Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft „Der Westen“, bestehend aus der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbach-Stiftung (hervorgegangen aus dem Bund der Elsässer und Lothringer e.V. und dem Bund Vertriebener aus Elsaß-Lothringen und den Weststaaten e.V.) sowie der Erwin von Steinbach-Stiftung

ISSN 0179-6100 E21949 Heft 1/2 2014 61. Jahrgang www.gesellschaft-elsass-und-lothringen.de

Blick auf den Thomasstaden in Straßburg (historische Fotografie)

Inhalt

Von Wahl zu Wahl ...... 2

Einladung zur Mitgliederversammlung ...... 3

Neji Bäse fäje güet ...... 4

Buchbesprechung ...... 5

Impressum ...... 13

Germain Muller (1923–1994) ...... 14

Zum Tode von Prof. Dr. Walter Ernst Schäfer ...... 15

Das älteste Musikfestival Frankreichs verschwindet!

Hinüber und herüber ...... 16

Von Wahl zu Wahl Staatspräsident Hollande, der am vertretungen, an, legte sich aber nicht zahl der Regionalräte gewählt werden 6. Mai 2012 mit deutlicher Mehrheit auf einen Termin fest. Im Februar soll. Welche Zuständigkeiten die neu- gewählt worden war, hat während hatte er in Tulle jedoch das schiere en Regionen haben sollen, das weiß der ersten zwei Jahre seines Auftrags Gegenteil erklärt, nämlich zugesagt, wohl auch noch niemand. Diejenigen, seine Beliebtheit weitestgehend ein- daß diese Generalräte auf keinen Fall die darüber Vorstellungen entwickelt gebüßt und hat mit nur 21 % zufrie- verschwinden würden. haben, halten damit hinterm Berge. dener Staatsbürger einen noch nie Was wir im Elsaß versucht hatten, Ginge es nach dem Wunsche von und bisher von keinem Staatspräsi- nämlich die Zusammenlegung der Hollande, wäre die neue Territorial- denten erreichten Tiefstand erreicht. beiden Departements, was jedoch gliederung 2016 in Sack und Tüten. durch die Spitzfindigkeit der damali- Der gegenwärtige Präsident der Schlag auf Schlag gen Regierung vereitelt worden war, Region Elsaß, Philippe Richert, hat wird nun vielleicht durch ein Gesetz darauf hingewiesen, daß Hollande In den letzten zwei Wahlgängen der über die Umgestaltung der Aufteilung von der Verschiebung von Kompeten- Kommunalwahlen hat der PS (Parti des Staatsgebiets, das jedoch noch zen vom Staat auf die Regionen und socialiste) nacheinander zwei bitte- gar nicht beschlossen ist, oder durch von der Umverlagerung der dazu not- re Abfuhren einstecken müssen. Er- ein Dekret des Präsidenten herbeige- wendigen Mittel noch nichts hat ver- staunlicherweise konnte der Straß- führt. lauten lassen. burger Bürgermeister, der Sozialist Roland Ries, seine Stellung in einer Eine schwierige, doch nicht Stadt behaupten, die sich, zumin- unmögliche Reform dest in den vergangenen Jahrzehn- ten, zum Zentrum oder zur Rechten Die vorgesehene Verwaltungsreform bekannte. Vielleicht verdankt Ries stößt nun auf beachtliche Hindernis- das der Tatsache, daß die Opposi- se. Die Abschaffung der Departemen- tion gespalten war. Diese Parteien talräte, der sogenannten Generalräte, kamen bei den Kommunalwahlen mit setzt entweder ein positiv ausfallen- einem blauen Auge davon. Der Front des Referendum oder eine entspre- National (FN) konnte zweimal leichte chende sechzigprozentige Mehrheit Wählergewinne einheimsen. bei der Wahl des Senats voraus. Das Der Stimmenrückgang beim Parti so- Bestehen der Generalräte ist nämlich cialiste hat Präsident Hollande, der durch Artikel 72 der französischen jahrelang dessen Generalsekretär ge- Verfassung gesichert. Nun muß die wesen war, veranlaßt, die Regierung Regierung eine Formulierung ausklü- umzubauen. Solches war sowohl von geln lassen, die sowohl die Abschaf- der eigenen Partei als auch von der fung der Departements beinhaltet als Opposition verlangt worden. An Stelle auch einen Gewähltenrat ins Leben von Jean-Marc Ayrault wurde der jün- ruft, der in den Departements die für gere, tatkräftige, bewegliche Manuel Im Aufwind: Marine Le Pen und die Region Gewählten beibehält. Um Valls zum Premierminister ernannt. ihr Front National (Foto: Foto-AG die Quadratur des Kreises zu lösen, Er verringerte die Anzahl der Minister, Gymnasium Melle EU-Parlament) wird wohl ein „Expertenkomitee“ zu entließ einige, versetzte andere, doch Rate gezogen. Da es sich dabei, wie im großen und ganzen blieb die Re- Laut Aussage des Präsidenten üblich, um Experten am grünen Tisch, gierung, wie sie gewesen war. Aller- Hollande wären zwölf oder elf Re- die von der tatsächlichen Lage nur dings wurde der Sparkurs verschärft, gionen die gute Landkarte. Er möch- eine blasse Ahnung haben, handeln sehr zur Freude der Steuerzahler. te diese Reform vorantreiben, was dürfte, wird die Verlegung der Wahlen Es muß doch einmal gelingen, das jedoch voraussetzte, daß die Wah- zu den neuen Regionen vom März Staatsdefizit auf die von Brüssel ver- len erneut zeitlich hinausgeschoben 2015 auf den März 2016 verständlich. langten 3 % zu bringen. werden müßten. Denn es wäre, wie Einige Zusammenlegungen dürften der Präsident meint, vorteilhaft, die Proteste auslösen. Die Auvergna- Improvisation Lokalwahlen nach der Reform durch- ten wollen nicht mit den Limousinern zuführen. So würden die gegenwärti- vermischt werden, und die Elsässer Diese Art, das Land zu verwalten, gen Regional- und Generalräte zwei haben zum Teil schon gegen eine mag hingehen, gemahnt aber zu sehr Jahre länger im Amte sein, bis sie Einbeziehung in den Großen Osten an eine dauernde Improvisation. Das durch neue Regionalräte in den grö- Stellung genommen. Mit den Mose- bringt zwangsläufig Widersprüche ins ßeren Regionen ersetzt würden. Wie lanern käme man schon aus, aber Geschehen, die nicht dazu beitragen, kompliziert diese Reform wäre, das vielleicht nicht mit den Lothringern! das Vertrauen der Staatsbürger in die vermag man sich derzeit gar nicht Die Opposition wirft der Regierung Regierung zu festigen. So kündigte vorzustellen. Aber man weiß, daß zu- vor, sie wolle mit der zeitlichen Ver- zum Beispiel Hollande am 6. Mai in ei- nächst die Regionen zugeschnitten schiebung der Wahlen die in den ver- nem Interview entschieden das Ende werden sollen und danach je nach gangenen Wahlen erlittenen Verluste der Generalräte, der Departements- Größe der Region die jeweilige An- ausmerzen.

2 Der Westen 1/2 2014 Die Europawahl

Inzwischen ist die „Europa-Wahl“ Die Ergebisse der Wahlen in Frankreich über uns hinweggefegt. In Frankreich hat es die kleinkarierte Parteipolitik Die Wahl am 23. März 2014 stellte für François Hollande, die Sozialisten und erreicht, daß Cathérine Trautmann ihre Verbündeten ein Debakel dar: Rekord-Stimmenthaltung, Wendung nach nicht auf den ersten, sondern auf den rechts, historische Ohrfeige für die Linke, die Städte verliert, in denen sie seit zweiten Platz der sozialistischen Liste über 50 Jahren die Mehrheit innegehabt hatte. kam und einem von der Parteileitung Im Elsaß gingen am 23. März 60,51 % der Wahlberechtigten zu den Urnen, in Paris bestimmten Kandidaten wei- bei den Stichwahlen am 30. März 58,1 %. Ergebnis der beiden Wahltage: Der chen mußte. Cathérine Trautmann Front National (FN) zieht in mehrere Gemeinderäte ein, z. B. in Straßburg, wurde als Listenzweite nicht gewählt, Mülhausen, Barr, Hagenau, Weißenburg, Herrlisheim. da sich für die Sozialisten bei der Im Colmar wurde Gilbert Meyer (Union pour un mouvement populaire/UMP) „Europa-Wahl“ das Debakel fortsetzte. bereits im ersten Wahlgang mit 51,32 % der Stimmen als Bürgermeister wie- Engstirnige franko-französische Par- dergewählt. Die Sozialisten errangen 8,67 %, die Alliance Écologiste 9,34 %. teipolitik vergab so die Gelegenheit, Ergebnis in Straßburg: Roland Ries (Parti socialiste/PS) bleibt Bürgermeister eine elsässische Gewählte ins neue (46,96 %), Fabienne Keller (UMP): 45,03 %, Jean-Luc Schaffhauser (FN): „Europa-Parlament“ zu bringen. 8,01 %. Auch in Paris, Lyon und behalten die Linken die Mehrheit. Frankreich vergleicht den Durchbruch des Front National zwar einem Erd- Die Zahlen der Europawahl vom 25. Mai 2014 beben, was bei weitem übertrieben ist, doch darf nicht vergessen wer- Wie in ganz Frankreich ist auch im Elsaß der Front National im Aufwind. Er ver- den, daß insgesamt die Mitte und die einigt in Frankreich 25,4% der Stimmen auf sich und wird stärkste Partei. Die Rechte im Europaparlament das Wort UMP erringt 20,3 %, der PS 14,7 %. Die UMP behält 3 Abgeordnete, darunter führen. Ob die 56 % der Europäer, die Anne Sander als einzige Abgeordnete aus dem Elsaß. gar nicht zu den Wahlurnen gegangen Im Elsaß erhält die Liste FN von Florian Philippot 27,16 % und setzt sich auch sind, beim nächsten Mal den Weg hier an die Spitze, obwohl der FN im Elsaß nicht viel Wahlpropaganda entfaltet dorthin finden und wie sie dann stim- hatte. Die Liste der UMP von Nadine Morano schneidet mit 24,7 % ab. Der PS men werden, das bleibt abzuwarten. erhält in Frankreich 13,24 %, im Elsaß 11,72 %, die Liste Centriste in Frank- Hoffen wir das Beste! reich 8,97 %, im Elsaß 10,60 %. Gabriel Andres

Einladung

Der Vorstand lädt alle Mitglieder der „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbach- Stiftung e. V.“ herzlich zur nächsten Mitgliederversammlung ein. Sie findet am Samstag, dem 18. Oktober 2014, um 14 Uhr im Hotel Sautter in 70176 Stuttgart, Johannesstraße 28 statt. Da die Amtszeit des Vorstandes abgelaufen ist und ein neuer Vorstand gewählt werden muß, ist zahlreiches Erscheinen sehr erwünscht. Der Vorstand würde sich darüber sehr freuen!

Tagesordnung der Mitgliederversammlung der „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbach-Stiftung e. V.“ am 18. Oktober 2014 um 14 Uhr in Stuttgart, Hotel Sautter:

TOP 1 Begrüßung durch den 1. Vorsitzenden mit TOP 4 Kassenbericht 2011 bis 2014 und • Feststellung der ordnungsgemäßen Bericht der Kassenprüfer Ladung TOP 5 Aussprache / Entlastung des Vorstands • Feststellung der Beschlußfähigkeit TOP 6 Wahl eines Wahlleiters • Feststellung der Tagesordnung TOP 7 Kandidatenaufstellung und TOP 2 Bestimmung eines Protokollführers Wahl eines neuen Vorstands TOP 3 Rechenschaftsbericht des Vorstands TOP 8 Wahl der Kassenprüfer durch den 1. Vorsitzenden TOP 9 Planung für die kommenden Jahre TOP 10 Sonstiges.

Im Anschluß an die Mitgliederversammlung hält Herr Dr. Rolf Sauerzapf aus Kassel einen Vortrag, in dem er vier elsässische Autonomisten der Zwischenkriegszeit (Karl Roos, Hermann Bickler, Fritz Spieser, Joseph Rossé) vorstellt und ihre unterschiedlichen Vorstellungen und Schicksale beleuchtet.

