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zur debatte 6/2017 3 Editorial

Liebe Freunde und Dankfestsei an dieser Stelle ein Hinweis auf Kirche und Interessenten der Katholischen die „Sommernacht der Künste“ am Akademie Bayern! Begonnen aber hatte das Jubilä- 27. Juni 2017 gestattet. Im Mittel- geschichtlich umsjahr mit einem kleinen Dank- punkt des Abends zum Thema fest. Am Abend des 1. Februar 2017 „Schöpfung“ standen Musikstücke, gewachsene Sie halten eine Jubiläumsaus- – auf den Tag also genau 60 Jahre darunter zwei Uraufführungen, die Beziehungen gabe unserer Zeitschrift in der nach der Gründung – kamen rund mit Kunstwerken aus dem Kardi- Hand; sind wir im Jahr 2017 doch 150 Personen zusammen: aktive nal-Wendel-Haus in Beziehung Mit dem Thema der Ostausrich- 60 Jahre alt geworden. Am 1. Fe- und ehemalige Mitarbeiterinnen treten sollten. tung des Bistums Regensburg in und Mitarbeiter, aktive und ehe- Geschichte und Gegenwart griffen bruar 1957 war mit einem Festvor- malige Mitglieder unserer Gremien wir ein besonderes Anliegen von trag Romano Guardinis die Katho- und weitere enge Freunde, darunter Bischof Dr. Rudolf Voderholzer lische Akademie als gemeinsame drei Persönlichkeiten, die schon auf. Zum Gespräch am 20. Mai 2017 Einrichtung aller sieben bayeri- damals am 1. Februar 2017 als im „Centrum Bohemia“ im schen Bistümer eröffnet worden junge Studenten in der Großen oberpfälzischen Schönsee war auch Aula der LMU dabei waren: Herzog Bischof Tomáš Holub von Pilsen und hatte somit auch den Auftrag Franz von Bayern, Prof. Dr. Günter gekommen, der nicht nur perfekt erhalten, nach Möglichkeit im ge- Niggl und Prof. Dr. Richard Heinz- deutsch spricht, sondern dem die samten Freistaat präsent zu sein. mann. Verbindungen mit Regensburg, Bayern und Deutschland ebenfalls Welche Herausforderungen und Den Gottesdienst in der Sankt- ein besonderes Anliegen sind. Dem Michaels-Kapelle des Kardinal- Gespräch der beiden Bischöfe ging Perspektiven die in der Satzung Wendel-Hauses zelebrierte Fried- ein Referat des Regensburger Kir- niedergelegten drei Grundziele rich Kardinal Wetter, Erzbischof chenhistorikers Prof. Dr. Klaus unseres Arbeitens 60 Jahre nach der em. von München und Freising, in Unterburger voran, der die 1200- Gründung hervorrufen, davon zeugt seiner Amtszeit 1982 bis 2008 jährige Geschichte Ostbayerns und am Ende dieses Heftes die „Cloud“, Protektor der Akademie. Den Mit- Böhmens in einem wahren Par- telpunkt des anschließenden Festes forceritt durchmaß. Besonders die Wolke von Begriffen, entstanden bildete dann, einer Akademie ge- schön war, dass die rund 100 Teil- bei drei Sitzungen unserer Bera- mäß, der wissenschaftliche Vortrag. nehmer nicht nur theoretisch etwas tungsgremien. Um aber die im Dr. Oliver Schütz, heute Leiter der über die Beziehungen zu Tsche- deutschen Sprachraum für eine Katholischen Erwachsenbildung in Kirche und chien zu hören bekamen. Mit Bi- Akademie einzigartige kirchliche Ulm, hatte in seiner 2004 veröffent- schof Rudolf fuhren wir in das lichten Dissertationsschrift „Begeg- säkulare Gesellschaft tschechische Kloster Kladruby Konstruktion deutlich zu dokumen- nung von Kirche und Welt“ die (Kladrau); der Bischof erzählte von tieren und gleichzeitig Zeichen der Gründungsgeschichte katholischer Über Kirche im säkularisierten den Beziehungen seiner Familie zu Dankbarkeit für 60 Jahre großartige Akademien in Deutschland von Umfeld sprachen Bischof Dr. Kon- diesem Ort und hielt zum Abschluss Trägerschaft zu setzen, haben wir 1945 bis 1975 untersucht. Aus gros- rad Zdarsa von Augsburg und Sach- eine Statio in dem wunderschönen während unseres Jubiläumsjahrs sem Wissensfundus schöpfend, sens Ministerpräsident Stanislaw Gotteshaus, das sich im eigenartigen sprach er bei uns zum Thema „Un- Tillich am 3. Mai 2017 im Pfarr- Stil einer Barockgotik präsentiert. zusammen mit dem jeweiligen gleiche Geschwister. Die Katholi- zentrum St. Salvator in Nördlingen. Ein hochinteressanter Besuch Bischof in allen bayerischen Diö- sche Akademie Bayern in der Der Gedankenaustausch des Bi- führte dann noch weiter nach zesen ein besonderes Treffen als Gründungslandschaft katholischer schofs und des Politikers, bei dem Pilsen. Festveranstaltung durchgeführt. Akademien“. auch der gegenseitige Respekt und die Sympathie der Gesprächspart- ner deutlich wurden, machte deut- Ganz bewusst fand übrigens kei- lich, wie die sehr speziellen Erfah- ne dieser Veranstaltungen in der Bi- rungen der katholischen Diaspora, schofsstadt selbst statt, sondern je- Kirche und Kultur unter denen sowohl Konrad Zdarsa weils an einem für das besprochene Am Beginn der Veranstaltungen als auch Stanislaw Tillich in der Thema typischen Ort. Auch dies ein mit den bayerischen Bischöfen stand DDR aufwuchsen, nutzbar gemacht ein Gedankenaustausch zwischen werden können für eine Kirche Signal, dass uns, soweit irgend mög- Kirche und Bildender Kunst. Der auch bei uns in ebenfalls zuneh- lich, an breiter Präsenz in Bayern Würzburger Diözesanbischof Dr. mend säkularisiertem Umfeld. gelegen ist, über die Dokumentation Friedhelm Hofmann – mittlerweile unserer Tagungen im Druck und emeritiert –, gilt aufgrund seiner in den digitalen Medien hinaus. Ausbildung, seines Interesses und Bei der Gesamtschau auf die sieben seiner fachlichen Qualifi kation als ausgewiesener Kunstexperte. Er Abende werden zugleich sieben sprach am 3. April 2017 mit einem Dimensionen unseres Auftrags der bedeutendsten deutschen Maler präsent, die unhintergehbar bleiben. der Gegenwart, Prof. Dr. h.c. Markus Deshalb haben wir sie in dieser Lüpertz. Die beiden fanden sich im Kirche und Staat Sonderausgabe aufwendig doku- Museum Georg Schäfer in Schwein- furt zusammen und diskutierten Im Alten Schloss auf Herren- mentiert und verstehen sie gleich- auch über die Wechselwirkungen chiemsee sprachen am 14. Juli Kar- sam als Visitenkarte des themati- der beiden immer wieder mal als dinal Reinhard Marx, auch Vorsit- schen Programms, dem wir uns Antipoden verstandenen Welten zender der Deutschen Bischofskon- verpfl ichtet wissen. Alle Diskuta- von „Kirche“ und „Kunst“, im Be- ferenz, und Professor Andreas Voß- nten und Referenten fanden Zeit, sonderen der Bildenden Kunst. kuhle, Präsident des Bundesverfas- sungsgerichts, anderthalb Stunden ihre Redebeiträge zu korrigieren Da die Beschäftigung mit zeit- über das Verhältnis von Kirche und und zu autorisieren. Dafür inten- genössischer Kunst einen Schwer- Staat. Das Thema war hochaktuell siven Dank! punkt der Akademiearbeit bildet, (wenige Tage zuvor war die ent-

4 zur debatte 6/2017 Themen „zur debatte“ scheidende Abstimmung im Bundes- Kirche und ihre lierter Kenner Afrikas, was genauso Kleines Dankfest tag über die „Ehe für alle“) und fand für Günter Nooke gilt. Beiden merk- Die Katholische Akademie genau an jenem besonderen histo- geistliche Mitte te man im Gespräch sehr deutlich Bayern in der Gründungsland- rischen Ort statt, an dem im Som- an, dass ihnen die Thematik nicht schaft katholischer Akademien mer 1948 der Verfassungskonvent Einen ganz eigenen Platz nahm nur aus berufl ichen Gründen sehr 1. Februar 2017 7 tagte, der die wichtigsten Vorarbei- die Jubiläumsveranstaltung im Bis- am Herzen liegt, sondern ein echtes ten für das Grundgesetz der Bun- tum Passau ein. Die geistliche Be- persönliches Anliegen ist. desrepublik Deutschland leistete sinnung und persönliche Ausrich- Bischof Dr. Friedhelm Hofmann und unter anderem auch die Kir- tung stand bei der Wallfahrt mit Über Afrika wurde nicht nur ge- und Prof. Dr. h.c. Markus Lüpertz chenparagraphen der Weimarer Bischof Dr. Stefan Oster SDB im redet, es war auch präsent. Michael Ein Akademiegespräch zu Reichsverfassung in das Grundge- Zentrum. Die Pilgergruppe der Aka- Kleiner von der Stabsstelle Weltkir- „Kirche und Kunst“ setz integrierte. Zum Abschluss fei- demie ging am 23. September von che des Erzbistums zeigte und er- 3. April 2017, Museum Georg erte der Kardinal mit allen Beteilig- der Wallfahrtskirche Heiligenstatt klärte einige Stücke der Ausstellung Schäfer in Schweinfurth 13 ten ein Pontifi kalamt bei den Be- nach Altötting, ins katholische „Farben des Senegal – Kunst aus nediktinerinnen auf der Fraueninsel. „Herz Bayerns“ und zu einer Eucha- der Bamberger Partnerdiözese Bischof Dr. Konrad Zdarsa und ristiefeier mit dem Bischof in der Thiès“. Und Bischof Joachim Oué- Ministerpräsident Stanislaw Tillich Gnadenkapelle. Bischof Stefan ge- drago von Koudougou in Burkina Ein Akademiegespräch zu staltete beim Pilgerweg vier Statio- Faso konnte bei der anschließen- „Kirche in säkularisiertem nen, auf denen er den Gedanken den Begegnung allen Fragenden Umfeld“ der Begegnung – basierend auf Tex- direkte Antworten aus erster Hand 3. Mai 2017, Pfarrzentrum ten des Lukasevangeliums – sehr geben. St. Salvator in Nördlingen 21 unterschiedlich und sehr persönlich interpretierte. Diese Wallfahrt ver- stehen wir zum einen als Dank an Bischof Dr. Rudolf Voderholzer, Gott für das Geschenk der 60-jäh- Bischof Dr. Tomáš Holub rigen Geschichte unserer Akademie, und Professor Klaus Unterburger und zum andern als Bittwallfahrt Die Ostausrichtung des Bis- und Ausdruck der Hoffnung, dass tums Regensburg in Geschichte er die Arbeit der Akademie und und Gegenwart alle Menschen, die sich mit ihr ver- 20. Mai 2017, Centrum Bavaria bunden wissen, auch in Zukunft Bohemia in Schönsee 29 beschirmen möge. Kirche und Reinhard Kardinal Marx und Nachhaltigkeit Professor Andreas Voßkuhle Ein Akademiegespräch zu „Kirche und Staat“ Ebenso hochrangig wie im ersten Liebe Leserinnen und Leser Halbjahr ging es dann nach der unserer „debatte“, Ihnen nun zu 14. Juli 2017, Schloss Herren- chiemsee/Insel Frauenwörth 37 Sommerpause weiter. Am 20. Sep- all diesen Themen eine anregende tember trafen im Ingolstädter Cani- Lektüre. Die möge erstens deutlich siusstift der Eichstätter Bischof Dr. machen, dass wir in der Akademie Bischof Dr. Gregor Gregor Maria Hanke OSB und der auch nach 60 Jahren quicklebendig Maria Hanke OSB und Vorstandsvorsitzende von Audi, und am Puls der Zeit sind, zwei- Professor Rupert Stadler Professor Rupert Stadler, zu einem tens Sie anstoßen, persönlich wei- Ein Akademiegespräch über Gespräch über Mobilität und Nach- terzudenken, und drittens Ihr In- „Nachhaltigkeit und Mobilität“ haltigkeit zusammen, das auch teresse wachhalten an der Akade- 20. September 2017, Orbansaal eigene existentielle Prägungen mit- mie für die nächsten Jahre (und des Katholischen Canisiusstifts einschloss. Auf sehr konstruktive vielleicht sogar Jahrzehnte). in Ingolstadt 45 Weise zeigten sich klare Unterschie- de, aber auch überraschende Ge- In diesem Sinne wünsche ich Kirche und Bischof Dr. Stefan Oster SDB meinsamkeiten. Während Bischof Ihnen und uns allen, der Katholi- Gregor Maria sehr deutlich auf weltkirchliche schen Akademie Bayern und den Dank- und Bittwallfahrt Grenzen des Wachstums und damit Verantwortung dafür Verantwortlichen auf allen nach Altötting auch nicht zuletzt der Mobilität Ebenen unserer Kirche gesegnete 23. September 2017, von hinwies und zu einer neu verstan- Einem ganzen Kontinent wid- Zeiten und glückliche Zukunft, Heiligenstatt nach Altötting 53 denen, notwendigen Askese aufrief, meten wir uns schließlich bei der um Zukunft menschenwürdig und siebten Veranstaltung. Am 13. Ok- Erzbischof Dr. Ludwig Schick generationengerecht gestalten zu tober war die Akademie zu Gast an und Günter Nooke können, formulierte Professor Stad- der Universität Bayreuth. Erzbi- Ein Akademiegespräch ler ebenso deutlich sein Vertrauen schof Dr. Ludwig Schick von Bam- über „Afrika und unsere in die Zukunft und in technische berg und Günter Nooke, der Afrika- Verantwortung“ Innovation, die Lösungen für die beauftragte der Bundeskanzlerin, 13. Oktober 2017, Iwalewa-Haus Zukunftsfragen bereithalten. trafen sich zum Gespräch über der Universität Bayreuth 59 „Afrika und unsere Verantwortung“ an einem besonders passenden Ort, dem „Iwalewa-Haus“, weil die Uni- Sommernacht der Künste versität genau dort einen For- Nachsinnen über die Schöpfung schungsschwerpunkt zu unserem 27. Juni 2017 66 südlichen Nachbarkontinent aufge- baut hat. Erzbischof Ludwig Schick ist in der Deutschen Bischofskon- Ihr Leitsätze der Akademie 68 ferenz verantwortlich für den Be- reich Weltkirche und ein ebenso lei- Msgr. Dr. Florian Schuller, Impressum 70 denschaftlicher Freund wie detail- Akademiedirektor

zur debatte 6/2017 5 6 zur debatte 6/2017 Kleines Dankfest Die Katholische Akademie Bayern in der Gründungslandschaft katholischer Akademien 1. Februar 2017, Tagungszentrum der Katholischen Akademie in München-Schwabing

Vor 60 Jahren, am 1. Februar 1957 Deutschland fand sich erst nach dem wurde die Katholische Akademie in Konzil der Mut und die Energie zur Bayern offiziell in Dienst genommen. Akademiegründung. In Hamburg war Der Stapellauf fand in der Aula der das 1973. Auf dem Dachgarten des Aka- Universität München statt. Mit der baye- demiegebäudes findet sich in Zeichen rischen Neugründung stach eine Institu- des internationalen Flaggen-Alphabets tion in See, die immer wieder als der Satz: „Wir haben alle den einen „Flaggschiff“ der Katholischen Akade- Himmel, aber nicht denselben Hori- mien in Deutschland bezeichnet wurde. zont.“ Eine Einsicht, die auf die Pro- grammatik der Akademien genauso zu- I. Das Flaggschiff trifft wie auf ihre Vielgestaltigkeit. Der Münchner Erzbischof Joseph Kardinal Ein Flaggschiff ist gemeinhin das Wendel formulierte es bei der Eröffnung größte, schnellste oder bekannteste 1957 so: „Verschieden sind die Wege, Schiff der Marine. Es fährt unter der auf denen wir zur Erkenntnis der Wahr- Flagge des Admirals, der von dort aus heit gelangen.“ die Flotte befehligt. Als die Katholische Akademie in Bayern den Anker lichtete, II. Wettlauf der Landesakademien wurde allgemein anerkannt, dass hier ein Schwergewicht die Fahrt aufnahm. Mit der Gründung der Akademie in Allerdings wäre kaum einer der anderen Bayern gelang es, die diözesane Zer- Akademien, die damals schon Segel ge- splitterung innerhalb eines Bundeslan- setzt hatten, eingefallen, von der Brücke des zu überwinden. Das wäre nun tat- der Münchner Akademie Befehle ent- sächlich ein Alleinstellungsmerkmal, gegen zu nehmen. Die Gründung der hätte nicht zeitgleich nordwestlich die Katholischen Akademien ist stark ge- Kiellegung für eine zweite Landesakade- prägt vom Partikularismus. Jede einzel- mie stattgefunden. Die Rabanus Maurus ne Einrichtung hat ihre ganz eigene Ge- Akademie der hessischen Bistümer lie- schichte, abhängig von den beteiligten ferte sich ein Kopf an Kopf-Rennen mit Personen, den zuständigen Bistümern den Bayern. Tatsächlich konnten die und den zugewiesenen Aufgaben. Eine Hessen mit einem Vorsprung auslaufen. zentrale Steuerung der Akademien fand Sie eröffneten ihre Akademie im Staats- nicht statt. theater Wiesbaden genau zwei Wochen Die Vorhut bildeten die Sozialakade- vor München. Allerdings hatten ihnen mien. Sie wurden vor allem in Anknüp- die Münchner den vorgesehenen Fest- fung an die Bildungsarbeit des Ver- redner Romano Guardini ausgespannt. bandskatholizismus schon bald nach So sprach in der hessischen Landes- Kriegsende eingerichtet. Diese oft noch hauptstadt an seiner Stelle Hans Urs Sozialinstitute genannten Einrichtungen von Balthasar. Der Aufbau in Frankfurt finden sich im westdeutschen Industrie- verlief deutlich mühsamer als in Bayern. Dr. Oliver Schütz, Leiter der Katholi- revier. Ihre Arbeit zielte auf die Ver- Unterschiedliche Vorstellungen über die schen Erwachsenenbildung Ulm, wirklichung der katholischen Sozialleh- Ausrichtung der Akademie prallten in erzählte die Gründungsgeschichte re. Sie waren aber auch Ausdruck einer beiden Fällen aufeinander, doch die unserer Akademie. Verlagerung der Initiative von den Ver- bänden zu den Bischöfen, eine von letz- teren gewollte Verlagerung. In der weiteren Entwicklung übernah- men die Sozialinstitute Wesensmerkmale der sich neu formierenden kirchlichen Akademien. Zu deren Gründung kam es in den 1950er Jahren und auch hier vor- nehmlich in diözesaner Trägerschaft, was den genannten Partikularismus ver- stärkte. Dieser wurde auch nicht über- wunden durch den Leiterkreis der ka- tholischen Akademien. Ab 1958 kam der Stab der Akademiedirektoren regelmä- ßig zusammen. Was aber eine katholi- sche Akademie sei, das war und ist bis heute dort Gegenstand der Diskussion. Immerhin fand durch dieses Gremium eine gewisse Abstimmung der Arbeit statt, ohne dass freilich eine Person oder Institution das Kommando über die Flotte ergreifen konnte. Für die Akademien in ihrer Unterschiedlichkeit gilt, was sich die Katholische Akademie Hamburg zum Motto gemacht hat. Sie gehört als späte Gründung zu den Kin- dern des Konzils. Die Überzeugungen, welche die Akademien trugen, hatten von Anfang an Richtung Konzil ge- drängt. Man verfolgte das Zweite Vati- Prof. Dr. Richard Heinzmann erlebte als … genauso wie der damalige Student … ebenso wie Franz von Bayern, der kanische Konzil mit größter Aufmerk- junger Mann die Eröffnungsveranstal- Prof. Dr. Günter Niggl und … mit dem damaligen Oberhaupt des samkeit. Die bayerische Akademie hielt tung der Katholischen Akademie am Hauses Wittelsbach, Herzog Albrecht, sogar eine Tagung während des Konzils 1. Februar 1957 … in die Universität München gekommen in Rom ab. An manchen Orten in war.

zur debatte 6/2017 7 Akademien ein entscheidendes Vorbild für die katholischen Gründungen. In München wurde natürlich Maß genom- men an der bereits 1947 gegründeten Evangelischen Akademie Tutzing. Allerdings gibt es durchaus eine eigen- ständige Entwicklung im Katholizismus auf dem Weg zur Akademiewerdung. Die bereits erwähnten Sozialinstitute, aber auch die Bildungsheime im Kon- text der Katholischen Aktion entstan- den aus innerkatholischem Antrieb, ad- aptierten dann aber das Akademiemo- dell als Organisationsform der Stunde. Neben den evangelischen wurden auch die frühen katholischen Akademien zum Vorbild für weitere Gründungen im Katholizismus. Bei den Vorüberle- gungen in München wurden zum Bei- spiel Informationen über die damals schon bestehende Akademie der Diöze- se Rottenburg einbezogen. München wiederum leistete später Geburtshilfe in Schwerte.

Neben den evangelischen wurden auch die frühen ka- tholischen Akademien zum Vorbild für weitere Grün- dungen im Katholizismus.

Zu erwähnen sind natürlich auch die Bischöfe. Die Akademien entstehen fast durchweg in Anbindung an die Bistümer. Ein zur Hierarchie konkurrierender Dr. Karl Forster, der erste Direktor der Auftrag von Kardinal Joseph Wendel Verbandskatholizismus mit überdiöze- Katholischen Akademie Bayern (li.), die Grundkonzeption der Akademie sanen Strukturen, gar mit eigenen Aka- zusammen mit Dr. Karl Böck aus dem ausgearbeitet hat. demien, war ausdrücklich nicht gewollt. Bayerischen Kultusministerium, der im So steht an der Wiege mancher Akade- mie ein durchaus integralistischer Im- puls. Viele Bischöfe favorisierten den Schulungsgedanken. Laien sollten unter dem Vorzeichen der Katholischen Akti- Differenzen zwischen den hessischen on im Sinne des Episkopats geschult Diözesen waren größer. In Bayern wirk- werden und dann als Multiplikatoren te integrierend Kardinal Wendel, der für die Christianisierung der Gesell- sich als kluger Steuermann der Akade- schaft wirken. Tatsächlich wurden für miegründung angenommen hatte. Zu diesen Zweck Diözesanbildungsheime Recht wurde das Stammhaus der Aka- errichtet, etwa in Bensberg oder in Frei- demie in München nach ihm benannt. burg. Sie schwenkten bald in Erkennt- In der Folge lag der hessische Großseg- nis der Zeichen der Zeit auf Akademie- ler im Vergleich zum bayerischen nicht Kurs um. Bei fast allen frühen Akade- ganz so gut auf Kurs. Entsprechend fiel miegründungen musste sich eine welt- das Fazit nach einigen Jahren so aus: offene Position gegen ein bischöfliches Man befinde sich – so zu lesen im Jah- Instruktionsmodell durchsetzen. Mün- resbericht der hessischen Akademie von chen blieb diese Phase weitgehend er- 1964 – im Vergleich mit den übrigen spart. Das lag zum einen an Erzbischof Katholischen Akademien „auf der obe- Wendel, der einen weltoffenen Kurs ren Ebene einer Skala, deren Spitze von vertrat. Ganz entscheidend aber für die der Katholischen Akademie in Bayern Verlagerung von der Schulung hin zu eingenommen wird.“ dem, was Akademien charakterisiert – Wenn also am Flaggschiff der katho- Begegnung, Dialog und Offenheit –, wa- lischen Akademien die bayerische Fah- ren hier die Kreise katholischer Laien. ne wehte, dann schon aufgrund der Sie brachten vor allem die Akademien schieren Größe und den damit verbun- auf ihren zeitgemäßen Kurs, in Bayern denen Möglichkeiten dieses „Schlacht- wie andernorts. Wobei die bayerische schiffes“. Im Vergleich dazu waren die Gründung insofern heraussticht, als diözesanen Fregatten in überschaubare- dass nirgendwo sonst eine so große ren Gewässern unterwegs; sie mussten Zahl von Wissenschaftlern an Konzep- wendiger sein, um in unterschiedlichen tionen, Aufbau und Begleitung der Aka- und konkreten Einsätzen vor Ort zu be- demie beteiligt war. Ihr Selbstbewusst- stehen. An sie wurden neben der Aka- sein hatten diese Laien gewonnen durch demiearbeit weitere Funktionen heran- ihre Herkunft aus dem Verbandskatho- getragen, etwa in der lokalen Erwachse- lizismus, durch die Erfahrungen der nenbildung oder in Fort- und Weiterbil- NS- und Kriegszeit, durch ihre solide dung von Mitarbeitern. Zu ihnen zählt Bildung und berufliche Position, durch die Stuttgarter Gründung von 1951, die Prägung in Öffnungsbewegungen des als erste den Titel einer Katholischen Katholizismus wie Quickborn, Jugend- Akademie trug. Dies war kein Zufall, bewegung und im Umfeld von „Hoch- entstand sie doch quasi in Sichtweite land“. Sie wollten nicht in Monologen der kirchlichen Ur-Akademie, der schon belehrt werden, sondern ins ernsthafte 1945 eröffneten Evangelischen Akade- Gespräch eintreten über die drängen- mie in Bad Boll am Fuße der Schwäbi- den Fragen der Zeit. Für München zu schen Alb. nennen wären in diesem Kontext die deutschen Mitglieder des „Internatio- III. Die Lotsen der Gründerzeit nalen Instituts für Sozialwissenschaft Prof. Dr. Romano Guardini hielt den und Politik“, der aus dem Beuroner Festvortrag bei der ersten Akademie- Die neuartigen Gebilde der kirch- Kontext entstandene „Münchner Hoch- veranstaltung. lichen Akademien wurden von ver- schulkreis“, der „Bayerische Presseclub“, schiedenen „Lotsen“ auf Kurs gebracht. die „Christliche Loge“, die „Paulus-Ge- Unbestritten sind die evangelischen sellschaft“ und die „Katholische Aktion“.

8 zur debatte 6/2017 Entscheiden waren aber auch Einzel- wieder überarbeitet wurde, ganz zu persönlichkeiten, die sich ab 1954 im schweigen von den Akademien, die im „Verein der Freunde der Katholischen Lauf der Zeit untergingen. In München Akademie“ zusammenfanden. Exempla- wurden drei Grundfunktionen der Aka- risch genannt werden können der Re- demie definiert: dakteur Helmut Ibach, der von Carl Muth inspirierte Kösel-Verleger Hein- 1. Die wissenschaftliche Vertiefung des rich Wild, der Philosoph Hermann katholischen Weltverständnisses Krings, die Publizisten Friedrich Des- sauer und Bernhard Zittel. Diese Freun- 2. Die Begegnung von Glaube und Welt de der künftigen Akademie verstanden im gegenseitigen Austausch sich als Initiativgruppe mündiger Laien und wandten sich deutlich gegen eine 3. Die Förderung der katholischen Bil- Klerikalisierung des Projekts. Die Aka- dungsarbeit demie sollte keine „Stätte der katholi- schen Volksbildung oder katholischen Für jeden dieser Bereiche wurde ein Verbandsschulung“ sein, so wörtlich, eigener Rat eingerichtet und auch diese vielmehr war der Grundgedanke der ei- sind bis heute aktiv. In das Gründungs- ner „Begegnung zwischen Kirche und jahr 1957 zurück reichen zudem die Welt“ in offenen Gesprächen. Auch Hochschulkreise. Sie zielen auf eine in- wünschten sie die Akademie als einen terdisziplinäre Begegnung von Universi- „Ort des freimütigen innerkirchlichen tätslehrern und eine Begegnung der ver- Meinungsaustausches“. Glaubenswahr- schiedenen Fachgebiete mit Theologie heiten sollten hier auf die konkrete ge- und katholischem Glauben. Diese brei- schichtliche Situation bezogen werden. te Verzahnung der Akademie mit Wis- Zur Klärung der aktuellen Fragen woll- senschaftlern an mehreren Hochschul- ten sie auch fremde Positionen hören. standorten ist ein Proprium der Bayeri- Erzbischof Wendel unterstützte diese schen Akademie. Die offene Tagungsar- Ausrichtung. Womit sich die Laien nicht beit begann ebenfalls 1957. Wie konnte durchsetzen konnten, war die Rechts- die neue Einrichtung auf sich aufmerk- form eines eingetragenen Vereins, die sam machen, wie erregt man im Bayern eine größtmögliche Unabhängigkeit si- der späten 1950er-Jahre die öffentliche chern sollte. Übergangsweise führte ein Aufmerksamkeit? Mit einer Tagung ge- Gründungskuratorium im Auftrag des meinsam mit der SPD. Das war der gro- Erzbischofs die Geschäfte. Letztlich ße Aufreger 1958. Damit aber demonst- wurde als Träger eine kirchliche Stif- rierte die Akademie die Ernsthaftigkeit tung des öffentlichen Rechts gewählt, ihres Anliegens einer ernsthaften Begeg- die für katholische Verhältnisse eine nung mit den gesellschaftlich relevanten durchaus beachtliche Selbständigkeit Gruppen und Themen. und Freiheit der Einrichtung zulässt. Erwähnenswert ist schon, dass dieses Der juristische Stiftungsakt mit Unter- Konstrukt all die Jahre gehalten hat. schrift der Bischöfe und staatlicher Ge- Der hessischen Akademie war das nicht nehmigung fand allerdings erst 1962 gegeben. Die Fliehkräfte der beteiligten statt. Diözesen waren zu groß für eine Lan- Joseph Kardinal Wendel eröffnete am deseinrichtung. Das gemeinsame Pro- 1. Februar 1957 die erste Veranstaltung IV. Segel setzen und Kurs halten jekt zerbrach. Übrig geblieben sind dort der Katholischen Akademie Bayern in Diözesanakademien. Auf der anderen der Großen Aula der Universität Die Navigation bis dorthin war nicht Seite entstand 1990 mit der Katholi- München. ganz einfach gewesen. Die an den Pla- schen Akademie in Berlin eine neue nungen Beteiligten wollten unterschied- überregionale Einrichtung, geplant ur- liche Kurse einschlagen. Die nicht kon- sprünglich für die Katholiken der DDR, fliktfreie Harmonisierung dieser Vor- dann – überrascht durch den Mauerfall überlegungen sollte sich aber langfristig – getragen von den Bistümern der neu- Später kam das Caritas-Pirckheimer- 1997 abgewrackt wurde. Zugleich aber als nachhaltig erweisen. Im Grund gel- en Bundesländer. Haus in Nürnberg und die Katholische entstanden in einigen Mitträgerbistü- ten die damals gefundenen Festlegun- Ein Thema aber verbindet das Span- Akademie Augsburg hinzu, die mern eigene Diözesanakademien, in Er- gen bis heute. Die Katholische Akade- nungsverhältnis einer überregionalen freilich 2001 unterging und vielleicht im furt, Halle und Dresden – gemäß dem mie in Bayern weist damit programma- Akademie zu den gleichzeitig existieren- heutigen „Akademischen Forum“ wie- Grundsatz: jedem Bistum seine Akade- tisch und konzeptionell eine Kontinui- den lokalen Diözesanakademien. In der erstand. In Berlin verdrängte zwar mie. Nicht nur in München steht man tät auf, die sie von anderen Häusern un- Würzburg gab es schon seit 1950 mit der die neue Hauptstadtakademie die ältere also immer wieder vor der Frage: Wie terscheidet, deren Ausrichtung immer Domschule eine regionale Akademie. Westberliner Diözesanakademie, die viel Regionalität ist notwendig, wie viel

Für eine Neuformulierung der Grund- Studien- und Kontaktreise nach Israel orientierungen von CDU und CSU (21. Februar bis 2. März 1975). werben der CSU-Vorsitzende Franz Josef Julius Kardinal Döpfner und Prof. Dr. Strauß und der CDU-Vorsitzende Dr. Joseph Ratzinger auf dem Marktplatz Helmut Kohl. von Bethlehem.

zur debatte 6/2017 9 Predigt beim Gottesdienst zum 60-jährigen Bestehen der Katholischen Akademie Bayern

Erzbischof em. Friedrich Kardinal Wetter

Wir schauen heute zurück auf die Gründung unserer Akademie am 1. Fe- bruar 1957 und die 60 Jahre, die seit- dem verflossen sind. Diese Jahre waren voll Leben. Unzählige Menschen kamen hierher, um miteinander nach der Wahrheit zu suchen, die Welt und den Menschen besser zu verstehen, Wege zu finden, die in die Zukunft weisen. Viele konnten hier die Kirche erfahren als Ort des Dialogs, des freien, kritischen Denkens. Dafür gilt es zu danken. Dank gebührt vor allem denen, die der Arbeit der Akademie Gestalt gege- ben haben, den Direktoren, den Mitglie- dern der Gremien, den für die Veran- staltungen verantwortlichen Studienlei- tern, den Referentinnen und Referenten und all denen, die für die Gastlichkeit dieses Hauses gesorgt haben. Ein ganz besonderer Dank gilt am heutigen Tag dem Gründer Kardinal Joseph Wendel. In Weitsicht hat er mit unserer Akademie für die Kirche in Bayern begonnen, was acht Jahre später das Zweite Vatikanische Konzil mit der Konstitution „Gaudium et Spes – Die Kirche in der Welt von heute“ der gan- zen Kirche auf ihrem Weg in die Zu- kunft mitgegeben hat. Man könnte sa- gen, unter diesem Gesichtspunkt habe das Konzil bei uns bereits am 1. Februar 1957 begonnen. Darum trägt das Haus unserer Akademie mit Recht seinen Na- men. Für all das danken wir heute Gott, der mit segnender Hand die Akademie begleitet hat. Doch er hat uns nicht nur mit seinem Segen begleitet und gleich- Akademiedirektor Dr. Florian Schuller sam aus himmlischer Höhe verfolgt, (li.) zeigt Kardinal den was wir machen, sondern er gehört neuen Ambo in der Kapelle. Bildhauer auch dazu, spitz formuliert, er hat mit- Friedrich Koller (re.) hatte ihn einige gemacht. Was heißt das? Tage vor dem Dankesfest aufgestellt. Am Gründungstag sagte Romano Guardini, der die Festrede gehalten hat- te, in einem Interview über die Aufgabe der Akademie: Wir brauchten einen Blick auf die Welt „von einem Standort her, der selbst nicht zur Welt gehört“. bedeutet von Gott her, sehen. „Ich bin Menschen den Menschen selbst voll Rolle“ einnimmt, wenn es darum geht, Wo finden wir einen solchen Standort, das Licht der Welt“ (Joh 8,12), sagt Je- kund und erschließt ihm seine höchste bei wichtigen ethischen, politischen und der nicht zur Welt gehört? Einen sol- sus von sich. Das Konzil greift dieses Je- Berufung“ (GS 22). So führt uns vom gesellschaftlichen Fragen immer wieder chen Ort hat sich schon Archimedes suswort auf und beginnt die Kirchen- Standort des Glaubens das Licht Christi Gott und den christlichen Glauben ins vor zweieinhalb Jahrtausenden ge- konstitution mit der programmatischen zu einem tieferen Verständnis des Men- Spiel zu bringen. wünscht: „DÒj moi poã stó kai kin»sw Aussage „Lumen gentium Christus est – schen und seiner Welt. Darum brauchen Doch Gott bringt sich auch selbst ins thn ghn“ – „Gib mir einen Ort, wo ich Christus ist das Licht der Völker.“ Ich wir ihn. Spiel, wenn er in unserem Suchen und mich hinstellen kann, und ich werde die habe gehört, diese Eingangsformel sei Indem Gott uns seinen Sohn als Ringen um die Wahrheit sein Licht auf- Welt bewegen.“ Mit dem von ihm ent- von einer Arbeitsgruppe, die an der Kir- Standort für unseren Blick auf die Welt leuchten lässt. deckten Hebelgesetz könnte er die gan- chenkonstitution arbeitete, hier in unse- gibt und sie uns in seinem Licht sehen Mit den vielen, denen wir heute zu ze Welt aus den Angeln heben. Doch rer Akademie gefunden worden. lässt, ist er selbst an der Arbeit der Aka- danken haben, danken wir darum vor niemand konnte ihm diesen Standort Im Lichte Christi schauen wir auf demie beteiligt. Er stellt uns jedoch die allem Gott. Er selbst war in diesen 60 geben. den Menschen und seine Welt. „Ich bin Wahrheit nicht fertig vor Augen, son- Jahren dabei. In seinem Sohn Jesus Wir sind in einer besseren Situation. das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, dern lässt sie uns suchen. Gott handelt Christus hat er uns ermöglicht, in sei- Wir haben diesen Standort: Gott gibt wird nicht in der Finsternis umherge- nicht am Menschen vorbei, sondern mit nem Licht auf den Menschen und seine ihn uns in seinem Sohn Jesus Christus, hen, sondern wird das Licht des Lebens uns. Er ist dabei, aber das Suchen er- Welt zu schauen und miteinander die einen Standort, der nicht von dieser haben“ (Joh 8,12), sagt Jesus. Sein Licht spart er uns nicht. Wahrheit zu suchen, um „in der Wahr- Welt ist. verleiht unserem Erkennen eine neue Darum suchen wir miteinander, las- heit zu leben“ (2 Joh 4). Durch den Glauben werden wir mit Tiefe. In der Konstitution „Gaudium et sen uns belehren, denken miteinander Gott war in diesen 60 Jahren immer Jesus Christus verbunden, dass wir mit Spes“ weist uns das Konzil zum Ver- und streiten auch miteinander. Die un- dabei. Dafür danken wir ihm in dieser ihm auf die Welt schauen und sie in sei- ständnis des Menschen darauf hin, zähligen Veranstaltungen in diesen 60 Eucharistiefeier und bitten ihn, er möge nem Licht sehen. Der Glaube ist eine wenn es sagt: „Christus, der neue Adam, Jahren – oft mit bedeutenden Personen auch weiterhin bei uns bleiben und uns Standortverlagerung und lässt uns die macht in der Offenbarung des Geheim- der Zeitgeschichte – haben gezeigt, dass helfen, die Wahrheit zu suchen, um in Dinge mit den Augen Jesu, und das nisses des Vaters und seiner Liebe dem die Akademie auch eine „Vordenker- der Wahrheit zu leben. Amen.

