeamten Zeng besprochen, die Prozession zu erlauben. Die Zeitung machte auch bekannt, dass nach der Besprechung zwischen der Polizei und der lokalen Gentry der Fall mit dem Verprügeln eines Polizisten ausgeglichen werden sollte. Die achte und auch die letzte Kurzmeldung brachte der Öffentlichkeit nichts Neues.1 Sie berichtete, dass Yang Jinsheng einen Tag zuvor das Krankenhaus verlassen habe. Die anderen drei Verletzten hatten sich schon erholt, mussten aber noch wenige Tage im Krankenhaus bleiben. Die lokale Gentry und die Schiedsmänner griffen in die Schlichtung ein. Als Folge kam es nicht zu einem Prozess. Nachdem Jiang das Krankenhaus verlassen habe, könne der Fall endlich zu einem Ende gebracht werden.

10.4. Die Prozession und der Zwischenfall im Jahr 1920

10.4.1. Das erneute Verbot

Am 27. März 1920 las man in der lokalen Zeitung eine Bekanntmachung des Polizeipräsidiums zum Verbot der Prozession2: Der Polizeipräsident Xu Guoliang ( 徐国梁) des Songhu-Polizeipräsidiums der Provinz Jiangsu gibt in Bezug auf das Verbot der Gottbegrüßungsprozession bekannt: Gottbegrüßungsprozessionen sind ein lokaler schlechter Brauch, deswegen sind sie seit langer Zeit strengstens aktenkundig verboten. Aber mit der Zeit wurde dieses Verbot nachlässig gehandhabt. Laut eines Gerüchtes bereiten ein paar dumme Menschen wieder Gottbegrüßungsprozessionen vor. Die Hauptveranstalter wollen nur unter allerlei Vorwänden Geld scheffeln und davon profitieren. Das Volk arbeitet das ganze Jahr hart und verdient wenig Geld. Warum wollt Ihr bereitwillig für dumm verkauft werden und das nützliche Geld für solche sinnlosen Sachen verschwenden? Außerdem ist unsere

1 Shenbao, 157-982(5). 30. April, 1919. 2 Shenbao, 163-491(2). „禁止迎神赛会之警厅布告“.

284 Stadt ein Handelshafen. Die Leute, die hier herkommen, sind verschieden. Falls eine Gottbegrüßungsprozession stattfände, würden sich einheimisches Gesindel und Kriminelle daran beteiligen und die Chance nutzen, Verbrechen zu begehen. Der Polizeipräsident ist dafür zuständig, die lokale öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten. Die aktenkundig gewordenen Fälle müssen wieder erwähnt werden, um das Verbot erneut klar auszudrücken, damit die öffentliche Sicherheit gewährleistet werden kann. Alle Polizisten sind ermächtigt, Prozessionen zu verbieten. Darüber hinaus wird das Verbot bekannt gemacht, das hoffentlich alle Bewohner beachten. Niemand darf eine Prozession veranstalten. Falls es zu Zuwiderhandlungen kommen sollte, wird der Hauptveranstalter sofort verhaftet und ohne Gnade bestraft. Leisten Sie auf jeden Fall dem Verbot Folge. Hiermit wird es bekannt gemacht. Die Formulierungen der Bekanntmachung waren wegen des Vorfalls im Jahr zuvor ziemlich drastisch. Aber man las in derselben Zeitung 1 , dass in Pudong die Vorbereitungen auf die Prozessionen trotz des erneuten Verbots in vollem Gang waren. Die Zeitung berichtete, dass der Polizeipräsident Hu am 30. März das an der Grenze von Shanghai und Nanhui liegende Dorf Sanlintang (三林塘) besuchte. Dort sollte am 3. April (15. 3. nach dem chinesischen Kalender) eine Prozession stattfinden, und am 6. April sollte die Prozession des Drachenkönig-Tempels (龙王庙) stattfinden. Darüber hinaus wollte das Dorf Beicai im Kreis Nanhui (南汇北蔡镇) am 4. und 5. April (16. und 17. nach dem chinesischen Kalender) eine Prozession durchführen. Die Tage seien schon festgesetzt gewesen. Die Prozessionen seien nicht zu verhindern gewesen. Allerdings waren Prozessionen seit langer Zeit ausdrücklich verboten und es habe zahlreiche Verbotspräzedenzfälle gegeben. Außerdem war es gerade die

1 Shenbao, 163-567(3). 31.März, 1920.

285 Keimungszeit des Getreides. Falls die Umzüge durch das Feld gingen, würde das Getreide unvermeidlich zertreten werden. Aus diesen Gründen wurden Prozessionen verboten, so der Polizeipräsident. Er befahl, die Polizei vom 3. Polizeibezirk dorthin zu schicken, um die Prozessionen zu verbieten. Den Kreisämtern der Kreise Shanghai und Nanhui (南汇) wurde das Verbot ebenfalls mitgeteilt, damit sie gemeinsam Prozessionen verbieten konnten.

10.4.2. Der Konflikt um die Zhangjialou-Kirche

Am 4. April (16. des zweiten Monats nach dem chinesischen Kalender) sammelten sich die Dorfbewohner und planten, eine Prozession für den Himmelsfürsten Zhao (照 天侯) in dem Qinciyang-Tempel (钦赐仰殿) in Pudong durchzuführen. Die Statue des Himmelsfürsten sollte in der Umgebung von Tangqiao (塘桥, eine Gemeinde am Fluss Huangpu in Pudong) getragen werden. Dort sollte ihm Opfer dargebracht werden. Die nahewohnenden Gläubigen brannten Weihrauch ab und machten Kotaus. Am 9. April (21. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender) sollte die Staute zurück in den Tempel getragen werden.1 Einen Tag vor der Prozession fuhren die Prozessionsaktivisten mit Fahnen und Gongs in den Tempel, brannten dort Weihrauch ab und beteten den Gott an.2 An dem Tag strömten die Gläubigen ununterbrochen in den Tempel. Um Mitternacht kamen die Aktivisten der sog. Zaoban-Vereinigung (皂班会), die sich in dem kommenden Prozessionsumzug als Büttel kleiden sollten, in bester Laune in den Tempel und verbrannten dort Weihrauch.3 Die Zeitung berichtete auch, dass die Prozessionen in dieser Region früher schon einmal zum Konflikt zwischen den Prozessionsaktivisten und den Katholiken geführt hatten. Der Bischof habe den Kreisvorsteher Shanghais (上海县知事) gebeten, der Prozession zu verbieten, an der Kirche vorbeizukommen. Während der vergangenen zehn Jahre hatten alle Prozessionen Umwege gemacht, sodass beide Seiten friedlich

1 Shenbao, 163-659(1). 5.April,1920. 2 Dies wurde als Zhuoxian (酌献) bezeichnet. 3 Shenbao, 163-659(1).

286 miteinander ausgekommen waren.1 Aber in dieser Nacht wollten einige junge und vorlaute Dorfbewohner an der Zhangjialou-Kirche (张家楼教堂)2 vorbeiziehen. Sie führten ein paar Leute an und wollten unbedingt provozieren und den Umzug durch die für die Prozession gesperrten Straßen führen. Die Katholiken wiederum wollten sie zurückhalten. Dies führte zum Konflikt beider Parteien. Das Dorfzentrum verfügte über eine Miliz (商团), die jede Nacht patrouillierte, um das Dorf vor Diebstahl und anderen kriminellen Handlungen zu schützten. Die Miliz sah den Konflikt und befürchtete ein Unglück. Deswegen versuchte sie, den Prozessionsteilnehmern auszureden, die Sperrzone zu verlassen. Aber die Prozessionsteilnehmer schenkten ihnen kein Gehör. Daraufhin nahm die Miliz zehn leitende Prozessionsteilnehmer (朱阿发, 汪顺荣, 陆小狗, 贾金生, 严阿四, 马 子?, 朱林海, 纪金生, 陆文林, 陆阿松) fest. Zusammen mit ihrer Ausrüstung, z. B. den Fahnen und den Gongs, wurden sie zu der 2. Polizeistation des 3. Polizeibezirks in Yangjing (洋泾三区二分驻所) abgeführt. Nach einer Kurzbefragung entschied der Polizeibeamte Wang ( 王警佐), die Festgenommenen am nächsten Morgen (4. April) zum Polizeihauptquartier zu schicken. Dort erwartete sie eine Vernehmung (讯办) und möglicherweise die dazugehörige Strafe.3 Am 4. April, ein Regentag, sammelten sich die Prozessionsaktivisten um 10 Uhr im Tempel. Die im Tempel stationierte Streifeneinheit konnte die Prozessionsaktivisten

1 Shenbao, 163-659(1). 2 Die Zhangjialou-Kirche ist auch als 张家楼耶稣圣心堂 bekannt. Die Kirche befand sich im Dorf Zhangjia in Pudong. Das Dorf ist das älteste katholische Dorf in Pudong. Bereits 1607 zog ein Katholik namens Zhang aus Beijing zusammen mit dem berühmten katholischen Intellektuellen Xu Guangqi (徐 光启) nach Shanghai. Zhangs Familie baute dort ein Haus. Das Dorf wurde nach ihrem Namen benannt. 1774 wurde dort eine Kapelle erbaut. 1843 wurde sie ausgebaut. Und die Kirche wurde nach dem italienischen Heiligen Ambrogio Camaldolese (chin. 圣盎博罗削) benannt. 1865 und 1886 wurde die Kirche zweimal ausgebaut, sodass in der Guangxu-Zeit (1875-1908) die Kirche ein Fassungsvermögen von 1000 Besuchern hatte. Die Gläubigenzahl im Jahr 1942 betrug ca. 1600. 1932 wurde eine Diözese in der Region errichtet. Die Zhangjialou-Kirche war die Hauptkirche des Bischofs. Die Kirche wurde 1999 im Zuge eines Umbaus abgerissen. Die neue Kirche wurde im Juni 2003 erbaut und befindet sich heute in der Hongfeng-Straße (红枫路) 151. Siehe: http://www.catholic-sh.org/article.asp?id=308&classid=7. Vgl. Gu, Bingquan 顾炳权 (Hg.), Shanghai pudong xinqu dimingzhi 上海浦东新区地名志, 326. 3 Shenbao, 163-659(1).

287 aufgrund ihrer Überzahl nicht zurückhalten. Die Statue wurde aus dem Tempel getragen. Der Prozessionszug nahm seinen Marsch in Richtung Tangqiao auf.1 Das gegenseitige Misstrauen sowie Missverständnisse zwischen der lokalen Kommunalreligion und dem Christentum, das in der Republikzeit unter öffentlicher Kritik stand, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits ein häufiger Anlass für einen Konflikt zwischen beiden Parteien gewesen.2 Deswegen war dieser Konflikt absehbar und berechenbar.

10.4.3. Der Kommentar in Shenbao

Am nächsten Tag tauchte ein Kommentar3 zur Prozession und zum Konflikt in Shenbao auf. Überraschenderweise übte der Kommentar keinen Druck auf die Prozessionsaktivisten aus, sondern stattdessen auf die Polizei. Der Autor kommentierte, dass die Bekanntmachung des Verbots der Prozession durch das Songhu-Polizeipräsidium und der Aktenvermerk zur Denkschrift von Wu Zhusheng (吴竹生)4 u. a. eine deutliche Einstellung (gegen die Prozessionen) artikuliert hätten. Sie sollten keine leeren Versprechungen bleiben. Aber der Qinciyang-Tempel habe wegen der Prozession am letzten Tag bereits einen Konflikt verursacht. Der Stadtgott-Inspektionsrundgang sollte angeblich an jenem Tag stattfinden. Der Autor fragte, warum ein imposantes Verbot gar keine Wirkung habe. Das Polizeipräsidium sei eigentlich für seine Autorität und Vertrauenswürdigkeit bekannt gewesen. Warum habe es diesmal zur Frage der Prozession seine Macht nicht ausgeschöpft? Der Autor

1 Shenbao, 163-659(1). 2 Wen, Qinhu 温钦虎, "Cong jindai jiao'an kan jidujiao he zhongguo shehui xisu de chongtu" 从近代 教案看基督教和中国社会习俗的冲突, in: 甘肃社会科学, Vol. 3, 2000, 47-48. Nach Meinung des Autors ging es bei dem Konflikt damals hauptsächlich um die Finanzierung der Prozession. Die Christen, die nach der Vereinbarung zwischen den lokalen Beamten und ausländischen Missionaren kein Geld für Tempelbau oder volksreligiöse Prozessionen bezahlen mussten, wurden von anderen Bewohnern als unerträglich angesehen. Natürlich versteckte sich das tiefere konfessionelle bzw. weltanschauliche Missverständnis und Missvertrauen zwischen den beiden Parteien hinten dem finanziellen Problem. Beispielsweise sahen die nichtchristlichen Bewohner das Kreuz als das Symbol des Unglückes an. Und umgekehrt betrachteten die Christen den Drachen, der in vielen Festen eines chinesischen Jahreszyklus’ üblicherweise anwesend war, als Gegner ihrer monotheistischen Religion. 3 Shenbao, 163-659(6). 4 Vermutlich hatte der Bürger Wu Zhusheng vor der Prozession der Polizei einen Brief geschrieben, um die Polizei über die bevorstehende Prozession zu benachrichtigen, damit die Polizei sie verbieten könne.

288 schrieb weiter: Egal welches Verbot, es sei immer leicht gewesen, es zu brechen und schwer, es einzuhalten. Wenn ein Verbot gebrochen wurde, sei es zudem rückgängig gemacht worden. Seit Anfang der Republikzeit war diese Prozession verboten. Hätte es keine Prozession am Zhongyuan-Fest des vergangenen Jahres gegeben, fände sie in diesem Jahr wohl auch nicht statt. Deswegen habe die Annullierung des Verbots nicht in diesem Jahr begonnen. In einem Bezirk, in dem sich das Polizeipräsidium befand, gab es noch Prozessionen, wie könnten die Prozessionen in den Nachbarbezirken verboten werden? Der Kommentar setzte ein klares Zeichen seitens der Presse, dass die Fahrlässigkeit der Polizei eine wichtige Ursache des Konfliktes war. Der staatlichen Macht v. a. der Polizei müsse die Schuld für den Konflikt gegeben werden.

10.5. Der Zwischenfall im Jahr 1935

Die Spannung im letzten Beispiel wurde hauptsächlich durch den Identitäts- und Glaubenskonflikt der unterschiedlichen Glaubensgruppen verursacht, während der Konflikt im folgenden Beispiel das typische Problem zwischen Einwanderergruppen darstellt. Das Yuantong-Kloster (圆通庵) befindet sich in der heutigen Yangjiadu-Straße (杨家 渡路) 215. Gebaut wurde das Kloster in der Qing-Dynastie. Es hatte ursprünglich nur drei Räume. Geweiht wurde es der Göttin Guanyin. Im Jahr 1920 fischten einige Bootsbewohner aus dem Fluss Huangpu angeblich ein Stück Kampferbaum (lat. Cinnamomum camphora). Aus diesem wurde anschließend eine Statue für General Zhangxun (张徇 oder 张巡) von Yangzhou in der Ming-Dynastie geschnitzt, der in der Qianlong-Zeit (1736-1795) der Qing-Dynastie zum Dutian-Großkaiser (都天大帝) 1 ernannt worden war. Deswegen wurde das Kloster auch als „Dutian-Tempel“ bezeichnet. Im Jahr 1921 wurde es zu einer Fläche von ca. 1000 m2 ausgebaut. Der Dutian-Großkaiser und mehr als zwanzig weitere Götter wurden dort

1 Der Dutian-Großkaiser ist ein sehr populärer Gott in der Jianghuai-Region. Aber zu seiner Funktion gab es große regionale Unterschiede. In einigen Provinzen wurde er als Wassergott verehrt, in anderen als Gott gegen Epidemien, manchmal auch als Untergeordneter der Dongyue-Großkaiser. Siehe Wang, Jinglin ; Xu Tao 王景琳,徐匋 (Hg.), Zhongguo minjian xinyang fengsu cidian 中国民间信仰风俗辞 典, 223-4.

289 verehrt. Der Tempel und seine Prozession waren bis Ende des Zweiten Weltkriegs sehr beliebt.1 Dem Zeitungsbericht2 in Shenbao zufolge hat die Besucherzahl der Prozession des Dutian-Tempels hunderttausend erreicht. Sogar die Fähren am Fluss Huangpu hätten zusätzliche Sonderfahrten einrichten müssen, um die Besucher nach Pudong überzusetzen. Aber anders als bei den anderen Prozessionen in Shanghai war die überwiegende Zahl der Teilnehmer dieser Prozession keine einheimischen Bewohner aus Pudong, sondern Einwanderer aus den Provinzen Hubei, Anhui3 und Zhejiang, z. B. Ningbo und Shaoxing. Deshalb waren in den vergangenen Jahren wegen der Prozessionen schon lang andauernde Streitigkeiten zwischen Einwanderergruppen entstanden, die ihre jeweiligen Prozessionen gleichzeitig veranstalteten. Am 4. April um 18 Uhr 30, als die zwei Drachen-Umzüge der Hubei-Bande (湖北帮) eine freie Fläche in der Nähe der Dongjia-Furt (董家渡) erreichten, trafen sie auf den Umzug der Ningbo-Bande (宁波帮). Das Zusammentreffen der zwei Gruppen führte sogleich zum Zusammenstoß, weil die Prozessionsteilnehmer ihr Gesicht in einer solchen Situation nicht verlieren wollten. Der Zusammenstoß entwickelte sich sofort zu einer Massenprügelei. Die Hubei-Bande war wegen der Teilnehmerzahl (ca. 200) und mehrerer Stöcke als Waffen im Vorteil, während die Ningbo-Bande zu diesem Zeitpunkt nur 80 anwesende Aktivisten hatte. Nach einem anfänglichen Handgemenge rief die Ningbo-Bande eine Verstärkung von ca. 100 Personen aus der Schiff-Bande (船帮)4. Damit hatten die zwei Parteien das Gleichgewicht erreicht. Erst nach ungefähr einer halben Stunde endete die Prügelei, als der Polizeikapitän der Tangqiao-Polizeiwache ( 塘桥警所) kam. Die Feuerwehr in Pudong schickte

1 Chen, Shaoneng 陈少能 (Hg.), Shanghaishi pudong xinqu diming zhi 上海市浦东新区地名志, 684-5. 2 Shenbao, 351-125(5). 3 Vermutlich hat dieses Phänomen mit den Hochwassern in den 20er Jahren zu tun. Nach den zwei Hochwassernin den Provinzen Jiangsu und Anhui jeweils im Jahr 1921 und 1931 waren zahlreiche Flüchtlinge in diese Gegend gekommen. Vor 1937 entstand in der Gegend ein Zentrum des Schiffbaus und des Binnenwassertransportes. Die Bewohner in der Gegend waren überwiegend Schwerarbeiter, die besonders an Götter und Gottheiten glaubten. Allein in diesem Viertel gab es mehr als zehn Tempel. Siehe Shanghaishi-huangpu-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市黄浦区志编纂委员会 (Hg.), Huangpu quzhi 黄浦区志, 97. 4 Vermutlich bestand die Schiff-Bande aus Matrosen und Hafenarbeitern aus den naheliegenden Häfen am Huangpu, die auch aus Ningbo und Umgebung stammten.

