1/1

"The times they are changing"1

Belgien - Ein Staat im Wandel

Referat2: G. Modard-Girretz, Juristin im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens Erste Fassung - Stand 21.09.08

Struktur des Referats

1. Einleitung

2. Die bisherigen Staatsstrukturen und -reformen a. Belgien vor Beginn des Föderalisierungsprozesses b. 1968-1971: Die erste große Staatsreform Die Wiege einer neuen institutionellen Ära c. 1980-1983: Die zweite große Staatsreform Ausbau und Stärkung der Errungenschaften von 1970 d. 1988-1989: Die dritte große Staatsreform Klärung der „Brüssel-Frage“ und weiterer Autonomieausbau e. 1993: Die vierte große Staatsreform Der Wandel ist vollzogen - Belgien ist ein Föderalstaat f. 2001: Die fünfte große Staatsreform Weitere Stärkung der Gliedstaaten

3. Vorbereitung einer sechsten großen Staatsreform a. Technische Umsetzungsmöglichkeiten einer Staatsreform b. Forderungen 2001-2007 c. Die 2007 zur Revision freigegebenen Verfassungsartikel d. Was ist seit den Föderalwahlen von Juni 2007 geschehen?

4. Zukunftsaussichten

5. Schlusswort

6. Quellenverzeichnis

1 Titel eines Bob-Dylan-Songs aus dem Jahre 1964; in der Übersetzung „Die Zeiten ändern sich“ 2 Vorliegender Text ist die schriftliche Fassung des Referats, das am 22. September 2008 im Rahmen des Aktualitätsunterrichts des VHS-Bildungskurses gehalten wurde. 2/2

1. Einleitung

„Kommt Abgeordnete, bitte achtet auf den Ruf. Steht nicht in der Türe und blockiert nicht die Halle. Denn, wer zu Schaden gekommen ist, der hat auch Zeit geschunden. Draußen wütet eine Schlacht. Er wird schon bald an euren Fenstern rütteln und eure Wände erschüttern, denn die Zeiten ändern sich.3“

frei übersetzter Auszug aus dem Bob-Dylan-Song The times they are changing

Die Zeiten ändern sich. Nichts ist mehr so, wie es war. Belgien ist seinen Kinderschuhen schon lange entwachsen. Ausgebrochen aus dem Schoße des mütterlichen Einheitsstaates, ist der belgische Staat nun schon seit einigen Jahrzehnten dabei, an einer auf ihn zugeschnittenen Wegeplanung zu arbeiten, doch die aktuellen politischen Wirren lassen vermuten, dass die Suche nach einer Identität des belgischen Staates noch immer nicht beendet ist.

Aber wie wird es mit unserem Staat weitergehen? Was ist geschehen, dass der in der Verfassung festgehaltene Wahlspruch „Einigkeit macht stark“4, der zur Zeit der Gründergeneration Belgiens noch selbstverständlich anmuten konnte, heute für viele Bürger und Politiker impraktikabel scheint?

In einer von politischen Krisen geschüttelten Zeit drängen sich diese Fragen unweigerlich auf. Der weitere Weg Belgiens scheint im Nebel zu liegen. Will man auch nur ansatzweise Wegweiser in die Zukunft finden, muss man in die Geschichte zurückblicken, denn nur so kann man erkennen, wie es zu den groben politischen und mitunter auch gesellschaftlichen Zerwürfnissen in diesem Lande kommen konnte und welche Auswege aus der Krise überhaupt denkbar sind.

Bei diesen geschichtlichen Betrachtungen fällt auf, dass der belgische Staat des 21. Jahrhunderts auch strukturell gesehen nicht mehr viel mit dem 1830 gegründeten dezentralisierten Einheitsstaat Belgien gemein hat. Ein verändertes Weltbild und immer neue Anforderungen auf politischer, kultureller, soziologischer und öffentlicher Ebene erfordern vom belgischen Staat eine gewisse Wandlungsfähigkeit. Da die Ansichten über die Ausmaße der erforderlichen Wandlung zurzeit stark auseinanderdriften, befindet sich der belgische Staat in einer existenziellen politischen Krise. Die anstehende belgische Staatsreform erhebt den Anspruch, den aktuellen Anforderungen zu begegnen und gleichzeitig einen Ausweg aus dieser politischen Krise aufzuzeigen. Wie sich die Zukunft Belgiens tatsächlich gestalten wird, kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur erahnen, nicht aber vorhersehen.

In diesem Sinne können im vorliegenden Referat keine verbindlichen Antworten auf zukunftsorientierte Fragen geliefert werden. Vielmehr wird hier das Ziel verfolgt, die bewegte Geschichte Belgiens verständlich zu machen, damit die Zuhörer die sich daraus ergebenden Zukunftsaussichten Belgiens selbst differenziert analysieren und bewerten lernen.

3 "Come senators, congressmen - Please heed the call Don't stand in the doorway - Don't block up the hall For he that gets hurt - Will be he who has stalled There's a battle outside - And it is ragin'. It'll soon shake your windows And rattle your walls For the times they are a-changin'." 4 ursprünglich Artikel 125, heutiger Artikel 193 der koordinierten Verfassung aus dem Jahre 1994 3/3

2. Die bisherigen Staatsstrukturen und -reformen

Wie bereits angedeutet ist es unabdingbar, die Entwicklung des belgischen Staates und besonders den 1970 eingeleiteten Föderalisierungsprozess Belgiens zu kennen, um die aktuelle Situation und die möglichen Reformen begreifen zu können. Angesichts der weiter oben erwähnten Zielsetzung dieses Referats werden hier allerdings nur jene geschichtlichen Ereignisse wiedergegeben, deren Kenntnis unabdingbar ist, will man die Zukunftsaussichten Belgiens differenziert analysieren und bewerten. Es wird keinesfalls der Anspruch auf eine vollständige historische Analyse erhoben.

a. Belgien vor Beginn des Föderalisierungsprozesses

Kurzer geschichtlicher Abriss

Bis zu seiner Unabhängigkeit 1831 mussten das Land und seine Bewohner vielen fremden Herrschern dienen. Nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress (1814-1815) wurde das Gebiet, das heute zu Belgien gehört, dem Königreich der Vereinigten Niederlande angeschlossen. Die absolutistische holländische Herrschaft, die Unterdrückung der französischen Sprache und die unterschiedlichen religiösen Ansichten5 führten vor allem beim französischen Bürgertum des heutigen belgischen Gebietes zu Protesten; Proteste, die 1830 in den sogenannten Brüssler Aufstand mündeten. Der erste Schritt in die Unabhängigkeit Belgiens und die Gründung eines neuen Staates war getan. Die daraufhin gegründete parlamentarische Monarchie Belgien wurde von der Struktur her zu einem dezentralisierten Einheitsstaat6.

Unter einem dezentralisierten Einheitsstaat versteht man einen Zentralstaat nach französischem Modell mit einheitlicher Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege. Die öffentliche Gewalt liegt zu einem Teil bei Zentralbehörden und zu einem anderen Teil bei Selbstverwaltungskörperschaften (den Provinzen und Gemeinden). Diese dezentralisierten Körperschaften unterstehen der Aufsicht der Zentralbehörden.

Flamen und Wallonen

Allerdings lebten im neu gegründeten Belgien zwei Volksgruppen zusammen: die flämischsprachige und die französischsprachige Bevölkerung. Die Sprachdiskrepanzen waren folglich bereits bei der Staatsgründung absehbar.

Der neu gegründete Staat Belgien wurde aber auch von einem kulturellen Pluralismus geprägt. Grob skizziert kann man folgende Bipolarisierung vornehmen: - der nördliche Landesteil Belgiens (Flandern) unterliegt seit mehreren Jahrhunderten dem germanischen - und der südliche Landesteil (Wallonien) dem lateinischen Einfluss.

5 König Wilhelm wollte eine von Rom unabhängige Kirche gründen, was den katholischen Klerus erzürnte. 6 Verankerung in der ersten belgischen Verfassung vom 7. Februar 1831 4/4

Diese kulturellen und sprachlichen Verschiedenheiten führten unweigerlich zu einer ungleichen Entwicklung der Bedürfnisse und Forderungen der Flamen und Wallonen. Die Unterschiede machten sich allerdings nicht nur auf sprachlich-kultureller, sondern auch auf wirtschaftlicher und politischer Ebene bemerkbar. Diese ungleiche Entwicklung der flämischen und frankofonen Bevölkerungsgruppe konnte auch durch die stark zentralistisch ausgerichtete Verfassung nicht aufgehalten werden.

Sprachliche und kulturelle Differenzen

Da Französisch nach der Gründung Belgiens Staatssprache wurde und Flämisch als „Bauernsprache“ abgetan und eindeutig diskriminiert wurde, konnte man seither schon beinahe ethnische Auseinandersetzungen beobachten7. Der Kampf um eine sprachliche und kulturelle Identität war demnach besonders bei den Flamen von vorrangiger Bedeutung und dieser Einfluss ist bis heute in den flämischen Forderungen wiederzufinden.8

Obwohl im Laufe der Jahrzehnte mehrfach Zugeständnisse an die flämische Sprache gemacht wurden (Anerkennung der flämischen Sprache als Schul-, Amts- und Gerichtssprache Ende des 19. Jahrhunderts), konnte die sprachliche Benachteiligung der flämischen Bevölkerung erst durch die Sprachengesetze der 1960er Jahre aufgehoben werden (siehe Erläuterungen weiter unten).

Wirtschaftliche und ideologische Differenzen

Im 19. Jahrhundert war die Wallonie dank einer blühenden Textil- und Schwerindustrie der wohlhabendere Landesteil Belgiens. Bis zur Rezession der Kohleindustrie in den 1950er und der Stahlkrise in den 1970er Jahren konnte die Wallonie im Vergleich zum eher ländlichen Norden folglich als wirtschaftliches und politisches Zentrum des Staates angesehen werden. Die von der Schwerindustrie geprägte Wallonie unterlag daher auch seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark sozialistischen Einflüssen. Flandern war weitgehend konservativ-katholisch.

Die wirtschaftliche und politische Sonderstellung des südlichen Landesteils war nicht mehr haltbar, als es zum Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie kam, vor allem, da sich im Norden neue Industrien entwickeln konnten. Im Verfolg dieser konjunkturellen Änderungen stieg die Arbeitslosigkeit im französischsprachigen Landesteil stark an. Die flämische Wirtschaft blühte hingegen auf9. Um

7 Eine ethnische Gruppe umfasst Menschen, die Geschichte, Kultur, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium und ein Gefühl der Solidarität miteinander teilen. 8 Hinzu kommt, dass die Flamen das Territorialitätsprinzip bevorzugen, demzufolge alle Personen der Hoheit und den Gesetzen der Körperschaft unterworfen sind, auf deren Territorium sie sich befinden. Die frankofonen Politiker befürworten eher das Personenrecht, wonach es nicht vom Territorium, sondern von den Personen abhängt, welche Gesetze anwendbar sind bzw. welche Obrigkeit zuständig ist. (Bsp.: Nehmen wir eine Brüsseler Randgemeinde auf flämischem Gebiet, in der eine mehrheitlich französischsprachige Bevölkerung lebt. Gemäß dem Territorialitätsprinzip müsste die Unterrichts- oder Verwaltungssprache ausschließlich Niederländisch sein. Wendet man hingegen das Personenrecht an, könnten die Französischsprachigen auch für Unterricht in der französischen Sprache optieren oder auf Ve rwaltungsdienstleistungen in französischer Sprache bestehen.) (droit du sol > < droit des gens) Diese unterschiedliche Auffassung schafft vor allem ein Problem in Bezug auf die Landeshauptstadt Brüssel und deren unmittelbare Umgebung (Brüsseler „Rand“): Geschichtlich gesehen handelt es sich um flämisches Territorium, das aber im Laufe der Zeit mehrheitlich und in zunehmendem Maße von Französischsprachigen bewohnt wird. 9 Mit der Entstehung einer an Dienstleistungen orientierten Wirtschaft und der Verlagerung der Industrie hin zur Petrochemie entdeckten viele Investoren Flandern mit seinen Häfen und einer gut ausgebildeten Arbeiterschicht mit niedrigen Lohnforderungen. 5/5 dennoch ein Gegengewicht bieten zu können, suchten die frankofonen Politiker nach Möglichkeiten, um Wirtschaftskompetenzen selbst ausüben zu können. Angesichts ihrer wachsenden wirtschaftlichen Überlegenheit forderten die Flamen ebenfalls eine immer weitreichendere Selbstständigkeit.

Konfliktlösung durch Kompromisse

Die verschiedenartigen Forderungen, die aus diesen sprachlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschieden entstandenen sind, wurden insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer drängender. Bis heute kann man übrigens den stetigen Wunsch nach einer differenzierten Vorgehensweise beobachten. Wenn Belgien bislang trotz aller Spannungsfelder gut funktionieren konnte, so ist dies sicherlich der unvergleichlichen und hart erarbeiteten Kompromisskultur zu verdanken, die das politische Zusammenleben unseres Landes ausmacht. Alle fünf bisherigen Staatsreformen sind im Übrigen aus solchen Kompromissen entsprungen.

Beginn des institutionellen Wandels

Wie bereits im Absatz sprachliche Differenzen angedeutet, verabschiedete der Gesetzgeber Anfang der 1960er Jahre verschiedene Sprachengesetze10. In diesen wurden die französische, die niederländische und die deutsche Sprache als offizielle Sprachen Belgiens anerkannt und deren Gebrauch geregelt. Diese Sprachgesetze läuteten unweigerlich den Föderalisierungsprozess in Belgien ein.

Als Beginn des Strukturwandels des belgischen Staates ist insbesondere die koordinierte Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten hervorzuheben. In diesem koordinierten Text wird zudem festgehalten, dass sich Belgien aus vier Sprachgebieten zusammensetzt: das niederländische Sprachgebiet (flämische Provinzen), das französische Sprachgebiet (wallonische Provinzen11), das deutsche Sprachgebiet (neun Gemeinden deutscher Sprache um Eupen und St. Vith) sowie das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt12. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Sprachgebieten nicht um politische Strukturen mit eigenen Organen, sondern lediglich um eine territoriale (bzw. administrative) Aufteilung des Landes handelt.

Darüber hinaus gewährte der Gesetzgeber gewissen Gemeinden (entlang der Sprachengrenze), in denen bedeutende Sprachminderheiten bestehen, Fazilitäten13 und schuf Regeln in Sachen Minderheitenschutz.

10 Gesetz vom 10.10.1967 - Sprachengebrauch in Gerichtsangelegenheiten Gesetz vom 18.07.1966 - Sprachengebrauch in Ve rwaltungsangelegenheiten Gesetz vom 02.08.1963 - Sprachengebrauch in Ve rwaltungsangelegenheiten Gesetz vom 30.07.1963 - Sprachengebrauch im Unterrichtswesen Gesetz vom 31.05.1961 - Sprachengebrauch in Gesetzgebungsangelegenheiten 11 mit Ausnahme des Gebietes der neun deutschsprachigen Gemeinden 12 Siehe auch das Gesetz vom 08.11.1962 zur Abänderung der Provinz-, Bezirks- und Gemeindegrenzen 13 Fazilitäten-Gemeinden sind laut der Internet-Lexikothek Wikipedia jene belgische Gemeinde, in denen gewisse Einrichtungen und Dienste der betreffenden Gemeinde nicht nur in der jeweiligen Regionalsprache, sondern zusätzlich in einer anderen Sprache angeboten werden müssen. Umfang und Art dieser Fazilitäten sind gesetzlich geregelt. Brüssel hat ein zweisprachiges Statut (Französisch/Niederländisch), fällt also nicht unter die Kategorie der Fazilitäten-Gemeinden. Diese Fazilitäten können demnach als Abweichungen von den Sprachengesetzen angesehen werden und kommen der sprachlich gemischten Bevölkerung und nicht den Behörden zugute. 6/6

b. 1968-197114: Die erste große Staatsreform Die Wiege einer neuen institutionellen Ära

Ende der 1960er Jahre war sich die politische Elite endgültig einig, dass der Einheitsstaat mit seinen Strukturen und Arbeitsweisen nicht mehr den Ansprüchen der damaligen Zeit entsprach. Der damalige Premierminister, Gaston Eyskens, verteidigte diese Sichtweise eindrucksvoll in einer Regierungsmitteilung vom 18. Februar 1970 vor der Abgeordnetenkammer15.