10 zur debatte 6/2017 Überregionalität ist sinnvoll? Denn von Arbeitsbeginn an war die Bayerische Akademie an vielen Orten des Frei- staats präsent. Einen klaren Vorteil hat die überregionale Konstruktion in der öffentlichen Wahrnehmung, beim Flag- gezeigen in der Gesellschaft. Das Ni- veau der Veranstaltungen, die breite Vernetzung, die hauseigene Zeitschrift und viele Publikationen verschaffen eine Aufmerksamkeit und Beachtung, die kleineren Booten so nicht zuteil wird.

V. Positionsbestimmung

Das liegt sicher auch am Heimat- hafen. Und damit einige Überlegungen zur Position. Wo stationiert man strate- gisch geschickt eine Akademie? Bei den frühen Gründungen gibt es eine klare Tendenz raus aus grauer Städte Mauern, noch von Kriegszerstörung geprägt, hin- aus auf die grüne Wiese. In den Nach- kriegsjahren hatte ein Akademieaufent- halt auch Erholungsqualität. Aber na- türlich steckt mehr dahinter, denkt man etwa an die platonische Akademeia, die der ganzen Bewegung ihren Namen gab. Das peripatetische Element des Umherwandelns beim Gespräch setzt eine entsprechende Umgebung voraus. In Stuttgart ging man dazu aus dem Tal- kessel hinauf auf die Höhe über der Stadt mit einem Standort direkt am Schloss und Schlosspark Hohenheim. Ganz ähnlich hier in München, wo die Akademie ein Schlösschen umfasst und der Englische Garten zum Wandeln ein- lädt. Übrigens in erstaunlicher Paralleli- tät zur evangelischen Schwester in Tut- Blick in die Große Aula bei der zing, allerdings ländlich situiert, entfernt Eröffnungsveranstaltung. von der Großstadt gelegen. Das ist durchaus charakteristisch für die frühen evangelischen Gründungen, etwa für die Ur-Akademie in Bad Boll. Man den- ke auch an Loccum und Bad Herrenalb Wechs, dem dabei vor allem an Funk- dend dafür, dass der gewagten neuen Bischöfe waren zuvor Akademiedirek- – Rückzugsorte, für die man Zeit mit- tionalität, Einfachheit und stiller Größe Institutionsform Erfolg beschieden war. toren gewesen. Auch der amtierende bringen muss. Es ist interessant, dass lag. Die ersten Direktoren waren erstaun- Münchner Erzbischof ist an der Kom- der vermeintlich urbanere Protestantis- lich jung. Zu nennen ist Alfons Auer in mende in Dortmund Akademieleiter ge- mus zunächst die Provinz besetzt, wäh- VI. Der Kapitän Stuttgart. In Freiburg war es Klaus wesen. rend die katholischen Gründungen in Hemmerle – nicht der einzige Akade- In München wäre es fast zu einem die Städte gingen: Dortmund, Aachen, Ein Blick in die Geschichte der Aka- mieleiter, der später zu bischöflichem einmaligen Konstrukt gekommen, einer Münster, Stuttgart, Freiburg, Würzburg demien wäre unvollständig ohne die Rang aufstieg. Die Stuttgarter Akade- Doppelspitze. Pate stand hier der Ver- und München. Der Standort München „Kapitäne“. Die Akademieleiter waren mie ist geradezu eine Bischofsschmiede: bandskatholizismus mit seiner Tradition war natürlich bewusst gewählt und hart neben den Gründerfiguren entschei- Zwei der drei letzten Rottenburger einer gemeinsamen Leitung durch einen erkämpft gegen Eichstätt, Regensburg, Fürstenried und andere Vorschläge. Ähnliche Kämpfe gab es in Stuttgart, wo man die katholische Akademie zu- nächst auf die Schwäbische Alb, in Frei- burg dagegen in den Schwarzwald pflanzen wollte. Für eine Einrichtung, die sich mit den drängenden Gesell- schaftsfragen auseinander setzen und am Puls der Zeit sein möchte, erwies sich die Präsenz in der Metropole als glücklich. Braucht es dafür ein eigenes Haus? Ja, weitgehend wurde ein Akademiege- bäude mit eigener Atmosphäre für uner- lässlich gehalten. Dennoch mussten manche Akademien bestehende Gebäu- de wie leerstehende Seminare oder Klöster beziehen. Favorisiert wurden freilich Neubauten, in denen sich das Akademiegemäße architektonisch aus- drückt. Ein Muss war etwa der Klub- raum. Aber auch ein damals nicht selbst- verständlicher Standard wie Duschen auf den Zimmern. Die Ausnahme blie- ben virtuelle Akademien, also Einrich- tungen ohne festes Tagungshaus; die Rabanus-Maurus-Akademie war lange eine solche. In Bayern aber sah man die Notwendigkeit eines Stammhauses. Da dies zu finden sich als nicht einfach erwies, verfügte Kardinal Wendel dann doch, was man zunächst vermeiden wollte: Arbeitsbeginn ohne eigenes Haus. „Konstituierung durch Arbeit“ Die Pressekonferenz am 24. Januar Staatsarchivrat Dr. Bernhard Zittel, nannte er das. Aber schon 1962 konnte 1957, in der Direktor Dr. Karl Forster Prof. Dr. Michael Schmaus, Eichstätts das eigene Gebäude in Schwabing bezo- (li.) über die Gründung der Akademie Oberbürgermeister Dr. Hans Hutter und gen werden, ein Neubau nach Plänen informierte. Zu sehen sind noch (v.l.n.r.) Prof. Dr. Friedrich Asselmeyer. des Augsburger Architekten Thomas

zur debatte 6/2017 11 Am 19. November 1980 kommt Papst Begegnung mit Künstlern und Journa- Johannes Paul II. zum ersten Mal nach lis ten, die von der Katholischen Deutschland. Im Herkulessaal der Akademie organisiert wird. Münchner Residenz gibt es eine

geistlichen Präses und einen Laienprä- sie die Geschichte des Katholizismus in Zu denken ist aber auch an das sen, stand er doch mehr als 30 Jahre auf fekten. Letztlich wurde nur ein Akade- der NS-Zeit. Nach mehrjähriger Pla- Hauspersonal. Schauen wir deshalb, der Brücke des Flaggschiffs. Dass er mieleiter vorgesehen, eng an den Erzbi- nung begann sie hier 1962 mit der Ar- drittens, in die Kombüse. Man könnte Recht hat, zeigt die vitale Feier der Aka- schof angebunden und zugleich mit ei- beit. Zehn Jahre später nahm sie ihren die Akademien auch kulinarisch be- demie zu ihrem 60-jährigen Bestehen ner starken Position versehen. Versu- Sitz in Bonn. Sie dehnte ihre Forschun- trachten. Der Smutje ist vielleicht einer mit vielen, die zum Gelingen dieses Un- che, einen Laien zu installieren, schei- gen auch auf die Nachkriegszeit aus, da- der wichtigsten Mitarbeiter. Zu einer ternehmens beigetragen haben und bei- terten, was von einigen Gründerperso- mit auch auf die Geschichte der Akade- gelungenen Tagung gehört neben dem tragen. Bleibt ihr für die Weiterfahrt nen als Anzeichen einer Klerikalisie- mien. In ihrer Publikationsreihe er- geistigen auch der leibliche Genuss. Die Mast- und Schotbruch zu wünschen, ei- rung gedeutet wurde – zumal die hessi- schien 2004 meine Dissertation über die Agora, das Forum, das die Akademie nen gewogenen Himmel und Gottes sche Akademie als erste überhaupt tat- Gründung der katholischen Akademien. Geleit. „ sächlich von einem Laien geführt wur- Sie stellt die Gründungsgeschichte um- de. Versöhnlich musste da in München fänglich dar, während dieser Beitrag le- Ohne die Kirchensteuer, die Literatur: die Besetzung der Leitung mit dem jun- diglich in den Ausguck zu einem Über- gen Kleriker Dr. Karl Forster (1928- blick über die Akademienwelt mitnimmt. dank Wirtschaftswunder in Oliver M. Schütz, Begegnung von Kir- 1981) stimmen. Ins Amt kam er auf An- Aber es gibt auch noch mehr zu den 1950er Jahren zu spru- che und Welt. Die Gründung Katho- raten von Professor Michael Schmaus, ergründen. Daher abschließend drei lischer Akademien in der Bundesrepu- bei dem er als Assistent wirkte, und mit launige Forschungsdesiderata zur Aka- deln begann, aber auch ohne blik Deutschland 1945-1975 (= Veröf- Unterstützung von Romano Guardini. demiengeschichte. staatliche Zuschüsse wären fentlichungen der Kommission für Zeit- Er gehört in die Reihe der jungen, pro- Erstens zur Schaumweinsteuer. Bis geschichte, Reihe B, Bd. 96), Paderborn gressiven Gründungsdirektoren, die heute zahlen wir auf Sekt Steuern, die Akademien von dieser Qua- 2004. auch den Mut hatten, mit ihren Bischö- 1902 zur Finanzierung der kaiserlichen lität nicht denkbar. fen zu streiten, wenn sich diese über be- Kriegsflotte eingeführt wurden. Leider Hermann Boventer, Das Katholische im stimmte Akademiethemen oder Refe- kann das Akademienflaggschiff darauf Zeitbewusstsein. Zur Entstehungsge- renten beschwerten, was durchaus vor- nicht zurückgreifen. Aber die Entwick- sein will, ist nicht nur Ort der Begeg- schichte der Katholischen Akademien kam. lung der Akademiefinanzen ist ein inte- nung und des Gesprächs, das ist eben nach 1945, in: ders. (Hrsg.), Evange- ressantes Thema. Ohne die Kirchen- auch Ort des Marktes und der Verpfle- lische und Katholische Akademien. VII. Ein Blick zurück und nach vorn steuer, die dank Wirtschaftswunder in gung. Die Stuttgarter Akademie hat es Gründerzeit und Auftrag heute, Pader- den 1950ern zu sprudeln begann, aber auf die Kurzformel gebracht: „Dialog born 1983. Einer Akademie steht es an, die eige- auch ohne staatliche Zuschüsse wären und Gastfreundschaft“. Der frühere ne Geschichte mit wissenschaftlichem Akademien von dieser Qualität nicht Münchner Akademiedirektor Franz Bernhard Zittel, Gründungsgeschichte Anspruch aufzuarbeiten, auch im Sinne denkbar. Auch dies ist sehr ortsabhän- Henrich kommentierte einmal die Ta- der Katholischen Akademie in Bayern, einer Selbstvergewisserung. Hier leistete gig. gung einer evangelischen Akademie im München 1982. München Pionierarbeit. Bereits zum Zweitens: die Matrosen. Was ist ein Norden mit dem Thema: die Unfähig- 25. Gründungsjubiläum 1982 legte Schiff ohne seine Crew? Es wäre span- keit, Feste zu feiern. Schmunzelnd diag- Bernhard Zittel ein entsprechendes nend, einmal die Biographien der Studi- nostizierte er, bei aller sonst gelungenen Werk vor. Zeitgeschichte hatte einen be- enleiter an den katholischen Akademien ökumenischen Zusammenarbeit, an die- sonderen Anknüpfungspunkt in dieser anzusehen, was sie bewirkt haben, was ser Stelle gäbe es dann doch einen mar- Akademie. In ihrem Schlepptau befand aus ihnen geworden ist. Manche stiegen kanten Unterschied. Für die Münchner sich die Kommission für Zeitgeschichte. vom Matrosen zum Kommandanten Akademie bekräftigte er jedenfalls: „Wir Als wissenschaftliches Institut erforscht andernorts auf. haben Feste gefeiert.“ Er muss es wis-

12 zur debatte 6/2017 Bischof Dr. Friedhelm Hofmann und Prof. Dr. h.c. Markus Lüpertz Ein Akademiegespräch zu „Kirche und Kunst“ 3. April 2017, Museum Georg Schäfer in Schweinfurt

Florian Schuller: Herr Bischof, was waren Ihre ersten Erfahrungen mit Kunst?

Bischof Friedhelm Hofmann: Diese hatte ich in meiner Heimatkirche in Köln. Da hatte Toni Zenz nach dem Zweiten Weltkrieg Figuren geschaffen, die von der Mehrheit der Leute abge- lehnt wurden. Aber diese Figuren haben mich ständig zu Auseinandersetzungen mit der Kunst geführt. Sie kennen viel- leicht alle den „Hörenden“ mit den gro- ßen Ohren, den Toni Zenz geschaffen hat. Er war einer, der Mut hatte, als jun- ger Künstler gegen den Zeitgeist nach dem Zweiten Weltkrieg zu arbeiten, und Werke zu schaffen, die heute Gültigkeit haben.

Florian Schuller: Herr Professor Lüpertz, was sind Ihre ersten Erfahrun- gen mit Kirche? Oder mit Glauben, oder Religion?

Markus Lüpertz: Meine Mutter ist evangelisch, mein Vater katholisch. Die Mutter kümmerte sich um die Erzie- hung der Kinder, also wurde ich evan- gelisch getauft und konfirmiert, bin dann aber, also sehr früh, zur Kunst ge- kommen und habe in der katholischen Kirche das gefunden, was ich unter kul- Das Podium im Museum Georg Schäfer turellem Reichtum verstehe. Ich bin in Schweinfurt: Prof. Dr. h.c. Markus dann in Maria Laach im Kloster gewe- Lüpertz, Akademiedirektor Dr. Florian sen und katholisch geworden. Ich habe Schuller und Bischof Dr. Friedhelm das bis heute nicht bereut, weil in der Hofmann von Würzburg (v.l.n.r.). katholischen Kirche noch die Erinne- rung daran wach ist, dass die Kirche nicht nur ein sozialer, den Psychologen ersetzender Hilfsverein ist, sondern dass sie eine große, gigantische kulturelle Markus Lüpertz: Ich habe sie nicht in den 50er Jahren –, sondern etwas Bischof Friedhelm Hofmann: … weil Verantwortung hat. Deshalb ist sie mei- gefunden, bis ich dann in einem Gift- Eigenes, Deutsches, oder, deutsch ist ich mir folgendes überlegt habe: Wenn ne spirituelle oder mystische Heimat. schrank, so nannte man das, meine Ver- vielleicht das falsche Wort, etwas Terri- ich wirklich mit meinem Studium an fehlungen habe nachlesen dürfen und toriales, denn in der Kunst gibt es nichts der Düsseldorfer Kunstakademie Erfolg Florian Schuller: Sie beide sind feststellen müssen, dass ich nach deren Nationales, aber es gibt das Territoriale. hätte, was ja gar nicht sicher ist, wüsste Rheinländer, Bischof Hofmann von Vorstellung zu Recht von der Akademie Beuys hat es also verstanden, dies in ei- ich nicht, ob ich innerlich zufrieden Geburt, Professor Lüpertz durch das gewiesen wurde. Es hatte nichts mit nem gigantischen ästhetischen Umbruch wäre und ich nicht immer irgendetwas Schicksal. Und Sie sind beide Kinder künstlerischer Eignung zu tun, sondern fast philosophisch umzusetzen. Er hat nachtrauere. Dann habe ich mich ganz der 50er Jahre und haben in Ihrem je- es waren physische Auseinandersetzun- damit ein ganz anderes kulturelles Bild klar für die Theologie entschieden. Aber weiligen Bereich starke Umwälzungen gen. Aber das ist wieder etwas anderes. auf Deutschland geworfen, bei dem wir weil ich schon Latein, Griechisch und erlebt. Diese dreifache Prägung – Rhein- Infolgedessen bin ich also Anfang der alle dann auch Chancen hatten, inter- Hebräisch im Abitur hatte, war ich im länder, Erfahrung der 50er Jahre, radi- 60er Jahre nach Berlin gegangen. Berlin national zu segeln und nicht immer mit Universitätsstudium frei, über die Theo- kale Umbruchsituation –, was ist bei war viel politischer als das Rheinland. der fürchterlichen Vergangenheit kon- logie und Philosophie hinaus andere Ihnen hängengeblieben? Das Rheinland war kulturell aufregen- frontiert zu werden. Fächer zu belegen. der, es hatte großartige Leute wie Joseph In Bonn habe ich dann die 68er-Re- Markus Lüpertz: Ich bin zwar aus Beuys. Am Niederrhein, in dieser mysti- Bischof Friedhelm Hofmann: Ich volution erlebt. Das hat mich auch poli- Böhmen über Sachsen ins Rheinland schen Gegend, wo die Nebel wabern habe nach dem Krieg volle Kirchen er- tisch interessiert und wach gemacht. gekommen, dann aber schon 1960 nach und die Dunkelheit zuhause ist, wo der lebt. Das hat mich geprägt. Ich bin sehr Aber ich habe zum Glück während des Berlin gegangen. Insofern habe ich das Schatten lebt, in dieser unendlichen behütet aufgewachsen und war in Neuss Theologiestudiums auch am Atelier für Rheinland zehn Jahre erlebt und eine Weite des Niederrheins, wo noch Geis- in einem bischöflichen Internat, hatte Kunst teilnehmen können und einiges Art Heimatgefühl entwickelt. Ich habe ter umgehen und Gespenster leben, da da Gleichgesinnte, die den kirchlichen gelernt. Als einige Theologieprofessoren auch immer noch in Düsseldorf zu tun, hat Beuys mit seiner Art der Mystik, mit Background so aufgenommen haben Arbeiten von mir sahen, die ich ange- weil ich dort meine Skulpturen mache einer phänomenalen und eigenen Ästhe- wie ich. Vor dem Abitur kam für mich fertigt hatte, sagten sie, ich sollte nach und weil ich an der Akademie kurz stu- tik, man kann sagen, die Welt verändert, die große Frage: Studiere ich Kunst oder Düsseldorf auf die Kunstakademie ge- diert hatte – ich musste sie nach einem eine ganz andere Wahrnehmung von Theologie? Mein evangelischer Vater hen. Semester wieder verlassen … Kunst zugelassen, von der wir später, sagte, du kannst machen, was du willst, die nachfolgende Generation, profitiert aber wenn du Priester werden willst, Florian Schuller: Dort hätten Sie Florian Schuller: … wo Sie dann haben. dann entscheide dich vor der Weihe und Professor Lüpertz treffen können. nachher Chef geworden sind … Beuys war der älteste Schüler an der nicht hinterher. Ich habe mich für die Kunstakademie, und ich war der jüngste Theologie entschieden. Mein Kunster- Bischof Friedhelm Hofmann: Da Markus Lüpertz: … wo ich später Schüler; deswegen kannten wir uns. Er zieher am Gymnasium, der mich sehr hätte ich ihn getroffen. Kardinal Frings mit großem Vergnügen Chef und Rektor hat dieses ganze Nachkriegsdeutschland gefördert hatte, dachte, ich wäre ver- hatte aber zu mir gesagt, wir brauchen dieser Akademie geworden bin. kulturell international geöffnet, weil er rückt … keine Priester, die malen, wir brauchen eine andere Ästhetik hervorgebracht höchstens welche, die was davon ver- Florian Schuller: Haben Sie da Ihre hat, nicht in der Folge der École de Pa- Florian Schuller: … und warum für stehen. Akte dann noch einmal gelesen? ris – Frankreich war das große Vorbild Theologie entschieden?

zur debatte 6/2017 13 Peter Kraus ist ja auch Künstler, und es anders wahr. Die Realität sehen wir bei- gibt heute sogar Kochkünstler. de gleich; wenn es regnet, werden wir Es geht darum, dass wir bildenden beide nass … Künstler den Menschen die Welt zeigen. So meinte ich das. Und dann meinte Florian Schuller: … das interessiert ich, alles, was wir wissen, was wir ästhe- Sie dann nicht beim Malen … tisch wahrnehmen, ganz bestimmte Ma- terialien, Oberflächen, Kontraste, hell, Markus Lüpertz: …nein, es kommt dunkel, weich, hart, was also zum Bei- auf das Geheimnis des Nasswerdens spiel zu der Lehre des Bauhaus gehörte, oder des Regens an. Der Gegenstand ist diese ganze Sensibilisierung von Ober- ja nicht nur der Gegenstand. Jeder Ge- flächen, von Wahrnehmungen, von hell- genstand assoziiert irgendetwas, hat ir- dunkel, von Plastizität, von Fläche, von gendeine Geschichte. Und wenn Sie Schönheit, Schönheit bis hin zur Schön- dann mit dem Gegenstand konfrontiert heit einer Frau. Ohne dass sie jemals werden, entwickeln Sie Ihre Phantasi- gemalt wurde und Sie ein Bild gesehen en, Ihre eigenen Vorstellungen von den haben, wüssten wir gar nicht, wie eine Dingen. Zum Beispiel also, etwas primi- Frau auszusehen hätte. Sie müssten mit tiv, ich habe einen Stahlhelm gemalt. dem zufrieden sein, was Sie zuhause Da hat man mir vorgeworfen, das wäre haben. ein faschistisches Symbol, und ich wäre Die bildenden Künstler haben immer deshalb ein rechter Maler, was ich si- dafür gesorgt, dass wir ästhetische cherlich nicht bin. Ich bin aber auch Wahrnehmungen sinnlich nachvollzie- nicht links, ich bin Künstler. Ich bin hen können. Das ist die große Aufgabe nicht für den Stahlhelm, außer dass er der bildenden Kunst, bis hin eben auch von mir gemalt ist, die Form hat mich zur Abstraktion, die genauso mystisch, gereizt. Aber für seine Geschichte, seine genauso aufgeladen ist wie eine Wiese Bedeutung ist er selbst verantwortlich. in einem Bergmassiv. Infolgedessen ist Er erzählt seine Geschichte, er erzählt diese Aufgabe nie zu Ende. Das sollte vom Krieg, vom Untergang oder von al- der Künstler machen und betreiben. len möglichen Dingen, und darum sind

Markus Lüpertz: „Alles, was Sie wahrnehmen, alles, was Sie sehen, wissen Sie vermittelt durch den Künstler.“

Florian Schuller: Ein Satz von Pro- ist etwas fertig. Aber darin ist schon das fessor Lüpertz: „Alles, was wir wissen, Nächste wieder, und das quält einen wissen wir über die Künstler.“ Sind Sie ständig. Man versucht dann, vielleicht mit diesem Satz einverstanden? etwas lockerer als andere Menschen zu leben. Das bringt es aber auch nicht. Bischof Friedhelm Hofmann: Wenn Man braucht eine gewisse Physis, um man ihn auf den kulturellen Bereich an- die Kunst zu machen, die man macht, wendet, stimmt er. Die Künstler sind für und auch da kann man nicht leichtsin- mich Seismographen unserer Zeit, sind nig werden oder sich entspannen. Denn sensibel für Vorgänge, für Veränderun- alle Künstler, die im Suff umgekommen gen. Aber Künstler sind auch Menschen, sind, sind eben früher gestorben, und es die den Horizont überschreiten, die hat nicht gereicht, das Werk zu vollen- nicht einfach in der geschöpflichen den. Auch da müssen Sie sich diszipli- Wirklichkeit bleiben. Es geht nämlich nieren. immer um mehr, es geht um ein Myste- Das, was ich meinte mit dem von Ih- rium. Ein Kunstwerk hat immer mehr, nen zitierten Satz, war folgendes: Alles, als der Künstler zu geben vermochte. was Sie wahrnehmen, alles, was Sie se- Sinngemäß sagte ein Musikwissen- hen, wissen wir vermittelt durch den schaftler: „Ich habe mein ganzes Leben Künstler. Sie werden nie einen Sonnen- nach diesem Mehr gesucht, und je älter untergang so sehen, wenn Sie nicht vor- ich wurde, umso größer wurde dieses her ein Bild gesehen haben, wie er ge- Mehr, das ich nicht erklären konnte“. malt wurde. Erst über den Künstler, erst Es ist für mich eine Suche nach dem über den Maler begreifen Sie, dass der Geheimnis, und das verbindet Künstler Sonnenuntergang etwas Mystisches, Po- und Priester. etisches oder Visuelles ist. Die reine Feststellung, dass das schön ist, reicht Florian Schuller: Professor Lüpertz, nicht. Bischof Friedhelm Hofmann: „Die Künstler sind für mich Sie haben einmal gesagt: „Der Künstler Wenn Sie ein Bild von Turner gese- Seismographen unserer Zeit, sind sensibel für Vorgänge, für ist der Garant, dass Geschichte statt- hen haben, der einen Sonnenuntergang Veränderungen.“ gefunden hat.“ malt, und anschließend einen Sonnen- untergang sehen, haben Sie ein ganz Markus Lüpertz: Das ist ein Zitat anderes Erlebnis. Wenn Sie einen Baum von mir, Sie haben Recht. Aber es ist gemalt gesehen haben, sehen Sie, dass unvollständig. der Baum ein Mysterium hat. Und das Florian Schuller: Es gibt ja von Ih- Bilder und Malerei so wichtig, weil sie Sie sind ja nicht in der Lage, sich zu ist das, was ich unter Künstlern verste- nen sehr viele Zitate, die unwahrschein- die Phantasie fördern, was ein Foto nie entscheiden, Künstler zu werden, also he: es sind die Augen Gottes in den lich zugespitzt sind. Ein anderes Zitat: kann. Das Bild hat immer ein Geheim- Maler zu werden. Das ist eine Sache, die Menschen. Ich sehe schon, dass der bil- „Mich hat die Realität nie interessiert.“ nis, immer etwas Unvollendetes. Ein passiert Ihnen. Ich habe das immer ir- dende Künstler einen Auftrag hat, den Es scheint einen Gegensatz zu formulie- Foto ist immer vollendet, im Gegensatz gendwie als Defekt empfunden, weil das Menschen die Welt zu erklären. Das tut ren zu dem, was Sie eben gesagt haben, zu einem Bild. Das Bild ist auf dem eine sehr schwierige Existenz ist. Sie die Kunst bis hin zur Abstraktion. Und dass der Künstler überhaupt erst die Wege zur Vollendung; das Foto ist das, verabschieden sich vom Glück, Sie sind es bleibt dieser Auftrag des Künstlers, Möglichkeit gibt, vor allem der Maler, was Sie sehen. Diese Information der Ihr Leben lang unzufrieden mit dem, vor allen Dingen des bildenden Künst- Wirklichkeit wahrzunehmen. Geheimnisse oder des In-Frage-Stellens was Sie leisten, jagen hinter etwas her, lers. Ich mache hier einen ganz klaren einer Existenz, eines Seins, macht den was Sie höchstwahrscheinlich nie erja- Unterschied. Ich bin kein Künstler Markus Lüpertz: Ich habe ja nicht bildenden Künstler so besonders und so gen werden. Das nennt man dann Voll- mehr, weil es mittlerweile zu viele gesagt, dass das, was der bildende notwendig. endung. Sie sind immer mit Ihren Leis- Künstler gibt, die Künstler sind. Ich bin Künstler den Menschen zeigt, die Wirk- tungen, wie soll ich sagen, im Unreinen. ein bildender Künstler, ein Bildermaler lichkeit sei. Eben nicht! Sondern es ist Florian Schuller: Herr Bischof, wenn Sie haben Momente des Glücks, Sie ha- und ein Skulpturenmacher, und dafür das Mysterium des Gegenstandes, das vom Geheimnis gesprochen wird, das ben Momente, in denen Sie denken, es habe ich heutzutage gar keinen Begriff. Geheimnis der Umwelt, sie nehmen das durchscheint bei einem Kunstwerk, sind

14 zur debatte 6/2017 wir Theologen dann nicht ein wenig in zeichnen kann. Er hat kein einziges bib- der Gefahr, es sehr schnell als göttliches lisches Thema gemalt, aber die wunder- Geheimnis zu sehen? Müssen wir da schönen Landschaften oder Stillleben. doch etwas vorsichtig sein? Er wurde gefragt, weil er jeden Tag in die Heilige Messe ging oder fuhr, war- Bischof Friedhelm Hofmann: Wir um er denn kein biblisches Thema male. können ruhig vorsichtig sein, aber die Da hat er sinngemäß gesagt: „Das ha- Schöpfung ist ja durchgeistigt von Gott. ben vor mir große Künstler gemacht, da Insofern führt alles von Gott her zu uns komme ich nicht heran, also nehme ich und wieder zurück. Ich denke schon, ein anderes Sujet.“ dass die Kunst die Möglichkeit hat, die Seele der Dinge wach zu küssen, aufzu- Florian Schuller: Er hatte ja auch rufen, so dass man dafür innerlich wach eine Haushälterin, die ehemalige Nonne wird, auch reift. Und insofern ist das für war. Da kam dann noch eine weitere mich kein Gegensatz, sondern eine gro- Prägung dazu. ße Chance, uns eben nicht innerweltlich einfach nur auf technische, materielle Bischof Friedhelm Hofmann: Das ist Dinge zurückzubeziehen, sondern den eben sein Weg gewesen. Ich hätte mir großen Atem durch die Kunst aufzu- gewünscht, er hätte schon mal das eine nehmen. oder andere biblische Thema auf seine Weise gemalt. Das hat er aber aus Be- Florian Schuller: Professor Lüpertz, scheidenheit und Respekt vor den gro- Sie betonen immer, dass Malerei eine ßen Künstlern anderer Epochen nicht ganz besondere Form von Kunst ist. gemacht. Worin besteht der Unterschied zwischen Malerei und anderen Bereichen der bil- Markus Lüpertz: Ich habe schon re- denden Kunst? ligiöse Themen gemalt …

Markus Lüpertz: Um es simpel zu Florian Schuller: … darauf kommen Florian Schuller: „Können wir Genie definieren oder umschreiben?“ sagen, Malerei ist die Königsdisziplin wir noch. Aber vorher noch einmal zu der bildenden Kunst. Und dass es so Ihrer Atelier-Erfahrung. Sie sagen, ich viele Künstler gibt, die nicht malen, son- stehe da alleine vor der Leinwand, habe dern etwas ganz anderes machen, ist die großen Gestalten im Bewusstsein. darin zu suchen, dass sie es einfach Bei einem Ihrer Gedichte ist das wun- reinkommt, oder eine andere Absicht. Sie wollen ja gar nicht, dass die Leu- nicht geschafft haben zu malen, und derschön zusammengefasst: „Ein Wan- Das ist nun mal so, wenn man etwas te das mögen und sind sogar beunruhigt, dann mit anderen Mitteln versuchen, et- derer in sich selbst, verabschiedet aus ganz Bestimmtes vorhat und das ganz wenn die Leute plötzlich sagen, Mensch, was auszudrücken. Denn die Malerei ist der Welt der anderen.“ Ist das die Erfah- intensiv und begeistert betreibt, immer war eine großartige Ausstellung, jedes eine eigenartige Beschäftigung. Sie hat rung der Einsamkeit des Künstlers, des mit seiner eigenen Unzulänglichkeit Bild spitze. Da wirst du sofort nervös ein festgesetztes Vokabular. Es gibt in Alleinseins? kämpft und dann hofft, dass man ein und denkst, da musst du etwas falsch der bildenden Kunst, in der Malerei vor Genie ist – um die Unzulänglichkeit, die gemacht haben. Denn es kann ja nicht allen Dingen, nichts Neues. Es gibt im- Markus Lüpertz: Das ist ja das, was man hat, zu überwinden. Dazu braucht sein, dass du nicht diesen einen Step zu mer nur neue Künstler, aber die Malerei man immer unterschätzt. Das Künstler- man nämlich Genie und nichts anderes. etwas Ungewöhnlichem oder Aufregen- als Vokabular bleibt immer gleich. Vor leben stellt sich nach außen immer sehr Dann sind Sie natürlich immer in einer dem springst. Auf der einen Seite wol- 2000 Jahren haben die genauso Bilder, heiter und sehr frei dar, sogar lustig. gewissen Erwartung, dass das auch alles len Sie geliebt werden, alle sollen Ihre Farbe und Leinwand gehabt. Es gibt nie Feste sind mannigfaltig, und die Gitar- funktioniert. Bilder großartig finden, auf der anderen eine andere Möglichkeit zu malen. ren klingen, und der Wein fließt in Strö- Sie dürfen nicht vergessen, jedes Bild, Seite beunruhigt Sie das. Es bleibt im- Man hat es versucht mit anderen Ma- men, und die Frauen sind willig. Das ist das entsteht, sind ungefähr zehn Bilder, mer eine Art von Misstrauen, wenn ei- terialien, mit Kunststoffen, man hat was leider nicht so. Das ist sicherlich auf ir- die schiefgegangen sind. Es ist ja nicht ner Sie lobt. Deswegen bin ich immer draufgeklebt, man ist drübergelaufen, gendwelche studentischen Geschichten so, dass Sie sich pfeifend an die Staffelei so empfindlich, wenn man Kunstpreise man hat draufgepinkelt und alles Mögli- zurückzuführen, es ging wohl jedem setzen, ein Blumenstillleben hinmalen kriegt. che gemacht. Aber das sind ja alles Ver- jungen Mann so. Das ist aber keine und dann, zwei Stunden gemalt, eine suche, der Malerei oder der Disziplin Chance. Deswegen bleibt es im Kargen, Zigarette geraucht, gut gegessen, mit der Florian Schuller: Aber Sie haben vie- und Pflicht des Malens zu entkommen, im Quälenden, im Suchen. Frau geschäkert, wieder an die Arbeit le bekommen! weil das wirklich eine ziemlich einsame Man hat natürlich ab einer gewissen gehen, und übermorgen kommt der Kun- Beschäftigung ist, wenn Sie im Atelier Zeit eine gewisse Routine. Man hat de und kauft das Bild! Das wäre schön, Markus Lüpertz: Na ja, man lobt ja stehen, 2000 Jahre christliche und groß- auch Vergleiche, denn in der bildenden aber es ist leider nicht so. einen nicht, wenn man ihn zum artige kulturelle Kultur im Rücken, und Kunst lebt alles vom Vergleich. Es gibt müssen sich jetzt an Michelangelo, an kein Kriterium für ein Bild, wenn Sie Goya, an all diesen Leuten abarbeiten nicht viele Bilder gesehen haben. Sie und im Verhältnis zu diesen Leuten können nicht sagen, mir gefällt das oder Ihre eigene Position finden, und nicht mir gefällt das nicht. Das ist sicherlich daran zu verzweifeln. Dass da viele Ihr gutes Recht, und das können Sie Leute lieber schnell was Neues machen, machen, aber dann kommen Sie nicht zu dem es keine empirischen Vergleiche sehr weit. Die Zeitgenossen einschließ- gibt, wo Sie nicht unter diesem Ge- lich der Künstler können ihre Sachen sichtspunkt „Rembrandt – und was nicht begreifen. Sie können es nur glau- machst du?“ gesehen werden, das ist ben, und das ist das Mystische an der doch naheliegend. Kunst. Sie müssen den Künstlern, die Sie mögen, glauben. Und wenn Sie de- Florian Schuller: Herr Bischof, ist nen glauben, können Sie auch wandern, das bei uns ähnlich, wenn wir predi- dann können Sie auch vergleichen und gen? Wir haben auch die vorgegebenen können über den Künstler zu anderen Formen, wir haben die Texte, wir haben Künstlern kommen und seltsamerweise die Tradition und müssen uns jetzt ab- können Sie dann sogar noch Qualität arbeiten an der Tradition. Wenn Sie feststellen, Meisterschaft. eine Weihnachtspredigt vorbereiten und Sie haben auch schon mehrmals über Florian Schuller: Als Betrachter der Weihnachten gepredigt, ist das dann Bilder ja. Aber für den Künstler gibt es vielleicht ähnlich, wie sich Maler an Mi- da die radikale Einsamkeit, das Ich und chelangelo abarbeiten? Wir müssen uns die Leinwand? eben an Lukas und Johannes abarbeiten. Markus Lüpertz: Alle Künstler, die Bischof Friedhelm Hofmann: Es gibt Sie im Kopf haben, die müssen Sie in ir- Unterschiede, aber es ist auch ähnlich. gendeiner Weise vergessen, ohne dass Wir haben große Prediger gehabt. Wenn Sie vergessen, sich damit auseinander- ich an Augustinus denke und dessen zusetzen. Das ist schon ziemlich ein- Schriften lese, werde ich ganz still und sam, weil Ihnen auch keiner helfen Bischof Friedhelm Hofmann (li.) und denke, halt den Mund. Das ist etwas, kann. Ihnen kann ja keiner den Pinsel Markus Lüpertz unterhielten sich schon was uns herausfordert. Auf der anderen führen. Sie müssen das schon alles sel- vor dem Podiumsgespräch ausführlich Seite können wir gar nicht anders als ber machen, da bin ich geradezu neuro- in der Cafeteria des Museums. aus unserem Zeitempfinden, unserer tisch. Selbst bei meinen Skulpturen, Gegenwart, unseren Problemen heraus wenn ein anderer drangehen würde, dieses Thema neu zu bearbeiten. Ich würde ich verrückt. Oder bei meinen denke an Paul Cézanne, den man ja Glasfenstern, die mache ich in Original- auch als einen Vater der Moderne be- größe, damit da nicht ein anderer Strich

