"The Times They Are Changing"1
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1/1 "The times they are changing"1 Belgien - Ein Staat im Wandel Referat2: G. Modard-Girretz, Juristin im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens Erste Fassung - Stand 21.09.08 Struktur des Referats 1. Einleitung 2. Die bisherigen Staatsstrukturen und -reformen a. Belgien vor Beginn des Föderalisierungsprozesses b. 1968-1971: Die erste große Staatsreform Die Wiege einer neuen institutionellen Ära c. 1980-1983: Die zweite große Staatsreform Ausbau und Stärkung der Errungenschaften von 1970 d. 1988-1989: Die dritte große Staatsreform Klärung der „Brüssel-Frage“ und weiterer Autonomieausbau e. 1993: Die vierte große Staatsreform Der Wandel ist vollzogen - Belgien ist ein Föderalstaat f. 2001: Die fünfte große Staatsreform Weitere Stärkung der Gliedstaaten 3. Vorbereitung einer sechsten großen Staatsreform a. Technische Umsetzungsmöglichkeiten einer Staatsreform b. Forderungen 2001-2007 c. Die 2007 zur Revision freigegebenen Verfassungsartikel d. Was ist seit den Föderalwahlen von Juni 2007 geschehen? 4. Zukunftsaussichten 5. Schlusswort 6. Quellenverzeichnis 1 Titel eines Bob-Dylan-Songs aus dem Jahre 1964; in der Übersetzung „Die Zeiten ändern sich“ 2 Vorliegender Text ist die schriftliche Fassung des Referats, das am 22. September 2008 im Rahmen des Aktualitätsunterrichts des VHS-Bildungskurses gehalten wurde. 2/2 1. Einleitung „Kommt Abgeordnete, bitte achtet auf den Ruf. Steht nicht in der Türe und blockiert nicht die Halle. Denn, wer zu Schaden gekommen ist, der hat auch Zeit geschunden. Draußen wütet eine Schlacht. Er wird schon bald an euren Fenstern rütteln und eure Wände erschüttern, denn die Zeiten ändern sich.3“ frei übersetzter Auszug aus dem Bob-Dylan-Song The times they are changing Die Zeiten ändern sich. Nichts ist mehr so, wie es war. Belgien ist seinen Kinderschuhen schon lange entwachsen. Ausgebrochen aus dem Schoße des mütterlichen Einheitsstaates, ist der belgische Staat nun schon seit einigen Jahrzehnten dabei, an einer auf ihn zugeschnittenen Wegeplanung zu arbeiten, doch die aktuellen politischen Wirren lassen vermuten, dass die Suche nach einer Identität des belgischen Staates noch immer nicht beendet ist. Aber wie wird es mit unserem Staat weitergehen? Was ist geschehen, dass der in der Verfassung festgehaltene Wahlspruch „Einigkeit macht stark“4, der zur Zeit der Gründergeneration Belgiens noch selbstverständlich anmuten konnte, heute für viele Bürger und Politiker impraktikabel scheint? In einer von politischen Krisen geschüttelten Zeit drängen sich diese Fragen unweigerlich auf. Der weitere Weg Belgiens scheint im Nebel zu liegen. Will man auch nur ansatzweise Wegweiser in die Zukunft finden, muss man in die Geschichte zurückblicken, denn nur so kann man erkennen, wie es zu den groben politischen und mitunter auch gesellschaftlichen Zerwürfnissen in diesem Lande kommen konnte und welche Auswege aus der Krise überhaupt denkbar sind. Bei diesen geschichtlichen Betrachtungen fällt auf, dass der belgische Staat des 21. Jahrhunderts auch strukturell gesehen nicht mehr viel mit dem 1830 gegründeten dezentralisierten Einheitsstaat Belgien gemein hat. Ein verändertes Weltbild und immer neue Anforderungen auf politischer, kultureller, soziologischer und öffentlicher Ebene erfordern vom belgischen Staat eine gewisse Wandlungsfähigkeit. Da die Ansichten über die Ausmaße der erforderlichen Wandlung zurzeit stark auseinanderdriften, befindet sich der belgische Staat in einer existenziellen politischen Krise. Die anstehende belgische Staatsreform erhebt den Anspruch, den aktuellen Anforderungen zu begegnen und gleichzeitig einen Ausweg aus dieser politischen Krise aufzuzeigen. Wie sich die Zukunft Belgiens tatsächlich gestalten wird, kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur erahnen, nicht aber vorhersehen. In diesem Sinne können im vorliegenden Referat keine verbindlichen Antworten auf zukunftsorientierte Fragen geliefert werden. Vielmehr wird hier das Ziel verfolgt, die bewegte Geschichte Belgiens verständlich zu machen, damit die Zuhörer die sich daraus ergebenden Zukunftsaussichten Belgiens selbst differenziert analysieren und bewerten lernen. 3 "Come senators, congressmen - Please heed the call Don't stand in the doorway - Don't block up the hall For he that gets hurt - Will be he who has stalled There's a battle outside - And it is ragin'. It'll soon shake your windows And rattle your walls For the times they are a-changin'." 