Neben der Verankerung der vier Sprachgebiete in der Verfassung kann die Gründung der drei Kulturgemeinschaften, die vor allem auf Drängen flämischer Politiker zustande kam, als größte Errungenschaft dieser Staatsreform betrachtet werden16. Es handelte sich hierbei um die französische Kulturgemeinschaft, die flämische Kulturgemeinschaft und die deutsche Kulturgemeinschaft. Konkret bedeutet dies, dass der Verfassungsgeber den beiden „großen“ Kulturgemeinschaften eine gewisse gesetzgeberische Autonomie im kulturellen und sprachlichen Bereich zuerkannte. Auch setzte er entsprechende Kulturräte (Vorgänger der heutigen Parlamente) ein. Die tatsächlichen Zuständigkeiten dieser Kulturgemeinschaften waren allerdings äußerst begrenzt. Der Rat der deutschen Kulturgemeinschaft erhielt im Gegensatz zu seinen beiden „großen Brüdern“ noch keine Gesetzgebungshoheit. Ihm wurde lediglich die Möglichkeit eröffnet, Erlasse mit Verordnungscharakter zu fassen, die aus juristischer Sicht den Dekreten und Gesetzen untergeordnet sind.

Die Forderungen nach der Einsetzung von drei Regionen mit vorrangig wirtschaftlichen Aufgaben rührten eher von der wallonischen Seite her17. Diese Forderungen konnten 1970 allerdings nur teilweise umgesetzt werden. So wurde das Territorium der Wallonischen Region, der Flämischen Region und der Region Brüssel-Hauptstadt zwar abgesteckt, man musste jedoch die weiteren Staatsreformen abwarten, ehe die Zuständigkeiten und Handlungsspielräume der Regionen konkret gesetzlich definiert wurden. Die unterschiedliche Entwicklung beider Körperschaften ist dadurch zu erklären, dass der Verfassungsgeber selbst die Befugnisse der Kulturgemeinschaften in ihren Grundzügen festlegte. Was die Zuständigkeiten der Regionen anbelangte, verwies er hingegen auf die Verabschiedung eines neu eingeführten Instruments, des sogenannten Sondergesetzes18. Aufgrund von sehr unterschiedlichen

14 Siehe vor allem die Verfassungsänderung vom 24. Dezember 1970 15 "De unitaire staat, met zijn structuur en zijn werkwijze zoals die thans door de wetten nog geregeld zijn, is door de gebeurtenissen achterhald. De gemeenschapen en de gewesten moeten hun plaats innemen in vernieuwde staatsstructuren die beter aangepast moeten zijn aan de eigen toestanden van het land.", Gaston Eyskens, Premierminister, Regierungsmitteilung vom 18. Februar 1970, siehe den parlamentarischen Kammerbericht gleichen Datums . 16 Wie unter 1.a. ersichtlich wird, war das Streben nach einer eigenen kulturellen Identität eine ureigene flämische Forderung. 17 Erläuterungen siehe 1.a. 18 Ein Sondergesetz gilt nur als verabschiedet, wenn jede Sprachgruppe einer jeden Kammer des Föderalen Parlaments dem Text mehrheitlich zustimmt. Außerdem wird vorausgesetzt, dass die Mehrheit der Mitglieder jeder Sprachgruppe versammelt ist. Zusätzlich wird verlangt, dass die Gesamtheit aller Jastimmen aus beiden Sprachgruppen zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erreicht. Siehe Artikel 4 Absatz 3 der koordinierten Verfassung. Anwesenheitsquorum: - mindestens ½+1 anwesende Mitglieder der französischen Sprachgruppe - mindestens ½+1 anwesende Mitglieder der flämischen Sprachgruppe Stimmenquorum - mindestens ½+1 Stimmen der Anwesenden in der französischen Sprachgruppe 7/7

Ansichten, die vor allem das Statut der Region Brüssel-Hauptstadt19 betrafen, war es Anfang der siebziger Jahre allerdings noch nicht möglich, die erforderliche besondere Mehrheit zu finden, um ein solches Gesetz verabschieden zu können.

Zu erwähnen ist ferner, dass die Umsetzung dieser Neuerungen gewisse funktionale Anpassungen auf zentraler Ebene erforderlich machte. So wurden 1970 erstmals zwei Sprachgruppen in Kammer und Senat eingeführt (die französische und die flämische Sprachgruppe). Auch auf Regierungsebene musste fortan die sprachliche Parität bei der Bezeichnung der Minister gewährleistet werden.

Der Grundstein für die Schaffung des heutigen Staatsmodells (drei Gemeinschaften und drei Regionen) war gelegt. Der seit Jahren bestehende Knoten institutioneller Unzufriedenheit war endlich geplatzt, was eine wahre Welle weiterer Verfassungs- und Staatsreformen zur Folge hatte.

c. 1980-1983: Die zweite große Staatsreform Ausbau und Stärkung der Errungenschaften von 1970

Auf die zweite große Staatsreform, die als Fortsetzung und Ausbau der ersten Reform anzusehen ist, musste Belgien ein ganzes Jahrzehnt warten. Grund dafür waren Streitigkeiten über die Zuständigkeiten der Regionen und die Art und Weise, wie und mit welchen Organen sie in der Praxis funktionieren sollten. Auch erwies sich das Finden von entsprechenden Sondermehrheiten als schwierig.

Nichtsdestotrotz verdankt unser Land der zweiten großen Staatsreform bedeutende institutionelle Neuerungen: - Die Kulturgemeinschaften wurden in Gemeinschaften umgewandelt20. Sie erhielten neben ihren kulturellen Aufgaben neue Zuständigkeiten21. Außerdem erhielten die Gemeinschaften neben den bereits bestehenden Räten auch eine eigene Gemeinschaftsexekutive (Vorgänger der Gemeinschaftsregierung). - Es wurde ein Schiedshof22 eingesetzt, der Zuständigkeitskonflikte zwischen Staat, Gemeinschaften und Regionen beilegen soll. - Die Deutschsprachige Gemeinschaft wurde den anderen Gemeinschaften weiter gleichgestellt, indem ihr nun auch die Dekretbefugnis in kulturellen und personenbezogenen Angelegenheiten sowie in den zwischengemeinschaftlichen und internationalen Beziehungen zugeteilt wurde.

- mindestens ½+1 Stimmen der Anwesenden in der flämischen Sprachgruppe - mindestens 2/3 aller Stimmen der Anwesenden (Stimmen der französischen und flämischen Sprachgruppe) 19 Brüssels Lage ist eine besondere: Es liegt zwar mitten im flämischen Gebiet, seine Bevölkerung ist aber mehrheitlich französischsprachig und die frankofone Bevölkerung dehnt sich immer mehr im flämischen „Rand“ aus. 20 Konkret heißt das, die Deutschsprachige Gemeinschaft, die Flämische Gemeinschaft und die Französische Gemeinschaft ersetzen die deutsche, die niederländische und die französische Kulturgemeinschaft. Die Umwandlung geschieht für die Flämische Gemeinschaft und die Französische Gemeinschaft 1980, die Deutschsprachige Gemeinschaft muss ihrerseits die Verfassungs- und Gesetzesänderungen des Jahres 1983 abwarten, ehe sie sich als „Gemeinschaft mit Gesetzgebungshoheit“ bezeichnen darf. 21 Es handelte sich vor allem um Kompetenzen im personenbezogenen Bereich. Gemeint sind hierbei vor allem Zuständigkeiten im Gesundheits- und Sozialwesen. 22 2007 wird der Schiedshof in „Verfassungsgerichtshof“ umbenannt. Diese Umbenennung erfolgt aufgrund der Ausdehnung der Aufgaben dieser Einrichtung. 8/8

- Die beiden „großen“ Regionen wurden im Zuge dieser Staatsreform klar mit eindeutigen Befugnissen ausgestattet. Genau wie die Gemeinschaften erhielten auch sie einen Rat und eine Exekutive (Parlament und Regierung). In der „Brüssel Frage“ fand man allerdings wieder keine Einigung. - In Flandern fusionierten23 von Anfang an der Rat und die Exekutive der Flämischen Region mit dem Rat und der Exekutive der Flämischen Gemeinschaft, sodass Gemeinschaft und Region lediglich über einen einzigen Rat und eine einzige Exekutive verfügen. Diese Entscheidung der Flamen macht deutlich, dass im Norden des Landes den Gemeinschaften mehr Wert beigemessen wird als den Regionen24.

Die hier erwähnten Reformen werden anhand von Verfassungs- und Gesetzesänderungen25 vollzogen.

Da die Zuständigkeitsverteilung zwischen Staat, Regionen und Gemeinschaften eine gewisse Komplexität und somit Konfliktpotenzial in sich barg, fasste der ordentliche Gesetzgeber am 9. August 1980 außerdem Regeln zur Vorbeugung von Zuständigkeits- und Interessenkonflikten.

d. 1988-1989: Die dritte große Staatsreform Klärung der „Brüssel-Frage“ und weiterer Autonomieausbau

Die Klärung der „Brüssel-Frage“ ist wohl die bedeutendste Errungenschaft der dritten Staatsreform. Nach langem Hin und Her erhielt die Region Brüssel-Hauptstadt einen eigenen Rat und eine eigene Exekutive, auch wurden ihr quasi die gleichen Befugnisse und Finanzzuweisungen wie den anderen Regionen zuerkannt.

Des Weiteren wurden den Gemeinschaften weitgehende Kompetenzen betreffend das Unterrichtswesen zugewiesen. Finanzierungsgesetze legten neue Regeln zur Finanzierung der Gemeinschaften und Regionen fest. Für die Deutschsprachige Gemeinschaft bedeuteten die neuen Finanzierungsregeln eine erhebliche Aufstockung der Finanzzuweisungen seitens des Föderalstaates. Auch die Regionen wurden gestärkt. Sie erhielten unter anderem die Zuständigkeit für das öffentliche Verkehrswesen und für die öffentlichen Arbeiten.

Der Vollständigkeit halber sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Zuständigkeiten des Schiedshofs (heute Verfassungsgerichtshof) ausgedehnt wurden.

Seit dieser Reform ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Föderalstaat.

e. 1993: Die vierte große Staatsreform

23 Juristisch gesehen ist der Begriff „fusionieren“ nicht ganz korrekt gewählt, da die Einrichtungen der beiden Körperschaften (Gemeinschaft und Region) vom Rechtlichen her getrennt bleiben. Der Begriff „Fusion“ spiegelt aber am ehesten den praktischen Zusammenschluss und die tatsächliche Zusammenarbeit der Institutionen wider. 24 F. Berge, A. Grasse, „Belgien - Zerfall oder föderales Zukunftsmodell“, S. 113, Ed. leske + budrich, 2003 25 Siehe insbesondere das Sondergesetz vom 8.8.1980 zur Reform der Institutionen, das Gesetz vom 9. August 1980 zur Reform der Institutionen und das Gesetz vom 31.12.1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft 9/9

Der Wandel ist vollzogen - Belgien ist ein Föderalstaat

Im Anschluss an den Dialog der Gemeinschaften fand sich wenige Jahre später im Parlament die nötige Zweidrittelmehrheit, um die Verfassung fundamental abzuändern. Durch diese Änderung konnte der Wandel Belgiens hin zu einem vollwertigen Föderalstaat endgültig abgeschlossen werden26. Als Zeichen dieses Wandels verkündet der erste Artikel der belgischen Verfassung fortan, dass Belgien ein Föderalstaat ist, der sich aus Gemeinschaften und Regionen zusammensetzt.

Artikel 35 der Verfassung sieht die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Föderalstaat und Teilstaaten vor. Dieser Artikel legt fest, dass die Föderalbehörde fortan ausschließlich für die Angelegenheiten zuständig ist, die die Verfassung oder die Gesetze ihr ausdrücklich zuweisen. Gemeinschaften und Regionen sollen gemäß den gesetzlichen Vorschriften für alle anderen Angelegenheiten zuständig sein. Da die Zuständigkeiten des Föderalstaates im Gegensatz zu denen der Teilstaaten allerdings bis heute nicht in einem entsprechenden Gesetz festgelegt wurden, kann diese Bestimmung in der Praxis immer noch nicht ausgeführt werden27.

Die Gemeinschafts- und Regionalbefugnisse wurden in Ausführung dieses Verfassungsartikels über (Sonder)Gesetze weiter ausgedehnt. Besonders hervorzuheben ist hier, dass die Gliedstaaten seit der vierten Reform internationale Verträge in allen Angelegenheiten abschließen dürfen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.28

Mit Ausnahme des Brüssler Regionalrates und des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft wurde den sogenannten großen Gemeinschaften und Regionen die konstitutive Autonomie zuerkannt. Konkret bedeutete dies, dass diese Gliedstaaten die Zusammensetzung und Arbeitsweise ihres Parlaments und ihrer Regierung weitgehend autonom bestimmen dürfen.

Die institutionelle Neugestaltung Belgiens reichte aber noch weiter: Die Provinz Brabant wurde 1995 in eine flämische und eine wallonische Provinz gespalten, sodass sich Belgien fortan aus zehn Provinzen zusammensetzt. Brüssel wurde allerdings zur provinzfreien Zone (siehe Artikel 163 der koordinierten Verfassung).

Wie schon seit einiger Zeit ins Auge gefasst, wurde auch das parlamentarische System der Föderalebene mit bislang zwei gleichberechtigten Kammern grundlegend reformiert. Die Abgeordnetenkammer nimmt seither vorrangig die traditionellen parlamentarischen Aufgaben wahr; der Senat hingegen kann sich nur noch bedingt am Gesetzgebungsprozess beteiligen. Die Rolle, die dem Senat künftig zufallen sollte, ist eher die einer föderalen Vertretung der Gliedstaaten, die vor allem in Fragen mit regionalem oder gemeinschaftlichem Bezug initiativ werden kann. Oft spricht man in diesem Zusammenhang vom Senat auch von einer Art „Denk-“- oder „Überlegungskammer“.

26 Wie die weitere Entwicklung zeigen wird, bedeutet dies nicht, dass der Föderalisierungsprozess damit ebenfalls endgültig abgeschlossen werden kann. 27 Die Zuständigkeitsverteilung in Belgien ist laut Analyse des Geschichtsprofessors der KU Brussel, Mark Van den Wijngaert, demnach nicht offensichtlich geklärt, solange keine solchen Gesetze gefasst werden. 28 Hinzuzufügen ist auch, dass die Befugnisse der Deutschsprachigen Gemeinschaft auf die Grundgesetzgebung über die Öffentlichen Sozialhilfezentren ausgedehnt wurden. 10/10

Auch bei den gesetzgebenden Einrichtungen der gliedstaatlichen Räte (Parlamente) gab es bedeutende Neuerungen. Wurden die 25 Mitglieder des Rates der deutsch(sprachig)en (Kultur)Gemeinschaft schon seit dem Jahre 1974 direkt gewählt, so unterliegen die anderen Gemeinschaften und Regionen dieser Direktwahlregelung erst seit der vierten Staatsreform29.

