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Michel de Boissieu Goethes Faust in Oper, Film und : Die Faust-Bearbeitungen bei Gounod, Murnau und Tezuka am Beispiel der Studierzimmer-Szene

Abstract: What happens to Goethe’s Faust when it is adapted for another medium? By analyzing the transformations which Faust’s study scene undergoes in Gounod’s opera Faust, Murnau’s film Faust and Tezuka’s manga Neo Faust, we try to establish if these changes depend on the medium chosen for the adaptation. In Gounod’s opera, the study scene is deprived of all philosophical and comical elements which Goethe had introduced into it. The stresses instead a new element, absent from the original scene: the old man’s longing for love. In doing so, the libretto’s author, although unfaithful to Goethe, remains true to the nature of French lyrical opera. This genre requires a drama centered on a passionate and doomed love story. In Murnau’s film, the comical elements of the play vanish into a frightful and dark atmosphere, Goethe’s often farcical gives way to a terrifying fiend, and Faust is no longer carried away by his own hubris, but seems crushed by a tragic fate. This film exemplifies the “haunted screen” of the silent movie era in Germany. In Neo Faust, by introducing anachronisms and elements of sociopolitical satire, the author stresses the farcical aspects of Goethe’s play. This manga is a true comic strip, in the original sense of the word, which means an amusing story. Tezuka, just like Gounod and Murnau, remains true to the requisites of the medium for which he adapts Goethe’s play.

Keywords: literarische Stoffe in verschiedenen Medien; Stoff- und Medientreue; Oper; Manga; Film; Faust-Thematik, Faust-Stoff; sozialpolitische Krise; aktueller Zeithintergrund; Unterhaltung

Goethes Faust (1808) ist vielleicht das berühmteste Theaterstück der europäi- schen Literatur. Es überrascht daher nicht, dass es von mehreren Schriftstellern umgeschrieben und von mehreren Künstlern bearbeitet worden ist. Was geschieht mit einem Theaterstück, wenn es in eine andere literarische Gattung beziehungs- weise in eine andere Kunstform verwandelt wird? In diesem Beitrag werde ich die Szene der ersten Begegnung zwischen Faust und untersuchen: Es ist die

Article Note: This work was supported by JSPS KAKENHI Grant Number 26370389

Open Access. © 2021 Michel de Boissieu, published by De Gruyter. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License. https://doi.org/10.1515/9783110642056-015 194 Michel de Boissieu berühmte Szene, in der Mephisto in Studierzimmer erscheint und ihn über- redet, einen Pakt mit ihm zu schließen. Ich werde zeigen, welche Änderungen diese Szene in drei verschiedenen Bearbeitungen in unterschiedlichen Medien erfährt. Die erste ist Gounods Oper Faust (1859), die zweite Murnaus Film Faust, eine deutsche Volkssage (1926), der allerdings Motive aus dem Stück von Goethe mit Elementen aus anderen Quellen verwebt (vgl. Dabezies 1972, 171), die dritte Osamu Tezukas Comic Neo-Faust (1988–1989).