zur debatte 6/2017 15 Leinwand steht und überzeugt ist – sind noch profitieren … Sie dann ein Genie des Glaubens? Florian Schuller: … die unsere Aus- Bischof Friedhelm Hofmann: In der drucksmöglichkeiten verbreitert haben … Theologie würde man von Heiligen sprechen. Als ich ein Kind war und eine Bischof Friedhelm Hofmann: … Ja. Fastenpredigt hörte, bei einer sogenann- ten Volksmission, stand ein Pater vor Markus Lüpertz: Die Antike ist über uns Kindern und fragte: „Wer von euch das Mittelalter und alle Stilrichtungen möchte ein Heiliger werden?“ Keiner bis heute unser Kulturraum. In der zeigte auf. Aber innerlich habe ich ge- Kunst vergeht, wenn man genau hin- dacht, schön wäre es. Nicht auf dem schaut, keine Zeit, weil jedes Bild, ob Podest stehen, abgehoben als Kunst- im 17. Jahrhundert oder im 11. Jahrhun- werk, aber als Mensch heilig zu werden, dert gemalt, dadurch, dass es existiert, das hat etwas mit diesem Genie-Gedan- wahrnehmbar ist und lebt. Infolgedes- ken zu tun, und ohne dass man über- sen ist das Faszinierende der Kunst, heblich ist, muss doch dieses innere dass man über den Zeiten steht und Feuer da sein, dass wir berufen sind, im sich seine Vorbilder, seine Abarbeitung, Auftrag Gottes in diese Welt hineinzu- seine Stars aus lebenden, aus vergange- reden. nen, aus kommenden Künstlern suchen kann. Kunst hat zwar ein gewisses zeit- Florian Schuller: Professor Lüpertz, liches Staccato, weil sie über bestimmte Sie hatten eben von Polyklet gespro- Zeiten berichtet, was die Leute getan chen. In Ihrem Werk gibt es immer wie- haben, wie sie ausgesehen haben, all der die Auseinandersetzung mit der an- diese Dinge. Aber darüber hinaus sind tiken Mythologie. Auch die antiken Kunstwerke zeitlos. Sie können sich Dramen sind noch genauso aktuell wie heute genauso an einem wunderschönen Das Podiumsgespräch im Museum vor 2.500 Jahren. Was macht denn die Fragonard-Bild delektieren wie an ei- Georg Schäfer fand großes Interesse. antike Mythologie in ihren unterschied- nem van Gogh oder irgendeinem Bild, lichen Formen bis heute so faszinie- das gerade ein Straßenmaler gemalt hat. rend? Hugo Rahner hatte ja bereits vor Verstehen Sie, was ich damit sagen Jahrzehnten wieder bewusst gemacht, will? Die Kunst kennt kein alt, neu, wie mythologische Themen auch bei den jung oder irgendwie so etwas. Die bil- Schweigen bringen will. Aber immer ist ben Talent. Ich habe in meinem langen Kirchenvätern eine große Rolle spielten, dende Kunst hat ihre eigenen Gesetze, ein bisschen Skepsis angebunden. Professorenleben viele Talente erlebt, zum Beispiel Odysseus am Mastbaum als ihre eigenen Räume, ihre eigenen Zeit- großartige Talente. Und alle müssen in Vorläufer für Christus am Kreuz. abläufe, und man kann darin wandern. Florian Schuller: Herr Bischof, nach irgendeiner Weise das Handwerk besie- Das ist das Aufregende und das Aktuel- Professor Lüpertz braucht es Genie, um gen. Sie müssen mit der Farbe fertig Bischof Friedhelm Hofmann: Es ist le an der bildenden Kunst. wirklich Kunst weitergeben zu können. werden, Sie müssen damit fertig wer- das Geheimnisvolle, das in diesen Ge- Sind Sie ein Genie im Predigen, und den, dass Sie Disziplin haben, dass Sie stalten aufleuchtet. Man wusste in der Florian Schuller: Aber warum wan- wie geht es Ihnen, wenn Ihre Predigten nicht in die frische Farbe reinmalen, christlichen Tradition natürlich genau, dere ich so gerne gerade in der grie- zu viel gelobt werden? Sind Sie dann weil dann das Bild runterkommt, oder das sind Götter als Fabelwesen, als Ge- chisch-lateinischen Antike? Ich könnte auch etwas unglücklich? es hält nicht. Ich kann Ihnen sagen, das stalten, die etwas von unserem eigenen ja auch bei den Babyloniern wandern. sind Dramen, die sich da abspielen. Sie Leben wiederspiegeln. Man hat sie Bischof Friedhelm Hofmann: Viel- stolpern über den Eimer, suchen die nicht vergöttlicht oder an die Stelle Markus Lüpertz: Wenn Sie sich von leicht ist es gut, dass ich nicht Künstler Farbe, es ist eine elendige, schmutzige, Gottes gerückt, sondern als eine Quelle Picasso inspirieren lassen, sind Sie pi- geworden bin, weil ich kein Genie bin; schweißtreibende Angelegenheit, und des Intellektes, der Ästhetik, des Wis- cassesk, und alle sagen, kuck mal, der das ist das Erste. Ich bin auch im Predi- mit zunehmendem Alter vergessen Sie sens genommen, und später in der be- malt wie Picasso. Wenn sie wie die An- gen kein Genie, das brauche ich auch immer, wo Sie eine Farbe abstellen, und ginnenden Neuzeit wieder Fundamente tike arbeiten, oder sich ihr zumindest nicht zu sein. Aber ich denke, der dann brauchen Sie die Farbe wieder, freigelegt, die nicht mehr da waren, und annähern, da gibt es keinen Stil. Die Künstler selber, der bildende Künstler, dann suchen Sie im ganzen Atelier, wo so einen Neugewinn geschaffen. Ent- Antike hat keinen Stil. Sie hat einfach wie Musiker und Literaten, die ich da- haben Sie die Farbe abgestellt. Um all wicklung der Kunst kann nicht heißen, Vollendung, das ist das Gegenteil von zunehmen möchte, müssen schon in ge- das zu überwinden und mit all diesen immer nur etwas Neues, noch nicht Da- Stil. Wenn Sie einen Künstler mit einem wisser Weise Genies sein, weil sie den Dingen in irgendeiner Weise fertig zu gewesenes, etwas Supertolles, was auf- ausgeprägten Stil haben, dann ist das anderen eine Nasenlänge voraus sind werden und nicht aufzuhören, dazu horchen lässt, sondern wir bauen ja auf immer eine Form von Dilettantismus, und etwas erschließen, von dem andere brauchen Sie schon Genie. Grundsteinen, die vor uns gelegt wor- weil er ganz bestimmte Dinge mit dem profitieren. Wenn ich mir ein Kunst- Wir haben aus dem 19. Jahrhundert den sind. Und in der Antike sind eben Stil überbrückt oder verändert. Nehmen werk ansehe und berührt werde von einen Geniebegriff, der wird allen ange- wesentliche Dinge formuliert und re- Sie meinen Kollegen Georg Baselitz, dem, was dargestellt ist, erweitert sich dichtet. Nehmen wir mal die Maler des flektiert worden, von denen wir heute der malt auf dem Kopf. Eigentlich ist es mein Verständnishorizont. Das ist ein 19. Jahrhunderts. Wenn einer sagt, das tolles Geschenk, das ich aus der Begeg- waren geniale Maler, hat keiner was da- nung mit dem Kunstwerk und dem gegen. Wie ich angefangen habe, zu ma- Künstler nehme. len, und gesagt habe, ich bin ein genia- ler Maler, hat man mich beschimpft. Ich Florian Schuller: Können wir Genie habe mein Leben lang im Bewusstsein definieren oder umschreiben? gelebt, ein Genie zu sein; sonst könnte ich gar nicht existieren. Ich habe ja nun Markus Lüpertz: Nehmen Sie die viele Maler in meinem Leben kennen Antike. Es gibt keine Skulptur aus der gelernt. Wenige haben es so gesagt wie Antike, die nicht wunderbar und vollen- ich, aber geglaubt haben es alle. Inso- det ist, auch wenn da ein Arm oder der fern ist das keine besondere Hybris, Kopf ab ist. Der Rest, den Sie sehen, ist oder ein Beleg dafür, dass ich ein Spin- großartig, vollendet und genial. Es sind ner bin oder mir etwas einbilde. nur drei Namen von Bildhauern über- Wenn ich das nicht glauben würde, liefert, es muss aber viele gegeben ha- würde ich aufhören. Da würde ich ge- ben. Polyklet ist der berühmteste. War- nauso sein wie alle anderen. Um da um? Es gibt kein einziges Kunstwerk noch irgendwie herauszustechen, brau- von ihm, nur römische Kopien, und die chen Sie einen Anlass. Sie brauchen Be- sind, na ja, eleganter. Die Großartigkeit, geisterung von sich selbst, Sie müssen der unendliche Ruhm, den Polyklet als ein immenses Selbstbewusstsein haben, der Größte, als der Vollendete trägt, ist immens an sich glauben. Sie können nirgendwo zu beweisen. Das ist eigent- der bescheidenste und trotteligste lich das genialste Schicksal, das einem Künstler sein, aber im Atelier, wenn der Künstler passieren kann: Er braucht nie vor der Staffelei steht, glaubt der felsen- mehr Qualität beweisen, aber alle sa- fest an sich. Er kann Ihnen erzählen gen, er war der Größte. Mehr kann man von seinen Zweifeln: ist alles Lüge. In wirklich nicht erwarten. Infolgedessen dem Moment, wo er malt, glaubt er. Er ist er ein glücklicher Künstler, vielleicht weiß und tut es. Ich bin nun leider ein der einzige. etwas geschwätziger Mensch und habe immer gerne von meinem Genie geplau- Florian Schuller: Ist das die Defini- dert, und das gibt dann Probleme. Aber Markus Lüpertz: „Es gibt in der bildenden Kunst, in der Malerei vor allen Dingen, tion von Genie? damit muss man halt leben. nichts Neues. Es gibt immer nur neue Künstler, aber die Malerei als Vokabular bleibt immer gleich.“ Markus Lüpertz: Nein. Die Defini- Florian Schuller: Herr Bischof, wenn tion von Genie ist ganz simpel. Alle ha- ich jetzt höre, wie der Maler vor der

16 zur debatte 6/2017 egal, was er malt, Hauptsache, er malt kann ich das in meinem Werk sichtbar Markus Lüpertz: Ich habe mir ange- im 11., 12., 13. Jahrhundert vor. Daran auf dem Kopf. Oder Gerhard Richter, machen? schaut, was ein Glasfenster ist, wo Glas- habe ich mich abgearbeitet, und deswe- der alles verwischt. Kaum hat er etwas fenster sind, die mich begeistert haben. gen meine leicht heiteren Bemerkungen hingekriegt, geht er mit dem Pinsel drü- Markus Lüpertz: Das ist schön ge- Da gibt es im Rheinland einen wunder- zu den Kollegen, die es sich etwas einfa- ber und macht es unscharf. Was wollen sagt. Ich sehe es etwas anders. Gerhard baren Glasmaler, den viele vielleicht gar cher machen und moderne Künstler Sie da noch beurteilen? Das hört sich Richter, wie all die anderen, die ich er- nicht kennen, der heißt Jan Thorn Prik- sind. Deshalb arbeite ich eben quasi mit- manchmal ein bisschen an wie ein Kuri- wähnt habe, wollen Bilder malen; des- ker. Dann gibt es meinen Kollegen und telalterlich. Unsere Presse hat das natür- ositäten-Kabinett. Der eine malt auf wegen habe ich große Hochachtung vor Freund Georg Meistermann. Dann gibt lich auch so gesehen. Sie haben die Ar- dem Kopf, der andere verwischt, der an- ihnen, bin auch mit vielen befreundet. es in Frankreich die bekannten Kirchen beiten von Richter und mir verglichen. dere malt Strichmännchen, der andere Was Sie betonen, sind Anlässe, warum ... – ich habe mich also damit ausein- Gerhard Richter war natürlich der mo- hängt Gerümpel vor seine Bilder. Das einer etwas macht. Woher jemand seine andergesetzt, wie ein Glasfenster aus- derne, und ich war der verkackte Alte, könnte man irgendwie auch mit einem Inspiration und seine Möglichkeit, Bil- sieht. Ich wollte nicht etwas anderes der so vernarrte, der versuchte, wie Horrorroman vergleichen. der zu malen, herholt, ist etwas ganz In- machen. früher irgendetwas hinzukriegen. Aber Das sind alles Versuche, eine be- dividuelles. Und das kann man sehr ro- Man kann heute auf ein Glasfenster damit muss man leben. Mich hat die stimmte, wie soll ich sagen, Unfähigkeit, mantisch sagen, wie Sie gerade. Es hat Fotos projizieren, man kann mit Sieb Auseinandersetzung gereizt, und das – und das ist legitim – mit einem Kunst- aber meistens einen ganz realen Hinter- drucken, man kann alles machen. Das habe ich, ohne mich zu loben, ziemlich trick zu verändern, aber nicht in Frage grund. Er will ein Bild malen, das etwas habe ich nicht gewollt, sondern ich gut hingekriegt. zu stellen. Das ist natürlich eine Metho- Bestimmtes aussagt, eine bestimmte At- wollte ein Glasfenster machen, das aus- de. Und vor allem die Amerikaner ha- mosphäre erzeugt. Das will jeder malen. sieht wie ein Glasfenster aus dem 11. Bischof Friedhelm Hofmann: Das ben es großartig gemacht mit ihren Sti- Man kann es versuchen mit Stil, und Jahrhundert – Bleiverglasung, Schwarz- kann man bestätigen. len. Denken Sie an Roy Liechtenstein, ich finde, dass Gerhard Richter unheim- lot und all diese Dinge. Infolgedessen das erkennen Sie sofort, Jackson Pol- lichen Stil hat. Der hat zwei ganz be- habe ich nicht wie mein verehrter Kol- Florian Schuller: Verteidigungsrede lock an seinem „dripping“. Das wird al- stimmte hervorstechende Merkmale, lege Gerhard Richter die Scheiben auf- für Gerhard Richter, Herr Bischof? les gefeiert als Wiedererkennungswert woran Sie sofort ein Richter-Bild erken- geklebt; das ist ein nicht unbedingt für und als Stil und als neu, was ja gar nicht nen: entweder hat er mit dem Spachtel die Ewigkeit gedachter Gedanke. Der Bischof Friedhelm Hofmann: Ger- neu ist. Getröpfelt wurde immer schon, gearbeitet, oder er hat mit dem Pinsel Leim hält 20 Jahre. Ich habe gar nichts hard Richter hat eine neue Technik verwischt wurde auch, und es wurde verwischt. Also, wenn das kein Stil ist, dagegen, das ist eben sein Risiko. angewandt, von der ich auch nicht auch auf dem Kopf schon gemalt. In je- dann weiß ich nicht, was ein Stil ist. dem Dorf, das ich früher kannte, gab es irgendeinen Künstler, der auf dem Kopf Bischof Friedhelm Hofmann: Er hat malte, weil sie das toll fanden. Aber das auch ganz andere Bilder gemalt, Land- spielt in etwas hinein, was mich nur so schaftsbilder, die sind von einer betö- am Rande interessiert, weil ich immer renden Schönheit. auf der Suche bin, das hört sich albern an, nach Vollendung. Deswegen habe Markus Lüpertz: Das ist wohl wahr; ich immer vermieden, direkt einen Stil geschickt war er immer. Er ist halt zu entwickeln. Ich habe eine Hand- Sachse, und die Sachsen waren immer schrift, woran man unverwechselbar große Maler. mein Werk erkennen kann. Aber rein visuell können Sie das nicht wahrneh- Florian Schuller: Mit Gerhard Rich- men. Wenn ich Ihnen Bilder zeige, wür- ter nähern wir uns dem Zentralthema den Sie nie darauf kommen, dass ich unseres Gesprächs, dem Thema Kunst die gemalt habe. und Kirche. Gehen wir es an im Blick auf Kirchenfenster. Alle von Ihnen wis- Florian Schuller: Und die Antike, sa- sen um das berühmte Fenster im Süd- gen Sie, hat keinen Stil. querhaus des Kölner Doms. Der Herr Bischof hat als damaliger Kölner Weih- Markus Lüpertz: Sie ist Vollendung, bischof Kämpfe ausgefochten, dass es das ist das Faszinierende. Wenn Sie sich dieses Glasfenster gibt. Gerhard Richter auf andere Künstler einlassen, müssen hatte sich geweigert, Heilige wie Edith Sie sich im Klaren darüber sein, dass Stein oder Dietrich Bonhoeffer gegen- Sie in deren Fußstapfen treten. Es gibt ständlich darzustellen. großartige Künstler in der Neuzeit wie Henri Matisse, der auch keinen direk- Bischof Friedhelm Hofmann: Er hat ten Stil hatte. Wenn Sie sich mit Matis- die Farben der Chorfenster aus dem 14. se beschäftigen, können Sie klauen wie Jahrhundert übernommen. Er hat sich ein Rabe, das wird nie einer merken. wochenlang in den Dom gesetzt und Wenn Sie bei Picasso klauen, sind sie diese Farben studiert und gesagt, ich sofort überführt. Deswegen ist Matisse muss die Süd-Wunde des Domes, die im der größere Künstler. Die ganzen 50er offenen Glasfenster besteht, schließen Jahre in Deutschland, bis hin zu den und nehme dazu den Lichtschleier aus Amerikanern, haben alle wunderbare den Farben, die im Dom vorhanden Picassos gemalt. Es gibt keine schöneren sind. Picassos als die von Pollock, Arshile Gorky, David Alfaro Siqueiros in Mexi- Florian Schuller: Aber nun Köln, St. ko, überall. Aber sie sind eben da ste- Andreas, wo auch Sie, Professor Lüpertz, hengeblieben und haben dann natür- Glasfenster gestalten konnten. Sie sind lich, weil es große Künstler waren, ihre einen anderen Weg gegangen und ge- Bischof Friedhelm Hofmann: „Wenn ich mir ein Kunstwerk eigenen Wege gefunden. Und das macht stalten dort gegenständlich. Warum sagt ansehe und berührt werde von dem, was dargestellt ist, die Antike so verführerisch, denn bei Gerhard Richter, man kann das in einer erweitert sich mein Verständnishorizont.“ der haben Sie keine solchen Probleme. Kirche heutzutage nicht mehr gegen- ständlich tun? Und Sie sagen, es geht. Bischof Friedhelm Hofmann: Sie hatten den Namen Gerhard Richter ein- Markus Lüpertz: Er hat das sicher- gebracht. Gerhard Richter hält sich lich etwas undeutlich ausgesprochen: Er Mich haben die Aussagekraft oder weiß, wie sie in Zukunft bestehen blei- nicht nur an einen Stil, und trotzdem kann das nicht. die Ästhetik der mittelalterlichen Fens- ben wird … erkennt man ihn immer, egal, was er ge- ter gereizt, die ganz andere Farbigkeit macht hat, weil es wahrscheinlich voll- Bischof Friedhelm Hofmann: Nein, oder Struktur, die Art, wie das Blei an- Markus Lüpertz: … die ist nicht neu, kommen ist, soweit wir das beurteilen nein, nein, nein. Den Satz hat er nie ge- fängt, die Zeichnung zu vervollständi- die Technik, die gibt es … können. Gerhard Richter ist auf der Su- sagt! Dafür muss ich einstehen! Er hat gen. Die bleigefassten Ornamente ha- che nach der Wirklichkeit. Das ist mei- nicht gesagt, ich kann keine Botschaf- ben mich fasziniert, die Möglichkeiten, Bischof Friedhelm Hofmann: … ja, nes Erachtens das Geheimnis, das hin- ten weitergeben, sondern er hat gesagt, viel zu verbleien und dann mit Schwarz- aber dass er das in einer Kirche an so ter allen seinen Werken steht. Er ver- ich kann keine KZ-Häftlinge des 20. lot noch bestimmte Linien, Feinheiten prominenter Stelle durchführen konnte sucht, die Wirklichkeit zu erreichen und Jahrhunderts in diese gotischen Dom- und Zeichnungen hineinzubringen ... – … weiß doch immer, dass das nicht mög- fenster einbinden. Soll ich denen ir- das ist es eben, was mich am Glasfens- lich ist. Das heißt, er ist auf der Suche gendein historisches Gewand überstül- ter interessiert. Natürlich, meine Zeich- Markus Lüpertz: … das hat schon nach einer uns übersteigenden Realität pen? Das war sein Problem! Nicht, dass nung ist die, die auch auf den Bildern Fernand Léger in Frankreich mal ge- – da würde ich auch von Transzendenz er nicht irgendeine Botschaft reinneh- oder in der Graphik oder Skulptur vor- macht … reden –, und er sagt immer, was wir se- men wollte. Er konnte diesem Wunsch, kommt. Aber ich wollte Glasfenster ma- hen, ist nur Schein. Seine Glasbilder, die Märtyrer des 20. Jahrhunderts dar- chen, die wie Glasfenster aussehen, Bischof Friedhelm Hofmann: … in Spiegelbilder, alle seine Werke, auch zustellen, nicht entsprechen. eben nur von mir. Audincourt, aber in einer deutschen Ka- diese „drippings“, die sind auf der Su- Deshalb sehe ich da gar keinen Ge- Ich versuche, mich also dem Vergleich thedrale gab es das noch nicht, es war che nach Wirklichkeit. Was ist wirk- gensatz zu Professor Lüpertz; denn so- auszusetzen aus der Zeit, als Glasfens- zum ersten Mal. Das hat lange Diskussio- lich? Und wie komme ich an diese Rea- wohl das Abstrakte als auch das Gegen- ter unbestritten großartig waren, und nen gegeben, aber ihm wurde garantiert, lität, die mich übersteigt, heran, wie ständliche haben in der Kirche Platz. die großartigsten Glasfenster kommen es würde länger als 20 Jahre halten …

zur debatte 6/2017 17 dann zu einem Resultat gekommen bin. bekommen über die Darstellung des Aber das Entscheidende ist, dass ich in- Adam. Mein Adam hatte eine gewisse nerhalb der Glasfensterkultur mein Rüdität, er war erwachsen, er war ein Glasfenster geschaffen habe. Das ist, Leidender, er war vertrieben, er war was mich fasziniert. also der Sündenfall. Ich habe mit allem Ernst und mit al- Florian Schuller: Kunst und Kirche – ler Begeisterung gesprochen; es ist eine welche Form, welcher Inhalt, welche großartige Figur gewesen. Aber der Bi- Art von Kunst haben in der Kirche schof sagte, nein! Er hatte eine kindli- Platz? Gibt es irgendwelche Grenzen, che Vorstellung von Adam, er wollte ein die deutlich machen, nein, das geht Kind. Da habe ich mit ihm lange gestrit- nicht? ten, und wie das so in Frankreich ist, plötzlich habe ich nichts mehr von Ne- Bischof Friedhelm Hofmann: Ich vers gehört. denke, in den kirchlichen Raum gehört Es gibt ein großes Schild: Die Glas- alles hinein, was letztlich auch der Ver- fenster der Kirche sind von Markus ehrung Gottes dient. Es darf in der Kir- Lüpertz. Die Glasfabrik gibt es nicht che ohne weiteres auch das Böse darge- mehr; der Mann, mit dem ich zu tun stellt werden, … hatte, ist nach Algerien verschickt wor- den; ich habe mein Honorar bekom- Florian Schuller: … war zumindest men, aber noch nicht einmal meine Ar- früher immer so … beit zurück, nichts – der Bischof war nicht mehr zu sprechen für mich. Jetzt Bischof Friedhelm Hofmann: … es ist er tot. In jedem Buch über französi- gibt Glasfenster, in denen schreckliche sche Glasmalerei sind meine Fenster Dinge dargestellt sind. Aber das Böse drin, und die sind nie ausgeführt wor- darf nicht verherrlicht werden. Ich darf den. So viel zu dem, was die Kirche, nichts in die Kirche hineinnehmen, was wenn sie nicht will, machen kann. dem Kirchenbesucher suggeriert, du kannst genauso handeln, da bist du in Bischof Friedhelm Hofmann: Ja, Ordnung. Das geht nicht. Aber das Böse aber das hat mit der Fragestellung an sich, sagt Papst Johannes Paul II. nichts zu tun. Wenn Sie Pornographie ganz deutlich, hat in der Kirche seinen dargestellt hätten, hätte der Bischof das Platz, denn es ist ein Stück unserer Rea- Recht gehabt, nein zu sagen … lität. Wir sind ja auf dem Weg und ver- suchen, es zu überwinden. Markus Lüpertz: … ja, gut, aber ich … Florian Schuller: Das heißt, es gibt Bischof Friedhelm Hofmann: „Es wäre das Schlimmste, wenn nicht die absolute Freiheit des autono- Bischof Friedhelm Hofmann: … wir die Kunst verzwecken würden, wenn wir den Künstler men Künstlers für die Kirche? aber wenn er die Vorstellung hat, in benutzen würden, um unsere Vorstellungen weiterzugeben.“ Adam ein Kind zu sehen – dann ist er Bischof Friedhelm Hofmann: Doch, meines Erachtens nicht im Recht. Er die gibt es. Der Künstler ist autonom. hatte nur den Wunsch, und da muss Es wäre das Schlimmste, wenn wir die man sich einigen. Kunst verzwecken würden, wenn wir Markus Lüpertz: … Ich weiß, ja. Sie interessiert, wie sind die gemacht den Künstler benutzen würden, um un- Markus Lüpertz: Er ist extra ange- Aber in 20 Jahren kann man den Ger- worden im 11., 12., 13. Jahrhundert. sere Vorstellungen weiterzugeben. Das reist, aber ich bin in meiner Art auch hard ja nicht mehr zur Rechenschaft War es tatsächlich „nur“ diese Form der darf nicht sein. Der Künstler muss frei stur. Das ist nun einmal das Schicksal ziehen, er ist 85. Arabesken, wie Sie das mit der Bleiver- sein, er muss autonom sein, aber das, des Künstlers, wenn er hinter seinen glasung hinbekommen, oder hat Sie der was er macht, muss letztlich integrier- Sachen stehen will; dann muss er auch Bischof Friedhelm Hofmann: Aber Inhalt, die Botschaft in St. Andreas, bar sein in unseren Verkündigungsauf- dran glauben, was er macht, und es man kann sagen, er hat die mittelalterli- oder das Gegenständliche, was Sie dar- trag. verteidigen. Aber ich hatte gedacht, che Glaskunst ernst genommen. Wenn stellen wollen, nicht ebenso gereizt, dann soll eben der Staat entscheiden, man sich nämlich diese Fenster ansieht, oder haben Sie das einfach als gegeben Florian Schuller: Wenn er das Böse aber nein, der Bischof bekam Recht. sieht man genau, dass er die mittelalter- genommen? verherrlichen würde in seiner Autono- War schade, es war eine wunderbare lich respektierten Grenzen zum Stein mie, würden Sie die Grenzen ziehen … Arbeit. gewahrt hat. Er hat Parallelen geschaf- Markus Lüpertz: Sie müssen das im- fen, die sich in dem Fenster sehr wohl- mer trennen. Der Anlass, woraus man Bischof Friedhelm Hofmann: … da Florian Schuller: Ein Wort spielt bei tuend erschließen … seine Inspiration zieht, diese Legende würde ich die Grenze ziehen. solchen Diskussionen immer eine große der Makkabäer, hat mich natürlich fas- Rolle: Blasphemie. Wir sind uns wahr- Markus Lüpertz: … er hat das Maß- ziniert. Das ist eine wunderschöne Florian Schuller: Professor Lüpertz, scheinlich alle einig hier im Raum, dass werk rausgelegt … Geschichte. Wo kann man schon in wie sehen Sie die Freiheit, die Auto- der Staat, die Justiz Gott nicht zu vertei- der Kirche Totenköpfe, Leichenteile, nomie des Künstlers im Verhältnis zu digen braucht, sondern es geht um reli- Bischof Friedhelm Hofmann: … er Menschen, die gebraten und gekocht dem, was in der Kirche möglich ist? giöse Grundbefindlichkeiten, die ange- hat insofern den gotischen Geist der werden, darstellen. Es ist wahnsinnig Gibt es Grenzen der Autonomie des griffen werden. Kann es so etwas wie Fenster in die moderne Fenstergestal- aufregend und spannend, wie man das Künstlers? Kriterien zur Umschreibung von Blas- tung hineingenommen. in die Kirche bringt. Das ganze Mittelal- phemie geben? ter ist zwar voll davon, aber es gab na- Markus Lüpertz: Ich glaube, dass es Florian Schuller: Herr Bischof, Sie türlich auch einen Aufschrei bei ganz keine Grenzen gibt. Ein verantwor- Markus Lüpertz: Blasphemie ist eine waren für beide Projekte verantwort- bestimmten Dingen – aber das ist wie- tungsvoller Künstler, der Wert darauf Frage des geistigen Status der Zeit. In lich, sowohl im Dom wie in St. Andre- der eine andere Geschichte. Dass ich legt, sein Bestes zu geben, hat das Prob- der Renaissance, als die Kunst eine in- as, also für zwei sehr unterschiedliche mit meiner eigenen Zeichnung da rein- lem nicht. Das hängt von der Qualität tensive Ehe und Verbindung mit der Herangehensweisen. Heißt das, beide gehe, war klar. Aber das ist mein Priva- ab, und die Qualität verführt den Auf- Kirche hatte, unterlagen auch die Künst- Herangehensweisen sind nicht nur vom tim, meine Inspiration, mein Anlass. traggeber letzten Endes, es zu akzeptie- ler einer Inquisition. Die Inquisition Formalen, sondern auch vom Inhaltli- Das Erstellen eines Glasfensters, das ren, wenn er die nötige Sensibilität be- hatte einen ganz anderen Status, als das chen her gleichberechtigt? meiner Vorstellung von einem Glasfens- sitzt. Wir hoffen doch, dass die Kirchen- heute vorstellbar ist. Wir sind ja heute ter entspricht, ist dann etwas ganz an- männer, die den Auftrag geben, das mit toleranten, großzügigen, weltoffe- Bischof Friedhelm Hofmann: Das deres. Ich sagte ja, es gibt nichts Neues Künstlerische in erster Linie sehen, und nen Kirchenmännern konfrontiert. Da- möchte ich schon sagen. Die Fenster in der bildenden Kunst, es gibt immer nicht sich daran stören, dass irgendwo mals, obwohl sie hochgebildet waren, von Markus Lüpertz passen in ihrer nur neue Künstler, und ich bin inner- ein Bein abgeschnitten wird. Das habe hatten sie doch ganz klare Vorstellun- Aussagekraft und in der bildnerischen halb dieser ganzen Geschichte von ich auch komischerweise, ich mache gen, was Kunst ist und was nicht. Die Gestaltung des Künstlers eindrucksvoll Glasfenstern als neuer Glasmaler aufge- das ja schon einige Zeit, nie erlebt. Renaissancekünstler mussten unheim- nach St. Andreas. Und das Fenster von treten und habe mich dieser Vorgabe Einmal hatte ich einen wunderbaren liche Kapriolen schlagen, um ihre revo- Gerhard Richter ist ein Lichtschleier, gestellt und bin, Gott sei Dank, auch Auftrag, Glasfenster in der Kathedrale lutionären Gedanken zu verstecken. Es der in dem Dom eine Wunde schließt, und selbstverständlich zu etwas Eige- Saint-Cyr-et-Sainte-Julitte in Nevers. war ein ewiges Spiel, das stattgefunden die geschlossen werden musste. Da- nem gekommen. 24 Glasfenster, die ganze Genesis. Drei hat, und dabei sind großartige Werke durch ist ein Farbfluss in den Dom hin- Fenster wurden schon in Paris geschnit- entstanden, gerade durch Andeutungen eingekommen, der ihm sehr gut tut. Florian Schuller: Kann man das so ten, sie wurden mit Kitt geklebt, riesige und Verspieltheiten. Aber die reine, Man merkt ja, das Fenster verliert nicht sauber trennen, die persönliche Inspira- Fenster, und in der Mitte waren Eva plumpe Blasphemie ist eigentlich in der an Attraktivität. Viele Leute kommen tion durch die Geschichte, Ihre ganz und Adam. Dann kam der französische Kirche nie vorgekommen, und ich kann und lassen sich vom Lichtspiel beein- persönliche innere Situation … Bischof. Sie dürfen nicht vergessen, in auch keinen großen Künstler nennen. flussen und beeindrucken. Frankreich gehören die Kirchen dem Nehmen Sie mal die Sixtina, was da Markus Lüpertz: … nein, nein, die Staat, der letzten Endes dafür verant- alles an nackten Frauen zu sehen ist, da Florian Schuller: Professor Lüpertz, kann man nicht trennen, das ist eins. wortlich ist, was da rein kommt. Und wird die Haut abgezogen, da werden Sie sagen, bei den Glasfenstern habe Nur, ich rede vom Anlass, und dass ich ich habe mit dem Bischof einen Streit Leute gepeinigt. Eine größere Toleranz