Schlussendlich sollte noch erwähnt werden, dass: - die Finanzierungsgesetze erneut angepasst wurden; - das deutsche Sprachgebiet seitdem einen eigenen Wahlkreis für die Europawahlen bildet und 1994 erstmals einen eigenen Vertreter in das EU-Parlament entsenden konnte; - die Deutschsprachige Gemeinschaft seit der Reform der föderalen Kammern einen Gemeinschaftssenator in den Senat entsendet.

f. 2001: Die fünfte große Staatsreform Weitere Stärkung der Gliedstaaten

Belgien war nun zwar definitiv ein Föderalstaat, dies allein stellte die Gliedstaaten, denen die Mängel des neu erworbenen föderalen Modells schnell klar wurden, allerdings nur kurze Zeit zufrieden. Schon bald wurden weitere Stimmen nach einer erneuten Umgestaltung des belgischen Staatsgefüges laut. Auf flämischer Seite plädierte man für weitreichendere Steuerbefugnisse. Der frankofone Landesteil, den die kolossalen Unterrichtskosten schwer belasteten, forderte eine Aufstockung seiner Finanzmittel.

In diesem Kontext leiteten das Lambermont- und das Lombard-Abkommen im Jahr 2001 die fünfte Staatsreform ein30,31.

Die Forderungen der Flamen und Wallonen wurden insofern erfüllt, als das Lambermont-Abkommen eine Reihe von Regelungen über die Finanzierung der Gemeinschaften32 und die Erweiterung der Steuerbefugnisse der Regionen vorsieht33.

Aus institutioneller Sicht ist aber vor allem hervorzuheben, dass das Lambermont-Abkommen die Autonomie der Regionen stärkt, indem es bestimmte Befugnisse an die Regionen überträgt. So wurde die Provinz- und Gemeindegesetzgebung eine regionale Zuständigkeit34. Auch Landwirtschaft und Außenhandel wurden weitgehend regionalisiert.

29 Vorher setzten sie sich aus Vertretern aus Kammer und Senat zusammen. 30 http://www.belgium.be/de/ueber_belgien 31 Beide Abkommen wurden durch zwei besondere Gesetze vom 13. Juli 2001 umgesetzt. Es fällt demzufolge auf, dass die fünfte große Staatsreform im Gegensatz zu den vier Vorgängerreformen nicht durch eine Ve rfassungsänderung umgesetzt wird, sondern durch die Ve rabschiedung von (Sonder)Gesetzen. 32 Die Gemeinschaften erhalten vom Föderalstaat eine erhebliche Mittelaufstockung und eine größere Autonomie bei der Verwendung der Haushaltsmittel aus der Nationallotterie. 33 Die Regionen erhalten Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des Steuersystems und können fortan eigenständig bestimmte Steuern festlegen und Abschläge (bzw. Zuschläge) auf gewisse föderale Steuern gewähren (bzw. auferlegen). 34 Die Regionen werden also verantwortlich für die Organisation der Gemeinden und Provinzen. Sie dürfen beispielsweise die Funktionsweise der Gemeinderäte ändern und die Direktwahl der Bürgermeister einführen. Dies deutet darauf hin, dass die Provinzen, die ja bereits seit der Staatsgründung existieren, im Zuge des Föderalisierungsprozesses immer mehr an Bedeutung verlieren. Für die Deutschsprachige Gemeinschaft ist diese Neuerung ebenfalls von Bedeutung. Die schon seit Längerem beantragte Übertragung der Aufsicht 11/11

Die Zuständigkeiten der Gemeinschaften bleiben, mit Ausnahme der nachstehenden Zuständigkeiten, hingegen weitgehend unverändert. Den Gemeinschaften und Regionen überträgt das Lambermont-Abkommen: - die Entwicklungszusammenarbeit (in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen)35, - die Kontrolle der Wahlausgaben bei der Wahl des Parlaments und - die ergänzende Finanzierung der politischen Parteien36.

Das Lombard-Abkommen ändert die Funktionsweise der Brüssler Institutionen ab. Den Flamen wird eine verstärkte Vertretung im Brüssler Regionalparlament und in den Verwaltungen der Brüssler Gemeinden gewährt.

Es sei noch daran erinnert, dass die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft seit Inkrafttreten des Gesetzes vom 7. Januar 2002 aus mindestens drei und höchstens fünf Mitgliedern bestehen kann37.

über die neun deutschsprachigen Gemeinden muss seit dieser Staatsreform nicht mehr mit dem Föderalstaat, sondern mit der Wallonischen Region verhandelt werden. 35 Dies konnte damals aber noch nicht konkretisiert werden. 36 Die Gemeinschaften und Regionen können demnach eigene Regelungen für die Kontrolle der Wahlausgaben, der Regierungsmitteilungen und der Parteienfinanzierung ausarbeiten. 37 Es obliegt dem Parlament der Gemeinschaft, die Mitgliederzahl seiner Regierung festzulegen. 12/12

Vorbereitung einer sechsten großen Staatsreform (2001-heute)

a. Technische Umsetzungsmöglichkeiten einer Staatsreform

Die Analyse der vorherigen Staatsreformen verdeutlicht, dass institutionelle Reformen meist über eine Verfassungsreform, je nach Materie aber auch über (Sonder)Gesetzesänderungen abgewickelt werden können.

Ohne den aktuellen Forderungen vorgreifen zu wollen, kann man an dieser Stelle schon festhalten, dass sich die bevorstehende Staatsreform voraussichtlich beider Instrumente wird bedienen müssen. Aus diesem Grund ist es zu Beginn dieses Kapitels sinnvoll, kurz zu erklären, wie die Verfassung und die (Sonder)Gesetzesvorschläge abgeändert werden können.

Das Verfahren zur Abänderung der Verfassung ist in Artikel 195 des Grundgesetzes festgelegt. Demnach muss sich eine Verfassungsänderung über zwei Legislaturen erstrecken. - In einer ersten Phase muss sich die föderale gesetzgebende Gewalt (also die Föderalregierung, die Kammer und der Senat) auf eine Liste der Artikel einigen, die für eine eventuelle Verfassungsrevision freigegeben werden sollen. Anschließend werden die föderalen Kammern aufgelöst, woraufhin zwei Monate später Neuwahlen stattfinden müssen. - In einer zweiten Phase ist der neue Verfassungsgeber ermächtigt, die Verfassungsartikel zu revidieren, die in der vorherigen Legislaturperiode zur Revision freigegeben wurden. Allerdings setzt dies voraus, dass zwei Drittel der Mitglieder bei der Abstimmung anwesend sind und zwei Drittel der Anwesenden für die betreffende Verfassungsänderung stimmen.

Die Anpassung der Sondergesetze erfolgt über eine besondere Zweidrittelmehrheit. Die diesbezüglichen Modalitäten sind in Artikel 4 Absatz 3 der koordinierten Verfassung verankert ist. Demnach gilt ein Sondergesetz beziehungsweise dessen Abänderung nur als verabschiedet, wenn jede Sprachgruppe einer jeden Kammer dem Text mehrheitlich zustimmt. Außerdem wird vorausgesetzt, dass die Mehrheit der Mitglieder jeder Sprachgruppe versammelt ist. Zusätzlich wird verlangt, dass die Gesamtheit aller Jastimmen aus beiden Sprachgruppen zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erreicht.

Schematische Darstellung der Abstimmung eines Sondergesetzes

Kammer Senat

französischsprachig niederländischsprachig französischspr. niederländischspr.

½+1 Da ½+1 Ja ½+1 Da ½+1 Ja ½+1 Da ½+1 Ja ½+1 Da ½+1 Ja

2/3 Ja 2/3 Ja

Für die Anpassung eines ordentlichen Gesetzes bedarf es lediglich einer doppelten absoluten Mehrheit. Konkret bedeutet dies, dass sich mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen für die 13/13

Verabschiedung des Gesetzestextes aussprechen müssen. Die Wahl ist allerdings nur gültig, wenn sich mehr als die Hälfte aller Abgeordneten an der Wahl beteiligt hat.

Diese Erläuterungen machen deutlich, dass viele Schutzmechanismen vorgesehen sind, die eine leichtfertige Staatsreform unmöglich machen. Dies bietet zwar den Vorteil der Stabilität des belgischen Staatsgefüges, erschwert aber gleichzeitig erheblich die aufgrund der Sprachen- und Kompetenzstreitigkeiten ohnehin schon sehr komplizierten Verhandlungen.

b. Forderungen 2001-2007

2001 - Juni 2003

Den Hoffnungen vieler frankofoner Politiker zum Trotz kann der Föderalisierungsprozess mit dem Lambermont-Abkommen nicht als abgeschlossen angesehen werden. Die Diskussionen über weitere Reformschritte entbrennen schnell aufs Neue. Konzentrierten die politischen Mandatare sich kurz nach der fünften großen Staatsreform noch auf eine weitere Umwandlung der föderalen Kammern und der Wahlkreise, so kamen von flämischer Seite schnell weitreichendere Forderungen auf den Tisch. Diese fußten weitgehend auf den fünf Resolutionen, die das Flämische Parlament am 3. März 1999 verabschiedet hat38, und beinhalteten unter anderem Forderungen und Zielsetzungen in folgenden Bereichen:

- Es sollen kohärente Befugnispakete geschaffen werden, damit einerseits die Gesetzgebung und die Verwaltung an Qualität und Effizienz gewinnen können und damit andererseits das Subsidiaritätsprinzip gewahrt wird39,40. - Die entsprechenden Übertragungen sollen mit einer angepassten Finanz- und Steuerautonomie einhergehen. - Das föderale Staatsmodell soll grundsätzlich auf zwei Teilstaaten (einem flämischen und einem frankofonen) basieren, wobei Brüssel41 und der Deutschsprachigen Gemeinschaft ein besonderes, den beiden anderen Teilstaaten nicht ebenbürtiges Statut zukommen kann.

38 Dokument 1339 (1998-1999), Dokument 1340 (1998-1999), Dokument 1341 (1998-1999), Dokument 1342 (1998-1999), Dokument 1343 (1998-1999) 39 Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip sollen Gesetzestexte auf der Ebene gefasst werden, auf der die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme am besten verwirklicht werden können. 40 Siehe vor allem Fl. Parla. Dok 1342 (98-99) Folgende Bereiche sollen den Teilstaaten übertragen werden: - die Organisation der untergeordneten Behörden; - die vollständige Gesundheits- und Familienpolitik (inklusive Krankenversicherung und Familienzulagen; die Finanzierung soll aber im föderalen Zuständigkeitsbereich bleiben); - Befugnisse, um selbst eine aktive Arbeitspolitik betreiben zu können; - das Wissenschafts- und Technologiegebaren; - die vollständige Außenhandelspolitik; - die Telekommunikationspolitik; - die Eisenbahninfrastruktur und der Binnenverkehr; - die Entwicklungszusammenarbeit; - der Land- und Gartenbau sowie die Fischereipolitik; - Befugnisse, die eine Wirtschaftsförderung ermö glichen. 41 Dabei sollen u.a. die Bande zwischen Brüssel und Flandern gestärkt werden. 14/14

- Die interpersonelle Solidarität soll zwar beibehalten, aber transparenter gestaltet und objektiviert werden. - Die innerbelgische Zusammenarbeit soll ausgebaut und gefestigt werden. - Die konstitutive Autonomie soll vertieft werden. - Der Senat soll in eine Dialogkammer der Teilstaaten umgewandelt werden. - Das Territorialitätsprinzip (siehe Fußnote Nr. 6) soll umgesetzt werden.

Angesichts der komplexen Herausforderung, eine Staatsreform herbeizuführen, mutmaßte Paul Piret schon am 28. März 2002 in einem mit spitzer Feder geschriebenen Artikel in der Tageszeitung La Libre Belgique, dass sich Kammer und Senat auf eine neue Verfassungsrevision einigen müssten, damit Artikel 195 der koordinierten Verfassung, der das Verfahren der Verfassungsänderung festlegt, revidiert werden könne. Eine Abänderung von Artikel 195 würde die Türen öffnen, um Verfassungsrevisionen auch ohne Wahlen vornehmen zu können. Diese Annahme entsprach allerdings nicht der Meinung der frankofonen Parteien Belgiens, die sich immer wieder mehrheitlich der Änderung dieses Verfassungsartikels, der im Übrigen seit 1831 noch nie abgeändert worden ist, widersetzt haben.

In der Deutschsprachigen Gemeinschaft wurden 2002 erneut Forderungen nach einer Ausdehnung der Gemeinschaftsautonomie erhoben. Diese Forderungen nahmen Bezug auf Befugnisübertragungen, die entweder durch eine Verfassungs- oder Gesetzesrevision abgewickelt oder in Anlehnung an Artikel 139 der Verfassung42 mit der Wallonischen Region verhandelt werden können.

Von der Wallonischen Region fordert die Deutschsprachige Gemeinschaft Zuständigkeiten in den Bereichen Raumordnung, Wohnungswesen, Landwirtschaft, untergeordnete Behörden und Straßenbau43; vom Föderalstaat erwartet sie die Übertragung der konstitutiven Autonomie und eine adäquate garantierte Vertretung in Kammer und Senat.

Presseartikel des ganzen Landes gingen auf die Forderungen der Deutschsprachigen Gemeinschaft und die ablehnende Haltung der Wallonischen Region und insbesondere ihres damaligen Ministerpräsidenten J.-C. Van Cauwenberghe ein44. Le Vif / L'Express widmete diesem Thema im Herbst 2002 sogar eine siebenseitige Berichterstattung45. Von den seit mehreren Jahren geforderten Befugnisübertragungen wurden der Deutschsprachigen Gemeinschaft bislang lediglich die

42 Artikel 139 der koordinierten Verfassung lautet wie folgt: „Auf Vorschlag ihrer jeweiligen Regierung können das Parlament der DG und das Parlament der Wallonischen Region in gegenseitigem Einvernehmen und jedes durch Dekret beschließen, dass das Parlament und die Regierung der DG im deutschen Sprachgebiet Befugnisse der WR ganz oder teilweise ausüben. Diese Befugnisse werden je nach Fall im Wege von Dekreten, Erlassen oder Verordnungen ausgeübt.“ 43 Siehe die Resolution des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft vom 6. Mai 2002 an die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Bezug auf die Ausübung von regionalen Zuständigkeiten, deren Übertragung mit der Wallonischen Region verhandelt werden soll. 44 Hier einige Beispiele: Cathérine Ernens, « Les solidarités craquent de partout », Le Jour, 10.07.2002 Daniel Conraads, « 'Nein' Namurois aux Eupenois », , 10.07.2002 Gerd Zeimers, „Autonomiebestreben der DG gebremst - Ernüchterung bei Fraktionen - Zähneknirschen nach Abfuhr der Region“, Grenz-Echo, 11.07.2002 Guido Fonteyn, "Van Cau zendt Duitstalige Belgen wandelen", , 11.07.2002 45 Pierre Schöffers, « Mais que veulent donc les germanophones ? », Le Vif / L'Express, 11.10.2002 15/15

Organisation und Ausübung der Gemeindeaufsicht sowie die allgemeine Gemeindefinanzierung46 und gewisse Befugnisse in den Bereichen Kirchenfabriken und Friedhöfe übertragen.

Im Hinblick auf eine neue Staatsreform, in der die erhobenen Forderungen umgesetzt werden können, waren das Jahresende 2002 und der Jahresbeginn 2003 vorrangig von der Debatte geprägt, welche Verfassungsartikel vor den föderalen Neuwahlen zur Revision freigegeben werden sollen. Am 20. März 2003 legten der föderale Ministerrat und wenige Wochen später die beiden föderalen Kammern eine Liste mit 60 Verfassungsartikeln fest, die nach den Wahlen vom neu gewählten Gesetzgeber abgeändert werden könnten. Diese Liste wurde unter Berücksichtigung der weiter oben erwähnten Forderungen erstellt47.

Föderale Legislaturperiode 2003-2007

Der Urnengang auf föderaler Ebene hat die politische Landschaft Belgiens vor allem dahin gehend verändert, dass die beiden grünen Parteien (ECOLO und AGALEV) nicht mehr an der Regierung beteiligt sind. Die liberalen und sozialistischen Kräfte des frankofonen und flämischen Landesteils gehören der Mehrheit auch weiterhin an.