290 Feuerwehrautos und Rettungswagen, um die Verletzten zum Krankhaus abzutransportieren. Es gab insgesamt 27 Verletzte. Die drei Schwerverletzten aus der Ningbo-Bande wurden zur Notfallaufnahme des Shanghai-Krankhauses (上海医院) geschickt. Das Pudong-Krankenhaus (浦东医院) nahm insgesamt 24 Verletzte auf, sechs davon aus der Hubei-Bande und 18 aus der Ningbo-Bande. Die überwiegende Zahl der Verletzten waren Männer unter 30, davon auch mehrere Minderjährige. Nach Angaben des Zeitungsberichts waren die Prozessionen in der Region eine Art von Aberglauben. Aber der Autor war der Meinung, dass unter Berücksichtigung ihrer langjährigen Geschichte die Prozessionen nicht einfach verboten werden könnten. Nach dem Zwischenfall baten die lokalen Volksvertreter die Behörden, die Prozessionen ernsthaft zu verbieten oder neue „sinnvollere“ Veranstaltungen zu stiften, um potenzielle Zusammenstöße zu verhindern.1

10.6. Die Analyse: Die Polizei als Beispiel der Staatsmacht

In den oben erwähnten Konflikten, die von den Prozessionen hervorgerufen wurden, befand sich die Polizei ausnahmslos in einem Dilemma. Sie konnte das Verbot gegen die Prozession praktisch nicht durchsetzen, sodass die Prozessionen entweder mit gewalttätigen Zusammenstößen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen endeten, oder sie selbst in Konflikt mit den Prozessionsaktivisten geriet. Warum konnte die Polizei als das unmittelbar für das Prozessionsverbot verantwortliche Staatsorgan die Situation nicht unter Kontrolle bringen? Ob sie überhaupt in der Lage war, das gesetzliche Verbot gegen die Prozession unter den damaligen historischen Bedingungen durchzusetzen, bleibt unbeantwortet. In diesem Abschnitt versuche ich, dieser Frage dadurch nachzugehen, indem ich das Polizeisystem Shanghais in der Republikzeit und seine Fähigkeiten genauer analysiere. Die Polizei Shanghais war vor dem Zweiten Weltkrieg im Verhältnis zur explosionsartig wachsenden Bevölkerungszahl sehr gering mit Personal ausgestattet, d. h. sie hatte immer Personalmangel. Als im Jahr 1927 die Sonderstadt Shanghai (上

1 Shenbao, 351-125(5).

291 海特别市) gegründet wurde, gab es insgesamt 65 Polizeidienststellen (派出所) und 4.616 Polizeibeamte.1 1930 wurde Shanghai zu einer regierungsunmittelbaren Stadt (直辖市) erhoben. Das Polizeipräsidium wurde zum Polizeipräsidium Shanghais (上 海市公安局) umbenannt. Aber die Organisationsform und die Anzahl der Polizeibeamten blieben fast unverändert. Im November des Jahres gab es insgesamt 4.822 Polizeibeamte. 2 Vor dem Sino-japanischen Krieg stieg die Zahl der Polizeibeamten leicht an. Im Jahr 1937 betrug sie 5.785.3 Im gleichen Zeitraum stieg die Bevölkerungszahl in Shanghai von drei Millionen (1930) auf 3.77 Millionen (1937). 4 Das heißt, dass rechnerisch auf jeden der 650 Bewohner nur ein Polizeibeamter kam,5 zumal viele davon lediglich Büropersonal waren. Erst nach

1 Das Verwaltungsgebiet unter dem Namen Shanghai änderte sich vielmals in der Republikzeit. Dementsprechend wurden die Polizei und die Polizeibezirke auch mehrmals umgestellt. Im Jahr 1927 wurde die Sonderstadt Shanghai (上海特别市) gegründet. Und als eine Behörde der Stadtregierung wurde das Polizeipräsidium der Sonderstadt Shanghais (上海特别市公安局) im Juni desselben Jahres ins Leben gerufen. Den Vorschriften der Polizei gemäß wurden dem Polizeipräsidium Shanghais insgesamt sieben Polizeibezirke unterstellt. Siehe Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 62. Es gab eine Sektion namens “Gebräuche und Sittlichkeit” (正俗股) in der zweiten Abteilung des Polizeipräsidiums, die für die Prozession und andere religiöse Angelegenheiten zuständig sein sollte. Siehe Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 62, das Diagramm über „das Organisationssystem des Polizeipräsidiums der Sonderstadt Shanghai“ (上海特别市公安局组织系统图). 2 Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 63. 3 Ibid., 64. Während der japanischen Besatzung der Stadt (Juni 1937-August 1945) wurden die Polizei der französischen Konzession in Shanghai, die Polizei der öffentlichen Konzession und das Polizeipräsidium Shanghais (des chinesischen Stadtteils) zusammengelegt. Bis September übernahm die KMP-Regierung offiziell die Polizei in Shanghai, die schon eine Polizeibeamtenzahl von 11.000 hatte. Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员 会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 64. 4 Tu, Shipin 屠诗聘 (Hg.), Shanghaishi daguan 上海市大观, II, 7. 5 Um den Polizeimangel des damaligen Shanghai klar zu erkennen, führe ich eine Proportion ein, nämlich Bewohner/Polizeibeamte, d. h. wie viele Einwohner sich durchschnittlich einen Polizeibeamten „teilen“ müssen. Diese Zahl beträgt in den USA, Großbritannien, Frankreich und Japan jeweils 360, 405, 284 und 552. Das Verhältnis in den großen Städten ist deutlich höher: z. B. 150 (New York), 335 (London), 185 (Paris) und 328 (Tokio). Die durchschnittliche Zahl im heutigen Shanghai beträgt ca. 325.Yang, Weigen 杨维根, "Shanghai maixiang guojixing dachengshi jincheng zhongde jingwu tansuo" 上海迈向国际性大城市进程中的警务探索, in: 上海公安高等专科学校学报, Vol. 2, 1999, 6-7. In der Volksrepublik China gibt es heutzutage ca. 1.8 Millionen Polizeibeamte, umgerechnet „haben“ also ca. 770 Bürger einen Polizeibeamten. Zheng, Zhen 郑震, "Fanzui yali xiade jingli ziyuan buzu zhi tantao" 犯罪压力下的警力资源不足之探讨, in: 中国人民公安大学学报, Vol. 1, 2008, 69. Es gibt eine Theorie, die behauptet, dass wenn die Zahl der Polizeibeamten 0.2 % der Bevölkerungszahl (umgerechnet 500 Bewohner/Polizeibeamte) erreicht, es ideal für die Polizei wäre, ihre Pflicht zu erfüllen. Zheng, Zhen 郑震, "Fanzui yali xiade jingli ziyuan buzu zhi tantao" 犯罪压力 下的警力资源不足之探讨, in: 中国人民公安大学学报, Vol. 1, 2008, 67. Natürlich ist diese

292 dem Zweiten Weltkrieg fand ein schnelles Wachstum der Polizei statt. Im Jahr 1947 hatte das Polizeipräsidium Shanghais insgesamt 31 Polizeibezirke und mehr als 22.000 Polizeibeamte.1 Die Bevölkerungszahl betrug Ende Dezember 1946 ca. 3.3 Millionen.2 Darüber hinaus war die Polizei in der Republikzeit teilweise schlecht ausgebildet und koordiniert und deswegen nicht so einsatzfähig. Die Polizei bestand größtenteils aus halbprofessionellen „freiwilligen Polizisten“, 3 deren Funktion und Leistung nicht überschätzt werden sollten. Dies macht es verständlich, dass die in Shanghai stationierte Armee in vielen Fällen zur Durchsetzung des Prozessionsverbots abkommandiert wurde, weil die Polizei allein aufgrund ihres Personalmangels nicht in der Lage war, die Prozessionen mit Zwangsmitteln zu verhindern.4 Eine planvolle Unterbindung oder Niederschlagung von Prozessionen

Bedingung in der Praxis schwer zu erfüllen. Allerdings gelten 200 Bewohner/Polizeibeamte als Schwellenwert, der deutlich kennzeichnen kann, ob die Polizei effizient oder ineffizient arbeitet. Nehmen wir einige Städte als Beispiel zum Vergleich: London hat 28.000 Polizeibeamte und ca. 7.2 Millionen Einwohner, umgerechnet kommt also ein Polizeibeamter auf 257 Bewohner. Bayley, David H., "Comparative Organization of the Police in English-Speaking Countries", in: Crime and Justice, Vol. 15, 1992, 515. Hong Kong hat bei 7 Millionen Einwohnern insgesamt 32.000 Polizeibeamte einschließlich der 4750 Zivilbeamten. Umgerechnet kommt also ein Polizeibeamter 220 Bewohner. Siehe: http://www.police.gov.hk/hkp-home/english/org/index.htm (aufgerufen am 15.Sept. 2009). 1 Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 65. 2 Tu, Shipin 屠诗聘 (Hg.), Shanghaishi daguan 上海市大观, II, 7. 3 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zogen zahlreiche aus europäischen Ländern stammende Polizisten (der britischen und französischen Konzessionen in Shanghai) zurück in ihre jeweiligen Heimatländer, v. a. Großbritannien und Frankreich, um ihre Wehrpflicht zu erfüllen. Deshalb entstand eine Personallücke bei der Polizei in den Konzessionen in Shanghai. Um das Problem zu lösen, wurden im Mai 1918 zum ersten Mal sog. „freiwillige Polizisten“ (义务警察) rekrutiert. Diese Polizisten hatten die Verantwortung jede Woche dreimal einen dreistündigen Dienst zu machen. Das System wurde nach dem Krieg beibehalten. Bis April 1945 gab es nur insgesamt 330 „freiwillige Polizisten“. Im Dezember desselben Jahres wurde die Truppe der freiwilligen Polizei Shanghais (上海义务警察大 队) im Auftrag des Polizeipräsidiums Shanghais gegründet. In den Jahren kurz danach wurde die freiwillige Polizei viele Male aufgerüstet und boomartig vergrößert. Im Februar 1947 verfügte die freiwillige Polizei bereits über 1.000 Offiziere und 12.000 Polizisten. Trotz des rasanten Zuwachses und der großen Zahl der Polizisten kann die freiwillige Polizei nur als eine halbprofessionelle Ergänzung der Polizei verstanden werden. Grundsätzlich war sie nur die Hilfskraft der Polizei, d. h. sie durfte nicht allein Dienst haben, sondern musste zusammen mit der Polizei arbeiten. Außerdem verließen die freiwilligen Polizisten ihre ursprünglichen Berufe nicht. Deswegen mussten Einsatzzeit und –gebiet auch berücksichtigt werden, damit die Einsatzbereitschaft eingeschränkt und begrenzt werden konnte. Sie konnten lediglich die Verdächtigen zur Polizeiwache oder Dienststelle zu weiteren Verfahren führen, oder vor Ort kleine Streite beilegen. Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 86. Die Entstehung und der Bestand der freiwilligen Polizei stellt ein langjähriges Problem in Shanghai dar, nämlich einen Widerspruch zwischen der Nachfrage nach einem staatlichen Gewaltapparat und der tatsächlichen Leitung eines schwammigen Polizeisystems. Das ist nur unter den Bedingungen der schnellen Urbanisierung und gesellschaftlichen Umwälzung nachvollziehbar. 4 Die Armee zum Einsatz gegen die Prozessionen zu rufen, hat auch Nachteile. Weil die

293 durch polizeiliche Einsätze war unmöglich und deswegen kein Vorhaben der Regierung.1 Wenn wir unsere Betrachtung auf die Kreisebene beschränken, können wir klar aufzeigen, wie unfähig die Polizei in den jeweiligen Kreisen war. Beispielsweise blieb die Zahl der Polizeibeamten im Kreis Shanghai (上海县) von 1913 bis 1937 stabil bei ca. 200.2 Wenn diese 200 Polizeibeamten gleichmäßig in sechs Polizeibezirken aufgeteilt waren, gab es in jedem Polizeibezirk nur ca. 30 Polizeibeamte, die offensichtlich nicht in der Lage waren, den tausenden hochmotivierten Prozessionsteilnehmern entgegenzutreten. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Polizei im damaligen Shanghai ein staatlicher Gewaltapparat mit sehr geringer Einsatzfähigkeit gegen Massenaktionen und illegale Versammlungen war. Dies weist wiederum darauf hin, dass die Gesetze und Vorschriften gegen die Prozessionen unumsetzbar und unrealistisch waren. Die Gesetzgebung basierte nicht auf realistischen Überlegungen, sondern hauptsächlich auf einer vermeintlichen weltanschaulich-ideologischen Überlegenheit, ohne die Meinung der Prozessionsteilnehmer und die wirkliche Stärke der Staatsgewalt zu berücksichtigen. Folglich befand sich die Polizei unweigerlich in einem Dilemma: Als ein Teil des Staatsapparates musste sie entweder ihre Pflicht erfüllen, nämlich die Prozessionen gesetzmäßig verbieten. Aber sie verfügte kaum über effektive Zwangsmassnahmen, gesetzwidrige Versammlungen im öffentlichen Raum auflösen zu können, weil sich die Polizei meistens in einer quantitativen Unterlegenheit im Vergleich zu den Prozessionsteilnehmern befand. Die Polizei konnte andererseits aber auch aus realistischen Überlegungen heraus eine abwartende Haltung einnehmen, d. h.

überwiegenden Soldaten aus anderen Provinzen oder Regionen stammten, verstanden sie den Shanghai-Dialekt kaum. Dieses Problem konnte unter Umständen auch zu Missverständnissen führen, die eventuell Konflikte auslösen konnten, wie im Beispiel über die Prozession des Shezhuang-Tempels am 11. April 1919 angedeutet wurde. 1 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwei abhängige Sicherheits-Regimente unter dem Polizeipräsidium Shanghais gegründet, die in der Lage waren, Demonstrationen und „Zusammenrottungen“ mit Gewalt aufzulösen. Siehe Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 64-65. 2 Shanghaishi-shanghai-xianzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市上海县县志编纂委员会 (Hg.), Shanghai xianzhi 上海县志, 309.

294 die Prozession einfach stillschweigend erlauben und stattfinden lassen. Dies kann sehr überzeugend erklären, warum in vielen Fällen die Polizei nicht zum Einsatz kam, als die zuvor angekündigten Prozessionen tatsächlich stattfanden. Unter dem ersten Umstand wich sie von einer der ursprünglichen Intentionen des Prozessionsverbots ab, dass der Staat nur dann eingreifen sollte, wenn es notwendig war, um mögliche Konflikte zwischen den verschiedenen vertretenen Volksgruppen zu verhindern. Denn die Polizei stand manchmal nicht mehr auf der Regulierungsseite des Konflikts, sondern wurde selbst zu einer Partei darin, d. h. sie geriet unmittelbar in Konflikt mit einer Volksgruppe, nämlich den Prozessionsteilnehmern und –aktivisten. Der Volks-Volks-Konflikt, der zu vermeiden war, wandelte sich ungewollt und unabsehbar zu einem Volks-Staat-Konflikt. Kurzfristig gesehen waren die meisten Konflikte zwischen den Prozessionsteilnehmern und der Polizei bzw. Armee eigentlich vorher nicht erwartet oder geplant gewesen, weil die Polizei keine Gewissheit über das Verhalten der hoch motivierten Prozessionsteilnehmer hatte. Der Konflikt eskalierte durch die unerwartete emotionale Überreaktion eines einzelnen Polizisten spontan zu einer beinahe außer Kontrolle geratenen Situation, wie z. B. die Schüsse auf die Prozessionsteilnehmer aus dem Beispiel der Wujiating-Tempel-Prozession. Allerdings muss man einräumen, dass langfristig gesehen die Ursache des Volks-Staat-Konflikts sowohl im undurchsetzbaren Prozessionsverbot als auch in der willkürlichen Gesetzgebung lag. Oder anders formuliert: Die Tragödien, die von den Prozessionen ausgelöst worden waren, waren m. E. die Folge aus einer politischen Konstellation, in der es an Meinungsaustausch zwischen Staat und Volk sowie einer gegenseitigen Verständigung fehlte. Die Regierung und die lokalen Behörden hatten die patriarchalische Rolle des Staates nie aufgegeben. Eigenmächtige Entscheidungen wurden getroffen, ohne den Widerstand ihrer „Untertanen“ und die wirkliche Erfüllbarkeit des Verbots in Betracht zu ziehen. Andererseits wuchs die Gewaltbereitschaft der Prozessionsteilnehmer mit der Härte der Unterdrückung durch die Regierung. Ohne den Eingriff der Polizei wären die meisten Prozessionen problemlos verlaufen. Das Bewusstsein, dass die Prozession eine religiöse Veranstaltung sei und dementsprechend Religionsfreiheit genießen müsse, wurde den

295 Prozessionsaktivisten in der Republikzeit erst allmählich klar. Dennoch lassen sich viele Aktionen der Prozessionsteilnehmer, z. B. die Brandstiftung auf das Haus eines „Verräters“ oder die Provokation von Katholiken, damit natürlich nicht legitimieren.

