Gegen Die Giftmischer Und Aderlasser – Naturheilkunde, Homöopathie Und Die Blüte Der Sanften Medizin
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Gegen die Giftmischer und Aderlasser – Naturheilkunde, Homöopathie und die Blüte der sanften Medizin »Wenn ein Tier krank ist, leidet es still und verhält sich ruhig. So sieht man nicht mehr kränkliche Tiere als Menschen. Ach, wie viele Menschen sind durch Ungeduld, Furcht, Unruhe und besonders durch Heilmittel getötet worden, die trotz ihrer Krankheit und mit der Zeit hätten gerettet werden können? Man wird mir entgegnen, daß die Tiere, die der Natur getreuer leben, auch entsprechend weniger der Krankheit ausgesetzt sind als wir. Aber ja, genau diese Lebensweise will ich meinem Schüler zuteil werden lassen. Er wird deshalb auch den gleichen Vorteil davon haben.« Jean-Jaques Rousseau, Émile (1762), 1. Buch. 1673 Molières Malade imaginaire erscheint 1762 Jean-Jacques Rousseaus Èmile erscheint 1762, 12. August: Christoph Wilhelm Hufeland wird geboren. Hufelands Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern erscheint. 1796 1795 Hufelands Ideen über Pathogenie 1799 Vincenz Prießnitz wird geboren. 1818 Prießnitz gründet seine Wasserheilanstalt in Gräfenberg. Sebastian Kneipp wird geboren. 1821 J. H. Rausses Der Gräfenberger Wasserarzt 1840 Gründung der Wasserheilanstalt Alexandersbad im Fichtelgebirge. Samuel Hahnemanns Organon der Heilkunst erscheint. 1842 J. H. Rausse gründet seine erste Wasserheilanstalt. 1844 1848/49: Bürgerliche Revolution in Deutschland 1848 1847 J. H. Rausses Über die gewöhnlichen ärztlichen Missgriffe beim Gebrauch des Wassers als Heilmittel Lorenz Gleichs Das Naturheilverfahren ohne Medizin 1855 1863 1863, 15. Januar: Der Naturarzt. Correspondenzblatt für Freunde natur gemäßer Theodor Hahns Praktisches Handbuch der naturgemäßen Heilweise 1865 Heilmethoden erscheint erstmalig. erscheint. 1867 1869 Eduard Baltzer gründet den Deutschen Verein für naturgemässe Lebensweise; Gustav Struves Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung und 1871 seine Schrift Die natürliche Lebensweise erscheint. Arnold Riklis Thermoelektrisches Licht- und Luftbad erscheinen. 1875 Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs Gustav Schlickeysens Obst und Brod: eine wissenschaftliche Diätetik erscheint. Deutscher Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise Kneipps Schrift So sollt ihr leben! erscheint. Der Kurbetrieb Kneipps in 1888 1889 gegründet Bad Wörishofen beginnt. 1890 1893 1890, 14. Dezember: Gründung des ersten Kneipp-Vereins Kneipp wird von Papst Leo XIII. zum Päpstlichen Geheimkämmerer ernannt. 1897 Adolf Just gründet die Naturheilanstalt »Jungborn« Der »Lehmpastor« Leopold Emanuel Felke gründet in Repelen bei Krefeld 1898 1897, 17. Juni: Sebastian Kneipp stirbt in Bad Wörishofen. seine Naturheilanstalt »Jungborn« (benannt nach Justs Anstalt). 1903 1902 Maximilian Bircher-Benners Schrift Grundzüge der Ernährungstherapie auf Naturheilanstalt auf dem Monte Verità bei Ascona eröffnet. Grund der Energiespannung der Nahrung erscheint. 1907 1910 Adolf Justs Kehrt zur Natur zurück! Richard Ungewitters Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, moralischer 1914–1918 Erster Weltkrieg u. künstlerischer Beleuchtung 1914 1935 Reichsarbeitsgemeinschaft für neue deutsche Heilkunde 1939–1945: Zweiter Weltkrieg 1939 59 Alternative Heil- und Lebensweisen gehen bereits auf das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zurück und fußen auf der wachsenden Skepsis gegenüber verbreitetem Quack- salbertum und einer Heilkunde, deren Instrumente sich neben der Chirurgie auf Blutentleerung (Aderlass, Schröp- fen), die Gabe von Abführmitteln und die Verordnung giftiger Medikamente beschränkten. Vor allem der Aderlass wurde zur allseits beliebten Modetherapie. Seine Indika- tionen waren allerdings ebenso zweifelhaft wie seine Erfolge. Der französische Schriftsteller Alain-René Lesage (1668– 1747) hat noch 1726 den üblen Missbrauch des Aderlas- sens, der häufig tödliche iatrogene Anämien zur Folge hatte, satirisch aufs Korn genommen. Gil Blas, der Titelheld einer seiner Romane, erlernt die Methode von seinem ärztlichen Lehrer Sangrado und macht mit ihr »in weniger als sechs Wochen so viele Witwen und Waisen«, wie in der »gesam- ten Belagerung Trojas«. »Mit Hülfe eines Bekannten, den ihm das Glück in den Weg führt, sucht und findet Gil Blas ein Unterkommen in Valladolid, indem er, zuerst bei einem alten Licentiaten und nach dessen bald erfolgendem Tod als Heilgehülfe bei dem berühmten Doctor Sangrado, in Dienste tritt. Diesem hatte er seine Kunst bald abgelernt, was nicht besonders schwer war, da der gute Doctor nur zwei Mittel anwandte: Aderlassen und Clystiren. Unter seinen Aus- picien praktizirend, bringt er es selbst zu einigem Ruf. Leider hatte er es nicht immer mit reichen Harpagon‘s, deren Erben nur auf ihren Tod lauerten, und alten Ehe- männern junger, lebenslustiger Frauen zu tun. Eine reiche Witwe, die ihn an ihr Krankenlager hatte rufen lassen, gab nach sechs bis sieben Aderlässen den Geist, soweit Abb. 3.1. Ein Mann beim Aderlass. Kupferstich, 1671. Illustration aus Cintio d’Amato, Prattica nuova et utilissima, Neapel 1679. solcher vorhanden war, auf und damit sah sich ihr Lieb- haber, ein gewisser Don Rodrigo, der in dem Rufe eines Spadassin stand, um eine gute Partie betrogen. Gil Blas moralischen Handlungsanweisungen für den Arzt – meist hielt es für geraten, sich der Rache des trostlosen und unter dem Titel Politia medica oder Medicus politicus – zur wütenden Liebhabers durch die Flucht zu entziehen.