Aufgrund der Liste der zur Revision freigegebenen Artikel wäre eine sehr weitgehende Staatsreform möglich. Kurz vor den Gemeinschafts- und Regionalwahlen entbrennen erneut Diskussionen um eine solche Reform.

Im Sinne der fünf flämischen Resolutionen greifen der Vorsitzende des Flämischen Parlaments, Norbert De Batselier (SP.A), und Flanderns Ministerpräsident Bart Somers (Open VLD) im Mai 2004 erneut die flämischen Forderungen auf. Sie verfassen eine entsprechende Prioritätennote48.

Die frank. Politiker, die bis zu diesem Zeitpunkt jeglicher Diskussion über eine weitere Staatsreform eher ablehnend gegenüberstanden, schärfen ihre Klingen. Jean-Claude van Cauwenberghe und Charles Picqué lassen in einer gemeinsamen Erklärung vom 22. Mai 2004 wissen, dass die frankofonen Belgier auch Forderungen zu stellen verstehen, sollten die Flamen auf ihren Forderungen beharren. Sie strengen sogar laut Überlegungen über eine mögliche Partnerschaft Wallonie-Brüssel an49. schlägt auf dem PS-Parteikongress vom 14. Juli 2004 in die gleiche Kerbe. Wenn die Flamen glaubten, ohne die frankofonen Belgier auskommen zu müssen, dann würden letztere ihr Schicksal eben selbst in die Hand nehmen, so seine Botschaft. Selbst der gediegene ehemalige Vizepremierminister Louis Michel ruft alle frankofonen Belgier auf, sich zu vereinen50,51. Im September 2004 kommt es auf Vorschlag Elio Di Rupos zu Zusammentreffen der Vorsitzenden aller frankofonen Parteien. Ziel ist es, eine gemeinsame Position der Frankofonen herauszukristallisieren, um gestärkt in die institutionellen Debatten gehen zu können, die der Herbst 2004 verspricht52.

46 Die allgemeine Finanzierung umfasst den Gemeindefonds und die bezuschussten Arbeiten. 47 Siehe insbesondere die fünf flämischen Resolutionen von März 1999. 48 Grenz-Echo vom 29.05.2004, „Keine Republik Flandern - Prioritäten des Ministerpräsidenten und Parlamentspräsidenten für Gespräche der Staatsreform“ 49 Diese Art der Einmischung in die institutionellen Fragen seitens des perfekt zweisprachigen Charles Picqué stößt in der flämischen Presse auf Entrüstung. Siehe diesbezüglich u. a. das Interview, das Anja Otte, von der flämischen Tageszeitung De Standaard am 13.09.2004 mit Charles Picqué führte. 50 David Coppi, « Une nation, un Etat? Chronique d'une surenchère francophone », Le Soir, 04.09.2004 51 Paul Piret, « Une nation francophone? », La Libre Belgique, 10.09.2004 52 Francis Van de Woestyne, « Les francophones cherchent l'unité », La Libre Belgique, 11.09.2004 16/16

Belgien steht ganz offensichtlich vor einem Wendepunkt. Das machen die offensiven Aussagen der Politiker beider Landesteile klar. Der Bürger fragt sich, ob auch weiterhin der politische Wille besteht, am gemeinsamen Projekt Belgien zu arbeiten. Wird man auch diesmal den Nord-Süd- Spannungen standhalten können? Auch wenn der damalige Premierminister Guy Verhofstadt den institutionellen Fragen zu diesem Zeitpunkt keine absolute Priorität beimisst - für ihn steht zu Beginn der Sitzungsperiode 2004-2005 eher die Frage im Vordergrund, wie die Wirtschaft des Landes angekurbelt werden kann53 -, wird am 20. Oktober 2004 entsprechend dem Koalitionsabkommen von Juli 2003 ein Forum für institutionelle Fragen eingesetzt54. Diesem Forum gehören 18 hochrangige Politiker aller Gliedstaaten an55. Hier die ehrgeizigen Ziele dieses Forums56: - eine homogenere Befugnisverteilung zwischen Föderalstaat, Regionen und Gemeinschaften erwirken; - das Zweikammersystem reformieren, damit der Senat zum Begegnungsort der Gemeinschaften und Regionen wird; - das Verfahren der Verfassungsreform verbessern; - über die konstitutive Autonomie für Brüssel beraten; - die Föderal- und Regionalwahlen wieder gleichzeitig durchführen.

In die Tat umsetzen wird das Forum diese Ziele jedoch nicht. Die Tageszeitung prangert bei den Arbeiten des Forums sogar kafkaeske57 Verhältnisse an, da außer vorgegaukelter Überraschung und rhetorischen Spitzfindigkeiten keinerlei nennenswerte Resultate erreicht werden konnten58.

Daneben bleibt die Problematik der möglichen Spaltung des Gerichts- und Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) bestehen, die in der Presse gerne als Zeitbombe bezeichnet wird. Die Frage Brüssel-Halle-Vilvoorde wird ausdrücklich nicht im institutionellen Forum besprochen. Für diese brisante Frage wird eine eigene Ministerkonferenz einberufen, die erstmals am 17. Januar 2005 tagt. Auch diese Arbeitsgruppe kommt nur zaghaft voran und kann bis zum Ende der Legislaturperiode 2003-2007 keine Lösung des Problems herbeiführen.

Worum genau geht es bei der Problematik Brüssel-Halle-Vilvoorde?59

In Belgien werden die föderalen Abgeordneten und ein Teil der Senatoren von der Bevölkerung direkt gewählt. Für die Wahlen wurden Wahlkreise bzw. Wahlkollegien eingerichtet. Seit der Gesetzesänderung aus dem Jahre 200260 gilt folgende Regelung: - Für die Wahl der Abgeordnetenkammer gibt es 11 Wahlkreise. Die Wahlkreise entsprechen heute weitgehend den Provinzen. Da der Gesetzgeber in Bezug auf Flämisch-Brabant und die provinzfreie Zone Brüssel aber keine übereinstimmende

53 David Coppi, « Le brouillon de Guy Verhofstadt », Le Soir, 10.09.2004 54 Erklärung der Föderalregierung über ihre allgemeine Politik vom 12. Oktober 2004 - G. Verhofstadt vor der Abgeordnetenkammer - CRIV 51 (2004-2005) Nr. 085 55 Im Gegensatz zu den Vertretern der anderen Gliedstaaten hat der Ministerpräsident, der die Deutschsprachige Gemeinschaft in diesem Forum vertritt, allerdings nur eine beratende Funktion. 56 Paul Piret, « Forum institutionnel - Ne demandez pas le menu », La Libre Belgique, 18.10.2004 57 Im Sinne einer menschenfremden Bürokratie, die ein unheimliches Gefühl dunkler Ungewissheit vermittelt und nichts Konkretes bewirkt. 58 L. Vi., "Forum zorgt voor twee uur pure Kafka", De Morgen, 20.01.2005 59 VRT-Informationen, http://www.regie5.be/ 60 Gesetz vom 13. Dezember 2002 zur Abänderung verschiedener Wahlvorschriften 17/17

Lösung finden konnte, gilt dies allerdings nicht für die Wahlkreise Löwen und Brüssel- Halle-Vilvoorde. - Für die Wahl des Senats gibt es ein niederländisches und ein französisches Wahlkollegium sowie drei Wahlkreise. Der flämische Wahlkreis umfasst das Gebiet der Flämischen Region, mit Ausnahme des Verwaltungsbezirks Halle-Vilvoorde. Dem müssen die stimmberechtigten Einwohner des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde hinzugezählt werden, die ihre Stimme auf einer beim niederländischen Wahlkollegium eingereichten Liste abgeben. Der wallonische Wahlkreis umfasst das Gebiet der Wallonischen Region, zu dem die stimmberechtigten Einwohner des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde hinzugezählt werden, die ihre Stimme auf einer beim französischen Wahlkollegium eingereichten Liste abgeben.61

Einer Mehrheit der Flamen missfällt diese Regelung, die ihrer Meinung nach dazu führt, dass gewisse Brüssler Randgemeinden von Flämisch-Brabant einem immer größer werdenden französischsprachigen Einfluss unterliegen. Wie in Fußnote 8 bereits erwähnt, bevorzugen die Flamen das Territorialitätsprinzip und fordern in diesem Sinne die Anbindung der Wahlkantone von Halle und Vilvoorde an die des Bezirks Löwen. Demenstprechend fordern alle flämischen Parteien die sogenannte „splitsing“, um eine sprachliche Homogenität für die Wahlen in der Provinz Flämisch-Brabant zu schaffen.

Auf frankofoner Seite würde man die bestehende Regelung am liebsten aufrechterhalten, da sie ein Gegengewicht zu den 1962 eingeführten Sprachengrenzen darstellt, die nach Auffassung der Frankofonen ungerecht sind. Auch bedauern die frankofonen Belgier, dass es keinen territorialen Zusammenhang zwischen Brüssel und dem französischsprachigen Landesteil gibt. Dies ist ein Grund dafür, dass sie ihrerseits vorschlagen, die Region Brüssel auszudehnen.

Die unterschiedlichen Interessen stehen sich immer noch gegenüber, und dies auch nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahre 2003, das besagt, dass BHV eine wahlrechtliche Anomalie darstellt und das Problem vor den nächsten Föderalwahlen gelöst werden muss62.

Sollte der flämischen Forderung, die Wahlkantone von Halle und Vilvoorde an die des Bezirks Löwen anzubinden, stattgegeben werden, hätte dies laut Grenz-Echo-Redakteur Gerd Zeimers folgende konkrete Auswirkungen: „Für die Einwohner von Halle und Vilvoorde würde die Spaltung des Wahlbezirks zur Folge haben, dass sie bei Wahlen nicht mehr für frankofone Kandidatenlisten stimmen dürfen, sondern allenfalls noch für französischsprachige Kandidaten auf flämischen Listen. Durch die Spaltung des Gerichtsbezirks würde den frankofonen Bürgern das Recht entzogen, sich in französischer Sprache an die Brüssler Gerichte zu wenden.“ 63.

Unabhängig von den Arbeiten im institutionellen Forum und in der Ministerkonferenz zu BHV wird verstärkt der Eindruck erweckt, dass Flandern an einer eigenen Nation oder gar an einem eigenen

61 http://www.ibz.rrn.fgov.be/index.php?id=98&L=2 62 Urteil 73/2003 des Verfassungsgerichtshofs vom 26. Mai 2003 63 Gerd Zeimers, „Brüssel-Halle-Vilvoorde: Worum geht es?“, Grenz-Echo, 02.04.2005 18/18

Staat arbeitet. Um die Wahrnehmung Flanderns innerhalb und außerhalb Belgiens zu stärken, ziehen flämische Politiker überdies die Erstellung einer flämischen Verfassung in Erwägung64.

Eminente Politologen wie Jean Beaufauys munkeln, dass eine Spaltung Belgiens lediglich durch substanzielle Kompetenzübertragungen vermieden werden könne, durch die Belgien konföderal65 würde66,67.

Tatsächlich fühlen sich die flämischen Politiker oft von ihren frankofonen Kollegen ausgebremst. Sie geben den Wallonen beispielsweise die Schuld daran, dass im Krankenversicherungsbereich viel Geld fehlt68. Auch liegt ihnen schwer im Magen, dass bisher keine Lösung für die Problematik Brüssel-Halle-Vilvoorde gefunden werden konnte und diese am 11. Mai 2005 vorläufig „auf Eis gelegt“ wurde69. Die Situation scheint verfahren. Der Norden und der Süden unseres Landes schaffen es allem Anschein nach kaum noch, den so oft zelebrierten belgischen Kompromiss herbeizuführen.

Angesichts der scheinbaren Gelassenheit der Frankofonen, deren Hauptforderung, sprich: die Refinanzierung der Gemeinschaften, bereits in der vergangenen Staatsreform stattgegeben wurde, wächst die Frustration der Flamen weiter an. Dennoch zeigen sich viele Politiker bereit, dringlich nach einem Weg aus der Krise zu suchen, der beide Landesteile zufriedenstellen könnte.

Vincent de Coorebyter, Generaldirektor des CRISP (Centre de recherche et d'information socio- politiques), vermutet in einem Interview gegenüber der Tageszeitung La Libre Belgique, dass die Flamen vorerst bereit seien, auf die Spaltung des Wahlbezirks BHV zu verzichten, wenn sie im Gegenzug weitere Kompetenzen erhalten würden70.

Die zusätzlichen Kompetenzen, die ein Großteil der flämischen politischen Kreise fordert, sind in ihren groben Zügen bestens bekannt. Sie gehen auf die bereits mehrmals zitierten fünf Resolutionen von März 1999 zurück. Der damalige flämische Ministerpräsident Leterme führt die verschiedenen Bereiche, für die Flandern mehr Autonomie fordert, 2005 nochmals in einer sehr breit gefassten Note auf.

64 In einem entsprechenden CD&V-Vorschlag wird von Flandern als einer Nation gesprochen. In Antwort auf diese Initiative hinterlegen die französischsprachigen PS-Politiker José Happart und Jean- Claude van Cauwenberghe Ende April 2006 einen Verfassungsentwurf für die Wallonie. 65 Konföderalsimus = Staatsmodell, in dem unabhängige Staaten bestimmte Kompetenzen gemeinsam regeln und nach außen hin gemeinsam auftreten. 66 Francis Van de Woestyne, « Le confédéralisme n'est plus très loin », La Libre Belgique, 05.10.2004 67 Als weitere Beispiele kann man auf die Berichterstattung von David Coppi, Bénédicte Vaes und Dominique Berns von Le Soir hinweisen, die am 4. Mai 2005 mit den Balkenaufschriften « La Belgique ne tient plus qu'à un fil » und « De l'Etat fantôme au séparatisme » auf die verfahrene Situation Belgiens aufmerksam machen. 68 Isabel Albers, "SP.A en VLD in spreidstand over gezondheiszorg", De Standaard, 24.11.2004 69 Tatsächlich findet der mit der BHV-Frage beauftragte Kammerausschuss am 11. Mai 2005 keine Lösung in dieser Problematik. Der Premierminister kündigt an, dass er sich nun wichtigeren Themen widmen möchte. Das politische Belgien hält den Atem an. Wird das Problem BHV zum Stolperstein unseres föderalen Staatsgefüges? 70 Francis Van de Woestyne, « La frustration flamande grandit face à la sérénité francophone », La Libre Belgique, 26.04.2005 19/19

Demzufolge scheint für Übertragungen in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Verkehrssicherheit und Energiepolitik bereits Verhandlungsbereitschaft zu bestehen. Wie die Übertragungen im Einzelnen aussehen könnten, ist allerdings noch ungeklärt. An dieser Stelle kann noch einmal an die flämischen Forderungen erinnert werden, die erneut zur Sprache kommen71,72,73 : - eine Übertragung der gesamten Zuständigkeiten in Sachen Gesundheit, Familie, Telekommunikation, Wissenschaften und Technologie; - weitere Kompetenzen in der Wirtschafts-74 und Arbeitspolitik75; - eine größere Steuer- und Finanzautonomie; - die vollständige konstitutive Autonomie; - eine Übernahme der Eisenbahninfrastruktur und deren Nutzung; - eine Inangriffnahme des Problems der Geldtransfers zur Wallonie, indem die Solidarität gegenüber den anderen Gliedstaaten durchsichtiger und objektiver gestaltet wird; - eine Stärkung des flämischen Charakters der Brüssler Randgemeinden.

Auch die Lösung der BHV-Frage bleibt von großer politischer Bedeutung.