10.7. Anhang

Abb. 25 Die Tempel und Polizeibezirke in Pudong

296

11. Die verbrannten Götter: die Prozession in Jiangwan

„Einen Tag vor dem ersten Mai wurde ich von meinen Freunden eingeladen, einen Ausflug nach Jiangwan zu machen, um die Prozession dort anzuschauen. Wir sind mit dem ersten Zug am frühen Nachmittag dorthin gefahren. Die Fahrgäste im Zug waren doppelt so viele wie normalerweise. Es war schwül und stank [im Zug]. Im Wagen herrschte ein großes Gedränge, als ob das ein Flüchtlingszug wäre. ... Nachdem der Zug im Bahnhof eingetroffen war, drängten sich die Menschen in das Dorf. Die Menschen im Dorf waren so viele, als ob ich gerade in einem Ameisenstaat stünde. ... Sie standen nebeneinander, so dass die Schultern sich aneinander scheuerten. Nichts unter den Schultern war zu sehen. Man sah nur tausend sich fortbewegende Köpfe. Das war wirklich ein unübersehbares Menschenmeer. Es herrschte ein lärmendes Stimmengewirr. ... Kurz nachdem die Uhr dreimal geschlagen hatte, kam endlich der Umzug.“1

Ein Leser namens Zhang Zhihen (张止痕) veröffentlichte einen Reisebericht über sein Prozessionserlebnis am 30. April 1927 in der Tageszeitung Shenbao. Man kann deutlich ablesen, dass sich das Dorf Jiangwan (江湾)2 am Tag der Prozession gänzlich im Ausnahmezustand befand. Aber die Prozession jenes Jahres galt auf keinen Fall als eine Ausnahme. Jedes Jahr sollte am 28. des dritten Monats (nach dem chinesischen Kalender) eine Prozession im Dorf Jiangwan durchgeführt werden. Sogar elf Sonderzüge mussten täglich eingesetzt werden, um die Schaulustigen der

1 Shenbao, 234-78(1). 2 Jiangwan war ein Dorf ca. 10 km nördlich vom heutigen Stadtzentrum Shanghais. Anfang der Republikzeit hatte das Dorf Jiangwan eine Fläche von 26.9 km2. Die Bevölkerungszahl betrug ca. Einhunderttausend. Siehe Qian, Gan 钱淦 (Hg.), Jiangwan lizhi 江湾里志, 2.

297 Prozession nach Jiangwan zu transportieren, so hatte die Tageszeitung Shanbao ein Jahr zuvor berichtet.1

11.1. Die drei Götter und der Dongyue-Tempel

Geweiht wurde die bekannte Prozession in Jiangwan den drei Göttern im Donghuang-Tempel. Nach mehreren Aufzeichnungen hat der Donghuang-Tempel (东 隍庙 oder 东王庙) eine Geschichte von mehr als 800 Jahren. Der Tempel wurde ursprünglich für Dongyue (东岳), den heiligen Berg Taishan (泰山), im Jahr 1127 (靖 康二年) gebaut. Hundert Jahre zuvor, in der Jingde-Zeit (景德, 1004-1007), war an demselben Ort ein alter Tempel für Drachen (古龙神庙) gewesen.2 Weil das Dorf Jiangwan fast an der Küste liegt, verehrten die Bewohner den Drachen, der angeblich für das Meer zuständig war, um durch das Meer verursachte Schäden zu verhindern.3 In der Republikzeit wurden hauptsächlich drei Götter im Tempel verehrt, nämlich Liu Ge (刘鞈), Liu Ziyu (刘子羽) und Liu Zihui (刘子翚). Der Erste soll angeblich der Vater und die zwei Letzteren seine Söhne sein. Liu Ge (1067-1127) wurde in der Jingkang-Zeit (靖康, 1126-1127) vom letzten Kaiser der Song-Dynastie als Gesandter zur tungusischen Jin-Dynastie (1125–1234) geschickt, um die Gebietsabtrennung in Nordchina mit der Jin-Herrschaft zu verhandeln. Der kompromisslose Beamte beging später Selbstmord, wahrscheinlich aus einem unerträglichen Schamgefühl und seiner Loyalität zur Song-Dynastie. Es wird berichtet, dass 80 Tage nach seinem Tod, am Tag seiner Beerdigung, sein Gesicht noch immer wie lebendig gewesen sei. Ein Offizier namens Han Zhongwu (韩忠武) diente damals gerade in der Armee in Jiangwan. Er hängte das Bild von Liu Ge im älteren Drachen-Tempel auf. Danach

1 Shenbao, 223-237(6). Jeder Sonderzug sollte nach der Angabe des Berichts eintausend Menschen transportieren. Umgerechnet reisten täglich allein mit dem Zug zehntausend nach Jiangwan. Siehe auch Shenbao, 223-307(2). 2 Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人 民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 124. Der Name „Jingde-Kloster“ wurde nach dem Baujahr eingeführt. 3 Ibid.124. Siehe auch Shanghaishi-yangpu-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市杨浦区志编纂委员会 (Hg.), Yangpu quzhi 杨浦区志, 950. Der Donghuang-Tempel ist auch als Jingde-Kloster (景德观) oder Dongyue-Hoflager (东岳行宫) in einer anderen Regionalbeschreibung dokumentiert.

298 fingen die lokalen Dorfbewohner an, Liu zu verehren und ihm Opfer darzubringen. In der Wanli-Zeit der Ming-Dynastie (万历, 1563-1620) wurde Liu Ge vom Kaiser zum Loyalität-beweisenden-Herzog (忠显王) ernannt. Am 28. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender war der alljährliche Gedenktag für die Lius. 1

11.2. Der feierliche Umzug

Am Tag der Prozession zündeten die Bewohner im Dorf vor ihrer Haustür Weihrauch an und warteten auf den Umzug. Der Umzug bestand normalerweise aus folgenden Einheiten: die Eröffnungseinheit mit Tamtams, die Einheit mit Fahnen und Regenschirm, die Einheit von Missetätern, die Musikanten. Bei dieser Prozession fiel besonders die sog. Weihrauch-Einheit (托香队) auf. Alle Mitglieder trugen weiße Strohhüte und Seidenkostüme. Aber ihre Kleider waren nicht zugeknöpft. Man sah sogar ihre nackten Oberkörper und die Drachen-Tätowierung am Oberarm. Hundert kleine Häkchen waren fest in der Haut des Oberarms verhakt. Unter den Häkchen hingen entweder Blumenkörbe oder Weihrauchfässer. Zwei andere Helfer mussten den Arm des blutenden Teilnehmers hochhalten. Danach folgten acht Reiter mit Säbel. Anschließend kam ein Drache, der so groß wie ein Tisch und dekoriert mit zahlreichen Schmuckstücken aus Gold oder Silber war. Dann kamen die Stelzenläufer, die Tanzgruppe, Taige (抬阁)2, Laternen und die Musiker. Am Ende des Umzuges kamen die Statuen der drei Götter. Der gesamte Durchzug des Umzugs dauerte zwei bis drei Stunden. Die Route begann am Donghuang-Tempel und endete am Kuhhirt-Tempel ( 牛郎庙) 3 . Nach dem Abendessen kehrte der Umzug vom

1 Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人 民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 132. Siehe auch Qian, Gan 钱淦 (Hg.), Jiangwan lizhi 江湾里志, 30. Shanghaishi-yangpu-quzhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市杨浦区志编纂 委员会 (Hg.), Yangpu quzhi 杨浦区志, 950. 2 Taige ist ein aus Bambus oder Holz gemachtes Schaugestell, das mit wertvollen Sachen, z.B. Schmuck, dekoriert werden musste. Ein Kind oder eine junge Frau sollte darauf stehen. Siehe das Kapitel „Einleitung in die Prozession“, Abschnitt Grundform und Aufbau einer Prozession. 3 Der Kuhhirt-Tempel war auch als Westtempel (西庙) bekannt. Er war ebenfalls Liu Ge geweiht. Der Tempel wurde Anfang der Yongzheng-Zeit (1722-1735) von einem Kuhhirten namens Ge erbaut. Im siebten Jahr der Tongzhi-Zeit (1862-1874) wurde der Tempel neu gebaut. Der Tempel ist wegen eines Bildes mit einem Kuhhirt und einer Weberin (牛郎织女), die im chinesischen Volksmund als Liebespaar bekannt waren, als Kuhhirt-Tempel bekannt. Siehe Qian, Gan 钱淦 (Hg.), Jiangwan lizhi 江湾里志, 35.

299 Kuhhirt-Tempel zum Donghuang-Tempel zurück.1 Am Prozessionstag fand auch gleichzeitig der Jahrmarkt im Dorf statt. Unzählige Bauern und Dorfbewohner aus der Nachbarschaft reisten nach Jianwan, um sich die Veranstaltung anzuschauen und auf dem Jahrmarkt einzukaufen.2 Liu Ge repräsentierte in der Prozession angeblich den Dongyue, denn der 28. des dritten Monats soll der Geburtstag des Dongyues sein. Die Dorfbewohner glaubten, dass die Prozessionen Epidemien vermieden und Glück brächten.3 Die Prozession zog so viele Schaulustige an, dass sie umgangssprachlich als „das Geschiebe Jiangwans“ (轧江湾) bezeichnet wurde. Nach einer Angabe der lokalen Zeitung haben jedes Jahr mehr als einhunderttausend Menschen an der Prozession teilgenommen.4 In der Republikzeit war ein Aufseher namens Zhang für den Tempel zuständig, und die 36 Familien, die in der Nähe des Tempels wohnten, engagierten sich sehr für die Prozession.5

11.3. Der Brandanschlag der Feuerwehr

Am 30. April 1935 (28. des dritten Monats nach dem chinesischen Kalender), als der Prozessionsumzug mit drei Holzstatuen der Götter auf dem Vorplatz des

1 Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人 民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 132-133. 2 Ibid., 133. Nach 1949 mussten die Prozessionen abgebrochen werden. Aber der Jahresmarkt wurde als „Versammlung zum Materialien-Austausch“ (物资交流会) umbenannt. Ibid, 133. Nach der Aufzeichnung einer anderen älteren Regionalbeschreibung ist die Prozession in Jiangwan die berühmteste in der Region und schon in der Kaiserzeit verboten gewesen. Aber das Verbot hat nie richtig funktioniert. Die Regionalbeschreibung bezeichnet die Prozession als „kultisch“. Siehe Qian, Gan 钱淦 (Hg.), Jiangwan lizhi 江湾里志, 27. 3 Die Dorfbewohner in Jiangwan behaupteten, dass Liu Ge einem Drachen ähnlich sähe. Qian, Gan 钱 淦 (Hg.), Jiangwan lizhi 江湾里志, 30-31. Durch diese Strategie wurde die Funktion vom Dongyue und der Drachenverehrung in Liu Ge wunderbar vereint. 4 Shenbao, 328-75(1)a. 5 Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人 民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 132. Diese Familien waren vermutlich die Hauptveranstalter und die Aktivisten der Prozession, obwohl die gesamte Dorfbevölkerung mit der Prozession einverstanden war. Man muss beachten, dass die Gemeinde hinsichtlich der Prozession auf keinen Fall eine homogene „Kongregation“ war. Bereitschaft und Engagement der Dorfbewohner dürften wohl sehr unterschiedlich gewesen sein. Die Aufsicht und die 36 Familien fungierten quasi als „die Kerngruppe“ der Prozession.

300 Kuhhirt-Tempels (牛郎庙) anhielt, tauchten gegen 21 Uhr plötzlich die Feuerwehr1 des Dorfes Jiangwan, angeführt vom Brandschutzdirektor Xu Liangzuo (许良佐) und Vizebrandschutzdirektor Cao Weishan (曹维善), auf. Sie hielten den Umzug auf und verhinderten, dass die Holzstatuen wieder in den Donghuang-Tempel zurückkehren konnten. Trotz der Anwesenheit der Polizei und der lokalen Sicherheitsmiliz (保卫团) standen sich die beiden Parteien bis in die tiefe Nacht unverrückt gegenüber. Die Feuerwehr rief sogar die Feuerwehrmänner aus den zwei Nachbarbezirken, Zhabei (闸北) und Wusong (吴淞), zur Verstärkung. Nachdem die lokale Polizei und die Sicherheitsmiliz den Schauplatz verlassen hatten, verbrannte die Feuerwehr schließlich gegen ein Uhr in der Nacht die drei Statuen auf dem Vorplatz des Kuhhirt-Tempels, um ihren Ärger loszuwerden.2 Ein Dorfbewohner namens Mao A’lang (毛阿郎) wurde von der Axt eines Feuerwehrmanns verletzt, als er versuchte, die Statuen aus dem Feuer zu retten.3 Die Feuerwehr war eigentlich nicht unmittelbar für eine öffentliche Veranstaltung wie eine Prozession verantwortlich. Warum die Feuerwehr des Dorfes Jiangwan am Abend der Prozession zum Einsatz kam, lässt sich mit keiner einzigen Feuerwehrvorschrift erklären. Eine Aufzeichnung in der Dorfbeschreibung verrät den Grund für den Feuerwehreinsatz: Die Veranstalter der Prozession bezahlten jedes Jahr den betreffenden lokalen Behörden Schmiergeld, um die Durchführung der Prozession inoffiziell erlaubt zu bekommen. Im Jahr 1935 hatten die Prozessionsveranstalter der lokalen Polizei und der Sicherheitsmiliz jeweils 30 yuan4

1 Vor der Republikzeit war die Feuerwehr in Shanghai zwar eine öffentliche, aber keine staatlich finanzierte Institution, d.h. die jeweilige Bezirksfeuerwehr wurde von den Gemeinden rekrutiert und angestellt. Aber nach der Gründung der Sonderstadt Shanghai (上海特别市) im Jahr 1916 übernahm der Staat allmählich die wirkliche Verwaltung der Feuerwehr in Shanghai. Ab Januar 1919 stand die Feuerwehr offiziell unter der Beaufsichtigung des Shanghaier Polizeipräsidiums (上海市警察局). Die Feuerwehr Jiangwans (江湾救火会) war eine der damaligen 22 Feuerwehrmannschaften in Shanghai. Siehe Shanghaishi-gong'anju-gong'an-shizhi-bianzuan-weiyuanhui 上海市公安局公安史志编纂委员 会 (Hg.), Shanghai gong'an zhi 上海公安志, 330-331. 2 Shenbao, 328-75(1)a. Siehe auch Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人民 政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 136. 3 Ibid. Siehe auch Shenbao, 328-75(1)a. Die Regionalbeschreibung hat das Datum des Falls fälschlicherweise als 1933 dokumentiert. Höchstwahrscheinlich ist es ein Schreibfehler. 4 Das erklärt auch die Anwesenheit der lokalen Polizei und Sicherheitsmiliz an diesem Abend. Aber es ist unwahrscheinlich, dass die Polizei und die Sicherheitsmiliz, wegen einer Prozession mit einer

301 gezahlt, während die Feuerwehr nur 20 yuan bekommen hatte. Die Feuerwehr sah es als eine Beleidigung an und wollte die Prozessionsteilnehmer bestrafen. 1 Die Glaubwürdigkeit der Aufzeichnung lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheint die einzige schlüssige Erklärung zu sein.

11.4. Das schwarze Armband und die Selbstrechtfertigung der Feuerwehr

Nach dem Konflikt baten die Dorfbewohner Jiangwans die Shanghaier Handelskammer (上海市商会)2 darum, das Geschehen vom 30. April gründlich zu ermitteln und dabei Gerechtigkeit walten zu lassen. Sie verlangten, dass die Feuerwehr die verbrannten Statuen wieder in den vorherigen Zustand bringen sollte. Außerdem hörten sie auf, die Feuerwehrgebühr zu zahlen. Die empörten Dorfbewohner trugen sogar gemeinsam ein schwarzes Armband, um ihre Verbitterung zum Ausdruck zu bringen. 3 Der verletzte Mao A’lang klagte beim lokalen Gerichtshof wegen Körperverletzung gegen die Feuerwehr. Unter solchem öffentlichen Druck beschloss die Feuerwehr aus dem Nachbarbezirk Zhabei (闸北区), die am Abend der Prozession als Verstärkung vor Ort gewesen war, über Entschädigung zu beraten. Gleichzeitig meldete die Feuerwehr des Dorfes Jiangwan

anderen staatlichen Macht, nämlich der Feuerwehr, in Konflikt geriet. 1 Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人 民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 136. 2 Die Shanghaier Handelskammer war eine Vereinigung der unterschiedlichen Gewerbe- und Handelsvereine in Shanghai, deren Vorgänger vor der Gründung der Republik (1912) schon existiert hatte. Die Shanghaier Handelskammer spielte eine führende Rolle in Shanghai in der Republikzeit, um nach der Gleichheit des Standes der Geschäftsmänner mit der Regierung zu streben. Die Mitglieder bestanden überwiegend aus Angehörigen von kleinen und mittelgroßen Betrieben, aber die Hauptvertreter der Handelskammer waren Angehörige von Großunternehmen und lokale Honoratioren, die sich sehr in politischen Angelegenheiten engagierten. Deswegen fungierte die Shanghaier Handelskammer als ein bedeutendes Gegengewicht zu Regierung und Partei. Ab 1927 versuchte die Kuomintang, die Shanghaier Handelskammer auf ihre politische Linie zu lenken. Im Juni 1930 als die Kuomintang-treue „Handelskammer der Sonderstadt Shanghai “ (上海特别市商会) gegründet wurde, wurde die Shanghaier Handelskammer tatsächlich ersetzt. Guo, Taifeng 郭太风, "Shanghai shanghui de sanci yanbian" 上海商会的三次演变, in: 世纪, Vol. 4, 2007, 30-33. Siehe auch Zhang, Fuji 张福 记, "Kangzhan qian nanjing guomin zhengfu yu shanghui guanxi" 抗战前南京国民政府与商会关系, in: 史林, Vol. 2, 2001, 82-84. Man kann sagen, dass die Shanghaier Handelskammer in den 30er Jahren eine Vereinigung mit wenig Selbständigkeit war. Trotzdem genoss die Handelskammer ein gewisses Ansehen, das bei der Schlichtung zwischen der Regierung und dem Volk wichtig gewesen sein könnte. Allerdings verfügte sie als eine nicht-staatliche Institution über keine Zwangsmittel gegen die Feuerwehr. Sie konnte höchstens moralische Vorwürfe gegen die unangemessene Aktion der Feuerwehr machen, von denen aber nichts in der Quelle zu lesen ist. 3 Shenbao, 328-75(1)a.