Namens des Vorstandes Dr. Rudolf Benl, 1. Vorsitzender

Der Westen 1/2 2014 3 Neji Bäse fäje güet Neue Besen fegen gut, sagt ein sind, wo deren Verwirklichung aber un- elsässisches – und nicht nur elsäs- terdessen hinausgeschoben worden sisches – Sprichwort. Möge es an- ist, endlich gegründet werden, zum läßlich des nächsten Schuljahrsbe- Beispiel in Niedersept – Seppois-le- ginns im Herbst 2014 wahr werden! Bas. Hier im Elsaß ist das Gefühl für Ende des vergangenen Jahres hatte die Region stark ausgeprägt, und die Premierminister Ayrault angekün- Doppelkultur spricht mich sehr an. digt, Frankreich werde den Vorgang Konkordat und Schulstatus sind vom der Ratifikation der Europäischen Staatsrat – Conseil Constitutionnel – Charta der Regional- und/oder gesetzlich anerkannt und geschützt Minderheitensprachen beschleuni- und sehr wohl vereinbar mit der gen, ein Versprechen, das auf eine französischen laizistischen Schul- merkliche Verbesserung des zwei- philosophie. Bezüglich der Zweispra- sprachigen, paritätischen Unter- Rektor Jacques-Pierre Gougeon chigkeit habe ich mit den Syndikaten richts in den Grundschulen Elsaß- und den Elternvereinigungen debat- Lothringens abzielt. Seitdem ist ein wegen müssen wir Herrn Gougeon tiert. Hier sind viele Arbeitsstellen mit gutes halbes Jahr vergangen, und es dankbar sein. Er hat das Sprachen- der Praxis der deutschen Sprache hat sich an der Lage dieses Unter- problem im Elsaß nämlich nicht auf verbunden, aber das ist kein Grund, richts nicht viel geändert. Oder doch? eine auf Nützlichkeitsgründen be- den übrigen Unterricht zu vernach- ruhende Notwendigkeit reduziert, lässigen, was auch nicht geschehen Ein neuer Rektor sondern das Schwergewicht auf die soll.“ („Dernières Nouvelles d’Alsace“ ethnische Zugehörigkeit des elsässi- vom 19. Februar 2014 unter J. Fortier) Die Akademie Straßburg hat in der schen Volkes verlagert, was natürlich Diese durchaus positive Einstellung Tat einen neuen Rektor erhalten, den anderen Gesichtspunkt in kei- von Herrn Gougeon zum zweisprachi- und zwar in der Person von Herrn ner Weise ausschließt. Im Gegenteil, gen Unterricht und zur Zweisprachig- Jacques-Pierre Gougeon. Der neue wenn man beides sinnvoll verbindet, keit überhaupt kann uns nur erfreuen. Rektor ist gemäß seiner Ausbildung sollte oder dürfte das Endergebnis um Im kommenden Herbst werden wir Germanist, was allein begrüßenswert so ersprießlicher sein. ermessen können, inwieweit die Pro- ist. Er sollte die Probleme, die sich Darüber befragt, wie er die Zukunft jekte des Herrn Rektors in die Praxis hier im Elsaß und in der nahen Mosel- der Zweisprachigkeit einrichten wer- umgesetzt werden oder worden sind. le stellen, besser verstehen. Er hat es de, äußert sich Herr Gougeon ka- Über die Ratifikation der Europä- auch ohne Zögern zugestanden, wie tegorisch: „Ich werde zum Schulbe- ischen Charta zugunsten der Regio- es die „Dernières Nouvelles d’Alsace“ ginn 2014 etwa 60 Schulklassen im nal- und Minderheitensprachen war vom 19. Februar 2014 ihren Lesern Bereich des Grundschulunterrichts seitdem nicht mehr viel zu erfahren. bekanntgegeben haben: „Ich bin zwar mit paritätischem, zweisprachigem Doch bis zum Schulanfang des Jah- Germanist, entdecke aber hier den Unterricht eröffnen, so daß wir zum res 2014 stehen uns noch ein paar gefühlsmäßig bedingten Aspekt des erstenmal über tausend solcher Klas- Wochen bevor. Und die klare, un- Problems. Und wenn man diesen be- sen verfügen werden, vielleicht sogar zweideutige Einstellung der Gewähl- herzigen will, handelt es sich um mehr über etwas mehr. Ich werde dafür ten zur Zweisprachigkeit läßt uns als nur um die Eröffnung einer Schul- sorgen, daß diese Methode des Un- hoffen, daß nunmehr, nach den Kom- klasse, man befindet sich im Kern des terrichts gefestigt werde, und sie auch munalwahlen, dieses heikle Problem Identitätsproblems.“ im Berufsbildungsfach fördern. Des mit frischem Mute wieder aufgewor- Das hat noch kein Rektor in Straßburg weiteren sollen solche Klassen, wo fen wird. so klar formuliert, und schon des- sie vom Staat versprochen worden Gabriel Andres

Nachtgewitter im Elsaß

Maiengewitter flammen den Rhein entlang. Ich höre der Alamannen Bärengesang – Aus den geheimnisvollen Klüften dampft das Römer-Kriegshorn – gallisch-behenden Ansprung – die Kraft der Erde, spaltet mit rotem Schwert Landsknecht- und Bauernbrüllen – dumpf und schwer. die dumpfe Glut, die über der Menschheit wuchtet, Kanonendonner von Wörth – und scharf darein und legt den Vollmond frei und die winzigen Sterne. das helle Attackensignal der Kavallerie! ...

Das sind die Nächte des Sommers! Köcherklirren Melodisch Land! Wie hab‘ ich von Herzen lieb des Kriegsgotts, der seine Geister zum Kampfe ruft! die Glocken am Rhein, die Glöckchen am Wasgenwald! Da springen gefallne Helden aus alter Lust Doch dies wär‘ nicht mein Elsaß, flammten nicht mitten ins Feuergetümmel und lachen dazu, in Faulbaumduft und Nachtigallengetön wie sich der Kenner der Heldenhiebe freut, die roten Gewitter, die Donnerschläge der Nacht! auch wenn der eigne Schild im Hieb zerklafft. (Friedrich Lienhard – Aus der Sammlung „Heimat“)

4 Der Westen 1/2 2014 BUCHBESPRECHUNG Hans Fenske: Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914–1919 München (Olzog-Verlag) 2013, 144 Seiten (ISBN 978-3-7892-8348-2)

Allenthalben wird zur Zeit des nun 100 telpunkt. Doch bietet das Buch dar- lands hätten während langer Jahre Jahre zurückliegenden Ausbruchs über hinaus einen Überblick über das getreu der preußischen Tradition die des Ersten Weltkrieges gedacht. Die- diplomatische Geschehen bzw. die Vorherrschaft in Europa angestrebt ser Krieg forderte schreckliche Opfer, diplomatischen Bemühungen, die das und danach getrachtet, „ein unterjoch- führte dazu, daß drei monarchisch- blutige Kriegsgeschehen von 1914 tes Europa zu beherrschen und zu ty- dynastische Reiche zugrunde gingen, bis 1919 begleiteten. rannisieren“, Gewalt immer vor Recht Österreich-Ungarn, das Osmanische Fenske setzt die Frage nach der gesetzt, unablässig die Rüstung aus- Reich und das Russische Kaiserreich Kriegsschuld an den Anfang seiner gedehnt, sich bemüht, zwischen den (das allerdings nach einigen Jahren Darstellung. Am 28. Juni 1919 unter- Nationen Feindschaft und Argwohn als Sowjetunion in völlig gewandel- zeichneten zwei Vertreter der deut- zu säen und durch Gewaltandrohun- ter Form wiederum erstand), daß schen Reichsregierung in Versailles gen den Kontinent in einem Zustand das Deutsche Reich zwar überlebte, einen „Vertrag“, über den vorher nicht der Gärung zu erhalten. Schließlich doch, durch ein Friedensdokument, hatte verhandelt werden können, hätten sie sich entschlossen, ihre Vor- das an Umfang, Ausführlichkeit und der die Bezeichnung Vertrag also herrschaft mit Gewalt zu begründen, Ausgefeiltheit alles bis dahin bei Frie- nicht verdiente und der in seinem und den allgemeinen Krieg entfesselt. densschlüssen Dagewesene übertraf, Artikel 231 die Behauptung enthielt, Um diesen Krieg doppelt sicherer zu gefesselt und amputiert, in eine Paria- Deutschland und seine Verbündeten machen, hätten sie sich jedem Ver- Rolle gedrängt wurde und daß sich seien die alleinigen Urheber des Krie- such der Versöhnung und Beratung die politische Landkarte in Ostmittel- ges gewesen, die Urheber aller Ver- entzogen, bis der Weltkrieg, „den europa und Südosteuropa vollkom- luste und Schäden, die die alliierten sie angezettelt hatten und für den men wandelte. Viele Millionen Deut- und assoziierten Regierungen und Deutschland allein unter den Natio- sche, die vorher innerhalb der Gren- ihre Angehörigen infolge des ihnen nen vorbereitet und ausgerüstet war“, zen des Deutschen Reiches oder durch den Angriff Deutschlands und unvermeidlich geworden sei (S. 13). Österreich-Ungarns gelebt hatten, seiner Verbündeten aufgezwungenen 18 Jahre später bewertete der Verfas- fanden sich nun innerhalb der Gren- Krieges erlitten hätten. Der Protest ser dieses haßerfüllten Textes, mitt- zen neu entstandener Staaten als der Reichsregierung gegen diese Be- lerweile zum Lord Lothian erhoben, Teil einer mehr oder weniger ungern hauptung wurde von den Siegermäch- die Dinge in einem Vortrag nüchterner gelittenen Minderheit wieder. Elsaß- ten nicht entgegengenommen. Die und sagte, die These von der Allein- Lothringen, das schon 1911 faktisch ultimativ geforderte Unterschrift unter schuld Deutschlands könne niemand in den Rang eines Bundesstaates des das nicht weniger als 440 umfangrei- mehr aufrechterhalten. Doch nach Deutschen Reiches erhoben worden che Artikel umfassende Vertragswerk wie vor meinte er, Deutschland sei war und diesen Status endgültig im einschließlich des Artikels 231 muß- „wegen des Flottenwettbewerbs mit Herbst 1918 erlangt hatte, wurde wie- te geleistet werden. Noch fünf Jahre England“ und wegen seiner Neigung derum in den streng zentralistischen später, 1924, lehnten es die Sieger- zu Gewaltdiplomatie in stärkerem französischen Staatsverband einge- mächte ab, eine Note der damals von Maße als jeder andere Staat für den gliedert. dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx Krieg verantwortlich gewesen. Hans Hans Fenske, bis zu seiner Emeritie- geführten Reichsregierung, in der die- Fenske führt zu dieser immerhin zum rung Professor für neuere Geschichte se forderte, daß jene Behauptung, die Positiven gewandelten Ansicht des an der Albert-Ludwigs-Universität Frei- ein Mitglied der Völkergemeinschaft Lords zu Recht aus: „Diese Argumen- burg i. Br., hat aus Anlaß des allge- zum Verbrecher an der Menschheit tation zeigt, dass seine Beschäftigung meinen Rückblicks auf die Zeit vor stempele und die Herstellung einer mit dem Thema nicht sehr tief greifend 100 Jahren einen schon 2011 ver- wahren Verständigung zwischen den war. Gelehrte aus neutralen Staaten öffentlichten Aufsatz „Das Deutsche Völkern verhindere, aus der Welt ge- urteilten schon bald nach dem Kriege Reich und die Frage des Friedens schafft werde, auch nur entgegenzu- ganz anders.“ 1914–1919“ als Einzelschrift vorge- nehmen (S. 12). Von entscheidender Bedeutung ist legt, wodurch dem Text eine größere In der Mantelnote vom 19. Juni 1919, die Bewertung des schweizerischen Öffentlichkeit gesichert sein dürfte. in der die Siegermächte des Welt- Wissenschaftlers Ernst Sauerbeck: Schon vorab sei festgestellt, daß das kriegs zehn Tage vor der Unterzeich- „Es trifft […] die Entente die Schuld, schmale Buch mehr enthält, als der nung des Vertrags auf die deutschen diesen Krieg ohne Not entfesselt bloße Titel verspricht. Dieser bezieht Gegenvorschläge antworteten und zu haben, es trifft sie – die weite- sich auf die „alliierte Verweigerung die von dem britischen Diplomaten re und schwere Schuld, ihn zu dem von Friedensgesprächen“. Dieser Philip Kerr verfaßt war, wurde be- gemacht zu haben, was er – wieder Gegenstand steht natürlich im Mit- hauptet, die Regierungen Deutsch- ohne Not! – geworden ist: zum Grab