Das Drängen der Flamen auf eine weitere Staatsreform wird stärker. Und die Zeit läuft davon, denn es bleiben keine zwei Jahre mehr bis zu den nächsten Föderalwahlen. Wenn nicht schnell eine Reform eingeleitet wird, dann muss man erneut den Urnengang abwarten, ehe man dies tun kann. Die frankofonen Politiker können einer weiteren Staatsreform allerdings nur wenig Gutes abgewinnen und weisen oftmals darauf hin, dass sie keine „fragende Partei“ einer solchen Reform sind. Tatsächlich machen sie deutlich, dass sie erst 2007 zur Aufnahme neuer entsprechender Verhandlungen bereit sein werden. Der wallonische Ministerpräsident Van Cauwenberghe fordert den flämischen Ministerpräsidenten Leterme öffentlich auf, die Frankofonen von der Notwendigkeit einer weiteren Staatsreform zu überzeugen76. Trotz dieser eher ablehnenden Haltung zeigt sich der Parteipräsident der frankofonen Sozialisten, Elio Di Rupo, dialogbereit. Er kann sich mit der Idee anfreunden, noch vor den Föderalwahlen von Juni 2007 über eine erneute Reform der Institutionen zu verhandeln77.

Im ersten Trimester 2006 rücken die institutionellen Belange erst einmal wieder in den Hintergrund, bis man sich Ende März auf frankofoner Seite mit der Frage beschäftigt, ob die französischsprachigen Einrichtungen78 nicht zusammengelegt werden könnten. Die Gründe, die für eine solche Zusammenlegung sprechen, sind tatsächlich vielfältig, angesichts der Asymmetrie der Institutionen allerdings auch nur schwer umzusetzen. So kommt es zwar zu einer weiteren Annäherung der Institutionen, nicht aber zu einer Fusion ähnlich derjenigen, wie sie in Flandern

71 Bart Brinckman, "Het lijstje van Vlaanderen", De Morgen, 26.04.2005 72 Francis Van de Woestyne, « Des compétences en plus pour les entités fédérées », La Libre Belgique, 27.04.2005 73 Christian Laporte, « La Flandre hausse le ton », La Libre Belgique, 19.05.2005 74 Dies bezieht sich insbesondere auf die Preispolitik. 75 Konkret ist damit die Verhandlung kollektiver Arbeitsabkommen gemeint. 76 Bbd, "Staatshervorming pas in 2007", De Standaard, 12.07.2005 77 „Staatsreform überlegt fortsetzen“, Grenz-Echo, 12.07.2005 78 Man überlegt konkret, ob die Parlamente (bzw. die Regierungen) der Wallonischen Region, der Französischen Gemeinschaft und der französischsprachigen Einrichtung Brüssels nicht „fusionieren“ könnten, so wie dies in Flandern zwischen Flämischer Gemeinschaft und Region geschehen ist. 20/20 bereits seit 1970 besteht. Diese Annäherung der Institutionen wird überdies im Laufe des Jahres noch verstärkt79.

Anlässlich des flämischen Feiertages bekunden die flämischen Politiker um erneut mit Leidenschaft ihren Willen, Flanderns Stärken auf allen Ebenen so weit wie möglich auszubauen. Um dieses Ziel erreichen zu können, sucht Flandern in einer groß angelegten Benchmarking-Studie80 den Vergleich mit anderen blühenden Regionen Europas81.

Diese Entwicklung hätte im Hinblick auf den Fortbestand Belgiens nicht beunruhigend gewirkt, wäre nicht einen Monat später ein bedenkliches Interview mit Yves Leterme in der französischen Zeitung Libération erschienen, in dem der flämische Ministerpräsident zwar angibt, dem föderalen Belgien verbunden zu sein, das Auseinanderbrechen des belgischen Staates allerdings als nicht dramatisch erklärt82. Nicht nur die frankofonen politischen Kreise missbilligen diese verbale Entgleisung. Trotz einer immer stärker werdenden flämischen Gesinnung sprechen sich auch viele flämische Politiker gegen derartige Äußerungen aus83. Anschließende Streitereien um das Statut der Brüssler Region, die laut Leterme nicht mit den beiden großen Regionen zu vergleichen ist84, die jedoch der wallonische Ministerpräsident Di Rupo keinesfalls „fallen lassen“ will, gießen zusätzlich Öl ins Feuer85,86.

Die Bevölkerung verfolgt die politischen Dispute oftmals mit Unverständnis, was dazu führt, dass sie der Zukunft Belgiens mit Bangen entgegensieht. Viele Fragen zum Fortbestand des belgischen Staates beschäftigen die Bürger. Der französischsprachige öffentliche Rundfunk- und Fernsehsender RTBF hat dies erkannt und versucht, die Öffentlichkeit durch eine provozierende Doku-Fiktion, in der das Ende Belgiens dargestellt wird, zum Nachdenken zu bewegen87. Die fiktive, aber realistisch gefilmte Nachrichtensendung schlägt wie eine Bombe ein. Sowohl im Norden als auch im Süden des Landes reagieren Politik und Gesellschaft schockiert und betroffen. Die Flamen fühlen sich und ihre Forderungen vom französischsprachigen Fernsehsender karikiert.

In diesem Kontext scheint es tatsächlich unmöglich, das bestehende Staatsgefüge aufrechtzuerhalten. Immobilismus würde nur den Separatismus weiter fördern. Eine Staatsreform könnte - wie es Guy Verhofstadt im Januar 2007 gegenüber der Zeitung Le Soir sagte - den dritten möglichen Weg

79 Zum Jahresende wird sogar versucht, einen « front francophone » („französischsprachigen Wall“) einzurichten, der in der Lage sein soll, den flämischen Politikern die Stirn zu bieten. 80 Benchmarking ist eine Methode, bei der ständig nach besseren Praktiken gesucht wird, um sich positive Erfahrungswerte zunutze zu machen. Die Benchmarking-Methode nutzt folglich den Vergleich mit anderen, damit man sich selbst verbessern kann. Man könnte auch von einer Best-Practice-Methode sprechen. 81 Dies ruft Erinnerungen an das Ende November 2005 von eminenten flämis chen Wirtschaftswissenschaftlern vorgelegte „flämische Manifest“ wach, in dem die Vorzüge eines unabhängigen Flanderns - und folglich die Spaltung Belgiens - angepriesen werden. In Reaktion auf dieses Manifest bestätigt Flanderns Ministerpräsident Yves Leterme, dass die Autoren des flämischen Manifests ausdrücken, was viele Flamen denken. Vor diesem Hintergrund plädiert er zum wiederholten Male für die Aufnahme neuer Ve rhandlungen in Sachen Staatsreform. David Coppi, « Pour moi c'est un fait politique », Le Soir, 01.12.2005. 82 Jean Quatremer, « D'un Etat unitaire à un Etat fédéral », Libération, 18.08.2006 83 L. Vi., «Doet Yves Leterme België barsten? », De Morgen, 25.08.2006 84 Dirk Vanoverbeke, « Flandre et Bruxelles : quel flirt? », Le Soir, 15.09.2006 85 Hugues Danze, « Revoilà l'Etat francophone », Le Soir, 18.09.2006 86 De Standaard folgert am 19.09.2006 aus Di Rupos Aussagen, dass die Antwort auf die flämischen Forderungen eine «Front Wallonie-Brüssel» sei. 87 Die Sendung wurde am 13. Dezember 2006 ausgestrahlt. 21/21 ebnen, den unser Land gehen könnte88. Tatsächlich spielt hier die Dialogbereitschaft eine vorrangige Rolle.

Vor den Neuwahlen 2007 können jedenfalls keine institutionellen Reformen mehr durchgeführt werden, sodass die Verhandlungen über die zur Änderung freigegebenen Verfassungsartikel mit Spannung erwartet werden.

c. Die 2007 zur Revision freigegebenen Verfassungsartikel

Schon im Vorfeld der Verhandlungen verkündet das Kartell CD&V/N-VA, dass eine weitreichende Staatsreform die Grundvoraussetzung für die Bildung einer künftigen Föderalregierung ist. Vor allem die CDH-Präsidentin Joëlle Milquet reagiert auf solche Drohungen allergisch. Sie kontert, dass ihrer Meinung nach kein Grund für die Fortsetzung der Staatsreform bestehe und folglich auch so wenig Verfassungsartikel wie möglich für revidierbar erklärt werden sollten. Das raue Gesprächsklima trägt dazu bei, dass die Diskussionen über die zur Revision freigegebenen Verfassungsartikel entsprechend kontrovers ausfallen. Gerd Zeimers vom Grenz-Echo bezeichnet diese Diskussion als einen symbolischen Kampf im Vorfeld der Wahlen vom 10. Juni89.

Bei den Debatten um die Verfassungsartikel, die in die Erklärung zur Revision der Verfassung aufgenommen werden sollen, fallen folgende Fragen in die Waagschale: - Ist es wünschenswert, das Verfahren der Verfassungsrevisionen dahin gehend abzuändern, dass eine Verfassungsänderung ohne vorherige Wahlen erfolgen kann? - Muss die Reform des Zweikammersystems fortgesetzt werden, sodass der Senat vollends zu einer Art Kammer der Gemeinschaften und Regionen werden kann? - Soll es künftig einen föderalen Wahlkreis für die Föderalwahlen geben, wie es die „Pavia- Gruppe90“ vorschlägt?91 - Sollen die Föderal- und Regionalwahlen erneut zeitlich aneinander gekoppelt werden? - Sollen die Gemeinschaften aufgelöst werden, sodass der belgische Staat künftig nur noch drei (beziehungsweise vier) Regionen zählt?92,93 - Welche Politikbereiche sollen weitgehender regionalisiert werden: die Arbeits-, die Gesundheits- oder gar die Sozialpolitik?94

Während diese Fragen heftigst debattiert werden, sind sich die Bürger einig: Belgien muss bleiben! Dies geht aus einer von der flämischen Tageszeitung De Standaard und der französischsprachigen Zeitung Le Soir durchgeführten Umfrage hervor, laut der 93 % der Flamen und 98 % der Französischsprachigen der Ansicht sind, Belgien müsse weiterhin bestehen bleiben95.

88 David Coppi, Dirk Vanoverbeke, « La réforme de l'Etat: voilà ma troisième voie », Le Soir, 09.01.2007 89 Gerd Zeimers, „Noch keine Liste zur Verfassungsrevision“, Grenz-Echo, 24.03.2007 90 Die Pavia-Gruppe setzt sich zusammen aus Professoren und Akademikern verschiedener Universitäten der beiden Landesteile. Sie schlagen vor, dass 15 der 150 Kammerabgeordneten in einem föderalen Wahlkreis gewählt werden. http://www.paviagroup.be/ 91 Michelle Lamesch, « Et si les citoyens pouvaient élire des candidats 'belges' », Le Soir, 15.02.2007 92 Vorschlag der Herren Destatte und Brassine vom Institut Jules Destrée 93 Paul Piret, « La Belgique à 4 Régions. Point final. », La Libre Belgique, 07.03.2007 94 Siehe auch die fünf Resolutionen des flämischen Parlaments vom 3. März 1999 95 „ 'Belgien muss bleiben' sagen Belgier“, Grenz-Echo, 29.03.2007 22/22

Am 30. März 2007 macht das Grenz-Echo mit dem Titel auf, dass die Regierung die Liste von 2003 übernehme96. Diese Liste muss zwar mit der von Kammer und Senat verabschiedeten Liste übereinstimmen, um tatsächlich verbindlich zu sein, in der Praxis sind Abweichungen aber eher selten. Besagte Liste enthält 60 Verfassungsartikel, die zur Revision freigegeben werden. Sie ist derart breit gefasst, dass es, insofern der politische Wille nach den Wahlen besteht, möglich wird, den meisten Forderungen stattzugeben.

Am 2. Mai 2007 wird die Erklärung zur Revision der Verfassung offiziell im Belgischen Staatsblatt veröffentlicht.

d. Was ist seit den Föderalwahlen von Juni 2007 geschehen?

Belgien nach den Wahlen vom 10. Juni 2007 - die erste Krise um die Regierungsbildung

Die Karten wurden wieder neu gemischt. Nun beginnt die schwierige Phase der Regierungsbildung. Hier ein kurzer Abriss der vielen Schritte, die gegangen werden mussten, bevor es endlich zu einer Regierungsbildung kam: 13. Juni 2007: Didier Reynders von der MR-Fraktion erhält wird vom König zum Informator („informateur“) berufen. Er legt König Albert II. am 4. Juli 2007 seinen Bericht vor, dem er den Titel „Développer, rassembler, protéger“ (entwickeln, zusammenführen, schützen) gibt. 28. Juni 2007: Die neu zusammengesetzten föderalen Kammern tagen erstmals. Die 150 Sitze der Abgeordnetenkammer werden wie folgt verteilt: Ø Kartell CD&V/N-VA : 30 Sitze Ø MR : 23 Sitze Ø PS : 20 Sitze Ø Open VLD : 18 Sitze Ø Vlaams Belang : 17 Sitze Ø SP.A + Vl. Progressiven : 14 Sitze Ø Ecolo/groen : 12 Sitze Ø cdH : 10 Sitze Ø Lijst Dedecker : 5 Sitze Ø FN : 1 Sitz Die 71 Sitze des Senats werden wie folgt verteilt: Ø Kartell CD&V/N-VA : 14 Sitze Ø MR : 11 Sitze Ø Open VLD : 9 Sitze Ø PS : 8 Sitze Ø Vlaams Belang : 8 Sitze Ø SP.A + Vl. Progressiven : 7 Sitze Ø Ecolo/groen : 7 Sitze Ø cdH : 5 Sitze Ø Lijst Dedecker : 1 Sitze Ø FN : 1 Sitz

96 Gerd Zeimers/belga, „Verfassungsrevision: Regierung übernimmt die Liste von 2003“, Grenz-Echo, 30.03.2007 23/23

5. Juli 2007: Jean-Luc Dehaene (CD&V) wird vom König zum Vermittler bestimmt („négociateur“). Seine Aufgabe besteht darin, den Weg für den künftigen Regierungsbildner zu ebnen, dessen Arbeit sich als schwierig erweist. Dehaenes Auftrag nimmt allerdings schon wenige Tage später überraschend ein Ende. 14. Juli 2007 : Yves Leterme (CD&V) wird erstmals vom König zum Regierungsbildner („formateur“) benannt. In der Regel übernimmt der Regierungsbildner auch das künftige Amt des Premierministers. 22. Juli 2007 : Yves Leterme unterbreitet allen in Frage kommenden Parteien ein neun Kapitel und 86 Seiten umfassendes Arbeitspapier97. Dieses Arbeitspapier wird allerdings sehr kritisch aufgenommen, da es vor allem nach Ansicht der liberalen Politiker (zu) sehr auf die Forderungen der CD&V/N-VA zugeschnitten ist98. CdH und MR glauben sogar, 40 „Fallen“ in diesem Arbeitspapier zu entdecken, die den Weg für eine Spaltung Belgiens ebnen könnten. Die Flamen wehren sich allerdings gegen die Vermutung der Frankofonen, dass eine Mehrheit in Flandern ein Auseinanderbrechen Belgiens befürworte99. Sie können nur schwer nachvollziehen, dass die französischsprachigen Belgier derart große Ängste vor einem Auseinanderbrechen des belgischen Staates hegen. 23. August 2007: Nach langen, scheinbar ausweglosen Verhandlungen der orange-blauen Parteien, sieht Leterme seine Mission als Regierungsbildner als gescheitert an und bietet dem König seinen Rücktritt an. Der König willigt ein. 75 Tage nach den Wahlen befindet sich Belgien in einer ernst zu nehmenden politischen Krise. Wer ist schuld an diesem Debakel? Diese Frage ist natürlich nicht objektiv zu beantworten. Das Grenz-Echo wartet seinerseits mit dem Titel auf „Leterme scheitert an Milquet“100. Die kompromisslose Haltung der cdH-Präsidentin bezüglich einer weiterführenden Staatsreform soll für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen verantwortlich sein. In der flämischen Presse wird Frau Milquet darum auch gerne „Madame Non“ genannt. Noch gelten Letermes Chancen, Premierminister zu werden, allerdings nicht als gescheitert. Schließlich haben ihm am 10. Juni beinahe 800.000 Menschen ihre Stimme gegeben. In Belgien machen sich Wirtschaft und Gesellschaft allerdings langsam Sorgen darüber, wie es weitergehen soll. In der Presse wird darüber gefachsimpelt, wie ein Ausweg aus dieser verfahrenen Situation gefunden werden soll. Könnte ein Vermittler-Duo die Lösung bringen?101