18 zur debatte 6/2017 als Michelangelo von den Päpsten be- während Papst Benedikt XVI. dort zu kam, um die Sixtina zu malen, hat es in Besuch kam, wurde er noch schnell der bildenden Kunst nicht gegeben. Ob vom Diözesanmuseum entfernt. wir heute so tolerant wären wie damals, halte ich für ein Gerücht. Bischof Friedhelm Hofmann: Für mich ist es zumindest an der Grenze Florian Schuller: Wenn ich wie Mi- der Blasphemie. Was der Künstler er- chelangelo dem Vertreter der Hölle das klärend dazu gesagt hat, öffnet einem ja Gesicht des Chefzeremoniars des Paps- die Augen dafür, dass er etwas ganz an- tes gäbe, dann bekäme ich bestimmt deres damit darstellen wollte. Aber für Schwierigkeiten. den unvoreingenommenen Betrachter muss es blasphemisch sein, wenn er Markus Lüpertz: Es hat ja dann ei- eine Verhöhnung des gekreuzigten nen Papst gegeben, der hat alles wieder Herrn in diesem Frosch sieht. Wenn der zumalen lassen. Es kam wie immer die Künstler aber sagt, er hätte eigentlich Gegenbewegung. Deswegen meine ich, sich selber oder unsere Art, wie wir mit wir brauchen uns um Blasphemie gar der Natur umgehen, visualisieren wol- nicht zu kümmern, weil die Blasphemie len, dann hat das Bild auf einmal einen in den Ateliers stattgefunden hat. Es hat anderen Stellenwert. antikirchliche Bilder gegeben, die auch ausgestellt wurden, oder Leute, die da- Florian Schuller: Für mich war nicht mit provoziert haben. Das muss man der gekreuzigte Frosch das Problem, dann selbst ausbaden. Aber die Kirche sondern der Bierkrug an der ausge- war immer intelligent genug, und, Gott streckten Hand. Durch den empfinde sei Dank, auch die Künstler waren in- ich das ganze Werk als blasphemisch. telligent genug, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und es mit sicherlich Markus Lüpertz: Der Kippi war ein grenzgängigen Formen darzustellen. netter Mann. Er hatte den Kopf voller Das hat eigentlich bis jetzt funktioniert, Flausen und toller Ideen und Witze. Ich Saßen in der ersten Reihe (v.l.n.r.): mann Dr. Walter Zahner, Mitglied im weil es noch eine intelligente Auseinan- fand das als ziemlich dummes Zeug, mir Schweinfurts Oberbürgermeister Bildungsausschuss der Katholischen dersetzung gibt. war das zu simpel. Aber die Erklärung, Sebastian Remelé, Schweinfurts Akademie, und Bernhard Schweßinger, die Sie gerade geliefert haben, ist ja lo- Landrat Florian Töpper, Landtagspräsi- der Pressesprecher des Bistums Florian Schuller: Kann man Blas- gisch. Er wollte darauf hinweisen, was dent a. D. Johann Böhm, Kunstfach- Würzburg. phemie umschreiben? wir alles kreuzigen, sogar den Heiland. Wir haben eine Avantgarde gehabt in Bischof Friedhelm Hofmann: Nein, den 50er Jahren. Sie war eine wichtige das kann man nicht. Es gibt nicht die und erstaunliche künstlerische Bewe- eindeutigen Grenzen ... gung. Das waren Marcel Duchamp mit Markus Lüpertz: … den ich ja für ei- erzählt Ihnen was. Nur, eine Badewan- seinem Urinal, Lucio Fontana mit sei- nen ganz großen Künstler halte, einen ne an der Wand mit ein paar Pflastern Markus Lüpertz: … die Zeit ent- ner zerschnittenen Leinwand, und all der wichtigsten deutschen Künstler, wie dran wird nie ein Kunstwerk. Sie ist scheidet, was Blasphemie ist und was diese ganzen Geschichten. Das ist si- ich eingangs sagte, der uns international eine Devotionalie einer Zeit, und war- nicht … cherlich wie ein frischer Wind durch die möglich gemacht hat. Wenn Sie heute um nicht? Man kann ja durchaus den Kunst gegangen. Werte haben sich ver- eine Beuys-Ausstellung sehen, ist das Zeigefinger von Francis Bacon bei sich Bischof Friedhelm Hofmann: Eine ändert, und deshalb ist das eine hohe, dummes Zeug. Das Zeug ist alt, verrot- in Formaldehyd zuhause liegen haben Verhöhnung Gottes hat in der Kirche großartige Leistung gewesen. Die Pro- tet, ist versumpft, dann steht da ein in- und das dann irgendwie als Kunstwerk keinen Platz. Darauf müssen wir ach- dukte dieser Zeit sind aber lediglich telligenter Kunsthistoriker daneben und verehren. Ist ja wunderbar, dagegen ist ten, dafür sind wir zuständig, und das Devotionalien einer Absicht. Ein Urinal muss auch durchgefochten werden. wird nie eine Skulptur. Sie können es Aber die großen Künstler haben das tausendmal auf ein Podest setzen, Sie auch nicht gemacht. Ich sehe weder im können es 25mal ins Museum hängen, Mittelalter noch in der Renaissance sol- es bleibt ein Urinal. Also, es ist lediglich che Tendenzen in der Kirche … eine Devotionalie. Wenn man die Avantgarde in ihrer Zeit lässt, ist sie Markus Lüpertz: …aber es hat nach- wunderbar. folgende Zeiten gegebe n, die das als Jetzt aber wurde plötzlich der Avant- Blasphemie gesehen haben, puritani- gardismus spannend und aufregend. sche Zeiten … Denn das konnte ja jeder machen, schließlich haben die Leute genug Ein- Bischof Friedhelm Hofmann: … So fälle. Da kam dieses fürchterliche Wort ist es. Auch außerhalb der Kirche … „kreativ“, jeder war plötzlich kreativ, und die Museen füllten sich mit irgend- Markus Lüpertz: … auch innerhalb welchen Einfällen, die immer auf diesen der Kirche gab es dann plötzlich zum avantgardistischen Gedanken basierten, Beispiel einen Puritanismus, wenn sie und führten dazu, dass die Museen heu- den Michelangelo zugemalt haben … te wie Geisterbahnen aussehen, wo man mit kleinen Wägelchen durchfahren Bischof Friedhelm Hofmann: … ach kann. Da kniet dann irgendwo ein Hit- so, mit den Höschenmalern. ler, oder es hängt ein halbes Pferd aus der Wand. Das ist alles sehr amüsant Markus Lüpertz: Blasphemie ist ein und vielleicht auch lustig. Man sieht ja Zeitbegriff. Nach dem Holocaust gibt es auch, Leute haben mal ihren kurzen Er- bestimmte Dinge, die von vornherein folg, dann fallen die Sachen um, oder, blasphemisch sind. Das weiß man, und wie der Haifisch von Damien Hirst, der da lässt man eben die Finger davon. Da löst sich auf in Formaldehyd. muss man, wenn man sich damit ausei- Solche Dinge lenken den Blick auf nandersetzt, eben sehr sensibel und sehr die Kunst, nur hatte der Avantgardis- abstrakt drangehen. mus etwas anderes vor. Er wollte nicht gelehrt werden; aber wenn Sie heute an Bischof Friedhelm Hofmann: Noch- die Akademien gehen, hören Sie diesen mals zu Michelangelo: Er hat zwar nack- ganzen Unsinn. Den hat es zu meiner te Gestalten gemalt, aber keine Porno- Zeit nicht gegeben, den habe ich gar graphie. Das ist der große Unterschied. nicht zugelassen. Die Nacktheit des Menschen ist ja nichts Später, nach einem langen Leben, Schlechtes, und die hat auch in der Kir- kann man sich dann mal einen Witz che Platz, wenn sie denn in der Schöp- einfallen lassen, wie das meinetwegen fung gewürdigt wird, und nicht, wenn bei den Künstlern der 20er Jahre pas- man Pornographie daraus macht. siert ist. Das ist möglich, aber nicht als Leistung, weil das keine Kunstwerke Florian Schuller: Versuchen wir es sind. Es sind Devotionalien einer ganz doch einmal an einem Beispiel zu kon- bestimmten Zeit und einer ganz be- Markus Lüpertz: „Es gibt kein Kriterium für ein Bild, wenn Sie kretisieren: der gekreuzigte Frosch mit stimmten Idee. Schauen Sie den von nicht viele Bilder gesehen haben.“ dem Bierkrug in der Hand von Martin mir so hochverehrten Beuys … Kippenberger. Ist das in Ihren Augen, Herr Bischof, Blasphemie oder nicht? Florian Schuller: … auf den wollte Als der Frosch in Brixen ausgestellt war, ich gerade verweisen …

zur debatte 6/2017 19 nichts zu sagen. Nur, es sind eben, wie Würdenträger, Künstlern ins Gewissen“. gesagt, keine Kunstwerke in dem Sinne, Das Gedicht lautet: wie ich es verstehe. Es hat immer Künstler gegeben, die Er sagte nicht: seid sich absolut auf die Zeit eingelassen ha- schöpfer, ben, Dieter Roth zum Beispiel. Er hat Er sagte, dient also eine Scheibe genommen, eine Sala- dem glauben mischeibe, dann noch eine und noch So gering ist sein glaube eine und immer so weiter… Wenn Sie in die schöpfung oben draufgeguckt haben, dann sieht das wunderbar aus, verrückt. Und heute? Herr Bischof, wie steht es im Allge- Der Mann, der das damals gekauft hat meinen mit der Offenheit, mit dem En- für teures Geld, der hat heute ein paar gagement in der Kirche gegenüber der vergammelte Scheiben Wurst. Das kann Kunst? er vielleicht einsprühen und in einen Kä- fig tun, mit einem Glas herum, und sa- Bischof Friedhelm Hofmann: Ich gen, das ist toll. Man geht hin und sagt, hoffe, dass wir offen sind für die Künst- was, das ist ein Dieter Roth, ja, toll, und ler, für die Kunst, und zwar auf Zukunft die Wurst ist weg. Solche Dinge sind in hin. Wir können nicht nur rückwärtsge- ihrer Zeit wahnsinnig wichtig gewesen, wandt das verwahren, was sich ange- weil sie für den Intellekt, für die Freiheit, sammelt hat, sondern müssen innovativ für eine ganz bestimmte Nachdenklich- auf die Künstler zugehen und auf sie keit standen. Das sind gerade bei Dieter hören. Die Künstler sind kreativ auch Roth, der Schriftsteller werden wollte, im Glauben. Sie öffnen uns auch Augen ungeschriebene Gedichte. Sie haben und Wege, die wir von uns aus gar nicht durchaus ihre Berechtigung und leben verstehen, die das Wort nicht einholen in ihren Fotografien. Mit ihrer zeitge- kann. Das Bild hat eine völlig andere schichtlichen Bedeutung sind die Künst- Funktion als das Wort, und insofern ist ler gar nicht wegzudenken, aber was da es wichtig, den Künstlern, auch gerade Mit Prof. Dr. Michael Sendtner, Domkapitular Dr. Norbert Jung, Leiter steht, ist dummes Zeug. den bildenden Künstlern, den Freiraum Professor für Klinische Neurobiologie der Hauptabteilung Kunst und Kultur zu lassen; denn sie sind Rufer in der an der Universität Würzburg (li.), war im Erzbischöflichen Ordinariat Bischof Friedhelm Hofmann: Ge- Wüste, die unterwegs sind als Prophe- auch ein Mitglied der Akademieleitung Bamberg. rade bei Joseph Beuys sind die Aktio- ten. Davon bin ich fest überzeugt. in Schweinfurt. Neben ihm saß nen, die er durchgeführt hat, und die nachher in den, wie Sie sagen, Devotio- Florian Schuller: Umgekehrt, Profes- nalien übrig geblieben sind, das Ent- sor Lüpertz, braucht Kunst auch die scheidende. Aber ich würde auch sagen, Kirche? das hat mit unserem Kunstbegriff nichts Sie, zum Schluss nochmal kurz zu be- zum Teil nicht mehr verstanden haben. zu tun. Markus Lüpertz: Die Frage kann gründen, warum es gut ist, über diese Wir müssen helfen, dass die Menschen man nicht generell beantworten. Die Beziehung nachzudenken, und worin auch die Entwicklungen der zeitgenös- Markus Lüpertz: Solange Joseph da- Menschen brauchen die Kirche, und deren Herausforderung heute besteht. sischen Kunst verstehen und die Kunst neben stand, war alles wunderbar. Ich auch die Künstler. Aber das ist ein auffassen als Zeugnis für Gottes Schöp- habe noch nie einen Menschen kennen- menschliches Problem. Man ist gläubig Markus Lüpertz: Ich glaube, dass die fung. Die Künstler arbeiten in eine un- gelernt, der einen Raum so füllen konn- oder nicht gläubig. Man setzt sich mit Kirche einen großen Auftrag hat, diesen gewisse Zukunft hinein, aber im Ver- te wie er. Der hatte Magie, das war ein der Kirche auseinander; ich habe ein Frieden, in dem wir leben, zu sichern. trauen und in der Hoffnung, dass das, Zauberer, ein Hexenmeister. Der Mann eigenes Kirchenbild, ich glaube an die Wenn wir nicht mit einer starken Religi- was sie machen, Bestand hat. So geben war ein absolutes Phänomen, fröhlicher Kirche, ich glaube an die katholische on gegen andere Formen von Religion, sie eine Zukunftshoffnung mit, die auch Rheinländer, lachte viel. Und in seinen Kirche, ich glaube an ihre kulturelle Po- die aggressiver sind, mit einem gewissen für Frieden gilt, für Gerechtigkeit. Ge- Aktionen war er gnadenlos und phan- tenz, und ich bin fest davon überzeugt, Stolz und auch mit einem gewissen nau deshalb sitzen Kunst und Kirche in tastisch. Er hatte auch eine großartige dass diese Geschichte überlebt und auch Glauben angehen, dann sind wir verlo- einem Boot. zeichnerische Seite; das ist vielleicht, irgendwann wieder eine ganz andere ren. Die Kirche ist die letzte Institution, was künstlerisch bleibt. Er hat wunder- Notwendigkeit bekommt. Wir hatten ja jenseits der Polizei, jenseits von Über- Florian Schuller: Ihnen beiden ganz bar gezeichnet, ganz im Stile von Ewald gedacht, Demokratie habe etwas mit ei- wachung, die ethische Werte in die herzlichen Dank. Ich möchte schließen Mataré, dessen Schüler er war, mit Er- ner geistigen Freiheit zu tun. Aber man Menschen legen kann. Wir müssen dar- mit zwei Zitaten, die in ähnliche Rich- win Heerich zusammen. Der hat ja die hat die Demokratie nur benutzt, um zu an glauben, dass die Leute gut sind. tung gehen. Das erste stammt von Ih- Kölner Domtüren gemacht … verblöden, und damit leiden auch ganz Selbst wenn irgendwo ganz fürchterli- nen, Professor Lüpertz: „Malerei ist die bestimmte Dinge wie Kunst, Kirche che Sachen passieren, kann man nicht Begegnung mit dem Unbekannten, und Bischof Friedhelm Hofmann: … er oder Glauben. Mysterien werden nicht davon ausgehen, dass die Welt schlecht durch dich, den Maler, gibt sich das Un- hat mit daran gearbeitet. mehr zugelassen. ist. Wir haben keine andere Welt, wir bekannte zu erkennen.“ Und Sie, Herr Diese fehlende Bereitschaft zum werden nie eine andere erleben als die- Bischof, haben eine große Doktorarbeit Markus Lüpertz: Da gibt es die schö- Glauben verhindert aber auch die Be- se unsere Welt jetzt. Warum sollte das über die Darstellungen der Apokalypse ne Geschichte: Mataré suchte weiße reitschaft zur Liebe. Wenn deine Frau nun die schlechteste und böseste sein? nach dem Zweiten Weltkrieg geschrie- Mosaiksteine, aber solche waren nicht sagt, ich liebe dich, dann musst du das Das sehe ich nicht ein, das empfände ben und auf die letzte Seite dieser Ar- aufzutreiben, hat mir Heerich gesagt, ja glauben, du weißt es nicht. Wenn sie ich als Betrug. Deswegen glaube ich, beit ein Zitat von Reinhold Schneider kurz vor seinem Tode. Da sind sie dann heute Eheverträge sehen, die sind so dass es die schönste und beste, tollste gesetzt, der über christliche Dichtung nach Düsseldorf, dort gibt es die Mosai- weit von Liebe entfernt, weil es nur da- Welt ist, die wir haben. Ich gehöre zu spricht. Aber was er sagt, gilt nicht nur ke von Johan Thorn Prikker und Hein- rum geht, was passieren könnte, wenn einer Generation, die nie in den Krieg für Dichtung, gilt nicht nur für Christen, rich Nauen. An Thorn Prikker haben die Sache auseinandergeht. Das ist ab- musste. Mehr kann man eigentlich nicht und deshalb möchte ich es allgemein sie sich nicht vergriffen, aber nachts ha- surd. Sie werden da getraut in der Kir- erwarten. Stellen Sie sich einmal vor, auf Kunst hin formulieren: „Kunst, was ben sie aus dem Nauen die weißen Stei- che, bis dass Gott euch scheide. Aber was die Generation vor uns hatte! Mein ist sie? Baustätte ungebauter Dome, ne rausgeklaut, sind damit nach Köln davon ist gar keine Rede. Die Notare Vater war in zwei Kriegen. Wir haben zertrümmertes Mal ungestaltbarer Visi- gefahren und haben sie dann in die Köl- füllen ganze Titel und Seiten aus. Die- so viel auf der positiven Seite, und on, brechende Brücke, Pfeiler im Strom, ner Domtür eingesetzt. ser Glaubensverlust, der Verlust an eine wenn das noch mit einer gewissen Mys- geborstene Säule. Die Trümmer werden Bereitschaft zu glauben oder an eine tik und Bereitschaft zum Glauben und zu Zeichen und Zeugen der Wahrheit. Bischof Friedhelm Hofmann: Das Freundschaft zu glauben oder an ein Vertrauen gepaart wird, dann hätten wir Dass sie die Wahrheit, die frei macht, höre ich zum ersten Mal! ewiges Leben zu glauben oder zu glau- eine glückliche Zeit. ins Herz senken, ist ihre einzige, ihre ben, dass die Menschen gut sind, also, unabdingbare Macht.“ Reinhold Schnei- Florian Schuller: Man merkt die alte all das, was das Zusammenleben über- Bischof Friedhelm Hofmann: Die der. Und nochmal Lüpertz: „Malerei ist Gegnerschaft zwischen Düsseldorf und haupt möglich macht, liegt im Argen. Kunst und die Kultur sind im Raum des die Begegnung mit dem Unbekannten, Köln! Wir leben deshalb ständig mit Versi- Glaubens entstanden. Wenn wir in die und durch dich, den Maler, gibt sich das cherungen: Sie müssen sich im Auto an- ganz alten Zeiten zurückschauen, nach Unbekannte zu erkennen.“ Der heutige Bischof Friedhelm Hofmann: Ich schnallen, weil ja was passieren könnte. Altamira oder Ayers Rock bzw. Uluru in Abend hat etwas aufscheinen lassen von weiß nur, dass Joseph Beuys einen Teil Aber ich muss ein Idiot sein, wenn ich Australien mit den Höhlenmalereien diesem Geheimnis der Kunst. „ seines Rasierspiegels in diese Tür einge- ins Auto steige, wenn ich wüsste, es pas- vor 20.000, vor 40.000 Jahren, sieht bracht hat. Aber der existiert auch nicht siert da etwas. Wir haben Frieden in man, dass sich Kunst und Kultur im re- mehr. Deutschland, schon ziemlich lange. ligiösen Raum wegen des Mysteriums Aber die Leute können gar nicht im entwickeln konnten. Und sie sind für Florian Schuller: Kommen wir Frieden leben, weil sie ihn gar nicht le- mich immer auch Türöffner ins Jenseits, noch einmal zum Thema Kunst und ben können, weil er ständig verteidigt zu Gott. Die Kunst ist deshalb im kirch- Kirche. Herr Bischof, Sie haben heuer wird. Wir sind ständig in einer Art lichen Raum beheimatet und muss auch eine Sammlung wichtiger Ansprachen Kriegszustand, den Frieden zu verteidi- diese Heimat behalten. Wir dürfen das am Würzburger Aschermittwoch der gen. nicht abtrennen, wie im 19. Jahrhundert Künstler herausgegeben. Vom Ascher- die Kunst auswanderte, auf die Straße mittwoch 2009 ist ein Gedicht von Rei- Florian Schuller: Unser Gespräch ging, und dann ein Problem der Rezep- ner Kunze dokumentiert: „Geistlicher ging über „Kirche und Kunst“. Ich bitte tion begann, weil die Leute die Kunst

20 zur debatte 6/2017 Bischof Dr. Konrad Zdarsa und Ministerpräsident Stanislaw Tillich Ein Akademiegespräch zu „Kirche in säkularisiertem Umfeld“ 3. Mai 2017, Pfarrzentrum St. Salvator in Nördlingen

Florian Schuller: Das Thema „Kirche in säkularisiertem Umfeld“ zu reflektie- ren, war zunächst einmal von Bischof Konrad her selbstverständlich; wurden Sie doch stark von Ihrer Erfahrung in der DDR-Diaspora geprägt. Und Sie, Herr Ministerpräsident, sind Sachse und Sorbe und damit hängt dann auch katholisch zusammen …

Stanislaw Tillich: … genau …

Florian Schuller: Herr Bischof, Sie sind ein Mensch mit sozusagen mehrfa- chem Migrationshintergrund. Der Vater stammt aus Neumarkt in der Steier- mark, die Mutter aus der Oberpfalz. Ihr Wappen enthält die Farben der Länder Sachsen und Steiermark, weiß-grün, so- wie Bayern, weiß-blau. Bischof sind Sie seit 2010 bei uns in Augsburg, und das Vögelchen mit Ölzweig steht für die Heimatstadt Hainichen, wo Sie 1944 geboren wurden, der Fisch mit Schlüs- sel für den heiligen Benno und das Bis- tum Dresden-Meißen, wo Sie die Pries- terweihe erhielten und später General- vikar waren; die Jakobsmuschel weist auf die Kathedrale St. Jakobus im Bis- tum Görlitz hin, wo Sie von 2007 bis 2010 Bischof waren. Sie haben einmal zu Ihrem Bischofswappen erläutert: „Es soll meine natürliche und meine geist- Das Podiumsgespräch zwischen dem erklärt) und Bischof Dr. Konrad Zdarsa liche Herkunft, meinen natürlichen und sächsischen Ministerpräsidenten Stanis- von Augsburg fand vor 200 Zuhörern meinen geistlichen Weg symbolisch be- law Tillich (nach der Bundestagwahl statt. Die Moderation hatte Akademie- zeichnen.“ Für mich fehlt jetzt bei Ihrem im September hat er seinen Rücktritt direktor Dr. Florian Schuller. Wappen nur noch ein einziges Symbol Ihrer diversen Migrationswege: eines für Rom, weil Sie dort ja auch einige Zeit gelebt haben. Von diesen vielen Berei- chen, zwischen denen Sie migriert sind, ein Landstrich mit Eigenarten. Die Sor- der Umgebung verwurzelt. Ich erwähn- tun, lautete dann: „Der Glaube ist mein welcher hat Sie am stärksten geprägt? ben sind eine kleine slawische Minder- te das Zisterzienserkloster, wo ich als Anker“. Das war mein letzter Satz in je- heit im Osten Deutschlands. Ich bin Ministrant, später als Lektor am Kir- nem Interview, und ich fand das gut. Bischof Konrad Zdarsa: Nun, das ist froh, dass ich diese Sprache schon als chenleben teilgenommen habe. Ich bin Damit wussten auch alle Bescheid, wen natürlich – schon wegen der Länge der Kind habe erlernen können. Wenn ich heute noch Freundeskreisvorsitzender sie da gerade gewählt haben. Also, von Zeit – zunächst einmal Sachsen. Aber, heute zu den Kollegen nach Tschechien des Klosters St. Marienstern, die Ver- daher ist der Sorbe und ist auch der Ka- weil Sie Rom angesprochen haben, ich oder Warschau fahre, kann ich auf den bindung ist ganz einfach da. Zweitens tholik in Sachsen wohl akzeptiert. würde schon auf die Kirchenfarbe weiß- Dolmetscher verzichten, der Botschafter war es auch ein gewisser Schutz. Wir gelb, bzw. silber-gold hinweisen, die braucht meistens einen. Es ist aber nicht waren als Sorben eine Minderheit, die Florian Schuller: Herr Bischof, die auch im Wappen mit drin ist. Die fünf ganz richtig, dass sorbisch und katho- es nicht immer einfach hatte zu DDR- Katholische Akademie Bayern hat 1970 Jahre des Studiums in Rom waren doch lisch gleich ist. Es gibt auch viele Sor- Zeiten, und schon gar nicht die Katholi- dem damaligen Professor Joseph Rat- sehr prägend. Damit will ich mich aber ben, die Protestanten sind; mein Vater ken. Das hat einen natürlich bewogen, zinger die Aufgabe gestellt, bei einem nicht hervortun. Vielmehr hat mich das war zum Beispiel einer. Er hat aber das erst recht nicht nachzugeben. Vortrag vor tausend Personen die Frage nicht nur die Mühe des Studiums ge- Glück gehabt, meine Mutter geheiratet Sie wissen, auch in der Wendezeit zu beantworten: „Warum ich noch in kostet, mit Vorlesungen noch in lateini- zu haben in der katholischen Gegend, haben die Kirchen, die evangelische wie der Kirche bin?“ Was hat Sie in die Kir- scher Sprache, sondern mich auch im- und deswegen bin ich katholisch gewor- die katholische, eine wichtige Rolle ge- che hineingeführt, über die Familie hin- mer wieder mit der Frage konfrontiert, den. Panschwitz-Kuckau oder Kloster spielt. Sie waren Mitträger der friedli- aus, was hat Sie in der Kirche gehalten warum gerade ich die Weltkirche vor St. Marienstern, wo ich aufgewachsen chen Revolution und Heimstatt für die- und geprägt? römischem Hintergrund kennenlernen bin, war zu 98 Prozent katholisch. Mit jenigen, die sich dabei engagierten. Von durfte. Ich bin im Nachhinein sehr fünf Jahren habe ich von meinen Nach- daher ist das, was sich im Lebenslauf Bischof Konrad Zdarsa: Diese Frage, dankbar dafür. barn Deutsch gelernt und erst ein paar widerspiegelt, Ausdruck dieses Selbstbe- warum ich noch in der Kirche bin, habe Jahre später habe ich mitbekommen, wusstseins. Angesichts einer Situation ich erst im Westen kennen gelernt. Das Florian Schuller: Herr Ministerpräsi- dass es außer der katholischen Welt in Sachsen, wo drei Prozent der Bevöl- war für uns keine Frage. Ich kann es dent, von Ihnen gibt es den Ausspruch: auch noch etwas anderes gibt. kerung katholisch sind, sollen die Men- ganz einfach so sagen: Das Wichtigste „Ich stamme aus Neudörfel, einem klei- schen schon wissen, dass es einen Mi- für den Erstkommunionunterricht habe nen Dorf in der Oberlausitz. Dort wur- Florian Schuller: Auf der offiziellen nisterpräsidenten gibt, der selbst gläubig ich von meiner Mutter gelernt. Wir gal- de ich 1959 in einer sorbischen Familie Homepage des Freistaats heißt es: „Er ist und in seinem politischen Handeln ten, wie man sich ausdrückte, als erzka- geboren. Zuhause sprachen wir nur sor- ist Sorbe und katholisch“. Da ist es vom Glauben geleitet wird. Bisher hat tholisch. Insofern waren die Fronten bisch miteinander.“ Wenn ich Ihrem schon rein grammatikalisch verbunden. das geholfen und nicht geschadet. von vornherein klar. Lebenslauf nachgehe: Sorbe, Sachse, Sie schreiben, „Meine Eltern erzogen In meiner Lehrzeit kam der Ausbil- Deutscher – und in der Politik waren mich im katholischen Glauben, der Florian Schuller: Sie sind schon der zu mir an die Drehmaschine und Sie dann von Anfang an sehr stark auf mich bis heute tief prägt und mir Halt zweimal wiedergewählt worden. fragte, ob ich zu der politischen Veran- Europa ausgerichtet. Wie hängt das zu- gibt“. Wie hat diese konkret ausgese- staltung für die Opfer des Faschismus sammen? hen, Ihre katholische Sozialisation? Stanislaw Tillich: Richtig. Die Über- mitkomme. Ich habe gesagt, nein, da schrift über mein erstes Interview, das kann ich nicht, denn da will ich in die Stanislaw Tillich: Das schließt sich Stanislaw Tillich: Sie wurde von den gar nicht so beabsichtigt war, aber die Kirche. Darauf ging er sofort zu einem keineswegs aus! Auch das Ries hier ist Eltern mitgegeben und war zugleich in Journalisten sind ja frei in dem, was sie anderen Arbeitsplatz an eine andere

zur debatte 6/2017 21 galt dann noch eher als gesellschaftli- Na ja, das ist die verkürzte Form. Ich ches Engagement. Aber den Ausschlag könnte jetzt sagen: Kreißsaal, Abitur, gab, dass ich nicht in der Pionierorgani- Studium der Politikwissenschaften, As- sation gewesen bin und auch nicht zur sistent beim Landtagsabgeordneten, Jugendweihe gegangen war. Man hatte Landtagsabgeordneter oder Bundestags- in der DDR eben wirklich kein Interes- abgeordneter, später Minister. se, solche jungen Leute zu fördern. Ich Es kommt schon darauf an bei einer war nicht der Einzige, dem das so ge- Politikerkarriere, dass man mehr kennt gangen ist. Auch Jugendliche ausgeprägt als nur die politischen Zusammenhän- bürgerlicher Herkunft wollte man nicht ge. Die Menschen haben ihre eigenen weiterkommen lassen. Man hat mir ei- Biographien, ihre eigenen Lebenswirk- nen Platz auf der zehnklassigen Mittel- lichkeiten. Um darüber entscheiden zu schule zugestanden. Und dann ging es können, wie diese sich entweder so darum, einen Beruf zu lernen. Später oder so ändern sollen, weil man das aus erst kam die Frage, wozu bin ich da, wie seiner politischen Überzeugung heraus kann ich meine Gaben und Fähigkeiten meint, dazu sollte man ein bisschen in- am besten einbringen. tensiver Bescheid wissen. Nur durch Zuhören alleine ist das nicht getan, son- Florian Schuller: Was war dann der dern die eigene Erfahrung ist sicherlich Auslöser, dass Sie in Richtung Priester- eine Bereicherung, die einem niemand tum gegangen sind? nehmen kann. Deswegen wünsche ich mir, dass es auch in Zukunft Menschen Bischof Konrad Zdarsa: Interessan- gibt, die sich dafür entscheiden, erst ei- terweise hatte ich nicht von vornherein nen Beruf zu erlernen, um dann aus in der Grundschule oder von der Erst- dem beruflichen Leben heraus in die kommunion an diesen Gedanken, son- Politik zu wechseln, damit es eben nicht dern bin erst in jener Situation zum nur jene anderen gibt. Nachdenken gekommen, als man mir einen normalen Bildungsweg verwehrt Florian Schuller: Wobei es die Quer- hatte. In Dresden haben wir einen heu- einsteiger in allen Parteien immer schwe- te noch sehr beliebten Exerzitienort, rer haben. und dort kam ich mit einem Jesuiten ins Gespräch. Erst da hat sich der künftige Stanislaw Tillich: Ja, da war unser Weg entfaltet und verfestigt. Glück die Wiedervereinigung. Damals liefen Demonstranten um das Stasi-Ge- Florian Schuller: Herr Ministerpräsi- bäude herum und riefen: „Stasi in die dent, zu Ihrer beruflichen Karriere: Was Produktion“. Als die frei gewählte Volks- hat Sie bewogen, Diplom-Ingenieur im kammer zusammenkam, wurde gefragt, Stanislaw Tillich: „Die Sorben sind eine kleine slawische Bereich Elektrotechnik zu werden? wer macht’s, und dann hieß es, du hast Minderheit im Osten Deutschlands. Ich bin froh, dass ich diese Sind Sie ein naturwissenschaftlich den- die große Klappe, mach’s mal. In der Sprache schon als Kind habe erlernen können.“ kender Mensch? Und wie bringen Sie Zeit hatte ich gerade mein Unterneh- das mit dem Glauben zusammen? men gegründet. Das hat sich nicht rich- tig miteinander vertragen, aber irgend- Stanislaw Tillich: Noch eine ergän- wie ging es doch fünf Jahre gut. Irgend- zende Bemerkung zu Herrn Bischof wann habe ich gesagt, ich bleibe jetzt in Maschine, das Thema war gegessen. Bischof Konrad Zdarsa: Ja, zunächst Zdarsa, weil das etwas Wichtiges war, der Politik. Ich war in Brüssel, für einen Und das ist anwendbar auf alles. Man einmal, ich hatte sehr gute Zensuren. was er antippte. Zu DDR-Zeiten war es Ostdeutschen eine ganz neue Welt. Sie wusste sehr wohl, woran man bei uns Im Abschlusszeugnis der 8. Klasse zehn nicht üblich, dass man aus der Kirche wissen, wir haben ja nur auf Kurzwelle war, und das war nicht erschwerend, Einsen und drei Zweien. Der statt mei- austrat. Es ist erst Mode geworden nach RTL 49-Meter-Band gehört. Das war in sondern eher erleichternd. Allerdings ner genommen wurde, der hatte zehn der Wiedervereinigung. Dresden. Westliches Fernsehprogramm konnte man dann auch nicht damit Einsen, zwei Zweien und eine Drei im wie zum Beispiel ARD konnte man rechnen, dass man sonderlich gefördert Sport. Florian Schuller: Manche sind sogar überall empfangen, außer im Raum und hofiert wurde. sicherheitshalber aus beiden Kirchen Dresden … Florian Schuller: Sie hatten im Sport ausgetreten, weil sie nicht wussten, in Florian Schuller: Sie haben eben Ihre auch eine Zwei … welcher sie drin sind. Florian Schuller: … im Tal der Ah- Lebensphase als Dreher angesprochen. nungslosen … Sie durften nicht studieren, weil Sie Bischof Konrad Zdarsa: … da war Stanislaw Tillich: Bei uns war das – nicht bei der Jugendweihe teilgenom- ich auch etwas beweglicher. Er war halt sorry, wenn ich das so sage – nicht eine Stanislaw Tillich: … und bei uns in men hatten. in einem Briefmarkensammelverein, das Frage der Kirchensteuer, sondern der der Oberlausitz war das noch einen Za- Überzeugung und des Glaubens. Das cken schärfer, weil es in der Nachbar- ist, Gott sei Dank, bis heute noch bei schaft den tschechischen Sender gab, vielen so geblieben. der immer genau auf dem Kanal, auf Jetzt zu Ihrer Frage. Bischof Zdarsa dem die ARD sendete, hineinstrahlte. hat darauf hingewiesen: Arzt oder Jour- Früher hat man sich dann ein schönes nalist oder auch Jurist konnte man zur vernebeltes Wochenende gewünscht. DDR-Zeit nur werden, wenn man die Heute wünscht man sich ein staufreies „richtige“ politische Überzeugung hatte. Wochenende. An einem vernebelten Ich habe mich in der Tat ein bisschen Wochenende gab es die ARD auch in für Technik interessiert. Ich hatte noch der Oberlausitz und in Dresden, aber das Glück, dass mir meine Eltern einen sonst nicht. Es gibt nicht so vieles, was Stabilo-Baukasten schenkten – da ist man damals hat wissen können über die dann irgendwo der Berufswunsch hän- andere Welt. Ich hatte dann einen Lehr- gen geblieben. In der damaligen Zeit meister, der auch in Bayern sehr bekannt gab es nicht die großen Chancen, Beru- ist. Wir saßen in der damaligen christde- fe zu erlernen. Wir wurden in der Schu- mokratischen Fraktion des Europäischen le den ganzen Tag und die ganze Nacht Parlaments nach dem Alphabet: Vor mir bearbeitet, entweder Offizier der Natio- saß Otto von Habsburg, und neben mir nalen Volksarmee zu werden oder Leh- saß Leo Tindemans, der ehemalige bel- rer. Wenn man etwas anderes werden gische Außen- und Premierminister. Die wollte, hatte man ein Problem. Deshalb beiden haben mir die Welt erklärt, und war schon Ingenieur etwas Außerge- ich habe das aufgesogen wie ein wöhnliches. Ich bin es heute noch und Schwamm. freue mich, wenn ich manchmal im Kol- legenkreise unter Juristen oder Geistes- Florian Schuller: Wir hatten schon wissenschaftlern als Naturwissenschaft- ein paar Mal die innerkirchliche Situa- ler auch Bescheid weiß, wie manches tion angesprochen. Es gibt dazu ja die zusammenhängt in dieser Welt. klassischen Stereotypen: Im Westen große Organisation, viel Geld, intensive Florian Schuller: … wenn man nicht Diskussionen, aber schwache Identität, Im vertrauten Zwiegespräch nach der von Anfang an Berufspolitiker war … andererseits in der DDR-Zeit klare Iden- Veranstaltung: Stanislaw Tillich und tität, aber auch als negatives Stereotyp Konrad Zdarsa. Stanislaw Tillich: … auch das ist von uns her, die katholische Kirche wichtig. Ich wünschte mir, dass die typi- schließt sich in den Binnenkreis ein, sche Politikerlaufbahn nicht so läuft: wirkt nicht nach außen. Ist an diesen aus dem Kreißsaal in den Plenarsaal. Stereotypen etwas dran?