1 Leidenschaftliche Liebe und Jugendlust: Gounods Opernversion

In der Oper von Gounod erfährt die Szene des Studierzimmers drei auffällige Ände- rungen. Zuerst ist sie gleichzeitig viel kürzer und sozusagen konzentrierter als in dem Theaterstück. Goethes Mephisto erscheint als Student im Studierzimmer, stellt sich vor, geht weg. Dann taucht er wieder auf, diesmal als junger Adliger, und schließt einen Pakt mit Faust. In der Oper erscheint er nur einmal, als Adliger. Und nachdem er den Pakt geschlossen hat, verwandelt er den alten Faust sofort in einen jungen Mann. Im Theaterstück findet Fausts Verwandlung in einer späteren Szene statt, und zwar nicht im Studierzimmer, sondern in einer Hexenküche. Ein zweiter Unterschied zwischen dem Original und der Oper liegt darin, dass es keine Spur von philosophischen und theologischen Themen gibt. Goethes Faust versucht nämlich stets, neue Probleme zu lösen, und er stößt immer wieder auf neue Lösungsversuche: zwischen Wort und Tat, Sein und Nichts, Augenblick und Ewigkeit, Makrokosmos und Mikrokosmos, Wissenschaftler und Dichter. „Im Anfang war die Tat“ (Goethe 2000, 36), und nicht, wie es im Alten Testament geschrieben ist, das Wort. Es ist gerade diese gotteslästerliche Behauptung, die in Goethes Faust den Pudel in Unruhe versetzt und ihn sich in ein teuflisches Gespenst verwandeln lässt. Nach seiner Erscheinung nennt sich Mephisto „der Geist der stets verneint“ (Goethe 2000, 39), dann erliegt Faust der Versuchung des Nihilismus und verflucht die ganze Welt. Sie sind also bereit, ihren Pakt zu schließen, stoßen sich aber an dem Problem der Zeit. Die Zeit wird für Faust ‚vorbei‘ sein, wenn er zum Augenblick „Verweile doch“ sagt (Goethe 2000, 48). In diesem Augenblick hofft Faust, „was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“, in seinem „innern Selbst geniessen“ und so sein „eigen Selbst zu ihrem Selbst erwei- tern“ zu können (Goethe 2000, 50). Mephisto „selbst möchte solch einen Herren kennen, würd ihn Herrn Mikrokosmos nennen“ (Goethe 2000, 51). Aber seiner Meinung nach braucht der Wissenschaftler Faust die Hilfe eines „Poeten“, um „in Gedanken schweifen“ zu können (Goethe 2000, 51). Goethes Faust in Oper, Film und Manga 195