97 Kapitel 1: Wirtschaft und Wohlfahrt (Festlegung des wirtschaftlichen und haushaltsmäßigen Rahmens) Kapitel 2: Arbeitspolitik (bessere Lohnbedingungen, Aktivierung der Arbeitsuchenden, regionale Ziehungsrechte auf Arbeitslosengelder) Kapitel 3: Soziale Sicherheit (höhere Ausgaben) Kapitel 4: Verbesserung der Beziehungen zwischen Arbeits- und Familienleben Kapitel 5: Energiemaßnahmen (Verlängerung der Lebensdauer der Atomkraftwerke und Liberalisierung des Energiemarkts) Kapitel 6: Verbesserung der Asyl- und Ausländergesetzgebung Kapitel 7: Reform und Verbesserung der Justiz und Sicherheit Kapitel 8: Umsetzung einer bedeutenden Staatsreform (die weitgehend über die Verabschiedung ordentlicher Gesetze erlangt werden soll) Kapitel 9: Führung einer offenen und gefestigten Außenpolitik 98 „Letermes Vorschlag verursacht liberales Säbelrasseln“, Grenz-Echo, 24.07.2007 99 « Face-à-face Nord-Sud à Val-Duchesse », Le Soir, De Standaard, 28.07.2007 100 Gerd Zeimers, Belga, „Leterme scheitert an Milquet“, Grenz-Echo, 24.08.2007 101 „Vermittler-Duo könnte Ausweg aus politischer Krise finden“, Grenz-Echo, 27.08.2007 24/24

29. August 2007: Kammerpräsident Herman van Rompuy (CD&V) und Senatspräsident Armand De Decker (MR) werden von Albert II. beauftragt, nach einer Lösung aus der Krise zu suchen und die Koalitionsverhandlungen wieder in Gang zu bringen („explorateurs“). Nachdem die Lösungsversuche der ersten Vermittler bzw. des Regierungsbildners heftigst in der Presse kommentiert und kritisiert wurden, nehmen Van Rompuy und De Decker ihre Vermittlerfunktion mit größter Diskretion und Vorsicht wahr. In der deutschen Presse wird in diesem Zusammenhang auch von einem „Minenräumauftrag“ gesprochen. 29. September 2007: Knapp sechs Wochen nach Aufnahme seines Sondierungsauftrags legt das Vermittler-Duo dem Staatsoberhaupt seinen Bericht vor. Die Vermittler vertreten die Auffassung, dass die Streitthemen um die bevorstehende Staatsreform erst am Ende der Koalitionsverhandlungen erörtert werden sollten. Erst solle man sich inhaltlichen Themen wie der Ausländer-, Außen- oder Finanzpolitik widmen. Der König sieht in diesem Ansatz einen Weg aus der Krise und beauftragt Yves Leterme erneut mit der Regierungsbildung102,103. Anfang Oktober 2007 werden erneut Koalitionsgespräche mit den orange-blauen Parteispitzen aufgenommen. Schon am 8. Oktober können die Koalitionspartner sich auf Teilabkommen einigen104. 26. September 2007: Praktisch zeitgleich nimmt der Innenausschuss der Abgeordnetenkammer seine Beratungen über die gemeinsamen Gesetzesvorschläge aller flämischen Parteien über die Spaltung des Gerichts- und Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde wieder auf. Die symbolische Bedeutung dieser Streitfrage ist mittlerweile bestens bekannt. Die Kammerdebatte birgt Zündstoff in sich. Die Flamen stehen geeint hinter dem Vorhaben, den Wahl- und Gerichtsbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde zu spalten. Als die Flamen am 7. November im Alleingang über diese Gesetzesvorschläge abstimmen, verlassen die französischsprachigen Abgeordneten den Sitzungssaal. Dieses Manöver bringt die potenzielle Koalition stark ins Wanken. Dass sie es dennoch schafft, sich wieder den inhaltlichen Themen der Regierungsverhandlungen zuzuwenden, ist erstaunlich und auch bewundernswert105. 8. November 2007: Der König bestätigt Yves Leterme in seiner Rolle als Regierungsbildner. Er drängt allerdings auf einen schnellen Abschluss der Verhandlungen. 21. November 2007: Die gemeinschaftspolitischen Verhandlungen werden schlussendlich von den Gesprächen zur Bildung einer neuen Regierung getrennt.106 Außerdem wird die Einsetzung eines paritätisch zusammengesetzten Rates der Weisen, eines sogenannten Konvents, vorgesehen. Die Aufgabe dieser Gruppe besteht darin, die fehlenden Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit in der potenziellen Opposition zu suchen. Angesichts der Schwere der Krise zeigt nun selbst die PS Bereitschaft, die Zweidrittelmehrheit, die für eine Staatsreform notwendig wäre, zu unterstützen. Das Finden der Zweidrittelmehrheit und die Vorbereitung der Staatsreform sind Aufgabe des Rates der Weisen. Ende 2007: Die Presseberichte zur politischen Krise häufen sich. Im Norden wie im Süden des Landes wird wieder nach Auswegen aus der Krise geforscht. Es werden Szenarien entworfen, wie es wohl weitergehen könnte, wenn Belgien auseinanderbrechen

102 „Leterme soll es noch einmal versuchen“, Grenz-Echo, 01.10.2007 103 Bart Brinckman, "Je leeft slechts twee keer", De Standaard, 01.10.2007 104 Wim Winkelmans, "Eerste akkord binnen handbereik", De Standaard, 08.10.2007 105 Bart Brinckman, "Oranje-blauw slikt en vervolgt zijn weg", De Standaard, 08.11.2007 106 Gerd Zeimers, Belga, „Staatsreform-Debatte erst nach der Regierungsbildung“, Grenz-Echo, 22.11.2007 25/25

würde. Das Grenz-Echo lässt in der Serie „Belgien in der Krise“ eminente Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu Wort kommen, damit sie ihre Sichtweise in Bezug auf die politische Krise und die belgische Zukunft darlegen können.107 1. Dezember 2007: Nachdem wenige Tage zuvor ein Kompromiss noch in greifbarer Nähe lag, dann jedoch trotzdem scheitert, wirft Leterme am 1. Dezember zum zweiten Mal das Handtuch. Das Grenz-Echo fragt, welches Kaninchen der König wohl nun aus seinem Hut zaubern werde108. 3. Dezember 2007: Der scheidende Premierminister Guy Verhofstadt, der sich bisher sehr zurückgehalten hat, soll nun Lösungen finden. Der König beauftragt ihn in Erwartung einer definitiven Lösung mit der Bildung einer Übergangsregierung. 4. Dezember 2007: Das lange Suchen nach einem gemeinsamen französischsprachigen Projekt hat ein Ende, als am 4. Dezember die „Gruppe Wallonie-Brüssel“ eingesetzt wird. Hierbei handelt es sich um eine Arbeitsgruppe, die Überlegungen in Bezug auf die Zukunft der frankofonen Institutionen Belgiens anstrengt. Diese Zukunft soll im Rahmen eines ausgewogenen und solidarischen Föderalstaates gestaltet werden, der eine starke Französische Gemeinschaft und zwei Regionen - die Wallonische und die Brüssler Region - umfasst, die jeweils über eigene Zuständigkeiten verfügen109. Die französischsprachigen Belgier hoffen, durch die Arbeit in dieser Gruppe geeint auftreten zu können. 21. Dezember 2007: Es ist endlich so weit: Die von Guy Verhofstadt gebildete Übergangsregierung wird vereidigt. Zwei Tage später spricht die Abgeordnetenkammer der Interimsregierung ihr Vertrauen aus. Die Aufgabe der Übergangsregierung besteht darin, die dringendsten Angelegenheiten, wie z. B. die Haushaltsfragen, zu regeln und die Staatsreform vorzubereiten. Konkret bedeutet dies, dass die Übergangsregierung erwirken soll, dass bis zum 23. März 2008 ein umfassendes Abkommen über die weitere Staatsreform in Belgien zustande kommt. Die N-VA (Kartellpartner der CD&V) beteiligt sich nicht an der Mehrheit, enthält sich aber beim Vertrauensvotum in der Kammer der Stimme. 27. Dezember 2007: Alle im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft vertretenen Parteien haben in einer Note einen gemeinsamen Forderungskatalog hinterlegt. 7. Januar 2008: Premierminister Verhofstadt legt dem König einen Bericht mit seinen Vorschlägen zur Fortsetzung der Staatsreform vor. In diesem Bericht plädiert er für eine weiterführende Staatsreform, die zum einen den Föderalstaat stärkt110 und zum anderen den Gliedstaaten (Gemeinschaften und Regionen) mehr Befugnisse erteilt111. Dieser Verhofstadt-Bericht scheint die flämischen Politiker zufrieden zu stimmen. Die Meinung ihrer französischsprachigen Kollegen fällt derweil nuancierter aus. 15. Januar 2008: Dies ist der offizielle Beginn der Verhandlungen des Rates der Weisen über eine neue Staatsreform. Da sich diese Arbeitsgruppe aus Vertretern der flämischen und frankofonen Christdemokraten, der Liberalen, Sozialisten und Grünen

107 Bsp. Gerd Zeimers, „Krise darf nicht mehr lange dauern“, Grenz-Echo, 27.09.2007 108 „Welches Kaninchen zaubert der König aus dem Zylinder?“, Grenz-Echo, 03.12.2007 109 http://www.groupewalloniebruxelles.be/ 110 Die Entwicklungszusammenarbeit soll an den Föderalstaat rückübertragen werden. 111 Befugnisse wie die Beschäftigungs- und Verkehrspolitik sollen größtenteils an die Regionen übertragen werden. 26/26

zusammensetzt, also aus acht Parteien, wird sie fortan auch „Oktopus-Gruppe“ genannt. Obschon die Arbeiten in diesem Gremium gut vorankommen, glauben viele nicht an deren Abschluss bis Ostern. Vizepremierminister Didiers Reynders (MR) bezweifelt sogar in einem Interview, dass eine Staatsreform noch vor den Regionalwahlen im Jahre 2009 umgesetzt werden könne. 25. Februar 2008: Die Oktopus-Gruppe hat sich nach äußerst schwierigen und langwierigen Beratungen darauf geeinigt, die Staatsreform in zwei Phasen zu splitten112. Die erste Phase der Staatsreform soll eher den Föderalstaat und weniger die Teilstaaten betreffen. Eine zweite und gewichtigere Reformphase soll mehrere Kompetenzübertragungen des Föderalstaates an die Regionen beinhalten, so z. B. in den Bereichen Arbeits- und Gesundheitspolitik. Die Reaktionen auf diese Vereinbarung sind unterschiedlich. Die politisch Verantwortlichen im frankofonen Landesteil reagieren generell recht positiv auf den Vorschlag, allerdings unter der Bedingung, dass bei den anstehenden Verhandlungen über die weitere Staatsreform und die Übertragung weiterer Kompetenzen an die Regionen nicht die Solidarität geopfert wird. In Brüssel reagieren die verantwortlichen Politiker enttäuscht, da sie sich mehr Finanzmittel für ihre Region erhofft hätten. Die N-VA (Kartellpartner der CD&V) reagiert enttäuscht auf die Vereinbarungen. Sie erklärt öffentlich, unter diesen Umständen auch keiner definitiven Regierung beitreten zu wollen, da ihrer Meinung nach zurzeit keine ausreichenden Garantien für eine weitreichende Staatsreform gegeben seien. Nichtsdestotrotz kündigt sie an, der Leterme-Regierung ihr Vertrauen auszusprechen, falls sie Garantien gibt, eine umfassende Staatsreform durchzuführen. 5. März 2008: Die Arbeiten der Oktopus-Gruppe münden in zwei Sondergesetzesvorschläge und einen Gesetzesvorschlag zur Umsetzung der ersten Phase der Staatsreform, die im Senat hinterlegt werden113. Diese Vorschläge enthalten unter anderem relativ begrenzte Befugnisübertragungen in den Bereichen Familienpolitik114, Sozial- und Solidarwirtschaft115, Verkehrssicherheit116, Telekommunikation, Preis- und Einkommenspolitik117, Enteignung im öffentlichen Interesse118, Energiepolitik und Brandschutznormen. Außerdem wird festgehalten, dass der Föderalstaat leichter eingreifen kann, wenn die Gemeinschaften und Regionen ihren internationalen Verpflichtungen nicht nachkommen. Darüber hinaus werden Bestimmungen bezüglich der Finanzierung der Region Brüssel-Hauptstadt vorgesehen119,120.

Der zweite Teil der Staatsreform soll tief greifendere Befugnisübertragungen vorsehen. Konkret bedeutet dies, dass er vor allem die Übertragung folgender

112 Gerd Zeimers, „Weißer Rauch, aber das Schwierigste steht noch bevor.“, Grenz-Echo, 26.02.2008 113 Senatsdokumente 602 (2007-2008) Nr. 1; 603 (2007-2008) Nr. 1; 604 (2007-2008) Nr. 1 114 Vor allem geht es um die Übertragung von Finanzmitteln des Fonds für die Kleinkindbetreuung. 115 Die Regionalisierung der Materie ist vorgesehen, indem dieser Bereich dem Wirtschaftsbereich zugeordnet wird. 116 Die Gemeinschaften sollen für die Verkehrssicherheitsausbildung zuständig werden. 117 Eine partielle Übertragung an Gemeinschaften und Regionen ist vorgesehen. 118 Die Regionen sollen für die gerichtliche Ve rhandlungsprozedur zuständig werden. 119 Die Region Brüssel-Hauptstadt ist etwas enttäuscht von diesen Regeln, die ihres Erachtens zu mager ausfallen. 120 Am 30. April 2008 erreichen den Senat die Gutachten des Staatsrates zu den (Sonder)Gesetzesvorschlägen zur Umsetzung der ersten Phase der Staatsreform. In diesen Gutachten äußert der Staatsrat fundamentale juristische Bedenken, die die Beratungen über diese Texte erst einmal ins Stocken bringen. 27/27

Bereiche regeln soll: Arbeitsmarktpolitik, Gesundheits-, Beamten- und Familienpolitik.

Viele bedauern, dass die Verhandlungen über die Regierungsbildung so lange andauern. Einige sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer schwerwiegenden Dysfunktion der belgischen Demokratie121.

Belgien hat eine definitive Regierung!

Die zermürbende Regierungsbildung nimmt am 20. März 2008, also mehr als neun Monate nach den Wahlen, mit der Vereidigung der ersten Leterme-Regierung endlich ein Ende. Die Koalition setzt sich aus fünf Parteien zusammen: Ø den flämischen Christdemokraten (CD&V), Ø den frankofonen Christdemokraten (cdH), Ø den flämischen Liberalen (Open VLD), Ø den frankofonen Liberalen (MR) und Ø den frankofonen Sozialisten (PS).

Wichtige Aufgaben warten auf die neue Regierung: - Allem voran gilt es, institutionelle Arbeit zu leisten. Das heißt konkret, dass die zweite und bedeutendere Phase der Staatsreform in die Wege geleitet und eine Lösung in der Problematik BHV gefunden werden muss. Die zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass der Premierminister diese zweite Phase der Staatsreform noch vor dem 15. Juli 2008 einleiten will. - Inhaltlich muss sich die Regierung ebenfalls mit wichtigen Themen auseinandersetzen. Die sinkende Kaufkraft, die schwierigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, dasstagnierende belgische Wirtschaftswachstum, die Teuerung der Energiepreise und die Immigrationsproblematik stellen für die neue Koalition große Herausforderungen dar.