Der Westen 1/2 2014 5 als Sekretär der genannten norwegi- zen und die Schutzherrschaft über die schen Kommission in deren Namen dann vergrößerten slawischen und eine 400seitige Dokumentation, die orthodoxen Bruderstaaten zu erlan- zum Schluß kam, Rußland sei der gen. Diese Zielsetzung führte zum Ab- agent provocateur für den Krieg ge- schluß des Balkanbundes, bestehend wesen; er maß England den entschei- aus Serbien, Montenegro, Bulgarien denden Einfluß auf die Entwicklung und Griechenland, unter russischem bei, die 1914 zur Katastrophe führte Patronat und zu den zwei Balkankrie- (S. 14 f.). gen in den Jahre 1912 und 1913 (S. Fenske zeigt auf, daß die Großmäch- 15–17). Das erste Ziel, die Zertrüm- te Rußland und Österreich-Ungarn merung zumindest des europäischen lange Zeit daran interessiert waren, Teils des Osmanischen Reichs, war den status quo auf dem Balkan, aus damit erreicht. Österreich-Ungarn, dessen Spannungen der Weltkrieg der Habsburgermonarchie, traute schließlich erwuchs, aufrechtzuerhal- man ungeachtet aller inneren Schwie- ten. Doch nach seiner Niederlage im rigkeiten dieses Vielvölker-Doppelrei- Krieg gegen Japan im Jahre 1905, ches wenngleich eine geringe, doch die seiner Ausdehnung im Fernen vorerst eine noch etwas stärkere Le- Osten ein Ende setzte, wandte sich bens- und Widerstandskraft zu. Den- Rußland wiederum westwärts und noch war Rußland, darin von seinem richtete sein Interesse auf den Bal- Verbündeten Frankreich lebhaft un- kan, wo stammverwandte südslawi- terstützt, eifrig bestrebt, möglichst alle sche Völker und zwar nicht slawische, Staaten Südosteuropas in ein gegen ganzer Völker“. Als größte Schuld doch orthodoxe Rumänen (Wala- Österreich-Ungarn gerichtetes Bünd- lastete Sauerbeck den Siegermäch- chen) und Griechen teils innerhalb nisnetz einzufügen. Graf Czernin, ten den Friedensschluß an. Es sei der Grenzen von Österreich-Ungarn, österreichisch-ungarischer Botschaf- „ein Gewaltfriede, wie man ihn sich teils unter osmanischer Herrschaft ter in Rumänien, einem offiziell mit rücksichtsloser wohl in keinem Lager lebten. Im Irredentismus der Staaten Österreich-Ungarn und dem Deut- je geträumt hat“. Und der niederlän- Serbien, Montenegro, Rumänien und schen Reich noch verbündeten Staat, dische Politiker und Jurist Alexander Griechenland sah Rußland einen Ver- schrieb am 22. Juni 1914, sechs Tage Savornin Lohman, der Mitglied des bündeten. In Belgrad waren 1903 in vor der Ermordung des österreichisch- Haager Schiedsgerichtshofs war, warf der Mordnacht vom 10. auf den 11. ungarischen Thronfolgers Erzherzog den Siegern vor, sie hätten versucht, Juni der letzte König aus dem Haus Franz Ferdinand von Österreich-Este dadurch, daß sie den Unterlegenen Obrenović, der österreichfreundliche durch Gavrilo Princip, an den Außenmi- zwangen, im Art. 231 des Versailler Alexander, und seine Frau, die Kö- nister nach Wien: „Der französische Ge- Vertrages die alleinige Kriegsschuld nigin Draga, ermordet und mit allen sandte [Bondel, französischer Gesand- auf sich zu nehmen und dadurch alles seinen Anhängern blutig aufgeräumt ter in Bukarest 1907–1916], die Seele ihm Auferlegte scheinbar moralisch worden. Noch in derselben Nacht wa- der gegen uns gerichteten Aktion, hat, zu rechtfertigen, „auch dem Rechts- ren die Truppen auf den neuen Kö- wie ich aus positiv verläßlicher Quelle bewusstsein Gewalt anzutun“. nig, Peter I. Karadjordjević, vereidigt weiß, gesagt: ‚die Sache ginge ausge- In Oslo bestand seit dem Frühjahr worden. Dieser verfolgte von Anfang zeichnet – fast zu schnell, Poklewski 1918 eine mit norwegischen Wissen- an einen rußlandfreundlichen Kurs. [russischer Gesandter in Bukarest schaftlern besetzte Kommission zur Serbien geriet mehr und mehr zu seit 1913] würde noch etwas verder- Untersuchung der Kriegsschuldfrage. Österreich-Ungarn in Gegensatz und ben, wenn er so ungestüm vorgehe. Ihrem Sekretär, Hermann Harris Aall, bildete den Vortrupp Rußlands auf Dies sei seine einzige Sorge.‘ […] ebenso dem Landeskomitee zur Er- dem Balkan. Es entwickelte sich zum Seit vorigem Jahre und der Haltung forschung der Kriegsursachen in der Mittelpunkt der Bestrebungen, die au- der Monarchie während des Krieges Schweiz und einzelnen Persönlichkei- ßerhalb der Grenzen des serbischen hat sich hier – wie auch an manchen ten in den Niederlanden, in Schweden Königreiches, teils unter osmanischer anderen Stellen Europas – der feste und Finnland stellte der US-amerika- Herrschaft, teils in Südungarn, teils in Glaube eingebürgert, daß die Mon- nische Senator Owen 1925 die Fra- Bosnien lebenden Serben zu befreien archie ein dem Untergange und der ge, ob der Art. 231 den Tatsachen und sie und im Sinne der Idee des Ju- Auflösung verfallener Körper ist, daß entspreche. Von den 19 Befragten goslawismus auch die anderen Süd- wir bei der Aufteilung der Türkei nichts verneinten 17 die Frage, zwei be- slawen mit den Serben des König- von ihr geerbt haben als ihr Schicksal trachteten sich nicht als kompetent. reichs in einem Staate zu vereinigen. – daß mit anderen Worten in nächster Axel C. Drolsum von der Universität Im Zuge einer früher oder später zu Zeit die Habsburgische Monarchie Oslo, der zu diesen 19 gehörte, hielt erwartenden völligen Umwälzung der zur europäischen Auktion gelangen es für erwiesen, „daß Deutschland Verhältnisse des weiten Raums zwi- wird. Hier setzt die russische und die 1914 als einzige Macht sich ehrlich schen der Drau im Norden und Salo- französische Wühlarbeit ein und die und nach allen Kräften unaufhörlich niki im Süden, die zur Auflösung des in jeder Form in der infamsten, ver- für den Frieden bemüht hat. Seine Osmanischen Reiches und wohl auch logensten und perfidesten Art immer Friedensbemühungen scheiterten an Österreich-Ungarns führen würde, und immer wieder kolportierten Nach- dem Kriegswillen der anderen Mäch- hoffte Rußland große Gebietsgewin- richten und Gerüchte geben diesem te.“ Hermann Harris Aall erarbeitete ne westlich seiner bisherigen Gren- Gedanken rastlos neue Nahrung:

6 Der Westen 1/2 2014 ‚hängt Euch nicht an einen dem Tode In der Zeit vom 20. bis zum 23. Juli von diesem hinhaltend, doch in den geweihten Körper‘ – ‚verlaßt das sin- 1914, zu einer Zeit, da die nach entscheidenden Punkten ablehnend kende Schiff, so lange es noch Zeit ist‘ der Ermordung des österreichisch- beantwortet, gleichzeitig wurde Ser- – ‚bindet Euer Schicksal nicht an das ungarischen Thronfolgers entstande- bien von Rußland, auch von England der Monarchie; Wien kann Euch nur ne Krise auf einem Höhepunkt stand, der Rücken gestärkt (S. 21). mit in das Unglück reißen, wogegen statteten der französische Staatsprä- Das Deutsche Reich war bereit, den die Entente Euch bei der Aufteilung sident Poincaré und der französische österreichisch-ungarischen Verbün- durch das Geschenk Siebenbürgens Ministerpräsident Viviani Rußland deten bei einer militärischen Strafak- belohnen wird‘ – so ähnlich lauten die einen Staatsbesuch ab. Die Groß- tion gegen Serbien zu unterstützen, immer und immer wieder besonders fürstin Anastasia, Gattin des spä- machte jedoch zur Bedingung, daß von dem Vertreter Frankreichs lan- teren Oberkommandierenden der die Existenz und Integrität Serbiens cierten Schlagworte. […] Wenn diese russischen Armee, des Großfürsten dadurch nicht beseitigt werde. Auch russisch-französische Wühlarbeit es Nikolaj Nikolajewitsch, eine geborene der österreichisch-ungarische Au- erreicht haben wird, daß die verein- montenegrinische Prinzessin, sagte ßenminister, Graf Berchthold, ließ am ten serbisch-rumänischen Streitkräf- bei einem in St. Petersburg gege- 25. Juli in St. Petersburg erklären, te von Petersburg aus in Bewegung benen Festbankett am 22. Juli 1914 daß der Kampf, wenn er „uns aufge- gesetzt werden können – wenn mit ihrem Tischnachbarn, dem französi- zwungen wird“, nicht um territorialen anderen Worten ungefähr unsere ge- schen Botschafter Paléologue, der Gewinn geführt und daß die Souve- samte Armee im Süden gebunden er- Krieg werde noch gegen Ende des ränität Serbiens nicht angetastet wer- scheint – dann wird Rußland wohl den Monats beginnen, „von Österreich de. Annexion serbischen Landes lag Augenblick für gekommen erachten, wird nichts mehr übrig bleiben. … Sie übrigens gar nicht im Interesse der ein ernstes Wort mit uns zu sprechen. werden sich Elsaß und Lothringen Doppelmonarchie. Insbesondere Un- – Vor uns vollzieht sich am hellich- nehmen. … Unsere Truppen werden garn wünschte nicht, daß die Zahl der ten Tage, offen und deutlich, son- sich in Berlin vereinigen, … Deutsch- Südslawen innerhalb der Grenzen der nenklar, mit schamloser Dreistigkeit, land wird vernichtet werden.“ Ein Teil Monarchie vermehrt werde. Schritt für Schritt, die Einkreisung der dieser Vorhersagen traf bereits weni- Da einer der obersten Grundsätze Monarchie; – unter russisch-franzö- ge Jahre später ein, allerdings wur- der deutschen militärischen Planung sischer Patronanz schweißt sich ein de auch, was die Großfürstin nicht davon ausging, daß sie wegen der neuer Balkanbund zusammen, des- bedacht hatte, die russische Monar- Mittellage des Reiches und aufgrund sen heute noch anscheinend kompli- chie vernichtet, und auch das König- des seit zwei Jahrzehnten beste- zierter Zweck sich bald in verblüffen- reich des Königs Nikita, ihres eigenen henden, immer fester gewordenen der Einfachheit lösen wird – gegen die Vaters, Montenegro, gab es danach französisch-russischen Bündnisses, Monarchie.“ nicht mehr. Unmittelbar vor der Ab- wodurch im Falle eines Kriegsaus- Diese Äußerung eines hochrangigen reise seiner französischen Gäste am bruchs die Wahrscheinlichkeit eines Diplomaten – Czernin wurde 1916 Abend des 23. Juli versicherte Niko- Zweifrontenkrieges übergroß war, der von Kaiser Karl zum Außenminister laus II., der russische Kaiser, diesen: russischen Planung immer um einen Österreich-Ungarns ernannt –, der „Frankreich … kann auf meinen un- Schritt voraus sein müsse, im Falle die friedensgefährdende Wühlarbeit erschütterlichen Willen zählen, bis einer russischen Teilmobilmachung Rußlands und Frankreichs auf dem zum endgültigen Sieg zu kämpfen.“ Deutschland also eine Gesamtmo- Balkan, die die Existenz Österreich- Paléologue sicherte dem russischen bilmachung anordnen, im Falle einer Ungarns untergrub, aus nächster Außenminister Sasonow zu, daß russischen Gesamtmobilmachung Nähe erlebte, ist bei Fenske übrigens Frankreich alle Verpflichtungen, die Deutschland sofort den Krieg erklären nicht zitiert. Sie stützt seine Ausfüh- sich aus seinem Bündnis mit Rußland müsse, kam es, da Rußland trotz der rungen über die Haltung vor allem ergäben, erfüllen werde. Ein russischer telegraphischen Bitte Kaiser Wilhelms Rußlands, dem Frankreich stets eifrig Ministerrat unter Vorsitz Nikolaus‘ II. II. vom 31. Juli, womit er Nikolaus II. sekundierte. beschloß am 25. Juli 1914 die Teil- beschwor, die Generalmobilmachung, Ebenfalls offiziell noch im Bündnis mobilisierung gegen Österreich- die der „Zar“ am 30. Juli angeordnet („Dreibund“) mit dem Deutschen Ungarn und die Mobilisierung der hatte, zurückzunehmen, diese An- Reich und Österreich-Ungarn stand Schwarzmeerflotte und der Ostsee- ordnung nicht widerrief, am 1. August damals Italien. Das Bündnis war 1912 flotte (S. 19 f.). zur Kriegserklärung Deutschlands an sogar noch einmal in aller Form er- Die österreichisch-ungarische Diplo- Rußland. Damit war der europäische neuert worden. Aber auch diese Mit- matie hatte es versäumt, rechtzeitig Krieg, zu dem in den Jahren zuvor so telmeermacht war insgeheim durch nach der Ermordung des Thronfol- viele Politiker Grund gelegt hatten, die Entente schon längst seinen „Ver- gers, dem letzten einer Reihe von von Wirklichkeit geworden. bündeten“ abspenstig gemacht und serbischem Boden aus unternom- Die weiteren Kriegserklärungen erga- durch Verheißung von Gebietsge- menen Mordanschlägen gegen Per- ben sich teils aus der sicherlich völlig winn auf Kosten Österreichs auf die sönlichkeiten der Doppelmonarchie, zutreffenden Überzeugung der deut- Seite der Entente gezogen worden. Maßnahmen gegen Serbien zu er- schen Führung, daß nach dem Aus- Die Haltung Italien wurde gleich zu greifen. So hatten die Serbien grund- bruch eines Krieges im Osten früher Beginn des Krieges deutlich, durch sätzlich wohlwollenden Mächte (Ruß- oder später ein Krieg mit Rußlands die Kriegserklärung an Österreich- land, Frankreich, Großbritannien) Zeit Junior-Partner Frankreich unaus- Ungarn im Jahre 1915 völlig offenbar. gehabt, wieder Fuß zu fassen. Das weichlich sein werde, teils aus den Für Italien war der „sacro egoismo“ von Österreich-Ungarn am 23. Juli an bestehenden Bündnissen bzw. Inter- oberste Staatsraison. Serbien gerichtete Ultimatum wurde essen. Einen Zweifrontenkrieg konnte