Die Librettisten der Oper, Jules Barbier und Michel Carré, haben aber diese philosophischen Fragen gestrichen. Ihr Faust verlangt nur eins: die „Lust“ („les plaisirs“) der „Jugend“ („la jeunesse“), oder einfacher gesagt: einen „Süssmäg- deleins Kuss“ („Les jeunes maîtresses! A moi leurs caresses!“ [Barbier und Carré 1976, 16]). Und wenn er zögert, den Pakt zu unterschreiben, „erscheint auf Mephis- tos Wink am Spinnrade“ („Il fait un geste. Le fond du théâtre s’ouvre et laisse voir Marguerite assise devant son rouet filant“ [Barbier und Carré 1976, 18]): Faust, brennend vor Begierde, beeilt sich zu unterzeichnen. In Goethes Stück lässt zwar Mephisto eine ungenannte junge Frau erscheinen, jedoch in einer weiteren Szene, nachdem der Pakt bereits geschlossen worden ist. Hier ist also der Durst nach Liebe nicht, wie in der Oper, Fausts primäre und einzige Motivation. Die Hauptgestalt des Stücks ist ein Wissenschaftler auf der Suche nach neuen Ein- sichten. In der Oper wird diese Gestalt zu einem alten Mann auf der Suche nach einer neuen Jugend. Letztlich haben die Librettisten der Oper auch auf die komische und spekta- kuläre Folklore des Teufels verzichtet. In dem Stück erscheint zuerst ein „Pudel“ (Goethe 2000, 35), der sich in eine Art „Nilpferd“ (Goethe 2000, 37) verwandelt. An diesem Augenblick hört man die Wehklagen von „Geistern“: Einer von ihnen ist nämlich in dem monströsen Tier „gefangen“ (Goethe 2000, 37). Faust beginnt eine ganze Reihe von Beschwörungen, um ihn zu befreien, und endlich erscheint Mephisto. Will dieser aber das Studierzimmer verlassen? „Ein kleines Hindernis“ (Goethe 2000, 40), Fausts Pentagramm, verbietet es ihm. Er muss seinem Gast das „Gesetz der Teufel und Gespenster“ (Goethe 2000, 41) erklären, und ihn um Hilfe bitten. Weil Faust sich weigert, ihm zu helfen, beschwört der Teufel Höllen- geister, die den widerspenstigen Greis durch ihren Gesang zum Schlafen bringen. Mephisto beschneidet dann das Pentagramm mit einem „Rattenzahn“ (Goethe 2000, 43) und geht hinaus. Diese folkloristische Beschreibung des Teufels mit Beschwörungen, Erscheinungen, Ungeheuern, Geistern und Höllengesetzen ist selbstverständlich spektakulär, aber zugleich komisch. Goethes Mephisto, weit davon entfernt, ein allmächtiges und schreckliches Wesen zu sein, erscheint dem Leser manchmal ungeschickt und erbärmlich. Es ist, als ob Goethe die Volkssage parodiert, die ihn zu seinem Werk inspiriert hatte. So führt er die Tradition der deutschen Wanderbühnen fort, die Fausts Geschichte auf komische Elemente, auf eine „Farce“ („la farce“ [Dabezies 1972, 47]) reduzierten. Die Oper ist viel schlichter als Goethes Stück. Faust ist verzweifelt, weil ihm Gott nicht zum Glück verhelfen kann. Er jammert, schreit zuletzt noch „Herbei, ! herbei!“ („A moi, Satan! à moi!“ [Barbier und Carré 1976, 15]), und zu seiner großen Überraschung „erscheint plötzlich“ („apparaissant“ [Barbier und Carré 1976, 16]) Mephisto vor ihm. Sie verhandeln über einen Pakt: Mephistopheles lässt Gretchen erscheinen, was Faust schließlich dazu bewegt, zu unterzeichnen. Der 196 Michel de Boissieu alte Mann trinkt ein Jugendelixier, und die neuen Partner verlassen zusammen das Studierzimmer. Die folkloristischen Elemente beim Auftritt des Teufels sind zum größten Teil verschwunden: Die Librettisten haben alle die Beschwörungen, Geister, Ungeheuer und Höllengesetze sozusagen verworfen. Mit der Folklore sind natürlich auch die Ironie und die komischen Effekte verschwunden. Der Ton des ist folglich wesentlich nüchterner als der seiner Vorlage. Die Librettisten der Oper haben also die Szene im Studierzimmer verkürzt und die philosophischen, folkloristischen und komischen Elemente des Stücks beseitigt. Stattdessen haben sie die Begierden, Lüste und Leidenschaften der Liebe zum Hauptthema der Szene gemacht. Sie sind dem Stück Goethes untreu geworden, um den Ansprüchen der Oper treu zu bleiben. Ein französisches lyri- sches Drama des neunzehnten Jahrhunderts war vor allem eine leidenschaftliche Liebesgeschichte: Musik, Libretto und Spiel sollten die Leidenschaften der Liebe so stark wie möglich ausdrücken, um die Zuschauer zu rühren, sogar zu erschüt- tern. In diesem Sinn werden philosophische, folkloristische oder komische Ele- mente überflüssig, weil sie keine direkte Beziehung zum Hauptthema haben und den Zuschauer nur zerstreuen und ablenken könnten.