Die monatelangen Streitigkeiten haben allerdings das Vertrauen der Bürger schwer angegriffen und so werden schnell Befürchtungen laut, die Leterme-Regierung sei den allzu schweren Aufgaben nicht gewachsen und zum Scheitern verurteilt122. Selbst der liberale Vizepremier Reynders zweifelt daran, dass die zweite und umfassendere Phase der Staatsreform schon am 15. Juli 2008 auf den Weg gebracht werden kann. Solche Aussagen verunsichern die Bevölkerung noch mehr und stoßen den Koalitionspartnern bitter auf.

Auch entsteht der Eindruck, als seien weder Flamen noch Frankofone bereit, auch nur ein kleines Stück von ihren im Wahlkampf erklärten Zielen abzurücken. Flandern besteht mehr denn je auf der Spaltung des Wahl- und Gerichtsbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde, auf substanziellen Befugnisübertragungen in Bereichen wie Arbeits-, Gesundheits- und Sozialpolitik und auf einem Ausbau der Steuer- und Finanzautonomie. Die Frankofonen beharren darauf, dass eine Spaltung von BHV nur mit einer Ausdehnung der Brüssler Region einhergehen kann und Befugnisübertragungen, die die Solidarität in Frage stellen, nicht verhandelbar sind.

Der Kammerausschuss für innere Angelegenheiten hat seine Beratungen über BHV mittlerweile wieder aufgenommen. Vor allem die N-VA drängt darauf, dieses Dossiers noch im Mai durch einen

121 Pierre Defraigne, « Trois réformes contre une crise », La Libre Belgique, 01.08.2007 122 Siehe eine von drei flämischen Tageszeitungen organisierte Umfrage bei rund 600 Flamen und 400 Wallonen 28/28

Kammerbeschluss abzuschließen. Die französischsprachigen Parteivorsitzenden halten dies nicht für eine gute Lösung. Sie setzen sich dafür ein, das Dossier auf dem Verhandlungsweg im Rahmen der zweiten Phase der Staatsreform abzuhandeln. Der Premierminister kann diesem Vorschlag zwar etwas abgewinnen, bemerkt aber, dass es Aufgabe der Kammer sei zu entscheiden, ob sie in Sachen BHV einen Beschluss fassen wolle. Als Politiker des rechtsgerichteten flämischen Vlaams Belang erneut eine Beratung und Abstimmung über „Brüssel–Frage“ beantragen, fordert eine frankofone Mehrheit, den Staatsrat zu den neuen Texten zu befragen. Darüber hinaus wird die Prozedur des Interessenkonflikts eingeleitet, die eine aufschiebende Wirkung der Beratungen zur Folge hat.

Wieder folgen schwierige Diskussionen bezüglich der zweiten Phase der Staatsreform. Offensichtlich driften die Erwartungen der Flamen und Frankofonen auch weiterhin stark auseinander. Die Parteivorsitzende der CD&V (Frau Thyssen) reagiert entnervt auf das schleppende Vorankommen der Verhandlungen und droht damit, dem frankofonen Landesteil die Solidarität aufzukündigen, falls die Verhandlungen zur Staatsreform scheitern sollten. Die Frankofonen reagieren empört auf diese Aussagen, die sie als Provokation ansehen. Beschwichtigend erwidert der Premierminister, die verschiedenen Landesteile sollten die Interessen des Landes vor Augen haben und besonnen und verantwortungsbewusst an die Arbeiten herangehen. In diesem Sinne setzt er zwei Arbeitsgruppen ein, wobei die erste Fragen zur Staatsreform und die zweite die Problematik Brüssel-Halle- Vilvoorde behandeln soll. Noch immer verfolgt er das Ziel, bis zum 15. Juli eine Einigung über die zweite Phase der Staatsreform zu finden. Die Arbeiten in den beiden Arbeitsgruppen verlaufen allem Anschein nach in einem positiven Klima. Allerdings wächst auch der Druck, bis zum Stichtag (15. Juli) eine Einigung zu finden. Am flämischen Feiertag (11. Juli) erklärt Flanderns Ministerpräsident Kris Peeters zum wiederholten Mal, dass Flandern dem Föderalstaat die versprochenen Finanzmittel nur zukommen lassen werde, falls es zu einer weitreichenden Staatsreform komme. Die krampfhafte Suche nach einem Gemeinschaftskompromiss wird fortgesetzt. Eine Lösung in der Streitfrage Brüssel-Halle-Vilvoorde erweist sich erneut als nahezu unmöglich.

Am 15. Juli muss der Premierminister ernüchtert eingestehen, dass keine ausreichenden Einigungen gefunden werden konnten123. Er schlägt dem König zum dritten Mal seinen Rücktritt vor. Politiker beider Landesteile reagieren enttäuscht und mit großem Bedauern. Wieder steckt Belgien in einer ernst zu nehmenden politischen Krise. Die Frage wird laut, ob Neuwahlen dazu beitragen könnten, die politische Stabilität in Belgien wiederherzustellen. Allerdings scheint diese Möglichkeit in der Praxis nicht den gewünschten Erfolg versprechen zu können. Darüber hinaus müssten aus juristischer Sicht erneut die Verfassungsartikel festgelegt werden, die die neue Mehrheit nach den Neuwahlen abändern könnte. Angesichts der verfahrenen Situation und der Auseinandersetzungen der vergangenen Monate scheint dies nicht ohne Weiteres vonstattengehen zu können.

Nach ausgiebigen Gesprächen beschließt das Staatsoberhaupt, das Rücktrittsgesuch Yves Letermes abzulehnen. Gleichzeitig teilt König Albert II. mit, er werde ein Vermittler-Trio einsetzen, das Wege aus der Krise aufzeigen solle. Neben dem liberalen Politiker François-Xavier De Donnéa und dem Christdemokraten Raymond Langendries wird auch der sozialistische Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft, Karl-Heinz Lambertz, zum königlichen Vermittler benannt.

Auftrag der drei königlichen Vermittler

123 Lediglich über den sozialwirtschaftlichen Teil des Abkommens konnten sich die Koalitionspartner (in Zusammenarbeit mit den grünen Parteien des Landes) einigen. Geplant sind Steuersenkungen, eine Anhebung der Mindestpensionssätze und der Schulprämie. 29/29

Der Hauptauftrag der drei Vermittler besteht darin, bis Ende Juli Wege aufzuzeigen, die aus der institutionellen Krise herausführen können. Da heißt konkret, dass sie vorschlagen sollen, wie der zwischengemeinschaftliche Dialog am besten strukturiert werden könnte, um die geplante Staatsreform auf ausgewogene Weise umzusetzen. Während die französischsprachigen Parteien diese königliche Entscheidung begrüßen, wird sie von den flämischen Parteien recht kritisch betrachtet. Auch gehen die Vorstellungen der Flamen und Frankofonen über die weiteren Verhandlungen über eine Staatsreform auseinander. Die Flamen erwarten, dass die Verhandlungen zwischen den zwei großen Gemeinschaften stattfinden, während die Frankofonen darauf bestehen, auch die Brüssler Region aktiv in die Gespräche einzubeziehen.

In den Bericht der drei Vermittler, die ihre Gespräche mit den verschiedenen politischen Entscheidungsträgern äußerst diskret führen, werden hohe Erwartungen gesetzt.

Wie geplant legen die Vermittler dem König am 31. Juli 2008 ihren Bericht vor. Der König beschließt, den Auftrag der drei Vermittler zwecks weiterführender Anhörungen und Diskussionen bis zum 19. September zu verlängern. Es wird erwartet, dass die Vermittler bis zu diesem Datum Garantien für eine weiterführende Staatsreform präsentieren.

Kurz vor dem Stichtag der Hinterlegung des Vermittlerberichts meldet sich der flämische Ministerpräsident Peeters Ende August mit dem Vorschlag zurück, selbst die Verantwortung in den Diskussionen zwischen den Teilstaaten übernehmen zu wollen. Flamen und Wallonen sollen seiner Meinung nach sogenannte Unterhändler zu einem konstruktiven Dialog entsenden. Er erstellt eine entsprechende Note zwecks Wiederaufnahme des zwischengemeinschaftlichen Dialogs.

Zwei Wochen später bezeichnet die Flämische Regierung sechs Minister, die dem von Peeters vorgeschlagenen Forum angehören sollen. Es handelt sich dabei um den Ministerpräsidenten Kris Peeters (CD&V), die Vizeministerpräsidenten Dirk Van Mechelen (Open VLD) und Frank Vandenbroucke (SP.A) sowie um Bert Anciaux (spirit), Geert Bourgeois (N-VA) und den Brüssler Minister Guy Vanhengel (Open VLD). Letzten Informationen zufolge124 wollen auch die frankofonen sechs Teilnehmer entsenden, deren Namen allerdings noch nicht definitiv bekannt sind. Von flämischer Seite forderte man die Frankofonen auf, keine Zweitliga in den Ring zu schicken, sondern Regierungsvertreter. Die Frankofonen hätten der Entsendung von Parteivorsitzenden in dieses Forum den Vorzug gegeben.

Ein weiterer Stolperstein für das Gelingen der Verhandlungen scheint die Tatsache zu sein, dass der flämische Minister für lokale Behörden die Ernennung der drei französischsprachigen Bürgermeister von drei flämischen Brüssler Randgemeinden immer noch nicht vorgenommen hat.

Am 19. September legen die drei Vermittler dem König ihren kurz und nüchtern gehaltenen Bericht vor. In diesem Bericht kristallisieren sie verschiedene Punkte heraus, in denen ihrer Meinung nach ein Konsens zwischen Flamen und Frankofonen möglich ist.

Nach Ansicht der Vermittler können die sechs frankofonen und sechs flämischen Vertreter ernsthafte und glaubwürdige Verhandlungen aufnehmen, die zu einer gründlichen und ausgewogenen Reform

124 Achtung: Der Stand des Referats ist der 21. September 2008. 30/30 des belgischen Staates führen. Das heißt, die Gliedstaaten sollen mehr Autonomie, mehr Befugnisse und mehr Verantwortung erhalten. Die Solidarität zwischen den Personen müsse allerdings aufrechterhalten bleiben, hält der Vermittlerbericht fest.

Laut Bericht des Vermittler-Trios sei die Grundvoraussetzung für den Erfolg der Verhandlungen, dass die Delegierten beider Landesteile offen, d. h. ohne Tabus und unvoreingenommen, über die Zukunft des belgischen Staatsgefüges nachdenken. Die Verhandlungsführer sollen selbst über die Arbeitsmethode, die Agenda, die Themen und den Arbeitsrhythmus der Verhandlungen bestimmen.

Die drei Vermittler gehen davon aus, dass noch vor den Regionalwahlen von Juni 2009 Teilabkommen abgeschlossen und von den zuständigen parlamentarischen Versammlungen verabschiedet werden können.

Die Streitfrage Brüssel-Halle-Vilvoorde soll nach Auffassung der Vermittler in den zwischengemeinschaftlichen Verhandlungen nicht auf der Tagesordnung stehen. Dieses Dossier enthält derart viel Sprengstoff, dass die Lösung dieses Problem eher in einem unabhängigen Verhandlungsrahmen gesucht werden soll, da diese Verhandlung ansonsten die gesamten Beratungen lähmen könnten. Klar ist allerdings, dass eine Lösung in dieser Angelegenheit unabdingbar ist, damit erfolgreich über die institutionellen Reformen verhandelt werden kann.

Der Bericht der drei Vermittler wird von weiten Teilen der Parteien positiv aufgenommen. Erwartungsgemäß geht er jedoch der flämischen N-VA, die einer Spaltung Belgiens nicht abgeneigt ist, nicht weit genug. Die flämischen Nationalisten gehen sogar so weit, sich nicht am Dialog der Gemeinschaften beteiligen zu wollen. Diese Entscheidung wird am 21. September 2008 auf ihrem Parteikongress in Gent mit überwältigender Mehrheit unterstützt. Die N-VA erklärt, sie wolle die Föderalregierung fortan nicht mehr unterstützen. Darüber hinaus teil sie mit, sie werde auch aus der flämischen Regierung aussteigen, falls der Dialog zwischen den Gemeinschaften so aufgenommen werde, wie es im Vermittlerbericht angeregt werde, denn die vorgeschlagene Vorgehensweise biete ihrer Auffassung nach keine ausreichenden Garantien für eine Staatsreform.

Dies stellt den Kartellpartner der N-VA, die CD&V, vor ein schwerwiegendes Problem. Die Regierungspartei des Premierministers hat zwar schon des Öfteren erklärt, sie wolle sich von der N- VA nicht zur Geisel nehmen lassen, allerdings ist sie sich der Tatsache bewusst, dass die Koalition ohne die Unterstützung der N-VA Gefahr läuft, in der flämischen Sprachgruppe der föderalen Kammern nicht mehr über eine Zweidrittelmehrheit zu verfügen. Außerdem weiß sie, dass sie bei den anstehenden Gemeinschafts- und Regionalwahlen wahrscheinlich die Stimmen des Kartellpartners brauchen wird, um erneut einen Sieg erringen zu können.

Didier Reynders (MR) schürt seinerseits das Feuer im südlichen Landesteil, indem er, entgegen dem Ratschlag der Vermittler, parallele Verhandlungen über BHV fordert.

Die frankofonen Politiker scheinen aber bereit, Wasser in ihren Wein zu gießen, denn sie erklären sich einverstanden, über das Problem Brüssel-Halle-Vilvoorde im Parlamentsausschuss und nicht in einem Verhandlungsgremium zu beraten. 31/31

4. Zukunftsaussichten125

Über den Ausgang der institutionellen Krise kann nur spekuliert werden. Es stellt sich die Frage, ob sich die flämischen Vertreter trotz der Drohung der N-VA, sich aus der flämischen Regierung zurückzuziehen, mit an den Verhandlungstisch setzen werden126.

Werden Belgiens Entscheidungsträger es schaffen, sich über Parteiinteressen hinwegzusetzen, um die Interessen unseres Staates mit Herzblut zu vertreten?

Doch selbst wenn es zu Verhandlungen kommen sollte, stellt sich die legitime Frage, was beiden Landesteilen noch an Gemeinsamkeiten bleibt, die einen Zusammenhalt tatsächlich rechtfertigen können. Der Graben zwischen Flamen und Wallonen scheint unaufhaltsam und kontinuierlich größer zu werden. Ist eine Konföderation möglicherweise die Lösung?

Um den Fortbestand Belgiens zu sichern, darf es jedenfalls keinen Status quo der Institutionen geben. Es scheint heute mehr denn je unvermeidbar, dass die Gemeinschaften und Regionen des Landes zu echten Teilstaaten werden, die mit einer sehr weitreichenden Autonomie ausgestattet sind.

Es erweist sich jedenfalls als immer schwieriger, sich der Herausforderung zu stellen, ein verbessertes Staatsmodell zu finden, mit dem sich alle föderalen Partner identifizieren können. Dies erscheint umso problematischer, als alle Körperschaften dort abgeholt werden müssen, wo sie stehen; vor allem, da die verschiedenen Landesteile mitunter grundverschiedene Vorstellungen davon haben, wohin sie wollen.

Man kann nur hoffen, dass der fortschreitende Föderalisierungsprozess die Effizienz und die Transparenz der Politik steigern und eine größere Partizipation ermöglichen kann. Denn nur so kann der Föderalisierungsprozess auch mit einem Demokratisierungsprozess einhergehen, der für die Bevölkerung wichtig wäre127.

Natürlich möchte die große Mehrheit der Belgier immer noch daran glauben, dass eine Lösung gefunden wird. Sollte es jedoch nicht zu Verhandlungen kommen, kann der Eindruck entstehen, als seien alle Möglichkeiten, das Land zu retten, ausgeschöpft. Ohne im Rahmen dieses Referats Unkenrufen folgen zu wollen, scheint es an dieser Stelle angebracht, kurz die möglichen Szenarien darzulegen, wie es nach einem Auseinanderbrechen Belgiens weitergehen könnte:

Ø Ein Landesteil (z. B. Flandern) fordert - mit oder ohne Konzertierung - seine Unabhängigkeit. (Diese müsste allerdings von den anderen Staaten und vor allem von den Mitgliedstaaten der EU anerkannt werden.) Der restliche Teil Belgiens bliebe bestehen, wenn auch amputiert.