302 den Fall dem Polizeipräsidium Shanghais.1 Wenige Tage später veröffentlichte der Aufsichtsrat der Feuerwehr Jiangwans (江湾救 火会整理委员会) einen Ermittlungsbericht, um die Aktion der Feuerwehr zu verteidigen und zu legitimieren. Der Aufsichtsrat argumentierte, dass es das Ziel gewesen sei, durch das Verbrennen der Götter den Aberglauben des Volkes zu beseitigen. Sie sei praktisch durch das Gesetz dazu berechtigt. Allerdings wurde eingeräumt, dass die Feuerwehr auch einen Fehler gemacht habe, indem sie ohne die Genehmigung des Aufsichtsrates zum Einsatz gekommen war.2

11.5. Die Einmischung der Parteidirektion

Die Parteidirektion in Shanghai (上海市党部) 3 hatte vor der Prozession der Stadtregierung Shanghais zwei Mal die Anweisung gegeben, die Prozession zu verbieten. Die Anweisung wurde später in der Zeitung veröffentlicht. Darin bezog die Parteidirektion sehr deutlich Stellung gegen die Prozession. Ihrer Meinung nach war die Prozession ohne Frage eine Veranstaltung des Aberglaubens. Außerdem sprach sie von Verschwendung.4 Hier sieht man klar und deutlich, dass zwei übliche Argumente gegen die Prozession, nämlich das ideologische und das ökonomische Argument, erneut vorgebracht wurden. Aber dieses Mal begründete die Parteidirektion das Verbot der Prozession zusätzlich mit einer neuen, aktuellen politischen Kampagne, der sog. „Neues-Leben-Bewegung“ (新生活运动) 5. Die Parteidirektion behauptete, dass sie

1 Shenbao, 328-75(1)a. 2 Shenbao, 328-75(1)a. 3 „Die Partei“ bezieht sich im vorliegenden Kapitel auf die damalige regierende Nationalistische Partei Chinas (Kuomintang, 中国国民党). 4 Shenbao, 328-75(1)b. Parteidirektion verbietet die Prozessionen 市党部严禁迎神赛会. 5 Die „Neues-Leben-Bewegung“ (新生活运动) ist eine umfangreiche gesellschaftliche Umgestaltungskampagne, die im Februar 1934 von der Kuomintang (der Nationalistischen Partei Chinas) gestartet wurde. Die Bewegung setzte sich ein weitgestecktes Ziel, und zwar, dass die Lebensführung der chinesischen Bürger mit den traditionellen Tugenden verändert werden sollte. Das alltägliche Leben der Bürger sollte bis in die kleinsten Details geregelt werden, was jedoch teilweise nicht durchsetzbar war wegen der Umständlichkeit dieser Vorschriften. (Volks)Religiöse Veranstaltungen waren solch ein zu regulierender Bestandteil des alltäglichen Lebens des Volkes. Nach jenen Vorschriften sollten die „abergläubigen“ Tätigkeiten bestmöglich reduziert und sogar verhindert werden. Im vorliegenden Fall war die religiöse Gemeinde offensichtlich den öffentlichen Mächten, z.B. der Feuerwehr unterlegen. Nach dem Ausbruch des Sino-japanischen Krieges wurde die Kampagne tatsächlich eingestellt, aber erst im Jahre 1949 erklärte die KMT das offizielle Ende der Bewegung. Siehe Chou, Chen 仇晨, "Guomindang tongzhiqu de xinshenghuo yundong" 国民党统治区的新生活

303 schon zweimal an die Stadtregierung geschrieben habe, um die bevorstehenden Prozessionen sowohl in Jiangwan als auch in anderen Dörfern Shanghais zu verbieten. Sie betonte, dass die Sicherheits- und Kriminalitätslage im Mai besonders schwierig hätte sein können, wenn die Prozessionen tatsächlich stattgefunden hätten. Den Feuerwehreinsatz vom 30. April in Jiangwan beurteilte die Parteidirektion als „rechtzeitig“ und „gerecht“. Sie behauptete, dass einige Gemeinden in Zhabei gerade viele andere Prozessionen vorbereiteten. Ließe man solche Veranstaltungen zu, wären Sicherheitsrisiko und Schäden nicht kalkulierbar. Deswegen schlug die Parteidirektion Shanghais vor, die bevorstehenden Prozessionen zu verbieten. Falls jemand weiterhin Prozessionen veranstalten sollte, sollten die Hauptveranstalter umgehend verhaftet werden. Führe eine Prozession zum Konflikt, so hieß es weiter, hätten die Veranstalter die Verantwortung zu übernehmen und die Konsequenzen zu tragen, egal wer (tatsächlich) schuldig war. 1 Es wurde allmählich klar, dass die Partei den unerwarteten, von einer Prozession ausgelösten Konflikt in Jiangwan kurzfristig als ein negatives Beispiel ausnutzte, um die anderen bevorstehenden Prozessionen in Shanghai abzumahnen und abzuschrecken.2 Danach klagten die Prozessionsveranstalter gegen die lokale Feuerwehr vor Gericht. Aber angesichts der „Neues-Leben-Bewegung“ konnte der Gerichtshof kein Urteil gegen die Feuerwehr fällen.3

运动, in: 历史教学, Vol. 3, 1990, 15-17; Zuo, Yuhe 左玉河, "Lun Jiangjishi fadong de xinshenghuo yundong" 论蒋介石发动的新生活运动, in: 史学月刊, Vol. 4, 1990, 68-73; Guan, Zhigang ; Zhao Zhe 关志钢;赵哲, "Kangzhan baofa qian xinshenghuo yundong de shuailuo jiqi yuanyin tanxi" 抗战 爆发前新生活运动的衰落及其原因探析, in: 浙江学刊, Vol. 1, 1995, 108-110; Liu, Hong 刘红, "Jiang Jieshi fadong de xinshenghuo yundong" 蒋介石发动的新生活运动, in: 民国春秋, Vol. 6, 1996, 3-6 und Cao, Yi 曹艺, "Xinshenghuo yundong he guomin jingshen zongdongyuan lunxi" 新生 活运动和国民精神总动员论析, in: 民国档案, Vol. 2, 1999, 97-104. 1 Shenbao, 328-75(1)b. Parteidirektion verbietet die Prozessionen 市党部严禁迎神赛会. 2 Die Vermutung über die politische Positionierung der Parteidirektion könnte ziemlich weit gehen. Man könnte wegen Informationsmangel sogar vermuten, dass die Feuerwehr unter der geheimen Anweisung der Parteidirektion zum Einsatz gekommen sei. Allerdings lässt sich eine solche Verschwörungstheorie nicht belegen. Trotzdem darf man die psychologische Auswirkung der Vermutung auf die Betreffenden und die Öffentlichkeit nicht unterschätzen. 3 Shanghaishi-hongkouqu-jiangwanzhen-renmin-zhengfu-zhenzhi-bianxiezu 上海市虹口区江湾镇人 民政府《镇志》编写组 (Hg.), Jiangwan zhenzhi 江湾镇志, 136.

304 11.6. Fazit

Die Prozession in Jiangwan hatte sicherlich eine enorme ökonomische Wirkung auf das Dorf und die einheimischen Bewohner, in Anbetracht der Anziehungskraft dieser feierlichen Veranstaltung, vor allem des sensationellen Umzugs,. Allerdings lässt sich nicht beweisen, dass die Prozessionsaktivisten (der Aufseher und die 36 Familien als die „Kerngruppe“ der Prozession) unmittelbar davon profitierten.1 Deswegen gehe ich davon aus, dass der ökonomische Antrieb der Prozessionsveranstalter nur peripher und sekundär war. Ihre Bereitschaft und ihr Engagement lassen sich hauptsächlich mit der religiösen Vorstellung (besonders der über Liu Ge) und den Legenden erklären. Die Prozession wurde von den Anhängern und Gläubigen überwiegend als eine Gegenleistung an die Götter oder als ihre Anbetung wahrgenommen. Es ist schwer zu behaupten, dass die Kerngruppe der Prozession sich schon zu einer hoch-institutionalisierten Organisation entwickelt hatte. Sie war immer noch ein sehr locker vereinigter Freiwilligen-Bund, der nur zeitweilig zur Vorbereitung und Durchführung der Prozession aktiv wurde. Wahrscheinlich war die Hingabe der Organisatoren auch mit bestimmten Familientraditionen verbunden. Die Spannung rund um die Prozession in Jiangwan befindet sich m. E. grundsätzlich auf der Achse des Volk-Regierungs-Verhältnisses. Ohne gesetzliche Anerkennung war es für die Anhänger und Aktivisten der Prozession ziemlich schwierig, ihr Recht auf Prozession vor dem Staatsapparat zu begründen und zu beanspruchen, obwohl die Prozession eine jahrhundertlange Tradition der lokalen Gemeinde gewesen war. Aus der horizontalen Sicht ist eine Kluft zwischen der Prozessionspolitik der Regierung und den lokalen Gebräuche des Volkes deutlich zu beobachten. Regierung und Behörden hatten immer noch die patriarchalische Haltung genau wie früher in der Kaiserzeit, das Volk nur als ihre Untertanen zu behandeln. Das Verbot der Prozession wurde einfach in Kraft gesetzt, ohne die Meinung des Volkes zu berücksichtigen. Es

1 Die Finanzierung der Prozession in Jiangwan ist in den vorhandenen Quellen nicht genau dokumentiert. Die übliche Methode, dass Geld von Dorfbewohnern für die Finanzierung des Umzugs gesammelt wurde, ist nicht erwähnt. Vermutlich wurden die Kosten mehrheitlich von der Kerngruppe der Prozession übernommen oder durch die jährliche Einnahme des Dongyue-Tempels ausgeglichen.

305 fehlte jede Diskussion oder Debatte der Gesetzgebung. Aus vertikaler Sicht ist nicht zu vergessen, dass der Hauptgott der Prozession, Liu Ge, die alte Tugend (Loyalität gegenüber Kaiser, usw.) repräsentierte, die wichtig für die Herrschaft in der Kaiserzeit gewesen war. Aber in der Republikzeit stützte sich die Legitimierung des Staates nicht mehr auf solche Tugenden, die somit ihren ideologischen Boden verloren. Nun sah die aufklärerische Staatsmacht nur noch die „abergläubige“ Seite der Prozession, nämlich die Vermeidung natürlicher Katastrophen wie Epidemien durch „unsinnige“ Umzüge. Zudem wurden die „natürlichen“ Nachteile der Prozession betont, z. B. Sicherheitsrisiko und ökonomische Verschwendung. Ein Umbruch der politischen Transformation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist deutlich zu sehen. Eine riesige weltanschauliche, ideologische Mauer entstand zwischen dem Staat (Gesetzgeber) und dem Volk. Die willkürliche Gesetzgebung und das patriarchalische Staatsverständnis begünstigten die Entstehung von Korruption bezüglich der Prozession. Die Prozessionsveranstalter befanden sich in einem Dilemma: Sie mussten entweder das Verbot der Prozession akzeptieren oder eine „inoffizielle“ Lösung finden, nämlich die betreffenden lokalen Behörden und Beamten zu bestechen. Die inoffizielle Lösung konnte eventuell funktionieren, solange die unterschiedlichen Behörden der Staatsmacht Übereinstimmung erzielten. Aber wie unser Beispiel in Jiangwan zeigt, trug sie auch ein unvorhersehbares Risiko in sich.1 Jede staatliche Institution, sogar die Feuerwehr, konnte die Prozession im Namen der Staatsgewalt stören, unterdrücken oder unterbrechen, obwohl sie über kein direktes Vollstreckungsrecht verfügte. Nicht zu übersehen ist, dass sich die Partei, die als eine unübersehbare politische Macht hinter dem Machtspiel zu erkennen war, quasi als eine überstaatliche Macht Einfluss auf die Prozessionsangelegenheiten, ja eigentlich auf alles, hatte. Die lokale Parteidirektion hatte die Funktion, das Staatsorgan, z.B. die Polizei und Staatsanwalt, zu beaufsichtigen und die Maßnahmen gegen Prozessionen zu koordinieren. Aber in Wirklichkeit richtete die Parteidirektion ihre Macht nur auf das

1 Die Bestechung erhöht auch die Kosten der Prozession, die wiederum als eine Verschwendung verstanden werden kann.

306 zu regulierende Volk, nämlich die Prozessionsveranstalter und –Aktivisten. Wenn wir unsere Blickrichtung zu den Prozessionsveranstaltern und –Aktivisten wechseln, sehen wir deutlich, dass der Zwischenfall in Jiangwan zu einer für sie inakzeptablen Konsequenz führte. Das Ansehen und die Bedeutung der Götter und Tempel hatten durch die absichtliche Beleidigung der Feuerwehr einen untilgbaren Verlust erlitten. In dieser Situation der Benachteiligung und Ausweglosigkeit waren die Prozessionsaktivisten gezwungen, einen verzweifelten Versuch zu unternehmen, nämlich die Prozession mit aller Entschlossenheit und sogar Gewalt durchzuführen, ohne die lokalen Behörden zu benachrichtigen oder die Genehmigung einzuholen. Dies würde wiederum sicherlich das Sicherheitsrisiko und die Unberechenbarkeit der Prozession erhöhen, was die lokalen Behörden auch nicht sehen wollten. Wenn Prozessionen ein gewisses Gewaltpotential in sich tragen, so ist dies nur mit den in diesem Fallbeispiel gezeigten politischen Bedingungen nachvollziehbar.

307

12. Schlussfolgerung

In diesem Kapitel werde ich versuchen, die zwei Teile der vorliegenden Arbeit, nämlich den theoretischen Teil über die Zivilgesellschaftstheorie und den empirischen Teil über die Gottbegrüßungsprozessionen in Shanghai, zusammenzuführen. So sollen die zu Beginn der Arbeit aufgeworfenen Fragen systematisch beantwortet und einige Schlussfolgerungen sowohl zur Prozession an sich als auch zur chinesischen Gesellschaft im Spiegel der Zivilgesellschaftstheorie gezogen werden.

12.1. Die Prozession: Die Beteiligten und Organisationen

Die im Hauptteil vorgenommenen Beschreibungen der unterschiedlichen Prozessionen und die Analysen in Bezug auf die Beteiligten verfolgten den Zweck, die Organisationsform bzw. Machtstruktur der Prozessionen darzulegen und damit über deren in Katzs Studie nur oberflächliche Behandlung hinauszugehen. Die an den Prozessionen in Shanghai während der Republikzeit beteiligten Personen waren infolge Quellenmangels schwer als einzelne Individuen zu identifizieren. Es ist jedoch festzuhalten, dass sie auf keinen Fall eine unausdifferenzierte oder homogene Einheit bildeten. Die Motivationen und Interessen der Beteiligten waren so unterschiedlich und vielfältig, dass sie sich nicht auf ein vereinheitlichtes Ganzes reduzieren lassen. Auf der Grundlage der sorgfältigen Untersuchung und Analyse der historischen Fallbeispiele können die Beteiligten der Prozessionen grob in drei Gruppen eingeteilt werden.

12.1.1. Die Schaulustigen

Je nach Verbindlichkeit und Engagement in Bezug auf die Prozession zeigen die gesamten Beteiligten ein großes Spektrum auf. Am weitest entfernten Ende des Spektrums steht die Gruppe der Schaulustigen. Sie sind in den historischen Aufzeichnungen meistens namenlos und unbekannt geblieben. Bei der Vorbereitung

308 oder Durchführung der Prozessionen übernahmen sie fast keine Pflichten. Sie tauchten nur auf, wenn eine Prozession stattfand, um sich die feierlichen Umzüge anzuschauen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass es unter ihnen auch viele Gläubige und Anhänger der jeweiligen Gottheiten gegeben hat. Für die nichtgläubigen Schaulustigen war eine Prozession nichts Anderes als ein Fest oder eine festliche Veranstaltung eines Jahres, die nicht zu verpassen war. Sie bewegten sich innerhalb der Massen und waren deswegen nicht leicht rational kalkulierbar. Zwar bildeten sie einerseits die Basis für die Popularität einer Prozession, erhöhten aber andererseits gleichzeitig das öffentliche Sicherheitsrisiko. Die präzise Anzahl der anwesenden Schaulustigen war vor und nach einer Prozession schwer zu schätzen. Die kurzfristigen Wanderungen und die Unkalkulierbarkeit der Schaulustigen brachten oft Probleme für das öffentliche Verkehrssystem und für die Sicherheitsvorkehrungen mit sich. Im Falle von Unfällen oder Unglücksfällen während der Prozessionen, z. B. Massenpanik und Kriminalität, konnten sie zu Opfern werden. Nicht zu vergessen ist, dass der Konsum der Schlaulustigen innerhalb der wenigen Tage der Prozession den lokalen Geschäften und Läden einen unüberschaubaren Gewinn für das ganze Jahr bringen konnte. Allerdings stand diese Gruppe, die quasi im Hintergrund der Prozession blieb, nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit.

12.1.2. Die Aktivisten bzw. Aktivistenverbände

Am anderen Ende des Spektrums der Prozessionsbeteiligten stehen die Aktivisten bzw. Aktivistenverbände. Diese Gruppe bestand aus den unersetzlichen Kernbeteiligten der Prozessionen. Sie waren deren Hauptveranstalter. Das bedeutet, dass sie fast alle Vorbereitungsarbeiten übernehmen und volle Verantwortung für die Prozession tragen mussten. Sie zeigten das höchste Engagement und die höchste Bereitschaft, an den Prozessionen teilzunehmen, besonders in Notlagen und Krisensituationen, z. B. bei Unterdrückung und Verbot durch die Regierung. Ohne die Aktivisten wären die Prozessionen undenkbar gewesen. Deswegen müssen wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf sie richten.

309 12.1.2.1. Die Charakteristika der Aktivisten

In den historischen Fallbeispielen sind einige Charakteristika der Aktivisten deutlich zu erkennen: 1) Fast alle Aktivisten waren Laien. Das heißt, dass sie neben ihrer Tätigkeit im Zusammenhang mit der Prozession ihre Berufe und ihre Arbeit hatten, z. B. als Bauer, Handwerker und Angestellte. Unter ihnen war jedoch keine spezifische Neigung zu bestimmten Berufen oder Ständen zu beobachten. Möglicherweise durchdrangen die Aktivisten alle Schichten, Berufe und Stände der damaligen chinesischen Gesellschaft. Sie lebten nicht von den Prozessionen. Oder anders formuliert: die Partizipation der Aktivisten an einer Prozession diente nicht unmittelbar dem Zweck, ökonomischen Gewinn zu erzielen, sondern eher, ihren Glauben auszuüben oder ihr Ansehen bzw. Prestige in der Gemeinde zu erhöhen.1 2) Die Frage, inwiefern die Aktivisten Assoziationen (Verein, Vereinigung und Organisation) gründeten, muss m. E. differenziert beantwortet werden. Sie hatten während der Republikzeit normalerweise eine sehr laxe und nur verschwommen erkennbare Organisation, deren Mitgliedschaft auf gegenseitiger Bekanntschaft und Solidarität basierte.2 Ihre Arbeitsteilung war unklar. Wer die Hauptveranstalter und Zuständigen waren, war ebenfalls unklar, zumindest von außen betrachtet.