2 Die unwiderstehliche Macht des Bösen und die Ohnmacht des Guten

Auch in dem Film Faust von 1926 weicht die Szene im Studierzimmer stark vom Ausgangswerk ab. Zwar wird sie diesmal nicht verkürzt, und ganz wie im Stück erscheint Mephisto zweimal. Aber die philosophischen und theologischen Fragen, die Goethes Faust dazu treiben, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, verschwinden ganz wie in der Oper. Murnaus Faust wird zum Opfer, aber nicht zu dem seines ehrgeizigen und übertriebenen Wissensdurstes, sondern zu dem der Manipulation eines schlauen Teufels. Zunächst verursacht nämlich Mephisto eine Pestepidemie. Trotz seiner Bitten bekommt Faust die göttliche Hilfe nicht, die es ihm erlauben würde, ein Heil- mittel zu finden und seine Mitbürger in der Stadt zu retten. Deshalb wendet er sich zuletzt an den Teufel – also nicht, um sein eigenes Streben zu befriedigen, sondern um den leidenden Menschen zu helfen: Mephistopheles verspricht ihm „Ruhm und Macht auf der Erde“1, wenn er auf Gott verzichtet, aber Faust lehnt diesen Vorschlag ab. Der alte Mann will nur „für einen Tag“ einen vorläufigen

1 Zitiert nach der DVD Faust. Eine deutsche Volkssage, Living Colour Entertainment, 2009. Goethes Faust in Oper, Film und Manga 197

Pakt schließen, der gleich nach der Erfindung des Heilmittels enden würde. Der Teufel benutzt Fausts Altruismus, um ihn in eine Falle zu locken. Er gesteht ihm die gewünschte Probezeit zu und verspricht, diese mit einer Sanduhr zu messen. Da er die Sanduhr ununterbrochen umdreht, wird, ohne dass Faust dies bemerkt, aus dem vorläufigen Pakt ein endgültiger. Er ist in die Falle Mephistos gegangen. Als seine Mitbürger dann bemerken, dass er Furcht vor dem Kreuz hat, verste- hen sie, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Faust entgeht knapp einer Steinigung und wird aus der Menschengemeinschaft ausgestoßen. In seiner Verzweiflung will er Selbstmord begehen. Da erscheint wiederum Mephisto. Um Faust davon abzubringen, sich zu töten, lässt er das Gesicht eines jungen Mannes erscheinen, und sagt: „das ist deine Jugend“. Faust erliegt der Versuchung, die Jugend und ihre Vergnügungen zu genießen, und lässt sich in einen jungen Mann verwandeln. Bei Murnau scheint Faust das Opfer einer Abfolge von tragischen und iro- nischen Umständen oder Spielball des Teufels zu sein. Im Gegensatz zu Goethes Faust macht er nicht den Eindruck, freiwillig zu handeln, sondern vielmehr den Eindruck, immer von fremden Kräften bestimmt zu werden. Er ist kein stolzer, ehrgeiziger, von einem übermäßigen Wissensdurst getriebener Wissenschaftler, sondern ein braver Mann, der seinen Mitmenschen in der Stadt helfen will und daran zugrunde geht. Es gibt noch einen zweiten wichtigen Unterschied zwischen dem Stück und dem Film. Ganz wie Goethe schöpft auch Murnau vieles aus der Folkloristik des Teufels. Sein Faust schlägt in einer magischen Schrift nach, geht bei Nacht zu einer verlassenen Kreuzung, er zeichnet einen Kreis auf den Boden und beschwört den Teufel. Der Kreis entzündet sich, ein heftiges Gewitter entlädt sich, ein Wagen erscheint am Himmel und sogleich ist Mephisto da. Aber während Goethe die Teufelsfolklore ironisiert, benutzt sie Murnau auf eine dramatische Weise. Die Beschwörung des Teufels und die Gespräche mit ihm finden mitten in der Trauer- atmosphäre der Pestepidemie statt: Faust ist Zeuge der Verzweiflung eines Mäd- chens, dessen Mutter mit dem Tod ringt, er sieht aus seinem Fenster die Bestat- tungszüge, die ununterbrochen die Stadt durchqueren, er ist mit hysterischen, vor Angst und Wut rasenden Massen konfrontiert. Überall herrschen Schmerz, Schrecken und Wahnsinn. Diese Gefühle werden noch durch die Beleuchtung verstärkt. Die Szenen finden meistens bei Nacht statt, und Murnau benutzt sehr starke Hell-Dunkel-Kontraste, um sie zu dramatisieren. Dieser Chiaroscuro-Effekt ist unter anderem sehr beeindruckend in der Szene der Beschwörung, wo Blitze und Flammen die Finsternis durchdringen. Auch die Figur des Mephisto steht im Gegensatz zum gelegentlich schwachen, sogar lächerlichen Mephisto in Goethes Stück. Murnaus Teufel wird immer furchterregend dargestellt. Faust scheint über dieses unheilvolle Wesen immer entsetzt zu sein: Zum Beispiel flieht Faust, als 198 Michel de Boissieu