22 zur debatte 6/2017 Bischof Konrad Zdarsa: Gegen Ende geboren, wir haben uns damals mit dem der DDR-Zeit hatte ich die Gelegenheit, Kreisschulrat herumgeschlagen. Der die Vereinigten Staaten zu besuchen, Kreisschulrat war für die Volksbildung gemeinsam mit meinem Freund, der zuständig, und da gab es urplötzlich die von dort stammte, und mit dem ich in Regel, dass nur drei Tage unentschuldig- Rom zusammen studierte. Da hat mich tes Fehlen erlaubt waren. Nun können der Zollbeamte am Flughafen gefragt, Sie sich vorstellen, Fronleichnam, bei wenn Sie Priester sind, wie kommen uns katholischen Sorben einer der größ- Sie da klar in Eastern . Mein ten Feiertage, dann natürlich Ostermon- Freund meinte, offensichtlich war dieser tag und noch Allerheiligen. Ich könnte Zollbeamte irischer Abkunft, weil er noch die Heiligen Drei Könige aufzäh- sich dafür interessiert hat. Ich habe ihm len, ein Feiertag, der noch zu meiner gesagt, wissen Sie, in der Kirche dürfen Kindheit und Jugendzeit groß gefeiert wir fast alles, außerhalb der Kirche dür- wurde. Das wären dann vier oder fünf fen wir fast nichts. Das war sehr holz- katholische Feiertage gewesen. Wenn schnittartig und plakativ, denn wir durf- man zu spät oder gar nicht in die Schu- ten in der DDR außerhalb der Kirche le kam, weil man den Feiertag mit den auch noch sehr viel. Es gab die Fron- Eltern begehen wollte, wurde das als leichnamsprozessionen in Dresden und unentschuldigtes Fehlen gerechnet, und Leipzig, ganz zu schweigen von den damit war das Kind versetzungsgefähr- katholischen Sorben. Das ist ohnehin det. Das Ergebnis war, dass wir dann noch eine besondere Situation gewesen. früh um halb sieben in den Gottesdienst Ich würde strikt verneinen, dass die ka- gegangen sind und kurz vor halb acht in tholische Kirche nur ein Nischendasein der Schule auftauchten. Das klappte, geführt hätte. Das ist nicht wahr. Unser weil der Pfarrer mit der Predigt schnell Erfurter Theologisches Studium war war. So haben wir uns in der katholi- schon weltweit bekannt durch seine schen Welt geholfen. Professoren, die auch in römischen Ins- In der Nähe von Neudörfel, wo ich titutionen mitwirkten. Aber die Ge- geboren bin, gab es ein Malteser-Kran- meinden und Bistümer haben auch viel kenhaus, das immer kirchlich, also ka-

Bischof Konrad Zdarsa: „Ich würde strikt verneinen, dass die katholische Kirche in der DDR nur ein Nischendasein geführt hätte. Das ist nicht wahr.“

waren damals grottenschlecht – das Und sie haben sich zumindest zurück- kann man sich alles gar nicht vorstellen. gehalten bei der Kritik und auch bei der Autos gab es ja so gut wie keine. Oder Einflussnahme. Das sind schöne kleine man wartete vierzehn Jahre darauf … Beispiele, wie es in der Vergangenheit gewesen ist. Florian Schuller: … Sie haben Ihr Auto, glaube ich, mit 18 Jahren Florian Schuller: Wenn ich Sie recht bestellt … verstanden habe, waren es damals die selbstverständliche Identität und die Stanislaw Tillich: … mit 18 Jahren Möglichkeit, begrenzt auch außerhalb bestellt, und ich hätte den Trabbi 1989 des Kirchenraumes präsent zu sein. bekommen. Ich habe dann darauf ver- Wenn wir die jetzige Situation ansehen zichtet, großzügig. Spaß bei Seite – zu- – welche der Erfahrungen aus der DDR- rück zum Thema: Also, die Kirche wur- Diaspora-Zeit könnten für heute in einer de geduldet. Beispielsweise hatten wir ganz anderen gesellschaftlichen Situa- damals in Kamenz, der damaligen tion hilfreich sein? Was sollte bewahrt Kreisstadt, die Offiziershochschule der werden, was kann einen Impuls geben Luftstreitkräfte. In politischer Hinsicht für Gemeinden, für Christen heute? gab es dort nur Überzeugte. Und für diese Leute wollte man in Kamenz wie Stanislaw Tillich: Die Erfahrung, in meinem Heimatort urplötzlich Woh- dass einem nichts geschenkt wird, son- nungen. Warum? Weil man wissen dern dass man sich das, was man will, wollte, was die Leute reden. Die ver- auch erstreiten muss. Das Bekenntnis standen uns ja nicht. Sorbisch ist eine zum eigenen Glauben ist das eine, aber slawische Sprache, die hat mit dem es leben viele, die damit wenig anzufan- Deutschen nichts zu tun. Und außer- gen wissen. Manchmal kommt man in Florian Schuller: „Welche der Erfahrungen aus der DDR-Dias- dem waren die Sorben Katholiken und Verruf, etwas altmodisch zu sein. Dazu pora-Zeit könnten für heute in einer ganz anderen gesellschaft- hielten zusammen. Diesen Riegel wollte gehört aber auch ein Stück weit, dass lichen Situation hilfreich sein?“ man auseinanderbrechen, deswegen man den Verlockungen widerstehen brachte man die Offiziersschüler und kann, die eine neue Zeit bietet, ohne Offiziere und ihre Ehefrauen dorthin dass man mir als katholischem Gläubi- und deren Kinder in unsere Schulen. gen unterstellt – jetzt rede ich mal nicht Wenn Sie einen Ort mit 1.200 Einwoh- als Ministerpräsident sondern als Pri- nern nehmen und dort hundert neue vatperson – dass ich irgendwo vom hin- profitiert von der reichen Kirche des tholisch war. Selbst die Sowjets, die bei Wohnungen bauen für rund vier- bis teren Walde bin. Der Glaube gehört zu Westens. Es wäre gar nicht möglich ge- uns stationiert waren, ließen ihre Frau- fünfhundert Menschen, verändert sich meinem Leben und ist für mich ein wesen, weiter zu existieren, wenn uns en da entbinden, aber ansonsten durfte das Ortsbild gänzlich. Das Ergebnis war Wertekanon, der mich prägt. Das muss nicht so vieles zuteil geworden wäre. Es dieses Krankenhaus nur als kleines aber ein anderes … mein Gegenüber lernen zu akzeptieren. war ein sehr gutes brüderliches Mitein- Krankenhaus wirken. Man hat es gedul- Das ist das eine. ander, denke ich nur an den Benno- det, aber es nicht größer werden lassen. Florian Schuller: … die haben alle Trotz der demographischen Schwie- Verlag. Wir waren die einzigen, die einen Was man zugelassen hat, dann aber von sorbisch gelernt und sind katholisch ge- rigkeiten wachsen gerade die katholi- katholischen Verlag hatten, der natür- der Stasi durchseucht, waren die Wall- worden … schen Gemeinden in Dresden nicht nur lich auch für die östlichen Länder arbei- fahrten. Wiederum in der Nähe von durch Zuzug, sondern auch zunehmend ten konnte und immer wieder ein Um- Neudörfel liegt der Wallfahrtsort des Stanislaw Tillich: … nee, katholisch durch junge Menschen, die sich zur ka- schlagplatz war. Bistums, Rosenthal, wo es Jugend-, Kin- sind sie nicht geworden, aber sorbisch tholischen Kirche bekennen. Das ist ein der- und Erwachsenenwallfahrten gab. haben sie tatsächlich gelernt und uns in zartes Pflänzchen, es sind nicht Tausen- Stanislaw Tillich: Es war mit Sicher- Dort trafen sich 5000, 7000, ja sogar Ruhe gelassen. Sie haben sich sogar mit de, es sind Hunderte, aber es passiert. heit so, wie es der Herr Bischof be- 10.000 Menschen und nahmen den Weg uns zusammengetan, weil sie schließlich Da funktioniert etwas, was wir bei schrieben hat. Ich will das noch ergän- auf sich. In der DDR-Zeit sogar mehr davon überzeugt waren, dass man den der ersten Landesausstellung, das Kon- zen: Meine Kinder sind 1981 und 1983 als jetzt. Die Nahverkehrsverbindungen Menschen ihren Glauben lassen soll. zept ist übrigens von Bayern abgeschaut,

zur debatte 6/2017 23 nach Leipzig zu gehen und nicht nach Florian Schuller: Das glaubt nie- Dresden. Dort wäre es ein Heimspiel mand. gewesen, Leipzig war ein Auswärtsspiel für die katholische Kirche. Die Leipzi- Bischof Konrad Zdarsa: Ich würde ger waren neugierig, sind hingegangen, eher sagen, wir haben das erlebt. Zum haben sich informiert. Die Frage bleibt, Beispiel führe ich immer die große mis- wie erreicht man die Menschen seitens sionarische Chance der Bestattungen der Kirchen. an, oder die Trauerfeiern. Wenn man die Feier begonnen hat mit dem Kreuz- Florian Schuller: Was tun die Ge- zeichen und merkt, dass es maximal meinden bei Ihnen in Sachsen, dass der noch der Sohn der Verstorbenen konn- christliche Glaube interessant wird? te, vielleicht sogar niemand mehr, dann kann passieren, dass sich bei der Predigt Stanislaw Tillich: Das traue ich mich ein richtiger Dialog entspinnt. Auch gar nicht zu beurteilen, denn ich bin ja wenn nur einer geredet hat, wollte man nur einfaches Gemeindemitglied. mit dem Besten, was man hat, den Leu- ten glaubwürdigen Trost spenden. Das Florian Schuller: Sie gehen jeden waren wirklich Feiern, wo man darauf Sonntag in den Gottesdienst, haben Sie vertrauen konnte, dass man gesät hat. geschrieben. Wie sind denn da zum Bei- Man hat die Leute nie wieder gesehen, spiel die Predigten? aber man hofft, dass das eine oder an- dere Wort doch irgendwann Frucht Stanislaw Tillich: Unterschiedlich. bringt. Wir reden ja viel von der globalisierten Ich erlebe oft, dass Leute, die wirk- Welt. Die Menschen suchen nach einem lich tabula rasa sind, was Glaubens- Hort des Miteinanders, und da hat die und Kirchendinge betrifft, oftmals die Kirche etwas anzubieten, nämlich ein besseren Fragen stellen. Da geht einem Gäste bei der Podiumsdiskussion: Prof. geistiges und geistliches Miteinander, das Herz auf, man erzählt von dem, was Dr. Adalbert Keller, Leiter des Akade- aber auch das Bewusstsein, eine große man glaubt, und um was es bei unserem mischen Forums Augsburg (li.), und der Familie zu sein – das können die Ge- Glauben geht. Bei denen, die vielleicht evangelische Dekan von Nördlingen meinden bei uns bieten. Im Erzgebirge meinen, alles schon zu wissen, steht man Gerhard Wolfermann. ist das sehr schön zu beobachten. Die manchmal wie vor einer Wand. Darum Bergleute waren ja traditionell sehr halte ich es für notwendig, dass wir die gläubig. Die haben damals unter Tage Entwicklung der um sich greifenden Sä- gearbeitet und Silber geschürft. Denen kularisierung aushalten oder nicht nur blieb nichts anderes übrig, als sich Gott aushalten, sondern bestehen. Das heißt, erreicht haben. In meinem Heimatort Wirkung für die Entwicklung Europas“, anzuvertrauen, denn sie wussten nicht, dass wir immer bereit sind, da greife ich im Kloster St. Marienstern hatten wir sondern einen etwas unverfänglicheren ob sie das Tageslicht noch einmal se- zurück auf den Petrusbrief, einem jeden mit 100.000 Besuchern gerechnet, am Titel, nämlich „Zeit und Ewigkeit“. Und hen werden. Und das hat die Zeit über- Auskunft zu geben über die Hoffnung, Ende waren es 340.000. Der damalige die Menschen sind gekommen. dauert. Man ist dort noch heute sehr von der wir beseelt sind, aber in Be- Bischof Joachim Reinelt schloss die Ku- Bei der Seligsprechung von Alois gläubig. Mich rührt das jedes Mal rich- scheidenheit, denn wir haben ein gutes ratoriumssitzung nach der Landesaus- Andritzki, einem sorbischen katholi- tig an. Gewissen. stellung mit den Worten: „Ich glaube, schen Priester, der 1943 im KZ Dachau Die Gemeinden müssen einfach da dass sich in Sachsen etwas bewegt hat. ermordet wurde, in Dresden am 13. Juni sein und offen sein. Sie dürfen sich nicht Florian Schuller: Mich treibt seit Die Menschen haben versucht, etwas 2011 standen 11.000 Menschen vor der in sich kehren, und das tun sie auch Jahren eine These des französischen So- über die Kirche zu erfahren.“ Die Lan- Hofkirche in Dresden. Das waren nicht nicht. Sie sind offen und laden die jun- ziologen Olivier Roy um. Die These lau- desausstellung hatte in Respekt auch nur Katholiken. Und jetzt der Katholi- gen Menschen genauso ein wie die älte- tet: Die Säkularisierung hat die Religion vor den evangelischen Mitchristen nicht kentag in Leipzig. Die Leipziger haben ren. Kirche ist ja im Osten Deutsch- nicht minimiert, sondern freigestellt und den ursprünglichen Titel „Zisterzienser- sich am Anfang sehr schwer getan da- lands nicht nur Gotteshaus, sondern Autonomie gegeben. Das Problem be- klöster im Herzen Europas und ihre mit. Aber es war eine richtige Wahl, mittlerweile fast schon eine gesellschaft- steht dann aber darin, so Olivier Roy, liche Bewegung. Krankenhäuser, Kin- dass die religiöse Welt die säkularisierte dereinrichtungen, Alteneinrichtungen, Welt als das Gegenüber ansieht; die Re- Ansprechpartner in verschiedenen Be- ligionen verstehen sich als autonom und reichen auch zum Beispiel der Drogen- sind nicht mehr im Gespräch mit der beratung. Das übernehmen wir als Kir- Gesellschaft. Fragen nach Bildung, nach chen, also nicht nur Schwangeren-, son- religiösem Austausch, nach gegenseiti- dern auch Drogenberatung. Kirche ist gem Interesse nehmen radikal ab. Ich heute nicht mehr wegzudenken aus dem denke da immer an Papst Paul VI. und gesellschaftlichen Leben, aber sie wird seinen berühmten Satz: „Der Bruch von denjenigen, die böswillig sind, im- zwischen der Kultur und der Religion mer noch auf das Gotteshaus und auf ist das große Drama unserer Epoche.“ den Gottesdienst selbst reduziert. Da Oder an den emeritierten Erzbischof bleibt noch eine Aufgabe, die ich auch von Poitiers Albert Rouet, dessen These als Politiker sehe: Bei uns hat „Die Lin- lautet: Die Kirche steht in der Gefahr, ke“ zum Beispiel bereits zum dritten eine Subkultur zu werden. Wie stehen Mal den Antrag gestellt, endlich die Kir- Sie zu dieser These? chenstaatsverträge abzuschaffen. Stanislaw Tillich: Ich glaube, dass es Florian Schuller: Da müssen Sie kaum ein Unternehmen auf der Welt Ihren Kollegen Bodo Ramelow dann gibt, das auf eine zweitausendjährige irgendwie wieder einfangen. Geschichte zurückblicken kann. Aber auch wenn die Kirche 2000 Jahre über- Stanislaw Tillich: Das ist einer, der dauert hat, ist sie nicht davon entbun- damit kokettiert, dass er gläubig ist. Das den, darüber nachzudenken, wie bleibe sind die ganz Gefährlichen, das sind die ich attraktiv – auch wenn das ein biss- Wölfe im Schafspelz. Das muss ich ganz chen politisch klingt – wie bleibe ich offen sagen. ansprechbar. Wir haben dieses Jahr 500 Jahre Re- Florian Schuller: Herr Bischof, wenn formation. Damals ist letztendlich die Sie an Ihre Dresdener, sächsischen, Gör- Frage beantwortet worden, dass man litzer Erfahrungen denken: Was würden nicht mehr Staat und Kirche in einem Sie gerne in unsere geliebten Augsbur- haben wollte. Aber zumindest von ger Gemeinden und in die Herzen der Deutschland und von Sachsen kann ich Augsburger Diözesanen einpflanzen sagen: Bei uns gibt es eine gute Partner- wollen? schaft, und das ist die wichtigste Vor- aussetzung, dass man in Politik und Ge- Bischof Konrad Zdarsa: Erfahrun- sellschaft um den gesellschaftlichen Wert gen lassen sich ja nicht einteilen in Auf- der Kirchen weiß. enthalt dort und Aufenthalt da, sondern Fünf Jahre nach dem Fall des Eisernen unser Thema heute Abend heißt ja „ge- Vorhangs war ich in Warschau. Da gab Stanislaw Tillich: „Ich glaube, bei Begegnungen zwischen lebter Glaube in säkularisiertem Um- es eine Veranstaltung mit Polen, Deut- zeitgenössischer Kunst und Kirche geht es darum, neue Wege feld“. Da wäre zuerst einmal zu klären, schen, Tschechen und Ungarn – an ei- zu beschreiten, neue Ideen zu haben, neue Ausdrucksformen zu wo ist denn das säkularisierte Umfeld. nem Sonntagvormittag. Da trat der Ver- finden.“ Ist etwa der alte Westen von der Säku- treter einer tschechischen Partei, näm- larisierung total frei? lich der ODS ans Pult, dieser Kollege ist

24 zur debatte 6/2017 Dekapolis, um ihre Kranken heilen zu noch konkretisieren im Blick auf die lassen. Ich habe das umgekehrt inter- Verantwortlichen, die Strukturen, die pretiert. Es geht darum, für jeden Men- Existenzweise der Kirche? schen gesprächsbereit zu sein, ganz konkret zu jedem hinzugehen und mit Bischof Konrad Zdarsa: Das setzt jedem ein Wort zu wechseln, mit der natürlich voraus, dass ich weiß, was ich Verkäuferin, mit dem Tankwart, und glaube, und Auskunft geben kann über sich zu erkundigen nach dem und je- meinen Glauben. Ich habe die Sorge, nem, auf dieses und jenes hinzuweisen, dass das viele heute nicht mehr vermö- und dann mehr und mehr in Kontakt gen, und dass es wesentlich wäre, dafür zu kommen. Es geht dabei nicht darum, mit den Familien zu arbeiten und an- bloß ein freundlicher Mensch zu sein – fangen zu fragen, was ist für uns we- keep smiling –, sondern auch zu sagen, sentlich, worauf beruht unser Glaube. wer ich bin, und wie ich die Dinge betrachte, um die Menschen auf diese Florian Schuller: Herr Ministerpräsi- Weise bekannt zu machen mit der Per- dent, ich habe gelesen, Sie haben zwei son Jesu Christi. große persönliche Leidenschaften. Die Ich habe das kürzlich erst erlebt, als eine ist die Leidenschaft für Fußball, ich in einem Hotel mit einem Mann ins und deshalb stehen Sie auch hinter RB Reden kam: Sie sind doch sicher dienst- Leipzig. Und die andere, sowohl in Ih- lich hier, war seine Frage. Und so ging rer Familie wie bei Ihnen persönlich, ist das Gespräch hin und her. Dann kam das Interesse an zeitgenössischer Kunst. das Übliche: Er war streng katholisch Kunst ist ja der Bereich, in dem man zu erzogen worden, aber nicht mehr prak- ahnen beginnt, was Menschen fühlen tizierend. Dann sagte er, für ihn wäre und was sie bewegt. Haben Sie Erfah- das Wichtigste im Glauben die Verge- rungen, wie Begegnungen mit Kunst bung. Was ihn zu dieser Aussage beweg- zum Beispiel auch jenseits der Leipziger te, habe ich nicht gefragt, aber es war Schule, für die sie große Begeisterung für mich das Stichwort, wo ich einha- zeigen, in der Kirche fruchtbar werden ken konnte. Sehen Sie, sagte ich darauf, können? das habe ich genauso erlebt, als uns einmal ein Exeget die Geschichte von Stanislaw Tillich: Zum einen erst Zachäus erläutert hat. Bei diesem Volks- einmal, zur Richtigstellung, damit ich verräter und Kollaborateur hat sich nicht verhauen werde, wenn ich nach Jesus einquartiert, er hat ihn nicht ab- Sachsen zurückkehre: Ich bin seit 1973 geschrieben. Und dadurch hat sich bekennender Fan von Dynamo Dresden Zachäus um 180 Grad gewendet. und dort auch Mitglied. Ich bin aber Bischof Konrad Zdarsa: „Ich erlebe oft, dass Leute, die wirklich Das meine ich damit, dass wir uns auch stolz darauf, dass es endlich gelun- tabula rasa sind, was Glaubens- und Kirchendinge betrifft, zuwenden sollen zu jedermann, und gen ist, die Bayern zu jagen … oftmals die besseren Fragen stellen. Da geht einem das Herz dass wir so die Freundlichkeit Gottes auf.“ nahebringen und auf diese Weise die Florian Schuller: … das sagen Sie Menschen öffnen können für das, was hier im Heimatort von Gerd Müller … uns in der mündlichen und schriftlichen Überlieferung geschenkt ist. Stanislaw Tillich: … und ich bin traurig darüber, dass es eines österrei- noch heute im Europäischen Parlament, vor den Mitbrüdern gesagt, ausgehend Florian Schuller: Könnten Sie diese chischen Unternehmers bedurfte, der ei- und belehrte die Polen, dass sich die von der Bergpredigt Jesu. Da kommen Bereitschaft zum Gespräch und zum nen ostdeutschen Club letztendlich in Tschechen durch ihren Atheismus aus- alle von den naheliegenden Städten der unmittelbaren face to face-Austausch die Erste Bundesliga gebracht hat. Das zeichnen würden, aber die Polen wür- den viel zu viel Zeit damit verplempern, sich nach den Zehn Geboten zu rich- ten, und deswegen wären sie wirtschaft- lich so darniederliegend. Das war natür- lich ein Affront, aber gleichzeitig merkte man, was die Erziehung in einer Gesell- schaft bewirken kann, die letztendlich zu Trugschlüssen führt und die Mensch- heit in eine falsche Richtung bewegt. Denn der Materialismus alleine macht die Menschen nicht glücklich. Jetzt zurück zum Thema „säkulari- sierte Welt“: Heute ist es wichtig und notwendig, in allen Gesellschaftsforma- tionen, sich des Wertes sowohl des christlichen Glaubens, wie auch der an- deren Religionen bewusst zu sein, aber gleichzeitig zu vermeiden, dass die Reli- gion über dem Recht steht. Es muss klar sein, dass die Kirche und die Religion Privatangelegenheiten im ureigensten Sinne des Wortes sind, aber gleichzeitig die Kirche ein gesellschaftlicher Player ist und eine gesellschaftliche Rolle spielt, die über das Individuum hinausgeht. Wenn beides klar akzeptiert wird, hat die Kirche in der heutigen Gesellschaft und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine gute Perspektive. Eine bessere Perspektive als man viel- leicht meint. Die Deutsche Bank hat einmal Kun- denschalter abgeschafft, weil die Leute alle Bankgeschäfte online erledigen soll- ten. Heute kommen sie wieder zurück, weil das Gespräch vom Kundenberater zum Kunden wichtig ist. Darauf hat die Kirche immer Wert gelegt, sie muss die- ses Gespräch bereithalten. Der Gläubi- ge ist in gewissem Sinne auch für den Klerus ein Kunde, und das Kirchenmit- glied ist für den Nichtgläubigen im Prin- Mit fast 200 Besuchern war der zip ein Ansprechpartner. Pfarrsaal St. Salvator fast vollständig gefüllt. Bischof Konrad Zdarsa: Das ist für mich das Stichwort. Ich habe das mal

zur debatte 6/2017 25 Ausstellung gegangen? Wenn Sie vor- Florian Schuller: Ich sehe viele Pries- laut sind – ich bin es manchmal – und ter hier im Raum. Was würden Sie uns sagen, ha, ich erkenne das, antwortet empfehlen? Wir können jetzt nicht alle der Künstler, nein, das wollte ich damit die Dreherlehre nachholen, die Sie ge- gar nicht sagen. So entsteht ein Diskurs macht haben. Aber was ist Ihr Traum darüber, was das Bild oder die Musik von der Gemeinschaft der Priester in ausdrücken wollen. Zwischen zeitge- der Diözese, welche Interessen, welche nössischer Kunst und Kirche gilt der vielleicht manchmal auch Spintisiererei- gleiche Einsatz. en oder ungewohnten Fähigkeiten wür- den Sie sich im Presbyterium stärker Bischof Konrad Zdarsa: Es gibt einen wünschen? griechischen Philosophen, der glatt be- hauptet hat, die Künstler wissen über- Bischof Konrad Zdarsa: Es ist ein haupt nicht richtig, was sie machen. Da Impuls, den uns Papst Franziskus gibt. muss erst einer kommen, der das entfal- Von uns wird eine stärker personenzu- tet und erklärt. Für Rainer Maria Rilke gewandte Seelsorge erwartet. Zeit ha- war zum Beispiel einer der besten Inter- ben für den Einzelnen, weil es nicht da- preten Romano Guardini. Und Goethe rauf kommt, alphabetweise, jahrgangs- hat sich gewundert, was man alles in weise Dinge über die Bühne zu bringen, seinen „Faust“ hineingelesen hat. Die sondern sich dem Einzelnen zuzuwen- Intuition des Künstlers selbst ist eben den. Der anglikanische Bischof Ramsey noch nicht die ganze Entfaltung des hat einmal seinen Priestern gesagt, durch Kunstwerkes und der Botschaft, die ein die Beschäftigung mit dem Einzelnen Kunstwerk bringen kann. werden die vielen erschlossen. Es kommt nicht darauf an, was ich tue, sondern Florian Schuller: Wir haben jetzt wie ich es tue, nämlich mit ganzer Em- über zeitgenössische Kunst als Ansatz- pathie und Zuwendung zum Einzelnen. punkt für die Kirche gesprochen. Herr Nebenbei gesagt, das ist auch ein Wort Der Bischof von Augsburg und der Bundessaal ins Goldene Buch der Bischof, wo sehen Sie weitere Andock- von Leo Tolstoi, der nun nicht gerade sächsische Ministerpräsident trugen Stadt Nördlingen ein. Rechts: OB punkte in einer säkularen Gesellschaft, dezidierter, römischer Katholik war. sich anlässlich eines Empfangs im Hermann Faul. für die wir als Kirche noch wacher sein sollten? Florian Schuller: Das ist auch die klassische Position von Bischof Klaus Bischof Konrad Zdarsa: Wie ich vor- Hemmerle. hin sagte, es geht darum, miteinander ins Gespräch zu kommen und einander Bischof Konrad Zdarsa: Aus seinen kennen zu lernen. Dann merkt der an- Maximen, die er einmal an die Priester haben die deutschen Unternehmer nicht sie die Kreativität des zeitgenössischen dere, hoppla, mit dem kann man ja weitergereicht hat, schöpfe ich viel und fertiggebracht. Künstlers entwickeln. Sie muss sich et- ganz normal reden. Mir hilft, wenn ich würde sie nach wie vor als hochaktuell was einfallen lassen und sie muss we- auf meine eigene Biographie zurück- für die Mitbrüder betonen. Florian Schuller: Das freut den Herrn sentlich flexibler, moderner, auf den schaue: Ich habe selber auch mal Nacht- Bischof, weil der auch österreichische Menschen zugehen, als ich das vielfach schicht gearbeitet und weiß, wie man ei- Florian Schuller: Da müssen wir Wurzeln hat. heute wahrnehme. nen Nagel in die Wand schlägt. Bei Visi- dann nur schauen, wie wir das mit den Zu DDR-Zeiten war die Situation bei tationen in landwirtschaftlichen Betrie- berühmten Sachzwängen in Einklang Stanislaw Tillich: Sie wissen ja, es mir zu Hause in Neudörfel wie bei Don ben – das liegt wieder am Beruf meines bringen, die eben auch da sind. gibt viel Gerede, warum Dietrich Mate- Camillo und Peppone. Da gab es einen Vaters – kann ich die eine oder andere schitz den Verein in Leipzig unterstützt, SED-Bürgermeister, aber der frug im- Frage stellen, die durchaus Sinn hat. und dass das alles kommerziell wäre. mer beim Pfarrer nach, was als nächstes Ich wüsste aber nicht, dass Ingolstadt in der Gemeinde passieren muss, denn ganz ohne Unterstützung aufgestiegen ohne die Zustimmung der Pfarrgemein- wäre, oder andere. Und da sind wir wie- de ging nichts im Ort. Und so hat der der beim Ingenieur von vorhin: Ein In- Pfarrer dann wieder die Zementsäcke genieur, der keine Phantasie, keine Vor- für die Totenhalle bekommen, und der stellungskraft hat, kann nicht sein. Man Bürgermeister kriegte seinen Bürger- muss wissen, wo man hin will, man muss meisterkanal gebuddelt, weil der Pfarrer sich das vorstellen können, und ich bin am Sonntag sagte, morgen geht ihr alle überzeugt, dass zumindest viele der Jün- abends den Abwasserkanal buddeln, geren so ticken wie ich: Wir denken vom und alle gingen hin. Bis heute ist es so, Ergebnis her. So stellt man sich auch wenn am Wahlsonntag der Pfarrer pre- das Werk eines Künstlers vor. Ich musste digt, weiß ich auch, was die alle wählen. erst lernen, dass Künstler rein aus Inspi- ration ihr Kunstwerk entstehen lassen. Florian Schuller: Das ist immer noch Das finde ich bewundernswert und so? auch befreiend, weil da kein Zwang herrscht, sondern die können ja wieder Stanislaw Tillich: Die meisten halten übermalen oder schmeißen die Noten- sich doch daran, und die Wahlergebnis- blätter aus dem Fenster und fangen se in unseren sorbisch-sprachigen Ge- nochmal von vorne an. Das ist natürlich meinden sprechen für sich: gute 70 Pro- beim Ingenieur anders. Jetzt komme ich zent, 60 Prozent ... wieder zurück zu der Brücke zwischen Kirche und Kunst, die Sie angesprochen Florian Schuller: … diese Prozent- haben. Ich finde das schön, wenn Sie zahlen gibt es nicht einmal mehr in Nie- mich als Ministerpräsident so viel nach derbayern … der Kirche fragen. Ich glaube, bei Be- gegnungen zwischen zeitgenössischer Stanislaw Tillich: … ja, mein Bürger- Kunst und Kirche geht es darum, neue meister ruft mich immer an und ent- Wege zu beschreiten, neue Ideen zu ha- schuldigt sich, dass elf die SPD gewählt ben, neue Ausdrucksformen zu finden. haben. Sorry, das war jetzt weg vom Die müssen nicht gleich von allen ver- Thema – ich wollte nur meine Heimat standen werden. Das heißt, man muss ein bisschen näher bekannt machen. auch ein bisschen Ausdauer haben, als Ich glaube, dass die Brücke zwischen Künstler, aber auch als Kirche. zeitgenössischer Kunst und Diaspora Es gibt einen großen, himmelweiten wirklich wichtig ist. Zweite Bemerkung: Unterschied zwischen der Welt, wo ich Es ist ein interessantes Momentum, aufgewachsen bin und heute noch lebe, wenn Sie einen Künstler einfach mal wo, übertrieben und in Anführungs- fragen, wie er zu dem gekommen ist, strichen, „die Welt noch in Ordnung was er da geschaffen hat. In gewissem ist“, und den Landstrichen, nicht nur in Sinne glauben ja manche, ein Künstler Stanislaw Tillich: „Man darf nicht vergessen: Modern ist nicht, Sachsen, sondern in Deutschland und ist ein bisschen verrückt. Ich weiß nicht, dass man das Alte wegwirft, um was Neues zu machen, nur weltweit, wo einiges durcheinander geht, was ein Ungläubiger von uns, also von aus Prinzip.“ die Regeln nicht mehr eingehalten wer- katholisch Gläubigen, denkt. Der meint den. Dort hat es die katholische Kirche vielleicht auch, wir sind ein bisschen richtig schwer, in der Diaspora, wo sie verrückt. Also muss man versuchen, sich wirklich um jedes einzelne Schäf- sich in ihn hineinzuversetzen. Sind Sie chen kümmern muss. Genau da muss einmal mit einem Künstler durch seine

26 zur debatte 6/2017 Bischof Konrad Zdarsa: Bischof In der Öffentlichkeit wird aber meistens Bode hat kürzlich in seiner Silvester- der gehört, der kritisiert, und was Bun- Ansprache gesagt, zwei alte Sachen destagsabgeordnete genauso wie ich im- wegfallen lassen und dafür etwas Neues mer wieder erfahren müssen, ist, dass machen. man selten Lob bekommt. Viel öfter hört man Kritik; das ist so und wird Florian Schuller: Gut. Wir dürfen uns auch so bleiben, auch die Kirche muss auf diesen Satz berufen, Herr Bischof, sich genauso damit auseinandersetzen. wenn wir etwas wegfallen lassen. Sie muss sich auch gefallen lassen, dass ein Politiker sie mal kritisiert. Bischof Konrad Zdarsa: Ja. Florian Schuller: Darf ich nach- Florian Schuller: Jetzt waren wir bei fragen zum Thema Kirchenasyl. Wie der Innenstruktur der Kirche. Wenn schaut es in Sachsen aus? man schon die Chance hat, mit einem Ministerpräsidenten zu sprechen, kom- Stanislaw Tillich: Wir haben ganz men wir nicht um die Fragen von Kir- wenige Fälle, Gott sei Dank. Das sage che und Politik herum. Es gab in der ich bewusst, weil unsere beiden Bischöfe letzten Zeit ziemlich unterschiedliche wahrscheinlich Einfluss genommen ha- Positionen einerseits von Politikern und ben. Es schwappt jetzt aus dem Bran- andererseits von Verantwortlichen der denburgischen nach Sachsen hinein. Kirche, wie stark sich die Kirche, oder Wir haben eine Härtefallkommission, die Bischöfe, wenn wir es personalisie- die läuft mit der Evangelischen Landes- ren, in politische Debatten einbringen kirche hervorragend. Wir wollen es erst sollten. gar nicht zu einem Kirchenasyl kom- men lassen und versuchen, das Problem Stanislaw Tillich: Eine gute Frage. vorher zu klären. Wir leben in einer freiheitlich-demokra- Natürlich gibt es auch obskure Fälle. tischen Grundordnung, und die Kirche Sie kennen die Herrnhuter Brüderge- ist ein gesellschaftlicher Mitgestalter. meine in Herrnhut. Dort ist eine iraki- Von daher steht es ihr frei, sich zu äu- sche Familie untergekommen, die aus ßern. Die Kirche weiß aber auch um der Tschechischen Republik geflohen ihre besondere gesellschaftliche Verant- ist, weil sie sich in Tschechien nicht wortung, das heißt, auch Nicht-Kir- wohl gefühlt hat. Das kann man so oder chenmitglieder achten genau darauf, so sehen. Das Ende vom Lied war, sie was die Kirche sagt. Das muss sie wis- sind nicht im Kirchenasyl geblieben, sen, und das weiß sie wahrscheinlich sondern zu ihren Verwandten nach auch. Von daher glaube ich, wir Christ- Bayern gezogen. Gegenwärtig gibt es Bischof Konrad Zdarsa: „Ein glaubwürdig gelebtes christliches demokraten können im Prinzip nicht eine Handvoll. Von daher ist Kirchen- Leben ist von immenser politischer Sprengkraft.“ davon ausgehen, dass die Kirche zu den asyl bei uns tatsächlich keine akute Christdemokraten steht … Auseinandersetzung.

Florian Schuller: … außer Ihrem Florian Schuller: Herr Bischof, Kir- Bürgermeister … che und Politik? Florian Schuller: Herr Ministerpräsi- beim 500-jährigen Luther-Jubiläum und dent, darf ich ein zweites konkretes Bei- auch bei den Veranstaltungen „Kirche Stanislaw Tillich: … ja, das kann Bischof Konrad Zdarsa: Der Herr spiel bringen, wie Kirche und Politik auf dem Weg“ wird die AfD mit eingela- sein. Es gibt in allen Parteien Christen, Bürgermeister von Nördlingen hat seine miteinander umgehen sollen oder auch den. Wenn man eine politische Ausein- und das ist auch wichtig, denn damit Begrüßung beschlossen mit dem Wort nicht. Thema AfD. Es gibt viele kirchli- andersetzung führen will, kann man sie wächst das Verständnis, was Christen in aus dem Propheten „Suchet der Stadt che Äußerungen, die AfD sei nicht nicht dadurch führen, dass man den an- der Gesellschaft leisten. Deshalb habe Bestes“. Wir müssen da aber sauber wählbar. Umgekehrt kam jetzt ein An- deren zur Seite schiebt, sondern man ich eine etwas differenziertere Meinung. auch in den Begriffen sein. Politik trag auf dem AfD-Parteitag, man solle muss sich mit ihm inhaltlich auseinan- Ich glaube schon, dass Kirchen sich äu- kommt von Polis her, von der menschli- aus der Kirche austreten. dersetzen und politisch argumentieren. ßern können und halte es auch für rich- chen Gemeinschaft. Insofern muss die Man kann ja nur dabei gewinnen, wenn tig. Ich hatte jetzt gerade eine Diskussi- Kirche, müssen die Christen politisch Stanislaw Tillich: Beim Katholiken- man ihn an den Rand dessen führt, wo on mit einigen unserer Mitglieder der sein, wenn es um das Gemeinwohl geht. tag in Leipzig ist ja die AfD ganz be- er keine Überzeugungskraft mehr hat. Evangelischen Landeskirche. Es ging Aber ich würde mich hüten, in irgend- wusst nicht eingeladen gewesen. Jetzt, Das ist eine Erfahrung, die wir in der um Kirchenasyl, ein nicht ganz unhei- ein parteipolitisches Rohr zu blasen. ßes Thema. Ich habe gesagt, wir erwar- Ein glaubwürdig gelebtes christliches ten immer wieder, dass die Bürger sich Leben ist von immenser politischer an Recht und Gesetz halten, wir erwar- Sprengkraft. Das haben wir auch erlebt, ten vom Staat, dass er sich an Recht als die Mauer gefallen ist, und als man und Gesetz hält, und die Kirche ist eine mit Gewaltlosigkeit für Recht und Frei- Körperschaft öffentlichen Rechts, also heit demonstriert hat. Ich sage das im- sollte sie auch daran denken, dass Sie mer wieder, wenn es um die Zukunft Verantwortung trägt, das heißt, sich im der Kirche geht. Wenn sogar Atheisten Prinzip zu Recht und Gesetz bekennt. damals meinten, es sei ein Wunder ge- Wenn das Asylrecht eben die zwei Sei- schehen beim Mauerfall, weil das so ge- ten hat, nämlich Anerkennung und Ab- waltlos gehen konnte, um wieviel mehr schiebung, muss man auch das respek- müssen wir Christen von der Hoffnung tieren. Das ist meine Auffassung als Mi- auf Wunder in allen unlösbaren Proble- nisterpräsident. men ausgehen, ohne dabei die Hände in Wenn man diese Diskussion beginnt, den Schoß zu legen. merkt man, dass es auch dem anderen Partner durchaus schwer fällt. Unser evangelischer Landesbischof ist da sehr konsequent, unser eigener Bischof Heinrich Timmerevers auch. Beide ver- suchen mitzuhelfen, dass sich auch die Kirchen in dieser Frage konsequenter- weise auf die Seite des Rechtes und des Gesetzes stellen. Aber das muss man miteinander ausdiskutieren. So verstehe ich die Rollen zwischen Politik und Kir- che. Umgekehrt kann uns die Kirche na- türlich gelegentlich auch mahnen. Ich habe die gleichen Fragen, wenn ich sehe, dass wir Menschen in Krisenregio- Nördlingens Oberbürgermeister nen abschieben. Am Ende des Tages Hermann Faul: Zusammen mit vielen wird aber sowieso das unliebsame Ge- Lokalpolitikern, Kirchen- und Medien- schäft den Politikern überlassen, denn vertretern nahm er im Anschluss an den sie müssen die Entscheidung treffen, die Empfang auch an der Veranstaltung im die einen für gut, die anderen für falsch Pfarrsaal teil, wo er die Teilnehmer halten. Wenn sie Glück haben, ist es noch einmal im Namen der Stadt mehr als die Hälfte, die es für gut hält. begrüßte.

zur debatte 6/2017 27 worden waren. Auch ein Zeichen unse- Florian Schuller: Herr Bischof, Ihr rer Zeit? Wunsch für Sachsen im Jahr 2050?