1 Normalerweise wurden die „taoistischen Priester“, besonders die der Zhengyi-Richtung (正一) in der Umgebung Shanghais, von den Aktivisten als „Ritualexperten“ für die Tempel und Prozessionen beauftragt und angestellt. Sie hatten sehr geringe Mitbestimmungs- und Mitspracherechte bei den Tempel- bzw. Prozessionsangelegenheiten. Viele sog. „Laien-Priester“ (伙居道士) waren im Grunde genommen nebenberuflich: Sie lebten nicht fest in einem Tempel oder Kloster, sondern im eigenen Zuhause. Sie hatten meistens ihre normalen Berufe oder ihre Arbeit. Sie erfüllten gelegentlich die Aufgaben als Ritualexperten, z. B. bei Beerdigungszeremonien religiöse Texte zu zitieren und spezifische Musik zu spielen. Sie nahmen nur zu bestimmten Zeiten oder während einer bestimmten „Saison“, wie am Qingming-Fest und nach der Herbsternte, aktiv an den Prozessionen der Region teil. Dafür wurden sie bezahlt. Allerdings war es auch ganz normal, dass viele Prozessionen ohne die Priester stattfanden, wenn die Laien-Aktivisten alle Aufgaben selbst erfüllen konnten. Das bedeutet, dass die Rolle der sog. „taoistischen Priester“ bei einer Prozession ersetzbar war. Natürlich brauchten die „Priester“ vorher eine Art von Ausbildung, die sie normalerweise von den älteren bzw. erfahrenen „Priestern“ erhielten. Aber Form und Länge der Ausbildung waren in der Tat doch sehr beliebig und unterschiedlich. Die Grenze zwischen Laien und Priester war sehr vage. Interessanterweise stammten die meisten Zhengyi-Priester in Shanghai während der Republikzeit nicht direkt aus Shanghai, sondern aus einigen bestimmten Regionen der anderen Provinzen, z. B. Subei (苏北) und Jiangxi (江西). Sie schlossen sich in einer Art Berufsverein je nach ihrer Herkunft zusammen. Dementsprechend verteilten sie auch ihre „Geschäftsbereiche“ in Shanghai. 2 Im Hinblick auf die Organisationsstruktur galt wohl der Aufsichtsrat des Stadtgotttempels in Shanghai als eine Ausnahme.

310 Schriftliche Vereinbarungen oder eine Satzung für die Prozessionen gab es nur selten. Vielleicht hing dies mit dem Charakter der Prozession zusammen: Eine Prozession war lediglich eine kurzzeitige Veranstaltung, die zu einer bestimmten Zeit des Jahres stattfand. Die Aktivisten brauchten nicht unbedingt eine ständige Organisation. Stattdessen versammelten sie sich nur wenige Tage vor dem für die Prozession festgesetzten Tag, um die Vorbereitungen zu treffen. Nach der Prozession lösten sie sich wieder auf. Wenn eine Art von Organisation zur Prozession überhaupt existierte, war sie höchstwahrscheinlich nicht von Dauer, aber jahreszeitlich bzw. jährlich zyklisch. Ein solcher Rhythmus für die Versammlung aller Aktivisten macht es schwer, von einer vollständigen Mitgliedschaft im Sinne moderner Vereinigungen zu sprechen. Allerdings nahmen die Aktivisten ohne Zweifel freiwillig an einer Prozession teil. Aber ob für den Beitritt zu und den Austritt aus einem solchen Aktivistenverband Formalitäten erledigt werden mussten, bleibt aufgrund des Quellenmangels unklar. Die Prozessionsaktivistenverbände haben sehr wenig historische Spuren hinterlassen. Beispielsweise wissen wir nur, dass der Huang’er-Aktivistenverband des Stadtgotttempels quasi eine Mitgliederbegrenzung hatte. Es ist festzuhalten, dass die Aktivisten keinesfalls unorganisierte Individuen waren. Andernfalls wäre es unmöglich gewesen, die hoch komplizierten Aufgaben der Prozession zu erfüllen. Aber auf der anderen Seite darf man die riesige Mobilisierungskraft und die ungeheure Bereitschaft der gesamten Aktivisten nicht unterschätzen. Ihre große Mobilisierungskraft konnte sich wegen der schwammigen Organisationsstruktur der Aktivistenverbände in eine unkontrollierbare Kraft verwandeln. Dies hat wahrscheinlich das Konfliktrisiko bei einer Prozession erhöht. Die Tatsache, dass Funktion und Rolle der einzelnen Personen innerhalb eines Verbandes nicht festgeschrieben waren, führte dazu, dass die Außenstehenden, z. B. die lokalen Behörden und die Regierung, keinen ständigen Ansprechpartner in Bezug auf die Prozessionen finden konnten. Eine konstruktive Besprechung oder ein Austausch zwischen den beiden Gruppen war deswegen sehr schwierig. Man muss auch begreifen, dass Grad und Intensität der Organisation eines Aktivistenverbandes sehr elastisch waren. Sie änderten sich je nach Umstand. In

311 Krisen- oder Konfliktsituationen hielten die Aktivisten enger zusammen. Beispielsweise stieg die Häufigkeit von Treffen und Versammlungen unter solchen Umständen dramatisch an. 3) Die Aktivisten bildeten eine unabhängige Struktur, die über die Familien- oder Clanstruktur hinausreichte. Wir haben im Fallbeispiel zum Dongyue-Tempel im Dorf Jiangwan gesehen, dass insgesamt 36 Familien des Dorfes aktiv an den Prozessionen beteiligt waren. Obwohl das Engagement für die Prozession wohl mit der Familientradition verbunden war, war die Partizipation an der Prozession auf keinen Fall eine Familien- oder Clanangelegenheit. Das heißt, dass in Bezug auf die Prozession die Familien wohl alle ein Mitbestimmungsrecht hatten, während in Bezug auf den Ahnenkult normalerweise nur die betreffenden Familien- oder Clanmitglieder entscheiden und an ihm partizipieren konnten. Um die Finanzierung und Vorbereitung der Prozessionen unter den Familien zu besprechen, muss es einen gewissen Absprache- und Entscheidungsmechanismus gegeben haben. In den historischen Fallbeispielen gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass die Älteren der Familien oder des als Schlüsselfiguren der Prozessionen fungierten, was beim Ahnenkult in China oft der Fall gewesen war. 4) Die Gruppe der Aktivisten überschneidet sich kaum mit der untersten lokalen politischen Machtstruktur. In unseren Fallbeispielen sehen wir deutlich, dass die Volksvertreter und Dorfältesten nicht direkt an der Vorbereitung oder Durchführung der Prozessionen teilnahmen. Stattdessen hatten sie die Funktion, die Botschaften zwischen den Aktivisten und den Behörden zu überbringen. Die Regierung hatte versucht, durch einige Volksvertreter in der Region die Vorbereitungsarbeiten der Aktivisten zu manipulieren oder sogar komplett zu verhindern. Aber die Versuche waren gescheitert. Dies beweist wiederum, dass die Volksvertreter die Prozession nicht im Griff hatten. Weil die überwiegende Zahl der untersten lokalen Beamten in der Republikzeit aus der jeweiligen Region stammten und ihre Bildung und Weltauffassung nicht grundlegend anders als die der Dorfbewohner waren, gehörten sie auch zu der Gemeinde, für welche die Prozession die Segnung durch die Gottheit bringen sollte. Daher lag ihre Sympathie wahrscheinlich bei den Aktivisten. Aber

312 aufgrund ihres politischen Dienstes durften sie die Prozession nicht öffentlich unterstützen. Es ist auch nachvollziehbar, dass die Volksvertreter nach einer Auseinandersetzung oder einem Konflikt eine bedeutende Rolle bei der Schlichtung und bei den Verhandlungen spielten. 5) Wir sollten unsere Aufmerksamkeit besonders auf die Teilnehmer der Umzüge lenken, v. a. auf die „Missetäter“, die öffentlich eine Selbstfolterung vollzogen. Ihre Motivation war offensichtlich anders als die der anderen Aktivisten, die durch die Beteiligung an einer Prozession quasi nur einen öffentlichen Dienst leisteten. Die Selbsterniedrigung und –demütigung der „Missetäter“ fußten auf einer einfachen Überzeugung bzw. einem Prinzip, nämlich Do ut des, do ut facias, facio ut des et facio ut facias (Ich gebe, damit du gibst; Ich gebe, damit du etwas tust, Ich tue etwas, damit du gibst; Ich tue etwas, damit du etwas tust). Während also die Teilnahme der meisten Aktivisten auf ein kollektives Wohl der Region oder Gemeinde gerichtet war, zielten die Aktionen der „Missetäter“ auf die individuelle Heilung oder Erlösung ihrer engsten Angehörigen. Die Anwesenheit der „Missetäter“ und ihre öffentlichen Darstellungen hatten m. E. kontroverse psychische Auswirkungen auf die Schaulustigen und die Öffentlichkeit. Einerseits fungierten sie für die Anhänger und Gläubigen als Vorbilder, die ihre Glaubensbekenntnisse zu bestimmten Gottheiten ohne Zweifel oder ohne zu zögern zeigten. Andererseits lösten die grausamen und blutigen Aktionen bei den säkularen Bürgern und Intellektuellen Abneigung und eine Missbilligung der Prozessionen aus. Die Selbstfolterung rief oft scharfe Kritik an den Prozessionen hervor. In ihr wurde der gesamten Prozession vorgeworfen, „Aberglaube“ zu verbreiten oder eine „unzivilisierte Tat“ zu vollbringen. 6) Die Aktivistenverbände während der Republikzeit waren autonom und unabhängig. Ihre Eigenständigkeit zeigte sich besonders deutlich im Bereich der Finanzierung, denn sie waren durchweg finanziell selbstständig. Das heißt, dass sie das Geld nicht vom Staat bekamen, sondern von den Mitgliedern und Anhängern. Spenden und Mitgliedsbeiträge könnten das Haupteinkommen der Aktivistenverbände gewesen sein. Deren Finanzkraft war nicht nur für die Aufwendungen für eine Prozession

313 entscheidend, sondern unter Umständen auch für die Existenz und den Niedergang des betreffenden Verbandes und sogar des Tempels wichtig. Dies haben wir im Beispiel des Stadtgotttempels deutlich gesehen. Die finanzielle „Souveränität“ konnte sich dramatisch zu einem Streit mit den Behörden über Tempelbesitz, das Anrecht auf ein Gelände und über Steuern zuspitzen. Solange ein Verband seine Einkommensquelle sicherte, konnte fast niemand seine Aktivitäten verhindern. Die finanzielle Eigenständigkeit war quasi der Grundstein für die Autonomie eines Tempels oder eines Aktivistenverbandes. Unklar ist dennoch, wie die langfristige Finanzierung (Erhaltung eines Tempels das ganze Jahr hindurch) und die kurzfristige Finanzierung (Aufwand für die Prozessionen innerhalb der wenigen Tage) koordiniert wurden. Es ging eigentlich darum, wie ein Tempelkomitee und ein Aktivistenverband zusammenarbeiteten und ihre Pflichten verteilten. Es ist dabei aber durchaus möglich, dass ein Tempelkomitee und ein Aktivistenverband aus denselben Personen bestanden. In diesem Fall dürften die Ausgaben für die Prozession im jährlichen Budget des Tempels einkalkuliert worden sein. Aber ohne Absicherung durch die Quellen kann man darüber nicht weiter spekulieren.

12.1.2.2. Die Tendenzen der Aktivistenverbände

Die Republikzeit war eine Zeit der radikalen gesellschaftlichen Transformation. Bei den Prozessionsaktivistenverbänden können wir anhand der historischen Fallbeispiele die folgenden Tendenzen zusammenfassen: 1) Deutlich zu beobachten ist das Erwachen eines Rechtsanspruchs. Viele Aktivistenverbände fingen an, sich selbst als eine Religion oder religiöse Gruppe zu identifizieren. Dementsprechend verlangten die Aktivisten die Religionsfreiheit, die bereits in der Verfassung der Republik verankert war, um die von der Regierung verbotenen Prozessionen ausüben zu dürfen und zu können. In der Krisensitzung des Wujiating-Tempels (April, 1919) wurde dies deutlich. Außerdem versuchten einige Verbände, durch die Anmeldung bzw. Registrierung als religiöse oder wohltätige

314 Vereinigung die rechtliche Anerkennung der Regierung zu bekommen. Dies könnte auch als eine Strategie verstanden werden, unter den nachteiligen gesetzlichen Bedingungen ihre Berechtigung zu erlangen. Darüber hinaus konnte man beobachten, dass nach Konflikten oder Unfällen, z. B. nach dem Brandanschlag der Feuerwehr (April, 1935 in Jiangwan) versucht wurde, Klage zu erheben. Obwohl ein unparteiisches und vorurteilsloses Urteil unter den damaligen Bedingungen vom Gericht kaum zu erwarten war, weisen diese Versuche darauf hin, dass die Aktivisten die Auseinandersetzung im gesetzlichen bzw. juristischen Rahmen lösen wollten. Die Bewusstwerdung darf man hingegen nicht überbewerten. Die Einforderungen der Rechtsansprüche durch die Aktivisten bezogen sich ausnahmslos nur auf die eigenen Prozessionen, d. h. sie wurden hauptsächlich durch ein Verbot oder eine Störung durch die Behörden initiiert. Aber ihre Wirkung beschränkte sich auf die nachfolgende Verhandlung. Sie war also nur kurzfristig und entwickelte sich nicht weiter zu einer gezielten politischen Forderung oder einer langfristigen Rechtsbewegung. Es ist zu beobachten, dass es zwischen den unterschiedlichen Verbänden kaum Kontakt oder Solidarisierung gab. Unter diesem Aspekt betrachtet, waren die Aktivistenverbände immer noch vereinzelt und unvereinigt. Die Verwirklichung ihrer Rechtsansprüche befand sich in einer Anfangsphase und wurde nicht zielbewusst betrieben. 2) Im Beispiel des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels in Shanghai sehen wir, dass sich die Tempelerhaltung und –verwaltung während der Republikzeit tendenziell in einem Professionalisierungsprozess befand. Dies könnte als eine Reaktion auf die Politik, die eine Anmeldung des Tempelbesitzes (庙产登记) forderte, interpretiert werden. Konfrontiert mit der Herausforderung durch eine säkulare und sogar religionsfeindliche Regierung, wurden die konventionellen Tempelaufseher bzw. -komitees gezwungen, sich zu einer modernen Vereinigung zu entwickeln. Dementsprechend kamen beispielsweise eine präzise Buchhaltung, eine ständige Organisation und eine Vereinsstruktur auf die Agenda. Mit anderen Worten: die konventionellen Tempelaufseher und –komitees mussten sich verändern, um sich den Änderungen der politischen Bedingungen anzupassen. Darüber hinaus sehen wir auch deutlich, dass im Fall des Stadtgotttempels die alltäglichen Angelegenheiten des

315 Tempels und die Prozession (Stadtgott-Inspektionsrundgang) getrennt geführt wurden, und zwar jeweils vom Aufsichtsrat und den Aktivistenverbänden. Diese funktionale Differenzierung war vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich das langfristige Tempelmanagement und das der kurzfristigen Prozession wegen ihrer unterschiedlichen Anforderungen verzweigen mussten. Der Anspruch auf hoch spezialisierte Fachkenntnisse im jeweiligen Gebiet machte es unmöglich, dass die Aktivisten als Freiwillige neben ihrer beruflichen Tätigkeit gleichzeitig die Tempelangelegenheiten verwalteten oder führten. Selbst die professionellen Priester konnten die Aufgaben ohne weitere Ausbildung nicht vollständig erfüllen. Dies erklärt, dass die Gründung des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels eine unvermeidliche Folge der gesellschaftlichen Transformation war.

12.1.3. Die Unterstützer und Förderer

Die dritte Gruppe, die sich in der Mitte des Spektrums zwischen den Aktivisten und den Schaulustigen befindet, ist die Gruppe der Unterstützer und Förderer der Prozession. Beruflich gesehen bestand die Gruppe hauptsächlich aus Straßenhändlern, Geschäftsmännern, der lokalen Gentry und Honoratioren.1 Die Motivationen, die dazu führten, dass sich die Gruppe an Prozessionen beteiligte, kann man grob in zwei Kategorien einteilen: ökonomisches Interesse und gesellschaftliches Prestige. Die Prozession gehörte zu den wenigen feierlichen Veranstaltungen des Jahreszyklus’, die für unzählige Bürgerinnen und Bürger äußerst faszinierend und attraktiv waren. Abgesehen vom religiösen Antrieb, reisten extra tausende Schaulustige an, um sich die atemberaubenden Umzüge anzuschauen und die festliche Atmosphäre zu erleben. Wirtschaftlich betrachtet konnte eine Prozession der betreffenden Region in einer kurzen Zeit einen enormen Anstieg der Kundenzahl und der Umsätze bringen. Direkt davon profitierten die Einzelhandelsgeschäfte, die Gastronomie und die Gastwirtschaft in der Region. Deren Vertreter müssen die Prozessionen willkommen geheißen und befürwortet haben. Deswegen bildeten sie ganz logischerweise mit den

1 Natürlich sehen wir sehr oft, dass sich in der Praxis die Identität als Honoratioren und der Beruf als Geschäftsmann überlagerten.