125 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass vorliegender Text dem Referat entspricht, das am 22. September 2008 im Rahmen des Aktualitätsunterrichts des VHS-Bildungskurses gehalten wurde. Nichtsdestotrotz möchte ich darauf hinweisen, dass der Dialog über die Zukunft des belgischen Staates am 8. Oktober 2008 wieder aufgenommen wurde. 126 Achtung: Der Stand des Referats ist der 21. September 2008. 127 Siehe auch die Thesen des deutschen Politwissenschaftlers Winfried Steffani 32/32

Ø Das Land beschließt seine Auflösung und die einzelnen Gebiete legen fest, o ob sie unabhängig sein wollen o oder ob sie Verhandlungen über die Angliederung an einen anderen Staat (beispielsweise Frankreich, Deutschland, Niederlande oder Luxemburg) aufnehmen wollen o oder - was Brüssel angeht - eine europäische Aufsicht ins Auge fassen sollen.

33/33

5. Schlusswort

Auch wenn vom 1831 eingesetzten Modell eines dezentralisierten Einheitsstaates mit einer für ihre Zeit sehr fortschrittlichen Verfassung eigentlich nur wenig übrig geblieben ist und die Zukunft Belgiens heute ungewisser ist denn je, so sollte dies keine Panik verursachen.

Vielmehr kann man die anstehenden Innovationen aus dem Blickwinkel des französischen Kaisers Lothar I. sehen, der schon viele Jahrhunderte vor Bob Dylan gesagt haben soll: „Die Zeiten ändern sich, und“, so fügte er hinzu, „wir ändern uns in ihnen.“128.

128 « Tempora mutantur, nos et mutamur in illis », Lothar I., fränkischer Kaiser, 9. Jh. 34/34

6. Quellenverzeichnis

Gesetzgebung - Verfassung Belgiens vom 7. Februar 1831 - Koordinierte Verfassung vom 17. Februar 1994

- Sondergesetz vom 08.08.1980 zur Reform der Institutionen - Sondergesetz vom 08.08.1988 - Sondergesetz vom 16.01.1989 über die Finanzierung der Gemeinschaften und Regionen - Sondergesetz vom 05.05.1993 über internationale Beziehungen der Gemeinschaften und Regionen - Sondergesetz vom 16.07.1993 zur Vollendung der föderalen Staatsstruktur - Sondergesetz vom 13.07.2001 zur Übertragung von verschiedenen Befugnissen an die Regionen und die Gemeinschaften - Sondergesetz vom 13. Juli 2001 zur Refinanzierung der Gemeinschaften und zur Ausdehnung der steuerlichen Befugnisse der Regionen

- Wahlgesetzbuch

- Gesetz vom 31.05.1961 über den Sprachengebrauch in Gesetzgebungsangelegenheiten - Gesetz vom 08.11.1962 zur Abänderung der Provinz-, Bezirks- und Gemeindegrenzen - Gesetz vom 30.07.1963 über den Sprachengebrauch im Unterrichtswesen - Gesetz vom 02.08.1963 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten - Gesetz vom 18.07.1966 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten - Gesetz vom 10.10.1967 über den Sprachengebrauch im Gerichtswesen - Gesetz vom 9. August 1980 zur Reform der Institutionen - Gesetz vom 31.12.1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft - Finanzierungsgesetz vom 23.01.1989 - Die durch Königlichen Erlass vom 17. Juli 1991 koordinierte Gesetzgebung über die Staatsbuchführung - Gesetz vom 13.12.2002 zur Abänderung verschiedener Wahlvorschriften

Parlamentarische Dokumente

Senat

- Sondergesetzesvorschlag über institutionelle Maßnahmen - Dokument 602 (2007-2008) Nr. 1 - Gesetzesvorschlag zur Änderung des Gesetzes vom 31. Dezember 1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft - Dokument 603 (2007-2008) Nr. 1 - Gesetzesvorschlag über institutionelle Maßnahmen - Dokument 604 (2007-2008) Nr. 1

Vlaams Parlement

- Resolutie van 05.03.1999 betreffende de algemene uitgangspunten en doelstellingen van Vlaanderen inzake de volgende staatshervorming - Dok 1339(1998-1999) 35/35

- Resolutie van 05.03.1999 betreffende de uitbouw van de financiële en fiscale autonomie in de volgende staatshervorming - 1340 (1998-1999) - Resolutie van 05.03.1999 betreffende Brussel in de volgende staatshervorming - 1341 (1998- 1999) - Resolutie van 05.03.1999 betreffende het tot stand brengen van meer coherente bevoegdheidspakketten in de volgende staatshervorming - 1342 (1998-1999) - Resolutie van 05.03.1999 betreffende een aantal specifieke aandachtspunten voor de volgende staatshervorming - 1343 (1998-1999)

Parlement wallon

- Résolution du 16.07.2008 dans le cadre des négociations institutionelles

Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft

- Resolution vom 06.05.2002 an die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Bezug auf die Ausübung von regionalen Zuständigkeiten, deren Übertragung mit der Wallonischen Region verhandelt werden soll - 94 (2001-2002) - Resolution vom 10.06.2002 an die Föderalregierung und an das föderale Parlament in Bezug auf die Reform der politischen Einrichtungen - 96 (2001-2002) - Resolution vom 17.09.2002 an die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft und die Regierung der Wallonischen Region zum Autonomiestatus der Deutschsprachigen Gemeinschaft und dessen weiteren Ausbau - Dok 106 (2002-2003) - Resolution vom 17.02.2003 an die Föderalregierung und an das föderale Parlament in Bezug auf die Erklärung zur Revision der Verfassung - Dok 125 (2002-2003) - Resolution vom 27.10.2003 an die Föderalregierung, an das föderale Parlament und an die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Bezug auf die garantierte Vertretung der Bevölkerung des deutschen Sprachgebiets auf europäischer Ebene - Dok 151 (2003-2004) - Resolution vom 26.03.2007 an die Föderalregierung und an das föderale Parlament in Bezug auf die Erklärung zur Revision der Verfassung - Dok 97 (2006-2007)

Andere politische Dokumente

- Erklärung zur Revision der Verfassung, Belgisches Staatsblatt vom 02.05.2007, S. 23369 ff. - Stellungnahme der im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft vertretenen Parteien vom 27.12.2007 zur Reform des belgischen Bundesstaates

Literatur

- Frank Berge, Alexander Grasse, „Belgien - Zerfall oder föderales Zukunftsmodell“, 2003, Verlag Leske + Budrich, Opladen - Claus Hecking, „Das politische System Belgiens“, 2003, VS-Verlag - Karl-Heinz Lambertz, „Thesen zur Zukunft des belgischen Staates“, Hrsg. Johannes Koll, 2005, Waxman-Verlag - Marc Uyttendaele, « Précis de droit constitutionnel belge », 3ème édition, 2005, éd. Bruylant - J. Van de Lanotte, G. Goedertier, „Overzicht publiekrecht“, 2007, ed. die keure

36/36

Internet

- http://www.dgparlament.be/ - http://www.belgium.be/de/ueber_belgien - http://www.dglive.be/ - http://www.groupewalloniebruxelles.be/ - http://www.vlaamsparlement.be/vp/index.html - http://www.lachambre.be/kvvcr/choose_language.cfm - http://www.senate.be/www/?MIval=/index_senate&LANG=fr - http://parlement.wallonie.be/content/ - http://www.pcf.be/ - http://www.parlbruparl.irisnet.be/ - http://www.brf.be - http://www.grenzecho.be - http://www.ibz.rrn.fgov.be/index.php?id=98&L=2 - http://www.paviagroup.be/ - http://www.regie5.be/contenu.php?rubrique=flandre&sous=bloglire&id=91 - http://de.wikipedia.org/ - http://lexikon.meyers.de/meyers/Einheitsstaat - http://www.woydt.be/belgien/ho0025de.htm

Presse

- Paul Piret, « Faciliter les révisions de la Constitution », La Libre Belgique, 28. 03.2002 - Cathérine Ernens, « Les solidarités craquent de partout », Le Jour, 10.07.2002 - Daniel Conraads, « 'Nein' Namurois aux Eupenois », Le Soir, 10.07.2002 - Gerd Zeimers, „Autonomiebestreben der DG gebremst - Ernüchterung bei Fraktionen - Zähneknirschen nach Abfuhr der Region“, Grenz-Echo, 11.07.2002 - David Coppi, « Une nation, un Etat? Chronique d'une surenchère francophone », Le Soir, 04.09.2004 - Guido Fonteyn, "Van Cau zendt Duitstalige Belgen wandelen", De Standaard, 11. Juli 2002 - Pierre Schöffers, « Mais que veulent donc les germanophones », Le Vif / L'Express, 11.10.2002 - „Keine Republik Flandern - Prioritäten des Ministerpräsidenten und Parlamentspräsidenten für Gespräche der Staatsreform“, Grenz-Echo, 29.05.2004 - Paul Piret, « Une nation francophone? », La Libre Belgique, 10.09.2004 - David Coppi, « Le brouillon de Guy Verhofstadt », Le Soir, 10.09.2004 - Francis Van de Woestyne, « Les francophones cherchent l'unité », La Libre Belgique, 11.09.2004 - Anja Otte, Interview mit Charles Picqué, De Standaard, 13.09.2004 - Francis Van de Woestyne, « Le confédéralisme n'est plus très loin », La Libre Belgique, 05.10.2004 - Paul Piret, « Forum institutionnel - Ne demandez pas le menu », La Libre Belgique, 18.10.2004 - Isabel Albers, "SP.A en VLD in spreidstand over gezondheiszorg", De Standaard, 24.11.2004 - L. Vi. "Forum zorgt voor twee uur pure Kafka", De Morgen, 20.01.2005 - Gerd Zeimers, „Brüssel-Halle-Vilvoorde: Worum geht es?“, Grenz-Echo, 02.04.2005 37/37

- Francis Van de Woestyne, « La frustration flamande grandit face à la sérénité francophone », La Libre Belgique, 26.04.2005 - Bart Brinckman, "Het lijstje van Vlaanderen", De Morgen, 26.04.2005 - Francis Van de Woestyne, « Des compétences en plus pour les entités fédérées", La Libre Belgique, 27.04.2005 - David Coppi, Bénédicte Vaes, « La Belgique ne tient plus qu'à un fil », Le Soir, 04.05.2005 - Bénédicte Vaes, Dominique Berns, « De l'Etat fantôme au séparatisme », Le Soir, 04.05.2005 - Christian Laporte, « La Flandre hausse le ton », La Libre Belgique, 19.05.2005 - Bbd, "Staatshervorming pas in 2007", De Standaard, 12.07.2005 - „Staatsreform überlegt fortsetzen“, Grenz-Echo, 12.07.2005 - Jürgen Heck, „Van Cau's flammender Appel für die Wallonie“, Grenz-Echo, 19.09.2005 - David Coppi, « Pour moi c'est un fait politique », Le Soir, 01.12.2005 - Jean Quatremer, »D'un Etat unitaire à un Etat fédéral », Libération, 18.08.2006 - L. Vi., "Doet Yves Leterme België barsten?", De Morgen, 25.08.2006 - Dirk Vanoverbeke, « Flandre et Bruxelles : quel flirt? », Le Soir, 15.09.2006 - Hugues Danze, « Revoilà l'Etat francophone », Le Soir, 18.09.2006 - David Coppi, Dirk Vanoverbeke, « La réforme de l'Etat: voilà ma troisième voie », Le Soir, 09.01.2007 - Michelle Lamesch, « Et si les citoyens pouvaient élire des candidats 'belges' », Le Soir, 15.02.2007 - Paul Piret, « La Belgique à 4 Régions. Point final. », La Libre Belgique, 07.03.2007 - Gerd Zeimers, „Noch keine Liste zur Verfassungsrevision“, Grenz-Echo, 24.03.2007 - „'Belgien muss bleiben' sagen Belgier“, Grenz-Echo, 29.03.2007 - Gerd Zeimers/belga, „Verfassungsrevision: Regierung übernimmt die Liste von 2003“, Grenz Echo, 30.03.2007 - „Letermes Vorschlag verursacht liberales Säbelrasseln“, Grenz-Echo, 24.07.2007 - « Face-à-face Nord-Sud à Val-Duchesse », Le Soir, De Standaard, 28.07.2007 - Pierre Defraigne, « Trois réformes contre une crise », La Libre Belgique, 01.08.2007 - Gerd Zeimers/belga, „Leterme scheitert an Milquet“, Grenz-Echo, 24.08.2007 - „Vermittler-Duo könnte Ausweg aus politischer Krise finden“, Grenz-Echo, 27.08.2007 - Gerd Zeimers, „Krise darf nicht mehr lange dauern“, Grenz-Echo, 27.09.2007 - „Leterme soll es noch einmal versuchen“, Grenz-Echo, 01.10.2007 - Bart Brinckman, "Je leeft slechts twee keer", De Standaard, 01.10.2007 - Wim Winkelmans, Eerste akkord binnen handbereik", De Standaard, 08.10.2007 - Bart Brinckman, "Oranje-blauw slikt en vervolgt zijn weg", De Standaard, 08.11.2007 - Gerd Zeimers/belga, „Staatsreform-Debatte erst nach der Regierungsbildung“, Grenz-Echo, 22.11.2007 - „Welches Kaninchen zaubert der König aus dem Zylinder?“, Grenz-Echo, 03.12.2007 - Gerd Zeimers, „Weißer Rauch, aber das schwierigste steht noch bevor.“, Grenz-Echo, 26.02.2008 - Gerd Zeimers, „Senat: Lösung für BHV auf Verhandlungsweg“, Grenz-Echo, 13.03.2008 - Gerd Zeimers, „Demotte und Picqué für eine Föderation Wallonie-Brüssel“, Grenz-Echo, 18.04.2008 - Gerd Zeimers, „Leterme im Schwitzkasten“, Grenz-Echo, 26.04.2008 - Gerd Zeimers, „Ist BHV-Lunte erloschen?“, Grenz-Echo, 08.05.2008 - Gerd Zeimers, „Kollegium der französischen Gemeinschaftskommission strengt Interessenkonflikt an - CoCof trat aus ihrem Schatten“, Grenz-Echo, 10.05.2008 38/38

- Gerd Zeimers, “Leterme, Tina und die Torheit der Regierenden“, Grenz-Echo, 08.07.2008 - Gerd Zeimers, „Keine Einigung über Staatsreform und BHV in Sicht“, Grenz-Echo, 14.07.2008 - Gerd Zeimers, „Zeit drängt für König Albert“, Grenz-Echo, 17.07.2008 - Gerd Zeimers, „Dialog zwischen den Gemeinschaften: Ein Ausweg mit Hindernissen“, Grenz- Echo, 18.07.2008 - Gerd Zeimers, „Von drei Missi dominici wird Unmögliches verlangt“, Grenz-Echo, 19.07.2008 - Jürgen Heck, „Vermittler treten nur als Trio auf“, Grenz-Echo, 23.07.2008 - Gerard Cremer, „Es geht ein Ruck durchs Land“, Grenz-Echo, 30.07.2008 - Gerd Zeimers, „Politischer Eiertanz der Vermittler-Troika“, Grenz-Echo, 31.07.2008 - Steven Samyn, "Reynders tackelt met de voeten vooruit", De Standaard, 20.09.2008 - Peter De Lobel, Steven Samyn, "Vaagheid geen garantie op succes", De Standaard, 20.09.2008 - NLE/belga, « La N-VA a enfin choisi sa voie », skynet.be, 21.09.2008 - NLE/belga, « Le cartel reste uni au gouvernement flamand », skynet.be, 21.09.2008 - NLE, « Peeters doit choisir: le gouvernement ou la N-VA », skynet.be, 21.09.2008