Mephistopheles an der verlassenen Kreuzung vor ihm erscheint, angsterfüllt in die Stadt; und als er sich schließlich durchringt zu sagen: „gib mir die Jugend“, wird er sofort ohnmächtig. In Goethes Faust ist die Szene der ersten Begegnung zwischen Faust und Mephistopheles eher komisch als tragisch: Ein überehrgeiziger Wissenschaftler wird von seinem eigenen Wissensdurst getrieben, einen Pakt mit einem manch- mal ungeschickten Teufel zu schließen. In dem Film von 1926 wird die Komödie zu einer echten Tragödie: Ein Mensch guten Willens stößt auf eine ihm weit über- legene und schreckliche Kraft, die ihn besiegt. Darin ist dieser Film typisch für den Trend des damaligen deutschen Kinos, das Lotte Eisner (vgl. Eisner 1996) in ihrer Arbeit von 1952 „die dämonische Leinwand“ („l’écran démoniaque“) nannte. Filme wie Nosferatu, Dr Mabuse oder zeigen, wie der Mensch von bösen und überlegenen Kräften unterdrückt, besiegt oder zerstört werden kann. In diesen Filmen wird, manchmal auf eine metaphorische Weise, ein tiefer Pessimismus gegenüber den sozialpolitischen Umständen Deutschlands aus- gedrückt. Die Drehbuchautoren von Faust, eine Deutsche Volkssage, Hans Kyser und Gerhart Hauptmann, sind offensichtlich von diesem Zeitgeist beeinflusst worden. Es ist kein Zufall, dass auch in Murnaus Nosferatu (1922), ganz wie in seinem Faust, eine Pestepidemie verursacht wird. Kaum ist Nosferatu in die Stadt Wisborg gekommen, da verbreitet sich die tödliche Krankheit unter den Ein- wohnern. Diese Episode findet man aber nicht in dem Roman Dracula (1897), der Vorlage und Inspiration für Nosferatu war: Drehbuchautor Henrik Galeen hat sie sich ausgedacht. Vier Jahre später werden sich auch Fausts Drehbuchautoren eine Pestepidemie ausdenken. Die von einem teuflischen Wesen verursachte Pest wird in beiden Werken zum metaphorischen Ausdruck der sozialpolitischen Krise im Nachkriegsdeutschland. Weder Goethes Faust noch Bram Stokers Dracula behan- deln sozialpolitische Umstände. Sie sind Dramen des Individuums. Murnaus Nosferatu und Faust können aber als kollektive Tragödien betrachtet werden. Das Individuum geht zugrunde, nicht wegen seiner eigenen Fehler, sondern wegen der kranken und hoffnungslosen Gesellschaft, in der es lebt.