Der Westen 1/2 2014 7 das kleine Deutschland – die Strecke chen und endlich Konstantinopel so- bereits war festgelegt, daß die Rück- von Metz bis Memel betrug nur 1200 wie die das Schwarze Meer mit dem kehr des Landes zu Frankreich nicht Kilometer – nur offensiv führen, wenn Mittelmeer verbindenden Meerengen von einer vorhergehenden Volksbe- es nicht binnen kurzem von Westen gewinnen. Schon im Oktober 1914 fragung abhängig gemacht werden wie von Osten von fremden Truppen erklärte sich England, das gerade die- dürfe. Genauso ist 1918/1919 dann überschwemmt werden wollte. Dage- sem Ziel Rußlands stets widerstrebt auch verfahren worden. Frankreich gen erfreute sich der Kriegsgegner hatte, bereit, die russische Forderung betrachtete – entgegen bisheriger völ- im Osten, Rußland, die größte Land- nach Billigung seiner Festsetzung am kerrechtlicher Ansicht – den Friedens- macht der Erde, eines unermeßlichen Bosporus grundsätzlich anzuerken- vertrag von Frankfurt vom 10. Mai Hinterlandes und konnte sich selbst nen (S. 31). 1871 als durch die deutsche Kriegs- für deutsche Begriffe bereits tödliche Frankreichs Ziel war es, wie der fran- erklärung vom 4. August 1914 auf- Raumverluste erlauben, ohne zusam- zösische Außenminister Delcassé gehoben und sah Elsaß-Lothringen menzubrechen. Aus der gefährlichen dem russischen Botschafter Iswolski dadurch als bereits zu Frankreich zu- Mittellage Deutschlands ergab sich im Oktober 1914 sagte, das Werk rückgekehrt an. In den von der franzö- auch die im sogenannten Schlieffen- Bismarcks, das Deutsche Reich, zu sischen Armee besetzten Teilen des Plan festgeschriebene Notwendigkeit, zerschlagen (S. 9, 32). Daß damit Oberelsaß nahm es deshalb bereits den belgischen Staat, dem eine neu- auch die Rückkehr Elsaß-Lothringens während des Krieges Handlungen trale Stellung zukam, zu durchqueren, zu Frankreich gemeint war, versteht in Ausübung der vollen staatlichen um den Kriegsgegner im Westen, sich von selbst, vielleicht auch die Souveränität vor. Frankreich, niederzuwerfen, bevor die Annexion weiterer linksrheinischer Englands Ziel war es, einen lästigen „russische Dampfwalze“ im Osten zu Gebiete Deutschlands. Im übrigen Wirtschafts-, Handels- und Flotten- einem vernichtenden Einsatz kom- sollte in Mitteleuropa wieder der für konkurrenten auszuschalten und sich men könne (S. 23). Frankreich jahrhundertelang so gün- der deutschen überseeischen Gebie- Viele Voraussagen erwiesen sich stige Zustand der Fragmentierung, te, vor allem Deutsch-Ostafrikas, das recht bald als falsch. Die „russische der Zersplitterung hergestellt wer- die Linie Kap-Kairo störend unter- Dampfwalze“ war viel früher einsatz- den. Der Erwerb Elsaß-Lothringens brach, zu bemächtigen, andererseits bereit, als der preußische General- wurde Frankreich durch seinen engli- aber auch zu verhindern, daß Frank- stab vermutet hatte, und fiel schon schen Verbündeten allerdings erst im reich und Rußland auf dem Kontinent Anfang August 1914 in Ostpreußen Oktober 1917 förmlich zugebilligt. übermächtig würden. ein. Und die Ausführung der Strate- Schon am 10. Februar 1915 war Bezüglich der Verteilung des Osma- gie Schlieffens im Westen scheiterte in Paris die „Conférence d’Alsace- nischen Reiches, das, nachdem es bereits im September 1914; Frank- Lorraine“ gebildet worden, eine Art vergeblich von der Entente umwor- reich rasch niederzuwerfen gelang „Exilregierung“ von Elsaß-Lothringen, ben worden war, im Oktober 1914 auf den deutschen Truppen nicht. Auch der der frühere französische Minister- der Seite der Mittelmächte Deutsch- die Hoffnung, die innere Mißwirtschaft präsident Louis Barthou vorstand und land und Österreich-Ungarn in den Rußlands werde binnen kurzem den zu deren Mitgliedern unter anderen Krieg eingetreten war (S. 24 f.), wur- Zusammenbruch des „Zarenreiches“ die ehemaligen Reichstagsabgeord- den die Beutestücke erst später, ab herbeiführen, trog. Umgekehrt hatten neten Weill, Wetterlé und Blumenthal, 1916, festgelegt. Im Vorderen Orient sich Rußland und die Entente-Mächte ferner die aus dem Elsaß geflohenen wollte England „Miterbe“ Rußlands England und Frankreich getäuscht, Paul Helmer und Anselme Laugel, die und Frankreichs auf dem Gebiet die vorhergesagt hatten (vor allem 1911 zu den Gründern des „Elsaß- des dann zusammengebrochenen Rußland), das wurmstichige Öster- lothringischen Nationalbundes“ ge- Osmanischen Reiches werden und reich-Ungarn, durch die Auseinander- hört hatten, zählten; auch der französi- sich von der Beute einen möglichst setzungen der Völker der Monarchie sche Ministerpräsident, René Viviani, großen Anteil sichern. Die Abgren- innerlich gelähmt, werde wie ein Kar- befand sich unter den insgesamt etwa zung der Einflußgebiete im Vorderen tenhaus zusammenfallen. Unter den 20 Mitgliedern. Die „Conférence“ ging Orient (Mesopotamien, Syrien, Palä- Bedingungen des Krieges erwiesen von ihrer ersten Sitzung an von einem stina) zwischen England und Frank- sich alle Mächte und alle Armeen als sicheren Sieg Frankreichs aus und reich wurde damals etwa in der Art zäher und widerstandskräftiger, als regelte schon im Jahre 1915 die spä- und Weise vereinbart, wie sie nach die jeweiligen Gegner gehofft hatten. tere Machtübernahme Frankreichs in 1919 tatsächlich erfolgen sollte. Noch Die Entente-Mächte und Rußland Elsaß-Lothringen in Einzelheiten. Be- im Frühjahr 1917, als der russische brauchten nach Kriegsausbruch nach reits in der Sitzung vom 1. März 1915 Kaiser Nikolaus II. bereits abge- Kriegszielen nicht erst zu suchen; wurde die folgende Forderung zum dankt hatte und sich Rußland in einer solche hatten schon vorher im gro- Beschluß erhoben: „La conférence militärisch sehr schwierigen Lage ßen und ganzen festgestanden und d’Alsace-Lorraine émet à l’unanimité befand, teilten England und Rußland mußten nun lediglich abgestimmt und l’avis que la déclaration de guerre de sowie Frankreich und Rußland Asien festgelegt werden. Für Rußland ging l’Allemagne à la France a entraîné und Europa auf der Landkarte unter es darum, teils unmittelbar, teils mit- la rupture du traité de Francfort. En sich auf: Rußland sollte weite bisher telbar die Nachfolge eines von der conséquence, l’Alsace-Lorraine, qui osmanische Gebiete in Anatolien und Landkarte gelöschten Österreich-Un- a toujours protesté contra la conquête im Kaukasus erhalten. Frankreich garn anzutreten sowie seine Grenze allemande, ne peut qu’être réintegrée gestand Rußland zu, seine West- gegenüber Deutschland möglichst dans la souveraineté française, sans grenze gegenüber Deutschland mit weit nach Westen zu schieben. Auch rétrocession, sans plébiscite, ou tout freier Hand nach Belieben festzule- wollte es einen alten Traum verwirkli- autre mode de consultation.” Hier gen, Frankreich wurde von seinem

8 Der Westen 1/2 2014 russischen Verbündeten im Gegen- Deutschen selbst eingeredet werden, bis zum Knock-out. „Die ganze Welt zug das gleiche bezüglich der fran- ein Sieg der Entente und Rußlands soll wissen, daß eine Einmischung zösischen Ostgrenze gegenüber würde nicht nur die Welt, sondern von außen … nicht in Frage kommen Deutschland zugebilligt (S. 32). sogar die Deutschen selbst befreien kann. England wird keine Vermittlung Japan trat schon im August auf der (S. 28). Diese wurden als „Hunnen“, dulden, da es zum Kampfe so lange Seite der Entente und Rußlands, als „Barbaren“, als Verfechter des bereit ist, bis der preußische Militaris- dem es erst neun Jahre zuvor eine „preußischen Militarismus“ gegeißelt, mus auf ewig zerstört ist.“ (S. 28 f.) vernichtende Niederlage beigebracht jegliche Art der Grausamkeit wurde Nachdem die Entente-Mächte ständig hatte, in den Krieg ein. Nun galt ihnen nachgesagt (S. 28–30). erklärt hatten, sie würden kämpfen, es für Japan, sich des deutschen Alle Verträge waren Geheimverträge bis sie den Sieg errungen hätten, war Pachtgebiets Kiautschou mit Tsing- und blieben jahrelang nur einem ein- ein Verständigungsfriede nicht mehr tau zu bemächtigen, was bereits im geweihten kleinen Kreis von Staats- denkbar. Dennoch wurde von seiten November 1914 gelang, und sich An- männern bekannt. Doch nach der der Mittelmächte mehrmals versucht, teil am deutschen Besitz im Pazifik Machtübernahme durch die Bolsche- einen solchen herbeizuführen. zu verschaffen. Italien wurde 1915 wiki in Rußland veröffentlichte die Die Verwirklichung der Kriegsziele durch die Lockungen mit österreichi- Sowjetregierung in Petrograd viele der Entente und ihrer Verbündeten schem Territorium (Südtirol bis zum dieser Verträge und andere Doku- setzte den Untergang Österreich- Brenner, das Küstenland mit Görz, mente (S. 32 f.). Dies bereitete den Ungarns und des Osmanischen Rei- Istrien, Triest, Dalmatien) und mit Entente-Mächten zwar einige Verle- ches voraus. Es war offensichtlich, dem Erwerb der Schutzherrschaft über genheit, zumal die deutsche Propa- daß die Befriedigung aller territori- Albanien in den Krieg gezogen und ganda es nicht unterließ, diese Doku- alen Forderungen Rußlands, Italiens, erklärte zunächst Österreich-Ungarn, mente in Übersetzung zu verbreiten. Serbiens und Rumäniens die Donau- 1916 auch dem Deutschen Reich den Doch war das Meinungsmonopol der monarchie von der Landkarte strei- Krieg (S. 31). Rumänien wurde 1916 Entente-Mächte und der USA bereits chen würde. Auch würde es um die mit dem Versprechen, ihm das zu so unangefochten und die militäri- europäische Stellung des Deutschen Ungarn gehörige Siebenbürgen und schen Erfolge dieser Mächte bereits Reiches geschehen sein, wenn das Ziel weitere überwiegend von Rumänen so weit gediehen, daß der weitere Frankreichs, weitgehende territoriale (Walachen) besiedelte Komitate Verlauf des Krieges dadurch nicht Gewinne auf Kosten Deutschlands zu Ungarns zu verschaffen, in den Krieg beeinflußt oder gar geändert werden erlangen und das Werk Bismarcks, gelockt. konnte. England hatte sich durch die die (klein-)deutsche Einigung, rück- Bulgarien, das 1912/13 im zweiten Zerstörung der deutschen Übersee- gängig zu machen, erreicht werden Balkankrieg von seinen Verbündeten, kabel überdies eine Vorrangstellung sollte, ja der Bestand des Deutschen die im ersten Balkankrieg an seiner bei der Nachrichtenübermittlung ver- Reiches selbst würde dadurch nicht Seite gekämpft hatten, gedemütigt schafft. Dies trug maßgeblich dazu mehr aufrechterhalten werden kön- worden war, schlug sich 1915 auf die bei, englische Propaganda in die nen. Auf Verhandlungen, die nur auf Seite der Mittelmächte. Im Oktober Welt, vor allem in die USA, zu tra- der Grundlage der Forderung völli- 1915 erklärte es Serbien den Krieg, gen, deutsche Propaganda dagegen ger Unterwerfung einer der beiden worauf ihm die Allierten den Krieg zu unterbinden. England konnte so Seiten zu führen wären, hätten sich erklärten. Die Mittelmächte stellten verhindern, daß bekannt werde, was das Deutsche Reich und Österreich- ihm die bulgarisch besiedelten Gebie- seiner Meinung nach nicht bekannt Ungarn niemals einlassen können. te Makedoniens in Aussicht, die ihm werden sollte (S. 45). Auch beim Ab- Doch war man deutscherseits be- durch die Niederlage im zweiten Bal- schluß der Verträge mit den Verlierer- strebt, eine Verständigung, die einen kankrieg vorenthalten worden waren staaten konnten die Dokumente, die einigermaßen gerechten Ausgleich (S. 35). von sowjetrussischer Seite veröffent- herzustellen in der Lage sei und je- Um die annexionistischen Kriegs- licht worden waren, keine Rolle spie- der Seite die Wahrung von Ehre und ziele der Entente-Mächte und Rußlands len, da die Sieger Verhandlungen, in Gesicht ermögliche, herbeizuführen. scheinmoralisch zu rechtfertigen, baute denen die Texte hätten zur Sprache Dazu waren die Entente-Mächte und der Propagandaapparat gerade derje- kommen können, gar nicht zuließen. das kaiserliche Rußland jedoch nie- nigen Mächte, die allen Grund hatten, Schon einen Monat nach Kriegs- mals bereit. von der Tatsache abzulenken, daß tat- beginn waren die beiden Entente- Die deutsche Reichsleitung unter sächlich sie und nicht Deutschland weit Mächte durch öffentliche Erklärun- Reichskanzler Bethmann Hollweg hat mehr als die halbe Welt beherrschten gen, daß sie keinen Sonderfrieden niemals auf einen Siegfrieden gesetzt, (Großbritannien, Frankreich, Rußland, mit Deutschland eingehen würden, sie war stets auf einen Ausgleich be- schließlich die USA), den Popanz eines fest miteinander verbunden. In seiner dacht; das zeigt Fenske eindrucksvoll den Erdkreis bedrohenden preußisch- Thronrede am 11. November 1914 auf (S. 40 ff.). Die verschiedenen Be- deutschen Militarismus auf. Von den verkündete der engliche König Georg V., mühungen der Mittelmächte, mit den innerdeutschen Verhältnissen entwarf England werde so lange weiterkämp- Alliierten ins Gespräch zu kommen, diese weltweit ungemein einflußreiche fen, bis es den Frieden bestimmen scheiterten aber stets an der ableh- – lange über das Ende des Weltkrieges könne. Und der Premierminister Lloyd nenden Haltung der Alliierten. Sowohl hinaus einflußreiche – Propaganda ein George brachte diese Haltung 1916 deren Antwortnote vom 30. Dezember Zerrbild, das mit der gesellschaftlichen in einem Interview mit einem Vertre- 1916 als auch ihre Note vom 10. Ja- und politischen Wirklichkeit des Deut- ter der „United Press“ auf die For- nuar 1917 ließen erkennen, daß sie schen Reiches geringe Ähnlichkeit hatte. mel: „Der Kampf wird dauern bis zur nicht gewillt waren, einen Verständi- Dadurch sollte der Welt und auch den Niederschmetterung“ des Gegners, gungsfrieden auf der Grundlage des