« Folge oder aber sie mündete in Diffamierung und Ab wen- dung von den akademischen Ärzten und ihren un wirk- Bereits Jean Baptiste Poquelin, Molière, (1622–1773) hatte samen bis giftigen Mitteln. Typisch und vorbildhaft ist hier die einfältige Trias von Klistier, Blutentleerung und Erbre- Jean-Jaques Rousseau (1712–1778) mit seiner Forderung chen (Clysterium donare, postea seignare, ensulte purgare) »zurück zur Natur«. Der französische Philosoph der Aufklä- durch die Figur des Purgon in seinem Malade imaginaire rung polemisiert im ersten Buch seines Erziehungsromans (1673) angeprangert. Auch ließ der Umgang mancher Ärzte Émile oder Über die Erziehung (1762) scharf gegen die gängige mit ihren Patienten in moralischer Hinsicht zu wünschen Schulmedizin seiner Zeit. Sie erscheint ihm als pure »Schar- übrig. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, latanerie« und eher geeignet, den Menschen durch ihre dass seit dem ausgehenden 17., vor allem aber im 18. Jahr- giftigen Mittel vom Leben zum Tode zu be fördern, als ihn hundert, die Kritik am ärztlichen Beruf stetig zunahm. wirkungsvoll zu heilen, was für die da malige Zeit durchaus Einerseits hatte sie blühende literarische Landschaften mit zutraf. So heißt es im Émile über die Heilkunst: 60 Abb. 3.2. Molière. Zeitgenössisches Porträt (Kupferstich). Abb. 3.3. Jean-Jaques Rousseau. Pastell aus dem Jahr 1753 von Maurice Quentin de La Tour (1704–1788). Musee Carnavalet, Paris. »Diese verlogene Kunst, geschaffen eher für die Leiden mische Ärzte, Handwerkschirurgen oder Apotheker in jener des Geistes als für die des Körpers, dient weder dem einen Zeit konsultiert und ist damit der Schulmedizin treu geblie- noch dem andern: sie flößt uns eher Schrecken ein, als ben. Gleichwohl formierten sich auch Gegenbewegungen dass sie uns von unserer Krankheit heilt. Sie hält nicht so bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die der Schulmedi- sehr den Tod fern, als daß sie ihn im Voraus fühlen lässt. zin den Rücken kehrten und stattdessen alternative Heilver- Sie braucht das Leben auf, anstatt es zu verlängern. [...] fahren favorisierten. Hierbei handelte es sich zum einen um Wollt ihr Menschen voll echter Lebenskraft finden, dann die Homöopathie, die zwar arzneimittel orientierte Heil- sucht sie in einer Gegend, wo es keine Ärzte gibt. [...] kunde blieb, aber dem alten contraria contrariis (mit Gegen- Ach, wie viele Menschen sind durch Ungeduld, Furcht, teiligem behandeln) der allopathischen Heilkunde mit Unruhe und besonders durch Heilmittel getötet worden, ihrem similia similibus (mit dem abgeschwächten Gleichen die trotz ihrer Krankheit und mit der Zeit hätten gerettet behandeln) ein diametral anderes Arzneimittel-Wirkprin- werden können?« zip entgegensetzte; zum anderen um die Naturheilkunde , die sich dezidiert arzneimittellos gab und sich als Heilkunde Rousseau lässt den Erzieher seines Émile stattdessen auf die ausschließlich auf die Wirk kräfte der Natur (Wasser, Erde, »natürliche Ordnung« auch in Gesundheitsfragen bauen. Luft und Licht) und auf die Praxis diätetischer, meist vege- Der Mensch soll sich verhalten wie die Tiere, die »der Natur tarischer Ernährung verlassen wollte. getreuer leben, auch entsprechend weniger der Krankheit ausgesetzt sind als wir« und seine Hauptforderung im Hinblick auf die menschliche Gesundheit mündet in das Homöopathie Postulat: »Lebe natürlich, sei geduldig und verjage die Ärzte!« Sicher hat ein Großteil des medizinischen Pub likums Ausgangspunkt des neuartigen Systems, das als homöo- auch weiterhin und trotz aller drohenden Gefahr akade- pathische Medizin noch heute existiert und von Christian 61 lage des Hahnemannschen Hauptwerkes Organon der Heil- kunst (1842) warnend: »Die alte Medicin (Allöopathie), um Etwas im Allgemeinen über dieselbe zu sagen, setzt bei Behandlung der Krank- heiten theils (nie vorhandne) Blut-Uebermenge (plethora), theils Krankheits-Stoffe und Schärfen voraus, läßt daher das Lebens-Blut abzapfen und bemüht sich die einge- bildete Krankheits-Materie theils auszufegen, theils anderswohin zu leiten (durch Brechmittel, Abführungen, Speichelfluß, Schweiß und Harn treibende Mittel, Ziehpflaster, Vereiterungs-Mittel,