4 ursprünglich Artikel 125, heutiger Artikel 193 der koordinierten Verfassung aus dem Jahre 1994 3/3 2. Die bisherigen Staatsstrukturen und -reformen Wie bereits angedeutet ist es unabdingbar, die Entwicklung des belgischen Staates und besonders den 1970 eingeleiteten Föderalisierungsprozess Belgiens zu kennen, um die aktuelle Situation und die möglichen Reformen begreifen zu können. Angesichts der weiter oben erwähnten Zielsetzung dieses Referats werden hier allerdings nur jene geschichtlichen Ereignisse wiedergegeben, deren Kenntnis unabdingbar ist, will man die Zukunftsaussichten Belgiens differenziert analysieren und bewerten. Es wird keinesfalls der Anspruch auf eine vollständige historische Analyse erhoben. a. Belgien vor Beginn des Föderalisierungsprozesses Kurzer geschichtlicher Abriss Bis zu seiner Unabhängigkeit 1831 mussten das Land und seine Bewohner vielen fremden Herrschern dienen. Nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress (1814-1815) wurde das Gebiet, das heute zu Belgien gehört, dem Königreich der Vereinigten Niederlande angeschlossen. Die absolutistische holländische Herrschaft, die Unterdrückung der französischen Sprache und die unterschiedlichen religiösen Ansichten5 führten vor allem beim französischen Bürgertum des heutigen belgischen Gebietes zu Protesten; Proteste, die 1830 in den sogenannten Brüssler Aufstand mündeten. Der erste Schritt in die Unabhängigkeit Belgiens und die Gründung eines neuen Staates war getan. Die daraufhin gegründete parlamentarische Monarchie Belgien wurde von der Struktur her zu einem dezentralisierten Einheitsstaat6. Unter einem dezentralisierten Einheitsstaat versteht man einen Zentralstaat nach französischem Modell mit einheitlicher Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege. Die öffentliche Gewalt liegt zu einem Teil bei Zentralbehörden und zu einem anderen Teil bei Selbstverwaltungskörperschaften (den Provinzen und Gemeinden). Diese dezentralisierten Körperschaften unterstehen der Aufsicht der Zentralbehörden. Flamen und Wallonen Allerdings lebten im neu gegründeten Belgien zwei Volksgruppen zusammen: die flämischsprachige und die französischsprachige Bevölkerung. Die Sprachdiskrepanzen waren folglich bereits bei der Staatsgründung absehbar. Der neu gegründete Staat Belgien wurde aber auch von einem kulturellen Pluralismus geprägt. Grob skizziert kann man folgende Bipolarisierung vornehmen: - der nördliche Landesteil Belgiens (Flandern) unterliegt seit mehreren Jahrhunderten dem germanischen - und der südliche Landesteil (Wallonien) dem lateinischen Einfluss. 5 König Wilhelm wollte eine von Rom unabhängige Kirche gründen, was den katholischen Klerus erzürnte. 6 Verankerung in der ersten belgischen Verfassung vom 7. Februar 1831 4/4 Diese kulturellen und sprachlichen Verschiedenheiten führten unweigerlich zu einer ungleichen Entwicklung der Bedürfnisse und Forderungen der Flamen und Wallonen. Die Unterschiede machten sich allerdings nicht nur auf sprachlich-kultureller, sondern auch auf wirtschaftlicher und politischer Ebene bemerkbar. Diese ungleiche Entwicklung der flämischen und frankofonen Bevölkerungsgruppe konnte auch durch die stark zentralistisch ausgerichtete Verfassung nicht aufgehalten werden. Sprachliche und kulturelle Differenzen Da Französisch nach der Gründung Belgiens Staatssprache wurde und Flämisch als „Bauernsprache“ abgetan und eindeutig diskriminiert wurde, konnte man seither schon beinahe ethnische Auseinandersetzungen beobachten7. Der Kampf um eine sprachliche und kulturelle Identität war demnach besonders bei den Flamen von vorrangiger Bedeutung und dieser Einfluss ist bis heute in den flämischen Forderungen wiederzufinden.8 Obwohl im Laufe der Jahrzehnte mehrfach Zugeständnisse an die flämische Sprache gemacht wurden (Anerkennung der flämischen Sprache als Schul-, Amts- und Gerichtssprache Ende des 19. Jahrhunderts), konnte die sprachliche Benachteiligung der flämischen Bevölkerung erst durch die Sprachengesetze der 1960er Jahre aufgehoben werden (siehe Erläuterungen weiter unten). Wirtschaftliche und ideologische Differenzen Im 19. Jahrhundert war die Wallonie dank einer blühenden Textil- und Schwerindustrie der wohlhabendere Landesteil Belgiens. Bis zur Rezession der Kohleindustrie in den 1950er und der Stahlkrise in den 1970er Jahren konnte die Wallonie im Vergleich zum eher ländlichen Norden folglich als wirtschaftliches und politisches Zentrum des Staates angesehen werden. Die von der Schwerindustrie geprägte Wallonie unterlag daher auch seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark sozialistischen Einflüssen. Flandern war weitgehend konservativ-katholisch. Die wirtschaftliche und politische Sonderstellung des südlichen Landesteils war nicht mehr haltbar, als es zum Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie kam, vor allem, da sich im Norden neue Industrien entwickeln konnten. Im Verfolg dieser konjunkturellen Änderungen stieg die Arbeitslosigkeit im französischsprachigen Landesteil stark an. Die flämische Wirtschaft blühte hingegen auf9. Um 7 Eine ethnische Gruppe umfasst Menschen, die Geschichte, Kultur, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium und ein Gefühl der Solidarität miteinander