Der Westen 1/2 2014 9 Vorkriegsstandes zu schließen. In der landeten französische Truppen ges. Präsident Wilson war zunächst gemeinsamen Note vom 10. Januar unter Verletzung der griechischen bemüht, einen Frieden ohne Sieger 1917, die eine Antwort auf ein Ver- Neutralität in Saloniki. Sie besetzten und Besiegte zu vermitteln, wie Fens- mittlungsangebot des US-amerikani- von dort aus weiteres griechisches ke aufzeigt (S. 39–43). Sehr schäd- schen Präsidenten Wilson darstellte, Gebiet und setzten das Land, des- lich war ein Telegramm des Staats- legten sie einen Teil ihrer Kriegsziele sen König, Konstantin I., unbeirrt an sekretärs des Auswärtigen Amts offen auf den Tisch. Gefordert wurde der Neutralitätspolitik festhalten woll- Zimmermann, das vom britischen die Rückgabe der Gebiete, die früher te, durch die Blockade seiner Küsten Geheimdienst aufgefangen wurde den Alliierten geraubt worden seien, und durch Drohung unter Druck. Un- und sogleich an die USA übermittelt also die Abtretung Elsaß-Lothringens ter ultimativem Druck verzichtete im wurde. Darin wies Zimmermann den und Unterstellung der polnisch be- Juni 1917 der König auf den Thron, deutschen Geschäftsträger in Mexi- siedelten Teile Deutschlands und Griechenland trat unter einer der En- ko an, zu prüfen, ob Mexiko nicht auf Österreich-Ungarns unter russische tente genehmen Führung auf deren deutscher Seite in den Krieg gezo- Herrschaft, sowie die „Befreiung der Seite in den Krieg ein (S. 36). Schon im gen werden, also auf dem amerika- Italiener, Slawen, Rumänen, Tsche- August 1916, zu einer Zeit, da sich an nischen Kontinent eine Entlastungs- chen und Slowaken von der Fremd- der österreichisch-russischen Front front aufgebaut werden könne. Dieser herrschaft“ (S. 42). Die Annahme des die Waagschale auf die russische Gedanke war abenteuerlich und völ- Inhalts der Noten hätte für Österreich- Seite zu neigen schien, hatte Rumä- lig aussichtslos. Daß er in Washing- Ungarn Selbstmord bedeutet, für das nien in der Hoffnung auf leichten und ton bekannt wurde, wirkte sich für Deutsche Reich eine Selbstverstüm- großen Gebietsgewinn westlich der Deutschland sehr ungünstig aus (S. melung. Beides war nicht hinnehmbar. Karpathen den Mittelmächten den 45 f.). In der US-amerikanischen Re- Das mußten auch die Entente-Mächte Krieg erklärt. gierung wirkten vor allem der Außen- wissen. Unheilvoll in die Zukunft wies „Zu See wurde der Krieg vornehm- staatssekretär Lansing und Oberst die in dieser Note enthaltene feierli- lich durch die britische Blockade der House, der engste Berater des Präsi- che Verwahrung der Entente-Mächte Nordsee und den deutschen U-Boot- denten, für den Kriegseintritt. Von die- dagegen, daß die Mittelmächte als die Krieg bestimmt. Die Blockade in die- sen Kräften ließ sich Wilson, der wenig am Kriege allein Schuldigen gleichbe- ser Form, schon lange vor dem Krie- über die europäischen Verhältnisse rechtigt an Friedensverhandlungen ge geplant, war völkerrechtswidrig, wußte, sehr rasch ganz ins Fahrwas- teilnehmen sollten. Schon damals war denn nach allgemein anerkannten ser der Entente ziehen. Er übernahm also die Position festgelegt, die den Normen musste sie unmittelbar vor das von einer haßerfüllten Propagan- Mittelmächten die Alleinschuld bei- den feindlichen Häfen erfolgen, ein da gezeichnete Deutschland-Bild, das maß, was diese bzw. deren Rechts- ganzes Meer und damit der Zugang das Land als von einer selbstsüchti- nachfolger drei Jahre später unter zu neutralen Küsten und Häfen durfte gen Autokratie beherrscht, von der es dem Zwang ihrer militärischen Nie- nicht weiträumig abgesperrt werden. das deutsche Volk selbst zu befreien derlage äußerlich anerkennen muß- Der Einsatz der U-Boote erfolgte zu- gelte, erscheinen ließ. ten, und die sich bei der Erstellung nächst nach den Regeln des Kreuzer- Am 6. April 1917 erklärten die USA der Friedensdokumente darin äußern krieges nach der Prisenordnung und dem Deutschen Reich den Krieg, der sollte, daß diese ohne Beteiligung der war damit seerechtlich unanfechtbar. Donaumonarchie jedoch erst im De- Verlierer, also aufgrund von Verhand- Er war aber wirkungslos, denn vie- zember 1917 (S. 45 f.). Da es in den lungen allein innerhalb des Kreises le Handelsschiffe der Entente waren USA vorerst keine Wehrpflicht gab – der Siegermächte stattfand. (völkerrechtswidrig) bewaffnet – briti- erst im Mai 1917 erging ein Gesetz Der Hinweis in ihrer früheren Antwort- sche z.T. schon seit der Vorkriegszeit über die Wehrpflicht aller Männer zwi- note vom 30. Dezember 1916, womit – und griffen auftauchende U-Boote schen 21 und 30 Jahren –, man also, das Friedens- und Versöhnungsan- sofort an. So erklärte das Deutsche um auf dem europäischen Kriegs- gebot, das Reichskanzler Bethmann Reich am 5. Februar 1915 mit Wirkung schauplatz einzugreifen, zunächst Hollweg am 12. Dezember 1916 vor ab der Mitte des Monats die Gewäs- eine große Zahl von sich freiwillig zum dem Reichstag gemacht hatte, von ser rund um die britischen Inseln zum Kriegsdienst Meldenden benötigte, den Alliierten mit schroffer Ablehnung Sperrgebiet, in dem feindliche Han- mußte die entsprechende Kriegsstim- beantwortet wurde, das deutsche An- delsschiffe mit warnungsloser Ver- mung erzeugt werden. „Wilson berief gebot schätze die realen Stärkever- senkung zu rechnen hatten. Für neu- ein Committee of Public Information, hältnisse falsch ein, hatte deutlich ge- trale Schiffe wurden Zonen benannt, das eine intensive Propagandatätig- macht, daß die Entente und Rußland in denen sie sicher verkehren konn- keit entfaltete. Durch verschiedene auf ihre zahlenmäßige und materielle ten. Auch das war eine Fernblockade Gesetze wurde die Meinungsfrei- Überlegenheit setzten und glaub- – wegen des Ausweises der Zonen heit empfindlich eingeschränkt; kein ten, es sich erlauben zu können, die für neutrale Schiffe dem Völkerrecht anderer am Kriege beteiligter Staat diesbezüglich unterlegenen und ihre aber näher als die britische Praxis.“ ging dabei so weit wie die USA. Die Unterlegenheit lediglich durch erhöh- Nach Protesten von seiten neutraler ‚American Protection League‘ hatte te Anspannung auszugleichen versu- Staaten kehrte die deutsche Marine- offiziell die Aufgabe, die Vereinigten chenden Mittelmächte ausbluten zu leitung im April 1916 zum Kreuzerkrieg Staaten gegen Spione und innere lassen (S. 42). zurück, doch nahm Deutschland am Feinde zu schützen. Innerhalb ganz Fenske schildert, um die diplomati- 1. Februar 1917 den unbeschränkten kurzer Zeit entwickelte sich eine aus- schen Bemühungen in das Gesche- U-Boot-Krieg wieder auf (S. 37). geprägt antideutsche Stimmung, die hen einzubetten, in groben Zügen Mit dem Eintritt der USA in den Krieg sich in zahlreichen Diskriminierungen auch das Kriegsgeschehen. 1915 begann ein neuer Abschnitt des Krie- der Deutsch-Amerikaner äußerte und