316 Aktivisten ein Bündnis für die Prozession. Es ist nicht auszuschließen, dass die Ladenbesitzer als Mitglieder der Gemeinde besonders viel Geld spendeten, um die Prozession zu unterstützen und zu fördern. Wir haben auch gesehen, dass im Beispiel des Stadtgotttempels der Straßenhändlerverband an der Steuerermäßigung innerhalb des Tempelgeländes, das unter dem Aufsichtsrat stand, interessiert war. Dies war grundsätzlich auch ökonomisch motiviert. Aber es ist zu berücksichtigen, dass die Beteiligung und die Unterstützung aus der wirtschaftlichen Branche nicht bedingungslos waren. So waren für die gewerbliche Sektion auch einige andere Überlegungen von Belang. Aus der Perspektive von Gewinnchancen mussten Sicherheitsprobleme unbedingt vermieden werden. Die Geschäftsmänner wollten auch nicht direkt in Konflikt und Auseinandersetzung mit der Regierung geraten. Auch viele Angehörige der lokalen Gentry und der Honoratioren schlossen sich der Prozession an. Sie hatten meistens ein höheres Bildungsniveau als die normalen Bürger. Einige davon trugen sogar Titel der kaiserlichen Besamtenprüfung aus der Qing-Dynastie. Einige hatten ehrwürdige Familientraditionen und genossen deswegen ein höheres Ansehen, große Autorität und Anerkennung bei der lokalen Bevölkerung. Der erste Vorsitzende des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels Qin Yubo ist dafür ein anschauliches Beispiel. Die Beteiligung der Gentry und Honoratioren an der Prozession zielte normalerweise nicht unmittelbar auf eigenes ökonomisches Interesse, sondern auf Prestigegewinn und Reputation. Es war nicht üblich, dass sie konkrete Vorbereitungsarbeiten für eine Prozession übernahmen. Stattdessen fungierten sie in der Regel als Schirmherr oder Schutzherr der Prozession. Beachtenswert sind zwei Funktionen der Gentry und der Honoratioren in Bezug auf die Prozession während der Republikzeit. Die erste Funktion ist, das Prozessionsverbot zu brechen. Die Honoratioren waren so einflussreich, dass sie in der Lage waren, auf die Entscheidung der untersten Beamten und Polizisten einzuwirken, so dass die Prozession unter Umständen stillschweigend erlaubt wurde. Die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels in Shanghai galten als ein Beispiel dafür, dass die lokale Gentry und die Honoratioren ihre Sozialressourcen erfolgreich integrierten, um den Stadtgotttempel unter enormem Druck der Regierung

317 verwalten und die Stadtgott-Inspektionsrundgänge trotz des Prozessionsverbots in mehreren Jahren reibungslos durchführen zu können. In diesem Sinn fungierten die Gentry und die Honoratioren quasi als ein Gegengewicht zur staatlichen Macht, an das sich die Prozessionsaktivisten bei Schwierigkeiten anlehnen konnten. Aber das bedeutet nicht, dass alle Angehörigen der Gentry und der Honoratioren auf der Seite der Prozession standen. Es gab sicherlich auch „fortschrittliche“ Mitglieder von Gentry und Honoratioren, die die Prozessionen scharf kritisierten und im Allgemeinen nicht akzeptierten. Die zweite Funktion der Gruppe der Gentry und Honoratioren ist die Rolle als Vermittler oder Schiedsrichter nach einer Auseinandersetzung oder einem Konflikt. Dies sehen wir deutlich in der Schlichtung nach den Schüssen in Pudong (April, 1919). Wenn diese Rolle richtig funktioniert hätte, hätten die Gentry und Honoratioren viele anderen Ausweich- bzw. Dämpfungsmöglichkeiten zwischen den Aktivisten und der Regierung angeboten können, nicht nur nach dem Konflikt, sondern auch vorher.

12.1.4. Zwischenresümee

Wenn wir uns an die sechs Merkmale der Zivilgesellschaft (öffentliche Assoziationen, Autonomie, Pluralität, Legalität, zivilisiertes Verhalten und das utopische Potenzial) erinnern, können wir nun einige Schlüsse über die Organisation der Prozessionen aus der Perspektive der Zivilgesellschaftstheorie ziehen. Ich werde im Folgenden einige der Merkmale durchgehen. Die Aktivistenverbände waren begrenzte öffentliche Assoziationen. Einerseits sehen wir deutlich, dass die Aktivistenverbände sich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit gründeten, d. h. dass ein Aktivistenverband prinzipiell allen zugänglich sein sollte. Aber andererseits wissen wir aufgrund des Quellenmangels sehr wenig über ihren konkreten Rekrutierungsmechanismus. Abgesehen davon müssen wir berücksichtigen, dass die überwiegende Zahl der Prozessionen sich auf eine bestimmte Region beschränkte. Mit anderen Worten: eine Prozession war eine Aktivität der

318 „kommunalen Religion“, wie in der Einleitung konstatiert wurde. Der Glaube an bestimmte Gottheiten muss gekoppelt gewesen sein an eine starke Verbundenheit mit einer Region und die Ausbreitung der betreffenden Überlieferung. Dagegen setzten die wichtigsten Förderer, z. B. die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels, eine sehr hohe Schwelle in Hinblick auf Besitz und Ansehen. Die Aktivistenverbände hatten relativ hohe Autonomie, besonders im Bereich der Finanzierung. Sie konnten über Datum, Dauer und Ausmaß der eigenen Prozessionen sowie viele andere Punkte entscheiden, solange sie in der Lage waren, die aufwendigen Prozessionen finanziell und personell zu verwirklichen. Der Kampf um die Autonomie fand ab und zu seinen Niederschlag im Streit mit der Regierung bzw. den lokalen Behörden über das Prozessionsrecht, den Tempelbesitz, das Tempelgelände und die Steuerermäßigung. Die Autonomie der Prozessionsverbände war in der Republikzeit tatsächlich nicht offiziell oder gesetzlich gewährleistet, sondern ein Resultat des Gleichgewichts zwischen der staatlichen Macht und den Beteiligten der Prozession. Sie konnte jederzeit von der Regierung entzogen oder wegen der Übermacht einer Partei aufgehoben werden. Aus dieser Sicht war die Autonomie sehr zerbrechlich. Das nächste Merkmal steht m. E. in engem Zusammenhang mit der Autonomie. Die Prozession als eine öffentliche Veranstaltung besaß in der Republikzeit keine Legalität, weil sie nie gesetzlich von der Regierung anerkannt wurde. Es herrschte ein pauschales Verbot gegen alle Prozessionen. Die Prozessionen, die tatsächlich stattfanden, können lediglich als Ergebnis eines Kompromisses zwischen den beiden Parteien oder als eine Notlösung verstanden werden. Die stillschweigende Genehmigung und die gelegentlich festzustellende Nachlässigkeit der Behörden können die gesetzwidrige Prozession nicht legitimieren. Wir haben auf der anderen Seite beobachtet, dass die Aktivisten einige Versuche unternommen haben, sich bei den Behörden offiziell als religiöse Vereinigung anzumelden. Dies könnte als der erste Schritt zur Legalisierung interpretiert werden. Die Prozession und ihre Aktivisten waren quasi nur ein Teil der damaligen chinesischen Gesellschaft. Deswegen ist in der vorliegenden Arbeit das

319 Pluralitätsmerkmal schwer zu beurteilen. Allerdings lässt sich sagen, dass die Beteiligten eine Vielfalt hinsichtlich ihrer Berufe, Schichten, Motivationen und Interessen widerspiegelten. Das fünfte Merkmal der Zivilgesellschaft, nämlich das zivilisierte Verhalten, wird im nächsten Abschnitt über die Kontrolleure der Prozession behandelt, weil es - wie auch einige der oben genannten Merkmale - im Verhältnis zwischen den Kontrolleuren und den Beteiligten besser zu verstehen ist.

12.2. Die Prozession: Die Kontrolleure

Während der Republikzeit nahmen die Regierung und die regierende Partei den Fortschrittsglauben und die aufklärerische Weltauffassung an, welche ohne Nachdenken eilends Eingang in die chinesische Gesellschaft gefunden hatten. Einerseits versuchte die Regierung, die Prozessionen gesetzlich streng zu verbieten, andererseits aber verzichteten die Machthaber nicht auf die Vorstellung vom patriarchalischen Staat, in dem die Bürger als ihre Untertanen willkürlich behandelt werden konnten. So schrieben die Gründerväter der Republik einen Absatz über Religionsfreiheit als eines der Grundrechte der Bürger in die Verfassung hinein. Aber außer dem Grundgesetz gab es in der Praxis kaum Gesetze, weder ein Strafgesetz noch ein Zivilgesetz, welche die religiösen Gemeinschaften regulieren oder die Gewaltausübung des Staates beschränken konnten. Was als eine Religion galt, wurde in Gesetzen kaum erwähnt. Die Widersprüchlichkeiten spiegelten sich auch darin wider, dass die Zuständigkeiten der Staatsorgane nicht klar geregelt waren. So war äußerst unscharf definiert, welche Amtspflichten und Aufgaben hinsichtlich der Religionen zu erfüllen und wie sie aufzuteilen seien. Fast alle Behörden konnten sich im Namen der sog. „Gegen-Aberglauben-Kampagne“ in die Prozession betreffende Angelegenheiten einmischen, wenn sie es wollten. Im Extremfall konnte die Partei die nationale Religionspolitik festlegen oder unmittelbar in die lokalen Religionsangelegenheiten eingreifen. Als Folge davon entstanden ein sehr großer

320 Spielraum sowie Korruptionsmöglichkeiten für die Beamten und Machthaber.

12.2.1. Die Begründungen des Prozessionsverbots

Im Kapitel über die mediale Repräsentation haben wir darauf hingewiesen, dass die öffentlichen Medien und die Regierung fast die gleichen Argumente gegen die Prozessionen teilten. So wurde das Prozessionsverbot mit den folgenden Argumenten gerechtfertigt: das Sicherheitsargument, das Verschwendungsargument (oder das ökonomische Argument) und das Argument des Aberglaubens (oder das ideologisch-weltanschauliche Argument). In unseren historischen Fallbeispielen erwiesen sich diese Argumente jedoch als teilweise nicht haltbar. Die Prozessionen führten meiner Meinung nach nur unter bestimmten Bedingungen zum Konflikt: 1) Wenn in einer Region mehrere Prozessionen von unterschiedlichen Gruppen gleichzeitig stattfanden, konnte ihre Konkurrenz um Gesicht und Ansehen zu Gegnerschaft oder unter Umständen sogar zu Feindschaft führen. Dies sehen wir eindeutig am Zwischenfall (1935) in Pudong, der durch das langjährige Problem ausgelöst wurde, dass zwei Einwanderergruppen ihre Prozessionen am selben Tag veranstalteten. 2) Wenn es in der Region, durch die eine Prozession führte, oder in ihrer Nachbarschaft Andersgläubige, z. B. christliche Gemeinden, gab, konnte die Prozession unter Umständen auch zu einem öffentlichen Sicherheitsproblem führen. Die Prozessionsaktivisten und auch die Dorfbewohner waren in der Republikzeit den christlichen Gemeinden gegenüber feindlich gesinnt, weil die Christen aus der Sicht der Prozessionsaktivisten die kulturelle Homogenität und Einheitlichkeit der traditionellen Gesellschaft teilweise zerstört haben. Einen solchen Einzelfall sehen wir anschaulich im Konflikt um die Zhaojialou-Kirche in Pudong. 3) Wenn der Tempelbereich bzw. die Tempelgrenze zwischen zwei Nachbardörfern oder –regionen nicht klar abgesteckt waren, konnten die Bewohner bei der Prozession in Streit oder sogar Konflikt geraten. Dies hat der Vorfall im Dorf Caohejing deutlich gezeigt. Allerdings haben wir auch gesehen, dass zahlreiche Prozessionen problemlos stattfanden.

321 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Prozession unter Umständen als eine Zündschnur fungieren konnte, die die seit langem bestehenden Kontroversen und Streitigkeiten innerhalb der Bevölkerung zur Explosion brachte. Aus Sicht der Regierung war es berechtigt, mit dem Konfliktpotential, das den Prozessionen innewohnte, vorsichtig umzugehen. Die Gesetzgeber hätten die Bedingungen für die Genehmigung von Prozessionen und die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen können, um das Sicherheitsrisiko zu minimieren oder es ganz zu vermeiden. Aber sie bzw. die Regierung bevorzugten eine Pauschallösung, nämlich ein gänzliches Prozessionsverbot. Das deutet daraufhin, dass das ideologisch-weltanschauliche Argument vielleicht Vorrang hatte vor den beiden anderen Argumenten. Außerdem bringt es eine Unter- und eine Überschätzung der Regierung zum Ausdruck, nämlich die Unterschätzung der Bereitschaft der Aktivisten und die Überschätzung der Vollstreckungsfähigkeit der staatlichen Macht. Der zweite wichtige Aspekt hinsichtlich der Kontrolle über die Prozession war die Ökonomie, was deutlich im Verschwendungsargument zum Ausdruck gebracht wurde. Es ist ohne Frage, dass die Prozession eine der aufwendigsten Veranstaltungen war. Für sie waren sowohl eine große Menge an materiellen Ressourcen als auch unzählige Arbeitsstunden der Beteiligten bzw. Aktivisten nötig. Aus der Sicht einer säkularen Regierung waren die Prozessionen eine „sinnlose“ Verschwendung, die die Steuereinnahmen des Staates beeinträchtigen konnte. Außerdem befanden sich die Tempel unter Umständen mit der lokalen Regierung im Streit um ökonomische Interessen. Dies sehen wir deutlich im Beispiel des Stadtgotttempels, besonders in der Zeit der Finanzkrise. Das Argument des Aberglaubens wurde oft von der Regierung bzw. den lokalen Behörden als eine Rechtfertigung genutzt, um den ökonomischen Gewinn der Aktivistenverbände aufzuteilen und davon zu profitieren. Die zwei Argumente, das Verschwendungsargument und das Argument des Aberglaubens, gegen die Prozessionen vermengten sich in der Praxis der Verwaltungsbehörden, verstärkten sich gegenseitig und ließen sich kaum voneinander unterscheiden.

322 12.2.2. Die tatsächliche Auswirkung der Verbote und Vorwarnungen

Aus unseren historischen Fallbeispielen kann man ein Verhaltensmuster der lokalen Regierung im Hinblick auf das Prozessionsverbot zusammenfassen: Wenn die lokale Regierung eine oder mehrere bevorstehende Prozessionen in der Region verhindern wollte, wurde das Prozessionsverbot mehrmals wiederholt - manchmal von unterschiedlichen Behörden, z. B. der Polizei, dem Kreisamt bzw. der Stadtregierung oder sogar dem lokalen Sicherheitskommandanten. Durch die Wiederholung des Verbots wurden die Vorwürfe gegen die Prozessionen normalerweise schrittweise verschärft. Die Regierung versuchte durch die Wiederholung des Verbots ein Zeichen zu setzen, dass sie entschlossene und harte Maßnahmen gegen die Prozessionen ergreifen würde, falls die Prozessionen trotz des Verbots stattfinden sollten. Die Vorwarnungen richteten sich nicht an die Prozessionsverbände oder die gesamte Gemeinde, sondern an die Hauptveranstalter und Aktivisten der Prozessionen, denen strenge Strafen angedroht wurden. Das Verbot und die Vorwarnungen wurden durch die lokalen Medien bekannt gemacht. Die Stellungnahme der Regierung zu den Prozessionen wurde damit klar und deutlich. Allerdings war die tatsächliche Wirkung des Verbots und der Vorwarnungen fraglich. Wir sehen in den historischen Beispielen, dass das Verbot und die Vorwarnungen in der Tat die Veranstalter und Aktivisten der Prozessionen nicht wie von der Regierung erwünscht abschreckten. Stattdessen verschärften sich das Gefühl der Opposition und die Spannung zwischen den beiden Parteien wegen der in den Verboten zu findenden arroganten Formulierungen und spitzen Kritiken, die von den Aktivisten oft als eine Beleidigung wahrgenommen wurden. Dies konnte zur Eskalation oder Zuspitzung der Lage beitragen. Alles lief genau gegen die Absichten der Regierung, die damit ihr Ziel verfehlte.

12.2.3. Abschreckungsversuch und Gegenmaßnahmen der Regierung

Ohne jegliche tatsächliche Gegenmaßnahmen konnten die meisten Verbote und Vorwarnungen nur eine leere Bedrohung bleiben. Den einzigen Versuch, den wir in unseren Fallbeispielen gefunden haben, eine Prozession vor der Durchführung durch

323 die direkte Einmischung der Behörden zu verhindern, sieht man in der Prozession des Shezhuang-Tempels in Pudong. Die lokale Polizei verhaftete einen Tempelaufseher, den angeblichen Hauptveranstalter der Prozession, um die Vorbereitungen für die bevorstehende Prozession zu stoppen. Aber der Versuch scheiterte offensichtlich. Durch die Analyse zur damaligen Polizei ist deutlich geworden, dass die Polizei wegen schlechter Ausbildung, schwammiger Organisationsstruktur und Personalmangels ihre Aufgaben als Staatsmacht nicht effektiv erfüllen konnte. Der Polizei in Shanghai standen vor dem Zweiten Weltkrieg sehr wenig Zwangsmittel gegen die Prozessionen zur Verfügung. Im Beispiel der Stadtgott-Inspektionsrundgänge sehen wir, dass es in der Polizei selbst unterschiedliche Meinungen zu und Interessen an Prozessionen gab. Dies schwächte wiederum die Einsatzfähigkeit der Polizei. Es fehlte der Polizei an Druckmitteln, die Prozessionen vor ihrer Durchführung bzw. in ihrer Vorbereitungsphase gesetzlich zu verhindern. Wenn eine Prozession stattfand, musste die Polizei zum Einsatz kommen, um die Versammlung der Beteiligten und den feierlichen Umzug aufzulösen. Aber auch in diesem Fall war die Polizei aufgrund ihrer Unterzahl im Verhältnis zu den Prozessionsaktivisten ohnmächtig. In den Fallbeispielen ist kein konkreter, systematischer Plan, demzufolge die gesetzwidrigen Prozessionen durch Polizeieinsätze hätten unterbunden werden können, zu finden. Das bedeutet, dass die Polizei nicht in der Lage war, ihre Kräfte für ein Polizeiaufgebot bzw. eine Einsatztruppe zu mobilisieren oder zu organisieren. Folglich, nicht zufälligerweise, konnte die Anwesenheit der Polizei unter Umständen zu einem unerwarteten Zusammenstoß zwischen den aufgeregten Polizisten und den hoch motivierten Aktivisten führen, was wiederum zu einem tragischen Konflikt führen konnte.