Bischof Konrad Zdarsa: Das ist vom Bischof Konrad Zdarsa: Ich hätte Kirchenrecht so vorgeschrieben; und Ihnen auch den Wunsch für Bayern sa- wir sind der Sache erst richtig inne ge- gen können. Ich könnte mir denken, worden, als das mit der zweiten Kirche dass die Christen in Sachsen noch enger passiert ist, und noch in viel drastische- zusammen ihren Glauben bezeugen, in rer Weise, nämlich mit satanischen Pa- wirklich entschiedener und vollendeter rolen am Altar, an den Heiligenfiguren ökumenischer Verbundenheit, und mit und im gesamten Raum. Ich glaube der gleichen Überzeugungskraft den schon, dass wir das nicht nur dem Kir- Glauben bekennen und vertreten. Denn chenrecht entsprechend, sondern auch das, was ich für Bayern sagen wollte, allgemein richtig gemacht haben, um und womit ich mich auf prominente, ein ganz eindeutiges, klares Zeichen zu theologisch durchaus nicht auf einer Li- setzen, dass wir uns das nicht gefallen nie liegende Theologen berufen hätte, lassen. Es ist unser Recht, dass die heili- gilt nicht nur für Bayern oder Sachsen, gen Orte geschützt werden. Dann habe das gilt weltweit. Es wird vor allem ein ich einen Artikel gelesen mit dem Mot- entschiedenes Christentum geben müs- to: Das Mittelalter kommt nach Bellen- sen, und das wünschte ich Sachsen. berg. Da hat man alles angeführt, was Wenn sie das nicht tun, werden sie irgendwie negativ interpretiert werden nicht sein. Wenn sie das tun und leben, kann, mein höheres Alter und meine werden sie sein. Und wenn ich die Ent- Herkunft, ganz korrekt, aber in Wirk- wicklung der vergangenen 25 Jahre bei lichkeit so konzipiert, dass es eine ganz der Jugend sehe, mit all den Aufbrü- bissige Kritik war. chen, dann habe ich keinerlei Gründe, in irgendeiner Weise für die Zukunft der Florian Schuller: Wir sind in der Kirche in Sachsen und Bayern pessimis- Stanislaw Tillich und Daniela Philippi, Zielgeraden angekommen. Das war tisch zu sein. langjährige Sprecherin des bayerischen jetzt am Schluss noch eine Reflexion Ministerpräsidenten Horst Seehofer. über Toleranzfähigkeit. Wie gehen wir Florian Schuller: Herr Bischof, wir miteinander um in einer säkularen, waren einmal als Bischöfliche Beauf- weltanschaulich sehr differenzierten tragte für den Ständigen Diakonat bei Gesellschaft? Wagen wir zum Schluss Ihrem Vorgänger, Bischof Rudolf Mül- aber noch einen Blick weit nach vorne, ler. Der war ja bekannt für flapsige Sät- DDR gesammelt haben, weil wir uns bei allen, aber gerade auch auf der lin- sagen wir, ins Jahr 2050. Herr Minister- ze und hat uns, als wir uns bei ihm be- immer wieder rechtfertigen mussten. ken Seite. Da frage ich mich immer, wie präsident, was würden Sie der katholi- dankten, mit auf den Weg gegeben: „Es weit sind wir bereit, auch gegenseitig to- schen Kirche in Bayern für die Zeit um gibt in der katholischen Kirche den Florian Schuller: Die Katholische lerant zu sein. Es kann nicht nur sein, 2050 wünschen, ausgehend von der jet- klassischen Satz, den Sie immer wieder Akademie in Dresden hat für einen Dis- dass ein Christ tolerant ist, auch der an- zigen konkreten Situation, auch im nach Veranstaltungen hören: nebst Gott kussionsabend auch einen AfD-Vertre- dere muss tolerant sein gegenüber den Blick auf ihre Geschichte? danken wir vor allem dem Herrn Bi- ter eingeladen. Christen. schof.“ Diesen urkatholischen Satz aus Auch in der Politik gehört es dazu, Stanislaw Tillich: Meinen Sie jetzt Görlitz dürfen wir heute deutlich aus- Stanislaw Tillich: Ja. Dafür wird man dass man diese Toleranz zulässt, also wirklich ernsthaft Bayern, oder meinen weiten: Nebst Gott danken wir vor al- dann von den Linken verhauen, und es den Polen zubilligt, dass sie eine freie Sie Sachsen? lem dem Herrn Bischof und dem Herrn wird so getan, als ob das unzulässig ist. Entscheidung getroffen haben, und dar- Ministerpräsidenten. Danke, dass Sie Ich glaube nicht, dass man gewinnt, in- über nachdenkt, was haben vielleicht Florian Schuller: Ich meine Bayern, beide da waren, sich den Fragen gestellt dem man den anderen nicht beachtet die anderen Parteien falsch gemacht, mit Volksreligiosität und all dem, was und gegenseitig die Bälle zugespielt ha- oder nicht zur Diskussion kommen dass ein Herr Jarosław Kaczinski ´ an die man eben mit Bayern verbindet. ben. „ lässt, sondern man kann ihn dadurch Macht gekommen ist. Diese Auseinan- entwaffnen, dass man ihn in die Diskus- dersetzung müsste man eigentlich füh- Stanislaw Tillich: Ich weiß nicht, ob sion zwingt. Deswegen fand ich es da- ren, ohne jetzt die Polen dafür insge- ich das qualifiziert beantworten kann. mals auch falsch, dass einige Politiker samt zu bestrafen, dass sie eine solche Wir werden eine Zeit erleben, gar nicht meiner Partei gesagt haben, mit denen Regierung haben. so weit weg, in der das Wissen auf der gehe ich nicht in eine Talk Show. Erste Es war auch kein Zufall, dass es vor Welt überall und immer verfügbar ist, Bemerkung. dem Kölner Dom diese Silvesternacht in der man sich in einer solchen Ge- Zweite Bemerkung, vielleicht noch gab. Es wurde ja zwar von vielen, aber schwindigkeit austauschen und Nach- einmal zur säkularisierten Welt und der nicht von allen Journalisten berichtet, richten verbreiten kann, dass es den Kirche. Ich will jetzt für niemanden dass damals auch der Gottesdienst ge- Wunsch geben wird nach einem Ruhe- eine Lanze brechen, aber wir haben in stört worden ist. Darüber muss man of- pol, einer Einkehrmöglichkeit. Genau Polen eine politische Partei an der fen miteinander diskutieren. darin sehe ich eine große Chance der Macht, die mit Sicherheit nicht dadurch Wir sind manchmal zu schnell mit Kirche. Es muss uns auch gelingen; an die Macht gekommen ist, dass sie je- unseren Urteilen; was anders ist als bei denn wenn diese Rolle der Kirche nicht manden weggeputscht hat, sondern sie uns, ist falsch. Da will ich Ihnen sagen, mehr existiert, müsste sie jemand ande- ist demokratisch gewählt worden. Sie das habe ich schon einmal gehört, vor res übernehmen. Man darf nicht verges- ist auch sehr geprägt durch den Katholi- 1989. Die Partei, die Partei, die hat im- sen: Modern ist nicht, dass man das zismus in Polen. Nicht alle polnischen mer Recht. Ich habe eins gelernt, das Alte wegwirft, um was Neues zu ma- Katholiken sind mit der PiS einverstan- habe ich dann in Brüssel noch verfei- chen, nur aus Prinzip, sondern dass den, aber was wir im Westen gegenüber nert, mich in die Gedankenwelt des An- man auf dem aufbaut, was sich bewährt Polen zurzeit artikulieren, ist zumindest deren hineinzuversetzen. Dieses Hin- hat, und dann Neues entwickelt. Das ist aus meiner Sicht oftmals von grober einversetzen ist für mich wichtig, und klassisch-konservativ. Und das ist es, Unkenntnis geprägt. deswegen möchte ich gerne, dass die was die Kirche kann, weil sie aus einem Eine ähnliche Diskussion hatten wir Dialogfähigkeit bleibt, und wir nicht im- Wertegefüge kommt, das über 2000 Jah- in Deutschland, als im Februar 2012 mer nur mit erhobenem Zeigefinger re gewachsen ist. „Pussy Riot“ auf dem Altar der Christ- durch die Gegend laufen. Kirche hat sich immer wieder hinter- Erlöser-Kathedrale in Moskau aufge- fragen müssen, muss sich auch in der treten ist. Die Kirche war vorher als Bischof Konrad Zdarsa: Ich bin dem Gegenwart hinterfragen. Deswegen wie- Schwimmbad benutzt und dann mit Herrn Ministerpräsidenten sehr dank- derum, positiv in die Zukunft gedacht: Geldern der Bevölkerung Moskaus, die bar für seine Äußerungen. Von vornehe- Kirche wird ein Ansprechpartner sein ja damals noch nicht unbedingt reich rein ist klar, dass ich nicht einer europa- und ein Anker. Wie stark sie in Bayern war, als Kirche wiederaufgebaut wor- feindlichen Strömung anhängen oder sein wird, liegt an den Menschen selbst. den. Das war deren ganzer Stolz. Wie mich gar zum Multiplikator der AfD Das ist keine Frage der Kirche, sondern sind wir damals über den russischen machen will. Aber ich habe dort einen der Menschen. Wenn sie wollen, dass es Staat hergefallen! Man kann ja sagen, er Satz gehört, den kann ich voll unterstrei- eine Kirche gibt, wird es sie auch geben. hat überreagiert, okay, aber dass man es chen, nämlich: Die „political correct- Kirche kann nicht existieren ohne die sanktioniert, dass irgendwelche Leute ness“ gehört auf den Müllhaufen der Ge- Gläubigen, und die Gläubigen werden vor dem Altar irgendwelche Lieder ab- schichte. Es muss um Ehrlichkeit gehen, etwas brauchen, wohin sie gehen kön- spielen ohne Respekt vor dem, was ein um Redlichkeit im Austausch miteinan- nen. Deswegen muss es eine Institution Kirchenraum ist, könnte man schon er- der, und nicht dauernd um die Frage, geben. Die heißt katholische Kirche, warten. was ist denn gerade angesagt und gefällt. evangelische Kirche, übrigens auch an- Oder als Ungarn seine Verfassung ge- dere Religionen, zukünftig in Bayern ge- ändert und in einem der ersten Artikel Florian Schuller: Sie, Herr Bischof, nauso wie in Sachsen. Ich hoffe zumin- auch das Bekenntnis zum Christentum haben jüngst in unserer Diözese zwei dest, dass es das gibt, und nicht einen hineingeschrieben hat, da gab es eine Kirchen offiziell liturgisch entsühnt, in leeren Raum. Das wäre schade für unse- Aufregung in der westlichen Welt, nicht denen böse Schmierereien entdeckt re Gesellschaft.

28 zur debatte 6/2017 Bischof Dr. Rudolf Voderholzer, Bischof Dr. Tomáš Holub und Professor Klaus Unterburger Die Ostausrichtung des Bistums Regensburg in Geschichte und Gegenwart 20. Mai 2017, Centrum Bavaria Bohemia in Schönsee

Ostbayern und Böhmen in der Geschichte

Klaus Unterburger

Zum Selbstverständnis der Diözese in ein Kloster gesperrt. Grundlage war Feldzug unter seine Oberhoheit ge- Regensburg gehört es, Mutterkirche des die Auffassung, dass die aus der Mission zwungen. Wenn der Schriftsteller Widu- 973-976 gegründeten Bistums Prag und durch die Franken erwachsende Treue- kind von Corvey die Ereignisse mit ei- damit Böhmens zu sein. In einer zentra- pflicht gebrochen worden war. Obwohl ner spürbaren Sympathie für die Mör- len Stelle der Vita des Heiligen Wolf- das Pendel nach einigen Jahren noch derin Ludmillas und für den Bruder- gang, der 972 bis 994 Bischof von Re- einmal zugunsten des Methodius aus- mörder und Nachfolger Wenzels, Boles- gensburg war und heute als Hauptpa- schlug: Dem fränkischen Einfluss konn- lav, schildert, könnte auch ein säch- tron der Diözese verehrt wird, heißt es: te man sich langfristig nicht entziehen, sisch-bayerischer Gegensatz hinter den „Eine kostbare Perle nämlich sehen wir zumal um 900 die Ungarn die mähri- Bluttaten gestanden haben, trieb doch im Boden jenes Landes verborgen, eine sche Herrschaft zusammenbrechen lie- Boleslav die Orientierung an Sachsen Perle, die wir nicht erwerben können, ßen. voran, während Wenzel stärker noch wenn wir nicht entsprechend von unse- 3. Für das Jahr 895 berichten die nach Regensburg ausgerichtet gewesen rem Habe verkaufen. Darum höret, was Fuldaer Annalen: „Mitte Juli wurde in zu sein scheint und nach Ausweis der ich sage: Gerne gebe ich mich selbst Regensburg eine Reichsversammlung Christianslegende aus dem 10. Jahrhun- und alles das Meinige hin, auf dass dort abgehalten; dorthin kamen aus dem dert ein enger Freund des Regensburger das Haus des Herrn gefestigt werde, in- Slawenland alle Herzöge der Böhmen, Bischofs Tuto war. Relikt des Regens- dem die Kirche erstarkt.“ die Herzog Svatopluk von der Verbin- burger Einflusses blieb übrigens das Die Absicht des Geschichtsschreibers dung mit dem bayerischen Volk und sei- Egerland, das bis 1808 zum Bistum ge- ist klar: Wolfgang gibt heroisch das Ei- ner Herrschaft längst gewaltsam abge- hörte. gene hin, um Glauben und Kirche zu rissen hatte. Die vornehmsten von ih- Der zunehmende sächsische Einfluss fördern. Er zielt auf Nachahmung und nen waren Spythiniew und Witizla. Die und die Neuorientierung der Prager Verehrung. Historisch bleiben dagegen Herzöge wurden vom König ehrenvoll Herrscher nach Sachsen ist der Hinter- Fragen: Cosmas von Prag berichtet in empfangen und unterwarfen sich, wie es grund bei der Errichtung einer eigen- seiner „Chronica Boemorum“ nichts Sitte ist, durch Handschlag wiederum ständigen Diözese Prag 973/976. Die von Wolfgang und dessen Beteiligung Prof. Dr. Klaus Unterburger, Professor der königlichen Gewalt.“ Parallel zum Wolfgangsvita berichtet ja von der Bitte an der Errichtung des Prager Bistums. für Kirchengeschichte an der Universität Niedergang des mährischen Reiches ori- des sächsischen Königs Otto. Patron der Wieso sollte aber überhaupt das Chris- Regensburg, sprach über Ostbayern und entieren sich die böhmischen Großen Prager Bischofskirche wurde dann be- tentum, die kostbare Perle, erst gebor- Böhmen in der Geschichte. also wieder zum fränkischen Herr- kanntlich der heilige Veit, dessen Reli- gen werden können, wenn Regensburg schaftszentrum nach Regensburg. Nur quien ja im sächsischen Hauskloster auf seine Ansprüche verzichtet? noch zwei Führer werden genannt. Es Corvey verehrt wurden. Erster Prager Die Analyse dieser Stelle wird uns im ist die Formationsphase der Herr- Bischof wurde der Sachse Thietmar. Folgenden in einem ersten Schritt zu- die Sippenverbände als ethnische Ein- schaftsbildung der Pˇremysliden, ein ein- Prag wurde der Mainzer Kirchenpro- rückführen in die religiöse Logik früh- heit gefasst werden. Slawen hatten vom heitliches Stammesherzogtum bildete vinz zugeordnet, wohl eine Art Kom- mittelalterlicher archaischer Stammes- 6. bis zum 8. Jahrhundert Ost- und Mit- sich aus. pensation für die Abtretung weiter kulturen. Ein zweiter Teil gibt einen teleuropa besiedelt, vielfach existierten In den nächsten Jahrzehnten kam es Mainzer Gebiete an das neue ottonische Überblick über den darauf aufbauenden westgermanische und slawische Sied- im Kontext der Ausbildung eines ein- Erzbistum Magdeburg, das eine Art religiösen Ideen- und Kulturtransfer lungen nebeneinander. Bis ins 9. Jahr- heitlichen pˇremyslidischen Stammes- Missionszentrale für die östlichen, sla- zwischen bayerischem und tschechi- hundert hinein war die schriftlose slawi- herzogtum und der Christianisierung wisch besiedelten Gebiete werden soll- schem Christentum. In einem dritten sche Kultur nach Ausweis der archäolo- Böhmens zu zwei Morden: Die genauen te. Dass damit der geistige Einfluss Re- Teil soll die Frage angeschnitten werden, gischen Zeugnisse vom Christentum Vorgänge liegen im Dunkel legendari- gensburgs nicht völlig zum Erliegen ge- wieso es – bei allem Austausch und al- kaum berührt. scher Überlagerungen. Sicher ist, dass kommen ist, ist daran zu sehen, dass len entwicklungsgeschichtlichen Paral- 2. Ab etwa 830 erscheint das groß- um 921 Drahomir, die Mutter König weiterhin herzogliche Familienmitglie- lelen – zu jener deutlich spürbaren un- mährische Reich in der Geschichte mit Wenzels, deren Schwiegermutter Lud- der im Regensburger Großkloster St. terschiedlichen Gestalt des Christen- seinem Zentrum im heutigen Südmäh- milla ermorden ließ. Wenzel, der unter Emmeram erzogen wurden. Versuche tums westlich und östlich des Böhmer- ren und der heutigen Slowakei. Dessen dem Einfluss Ludmillas erzogen worden Boleslavs, die Abhängigkeit von Sach- waldes gekommen ist, von der jeder Herrscher öffneten sich dem Christen- war, wurde um 935 von seinem leibli- sen abzuschütteln, misslangen. Er und schnell etwas spürt, der die Grenze tum, lavierten jedoch zwischen Byzanz chen Bruder Boleslav getötet. Bei die- die nachfolgenden Pˇremysliden wurden überquert. und Rom. Fürst Rastislav öffnete sich sen Morden ging es – anders als es die treue Verbündete der sächsischen und Ostrom, politische Abhängigkeit von ei- späteren Legenden dann verklärten – dann der salischen Herrscher. Die böh- I. Ostausrichtung Regensburgs nem der beiden Nachbarn und die nicht darum, dass eine heidnische Re- mische Kirche wurde eine Kirche der im Mittelalter und Frühgeschichte Übernahme von dessen Kult waren aktion das Christentum bekämpfen Herzöge, die Prag zu ihrem Herr- Tschechiens zwei Seiten einer Medaille: westlich- wollte und so christliche Märtyrer schaftszentrum und auch als sakralen fränkischer und oströmisch-byzantini- schuf, auch wenn Wenzel dann als heili- Ort ausbauten, in dem mit Wenzel der In schriftlichen Quellen erscheinen scher Einfluss konkurrierten. Aus ger König und vorbildlicher christlicher Patron des eigenen Hauses und des die Böhmen seit dem 9. Jahrhundert als Ostrom wurden die gelehrten Brüder Märtyrer verehrt wurde. Vielleicht spiel- ganzen Landes verehrt wurde. ethnische Größe. Drei Mal spielt die Konstantin-Kyrill und Methodios ent- te die Frage einer slawisch-ostkirchlich Karl IV. ließ dann im 14. Jahrhundert Stadt Regensburg hier eine Rolle als Ort sandt, die schon vorher Slawenmission geprägten Ausrichtung bei Ludmilla im neugebauten, gotischen Veitsdom die (ost)fränkischer Herrschaft. betrieben hatten und der slawischen eine Rolle, wohl auch unterschiedliche Wenzelskapelle errichten. Auf dessen 1. Die Fuldaer Annalen berichten für Sprache mächtig waren. Mit dem von Bündnisoptionen mit anderen slawi- Reliquienhaupt wurde die Festkrone das Jahr 845, dass auf Anordnung Kö- ihnen geschaffenen glagolithischen Al- schen Stämmen. Noch zentraler könnte aufbewahrt. So blieb für Böhmen Prag nig Ludwigs des Deutschen vierzehn phabet übersetzten sie liturgische Texte. ein Gegensatz in der Ausrichtung nach lange Zeit das einzige Bistum, während „duces“ der Böhmen getauft wurden. Ein Umschwung setzte ein, als Svato- Westen gewesen sein, denn das 10. Jahr- für Mähren 1063 das Bistum Olmütz Der Ort war wohl Regensburg. Deutlich pluk seinen Onkel Rastislav gefangen hundert stand unter dem Gegensatz hinzukam. Zwar wurde Prag 1344 zum wird, dass die Böhmen aus Sippen mit setzen ließ: Er wurde in Regensburg 870 zwischen sächsisch-ottonischem König- Erzbistum erhoben und erhielt mit Lei- jeweiligen Anführern bestanden und vor einer Versammlung fränkischer und tum und antagonistischen bayerischen tomischl ein Suffraganbistum, das aber noch kein einheitliches Stammesher- slawischer Großer zu Blendung und Ansprüchen. 929 hatte der Sachse wieder unterging. Der königliche Plan, zogtum bildeten, dass hier aber doch Klosterhaft verurteilt. Methodius wurde Heinrich I. erstmals Böhmen in einem ein westböhmisches Bistum Kladrau

zur debatte 6/2017 29 1393 abzuspalten, misslang ebenfalls. geschichtlichen Logik Pendant des stär- Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg keren Gottes. wurden Leitmeritz und Königgrätz eige- So sehr das Christentum im Frühmit- ne Bistümer. Auch deren Bischöfe wur- telalter der Logik der Stammesreligion den vom König ernannt. Der Plan, auch gemäß rezipiert wurde, als Buch- und Budweis und Pilsen zu Bistümern zu Hochreligion hat es dann aber seine ei- machen, scheiterte damals. Budweis genen Gesetzmäßigkeiten entfaltet. Ein folgte im Josephinismus 1784/85, Pilsen langfristiger Prozess der Ethisierung erst nach der Wende im Jahr 1993. und Personalisierung setzte seit dem Die frühmittelalterliche Prager Kir- Hochmittelalter ein, der die Stammes- che war als Herzogskirche errichtet grenzen transzendierte und der im Fol- worden. Die archaischen, zunächst genden charakterisiert werden soll. Er schriftlosen Stammeskulturen des Früh- führte zu intensiven Austauschprozes- mittelalters folgten religionsgeschicht- sen zwischen dem ostbayerischen und lich gesehen jener gesellschaftlichen dem böhmischen Raum. und religiösen Ordnung, die der Reli- gionswissenschaftler Jan Assmann als II. Christlicher Ideen- und Primärreligion beschrieben hat. Der Kulturtransfer zwischen Ostbayern Herrscher an der Spitze stand einer sa- und Böhmen kral begründeten Herrschaft vor, die eine Scheidung in weltlich und geistlich Frühzeitig die Logik von „ingroup“ nicht kannte. Die gesellschaftliche Ord- und „outgroup“ bekam der Heilige nung entsprach der kosmologischen: Adalbert/Vojt˘ech als zweiter Prager Bi- Der Herrscher besaß das Königsheil, schof zu spüren, der aus der noch kon- war also für das Heil der Untertanen kurrierenden, später eliminierten, verantwortlich. Sippen und Stämme Adelsfamilie der Slavnikiden stammte dachten in der Logik von „in-group“ und seine Erziehung in Magdeburg er- und „out-group“, standen also zumin- halten hatte. Christliche Reformgedan- dest potentiell in einem ständigen ken und der Gegensatz der Pˇremysliden Auch Msgr. Dieter Olbrich, der Vorsit- Kriegszustand mit anderen Gruppen au- zu seiner Familie machten ihn beim zende der Ackermann-Gemeinde – ßerhalb. Politische Unterwerfung be- Herzog verhasst, sodass er nach Rom in Kooperationspartner bei der Veranstal- deutete so kultische Unterwerfung und das Alexioskloster ausweichen musste, tung –, begrüßte die Teilnehmer in der überlegene Kult hatte irdischen Er- wo er in engem Austausch mit dem jun- Schönsee. folg als Kennzeichen. Primärreligiöse gen ottonischen Kaiser Otto III. stand. Kulturen waren und sind deshalb durch Schließlich wurde er als Missionar der einen tiefgehenden Tun-Ergehens-Zu- heidnischen Prußen getötet, nachdem sammenhang geprägt: das Handeln ge- er 997 noch in Bˇrevnov bei Prag ein Be- Egerland begütert war, das Prämonstra- enormen wirtschaftlichen Aufschwung mäß der Ordnung, die rituell korrekte nediktinerkloster gegründet hatte. Seit- tenserinnenstift Chotieschau. Böhmens führte. Anrufung des Göttlichen hatte irdisches her setzte eine Fülle von Kloster- und Die waldreichen Gebiete des östli- Auch geistig waren die mitteleuropäi- Wohlergehen zur Folge. Eine sündhafte Stiftsgründungen in Böhmen ein. Eine chen Mitteleuropa waren Europas Ag- schen Gesellschaften des Hochmittelal- Störung der Ordnung rief den Gottes- monastische Welt bildete sich aus, die rarreserven. Mit dem Bevölkerungs- ters von Innovation und Fortschritt ge- zorn heraus und musste rituell durch in enger Verbindung zu den benachbar- wachstum seit dem 12. Jahrhundert prägt: Niemand wollte dabei ein Neue- Opfer gesühnt werden. Das Christen- ten Klöstern stand. Nun erfolgten die setzte eine Siedlungs- und Rodungsbe- rer sein. Als normativ und gut galt das tum, von seinen Ursprüngen her eine benediktinischen Gründungen in Ost- wegung ein, wobei die Siedler aus allen Alte. Aber das Christentum war eine vergeistigte und verinnerlichte, persona- rov, das von Niederaltaich besiedelt Richtungen kamen, die Bewegung aber Buchreligion mit normativen Texten, lisierte Buch- und Hochreligion, war in wurde, in Sazava, wo eine slawische im Wesentlichen von West nach Ost mit verinnerlichten, personalen Nor- diese primärreligiöse Logik eingetreten. Liturgie gepflegt wurde, und 1115 auch ging. Diese Ansiedlungen wurden zu- men. So wurden zunächst die Klöster, Mission geschah von oben und kollek- in Kladrau, das von Mönchen aus Zwie- nächst von den Herzögen, seit Ottokar I. dann die 1346 in Prag gegründete Uni- tiv. „Kostel“, das tschechische Wort für falten begründet wurde. Von den Wald- auch von den Königen von Böhmen ge- versität zu Orten, wo Konzepte einer Kirche, leitet sich vom Wort für Burg sassener Zisterziensern leiten sich die fördert und privilegiert. Sie brachten ja „re-formatio“, einer Erneuerung gemäß ab, die Kirchen entstanden am Sitz des Klöster in Sedlitz und Osseg ab, andere Bevölkerungswachstum, Kultivierung normativen, schriftlichen Grundsätzen Herzogs und der adeligen Grundherren von Ebrach und Langheim. Die Prä- des Landes und wirtschaftlichen Auf- konzipiert wurden. Mit Gert Melville und waren eigenkirchlich geprägt. Reli- monstratenser im Prager Kloster schwung. Diese Siedlungsbewegung war kann man sagen, dass die eigentlichen quien sollten den göttlichen Schutz ga- Strahov, von wo aus Ende des 12. Jahr- in der nationalen Geschichtsschreibung „Innovationslaboratorien der Moderne“ rantieren. Der überlegene Kult verehrte hunderts Stift Tepl gegründet wurde, seit dem 19. Jahrhundert immer wieder die mittelalterlichen Klöster gewesen den stärkeren Gott, der militärischen kamen aus Steinfeld in der Eifel. Nahe hochumstritten: Klar ist, dass mit Klös- sind, hat man doch hier als erstes syste- Sieg und wirtschaftliches Wohlergehen Tepl stiftete kurz darauf derselbe Hroz- tern und Siedlern agrarischer, techni- matisch versucht, das Leben zu reflek- verlieh. Die überlegene christliche Zivi- nata von Ovenec, der inzwischen selig scher Fortschritt kam, eine zunehmende tieren, zu verbessern, methodisch strin- lisation war gemäß dieser religions- gesprochen ist und dessen Familie im Vergetreidung der Agrarproduktion ein- gent die Zeit zu nutzen, die eigenen setzte und eine zunehmende wirtschaft- Affekte zu kontrollieren und zu model- liche und kulturelle Verdichtung die lieren. Von Prag gingen im 14. Jahrhun- Folge war. Ottokar I. und seine Nach- dert umfassende Reformanstrengungen folger ließen planmäßig Städte errichten aus, das Leben der Priester und Mönche – später folgten adelige Gründungen –, zu verbessern, verwiesen sei auf die in denen den Siedlern Privilegien und Raudnitzer Reformbewegung, die die Rechte verliehen wurden. Kanonikerstifte erfasste, und auch auf Eine der königlichen Stadtgründun- die Kastler Reform, bei der von Kastl gen war 1295 (Neu-)Pilsen, das Wenzel und dann Reichenbach in der Oberpfalz II. durch den Lokator Heinrich errich- die Benediktinerklöster erneuert wer- ten ließ. Auch wenn die Siedlungsbewe- den sollten, die aber wesentliche Impul- gung im Wesentlichen von West nach se aus Prag und Böhmen erhalten hatte. Ost ging, so ist zu betonen, dass die Schließlich wuchs auch im Bürgertum Deutschen selbst von Westen her Stadt- der Städte das Bedürfnis nach bewusst rechte und agrarische Innovationen erst und reflektiert gelebtem Glauben, nach empfangen haben, wobei sich Verstäd- Predigt, Bildung und individueller See- terung und intensivierter Landbau lenführung. wechselseitig bedingten. Deutsche und Es waren vor allem die Bettelorden, Slawen haben sich zudem schnell ver- besonders also die Franziskaner und mischt, sodass aus Einheimischen und Dominikaner, die durch das neue Kon- Eingewanderten ein neues Volk ent- zept einer auf Predigt und Seelenfüh- standen ist. Die meisten Ortsnamen ha- rung in der Beichte konzentrierten Seel- ben slawische Wurzeln. Deutsche Sied- sorge klösterliche Reformen und Inno- ler waren aber andererseits auch nicht vationen einer christlich-frommen Elite nur Kolonisten oder Gastarbeiter. Nicht vermittelten, indem sie seelsorglich auf nationale Gesichtspunkte bestimmten deren Bedürfnisse reagierten. Die Bet- die Ansiedlung, sondern wirtschaftliche. telorden waren mobiler als die alten Or- Im Laufe der Zeit tendierten Minder- den, letztlich transnationale Gemein- heiten dazu, sprachlich von der jeweili- schaften. Sie verbanden die Gebiete gen Mehrheit absorbiert zu werden, so- westlich und östlich des Böhmerwaldes Die Bischöfe Tomáš Holub und Rudolf Schönsee, Akademiedirektor Florian dass sich deutsche und tschechische in geistlicher Hinsicht. In Pilsen gab es Voderholzer mit (v.l.n.r.) Landrat Schuller und Hans Eibauer, der Leiter Sprachgebiete bildeten. Seit dem 13. so seit dem 13. Jahrhundert ein Franzis- Thomas Ebeling von Schwandorf, Birgit des „Centrums Bavaria Bohemia“. Jahrhundert wurde der Bergbau plan- kanerkloster, dessen Barbarakapelle ein Höcherl, 1. Bürgermeisterin von mäßig betrieben, der dann in spätmittel- beeindruckender spätmittelalterlicher alterlicher Zeit, nachdem die Pˇremys- Freskenzyklus über das Leben der Hei- liden 1306 ausgestorben waren, zum ligen schmückt, ebenso eine Ende des

30 zur debatte 6/2017 geistlicher Diözesanadministrator des Mariensäule aufstellen. Dort gab es am Bistums Regensburg. In der Zeit, als Pe- Sonntag nach dem 8. November jeweils trus Canisius das Prager Jesuitenkolleg eine feierliche Siegesprozession. Imitati- gründete, war er Domprediger in Re- onen vielverehrter bayerischer Marien- gensburg. Lange Zeit konnten die Habs- bilder wurden nun auch in Böhmen um burger den Widerstand der Stände- Fürbitte angerufen, die Altöttinger mehrheit jedoch nicht brechen, die sich Schwarze Madonna etwa in Prag und seit 1575 zur „Confessio Bohemica“ be- im südböhmischen Neuötting. An meh- kannte. 1609 nutzten die Stände den reren Orten verehrte man auch Abbil- Habsburger Bruderzwist, um in einem dungen des Passauer Maria Hilf-Bildes. königlichen Majestätsbrief die Bekennt- Nach Neukirchen beim Heiligen Blut nisfreiheit auf adeligen Gütern zugesi- wallfahrteten auch Böhmen; im süd- chert zu bekommen. Der Widerstand böhmischen Lautschim wurde eine Ko- gegen dessen später restriktive Ausle- pie der Statue verehrt. Auch sonst ver- gung führte dann zum Fenstersturz des band die Heiligenverehrung die beiden kaiserlichen Statthalters aus dem Hrad- Länder. Als Johannes Nepomuk 1729 schin und der Wahl des calvinistischen heiliggesprochen wurde, wurde er von Pfälzer Kurfürsten zum König, was den den Jesuiten als Märtyrer des Beichtge- Dreißigjährigen Krieg auslöste. Hier heimnisses propagiert und Böhmen, wurde der 8. November 1620 als Tag mehr aber noch Bayern wurde mit Brü- der Schlacht auf dem Weißen Berg für ckenstatuen des Heiligen überzogen. Böhmen schicksalhaft. Der Sieg der ka- Einen böhmischen Heiligen wie Wenzel tholischen Truppen wurde dem Bei- verehrte man in Oberlauterbach bei In- stand der Gottesmutter zugeschrieben golstadt, den Niederaltaicher Gunther und der Widerstand des protestanti- in Bˇrevnov, Wolfgang von Regensburg schen Adels gewaltsam gebrochen. Für in Chudenitz. Auch künstlerisch kam es die Waffenhilfe der Liga ließ sich Bay- zu Austauschprozessen: So arbeiteten ernherzog Maximilian vom Kaiser neben die Brüder Asam auch in Böhmen, etwa Regensburgs Bischof Rudolf Voderhol- der Kurwürde die Oberpfalz zusichern. in Kloster Bˇrevnov und die Baumeister- zer zeigte die Pracht der Klosterkirche Es setzte eine systematische Rekatholi- familie Dientzenhofer wirkte in vor al- Kladruby, die im Stil der Barockgotik sierung ein, in der Oberpfalz wie in lem in Böhmen, Franken und der Ober- erbaut wurde, und hielt zum Abschluss Böhmen. Widerstrebende Geistliche pfalz. eine Statio. wurden ausgewiesen, dann Adelige, die dem widerstrebten. Truppeneinquartie- III. Gegensätze im tschechischen und rungen waren ein gefürchtetes Zwangs- bayerischen Katholizismus ab 1800 mittel. Instrumente der Rekatholisie- 18. Jahrhunderts abgetragene Domini- Antihussiten. Obwohl der wirtschaftli- rung waren die Orden, neben den älte- Wieso aber haben dann bei aller Ver- kanerkirche und auch ein Dominikane- che Austausch nie ganz abgerissen ist, ren Gemeinschaften wurden die Jesui- flechtung und allem geistlichen Aus- rinnenkloster. Meditative Vertiefung des kam es zu einer Entfremdung zwischen ten wichtig. Mehr noch als in der Ober- tausch der bayerische und der böhmi- Glaubens und bewusste individuelle Le- Böhmen und Bayern. Trotzdem gab es pfalz wurde Böhmen nun mit einem sche Katholizismus im 19. und im 20. bensgestaltung nach dem Vorbild Chris- auch im Bistum Regensburg Hus-An- Netz von Jesuitenniederlassungen über- Jahrhundert eine ganz unterschiedliche ti verband vielfach Ordensleute und hänger. Durch die Verbindung mit Wal- zogen. An sie gingen auch die Prager Entwicklung genommen? Natürlich fromme Laien, sodass man von einer densern entwickelte sich ein Teil der Universität und fast das ganze höhere kann man schon in der Barockkultur „böhmischen Devotio moderna“, einer Hussiten zu einer internationalen Un- Bildungswesen über. gewisse Unterschiede ausmachen, setz- neuen, innerlichen, persönlichen Fröm- tergrundbewegung weiter. Umgekehrt Diese einschneidenden Ereignisse bil- ten in Bayern Entwicklungen früher ein migkeit gesprochen hat. waren nicht alle Gebiete Böhmens hus- deten die Grundlage für die Barockperi- und konnten die Bruderschafen – so Jiˇri Entscheidend ist, dass es in Sachen sitisch geprägt. In Böhmen zerfiel der ode in Böhmen und Ostbayern, die er- Mikulec – auch quantitativ mehr Gläu- der Reform, also der innovativen Verin- Hussitismus in eine radikal-kriegerische neuten religiösen, kulturellen und bige erfassen. In der Aufklärung galt nerlichung des Christentums, enge Aus- Minderheit und in eine vom Adel be- künstlerischen Austausch brachte. Mit Böhmen mit dem Schulgründer und Re- tauschprozesse zwischen Böhmen und herrschte Mehrheitskirche, die sich von der Schlacht auf dem Weißen Berg ist former Ferdinand Kindermann als Mus- Ostbayern gab. Parallel zum wirtschaft- den Katholiken vor allem durch die die Legende von einem Marienbild ver- tergebiet des Josephinismus, früher als lichen Aufschwung des Spätmittelalters Kommunion unter beiderlei Gestalt un- bunden, das der Kapuzinerbeichtvater andernorts setzte eine Industrialisierung wurde dabei auch in geistiger Hinsicht terschied. Nachdem die radikalen Hus- des bayerischen Herzogs in Schloss beziehungsweise deren Vorformen ein. Böhmen der primär gebende Part, ob- siten niedergerungen waren, wurde die Stienowitz gefunden und zum Schlacht- Dennoch sind alle Thesen, die aus der wohl sich Transferprozesse wechselsei- utraquistische Mehrheitskirche von ei- feld mitgenommen habe, wo es über- Vorgeschichte eine fragilere, schwäche- tig vollzogen. Auf den benediktinischen nem Konsistorium an der Prager Teyn- natürlich strahlend den Sieg gewirkt re Position der Kirche im Vergleich zu und augustinischen Einfluss wurde be- Kirche aus geleitet, während der katho- habe. Unter dem Titel „Maria vom Sieg“ Bayern ableiten wollen, fragwürdig. reits hingewiesen. Doch auch andere lische Erzbischofssitz von 1421 bis 1561 wurde am Ort der Schlacht eine Wall- Ende des 18. Jahrhundert waren Böh- Orden brachten Reformimpulse hervor, vakant blieb. Da einem Teil der From- fahrtskirche errichtet. Maximilian I. men und Ostbayern weitgehend ge- der Abt des Zisterzienserklosters Kö- men diese utraquistische, ständisch do- hingegen ließ in München parallel die schlossen katholische Gebiete, hier wie nigssaal bei Prag etwa seine einflussrei- minierte Kirche noch zu katholisch war, che spirituelle Schrift „Malogranatum“. bildeten sich die Böhmischen Brüder, Auch zwischen der Prager Universität die ein friedliches, radikal-biblizistisches und der wenig später erfolgten kurpfäl- Christentum leben wollten und schließ- zischen Universitätsgründung in Heidel- lich nach Verfolgungen unter dem berg gab es intensiven Ideentransfer in Schutz mancher Adeliger toleriert wur- Bezug auf kirchliche Reformkonzepte. den. Falsch wäre es, die böhmische Ut- So erwuchs Jan Hus aus der böhmi- raquistenkirche als isolationistisch ein- schen Reformbewegung des 14. Jahr- zuschätzen. König Georg von Podieb- hunderts. Reform von Klerus und Lai- rad verfolgte ab 1462 weitreichende eu- en, sittenstrenge, arme, predigende ropäische Föderationspläne. Im 16. Geistliche waren das Ideal seiner Pre- Jahrhundert drang aus Deutschland die digt, die immer mehr eine tschechische Reformation nach Böhmen vor und Reformbewegung mit antideutscher fand zahlreiche Anhänger, auch bei der Spitze wurde, auch, da die hohen, ein- Brüdergemeinde. Neue transnationale kommensstarken kirchlichen Stellen Allianzen bildeten sich aus. weitgehend in der Hand von Deutschen 1526 erbte das Haus Habsburg die waren. Wenzelskrone. Ein katholisches Herr- So bedeutete das Agieren des Jan scherhaus stand dem machtbewussten, Hus, vor allem aber die Formierung sei- meist protestantischen Adel gegenüber. ner Anhänger nach dessen Hinrichtung Gegenreformatorische Maßnahmen durch das Konstanzer Konzil 1415 eine setzten in Böhmen sukzessive ein. 1561 erste Form nationaler Spaltung. Es kam ernannte der König wieder einen katho- zur Formation des Hussitentums auf der lischen Prager Erzbischof, 1556 über- Basis der Prager Artikel von 1420/21, gab er das Prager Clementinum dem Je- zum Kreuzzugsaufruf von Papst und suitenorden, ab 1583 residierte mit Ru- deutschem König gegen die Böhmen, zu dolf II. der Kaiserhof in Prag, der eine kriegerischen Auseinandersetzungen immer entschiedenere gegenreformato- und dem Einfall hussitischer Scharen rische Orientierung verfolgte. Wichtige nach Ostbayern. In antiklerikalem Eifer Protagonisten hatten Regensburger Dompfarrer Emil Soukup führte durch wurden Kirchen und Klöster in Böh- Wurzeln: Der Bˇrevnover Abt Wolfgang die Kathedrale von Pilsen, in der die men und Bayern durch diese zerstört. Selender war vorher Prior in St. Em- Gäste aus Bayern auch die sonntägli- Hussitismus und Antihussitismus waren meram, Erzbischof Zbynko Berka war che Eucharistie feierten. auch ethnisch konnotiert, die Tschechen vorher für den minderjährigen Wittels- waren meist Hussiten, die Deutschen bacher Fürstbischof Philipp Wilhelm

zur debatte 6/2017 31 lagern führten zu einer zunehmenden Austrocknung des kirchlichen Lebens. Sie trafen auf eine bereits in ihrer Stel- lung geschwächte Kirche. Ab etwa 1970 bildete sich die Untergrundkirche, da die Gefahr bestand, dass die offizielle Kirche ganz ausgerottet würde. So war und ist Tschechien nach 1989 eine der entkirchlichsten Regionen der Welt, be- sonders stark im Westen, also in der Diözese Pilsen. Beim staatlichen Zensus von 2011 gaben nur noch 10,4 Prozent an, katholisch zu sein, wenn es auch eine höhere Dunkelziffer gibt, die keine Angaben machte. Durch die langjährige Unterdrückungspolitik geschwächt, tat sich die Kirche nach 1989 zunächst schwer, eine konstruktive, informierte Antwort auf die Herausforderungen der Moderne zu geben. Der Streit um die Rückgabe kirchlichen Besitzes und um Wiedergutmachungen zeigt, wie stark antiklerikale Strömungen noch immer die tschechische Mehrheitsgesellschaft prägen.