10 Der Westen 1/2 2014 aus der viele Gewalttaten erwuchsen, wieder auf. Ab dem 1. März 1918 wur- der durch irgendeinen Handel oder bis hin zum Lynchmord. Allenthalben de wiederum verhandelt, von sowjet- Kompromiß mit den Regierungen der wurde das Bild der Deutschen in den russischer Seite nun unter Leitung Mittelmächte erreicht wird“, seien sie düstersten Farben gezeichnet, das von Sokolnikow. Am 3. März 1918 doch, wie etwa der Vertrag von Brest- Wort ‚Kultur‘ gedieh zum Synonym wurde von Vertretern des Deutschen Litowsk zeige, nicht ehrlich, wollten für Barbarei. Im Winter 1917/18 wur- Reiches, Österreich-Ungarns, Bulga- keine Gerechtigkeit, fühlten sich nicht den aus den öffentlichen Bibliotheken riens und des Osmanischen Reiches an Verträge gebunden und kennten die deutschsprachigen Bücher und ein Friedensvertrag, der Rußland im keinen Grundsatz als den der Gewalt auch Bücher über Deutschland und Sinne des zumindest nach außen hin und des eigenen Interesses. Mit ihnen Österreich in englischer Sprache aus- auch von den Bolschewiki anerkann- könne man nicht einig werden (S. 72). sortiert. In etlichen Städten wurden ten Prinzips des Selbstbestimmungs- Solche harten Worte ließen nicht zu- ausgewählte Titel oder größere Be- rechts der Völker auf einen Umfang versichtlich in die Zukunft schauen. stände im Rahmen patriotischer Feiern beschränkte, der sich etwa mit dem Am 4. Oktober 1918 ließ Österreich- öffentlich verbrannt, Vorgänge, die in heutigen (2014) Umfang Rußlands Ungarn der deutschen Bitte ein anderen gegen Deutschland im Felde deckte (S. 64). Daß Lenin und die eigenes Waffenstillstandsgesuch fol- stehenden Staaten nicht zu verzeich- Seinen nicht gewillt seien, sich an die gen. Der französische Geheimdienst nen waren. Wilson fand für all das Abmachungen des Vertrages auch kannte die Note des Prinzen Max kein mäßigendes Wort, sondern trug nur einen Tag länger zu halten, als die schon, als sie in Washington noch im Gegenteil mit mancher markigen Machtbedingungen, unter denen er gar nicht vorlag. Marschall Foch, Äußerung zur antideutschen Kampa- abgeschlossen worden war, bestün- der oberste Befehlshaber der alliier- gne bei. So charakterisierte er einmal, den, wurde sehr bald offenkundig, ten Truppen, erhielt den Auftrag, mit am 31. August 1918, das Reich als war aber schon von Anfang an vor- den Stabschefs der verschiedenen verbrecherisch. Es unternehme ein herzusehen gewesen. Entente-Truppen Waffenstillstands- Attentat auf alles, was freie Männer Im Frühjahr kamen im Westen die bedingungen auszuarbeiten. Der Text überall besitzen müssten, nämlich das US-amerikanischen Verbände zu er- lag bereits am 8. Oktober 1918 vor. Recht, das eigene Schicksal zu ge- stem wirkungsvollem Einsatz. Um Außenminister Lansing und Oberst stalten. ‚Es ist ein Krieg, die Nationen ihren Transport und den von Nach- House empfahlen Wilson eine Ver- und Völker der Welt gegen jede sol- schub bewerkstelligen zu können, zögerungstaktik zu befolgen, die je- che Macht, wie die heutige deutsche hatten die USA im März 1918 die in doch diesen Anschein nicht erwecken Autokratie sie darstellt, zu sichern, ist US-amerikanischen Häfen liegenden dürfe. Der sich anschließenden fünf- ein Befreiungskrieg, und ehe er ge- niederländischen Schiffe requiriert, wöchigen Verschleppung des diploma- wonnen ist, können die Menschen nir- „eine völkerrechtswidrige Nutzung tischen Geschehens seitens der USA gends frei von Furcht leben.‘“ (S. 47) des Gutes Neutraler“ (S. 69). Infolge fielen bei den fortdauernden Kämp- Damit war ein weiteres Moment einer der obenerwähnten völkerrechtswid- fen weit über 100 000 Soldaten zum heuchlerischen Selbstgerechtigkeit rigen Verletzung der griechischen Opfer. ins Kriegsgeschehen gebracht. Neutralität war es der Entente 1917 Der Zusammenbruch Österreich- Die Machtübernahme der Bolsche- gelungen, eine Balkanfront aufzubau- Ungarns, der sich im Oktober voll- wiki im November 1917 schuf im en. Das hatte im September 1918 den zog, ließ die Gefahr erwachsen, daß Osten eine neue Lage. Der von Lenin Zusammenbruch Bulgariens und im die Italiener in Tirol und von dort bin- geleitete Rat der Volkskommissare Oktober den Zerfall der Donaumonar- nen kurzem in Bayern und damit auf gab vor, einen Friedensvertrag mit chie zur Folge. Bereits am 17. August Reichsgebiet eindringen würden. den Mittelmächten schließen zu wol- 1918 hatte England die „Tschecho- Diese Befürchtung setzte die deut- len. Ab Ende Dezember 1917 wurde slowakei“, einen gar nicht existieren- sche Reichsleitung unter verstärkten in Brest-Litowsk darüber verhandelt, den Staat, als kriegführende Macht Zwang. Als am 8. November 1918 auf sowjetrussischer Seite zunächst anerkannt, diesem Schritt schlossen eine deutsche Waffenstillstandskom- unter Leitung von Adolf Joffé, dann sich die USA wenig später an (S. 73). mission in Compiègne bei Marschall unter der von Lew Trotzki. Die Bol- Da die Lage an den Fronten nach An- Foch, dem alliierten Oberbefehls- schewisten hatten eine ganz neue sicht der Obersten Heeresleitung den haber, eintraf, erfuhr sie, daß es keine Auffassung von Diplomatie, sie sa- Abbruch des Widerstandes geboten Verhandlungen über die Waffenstill- hen in ihr ein Mittel einer Weltinnen- erscheinen ließ, „um dem deutschen standsbedingungen gebe, die Deut- politik zur Revolutionierung des Pro- Volk und seinen Verbündeten nutz- schen könnten die Bedingungen, wie letariats aller Staaten. Entsprechend lose Opfer zu ersparen“, bat Reichs- sie formuliert seien, nur annehmen schwierig waren die Verhandlungen, kanzler Prinz Max von Baden in einer oder ablehnen. Auch eine Verlänge- die auf Wunsch der sowjetrussischen Note vom 3./4. Oktober 1918 Präsi- rung der Bedenkzeit lehnte Foch ab. Seite öffentlich geführt wurden. Da dent Wilson, die Herstellung des Frie- Am 11. November wurde der Waffen- die Sowjetrussen die Verhandlungen dens auf der Grundlage seiner „Vier- stillstand unterzeichnet. Deutschland in die Länge zogen in der Hoffnung, zehn Punkte“ vom 8. Januar 1918 in mußte die besetzten Gebiete, Elsaß- Deutschland und Österreich-Ungarn die Hand zu nehmen. Zurückhaltung Lothringen, alle weiteren links des revolutionieren zu können, und sich hinsichtlich des Willens des Präsiden- Rheins liegenden Gebiete und rechts- die Vertreter der Mittelmächte gerade- ten, einen Frieden wirklich zu vermit- rheinische Brückenköpfe bei Köln, zu zum Narren gehalten fühlen muß- teln, war geboten. Wilson hatte erst Koblenz und Mainz binnen kurzer Zeit ten, nahmen die deutschen Truppen am 27. September 1918 in einer in räumen, große Mengen an Kriegsma- nach Ablauf des Waffenstillstandes New York gehaltenen Rede erklärt, terial, 5 000 Lokomotiven, 150 000 am 19. Februar 1918 ihren Vormarsch „daß es keinen Frieden geben darf, Eisenbahnwaggons und 5 000 Last-

Der Westen 1/2 2014 11 kraftwagen innerhalb von fünf Wo- Daß es Frankreich war, das im Juli mündliche Verhandlungen werde es chen abliefern. An den Bestimmun- 1870 unter einem nicht stichhalti- nicht geben. Die Deutschen bekä- gen der Haager Landkriegsordnung gen Vorwand den Krieg erklärt hat- men eine 14tägige Frist und könnten gemessen war das unterzeichnete te, doch wohl in Wirklichkeit um den dann in englischer oder französischer Schriftstück „eine völlig neue Art von Vollzug der deutschen Einigung, die Sprache ihre Bemerkungen überrei- Waffenstillstand“. Seine Bestimmun- sich anzubahnen schien, aufzuhalten, chen. Daß der Leiter der deutschen gen machten der deutschen Seite die lag außerhalb des Bewußtseins von Delegation, der Außenminister Graf Wiederaufnahme des Kampfes tat- Raymond Poincaré (S. 88). Brockdorff-Rantzau, seine ausführ- sächlich unmöglich. Die Bestimmun- Lloyd George, der englische Premier- lichere Antwort sitzend gab, wurde gen über die Fortsetzung der Blocka- minister, schwankte zwischen der übel vermerkt. Er wollte seinen Aus- de waren völkerrechtswidrig (S. 76). haßerfüllten Härte, die er während führungen dadurch den Charakter Fenske wendet sich in den letzten des Krieges gezeigt hatte, und sich einer Verhandlung geben, wünschte Kapiteln der Pariser Friedenskonfe- einer Bahn brechenden Einsicht, daß auch nicht, wie ein Angeklagter vor renz und ihrer Vorbereitung zu. Bei die Friedensbedingungen so viel an seinen Richtern zu stehen. Er räumte den Deutschland im Friedensvertrag Gerechtigkeit aufweisen müßten, daß das Ausmaß der deutschen Nieder- aufzuerlegenden Bedingungen stellte das Land, das sie unterzeichnen müs- lage ein, sprach von der „Wucht des Frankreich die am weitesten gehen- se, „in seinem Inneren fühlt, es habe Hasses, die uns hier gegenübertritt“ den Forderungen. Das französische kein Recht, sich zu beklagen“ (S. 90). und bezeichnete die Behauptung von Friedenskonzept war bereits Mitte Gegenüber dem Haß und dem Ra- der deutschen Alleinschuld als Lüge November 1918 erstellt. In territorialer chegefühl des „Tigers“ Clemenceau (S. 97). Hinsicht sollte an Frankreich Elsaß- konnte er sich jedoch allenfalls in Ein- Einer seiner Mitarbeiter, Max Cahén, Lothringen, ferner die von Frankreich zelheiten durchsetzen. In bezug auf äußerte sich, als er den Text gelesen 1815 an Preußen und Bayern abge- die Ziehung der deutsch-polnischen hatte, so: „Der Inhalt wirkte vernich- tretenen Gebiete und das Saartal Grenze meinte er in seiner Denk- tend, und es war klar, daß wir eine überstellt werden. Die in wirtschaftli- schrift vom 6. März 1919, wenn man Unterschrift unter dieses Instrument cher Hinsicht erhobenen Forderungen 2 100 000 Deutsche unter die Herr- nicht leisten durften.“ Vor allem die sahen eine Fesselung Deutschlands schaft eines Volkes stelle, „das eine englische Seite bemühte sich nun, über Jahrzehnte hinweg vor (S. 82 andere Religion hat und das während viel zu spät, um eine Milderung der f.). Die Vorstellungen Englands wa- seiner ganzen Geschichte niemals Bedingungen. Dies sollte vor allem ren maßvoller. Der US-amerikanische seine Fähigkeit zu einer selbstge- die unangemessene Vergrößerung Präsident Wilson kritisierte zwar, daß bildeten Regierung von Bestand zu des polnischen Staates auf Kosten Frankreich und England entschlossen beweisen vermocht hat“, werde das Deutschlands (die der südafrikani- seien, „aus Deutschland, da es jetzt früher oder später zu einem neuen sche Premierminister Smuts als eine wehrlos ist, alles herauszuholen, was Krieg führen. „Wir können nicht zu- Gefährdung des Friedens bezeich- sie nur haben können“, forderte einen gleich Deutschland verkrüppeln und nete), die Dauer der Rheinlandbeset- „Frieden der Gerechtigkeit“, deck- erwarten, daß es uns bezahlt“. Diese zung und die Höhe der Reparationen te aber durch sein Handeln letzten Einsichten kamen zu spät und wur- betreffen. Lloyd George scheiterte an Endes doch die von Haß geprägten den wohl auch zu halbherzig vorge- dem Mangel an Unterstützung von Forderungen von französischer Sei- tragen, als daß sie gegenüber Frank- seiten Wilsons, der einem Mitglied te, die von Ministerpräsident Georges reich hätten Wirkung zeitigen können. seiner Delegation, Ray S. Baker, Clemenceau und Marschall Foch Clemenceau wies Lloyd Georges Me- gegenüber jedoch zugab, er würde vertreten wurden. Insbesondere ver- morandum glatt zurück (S. 94). den Vertrag nicht unterschreiben, mochte er es nicht, seine Forderung, Die Verhandlungen wurden vorwie- wenn er Deutscher wäre (S. 9, 103). daß die unterlegenen Mittelmächte zu gend in Paris geführt, nur einzelne „Die von Wilson so häufig beschwo- Friedensverhandlungen zugelassen bedeutende Akte wurden in das sym- rene ‚Gerechtigkeit‘ begegnete in werden müßten, gegenüber der En- bolkräftige Versailles gelegt. Die Ver- dem Friedensinstrument nicht, wohl tente durchzusetzen (S. 85 f.). handlungen fanden ohne auch nur die aber an etlichen Stellen, namentlich Daß die Friedenskonferenz am mindeste Zuziehung des Kriegsverlie- in Art. 231, ein außerordentliches Maß 18. Januar 1919 eröffnet wurde, sollte rers statt. Erst Ende April 1919 durf- an Selbstgerechtigkeit.“ (S. 111) eine bewußte Demütigung Deutsch- te eine deutsche Delegation in Ver- Die deutschen Gegenvorschläge wur- lands darstellen. Genau 48 Jahre zu- sailles eintreffen. Nach ihrer Ankunft den in mehreren Noten vorgelegt, von vor, am 18. Januar 1871, war im Spie- in Versailles wurden die Deutschen, denen die letzte vom 29. Mai 1919 gelsaal des Schlosses zu Versailles darunter einige Minister, in drei Ho- stammte. Die alliierte Stellungnahme die deutsche Kaiserwürde proklamiert tels untergebracht, der der Delegation dazu erging am 16. Juni 1919 und ent- worden. Darauf wies der französische zugewiesene Bezirk durch Stachel- hielt einige Zugeständnisse: über das Staatspräsident Poincaré in seiner draht gegen die Bewohner der Stadt Schicksal Oberschlesiens sollte nun Begrüßungsansprache auch hin. Das abgeriegelt (S. 95). Der Vertrag, den eine Volksabstimmung entscheiden, Deutsche Reich habe seine erste man den Deutschen vorzulegen ge- und bei den Abtretungen von west- Weihe durch den Raub zweier fran- dachte, war zu diesem Zeitpunkt noch preußischem und posenschem Gebiet zösischer Provinzen empfangen. Der gar nicht fertiggestellt, der Text wurde an Polen wurden kleine Korrekturen in den Wurzeln verderbte Staat habe der Delegation erst am 7. Mai über- zugestanden (S. 104). Den Deutschen damit den Keim seines Todes ent- geben. In seiner nicht einmal fünfmi- wurde eine Frist von fünf Tagen ge- halten. „Aus Ungerechtigkeit heraus nütigen, in schroffem Ton vorgetrage- setzt, innerhalb deren sie erklären geboren, endete er in der Schmach.“ nen Ansprache betonte Clemenceau, könnten, ob sie ablehnten oder zu-