12.2.4. Die Regierung und der Gesetzgeber als Konfliktauslöser

Die Spontaneität des Konflikts um die Prozessionen weist daraufhin, dass das Ziel, die Prozessionen durch staatliche Gewalt vollständig zu verbieten, unter den damaligen Bedingungen unrealistisch und unbedacht war. Die Regierung bzw. die

324 Behörden sollten theoretisch die Rolle als Kontrolleure der Prozessionen spielen, um das Konfliktpotential der Prozessionen zu verringern. Beispielsweise hätte die Polizei als Eindämmungs- bzw. Trennungseinheit fungieren können, um die zwei verfeindeten oder mehrere verfeindete Prozessionsgruppen auseinander zu halten. Aber in der Praxis mündete die ursprüngliche Absicht der Gesetzgebung darin, dass die Regierung selbst in direkten Konflikt mit den Aktivisten geriet, d. h. die Regierung verwandelte sich unerwartet und unerwünscht zu einer Partei des Konflikts. Die Kontrolleure wurden Konfliktauslöser. Diese Szenarien lassen sich weitgehend auf das Selbstverständnis der Regierung zurückführen, nämlich die patriarchalische Figur des Staates. Einerseits gründete sich die Republik auf der neuen Ideologie und auf Legitimation, aber andererseits behielt sie, wohl unbewusst, das politische Erbe vom vorherigen Kaiserreich in vielen Bereichen bei. Dies zeigte sich z. B. in einer willkürlichen Gesetzgebung ohne Berücksichtigung der Interessen des Volkes, in einer Obrigkeit - Untertan- Beziehung anstatt einer Regierung - Bürger - Beziehung usw. Kurz gesagt, der Staat kannte die Grenze seiner Machtausübung nicht. Dies alles kristallisierte sich dramatisch in dem Verbot der Prozession heraus. Ein weiteres unerwartetes Ergebnis war die Korruption. Da alle Behörden und sogar die Parteidirektion im Namen der staatlichen Macht in die Angelegenheiten der Prozessionen eingreifen durften und konnten, herrschte eine chaotische Situation hinsichtlich der Regulierung der Prozessionen. Wir haben im Beispiel des Brandanschlags der Feuerwehr im Dorf Jiangwan gesehen, dass sogar eine solche staatliche Institution, die nicht unmittelbar für Prozessionen zuständig war, von den Aktivisten Schmiergeld verlangte. Die Korruption erhöhte nicht nur die Kosten einer Prozession, sondern wohl auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktivisten um jeden Preis, und damit zur Not auch gewaltsam, eine Prozession ohne Bestechung durchführen wollten. Dies erhöhte wiederum das Sicherheitsrisiko. Man muss sehen, dass die Korruption tatsächlich die gesetzliche Lücke und die staatliche Autorität missbrauchte, um den Beamten bzw. Privatpersonen ökonomischen Profit zu verschaffen. Oder anders formuliert: die gesetzliche Benachteiligung der Prozession

325 wurde ausgenutzt, um private Ausbeute zu ziehen, aber auf Kosten des Verlusts für andere Privatpersonen und der Autorität des Staates. Hier vermengten sich der Staat und die Privatsphäre. Nach der Erörterung über die beiden Parteien können wir letztendlich auf das bislang unbehandelte Merkmal der Zivilgesellschaft, nämlich das zivilisierte Verhalten, eingehen. Was dieses Merkmal angeht, sind in unseren historischen Fallbeispielen sehr unterschiedliche Informationen zu finden. Wir haben gesehen, dass einerseits viele Prozessionen, z. B. die Stadtgott-Inspektionsrundgänge, über mehrere Jahre regelmäßig friedlich und problemlos stattfanden. Aber andererseits haben wir auch negative Beispiele gefunden, in denen sich die Aktivisten quasi absichtlich provokativ verhielten, z. B. im Konflikt um die Zhaojialou-Kirche. Die Gewalt der Prozessionsaktivisten hatte sehr unterschiedliche Ursachen. Einige Gewaltakte können unter Umständen als Reaktion auf die Unterdrückung der Polizei oder sogar als Notwehr verstanden werden, während andere tatsächlich rücksichtslose Gewaltbereitschaft der Aktivisten offenbarten. Ich vermute, dass die Beteiligung der Gentry und der Honoratioren und Belehrungen oder Anweisungen durch sie wesentliche Unterschiede gemacht haben könnten. Wie oben schon erwähnt, konnten Gentry und Honoratioren die Funktion eines Puffers erfüllen und die Spannung zwischen den beiden Parteien besänftigen und abschwächen. Außerdem sollte man die Gewaltanwendung nicht nur den Aktivisten zuschreiben. Sie muss vielmehr vor dem Gesamtbild der damaligen kulturellen und gesetzlichen Bedingungen betrachtet und beurteilt werden. Auch der Staat kann sich wegen seiner willkürlichen Gesetzgebung und ungeschickten Machtausübung nicht aus der Schuld ziehen. Deswegen würde ich zum Merkmal „zivilisiertes Verhalten“ keine pauschale Antwort geben.

12.2.5. Zwischenresümee

Wenn wir uns an die sechs Modelle der Zivilgesellschaft erinnern, lässt sich das Verhältnis zwischen den Kontrolleuren und den Beteiligten der Prozession an dieser Stelle im Kontext der Zivilgesellschaftstheorie folgendermaßen zusammenfassen:

326 Meiner Meinung nach trifft das erste Modell, nämlich das Trennungsmodell der Zivilgesellschaft, am meisten zu. Das Modell ist kennzeichnet durch die Freiwilligkeit der Prozessionsbeteiligten, obwohl es schwierig ist, bei ihnen von einer vollständigen Mitgliedschaft zu sprechen. Die Grenzlinie zwischen dem Staat und den Aktivistenverbänden war auch relativ klar und deutlich. Vielleicht war es nicht die Intention der Aktivisten, sich von der staatlichen Macht zu distanzieren, sondern umgekehrt, die Feindlichkeit der Regierung und des Gesetzgebers ließ den Prozessionen keinen legalen, öffentlichen Raum. Die Aktivisten wurden gezwungen, sich der Regierung gegenüberzustellen. Aber das bedeutet andererseits nicht, dass die Beteiligten der Prozession dem Oppositionsmodell entsprechen. In den historischen Beispielen war keine politische Richtlinie der Prozessionsbeteiligten zu finden. Obwohl die Aktivisten oft in einen gewalttätigen Konflikt mit der staatlichen Macht gerieten, waren sie nicht politisch motiviert. Ihr Ziel war nicht, die Regierung im Allgemeinen zu stürzen, sondern eher, nach Verwirklichung ihres Rechts auf Prozession zu streben. Nur im äußersten Fall löste eine Prozession direkte Konflikte mit der Regierung aus, und zwar, wenn sie die Prozession mit anderen Mitteln, z. B. Bestechung, nicht vermeiden konnte. Dies ist in keiner Weise vergleichbar mit den religiösen Gemeinden in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im ehemaligen Ostblock. Auch ist festzustellen, dass die Prozessionsaktivisten kein utopisches Potential, das letzte Merkmal der Zivilgesellschaft, besaßen, weil sie nicht auf die Veränderung einer Gesellschaft zielten, sondern lediglich auf die Prozession an sich. Dies liegt wohl daran, dass die Anhänger und Gläubigen der Prozession sich hauptsächlich darauf konzentrierten, durch eine Verbesserung der Mensch – Gottheit - Beziehung Unglück, Naturkatastrophen und Missgeschicke zu vermeiden. Die Grundidee war im Grunde genommen negativ. Aufstand oder Revolution waren rational kalkuliert keine Option für die Prozessionsbeteiligten. Das heißt, die Prozessionsaktivisten galten keinesfalls als eine Opposition gegen die Regierung, die durch eine konkrete politische Zielsetzung motiviert war. Sie leisteten allenfalls nur Widerstand gegen das Prozessionsverbot.

327 Das Unterstützungsmodell trifft m. E. in unserem Fall auch nicht zu. Eine gegenseitige Unterstützung zwischen dem Staat und den Prozessionsbeteiligten ist in den historischen Fallbeispielen nicht zu beobachten. Die Prozessionsbeteiligten schufen keine Werte, die die Stabilität des Staates bekräftigten. Nur zufälligerweise bestätigten die Prozessionen einige traditionelle Tugenden, z. B. Loyalität und Anständigkeit, die allen Formen der Regierung allgemein zugute kommen. Stattdessen zeigte sich an der Prozession eine Bruchstelle in der damaligen chinesischen Gesellschaft, zumindest im Bereich des Glaubens und der Weltauffassung. Das Partnerschaftsmodell dagegen trifft teilweise zu. Im Beispiel des Stadtgotttempels haben wir gesehen, dass der Aufsichtsrat die vorher zum Staat gehörende Verantwortung übernahm, den Tempel wieder aufzubauen und danach über mehrere Jahre, sogar während des Krieges, zu erhalten. Das heißt, die Rolle der Regierung wurde teilweise auf eine nichtstaatliche, öffentliche Organisation übertragen. Auf das Öffentlichkeitsmodell werden wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen.

12.3. Die Rolle der öffentlichen Medien

Die öffentlichen Medien, v. a. Zeitungen wie Shenbao, waren sehr kritisch gegenüber den Prozessionen, die als langjährige Gebräuche sowohl in Shanghai als auch in den Nachbarprovinzen existiert hatten. Die Medien vertraten anscheinend die Meinungen der bürgerlichen Stadtbewohner und der säkularen liberalen Intellektuellen, die aus ihrer aufklärerischen Weltauffassung heraus die Prozessionen allgemein als Aberglaube oder eine rückschrittliche Sitte betrachteten. Aber sie hatten normalerweise eine mäßige Haltung zur Prozession - im Vergleich zum radikalen und herrischen Vorgehen der Regierung. In der Zeitung wurden alle möglichen Vorschläge vorgebracht, um die Prozessionen umzugestalten oder zu „modernisieren“. Aber die Gegenmeinungen und Stellungnahmen seitens der Prozessionsbeteiligten und –befürworter waren selten in den öffentlichen Medien zu lesen. Die Ursache lag vielleicht an Folgendem: Einerseits hatten die Zeitungen, z. B. die marktorientierte

328 Shenbao, trotz ihrer Objektivität und Unabhängigkeit eigene Einstellungen und Neigungen, die sich an ihrer Zielgruppe, nämlich den Lesern bzw. Konsumenten, orientierten. Beiträge, welche die Prozession befürworteten, wurden wahrscheinlich nicht aus politischen Überlegungen heraus absichtlich von der Redaktion zensiert, sondern aufgrund der Vorlieben und des Geschmacks ihrer Leser nicht in die Veröffentlichung aufgenommen. Es ist bemerkenswert, dass eine einseitige Parteinahme meistens nicht in der Berichterstattung zur Prozession festzustellen war, sondern in den Leserbriefen und Kommentaren des Feuilletons. Andererseits schenkten die Prozessionsbeteiligten und –befürworter den Medien kein Vertrauen, da sie seit langem eine negative Haltung zur Prozession eingenommen hatten. Deswegen kann man sagen, dass die Medien im damaligen Shanghai keinen Kanal für den gegenseitigen Meinungsaustausch, sondern nur für einseitige Äußerungen boten. Die Medienlandschaft war trotz ihres Aufschwungs sehr dominiert oder sogar monopolisiert durch die säkularen Intellektuellen und Stadtbewohner. Es fand keine öffentliche Diskussion oder Debatte über die Prozessionen in den Medien statt. Dies war wahrscheinlich auch ein Grund für die Polemisierung der Meinungen zur Prozession in der Gesellschaft. Darüber hinaus sieht man auch keinen richtigen Dialog zwischen den Prozessionsbeteiligten und der Regierung. Die lokale Regierung und die Behörden bezogen in den öffentlichen Medien oft Stellung in Form von Bekanntmachungen und Verboten. Aber die andere Partei, die Prozessionsbeteiligten, war schlicht stumm. In den Medien war kaum öffentliche Kritik gegenüber der Regierung oder der Religionspolitik zu sehen. Nur die Prozessionen, die stattgefunden haben, können als eine Art von schweigenden Protesten gegen das Prozessionsverbot interpretiert werden. Aus dieser Beobachtung ergibt sich, dass das Öffentlichkeitsmodell in unserem Fall nicht zutrifft.

329 12.4. Eine Zwischenform zwischen „diffused“ und „institutional“ Religion

Die detailreichen Untersuchungen zur Prozession in der vorliegenden Arbeit ermöglichen es uns, nicht nur die frischen empirischen Materialien ins Blickfeld des Faches zu ziehen, sondern auch die bestehenden Theorien und Denkweisen zu überprüfen.

12.4.1. C. K. Yangs Dichotomie

C. K. Yang stellte eine Unterscheidung zwischen zwei Typen chinesischer Religionen auf, nämlich die sog. „diffused“ und die „institutional“ Religion. 1 Diese Unterscheidung wird seit langem als ein einflussreiches und sogar als ein dominierendes Modell in der soziologischen Typologisierung chinesischer Religionen angesehen und ist selten angezweifelt worden. Yang definiert die beiden Typen folgendermaßen:

“Institutional religion (…) is considered as a system of religious life having (1) an independent theology or cosmic interpretation of the universe and human events, (2) an independent form of worship consisting of symbols (gods, spirits, and their images) and rituals, and (3) an independent organization of personnel to facilitate the interpretation of theology views and to pursue cultic worship. With separate concept, ritual, and structure, a religion assumes the nature of a separate social institution, and hence is designation as an institutional religion. On the other hand, diffused religion is conceived of as a religion having its theology, cultus [sic!], and personnel as intimately diffused into one or more secular social institutions that they become a part of the concept, rituals, and structure of the later,

1 Yang, C. K., Religion in Chinese Society: A Study of Contemporary Social Function of Religion and Some of Their Historical Factors, 294-5.

330 thus having no significant independent existence.”1

Yang ist der Auffassung, dass die institutionalisierte Religion in China durch den Buddhismus, den Taoismus und durch Sekten (engl. Sectarian societies) vertreten sei.2 Im Gegensatz zur institutionalisierten Religion ist die „diffused religion“ Yang zufolge eher sekundär, unselbstständig und abhängig von der ersten, weil „diffused religion relied upon institutional religion for the development of mythical or theological concepts, for the supply of gods, spirits, and other symbols of worship, for the devising of rituals and sacrifice, and for the service of technically trained personnel, the priests.“3 Zur “diffused religion“ zählt Yang den Ahnenkult, die Verehrung der kommunalen Götter und „ethicopolitical cults“. Er bezeichnet die Besonderheit der “diffused religion“ als „Pervasiveness of diffused religion“. Seiner Definition zufolge muss die traditionelle religiöse Praxis auf der kommunalen Ebene grundsätzlich in die Kategorie der “diffused religion“ eingeordnet werden. Er behauptet:

“The mass celebrations and processions in honor of the patron gods, together with all the images and paraphernalia, formed an intimate part of the equipment and collective rituals in the routine operation of traditional community life. The community leaders acted as officiating priests, and the entire population of the community was the congregation.”4

12.4.2. Einwände

Mit der vorliegenden Forschungsarbeit über die Prozessionen in Shanghai, v. a. durch die historischen Fallbeispiele aus der Republikzeit, können wir die folgenden Punkte als Einwände gegen Yangs Dichotomie vorbringen. Zumindest Yangs Typologisierung

1 Ibid., 294-5. 2 Ibid., 295. 3 Ibid., 295. 4 Ibid., 297.

331 der chinesischen Religionen muss danach zum größten Teil korrigiert werden: 1) Es ist belegt, dass die kommunale Religion, aus der Perspektive der Organisationsform, nicht so „diffused“ oder unorganisiert war, wie Yang behauptete. Es ist nachgewiesen, dass die Aktivisten bzw. Aktivistenverbände eine selbständige Struktur hatten. Die lokalen (politischen) Anführer einer Kommune (z. B. eines Dorfs oder eines Kreises) waren in meinen historischen Beispielen nicht identisch mit den Anführern der religiösen Gemeinschaften (z. B. Aktivisten, Veranstaltern der Prozession), die für die Erhaltung der Tempel und Durchführung der Prozessionen zuständig waren. Mit anderen Worten: die Prozessionsaktivisten und Aufseher der betreffenden Tempel entwickelten unterschiedliche Formen von Organisationen, die unabhängig von der lokalen politischen Struktur waren. Es wird in meinen historischen Fallbeispielen eindeutig aufgezeigt, dass die zwei Systeme, nämlich das lokale politische System und die Tempel- bzw. Prozessionsorganisation, nicht miteinander gleichzusetzen waren. Eine Rolle der lokalen politischen Anführer in Bezug auf die Tempel und die Prozessionen war im Normalfall kaum zu beobachten. In Krisen zwischen den religiösen Gemeinschaften und der staatlichen Macht nahmen sie allerdings oft die Rolle des Schlichters und Vermittlers zwischen den beiden Parteien ein, obwohl ihre Versuche oft am Mangel von Kompromissbereitschaft einer oder beider Parteien scheiterten. Außerdem war die Familien- und Clanstruktur mit den Tempelkomitees oder Prozessionsverbänden nicht völlig identisch, obwohl einige Aktivistenverbände stark mit ihrer Familientradition verbunden waren. Die Prozessionen waren grundsätzlich eine Angelegenheit der Kommune, d. h. die Entscheidung über eine Prozession musste nicht innerhalb einer Familie oder eines Clans getroffen werden, sondern über die Familienstruktur hinaus in der Kommune. Abgesehen davon, dass der Terminus „congregation“ aus dem christlichen Kontext meiner Meinung nach für die Beschreibung chinesischer Religion unpassend ist, ist die Gleichsetzung der gesamten Bevölkerung eines Ortes (Dorfes, Kreises oder Region) mit den Beteiligten einer Prozession viel zu vereinfacht. Natürlich waren alle Bewohner einer Kommune automatisch zur Prozession eingeladen und willkommen. Sogar die extra wegen einer

332 Prozession aus Nachbarkreisen oder -provinzen eingereisten Schaulustigen wurden nicht ausgeschlossen. Aber man sollte vorsichtig sein und die Beteiligten einer Prozession nicht als ein unausdifferenziertes, homogenes und einheitliches Ganzes behandeln. Wie aus meiner Forschung hervorgeht, verfolgten die Gruppen der Prozessionsbeteiligten unterschiedliche Ziele bzw. Interessen, d. h. die Beteiligung an der Prozession war mit bestimmten persönlichen Motiven verbunden. Die Aktivistenverbände können nicht als „diffused“ bezeichnet werden, sondern im Gegenteil eher als institutionalisiert. Oder vorsichtiger formuliert: die Prozessionen und ihre betreffenden Aktivistenverbände gelten als eine Zwischenform in Yangs Unterscheidung zwischen der „diffused“ und der „institutional religion“. Darüber hinaus hat sich eine andere Aussage Yangs durch die vorliegende Forschungsarbeit als fraglich erwiesen. Yang beschrieb eine Wende, die gegen Ende der Han – Zeit einsetzte, wonach die sog. „voluntary religion“ (v. a. Buddhismus und Taoismus) für die „communal religion“ eine Herausforderung darstellte. 1 Aber erstens bilden meiner Meinung nach die zwei Begriffe „communal religion“ und „voluntary religion“ keinen echten Gegensatz, zumindest im Fall der Prozession. Viele Aktivisten der Prozessionen, v. a. die „Missetäter“, stehen nicht nur für ein sehr hohes Engagement, sondern auch für Freiwilligkeit. Zweitens ist festzustellen, dass trotz der Ausbreitung der „voluntary religion“ der Fortbestand der kommunalen Religion überhaupt nicht gefährdet wurde. Ganz im Gegenteil zu Yangs Behauptung wurden die lokalen Gottheiten und deren Prozessionen immer beliebter. Teilnehmerzahl und Häufigkeit von Prozessionen sowie der Aufwand für die Prozessionen weisen darauf hin, dass die kommunale Religion vermutlich eine höhere Popularität und ein höheres Mobilisierungspotential im Volk besaß, als die „voluntary religion“. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Yangs Einordnung der kommunalen Religion in die „diffused religion“ sehr fragwürdig ist. Inwiefern sich ein Aktivistenverband zu einer „institutionalisierten“ Form entwickelte, kann man in jedem Einzelfall