3 Faust in Zeiten der Studentenunruhen

Dass auch der Manga Neo Faust, das letzte Werk des berühmten Manga-Zeichners , vom Zeitgeist beeinflusst worden ist, liegt auf der Hand. Tezuka hat nämlich Goethes Faust in das Japan der Gegenwart übertragen. Die Geschichte spielt zur Zeit der Studentenbewegung im Jahr 1970. Die Hauptfigur heißt selbst- verständlich nicht mehr , sondern Professor Ichinoseki. Er unterrich- Goethes Faust in Oper, Film und Manga 199 tet an einer Universität in der Nähe von Tokyo. Die Szene seiner ersten Begegnung mit dem Teufel spielt in seinem Laboratorium. Der Teufel selbst erscheint zum ersten Mal als eine Studentin, die sich angeblich in das Laboratorium flüchtet, „um der Polizei zu entgehen“ (警官に見つかりたくないのです [Tezuka 2011, 32]). Indem er Fausts Sage auf diese Weise aktualisiert, schafft Tezuka eine ganze Reihe von komischen Effekten. Diese Aktualisierung erlaubt es ihm, eine beißende Satire der japanischen Gesellschaft zu schreiben. Als die teuflische Studentin ihm vorschlägt, einen Pakt zu schließen, ist Professor Ichinoseki zuerst empört. Er glaubt, sie sei kein Teufel, sondern arbeite für jene Gauner, die unter dem Vorwand, Versicherungen zu ver- kaufen, „alte Leute um ihr Geld betrügen“ (老人相手の先物取引[Tezuka 2011, 36]). Die gekränkte Studentin erwidert, dass sie alle nötigen Zeugnisse besitze und ein „echter Fachmann“ (プロ[Tezuka 2011, 36]) sei. Sie fragt den Professor, ob sie noch einmal „mit verändertem Aussehen“ (姿を変えて[Tezuka 2011, 37]) vor ihm erscheinen solle. Darauf reagiert der Professor zunehmend sarkastisch. Seiner Meinung nach tun nämlich die Studenten nichts anderes, als immer „rasch ihr Aussehen zu ändern“ (変わり身が早い[Tezuka 2011, 37]). Bald verhalten sie sich wie „Ganoven“ (ツッパリ) und fördern die Revolution, bald „nehmen sie an Vorstellungsgesprächen teil“ (入社の面談試験を受ける), um bei Großunterneh- men angestellt zu werden (Tezuka 2011, 37). Tezuka verspottet hier sowohl die dubiosen Verkäufer als auch die desinteressierte Jugend ohne politische Über- zeugung, womit zwei Hauptzüge der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft karikiert werden, die Geschäftssucht und die apolitische Ignoranz. Er beschränkt sich aber nicht darauf, die japanische Gesellschaft zu ver- spotten, sondern ironisiert auch die Sage von Faust. Erstens kontrastiert er oft Archaismus mit Modernismus. Zum Beispiel: Nachdem die teuflische Studentin sein Laboratorium verlassen hat, brennt Professor Ichinoseki darauf, sie wieder- zusehen. Er entschließt sich, sie wieder erscheinen zu lassen. Dazu benutzt er einerseits die moderne elektronische Ausrüstung seines Laboratoriums: Com- puter und andere Maschinen. Anderseits aber muss er, ganz wie Faust in alten Zeiten, in einer magischen Schrift nachschlagen, einen magischen Kreis und ein Pentagramm auf den Boden zeichnen und eine Beschwörungsformel aufsagen. Solche Anachronismen verdeutlichen die Ironie, mit der Tezuka sein Thema behandelt. Man hat außerdem den Eindruck, dass gerade die Hauptfiguren des Werkes nicht wirklich an die Folklore des Teufels glauben, ja vielmehr, dass sie sich von ihr distanzieren. Als die teuflische Studentin dem Professor ihre Identität auf- deckt, fragt er, ob sie wirklich derselbe Teufel sei, der „in den Horrorfilmen oft erscheint“ (オカルト映画によく現れる[Tezuka 2011, 34]). Nachher muss sie gestehen, dass sie wegen „des kreuzförmigen Fensterrahmens“ (あの十字架の形 200 Michel de Boissieu