12 Der Westen 1/2 2014 stimmten. Im Ablehnungsfall sei der entschied sich bei den in der Folge Waffenstillstand beendet, die Alliierten durchgeführten Volksabstimmungen IMPRESSUM würden dann die zur Erzwingung ihrer (1920, 1921, 1935) die Bevölkerung Bedingungen erforderlichen Schrit- für den Verbleib bei Deutschland. te unternehmen. Geplant war ein Die „Volksabstimmung“ in Eupen- DER WESTEN Vormarsch der Entente-Truppen bis Malmedy war ein Scheinverfahren zur Weser, im Süden ein Durchstoß und ging deshalb zugunsten Belgiens mainaufwärts bis zur böhmischen aus. Entgegen den Vertragsbestim- ISSN 0179-6100 Grenze (S. 104). Da Deutschland be- mungen wurde, nachdem nach der reits durch den ungemein harten Waf- oberschlesischen Volksabstimmung fenstillstand vom 11. November 1918 (20. März 1921) ein „Aufstand“, der Herausgeber: praktisch wehrlos geworden war, blieb nur von einem kleinen Teil der polni- Arbeitsgemeinschaft „Der Westen“, der Deutschen Nationalversammlung schen Bevölkerung des Landes ge- bestehend aus der Gesellschaft nichts anderes übrig, als den Vertrag tragen, doch kräftig von der Republik der Freunde und Förderer der am 23. Juni 1919 anzunehmen. Der Polen unterstützt wurde und vollen- Erwin von Steinbach-Stiftung Generalquartiermeister, Groener, hat- dete Tatsachen schaffen sollte, aus- (hervorgegangen aus dem Bund der te unmißverständlich mitgeteilt, daß gebrochen war, Oberschlesien unter Elsässer und Lothringer e.V. und die Wiederaufnahme des Kampfes Bevorzugung Polens geteilt. Diesem dem Bund Vertriebener aus Elsaß- einen „restlosen Vernichtungskrieg Aufstand hatten die im Abstimmungs- Lothringen und den Weststaaten Frankreichs gegen Deutschland zur gebiet stationierten französischen e.V.) sowie der Erwin von Steinbach- Folge“ haben würde (S. 105). „Für Truppen tatenlos zugesehen, statt Stiftung einen solchen Feldzug hatten sich für Ruhe und Ordnung zu sorgen die Siegermächte mit den Waffen- (S. 110). Die ehrverletzenden Bestim- stillstandsbedingungen die besten mungen des Vertrags, gemäß denen Geschäftsstelle: Voraussetzungen geschaffen“, stellt Deutsche, darunter der ehemalige Oda Ertz, Fenske fest (S. 111). „Angesichts die- Kaiser, den Siegermächten zur Ver- Reuchlinstraße 14b, ser Tatsachen ist es gerechtfertigt, urteilung ausgeliefert werden sollten, 75015 Bretten, Deutschland von einem Diktat- oder Gewaltfrieden blieben auf dem Papier. Die nieder- Telefon: (0 72 52) 77 93 67 zu sprechen.“ Ein ähnliches Diktat ländische Regierung weigerte sich E-Post: [email protected] hatte es vorher nur einmal gegeben: trotz heftigen Drängens der Alliierten den Frieden von Tilsit, den im Jahre standhaft, das dem Kaiser gewährte 1807 das Napoleonische Frankreich Asyl zu verletzen (S. 110). Sonderkonto: dem besiegten Preußen auferlegte. In einem eigenen Kapitel vergleicht Gesellschaft der Freunde und Am 28. Juni 1919, auf den Tag genau Fenske den Vertrag von Brest- Förderer der Erwin von Steinbach- fünf Jahre nach der Ermordung des Litowsk mit dem von Versailles und Stiftung e. V., österreichisch-ungarischen Thron- gelangt zum Schluß, die Verträge vom Sparkasse Kraichgau folgers, Erzherzog Franz Ferdinand, 3. März 1918 und vom 28. Juni 1919 IBAN: DE52 6635 0036 0017 3710 06 mußten die zwei von der Reichsregie- hätten sich nach Zustandekommen BIC: BRUSDE66XXX rung entsandten deutschen Vertreter, und Inhalt grundlegend unterschie- die Reichsminister Hermann Müller den. Ersterer war während eines den und Johannes Bell, in einer Szene, die status quo aufrecht erhaltenden Waf- Verantwortlich für den für die deutsche Seite bewußt demüti- fenstillstandes zwischen den beiden redaktionellen Inhalt: gend gestaltet war, im Spiegelsaal zu Seiten tatsächlich verhandelt worden, Dr. Rudolf Benl Versailles den Vertrag unterzeichnen. er erlegte Rußland keine wirtschaft- Müller und Bell wurden von je einem lichen und militärischen Beschrän- Offizier der Hauptsiegermächte an kungen und keine finanziellen Lasten Grafik & Satz: ihren Platz geführt, ihnen gegenüber auf. Auf Ersatz von Kriegskosten und sdt Erfurt standen etwa 1 000 Vertreter der -schäden wurde in Brest-Litowsk ver- Siegermächte. Außer der geschäfts- zichtet (S. 111–113). Für das Versail- ordnungsmäßigen Feststellung von ler Friedensdokument traf in allem Druck & Vertrieb: Clemenceau über die Eröffnung das Gegenteil zu. Turtschan und Gloria GbR, der Sitzung fiel kein offizielles Wort. Die Siegermächte diktierten 1919 Am Angerberg 5, Ein britischer Augenzeuge, Harold und 1920 auch den Verbündeten 99094 Erfurt, Deutschland Nicolson, Sohn eines früheren Unter- des Reiches, Österreich, Ungarn, staatssekretärs im britischen Foreign Bulgarien, der Türkei, Friedensver- Office, der schon zuvor den Vertrag träge. Hart war der Vertrag mit Öster- Nachdruck nur mit Genehmigung als „Schande für England“ bezeich- reich, der am 10. September 1919 in des Herausgebers. Einsender von net hatte (S. 103), schrieb, nach der St. Germain geschlossen wurde. Das Manuskripten u.ä. erklären sich mit Unterzeichnung seien die Deutschen Staatsgebiet wurde auf einen kleinen der redaktionellen Bearbeitung ein- „wie Sträflinge von der Anklagebank“ Teil des früheren cisleithanischen verstanden. Keine Haftung für unver- abgeführt worden. Nicolson empfand Staatsgebiets beschränkt. Österreich langte Einsendungen. Alle Angaben das Ganze als widerlich (S. 106). mußte große Gebiete mit deutscher ohne Gewähr. „Der Westen“ wird allen Mit Ausnahme der Abstimmung in Bevölkerung an Italien sowie den Mitgliedern ohne besondere Bezugs- Nordschleswig (10. Februar 1920) neuen Staat Tschechoslowakei und gebühr geliefert.

Der Westen 1/2 2014 13 den neuen südslawischen Staat ab- me Folgen zeitigen werde, hatten Ein- Unzulänglichkeit des Friedensinstru- treten, der Anschluß ans Deutsche sichtige und einsichtig Gewordene ments früher gewonnen und hätten Reich wurde ihm verboten. Überaus vorhergesehen. Lloyd George hatte auch andere einflussreiche Männer hart war auch das Ungarn auferlegte schon im März 1919 prophezeit, daß auf der Pariser Konferenz gesehen, Diktat, das das Land am 4. Juni 1920 sich an Danzig und dem Problem des dass ein Clemenceau-Friede nicht im Schloß Trianon unterzeichnen zum „polnischen Korridor“ geworde- geschlossen werden durfte, so wäre mußte. Infolge der Gebietsabtretun- nen Teils Westpreußens nach zwan- Europa viel Unheil erspart geblieben.“ gen geriet ein Drittel des magyari- zig Jahren ein neuer Krieg entzünden Fenske läßt seiner Darstellung eine schen Volkes unter fremde Herrschaft. werde (S. 9 f.). Und Oberst House, Nachschrift folgen. Sie sei abschlie- Als einziger Verliererstaat ratifizierte Wilsons engster Berater, schrieb am ßend zitiert: „Manuskriptabschluss die Türkei den von ihr bereits unter- Tage nach der Unterzeichnung in sein am 12.10.2010, zwölf Tage, nachdem zeichneten Vertrag nicht und erreichte Tagebuch, er stimme denen zu, „die die Bundesrepublik Deutschland die nach erneutem Krieg 1923 einen wirk- da sagen, daß der Vertrag schlecht letzte Zahlung im Zusammenhang lichen Friedensvertrag (S. 117). ist und niemals geschlossen wer- mit den vom Deutschen Reich im In einem eigenen Kapitel behandelt den durfte und daß seine Durchfüh- Versailler Vertrag auferlegten Ver- Fenske Umstände der deutschen Re- rung Europa in Schwierigkeiten ohne pflichtungen geleistet hatte.“ parationsleistungen bis zum Young- Ende stürzen wird.“ (S,. 126) Fenske Rudolf Benl Plan (S. 119–124). schließt seine Ausführungen mit den Daß der Vertrag von Versailles schlim- Sätzen: „Hätte er seine Einsicht in die

Germain Muller (1923–1994) Am 11. Juli 2013 wäre der Gründer als Sprecher für Radio . des „Barabli“ 90 Jahre alt geworden. Im November 1946 gründete er Aus diesem Anlaß kündigte Straß- zusammen mit dem künstleri- burgs Bürgermeister Roland Ries im schen Leiter von Radio Strasbourg Juli 2013 ein „Germain-Jahr“ an. Bis Raymond Vogel, dem Musiker Mario Oktober 2014 (am 17. Oktober 2014 Hirlé und der Schauspielerin Dinah jährt sich Germain Mullers Todestag Faust das Kabarett „Barabli“. Die Auf- zum zwanzigsten Mal) will die Stadt führungen, in denen es immer um die Straßburg zusammen mit der Familie Elsässer und ihr Leben in der Kriegs- und Anhängern des unvergessenen und Nachkriegszeit ging, hatten von Kabarettisten Veranstaltungen orga- Anfang an im ganzen Land großen nisieren. Erfolg. Neben Germain Muller waren Germain Muller wurde in Straßburg es vor allem Robert Breysach (1904– geboren, wo sein aus Ranspach im 1989), bekannt als „Désiré“, und Di- St. Amarin-Tal (Oberelsaß) stam- nah Faust, die Jahrzehnte lang die mender Vater Inspektor des Denk- Zuschauer begeisterten. Dinah Faust malamts war. Seine Mutter war die wurde 1926 in Berlin geboren. Sie Tochter eines Lehrers, der aus Run- wuchs in Berlin und später in Paris zenheim (Unterelsaß) stammte. Ein auf. Ihre Mutter stammte aus Köln, ihr Großonkel Germain Mullers war der Vater aus Sulzmatt (Oberelsaß). bekannte Kanonikus Eugen Müller Wichtige Aufführungen des „Barabli“ (geboren 1861 in Ranspach, gestor- wurden auf Schallplatten aufgenom- ben 1948 in Straßburg), von 1903 men. 1964 erschien zum 20. Jahres- bis 1918 Professor an der katholisch- Studien der Bühnenkunst und des tag des Einmarschs der Franzosen theologischen Fakultät der Universi- Vortrags fortsetzte. Nach dem Waf- in Straßburg (23. November 1944) tät Straßburg. Als Abgeordneter für fenstillstand kehrte die Familie 1940 die 1949 erstmals aufgeführte Tragik- die Elsässische Volkspartei (ab 1919 nach Straßburg zurück. 1941 voll- Komödie „Enfin…redde m’r nimm UPR) in der Deputiertenkammer und endete Germain sein Studium am devun“, die Germain Muller seinem danach 20 Jahre lang Senator war er Staatstheater in Karlsruhe und arbei- Vater, der diese Komödie erlebte, und ein unentwegter Verteidiger der Mut- tete danach in Würzburg. Im Oktober Pierre Pflimlin, der sie liebte, widmete tersprache, was ihm den Beinamen 1943 wurde er in die Deutsche Wehr- (à mon père qui a vécu cette comé- „Muttersprachen-Müller“ einbrachte. macht eingezogen und kam nach die..et Pierre Pflimlin qui l’a aimée). Germain Muller absolvierte die Volks- Regensburg. Von dort desertierte er 1966 folgte die Edition „20 Johr Ba- schule und das lycée in Straßburg in die Schweiz und gelangte nach ei- rabli 1946–1966“. Germain Muller und danach das dortige Konservatori- niger Zeit nach Frankreich, wo er in widmete sie seiner Mutter, seiner um. Als der Krieg ausbrach, wurde die die 1. Französische Armee de Latt- Frau und dem Matriarchat im allge- Straßburger Bevölkerung in die Dor- res eintrat und mit ihr 1944 ins Elsaß meinen (à ma mère, à ma femme et dogne evakuiert. Von Périgueux aus zurückkehrte. Nach der deutschen au matriarcat en général). Sie enthält kam Germain Muller nach Bordeaux, Kapitulation arbeitete er als Redak- u. a. die beliebten Lieder „wo sin mini wo er am Konservatorium seine teur im Kriegsministerium und danach Kumpel vom cuntades“, „De Rhin“