1 Ibid., 110-1.

333 überprüfen. Sicher ist, dass die kommunale Religion nicht so „diffused“ war, wie Yang behauptet. Seine aus meiner Sicht problematische Dichotomie verrät m. E. eine seit langem unreflektierte Grundannahme in der Forschung über chinesische Religionen. 2) Die These Yangs, dass die „diffused religion“ ihre Kosmologie, Symbole und Götter einseitig und ausschließlich bei der sog. institutionalisierten Religion „ausgeliehen“ oder von ihr „abgeleitet“ habe, ist durch meine Forschungen nicht mehr haltbar. Die Genesen der vielen lokalen Götter bzw. Gottheiten, die in den Prozessionen verehrt wurden, sind eng mit den Biographien der betreffenden Götter und Gottheiten bzw. den Überlieferungen zu ihnen verbunden. Das heißt, die meisten in den Prozessionen verehrten Götter bzw. Gottheiten waren ursprünglich lokale Persönlichkeiten (Beamte, Helden), die im Laufe der Zeit vergöttlicht wurden. Sie haben ihre Ursprünge nicht in der systematischen Doktrin oder Lehre der institutionalisierten Religion. Umgekehrt wurden einige von ihnen von institutionalisierten Religionen (Buddhismus und Taoismus) in deren eigenen Pantheon aufgenommen und systematisiert. Trotzdem existierten auf der kommunalen Ebene parallel dazu die von Laien initiierten Feste und Rituale, wie Prozessionen, die in Hinblick auf Finanzierung und Organisation nicht unmittelbar mit der institutionalisierten Religion zusammenhingen. Man kann sogar behaupten, dass die institutionalisierte Religion - im Gegensatz zu Yangs Behauptung - in Bezug auf die kosmologische Ordnung und die Entstehung der Gottesvorstellungen eher von der „diffused religion“ abhängig und in ihr verwurzelt war. Yangs Feststellung über die Zweitrangigkeit der „diffused religion“ ist zwar nicht mehr haltbar, spiegelt aber weithin eine Grundannahme wider, die kaum angezweifelt worden ist, nämlich dass die „diffused religion“ sekundär und nebensächlich gewesen sei. Deswegen sind die Prozessionen, die auf der lokalen Ebene eine unübersehbare Popularität beim Volk genossen, von der Religionswissenschaft vernachlässigt worden. Fachgeschichtlich betrachtet hat Yangs Dichotomie bzw. Paradigma verhindert, die vielfältigere Wirklichkeit der chinesischen Religionslandschaft zu entdecken. Es ist vielleicht zu früh, auf Yangs Dichotomie gänzlich zu verzichten. Sie könnte in der

334 Religionswissenschaft weiterhin nützlich sein. Aber der Grundstein von Yangs Dichotomie ist durch die vorliegende Forschungsarbeit erschüttert. In künftigen Forschungen sollten wir achtsamer und reflektierter mit Yangs Zweiteilung umgehen. Andernfalls würde die lebendige Religion, v. a. die Menschen hinter der Religion, in der Undurchschaubarkeit der Geschichte oder in der Rigidität der Theorie versinken.

335

13. Quellen

13.1. Abkürzungen der zitierten Nachschalgewerke und Sammelwerke

Abkürzung Titel Ort Verlag Jahr Bemerkung

CY 辞源 上海 商务印书馆 1933

HYDCD 汉语大词典 上海 汉语大词典出版社 1992

WLGHYZD 王力古汉语字典 北京 中华书局 2000

YS 元史 北京 中华书局 1992

JS 金史 北京 中华书局 1995

SKQS 四库全书 上海 上海古籍出版社 1987

QSL 清实录 北京 中华书局 1985 影印本

GJTSJC 古今图书集成 成都 中华书局、巴蜀书社 1985 陈梦雷编纂、蒋廷锡校订

Digitalisierte 联合百科电子出版有 Online-Ausgabe, Zugang BDGJTSJC 标点古今图书集成 台北 1934 限公司 durch „Cross Asia“ der Staatsbibliothek zu Berlin

13.2. Die zitierten Zeitungsartikel aus Shenbao (申报)

Anmerkung: Die zitierten Zeitungsartikel stammen ausnahmslos aus der Faksimileausgabe der Shenbao, die von der „Shanghaier Buchladung“ (上海书店) im Jahr 1982 reproduziert wurden.

133-566(3): 恢复迎神赛会之旧例, 5. April, 1915.

133-598(4): 迎神赛会之扫兴, 7. April, 1915.

145-640(4): 查禁迎神赛会, 5. April, 1917.

151-566(4): 迎神赛会之扫兴, 6. April, 1918.

157-91(4): 官厅严禁迎神赛会, 6. März, 1919.

157-251(4)-16: 浦东愚民之赛会热, 16. März, 1919.

157-385(3): 徐警厅长严禁迎神赛会, 24. März, 1919.

157-451(2): 查禁迎神赛会之县令, 28. März, 1919.

336 157-467(4): 迎神赛会之严禁, 29. Mäzr, 1919.

157-710(6): 社庄庙迎神赛会纪, 13. April, 1919.

157-727(3): 浦东吴家厅出会肇祸, 14. April, 1919.

157-743(2): 浦东吴家厅出会肇祸续纪, 15. April, 1919.

157-759(1): 浦东吴家厅出会肇祸三纪, 16. April, 1919.

157-775(1): 浦东吴家厅出会肇祸四纪, 17. April, 1919.

157-791(2): 浦东吴家厅出会肇祸五纪, 18. April, 1919.

157-838(6): 浦东吴家厅出会肇祸六纪, 21. April, 1919.

157-854(4): 浦东吴家厅出会肇祸七纪, 22. April, 1919.

157-982(5): 浦东吴家厅出会肇祸八纪, 30. April, 1919.

158-843(5): 镇江乡民因疫迎神会, 20. Juni, 1919.

161-379(2): 下元节赛会之路由, 22. November, 1919.

163-491(2): 禁止迎神赛会之警厅布告, 27. März, 1920.

163-567(3): 淞沪警厅严禁迎神赛会, 31. März, 1920.

163-659(1): 沪清明节迎神赛会之种种, 5.April, 1920.

163-659(6): 警厅禁止迎神之效力, 5. April, 1920.

163-675(3): 沪清明迎神赛会纪, 6. April, 1920.

164-525(4): 镇江迎神赛会狂热, 30. Mai, 1920.

165-1055(2): 中元节出会纪, 29. August, 1920.

167-167(4): 沪城隍神会之路由, 10. November, 1920.

167-185(3): 沪城隍庙会之热闹, 11. November, 1920.

169-644(6): 便利龙华香客添开专车, 7. April, 1921.

169-919(3): 龙华香汛之热闹, 23. April, 1921.

178-550(1): 宁波姜山赛会之大惨剧, 29. März, 1922.

179-135(3): 姜山赛会肇祸之沪闻, 6. April, 1922.

179-398(1): 改良迎神赛会用欤之我见, 19. April, 1922.

179-438(1): 赛会祀神是无益的, 21. April, 1922.

180-160(5): 沪邑庙内园重修落成午宴纪, 8. Mai, 1922.

183-509(1): 我对于盂兰盆会之意见, 24. August, 1922.

190-106(2): 迎神赛会之无益, 5. April, 1923.

337 201-75(2): 清明节本邑城隍出巡之路线已确定, 4. April, 1924.

201-142(3): 龙华香汛之热闹, 7. April, 1924.

201-296(4): 昨龙华香汛游客达数万人, 14. April, 1924.

201-398(2): 昨龙华香汛之热闹, 19. April, 1924.

205-402(2): 火毁城隍庙后之小零碎, 18. August, 1924.

205-454(2): 城隍庙大火之后之趣评, 20. August, 1924.

211-51(2): 龙华香汛之热闹, 3. April, 1925.

211-89(4): 今日城隍神像停止出巡, 5. April, 1925.

216-287(4): 整理豫园委员会函聘赞助员, 13. September, 1925.

216-461(4): 整理豫园会请驱逐丐窃, 21. September, 1925.

216-569(2): 整理豫园会函请各业募捐, 26. September, 1925.

217-559(2): 整理邑庙豫园经费问题, 26. Oktober, 1925.

218-538(3): 小世界为整理豫园委员会筹款, 27. November, 1925.

220-563(6): 上海重建邑庙大殿估需经费 15 万元, 27. Januar, 1926.

222-292(2): 龙华香汛之热闹, 13. April, 1926.

222-335(2): 闸北客民举行迎都天神会, 15. April, 1926.

223-40(1): 沪修建城隍庙之县署布告, 2. Mai, 1926.

223-43(1): 龙华小会记 und 龙华游记, 2. Mai, 1926.

223-237(6): 江湾神会热闹异常路局开出专车十一次, 10. Mai, 1926.

223-307(2): 江湾观会记, 13. Mai, 1926.

223-465(4): 静安寺的庙会, 19. Mai, 1926.

223-480(1): 上海佛诞之概况, 20. Mai, 1926.

226-537(5): 中元节上海城隍高昌神出巡路由, 22. August, 1926.

226-589(1): 昨日城南看赛神, 24. August, 1926.

230-152(5): 上海邑庙董事会成立, 7. Dezember, 1926.

231-728(4): 上海邑庙大加整顿详情, 10. Februar, 1927.

232-10(5): 邑庙翻造二廊争执解决, 1. März, 1927.

232-54(3): 邑庙董事会决翻造廊房请商铺暂时迁址, 3. März, 1927.

232-76(4): 邑庙董事会整顿邑庙摊基通告, 4. März, 1927.

232-104(1): 邑庙各殿均已翻造, 5. März, 1927.

338 234-78(1): 江湾赛会之碎锦零缣, 4. Mai, 1927.

241-245(6): 上海城隍庙大殿定期落成开光, 11. Dezember, 1927.

241-361(2): 上海城隍庙大殿竣工开光启事, 17. Dezember, 1927.

241-424(4): 沪城隍庙 12 月 18 日行新殿落成礼 und 邑庙董事会查究冒名募捐, 19. Dezember,

1927.

256-896(5): 嘉善禁止迎神赛会, 31. März, 1929.

315-76(1): 公安社会两局禁止迎神赛会, 3. April, 1934.

315-101(8): 两局会衔布告禁止清明赛会, 4. April, 1934.

315-133(1): 静安寺本年庙会摊贩将加限制, 5. April, 1934.

327-156(5): 邑庙三巡会路由, 6. April, 1935.

328-75(1)a: 江湾迎神赛会焚毁神像事件, ??, Mai, 1935.

328-75(1)b: 市党部严禁迎神赛会, 4. Mai, 1935.

331-321(5): 今日邑庙城隍出巡, 18. August, 1935.

333-770(7): 昨日迎赛城隍会, 28. November, 1935.

339-124(7): 今日邑庙城隍会路由, 5. April, 1936.

341-281(7): 常熟县府查禁赛会, 10. Juni, 1936.

343-796(7): 城隍高昌出巡路由, 31. August, 1936.

346-69(6): 上海县劝止迎神赛会, 3. Oktober, 1936.

351-102(3): 城隍出巡路由, 4. April, 1937.

351-125(5): 浦东赛会声中昨演一场武剧, 5. April, 1937.

13.3. Die zitierten Akten aus dem Shanghaier Hauptarchiv

B6-2-271: 商业局、综合贸易公司有关老城隍庙商场改造规则(草案)及行业情况报告 (Feb. bis

Mai. 1956)

B168-1-816: 上海市人民政府民政局关于结束邑庙董事会、三班公所、慎心堂问题的报告 (Jan. bis

Feb. 1956)

Q6-10-95: 上海市社会局社庄庙卷 (Jan. bis Feb. 1946)

Q6-10-166: 上海市社会局邑庙仪友堂卷 (Apr. 1947)

Q6-10-347:上海市社会局邑庙董事会卷 (Aug. 1946 bis Apr. 1947)

339 Q6-18-353: 浦东烂泥渡吴家厅刘公庙向社会局报送的登记总册 (Jan. 1928)

Q119-5-116: 上海市民政局邑庙董事会卷 (Jan. 1948 bis Mai 1949)

Q131-4-201: 上海市警察局行政处关于取缔迎神赛会打醮案 (Mär. 1946 bis Dez. 1947)

Q134-4-63: 上海市警察局邑庙分局整修老城隍庙工作计划会议记录 (Feb. bis Jun. 1946)

Q134-4-106: 上海市警察局邑庙分局关于邑庙董事会简章、干事名册、邑庙豫园摊贩联谊会会员

册 (ab Apr. 1948)

Q134-5-145: 上海市警察局邑庙分局取缔迷信、邪道组织 (Apr. 1946 bis Jan. 1949)

13.4. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1: Die Gottbegrüßungsprozessionen in China ...... 114

Tabelle 2: Prozessionen aus der Serie der Gemeinden- und Dorfzentrenbeschreibungen Shanghais (上海

乡镇志丛书) ...... 151

Tabelle 3: Prozessionen aus der Serie der Bezirksbeschreibungen Shanghais (上海区县志丛书)...... 156

Tabelle 4: Prozessionen aus der Serie der „Alten Gemeinden- und Dorfzentrenbeschreibungen

Shanghais“ (上海乡镇旧志丛书) ...... 157

Tabelle 5: Prozessionen aus der Serie der „Folklore in Shanghai“ (“民俗上海”系列) ...... 159

Tabelle 6. Die Vorstandsmitglieder des Aufsichtsrats (1946)...... 204

Tabelle 7. Die Mieteinahmen aus den Hallen des Stadtgotttempels (1936 und 1948) ...... 214

Tabelle 8. Index der Lebenskosten in Shanghai (1936-48) ...... 218

Abb. 1 Das Problemfeld der Zivilgesellschaftstheorie...... 19

Abb. 2 Sechs Modelle der Zivilgesellschaft(en) ...... 42

Abb. 3 Die Gottbegrüßungsprozessionen in den Provinzen Chinas...... 124

Abb. 4 Bezirke des heutigen Shanghai (Stand: 2000) ...... 149

Abb. 5 Prozessionen in Shanghai aus vier Regionalbeschreibungsserien...... 150

Abb. 6 Prozessions-Sperrzonen der Konzessionen in Shanghai ...... 178

Abb. 7 Die Umgebung des Stadtgotttempels in Shanghai während der Republikzeit...... 191

Abb. 8 Die Organisationsstruktur des Aufsichtsrats vom Stadtgotttempel...... 198

340 Abb. 9 Die Zusammensetzung der Mitarbeiter des Aufsichtsrats des Stadtgotttempels (1927)...... 199

Abb. 10 Der Tempelbesitz des Stadtgotttempels (nach Angaben des Aufsichtsrats 1946/7)...... 210

Abb. 11. Die Aufteilung der Mieteinnahmen aus den Hallen des Stadtgotttempels (Das erste Halbjahr

1948) ...... 215

Abb. 12. Die monatlichen Ausgaben des Aufsichtsrats (1948) ...... 216

Abb. 13 Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten und Kontrolleuren des

Stadtgott-Inspektionsrundgangs ...... 255

Abb. 14 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 22. Nov., 1919...... 256

Abb. 15 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 10. Nov., 1920...... 257

Abb. 16 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 5. April, 1924 ...... 258

Abb. 17 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 22. Aug., 1926...... 259

Abb. 18 Die Routen der Gaochang-Prozession am 23. Aug., 1926...... 260

Abb. 19 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 6. April, 1935 ...... 261

Abb. 20 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 13. Aug., 1935...... 262

Abb. 21 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 5. April, 1936 ...... 263

Abb. 22 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 31. Aug., 1936...... 264

Abb. 23 Die Routen der Gaochang-Prozession am 1. September. 1936 ...... 265

Abb. 24 Die Routen des Stadtgott-Inspektionsrundgangs am 5. April, 1937 ...... 266

Abb. 25 Die Tempel und Polizeibezirke in Pudong ...... 296

13.5. Literaturverzeichnis

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360

Versicherung

Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit ohne unzulässige Hilfe Dritter und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe; die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken sind als solche kenntlich gemacht. Bei der Auswahl und Auswertung des Materials sowie bei der Herstellung des Manuskripts habe ich die Unterstützungsleistungen von folgenden Personen erhalten: Weitere Personen waren an der geistigen Herstellung der vorliegenden Arbeit nicht beteiligt. Insbesondere habe ich nicht die Hilfe eines Promotionsberaters in Anspruch genommen. Dritte haben von mir weder unmittelbar noch mittelbar geldwerte Leistungen für Arbeiten erhalten, die im Zusammenhang mit dem Inhalt der vorgelegten Dissertation stehen. Die Arbeit wurde bisher weder im Inland noch im Ausland in gleicher oder ähnlicher Form einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und ist auch noch nicht veröffentlicht worden.

Datum Unterschrift

361 LEBENSLAUF

Persönliche Daten:

Name: Zhejun YU

Adresse: Philipp-Rosenthal-Str.33/335

04103 Leipzig

E-Mail: [email protected], [email protected]

Geburtsdatum: 05.01.1979

Geburtsort: Shanghai, China

Ausbildung:

Okt. 2005 bis jetzt Doktorand im religionswissenschaftlichen Institut, Fakultät für Geschichte,

Kunst- und Orientwissenschaften, Universität Leipzig.

Betreuer: Prof. Dr. Hubert Seiwert

2001 bis 2004 Magister-Studium, Philosophische Fakultät, Fudan Universität (Shanghai,

China); Betreuer: Prof. Dr. Zhang Qingxiong.

Hauptfachrichtung: Europäische Philosophie

Nebenfachrichtung: Religionswissenschaft

Titel der Magisterarbeit: John Searles Theorie der Intentionalität

Öffentliche Verteidigung der Magisterarbeit: Juni 2004

1997 bis 2001 Bachelor-Studium, Philosophische Fakultät, Fudan Universität (Shanghai,

China), Fachrichtung: Westliche Philosophie

Titel der Bachelorearbeit: Ludwig Wittgensteins Frage zur „Privatsprache“

1994 bis 1997 Oberschule (Weiyu, Shanghai)

1990 bis 1994 Mittelschule (Weiyu, Shanghai)

1985 bis 1990 Grundschule (Shanghai)

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