[Tezuka 2011, 38]) das Laboratorium nicht verlassen kann. Der Professor macht sich lustig über sie: warum sie sich so verhalte, „als spiele sie in einem Vampirfilm“ (吸血鬼映画の実演かね[Tezuka 2011, 38])? Nach der Beschwörung erscheint der Teufel wieder als ein hübsches Mädchen, doch nicht mitten im magischen Kreis, sondern außerhalb. Das Mädchen erklärt dem empörten Professor, dass ein so schlecht gezeichneter Kreis „überhaupt keine Wirkung hat“ (効き目がないのよ [Tezuka 2011, 52]). Ebenso ironisch und distanziert erfolgt die Charakterisierung der Hauptfigu- ren. Der Teufel erscheint als eine hübsche Studentin, die je nach den Umstän- den sehr verschiedene Gesichter zeigt. Sie wird bald zu einer typischen femme fatale, die einen Striptease vorführt, um den Professor zu verführen, bald zu einer schwachen und hilfsbedürftigen Frau, die bittere Tränen weint, weil sie nicht weggehen darf, bald auch zu einem Mathematik-Genie, das die schwierigsten Gleichungen lösen kann. Indem er sich von dem traditionellen Bild des Teufels entfernt, überrascht und unterhält Tezuka seinen Leser. Was Professor Ichinoseki betrifft, ist er offensichtlich eine satirische Parodie von Goethes Faust. Er scheint sich ausschließlich um schwierige wissenschaftliche Fragen zu kümmern und beschwört den Teufel, um von ihm „die Wahrheit über das Weltall“ (宇宙の真理 [Tezuka 2011, 53]) kennenzulernen. Als ihm aber das teuflische Mädchen mitteilt, „dass er in fünf Minuten sterben werde“ (あなたの残りの命はあと五分なのよ [Tezuka 2011, 53]), ändert er schlagartig seine Meinung: Die Wahrheit über das Weltall sei ihm doch gleichgültig, er möge nur schnell „wieder jung werden“ (青春に戻りたい[Tezuka 2011, 54]) und das Leben genießen. Insofern als ein Comic ursprünglich eine humorvolle Geschichte sein sollte, ist der Manga Neo Faust also den Ansprüchen des Comics treu: Er unterhält den Leser dank einer Reihe komischer Effekte der Faust-Erzählung. In diesem Sinn wird diese japanische Bearbeitung durchaus auch Goethes Faust gerecht, obwohl ihr Autor die Geschichte in das gegenwärtige Japan übertragen hat. Im Gegen- satz zu dem lyrischen Liebesdrama von Gounod und zu dem tragischen Film von Murnau hat sie Goethes Ironie beibehalten. Aber ganz wie Tezuka den Ansprü- chen des Comics entgegenkommt, indem er ein komisches Werk geschaffen hat, folgen Gounod und Murnau den hauptsächlichen Trends der französischen Oper und des deutschen Films ihrer Zeit. Der eine hat den Fauststoff benutzt, um eine leidenschaftliche und pathetische Liebesgeschichte in Musik zu setzen, der andere, um einen grausamen und tragischen Mythos des Bösen zu verfilmen. Die Art und Weise, in der die Studierzimmer-Szene bearbeitet worden ist, hängt also zum großen Teil von den unterschiedlichen Medien ab, die Gounod, Murnau und Tezuka gewählt haben. Goethes Faust hat die drei Künstler zu einer Neu- bearbeitung inspiriert. Die wichtigsten Gesetze und Kriterien dieser Adaptionen befinden sich aber vielleicht weder in Goethes Theaterstück, noch in der eigenen Goethes Faust in Oper, Film und Manga 201

Einbildungskraft der Künstler, sondern in den Medien, in denen Faust bearbeitet worden ist: der französischen Oper des neunzehnten Jahrhunderts, im deutschen Film der 1920er Jahre und im japanischen Comic der 1980er Jahre.

Literaturverzeichnis

Fauststoff

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Michel de Boissieu, Professor für Französisch und französische Literatur an der Universität Yamaguchi. Forschungsschwerpunkte sind Komparatistik, japani- sche Literatur des 20. Jahrhunderts, Beziehungen zwischen Literatur und Film sowie zwischen Literatur und Geschichte.