IV. Fazit

Die Ansiedlung rund einer Million sudetendeutscher Heimatvertriebener in Bayern, die geographische Lage und die historischen Traditionen haben in Re- gensburg ein besonderes Bewusstsein Architektonisch herausragend ist … sowie die Kathedrale. der Verantwortung für und eine Ver- auch das Rathaus der westböhmischen bundenheit mit den östlichen Nach- Stadt … barn, vor allem mit Tschechien, entste- hen lassen. Hier können die Gründun- gen der 1970er Jahre eingereiht werden: die Ostdeutsche Galerie, das Institut für osteuropäische Kirchen- und Kulturge- dort wurde der Glaube praktiziert. demokratisch und fortschrittlich orien- Prozent der Bevölkerung bei. Dennoch schichte, das Ostkirchliche Institut. Wir Trotz des Toleranzedikts von 1782 be- tiert gewesen, wurden von den Habs- kann man konstatieren, dass die Kirche haben gesehen, dass mit der Christiani- kannten sich rund 98 Prozent der böh- burgern und der Kirche aber in ihrer in Tschechien bereits geschwächt war sierung Prozesse des kulturellen Aus- mischen Bevölkerung zum katholischen Entwicklung gehemmt. Seine Darstel- und einem einflussreichen Antiklerika- tauschs einsetzten, ja, dass es das Chris- Glauben. Auch die Oberpfalz hatte ja lung der tschechischen Geschichte ließ lismus gegenüber stand, also sie unter tentum gewesen ist, das durch eine Dy- im Vergleich zu Altbayern mehrere er konsequenterweise 1526 enden. Viel- die Herrschaft des nationalsozialisti- namik der Verinnerlichung und Ethisie- Glaubenswechsel, eine späte Rekatholi- fach getragen vom Gegensatz zwischen schen und dann des kommunistischen rung die Grenzen frühmittelalterlicher sierung unter staatlichem Druck und Lehrern und Pfarrern bildete sich eine Regimes geriet. archaischer Stammesgesellschaften zu eine Verspätung konfessionalisierter In- antiklerikale, szientistische Sicht bei Die Nationalsozialisten betrieben in überwinden half. Es hat so zu Fort- stitutionen aufzuweisen, und doch war den Gebildeten aus, denen der tschechi- den seit 1938 annektierten Gebieten, schritt und Modernisierung einen er- am Ende dort der katholische Glaube sche Katholizismus als eine rückständi- die sie als „konkordatsfrei“ betrachte- heblichen Beitrag geleistet, auf dessen ähnlich verankert wie in Altbayern. Mit ge, agrarisch geprägte Volksreligion galt. ten, eine scharfe Entkonfessionalisie- Boden wir noch immer stehen. dem Königgrätzer Theologen Tomaš Hinzu kam, dass in Tschechien die In- rungspolitik: Diese Territorien wurden Der Nationalismus des 19. und die Petraˇc˘ek kann man konstatieren, dass dustrialisierung und Verstädterung frü- jurisdiktionell den benachbarten Diöze- totalitären Regime des 20. Jahrhunderts die Bevölkerung in Tschechien um 1800 her als andernorts einsetzte. Mit ihr, der sen zugewiesen, sodass Regensburg vier haben dann aber zwei stark geschiede- nicht weniger katholisch war als an- Entwurzelung der Bevölkerung aus dem Dekanate seelsorglich zu betreuen hatte ne religiöse Landschaften geschaffen, dernorts. Wieso dann aber die tschechi- Herkunftsmilieu und der Überforderung (Schlackenwerth, Trautenau, Nikols- die erst wieder in eine positive Bezie- sche Eigenentwicklung, wieso die bald der traditionellen Pfarreistruktur, muss- burg, Branitz). Von den sudetendeut- hung kommen mussten. Noch immer schwächere Stellung der Kirche? te die Kirche erst ihre Erfahrungen schen Priestern wurden 47 in einem KZ steht die Regensburger Kirche nicht nur Die Grundlagen hierfür wurden im machen, ehe sie reagieren konnte. In inhaftiert. Noch schlimmer traf es die finanziell, sondern auch was die Partizi- 19. Jahrhundert gelegt: die Art der Aus- Tschechien erfolgte die Reaktion des- tschechischen Priester im Reichsprotek- pation am kirchlichen Leben angeht, bildung eines tschechischen National- halb relativ spät. Im Gegensatz dazu die torat ab 1939. Sie wurden als Teil der gefestigter da als die Kirche im Westen bewusstseins und die frühe Industriali- bayerische Entwicklung: Dort waren tschechischen Intelligenz gesehen, die Tschechiens. Dennoch wird man die sierung. In Böhmen mit seinem gut aus- weite Gebiete ländlich-agrarisch ge- es aus ideologischen Gründen zu elimi- Frage stellen können, ob nicht auch die gebauten Schulwesen wurden zunächst, prägt, die Ausbildung eines bayerischen nieren gab. Von 371 Priestern im KZ deutsche Kirche von den Erfahrungen neben Philologen und Historikern, eine Bewusstseins verlief gegen Berlin und starben 73, alle Klöster wurden aufge- der dortigen Kirche in einer noch mas- Reihe von gelehrten Priestern Träger Preußen und begünstigte, ja verstärkte hoben. Die Vertreibung der Deutschen siver säkularisierten Umwelt lernen des nationalen Erwachens der Tsche- eher die katholische Identität der Be- nach 1945 bedeutete einen schweren kann, gleichsam an einem Laboratori- chen. Da die Sprache in staatlicher Bü- völkerung. Aderlass an praktizierenden Katholi- um forcierter Säkularisierung. Wie kein rokratie, Adel und kirchlicher Füh- Die Kirche in Tschechien war so ken. Die in den ehemaligen sudeten- anderer hat wohl Tomáš Halik diese Si- rungsschicht deutsch war, bildete sich schon geschwächt, als es 1918 zur ers- deutschen Gebieten angesiedelte neue tuation reflektiert. Die Kirche hat in dieses tschechische Nationalbewusst- ten Republik kam und Tomáš Masaryk Bevölkerung hatte meist keinen Bezug Tschechien nach 1989 die Erfahrung sein gegen den Habsburger Staat und erster Staatspräsident wurde. Auch die zu den regionalen kirchlichen Traditio- machen müssen, dass weder das Sichbe- sukzessive auch gegen die damit eng kirchlichen Organisationen und christli- nen. Mit der kommunistischen Macht- rufen auf Traditionen noch auf rechtli- verbundene Kirche aus, die im Konkor- chen Parteien bestanden für Tschechen übernahme ab 1946 unter Klement che Ansprüche von nachhaltigem Erfolg dat von 1855 stark privilegiert wurde. und Deutsche getrennt und parallel. Gottwald setzte erneut eine Politik ein, gekrönt war, dass antiklerikale Muster Der Nationalismus des 19. Jahrhun- Symbolisch wurde die Mariensäule am die die Kirche aus Schule und Öffent- und Stereotypen weiter leben. Zugleich derts, von den Ideen Johann Gottfried Altstädter Ring als Zeichen einer katho- lichkeit verdrängen und auf das gottes- zwingt die extreme Minderheitensituati- Herders geprägt, sah in den Nationen lisch-habsburgischen Unterdrückung dienstliche Leben beschränken wollte. on zu Kreativität und kann mobilisie- und deren Sprachen einen durch die zerstört und wenig später durch ein Die Orden wurden aufgehoben. Cha- rend wirken. Ein Rückzug von Möglich- Jahrhunderte wirkenden Volksgeist le- Denkmal für Jan Hus ersetzt. Die Poli- rakteristisch wurde die völlige staatliche keiten, in die Öffentlichkeit hinein zu bendig. So zerfiel ein spezifisches böh- tik Masaryks mit seinem antiklerikalen, Kontrolle und Überwachung der Kir- wirken, ist nicht angesagt. Alles wird misches Landesbewusstsein immer demokratischen Humanismus führte che. Da diese unter Kardinal Beran ihre aber darauf ankommen, im Zweifeln- mehr zwischen den Nationalismen der nicht nur zu Bedrohungsängsten der Eigenständigkeit gegenüber staatlicher den, im Suchenden und Nachdenken- Tschechen und der Deutschen. Wäh- deutschen Minderheit, sondern auch zu Durchdringung wahren wollte, kam es den den Bruder zu sehen. Als ein Ver- rend die deutsche Minderheit sich ent- schweren Spannungen mit der katholi- zu zahlreichen Verhaftungen und zur trauen darauf, trotz allen Verhängnisses weder an Wien und dem Kaiser oder schen Kirche, etwa um Staatssymbole Strategie, Kirche und Priester durch in Gott geborgen zu sein, ist Glauben aber großdeutsch orientierte und dann und die Abschaffung katholischer Feier- Spitzel und regimeloyale Gruppierun- im Tiefsten ja immer eine persönliche, teilweise von der antiklerikalen, natio- tage. Staatlich gefördert wurde die gen von innen zu unterwandern. Diese kulturell ungesicherte existentielle Hal- nalen Los-von-Rom-Bewegung erfasst Gründung der „Tschechoslowakischen Unterwanderung, die Restriktion der tung. Zachäus wollte fern von Jesus ste- wurde, bildete sich in der tschechischen Kirche“, die an tschechisch-hussitische Kirche auf Pfarrgottesdienste – wobei hen. Wo christliche Spiritualität, christ- Bevölkerungsmehrheit eine Geschichts- Traditionen anknüpfen sollte und de- schon Katechese und andere elementa- liche Selbstlosigkeit und freie christliche sicht aus, für die das einflussreiche mokratisch-humanistisch orientiert war. re Formen der Glaubensweitergabe ver- Reflexion das Bild der Kirche in seinen Werk des Historikers František Pala´cky Obwohl die Übertrittspropaganda mas- hindert wurden – und schließlich die Augen bestimmen werden, wird die Be- stand. Die slawischen Tschechen seien siv war, traten ihr doch nur etwa zehn Haft oppositioneller Priester in Arbeits- gegnung wieder gelingen. „

32 zur debatte 6/2017 Podiumsgespräch zwischen Bischof Rudolf Voderholzer, Bischof Tomáš Holub, Klaus Unterburger und Florian Schuller

Florian Schuller: Bei welcher Epo- che oder Jahreszahl brennt Ihnen das Herz ganz besonders?

Bischof Tomáš Holub: Ich nehme lieber ein ganzes Jahrhundert. Für mich immer neu ist das 19. Jahrhundert. Dort hat sich alles bei uns geändert. Warum? Das bleibt für mich eine große Frage. Deswegen – vielleicht 1848, das Revo- lutionsjahr.

Bischof Rudolf Voderholzer: Im po- sitiven Sinne das Jahr 1115, Gründung des Klosters Kladrau. Damit wird natür- lich auch meine eigene Lebens- und Fa- miliengeschichte greifbar und sehr prä- sent. Im schwierigen und auch im belas- tenden Sinne: das Jahr 1945/46. Es ist für mich außerordentlich bewegend, heute hier sein zu können. Einer der ersten Orte aus dem Bayerischen oder Böhmer Wald, die mir aus den Erzäh- lungen der Mutter nahe gebracht wor- den sind, ist Eslarn. Bei Eslarn ist meine Mutter im Winter 45/46 „schwarz“ über die Grenze. Sie ist damit der Vertrei- bung der übrigen Familie zuvor gekom- men, weil die Gefahr bestand, dass sie in ihrem Alter eventuell in das Landes- innere deportiert würde. Aber das war eben eine Strecke, die man in einer Nacht mit einer kleinen Gruppe gehen Bischof Dr. Tomáš Holub, Prof. Dr. konnte. Dass ich jetzt als Bischof von Re- Klaus Unterburger, Dr. Florian Schuller gensburg hier sitze und über die bereits und Bischof Dr. Rudolf Voderholzer mehr als 25 Jahre zurückliegende Grenz- (v.l.n.r.) diskutierten die Beziehungen öffnung sowie die damit zusammenhän- zwischen dem Bistum Regensburg und gende geschichtliche Umwälzung reflek- Tschechien. tieren darf, bewegt mich tief. Aber auch viele andere Daten kommen mir in den Sinn. Ich bräuchte noch Zeit, das alles zu sortieren und in mir zu identifizieren, was als meine eigene Geschichte in mir genden sehr harschen Habsburger- Kontakte und persönliche Beziehungen Bischof Rudolf Voderholzer: Bischof lebt. Ich könnte noch weitere Jahreszah- Herrschaft. Herr Bischof Holub, wenn ermöglicht. Aber da sind eben die František Radkovský hat einmal von len nennen, aber die beiden genannten Sie mal Ihr böhmisches Herz öffnen? Tschechen sehr skeptisch. seinem Bistum als der atheistischsten wollte ich herausgreifen. Diözese weit und breit gesprochen. Da Bischof Tomáš Holub: Es ist unklar, Florian Schuller: Trotzdem noch- darf ich für das Bistum Regensburg sa- Florian Schuller: Die Familie der wie tief man gehen soll mit den Habs- mals die Frage nach dem 19. Jahrhun- gen, zumindest was Westdeutschland Mutter, wie weit können Sie deren Ge- burgern. Die entscheidende Frage dert. Wenn ich die Situation nach der betrifft, dass wir von den Statistiken her schichte zurückverfolgen? bleibt, wie die Kirche jetzt in der spezi- polnischen Teilung ansehe: Da gab es vielleicht doch das Bistum mit der noch ellen Situation, die wir erleben, wirken nicht nur das protestantische Preußen größten kirchlichen Praxis sind. Wir Bischof Rudolf Voderholzer: Cousi- soll. Ich sage immer, dass wir heute in als Sieger oder das orthodoxe Russland, werden nur übertroffen durch Görlitz nen haben Familienforschung betrieben. der Tschechischen Republik beim Glau- sondern auch das katholische Öster- und einige Gegenden Ostdeutschlands, Ich selbst bin kein so großer Familien- ben vom Punkt minus zehn anfangen reich. Warum konnte sich aber der Anti- wo durch die besondere Diasporasitua- forscher, aber meine Mutter war immer müssen. Zuerst müssen wir erklären, Institutionen-Effekt, der Anti-Kirchen- tion nochmal ganz andere Verhältnisse sehr stolz auf ihre Familie. Sie war eine dass es normal ist, zu glauben … Effekt in Polen nicht so durchsetzen bestehen. Aber die Statistik ist das eine, geborene Schill und sogar mit dem Ma- wie in Böhmen? die Realität nochmal das andere. Ich jor Schill, einem der wichtigsten Offizie- Florian Schuller: … öffentlich in der bin nicht so blauäugig zu meinen, dass re im Heer Wallensteins, verwandt. Gesellschaft? ... Bischof Tomáš Holub: Ich finde, wir nicht auch zu einem ganz hohen ähnlich wie Professor Unterburger, ei- Maße von Säkularisierungstendenzen Florian Schuller: Dann gibt es auch Tomáš Holub: … in der Gesellschaft. nen Teil der Antwort, und sicherlich nur betroffen sind. Aber wir klagen auf ei- bei Ihnen ein ziemlich kämpferisches Ich glaube, das gehört zu einer Mentali- einen Teil, in der Industrialisierung, die nem hohen Niveau, auch was die perso- Gen? tät, die in Böhmen sehr tief verwurzelt bei uns sehr schnell gegangen ist. Die nelle Situation betrifft. Ich kann das ist, und zwar nicht nur gegenüber der Kirche wurde bei uns auf dem Lande auch sagen, weil es am wenigsten mein Bischof Rudolf Voderholzer: Das Kirche, weil man eine Institution zu- sehr stark, die Beziehung zwischen Verdienst ist. Ich habe es geerbt. Aber müssen andere beurteilen, aber ich habe nächst als etwas sehr Verdächtiges ver- Lehrer und Pfarrer war sehr wichtig. ich betrachte es natürlich als eine ganz der Sache keine große Aufmerksamkeit steht. Es ist wahrscheinlich in ganz Eu- Damals wollte die Kirche in Böhmen ei- große Verpflichtung, als ein Geschenk, geschenkt. Grundsätzlich – ich meine ropa ein allgemeines Problem postinsti- nen gewissen Rückschritt zur barocken mit dem wir auch wuchern müssen. auch, dass das 19. Jahrhundert den tutioneller Situationen, aber bei uns Mentalität vollziehen, das heißt zu ei- Es hat keinen Sinn, sich darauf aus- Schlüssel birgt für Probleme der weite- greift es noch tiefer. Deswegen geht es ner kulturellen Mentalität, einer Tradi- zuruhen. Wir werden in jedem Fall alles ren Geschichte. Und darin brauchen nicht nur um die Habsburger. tion, die schön war, allerdings nicht so unternehmen müssen, den Glauben zu wir Klarheit, wenn wir die politischen sehr auf der intellektuellen Ebene. Sie stärken als eine persönliche Überzeu- Probleme, die leider auch die Kirche Florian Schuller: Bischof Holub, Sie befand sich nicht im Austausch mit den gung, die den Einzelnen befähigt, gegen mit beeinflusst haben, verstehen und lö- waren früher auch Militärseelsorger und Intellektuellen, die gegen die Kirche alle Widerstände und Anfechtungen in- sen wollen. hatten dadurch vielleicht einen privile- eingestellt waren. Deshalb ging für Jahr- tellektuell redlich zum Glauben und zur gierten Zugang zu jungen Menschen, zehnte die Fähigkeit zum Dialog verlo- Gemeinschaft der Kirche zu stehen. Wir Florian Schuller: Im Vortrag von die bis dahin mit Religion nicht in Kon- ren. müssen alles tun, um Auskunftsfähigkeit Professor Unterburger wurde ja deut- takt gekommen waren. Haben Sie da und Dialogfähigkeit zu fördern und ge- lich, dass im 19. Jahrhundert der Bruch Ablehnung gespürt, oder einfach totales Florian Schuller: Herr Bischof rade auch unsere jungen Menschen aus- kam, warum es diesseits der Grenze an- Nichtwissen, dass es die Institution Kir- Voderholzer, wenn Sie Ihre Diözese zurüsten mit dem intellektuellen Hand- ders weiter ging als jenseits. Es gibt aber che überhaupt gibt? heute ansehen: Wie dankbar sind Sie werkszeug, das man braucht, um in un- auch jene andere These, dass der Bruch für die fortdauernde Volksreligiosität, serer Gegenwart intellektuell redlich schon deutlich früher anzusetzen ist, Bischof Tomáš Holub: Ja, es geht für das Barocke in der Diözese Regens- Christ sein zu können. Meines Erach- nämlich nach der Schlacht auf dem darum, dass eine Institution als etwas burg? Und wo würden Sie sagen: Wir tens kann man sogar intellektuell red- Weißen Berg bei Prag und der nachfol- sehr Wichtiges gesehen wird, weil sie müssen aufpassen? lich, was die letzten Überzeugungen

zur debatte 6/2017 33 gewisser Realismus tut gut, und wenn Zeuge für ein solches Vertrauen auftritt, wir von euch lernen können, bin ich der und nicht aller mögliche Ballast das erste, der dazu bereit ist. Bild der Kirche verdunkelt. Genau dar- in liegt die Chance, nachdem vieles in Florian Schuller: Professor Unter- Böhmen weggebrochen ist, dass die burger, Sie haben die Situation in Böh- Kirche wieder diesem Zachäus, diesem men als Laboratorium wachsender Sä- suchenden Menschen, ein glaubwürdi- kularisierung vorgestellt. Könnten Sie ger Vermittler von Antworten sein das noch etwas konkretisieren? kann.

Klaus Unterburger: Das eine ist na- Florian Schuller: Daraufhin könnte türlich, dass man rein statistisch gese- ich jetzt die einfachere Frage stellen: hen realistisch sein muss. Dann hat sich Was können wir von Pilsen lernen? aber auch der Glaube gewandelt, von Versuchen wir es aber zunächst mit der einer primär religiösen Stammesreligion schwierigeren Frage: Was können die hin zu Verinnerlichung. Vor allem im Pilsener von uns lernen? Wo könnten 19. Jahrhundert hat die Kirche eine bei der Regensburger Volkskirche Im- enorme Modernisierungsleistung vollzo- pulse liegen für Pilsen? gen. Als überall in Europa die Kultur- kämpfe zwischen Liberalen und Katho- Bischof Rudolf Voderholzer: Darauf liken, später auch von Liberalen und eine Antwort zu geben, die nicht arro- Sozialisten gegen die Katholiken, tob- gant oder besserwisserisch klingt, ist ten, mussten die Gläubigen immunisiert ausgesprochen schwierig. Ich glaube, und der Glaube bewusst reflektiert wer- dass wir schon sehr viel miteinander ge- den. Deshalb hat man die Vereine ge- lernt haben und, an gemeinsamen Tra- gründet, die katholischen Zeitungen, die ditionen arbeitend, auf einem ganz gu- Verbände, man hat Massenwallfahrten ten Weg sind. Es ist zweifellos richtig,

Bischof Tomáš Holub: „Die entscheidende Frage bleibt, wie die Kirche jetzt in der speziellen Situation, die wir erleben, wirken soll. Ich sage immer, dass wir heute in der Tschechischen Republik beim Glauben vom Punkt minus zehn anfangen müssen.“

betrifft, nur Christ sein. Aber es geht lernen können, was in Pilsen und Prag nicht von selbst, und genau das ist unse- Realität ist, weil uns möglicherweise re große Herausforderung. nur wenige Jahre oder Jahrzehnte vom Ich bin sehr der Überzeugung, die Grad der Säkularisierung trennen, die Professor Unterburger am Schluss ange- Pilsen und Prag jetzt schon erleben. deutet hat, dass wir in vieler Hinsicht Ich will nicht schwarz malen, aber ein

Bischof Rudolf Voderholzer: „Ich bin nicht so blauäugig zu meinen, dass wir nicht auch zu einem ganz hohen Maße von Säkularisierungstendenzen betroffen sind.“

veranstaltet und politische Parteien ge- dass wir nicht irgendwelchen Milieus gründet. So hat das katholische Milieu nachtrauern dürfen. Aber der Glaube ist zu einer enormen Stabilisierung der nicht ungeschichtlich, und die Antwor- Kirche beigetragen. Seit den 60er Jah- ten des christlichen Glaubens transpor- ren nimmt nun dieses Milieu aus ver- tieren immer auch eine konkrete ge- schiedenen Gründen ab; das ist keine schichtliche Gestalt, eine konkrete kul- Schuld der Kirche, sondern bedingt turelle Form mit sich. Auch heute kann durch die zunehmende Modernisierung. einem jungen Menschen der Glaube Heute sind andere Faktoren für die nicht gegen die Geschichte vermittelt Überzeugungsbildung wichtiger als das werden, sondern nur auf der Basis einer Aufwachsen in der katholischen Jugend, positiven Einstellung zu dieser Ge- in Vereinen und so weiter. Diese kultu- schichte. Es gibt keine Christlichkeit rellen Sicherungsmechanismen, diese ohne die Kirche. Da gibt es dunkle Sei- Immunisierungsmittel fallen mit der ten, da gibt es aber auch wunderbare Zeit weg. Der Glaube ist aber im Tiefs- Seiten. Wir müssen lernen, mit den gu- ten etwas Existentielles. Wenn die Si- ten, wie mit den weniger guten Seiten cherheiten der vorletzten Dinge mit umzugehen. Das impliziert die Ge- Krankheit und Tod zerstört werden, schichtlichkeit des Glaubens. Und des- Florian Schuller: „Warum konnte sich aber der Anti-Institutio- geht es um das Vertrauen, trotzdem in wegen meine ich, dass die großen nen-Effekt, der Anti-Kirchen-Effekt in Polen nicht so durchset- Gott geborgen zu sein. Das Entschei- Schätze der Kunst, der Kultur, der zen wie in Böhmen?“ dende ist, dass dann die Kirche als in- Musik, der Literatur, auch der Architek- tellektuell und moralisch glaubwürdiger tur als Antworten erschlossen werden

34 zur debatte 6/2017 können auf die letzten Fragen hin, die Pilsen, allgemein in Böhmen, besser re- die Menschen zweifellos umtreiben. flektieren. Diese existentielle Erfahrung Von einer bloß traditionellen zu einer haben wir gemacht und sie können wir persönlich verantworteten Glaubens- anbieten. entscheidung weiter zu helfen, ist aller- erste Aufgabe der Hirten unserer Tage. Florian Schuller: Professor Unter- Da bin ich voll bei Professor Unterbur- burger, in Ihrem Referat haben Sie be- ger. Aber nicht in einem weltlosen, so- sonders auch die Barockzeit und den zusagen abstrakten Glauben, sondern damaligen Kulturaustausch betont. einem konkreten Glauben, der den gan- Wenn man böhmische Kirchen besucht, zen Reichtum ausschöpft, den uns unse- meint man ja, man sei in Bayern. re Vorfahren hinterlassen haben. Vorhin sind die Jesuiten ein paar Mal genannt Bischof Tomáš Holub: Die in Bayern worden. Was uns die Jesuiten vermittelt sind prächtiger, das muss man zugeben. haben an Versichtbarung des Glaubens, an Anschaulichkeit, vom Theater über Florian Schuller: Da waren häufig die Musik bis hin zur Krippenkunst und die gleichen Künstlerfamilien unter- all diese Dinge, das birgt so viel Potenti- wegs. Es war aber mehr als ein Kultur- al; aus dem sollten wir schöpfen. Da austausch, es war eine gemeinsame kul- verbindet uns in Bayern und Böhmen turelle Ebene. Auf die Gegenwart bezo- außerordentlich viel. gen: In welchen Bereichen könnte oder sollte es eine verstärkte kulturelle Be- Florian Schuller: Bischof Thomas, gegnung geben? Gibt es dazu in den Di- auch Ihnen die schwierige Frage: Was özesen gemeinsame Überlegungen? Pil- können wir in Bayern von Ihnen ler- sen war ja zum Beispiel eben erst Kul- nen? turhauptstadt Europas. Wurde das kirchlicherseits aufgegriffen? Bischof Tomáš Holub: Ich sage das- selbe wie Bischof Rudolf: Wir lernen ge- Bischof Tomáš Holub: Da war ich genseitig. Es gibt aber eine Sache, die noch nicht direkt dabei. Deshalb würde wir schon durchgelitten haben, und die ich lieber über die heutige Situation vielleicht auch wichtig für andere wer- sprechen. Es gibt natürlich ein Problem den kann. Das ist etwas, was wir zwar mit der Sprache. Früher war die Kultur theoretisch alle wissen, aber es zu erle- mehr mit der lateinischen Liturgie ver- ben, schaut anders aus, als wenn man bunden und damit für die Menschen es nur philosophisch reflektiert. Ich von beiden Seiten gleich zugänglich. Ich komme da nicht nur von der tschechi- spüre es bei den Begegnungen zwischen schen oder böhmischen Geschichte her, Pfarreien. Da wird es schwierig, das Of- Klaus Unterburger: „Vor allem im 19. Jahrhundert hat die Kirche sondern auch von meiner persönlichen fizielle zu überschreiten, weil gerade eine enorme Modernisierungsleistung vollzogen.“ Geschichte. Wenn ich etwas wirklich dann das Problem der Sprache auftritt. Wichtiges aus der Militärseelsorge ge- Bei der Jugend ändert es sich mit der lernt habe, dann ist es gerade jene Situ- gemeinsamen Kenntnis der englischen ation, dass alles verloren geht. Das war Sprache. Was meiner Meinung nach ge- Bereich etwas zu machen. Und mit der dem Krieg völlig entwurzelt in jene Orte meine Erfahrung in Bosnien, in den ers- lingt und Hoffnung für die Zukunft Musik überbrückt man auch gerade die gekommen sind, aus denen meine Vor- ten Monaten, und eine der wichtigsten schenkt, ist die Kirchenmusik. Die Re- sprachlichen Probleme. fahren vertrieben worden waren, und Erfahrungen meines Glaubens. In die- gensburger Seite hat da natürlich eine die sich wie Analphabeten diesen Zeug- ser Situation habe ich neu um den absolute Tradition; im Vergleich dazu Bischof Rudolf Voderholzer: Zu- nissen gegenüber verhalten. Auch die Glauben gekämpft und dadurch kann sind wir ganz klein, aber der Wille und nächst einmal möchte ich meiner ganz Zeitstruktur, die uns durch die christli- ich auch zum Beispiel die Situation in die Bereitschaft sind da, in diesem großen Dankbarkeit Ausdruck verlei- che Liturgie und unser Kirchenjahr in hen, dass uns in Gestalt von Bischof Fleisch und Blut übergegangen ist, was Tomáš diese fast beschämende Sprach- wir ja gar nicht mehr reflektieren, ist ge- kompetenz entgegenkommt. Ich habe nauso Ausdruck von Kultur. Wenn wir einige Anläufe gemacht, mir das Tsche- das lebendig halten und wissen, warum chische etwas besser anzueignen, aber wir es tun, und auch weitergeben kön- das Repertoire ist relativ gering, sodass nen, dann leisten wir einen grandiosen ich damit keinen großen Staat machen Beitrag zur Weitergabe der Grundlagen kann. Also vielen Dank, dass immer Ihr unserer abendländischen Kultur. diesen ersten Schritt in der Sprache macht. Das kann man nicht deutlich ge- Bischof Tomáš Holub: Ich bedanke nug erwähnen. mich vielmals für die Bemerkung zu Wenn die Ebene der Kultur ange- den Wallfahrten, weil das stimmt. Sie sprochen wird, darf ich vielleicht erin- sind mit der Volkskirche verbunden und nern an die gute Kooperation beim Ka- wirken bei uns wieder neu. Etwas ge- tholikentag 2014 und die Gegeneinla- meinsam zu feiern, was zum Ort gehört dung anlässlich der Ernennung von Pil- und mit der Tradition verbunden ist, die sen als Kulturhauptstadt. Mir war schon unterbrochen wurde, aber jetzt neu ge- immer wichtig, dass Kultur und Kult et- sucht wird, ist ein Zeichen nicht nur des was miteinander zu tun haben, und dass Kultes, sondern vor allem auch der Kul- über die Jahrhunderte hinweg die Kul- tur. Danke. tur auch aus dem Kult heraus entstan- den ist. Deswegen ist auch gemeinsam Florian Schuller: Weil vorhin Bischof Gottesdienst zu feiern, gemeinsam zu Rudolf Ihr Deutsch so gelobt hat, er- singen, gemeinsam einzutauchen in un- zählen Sie doch mal aus Ihrer Lebens- sere kirchenmusikalische, aber auch ar- geschichte, warum Sie so gut deutsch chitektonische, aus dem Glauben her- sprechen. aus entstandene Kultur und ihren Voll- zug in der Gegenwart, ein erster und Bischof Tomáš Holub: Erstens stam- wesentlicher Schritt in Richtung Kultur. me ich aus einer Gegend, die immer Kultur kann sich ja nicht beschränken tschechisch-deutsch gemischt war, im auf das Herstellen von leistungsstarken Sudetenland im Riesengebirge. Ein Teil Motoren oder das Brauen von Bier. der Familie meiner Großmutter hieß Wenn ich beobachte, dass wie bei ei- Scholtz, deutsch geschrieben. Dann gab nem Reißverschluss die Wallfahrten von es in diesem Gebiet auch Priester, die in diesseits der Grenze und jenseits inein- Kontakt mit den Vertriebenen standen. anderfließen, dann ist das für mich Kul- Deshalb hatte ich schon als Gymnasiast tur. Es begegnen sich Menschen, die die Möglichkeit, in die DDR zu fahren miteinander singen, beten, auch sich und dort bei den sogenannten religiösen freuen, die sich miteinander fit halten, Kinderwochen mitzumachen. Weil ich Bildprogramme lesen zu können, die schon ein bisschen Deutsch gesprochen miteinander das ganze Programm der hatte, ergab sich die Möglichkeit, gleich Bischof Tomáš Holub: „Wenn ich etwas wirklich Wichtiges christlichen Ikonographie durchbuch- nach der Wende ein einjähriges Stipen- aus der Militärseelsorge gelernt habe, dann ist es gerade jene stabieren können. Alles das sind we- dium in Salzburg zu bekommen. Situation, dass alles verloren geht. Das war meine Erfahrung sentliche Elemente von Kultur. in Bosnien, in den ersten Monaten, und eine der wichtigsten Man muss nur einmal mit den Men- Florian Schuller: Und Österreichisch Erfahrungen meines Glaubens.“ schen zusammenkommen, die nach zu lernen.

zur debatte 6/2017 35 einen Weg, Jan Hus zur Ehre der Altäre etwas vernachlässigt worden. Bei ihm zu erheben, beziehungsweise mit die- kommen zwei Strömungen zusammen. sem Prozess zumindest langsam anzu- Das eine ist die tschechische Reformbe- fangen? Wäre das auch eine Möglich- wegung mit Konrad von Waldhausen keit, die Geschichte Böhmens mit der und anderen, die natürlich katholisch Geschichte der Kirche wieder stärker zu waren. Sie stellten moralische Forde- verzahnen? rungen auf und wollten einen reinen Klerus. Und dann gibt es den englischen Bischof Tomáš Holub: Der heilige Einfluss von John Wyclif. In der theolo- Papst Johannes Paul II. wollte, dass die giegeschichtlichen Forschung gibt es im- tschechischen Bischöfe wirklich quali- mer noch unterschiedliche Thesen. Ein fiziert und gemeinsam mit den anderen belgischer Benediktiner, Paul de Vooght, Kirchen die Geschichte von Jan Hus hat gemeint, Hus würde einen radikalen studieren. Das wurde auch wirklich ge- Augustinismus vertreten, und das sei et- tan und war ein großer Schritt zur Ver- was anderes als bei Wyclif. Andere For- söhnung. Es wurde allerdings nicht über scher sagen das Gegenteil. Letztendlich seine Heiligsprechung gesprochen. Ich ist Hus von einer Doppeldeutigkeit ge- habe mich während meines Studiums prägt. Auch Heilige sind hartnäckig, mehr als normal mit Jan Hus beschäf- aber Hus war schon richtig starrsinnig. tigt und kann mir nicht vorstellen, dass Ich selber mag da kein Urteil fällen, aber jemand, der in der Lehre der Kirche et- ein so ganz angenehmer Zeitgenosse was so Schwieriges vertrat, heiliggespro- war er wohl nicht; als Nachbarn hätte chen wird. Persönlich war Hus ein from- man ihn wohl nicht haben wollen. mer Mann und hatte sicher die besten Vorstellungen und Wünsche. Aber seine Florian Schuller: Aber die anderen, Lehre war falsch. Sicher ist er im Him- die ihn auf den Scheiterhaufen gebracht mel, davon bin ich persönlich überzeugt, haben, waren auch keine angenehmen das wage ich als tschechischer Bischof Zeitgenossen. zu sagen. Aber das hat nichts damit zu tun, jemanden zum Heiligen zu erheben. Klaus Unterburger: Ja, das stimmt.