14 Der Westen 1/2 2014 und den elsässischen Schwanen- gesang „D’Letschte“. Gemeint sind die Zum Tode von Letzten, die noch den elsässischen Prof. Dr. Walter Ernst Schäfer Dialekt sprechen: „Mach um‘s Gewäsene kä Wäses“… Doch scheint Am 1. Januar 2014 verstarb nach langer Krankheit, drei Tage nach Vollen- Germain Muller die Hoffnung nicht dung seines 85. Lebensjahres, der bekannte Germanist Prof. Dr. Walter Ernst ganz aufgegeben zu haben. Jeden- Schäfer, Verfasser maßgebender Werke zur Literatur- und Kulturgeschichte falls sagte er manchmal, wenn das der Oberrheinlande im 17. und im 18. Jahrhundert. Trotz schwerer körper- Lied zu Ende war: „Wer‘s gloibt!“ licher Beschwerden arbeitete er noch bis kurz vor seinem Tode an wissenschaft- Unter dem Titel „Un noch emol 5 Johr lichen Aufsätzen. Barabli“ erschienen 1971 drei wei- Er stammte aus Nonnenweier bei Lahr, im benachbarten Elsaß hatte seine tere Schallplatten mit einer Auswahl Familie einst auch Fischereirechte und Landbesitz besessen. Die Schwer- neuer Sketche, Lieder und Monolo- punkte seiner Forschung waren Moscherosch (1601–1669), Grimmelshausen ge, darunter eine Huldigung an den (1621/22–1676) und die Straßburger Tannengesellschaft (gegründet 1633). Maler („Herr von Er befaßte sich jedoch u. a. auch mit Gottfried Konrad Pfeffel (1736–1809) Seebach, bitte, bitte, mole Sie uns und Johann Peter Hebel (1760–1826). Auf der Jahresversammlung der noch emol d‘ scheene Zitte von anno „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbach-Gesellschaft“ dozumol …“). am 22. November 1997 in Stuttgart hielt er einen Vortrag über „Gottfried Der „Barabli“ machte auch vor füh- Konrad Pfeffel und seine Nachwirkungen“. renden Politikern nicht halt. So be- Im Vorwort eines 2001 erschienenen Sammelbandes „Literatur im Elsaß faßte sich das Stück „Narreschiff – von Fischart bis Moscherosch“, der grundlegende Quellenstudien Professor Narregaullie“ (1964) mit de Gaulle, das Schäfers und seines Freundes Professor Kühlmann enthält, schreiben die Stück „Hoppla Schorsch“ (1969) mit beiden Verfasser: „… Wenn es unserem Band gelingt, nicht nur der literatur- Pompidou und „Sch’Barre’Gagges“ historischen Forschung zu nützen und sie womöglich weiter anzuregen, mit Raymond Barre. sondern dabei auch die Erinnerung an mittlerweile bedrohte literarische Über- Alle diese Platten können für späte- lieferungsbestände des alten Elsaß – vor der Annexion durch die französische re Zeiten wichtige Quellen sein. Sie Krone – wach zu halten, hat er eine seiner wesentlichen Bestimmungen erfüllt.“ lassen die Mentalität vieler Elsässer, Für die Wissenschaft, insbesondere die sich mit dem südwestdeutsch- ihre Sprache, ihr Alltagsleben und alemannischen Raum befassende kulturgeschichtliche Wissenschaft, bedeutet ihre speziellen Probleme im 20. Jahr- Prof. Dr. Walter Ernst Schäfers Tod einen herben Verlust. hundert erkennen. Von 1959 bis 1989 war Germain Muller als Mitglied des Stadtrats und danach als Beigeordneter der Bür- Das älteste Musikfestival germeister Pflimlin und Rudloff ver- Frankreichs verschwindet! antwortlich für die Gebiete Theater, Konzerte und Tourismus. Seine Ver- Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug am 3. Juni 2014 in Straßburg und dienste waren zweifellos groß, doch im Elsaß die Nachricht ein, daß der Präsident des Straßburger Festivals habe konnte er sich in dieser Stellung nie Konkurs anmelden müssen. Das Festival wird 2014 nicht stattfinden. So war ganz für das überkommene kulturelle das Pfingsthochamt im Münster die einzige Veranstaltung des vor über einem Erbe einsetzen. Monat angekündigten Festivals, ein Hochamt bei dem der Straßburger Dom- Er starb am 17. Oktober 1994 nach chor und das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Domkapell- langer Krankheit. Bei dem Trauer- meister Debes die bekannte „Dona-nobis-pacem-Messe“ des elsässischen gottesdienst im Straßburger Münster Komponisten M. J. Erb aufführten. Das Gotteshaus war mit einer dichtgedräng- waren Melodien seiner Lieder, aber ten, andächtigen Menge gefüllt. kein Wort im elsässischen Dialekt zu Das erste Festival – es fand vom 29. April bis zum 1. Mai 1932 statt – brachte hören. Das wird bei den Gedenkver- damals die Berliner Philharmoniker mit Wilhelm Furtwängler nach Straßburg. anstaltungen im Jahr 2014 doch wohl Und danach folgten auf dem Podium des Straßburger Sängerhauses von Jahr etwas anders sein. zu Jahr die berühmtesten Musiker und Orchester der Welt: Pablo Casals, Ausführliche Nachrufe brachte da- Jacques Thibaud, Otto Klemperer, Alfred Cortot, Charles Münch, Pierre mals die Zeitschrift „Land un Sproch“ Monteux und wie sie alle hießen. (Nr. 112, 1994) der René Schickele- 2013 übernahm Philippe Olivier die künstlerische Gestaltung des Festivals, Gesellschaft. sah sich allerdings einem Defizit gegenübergestellt, das zu überbrücken ihm amg nicht gelang. Für 2014 wurde die Anzahl der Konzerte von 33 auf 15 reduziert. Es nützte nichts. Seit 1997 zu Ob das Festival wie der Phoenix aus der Asche aus seinen Trümmern auf- finden an der erstehen wird? Vorerst hat das Gericht das Sagen! Es sind genug jüngere Place Broglie Kräfte in Straßburg am Werk, die sich zur Aufgabe setzen könnten, das älteste in Straßburg: Festival des Landes nach dessen finanzieller Sanierung zu retten. Zu glei- die Gedenk- cher Zeit, da das Festival abgeblasen wurde, verwirklichte Martin Gester eine tafel für Neuaufnahme von Bach-Werken auf dem Klavizimbel, ein Beweis dafür, daß Germain in der elsässischen Musikwelt Talente am Werk sind, denen Gelegenheit Muller. geboten werden sollte, sich zu entfalten. Denn schließlich geht es um den Ruf der Europastadt als einer der Musikmetropolen am Rhein!

Der Westen 1/2 2014 15 Hinüber und herüber

Partnerschaft aus Bronze, Armbänder und Span- in Straßburg zu sehen sein. Sie stellt Sessenheim – Meißenheim gen sowie ein goldener Ring und ein 32 Biographien von Menschen vor, Glasstück aus dem Vorderen Orient. die während des 1. Weltkrieges im (Quelle: L‘ami hebdo, 13.4.2014) Elsaß, in Württemberg oder in Baden Bei präventiven Grabungen auf lebten. einem Bauplatz für ein Einrichtungs- haus in dem südlich von Mülhausen gelegenen Dorf Niedermorschweiler/ Morschwiller-le-Bas haben Archäolo- gen fast 1000 Objekte entdeckt, die wohl aus dem Ende der 4. Eiszeit, dem Magdalénien (30 000 v. Chr. – 10 000 v. Chr., benannt nach der Höhle La Madelène bei Tursac/Dordogne), stammen. Es handelt sich um Geräte zum Erlegen und Abschlachten von Deutsche und französische Soldaten Rentieren. am Hartmannsweilerkopf im Elsaß (Foto: Generallandesarchiv Karlsruhe) Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg Isenheimer Altar noch verlagert In Erinnerung an den 200. Todes- tag der Sessenheimer Pfarrerstoch- Auch im Elsaß wird im Jahr 2014 im- ter Friederike Brion (geboren am mer wieder an den Ersten Weltkrieg 29. April 1752 in Niederrödern/ 1914 – 1918 erinnert. So fand vom Unterelsaß, gestorben am 3. April 31. März bis zum 30. April 2014 im 1813 in Meißenheim bei Lahr), der Haus der Region in Straßburg – und großen Jugendliebe Goethes, wur- gleichzeitig im Senat in Paris – eine de am 15. Juni 2013 in Sessenheim Ausstellung des Fotografen Michael eine Partnerschaft Sessenheim – Saint-Maure Sheil und des Jour- Meißenheim gegründet. Sessenheim nalisten Laurent Loiseau statt, die ist durch die Gedichte, die Goethe Schlachtfelder dieses Krieges zum seiner Liebe widmete, und durch Thema hat („Fields of Battle-Terres de die Schilderungen, die er im zweiten Paix“). und im dritten Buche seiner Selbst- Im Sundgau bereitet der dortige inter- Wegen umfangreicher Erweiterungs- biographie „Dichtung und Wahrheit“ kommunale Verkehrsverein einen und Umbauten im Unterlinden-Museum gibt, weltbekannt geworden. Goethe 7 km langen Rundgang zu den noch ist der Isenheimer Altar seit November schreibt den Ortsnamen allerdings sichtbaren Spuren der deutsch- 2013 in Colmar vorübergehend in der „Sesenheim“. französischen Westfront vor, die ehemaligen Dominikanerkirche ausge- bis zur Schweizer Grenze reichte. stellt und wird voraussichtlich bis zum Archäologische Ausgrabungen Die Besucher können Schützen- Frühjahr 2015 dort bleiben. gräben entdecken und Verteidigungs- Dieses Hauptwerk Grünewalds muß- Vom 11. April bis zum 22. Juni 2014 anlagen, von denen einige kürzlich te bereits mehrere Umzüge überste- waren im Colmarer Unterlinden- restauriert worden sind. Der Weg wird hen. Während der Französischen Museum Ergebnisse der Ausgrabun- am 3. August 2014 offiziell eröffnet. Revolution wurde der Altar von gen zu sehen, die im Jahr 2005 in Mit einer Ausstellung „1914, la mort Isenheim nach Colmar gerettet und Heiligkreuz/Sainte-Croix-en-Plaine des poètes“ erinnert die Bibliothèque kam dort zunächst in die Bibliothek (südlich von Colmar) gemacht wor- Nationale et Universitaire (BNU) in des Collège, danach in das Musée den sind. Es handelt sich um rund 50 Straßburg vom 5. September bis zum National und 1852 in das neugegrün- Gräber aus der Zeit von 1100 v. Chr. 7. Dezember 2014 an Charles Péguy, dete Unterlinden-Museum. Zu Beginn bis etwa 400 v. Chr. Damals war die Ernst Stadler und Wilfried Owen, drei des Ersten Weltkriegs wurde er aus Gegend von Kelten bewohnt. Die Ar- Dichter, die auf den Schlachtfeldern Sicherheitsgründen nach München chäologen konnten feststellen, daß des 1. Weltkrieges den Tod fanden. in die Alte Pinakothek gebracht und nach 700 v. Chr. wieder Erdbestattun- Es sind Originalmanuskripte, literari- kehrte 1919 nach Colmar zurück. Im gen stattfanden, während vorher vor sche Zeitschriften, Kupferdrucke und Zweiten Weltkrieg kam er zunächst in allem Einäscherungen üblich waren. Holzschnitte zu sehen. die Dordogne, danach in den Périgord Bei beiden Bestattungsarten wurden Eine Ausstellung mit dem Titel und 1940 zurück nach Colmar. Von den Toten Kleinodien mitgegeben. „Menschen im Krieg – Vivre en temps 1942 bis 1945 war er auf der Hoh- Unter den in Heiligkreuz aufgefunde- de guerre des deux côtés du Rhin königsburg. Seit 1945 befindet er sich nen Schmuckstücken aus der Zeit vor 1914–1918“ wird vom 1. bis zum 28. wiederum in Colmar. (Quelle: L’ami 400 v. Chr. befinden sich Halsketten November 2014 im Haus der Region hebdo, 17. November 2013)

16 Der Westen 1/2 2014