Bischof Rudolf Voderholzer: Der Bi- Bischof Tomáš Holub: Ich wollte nur schof von Pilsen hat schon wunderbar eine ironische Bemerkung machen: Ich dogmatisch geantwortet. Ich würde pas- kenne auch einige Heilige, bei denen toraltheologisch antworten. Heiligspre- man nicht unbedingt der Nachbar sein chung ist keine Sache der Bischöfe, son- möchte. dern des gläubigen Volkes. Die kirchli- che Autorität bestätigt immer nur die Bischof Rudolf Voderholzer: Das ist Klaus Unterburger: „Das Bild von Jan Hus ist seit dem 19. Verehrung, die im Volke da ist. Eine sol- oft verwandt, das ist schon richtig. Jahrhundert erinnerungsgeschichtlich immer mehr überfrachtet che sehe ich momentan nicht. Insofern worden: Vorläufer der Demokratie, des Fortschritts, des ist die Frage sehr abstrakt. Florian Schuller: Schließen wir mit Kommunismus und so weiter.“ dieser tröstlichen Erkenntnis, dass sich Klaus Unterburger: Das Bild von Starrsinn sogar mit Heiligkeit verbinden Jan Hus ist seit dem 19. Jahrhundert er- lässt. Vielen Dank, Bischof Rudolf, Bi- innerungsgeschichtlich immer mehr schof Tomáš, Professor Unterburger, für Bischof Tomáš Holub: Das hört meiner Motivation für das Engagement überfrachtet worden: Vorläufer der De- einen hochinteressanten Ausflug in die man, ja? in dieser Richtung ist die feste Überzeu- mokratie, des Fortschritts, des Kommu- Vergangenheit, die Berichte über die gung, dass das Christentum vor allem nismus und so weiter. Dabei ist in der Gegenwart und den Ausblick in die Zu- Bischof Rudolf Voderholzer: Er hat auch in seiner katholischen Ausprägung Forschung das eigentlich Theologische kunft. „ einen Salzburger Dialekt. die beste Antinationalismus-Prophylaxe ist, die es gibt. Es war auch innerkirch- Bischof Tomáš Holub: Dann habe lich nicht immer leicht. Blut ist zäher ich einen Teil meiner Doktorarbeit in als Wasser, aber das Wasser der Taufe Hamburg geschrieben, am Institut für muss sich immer durchsetzen gegen die Theologie und Frieden, und darin den Zähigkeit des Blutes. Das heißt für Kampf gegen den Terrorismus aus ethi- mich, katholisch sein: alle Grenzen des scher Sicht behandelt. bloß Nationalen zu überwinden, ohne deswegen in einem konturlosen Kosmo- Florian Schuller: Professor Unter- politismus aufzugehen. Zum Menschen burger, wir haben vorhin über die Mög- gehört eine besondere kulturelle Prä- lichkeiten kultureller Begegnungen ge- gung, an einem Ort zu Hause zu sein, sprochen und stark auf Kult, Gottes- und gleichzeitig zu wissen, dass man dienst abgehoben. Wenn Sie in die Ge- nirgendwo anders ein Fremder ist. Das schichte blicken, finden Sie da Anre- kann man in der katholischen Kirche gungen, wie wir dies heute diesseits und wunderbar lernen. Insofern sehe ich un- jenseits der Grenze neu initiieren oder sere Partnerschaft paradigmatisch. Es fundieren könnten? gibt wahrscheinlich wenige Nachbar- schaften, die eine so schwierige, auch Klaus Unterburger: Der Herr Bischof mit so vielen Verletzungen verbundene hat völlig zu Recht gesagt, dass unsere Geschichte haben. Aber es gibt gleich- kulturellen Traditionen die Menschen zeitig kaum eine Partnerschaft, die so interessieren. Die sind schon eine Chan- viel Verbindendes hat. Wenn wir das ce, Glaube zu erschließen, oder über- Verbindende stark machen, können wir haupt kulturellen Austausch zu eröff- auch die Verwundungen heilen und nen. Was selbstverständlich ist, nimmt werden unserem Auftrag gerecht. Das man nicht wahr; solange man gesund ist meine tiefste Überzeugung. Überall ist, nimmt man es nicht wahr, bis man dort, wo sich das zähe Blut durchgesetzt krank wird. So ist es auch mit dem hat gegen das Wasser der Taufe, ist es in Christentum. Das Christentum hat viel den Graben gegangen, und das müssen beim Stammesdenken, beim Denken an wir in Zukunft verhindern. Grenzen überwunden. Das ist nicht selbstverständlich, sondern an einem Florian Schuller: Lassen sie uns zum bestimmten Ort weltgeschichtlich ent- Schluss ein paar Jahrhunderte zurück- standen, vielleicht mit Ausnahmen und schauen. Es wurde auch Jan Hus er- Ansätzen anderswo, aber ganz stark im wähnt, was nicht anders geht, wenn christlichen Europa. Wenn das weg- man in die Geschichte Böhmens blickt. bricht, wird man erst merken, was fehlt. Es gibt Kunsthistoriker, die die These Denn schon dem Christentum an sich vertreten, dass die bekannte Physiogno- wohnt eine kulturell verbindende Po- mie des heiligen Johannes Nepomuk be- tenz und Dynamik inne. Das kann man wusst jener des Jan Hus, soweit diese in der Geschichte sehen und muss man rekonstruierbar sei, angeglichen wurde. Bischof Rudolf Voderholzer: „Wenn ich beobachte, dass wie bei pflegen. Und in den Neunziger Jahre hat Papst einem Reißverschluss die Wallfahrten von diesseits der Grenze Johannes Paul II. die tschechischen Bi- und jenseits ineinanderfließen, dann ist das für mich Kultur.“ Bischof Rudolf Voderholzer: Da will schöfe ermuntert, erneut über Jan Hus ich gleich anknüpfen. Ein Hauptmoment nachzudenken. Gibt es vielleicht sogar

36 zur debatte 6/2017 Reinhard Kardinal Marx und Professor Andreas Voßkuhle Ein Akademiegespräch zu „Kirche und Staat“ 14. Juli 2017, Schloss Herrenchiemsee/Insel Frauenwörth

Florian Schuller: Zu Beginn zwei per- sönliche Fragen. Herr Kardinal, bei Ihrer Vita spielen Politik und Katholische So- ziallehre immer eine große Rolle. Ihre Doktorarbeit behandelte sogar die Mög- lichkeiten und Grenzen einer soziologi- schen Betrachtungsweise der Kirche. Und in Interviews mit Ihnen habe ich manchmal gelesen: Wenn nicht Priester, wären Sie gerne Politiker geworden. Was hätte Sie als Politiker gereizt?

Kardinal Reinhard Marx: Na, ich habe mich ja bewusst anders entschie- den.

Florian Schuller: Aber es muss ja ein gewisser Reiz dagewesen sein?

Kardinal Reinhard Marx: Ja, aber nicht so stark, dass ich es wirklich hätte tun wollen. Ich bin in einem diskussions- freudigen Elternhaus groß geworden. Mein Vater war Gewerkschafter und Betriebsrat, immer progressiv einge- stellt. Im Umfeld meiner Verwandt- schaft aus Landwirten bezog er eine an- dere Perspektive. Wir haben gestritten, wir haben diskutiert über die Nachrich- ten, über die Politik. Insofern ist mir das in die Wiege gelegt. Und später wurde ich vom Erzbischof von Paderborn ge- Fotos (12): Robert Kiderle fragt: Würden Sie sich im Feld der Ka- Diskutierten auf dem Podium im his- Marx, Akademiedirektor Dr. Florian tholischen Soziallehre spezialisieren? torischen Bibliothekssaal des ehemali- Schuller und Verfassungsgerichtspräsi- Da habe ich sehr schnell Ja gesagt. Als gen Augustiner-Chorherrenstifts auf dent Prof. Dr. Andreas Voßkuhle Student hatte ich allerdings stärker den Herrenchiemsee: Kardinal Reinhard (v.l.n.r.). Traum, Augustinus zu erforschen oder die Kirchenväter insgesamt. Aber als dann diese Anfrage kam, habe ich mich an meinen Vater erinnert und gedacht, das ist eigentlich doch der richtige Weg für mich. tiven Ausgleichsordnung für die Folgen chen, denn wir sind es mittlerweile ge- heit ist ganz eng verbunden mit der privater Freiheitsbetätigung“. Zweimal wohnt, in einer freien Gesellschaft zu Gottebenbildlichkeit. Wir sind ja nicht Florian Schuller: Herr Präsident, also das Thema Freiheit. Und auch Sie, leben. Die Bundesrepublik hat insofern Bild Gottes, weil wir zwei Füße haben wenn man Jura studiert, hat man nach- Herr Kardinal, nehmen mit Ihrem bi- eine wunderbare Entwicklung genom- oder zwei Ohren oder zwei Augen, son- her ganz verschiedene berufliche Mög- schöflichen Wahlspruch aus dem Zwei- men. Das war nicht unbedingt so abseh- dern weil wir frei und verantwortlich lichkeiten. Gab es bei Ihnen auch einen ten Korintherbrief die Freiheit in den bar, als man hier auf Herrenchiemsee sind, teilhaben an der schöpferischen zweiten Schwerpunkt oder eine Motiva- Blick: „Ubi spiritus domini, ibi libertas – 1948 beim Verfassungskonvent über die Freiheit Gottes, die bei uns natürlich tion jenseits des Jurastudiums? Wo der Geist des Herrn herrscht, da ist künftige Ordnung nachdachte. Aber ei- eine menschliche, geschöpfliche ist. Freiheit“. Sie haben einmal gesagt: Mit nes war damals bereits klar: Den Mittel- Aber ohne Freiheit gibt es keine wirkli- Andreas Voßkuhle: Wenn man jung diesem Wort wollte ich deutlich ma- punkt dieser Ordnung muss der einzel- che Würde des Menschen. Paul Kirch- ist, hat man viele Dinge im Blick. Ich chen, dass Freiheit das wesentliche The- ne Mensch bilden. Deshalb wird die hof, einer der früheren Verfassungsrich- bin allerdings durch meinen Vater, der ma unseres Glaubens ist. In der moder- Menschenwürde schon am Beginn des ter, hat einmal sinngemäß gesagt: Das Verwaltungsjurist war, von Anfang an nen Welt wurde dem Glauben ja unter- Grundgesetzes aufgerufen: Die Würde Grundgesetz ist wie ein Baum, die Wur- mit Rechtsfragen konfrontiert worden. stellt, dass er mit einem Freiheitsverlust des Menschen ist unantastbar. Damit zeln dieses Baumes sind stark geprägt Er war als junger Ministerialrat zustän- einhergeht. Aber das Gegenteil ist der verbunden ist, dass ich den Anderen im- vom christlichen Menschenbild, von der dig für die Neugliederung von Nord- Fall. Was verstehen Sie beide unter mer als Freien und Gleichen betrachte Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die rhein-Westfalen. Ich fand das spannend. Freiheit? Was treibt Sie an, das Thema und alle Regeln des Grundgesetzes in Freiheit ist die Möglichkeit, sich zu ent- Eine Alternative für mich wäre Archi- Freiheit voranzubringen? diesem Geist auslege. Dafür müssen wir scheiden, sich zu binden, sich zu enga- tekt gewesen. Architektur interessiert immer wieder eintreten. Wir sehen jetzt gieren, Verantwortung zu übernehmen. mich noch heute sehr. Damals waren Andreas Voßkuhle: Freiheit ist die gerade in anderen Mitgliedsstaaten der Das ist der wesentliche Ausdruck des die Architekten allerdings bettelarm. Ich Grundlage unserer Gesellschaft. Wir Europäischen Union, die uns sehr ver- christlichen Menschenbildes. Deswegen dagegen wollte in der Lage sein, mit verstehen die Ordnung des Grundgeset- bunden sind, etwa in Polen oder Un- war mir wichtig, dass man die Freiheit dem, was ich verdiene, mein Leben zu zes als Freiheitsordnung. Dabei muss garn, wie die Freiheit langsam abgebaut nicht als etwas sieht, das von der Kirche fristen. Insofern habe ich den – jeden- die Freiheit des Einzelnen immer mit wird: nicht nur im Fall der Presse, auch bekämpft wird. falls aus damaliger Perspektive – nahr- der Freiheit des anderen kompatibel bei der Justiz. Wenn Sie heute durch Der Wurzelgrund unserer Verfassung hafteren Beruf gewählt. sein. Deshalb hört auch die Aufgabe nie Warschau gehen, ist die Situation eine ist also stark geprägt vom christlichen auf, diese Freiheitsordnung mit Leben andere als noch vor fünf Jahren. Inso- Menschenbild. Wir sehen natürlich den Florian Schuller: Ihre Doktorarbeit zu erfüllen. Es wird immer wieder Pha- fern sind wir immer wieder aufgefor- Baum, Artikel 1 Grundgesetz, und was „Rechtsschutz gegen den Richter – Zur sen geben, in denen sie in Frage gestellt dert, für die Freiheit zu kämpfen. daraus folgt. Aber die Frage bleibt: Integration der Dritten Gewalt in das wird. Ich empfinde es heute gerade in Kann der Baum auch ohne die Wurzeln verfassungsrechtliche Kontrollsystem meiner Funktion als Präsident des Bun- Kardinal Reinhard Marx: Die Frei- sein? Oder wo sind die Wurzeln weiter- vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 desverfassungsgerichts als die schönste heit hängt zusammen mit der Würde hin kräftig? Gibt es andere Wurzeln, GG“ behandelt die Freiheit des Einzel- Aufgabe, alles dafür zu geben, diese des Menschen. Da kann ich gut an andere Quellen, die den Baum tragen nen, genauso wie Ihre Augsburger Ha- Freiheitsordnung zu verteidigen. Des- Herrn Voßkuhle anschließen. Für uns können? Das ist eine der wichtigsten bilitationsschrift über „Das Kompensati- halb ist es auch wichtig, dass wir hier Christen ist sie auch Ausdruck des Voraussetzungen, wenn wir darüber onsprinzip – Grundlagen einer prospek- zusammenkommen und darüber spre- christlichen Menschenbildes. Die Frei- nachdenken, wie eine moderne, freie,

zur debatte 6/2017 37 Andreas Voßkuhle: Vielen Dank da- für, dass Sie mir die Möglichkeit geben, auf das Konzept einer Verfassung der Mitte einzugehen. Dahinter stehen die DNA des Grundgesetzes und ein Teil unserer kulturellen Herkunft. Dazu zählt auch in erster Linie das Christen- tum. Es ist aber nicht statisch aufgefan- gen und nicht im Konzept einer Staats- kirche aufgegangen, nicht als Konzept einer dominanten Unterstützung, son- dern einer wohlwollenden Neutralität. Wenn Sie versuchen, dieses Konzept ei- ner Richterkollegin, einem Richterkolle- gen aus dem Ausland klar zu machen, wird das relativ schwierig. Entweder man ist neutral oder man ist nicht neut- ral. Was heißt „wohlwollend neutral“? Wohlwollend neutral heißt, dass wir uns aufgrund unserer christlichen Wur- zeln als Staat mit der Kirche nicht iden- tifizieren. Wir dürfen nicht sagen: Das ist die Religion, die wir privilegieren. Aber wir ermöglichen Religion, wir ver- suchen, Räume zu schaffen, in denen Religion lebendig sein kann, in denen unsere Wurzeln leben können. Dieses Konzept ist zwar relativ schwierig und anspruchsvoll, aber es umfasst besonders gut die historische Bedingtheit des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Wir hatten zum Ende des Ersten Weltkriegs eine Situation, bei der nicht klar war, welche Rolle die Kir- chen spielen, und wie es insbesondere mit den evangelischen Landeskirchen weitergehen würde. Man hat dann in Pontifikalgottesdienst in der Kloster- Akademiedirektor Florian Schuller und der Weimarer Reichsverfassung einen kirche Frauenwörth mit Kardinal Marx Abtpräses Jeremias Schröder OSB von Kompromiss entwickelt. Dieser stellte (2.v.l.). Es konzelebrierten (v.l.) Insel- Sankt Ottilien. sich folgendermaßen dar: Es gibt keine pfarrer Msgr. Konrad Kronast, Staatskirche, aber es gibt die Möglich- keit, sich in der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu betätigen, es gibt eine Binnenpluralität, ein Selbstbe- stimmungsrecht. So hat man ein recht offene, globale Gesellschaft zukunftsfä- Florian Schuller: Kommen wir zu den Aber es bleibt die Frage: Die Wurzeln komplexes Gefüge entwickelt. hig wird. Und da sollte sich die Kirche Wurzeln. Herr Präsident, bei einem Vor- dieser Grundhaltung, kommen diese Die Leistung, die dahinter steckt, mit engagieren. Es geht darum, dass die trag in der Siemensstiftung haben Sie das beim Begriff der „offenen Neutralität“ wurde erst klar, als man in Herren- Freiheit ein Projekt von Dauer ist, nicht Grundgesetz als „Verfassung der Mitte“ auch zum Tragen, oder bedeutet „offene chiemsee wieder über die Verfassung nur eine Episode in der Menschheitsge- definiert und dabei das Verhältnis Kir- Neutralität“ nur die Ermöglichung eines nachgedacht hat. Es gab durchaus lai- schichte, die dann wieder vorbei ist, che-Staat als „offene Neutralität“, als weltanschaulichen Disputs verschiede- zistische Bestrebungen, aber auch sol- wenn sich andere, autoritäre Strukturen Fluchtpunkt einer dynamischen Mitte, ner Gesprächspartner? che hin zu einer stärkeren Dominanz oder Staatsgebilde durchsetzen. Wir die keine statische ist, und als positive müssen zeigen, auch aus christlicher Grundhaltung gegenüber der religiösen Perspektive, dass eine freie, offene Ge- Pluralität. Dem kann ich in vielen Punk- sellschaft, in der sich jeder in Freiheit ten natürlich zustimmen: Garantie der für das Gute entscheiden kann, der Weg Binnenpluralität der weltanschaulichen ist, der von der Kirche mitbefeuert wer- religiösen Diskussion, Sicherung des Ge- den muss. Aber es ist mühsamer gewor- sprächsrahmens, Ermöglichung kriti- den, das zu begründen und durchzuset- scher Auseinandersetzung, radikale Be- zen. strebungen in die Schranken weisen.

Kardinal Reinhard Marx: „Als Student hatte ich allerdings stärker den Traum, Augustinus zu erforschen oder die Kirchen- väter insgesamt.“ Nicola Heckner aus Breisach trug den Text der Lesung vor.

38 zur debatte 6/2017 der Kirchen. Schlussendlich kam es zu geprägt durch den Islam, und dann ha- Artikel 140 Grundgesetz. Man sagte: ben der Kemalismus und Atatürk dafür Wir übernehmen den Kompromiss aus gesorgt, dass ein extrem laizistisches der Weimarer Reichsverfassung und System etabliert wurde. Was ist das Re- werden ihn in der Bundesrepublik mit sultat? Eine Radikalisierung des Glau- neuem Leben erfüllen. Das haben wir bens und eine Auflösung dieses laizisti- geschafft und jetzt müssen wir dafür schen Systems von innen. sorgen, dass diese kulturelle Besonder- Unsere Lösung ermöglicht es eher, heit auch vor dem institutionellen Hin- Staat und Kirche, Freiheit und Plura- tergrund einer Europäischen Union lität, als gemeinsames Konzept zu ent- nicht verloren geht. Aber was das be- wickeln. Und das ist eindeutig ein Er- deutet, kann man nur nachvollziehen, folgsmodell. Leider wird es häufig ledig- wenn man in Deutschland sozialisiert lich als deutscher Sonderweg beschrie- wurde und weiß, wie viele Kämpfe zwi- ben, der sehr viel mit den Erfahrungen schen den beiden Kirchen und zwi- aus dem Dreißigjährigen Krieg zu tun schen Kirchen und Staat ausgetragen habe. wurden. Anderes Beispiel: Frankreich hat sich Das ist in Bayern nicht so dominant verfassungsrechtlich für den Laizismus gewesen, wie etwa in Ost-Westfalen, wo entschieden. Auch dort lassen sich Reli- ich herkomme. Mein Vater hat mir ein- gionskonflikte aber nicht vermeiden, mal erzählt, dass er sich als junger etwa wenn die überwiegend katholisch Mann im Regierungspräsidium Detmold sozialisierten Bürgerinnen und Bürger vorstellen musste, und der Regierungs- auf der Straße gegen bestimmte „laizis- präsident sagte: „Herr Voßkuhle, sagen tische“ Gesetzgebungsvorhaben de- Sie mal, das darf ich jetzt eigentlich monstrieren. Umgekehrt ist in England nicht fragen, spielt auch eigentlich keine die Lage der anglikanischen Staatskir- große Rolle, aber sind Sie eigentlich ka- che ebenfalls nicht sehr erfreulich, weil tholisch oder evangelisch?“ Und mein sie sich in ihrer staatlichen Umfasstheit Vater sagte, er sei evangelisch. Dann der offensichtlich nicht gut entwickeln Regierungspräsident: „Ach, das ist gut, konnte. Deshalb plädiere ich dafür, dass sonst hätten wir Sie nicht genommen.“ wir unser Modell der wohlwollenden Das war die Situation früher, und nur Neutralität ein bisschen offensiver Andreas Voßkuhle: „Eine Alternative für mich wäre Architekt im Verhältnis einer wohlwollenden durchaus auch im europäischen Raum gewesen. Architektur interessiert mich noch heute sehr.“ Neutralität hat sich die Lage so ent- vertreten. spannt, dass wir heute gut miteinander umgehen können. Kardinal Reinhard Marx: Ich würde noch darüber hinausgehen. Wenn wir Florian Schuller: Herr Kardinal, uns vor Augen führen, dass 80 bis 90 machen, dass wir einerseits einen ge- Kardinal Reinhard Marx: Vielleicht reicht offene Neutralität? Prozent der Menschen auf der Welt re- meinsamen Standard haben, den man müssen wir als Kirche auch versuchen, ligiös geprägt sind, dann ist es eigentlich auch nicht unterschreiten darf, dass es deutlich zu machen, dass das Verhältnis Kardinal Reinhard Marx: Was wir nicht mehr vorstellbar, dass ein Modell andererseits aber kulturelle Besonder- bei uns keine Privilegierung der Kirche speziell in Deutschland erlebt haben für die Mehrzahl der Menschen wirk- heiten gibt, die man berücksichtigen bedeutet, was nicht immer leicht fällt. und weiter erleben, ist für die Kirche lich akzeptabel sein soll, das Religion muss. Und dazu gehört in Deutschland Wir müssten deutlicher nachvollziehbar eine große Chance und Möglichkeit, zur Privatsache erklärt oder jedenfalls ganz bestimmt das spezifische Konzept erklären, warum dieses Verhältnis für diese offene Gesellschaft positiv zu ge- nicht in der Öffentlichkeit sichtbar wer- der wohlwollenden Neutralität zwi- alle und nicht nur für die Kirche besser stalten. Das hat mit dazu geführt, dass den und keine gesellschaftliche Kraft schen Staat und Kirche, genauso wie ist. Manchmal erscheinen die Diskussi- wir als Kirchen mit der freien und plu- entfalten lassen will. Das können Sie unsere Sensibilität etwa beim Daten- onen auch in den aktuellen Debatten ralen Gesellschaft besser umgehen kön- vergessen, das wird nicht möglich sein. schutz. Auch in Fragen der Menschen- nur so, als ob sich die Kirche durchset- nen als vielleicht in anderen Ländern, Deshalb müssten wir häufiger und deut- würde sind wir aufgrund unserer Ge- zen wolle. Sie haben gerade ein paar wo ein stark laizistischer Staat die Kir- licher sagen, dass die Demokratie der schichte etwas sensibler. Es gibt andere Punkte wie Menschenwürde genannt, che mehr oder weniger in den privaten Zukunft weder eine radikal laizistische Mitgliedsstaaten der EU, die haben bei- die nicht unbedingt kirchliche Themen Raum drängen will. Aber ein Spezifi- sein wird, noch eine Staatskirche, son- spielsweise mit Methoden wie Water- sind, sondern bei denen es um das Men- kum des Verhältnisses von Staat und dern eine, in der die verschiedenen ge- boarding kein Problem. Wir haben da- schenbild geht, um Grundlagen, die uns Kirche ist nicht nur in Deutschland zu sellschaftlichen und religiösen Kräfte mit ein Problem, und zwar zu Recht. alle angehen. fassen, es hat typologisch mit dem wertgeschätzt werden. Und wo zudem Das müssen wir in einem europäischen Christentum zu tun. Manche Theoreti- eine kulturelle Prägung hineingetragen Miteinander deutlich machen können, Florian Schuller: Herr Kardinal, Sie ker haben gesagt, auch die Spannung wird in das Gemeinwesen. Das ist die und dazu müssen die Gerichte ihren haben eben vom Lernprozess auf Europa- zwischen Kirche und Staat, vom Mittel- Zukunftsidee. Beitrag leisten. Ebene gesprochen, wie schaut es mit alter angefangen, sei ein Teil der Frei- heitsgeschichte, die auch darin besteht, Florian Schuller: Herr Präsident, wie dass es eine Institution gibt, die den sehen Sie die Entwicklung beim Euro- Staat begrenzen will. päischen Gerichtshof für Menschen- Es ist zwar noch nicht individuelle rechte? Geht die in jene Richtung, die Freiheit in unserem Sinn, aber deren Sie und der Herr Kardinal eben ange- Anfang, wenn dem Staat gesagt wird: sprochen haben? Du hast Grenzen, jenseits derer du nichts zu sagen hast. Andreas Voßkuhle: Schwierige Fra- Wir haben natürlich als Kirche sehr ge! Sagen wir mal so, es fällt im Augen- viel Nachholbedarf im Blick darauf, was blick auf, dass beide Gerichtshöfe, also Demokratie bedeutet. Aber es bleibt ein der Straßburger Gerichtshof für Men- ganz wichtiger Punkt: Eine offene Ge- schenrechte ebenso wie der Europäi- sellschaft muss nicht wertindifferent sche Gerichtshof stärker laizistisch sein, sie ist zwar neutral gegenüber den denken und Schwierigkeiten haben, die Religionen, aber wohlwollend religions- besondere kulturelle Prägung des Ver- freundlich, und der Staat ist nicht iden- hältnisses von Staat und Kirche bei ih- tisch mit der Gesellschaft. Wohlwollen- rer Rechtsprechung zu etablieren. Ich de Haltung des Staates bedeutet dann: habe aber die Hoffnung, aufgrund der Ihr, die Kirchen, die Religionen seid ein Entwicklung der letzten zwei, drei Jah- wichtiger Partner für uns; wir schreiben re, bei der das Bundesverfassungsge- niemandem vor, was er glauben soll, richt durchaus beteiligt war, und vieler aber es gehört mit dazu und ist gut für Gespräche, die wir führen, dass die alle, dass Religion lebendig, kräftig im Sensibilität für kulturelle Besonderhei- Gemeinwesen präsent ist. Eine solche ten gewachsen ist. Europa ist ja nicht Haltung, das sage ich auch in Europa deshalb stark als Einheit, weil es alles meinen bischöflichen Kollegen, macht gleich macht, sondern weil es vielfältig es der Kirche leichter, die offene Gesell- ist, weil wir unendlich viel an unter- schaft, die manche nicht so einfach zu schiedlicher kultureller Prägung besit- akzeptieren scheinen, zu akzeptieren zen. In den letzten Jahrzehnten stand und zu sagen: Ja, in einer solchen Ge- der Aspekt der Einheitsbildung viel- sellschaft wollen wir leben. leicht zu stark im Vordergrund und nicht so sehr die Wertschätzung der Das Verfassungszimmer im ehemaligen Andreas Voßkuhle: Vielleicht darf Vielfalt. Das hat sich auf die Gerichte Augustinerchorherrnstift. ich noch einen Aspekt hinzufügen. übertragen. Schauen Sie auf die Entwicklung in der Im Verhältnis der Gerichte unterein- Türkei. Sie war ursprünglich sehr stark ander geht es daher darum, deutlich zu

zur debatte 6/2017 39 tauscht. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob der Satz richtig ist, weil er nämlich genau das nicht aufnimmt, was wir eben besprochen haben. Der Staat kann die Dinge vielleicht nicht garantieren, aber er kann sie ermöglichen, er kann einen Rahmen schaffen, in dem sie sich entfal- ten können, und er kann aufnehmen, was seine Wurzeln sind. Im Grundge- setz haben wir eine Präambel, die Gott nennt – keine Invocatio, sondern eine Nominatio, mit der wir die Wurzeln einbeziehen und sie zu einem Teil unse- res verfassungsrechtlichen Versprechens machen. Diese Präambel ist Menschen- werk – das Volk hat sich eine Verfas- sung gegeben. Deshalb reicht ein bloßer Verweis auf einen vorstaatlichen Be- reich nicht aus. Der sich ausbildende moderne Staat, zunächst im aufgeklär- ten Absolutismus, war eben auch in der Lage, wenn er gut organisiert war, die unterschiedlichen Wurzeln aufzuneh- men und zu integrieren. Deshalb möch- te ich mir auch keinen Staat vorstellen, der sich um die kulturellen Vorausset- zungen nicht kümmert und nicht ver- sucht, sie zu ermöglichen. Das ist je- doch ein bisschen der Subtext, der in der berühmten Formulierung mit- schwingt und mir nicht so gefällt.

Florian Schuller: Ihre Position, Herr Kardinal?

Kardinal Reinhard Marx: Da kann ich durchaus mitgehen, weil es eine po- sitive Kritik ist. Aber ein bisschen mehr können wir schon vom Staat erwarten. Josef Austermayer (2.v.l.), Vorstand der deutschen Katholiken, Florian Schuller, Zum Beispiel, eben diesen Möglich- Schlösser- und Gartenverwaltung Andreas Voßkuhle und Kardinal Marx keitsraum zu eröffnen. Er kann ihn Herrenchiemsee, führte Alois Glück, durch das Museum mit dem Verfas- nicht produzieren, auch die Kirche früher Landtagspräsident und dann sungszimmer. kann nicht einfach Werte produzieren. Präsident des Zentralkomitees der Kultur entsteht in jedem persönlichen Leben, in der Familie, in der Erziehung, in den unzähligen Einzelhandlungen des Menschen. Werte sind jedenfalls nicht einfach irgendwo abgelagert und dem Lernprozess Ihrer europäischen bi- halb sind Bischöfe eben manchmal anti- dern und dafür, dass nicht alle so den- plötzlich da. Sie können nur existieren, schöflichen Mitbrüder aus? laizistisch geprägt, erst recht, wenn sie ken wie wir. Es gibt unterschiedliche wenn Menschen sie überzeugend leben. den Kommunismus erlebt haben oder Prägungen, aber natürlich auch Stan- Der Soziologe Hans Joas hat darauf Kardinal Reinhard Marx: Die Bi- aus kleineren Ländern stammen, die dards: das Kirchenrecht, die Theologie, hingewiesen: Werte und Überzeugun- schöfe sind wie die Gerichte eingebun- sehr stark um ihre Identität ringen. Ich das Neue Testament. Wir können die gen entstehen, wenn zwei Punkte zu- den in ihre Gesellschaften, genauso wie versuche immer, Verständnis zu wecken Kirche schließlich nicht selber erfinden sammenkommen. Der eine ist eine star- es Herr Voßkuhle von den europäi- für die Unterschiedlichkeit auch der und auch die Menschenwürde nicht. ke Erfahrung, dass ich wirklich ein Ge- schen Gerichten erläutert hat. Und des- kirchlichen Wahrnehmung in den Län- Es ist aber nicht ganz einfach, in ei- fühl für etwas Großes habe, und der an- ner offenen, freien Gesellschaft zu le- dere ist der Interpretationsrahmen. Da ben. Auch wir haben es mühsam ge- können die Kirchen natürlich eine lernt, Schritt für Schritt, wenn Sie nur Menge tun. Wir haben die biblischen an die Debatten der 50er Jahre zwi- Geschichten, den christlichen Glauben, schen Kirche und Staat beziehungswei- und im Rahmen dieser Erzählgeschichte se der Öffentlichkeit denken. Deshalb vollzieht sich unser Leben, und wir er- sollten wir auch mit anderen Ländern kennen: Das ist gut und das böse, das Geduld haben. Da kann es auch Rück- ist richtig und das ist falsch, das ist der schläge geben. Aber wir müssen uns ge- Sinn meines Lebens und das nicht. Ge- genseitig helfen, denn eine Alternative nau dieser Prozess ist mit dem Satz von zu einer wirklich wertegebundenen, Böckenförde gemeint, dass ihn der aber offenen, freien Gesellschaft ist Staat nicht machen kann. Aber er kann nicht erkennbar. Und wir als Kirche zum Beispiel fördern, dass Familie da haben die Verpflichtung, aus theologi- ist. Deswegen gibt es den Artikel schen wie sozialethischen Gründen, für „Schutz von Ehe und Familie“. Er kann die Freiheit einzustehen und nicht Un- freie Assoziationen fördern, Vereine, freiheit zu befördern. Subsidiarität – alles notwendige Voraus- setzungen für ein lebendiges Gemein- Florian Schuller: In dieser Runde wesen. muss selbstverständlich das berühmte Böckenförde-Zitat aus dem Jahr 1964 Florian Schuller: Auf der gleichen eingebracht werden: „Der freiheitliche, Seite, auf der das berühmte Zitat steht, säkularisierte Staat lebt von Vorausset- werden die Aufgaben von Erziehung zungen, die er selbst nicht garantieren und Bildung betont, die der Staat zu kann.“ Nochmals zurückgefragt, Herr fördern habe. Herr Präsident, was ver- Präsident: Diese Voraussetzungen des birgt sich für Sie hinter dem Satz „Der freiheitlichen, säkularisierten Staates, Staat ermöglicht“? Ermöglicht er nur beziehungsweise des, im Sinne von Jür- die Reflexion auf die eigenen Wurzeln? gen Habermas, postsäkularen Staates – Das wäre in einem freiheitlichen Staat welche sind das? selbstverständlich. Aber reicht es aus, ist es nicht zu wenig? Andreas Voßkuhle: Ich bin mit die- sem Diktum groß geworden. Herr Bö- Andreas Voßkuhle: Naja, so selbst- ckenförde hat lange in meiner Biblio- verständlich ist das nicht. Wir sind da Andreas Voßkuhle: „Freiheit ist die Grundlage unserer Gesell- thek im Institut für Staatswissenschaft in einem schwierigen Bereich und müs- schaft. Wir verstehen die Ordnung des Grundgesetzes als und Rechtsphilosophie in Freiburg ge- sen versuchen, den Raum zwischen Freiheitsordnung.“ sessen und seine letzte Rechtsphiloso- dem Identifikationsverbot des Staates phie als emeritierter Professor dort ge- mit der Kirche und der Ermöglichung schrieben. Wir haben uns viel ausge- seiner Zugewandtheit zu beschreiben.

40 zur debatte 6/2017 Ermöglichung bedeutet zum Beispiel paar Dinge, über die könnte man noch der Körperschaftsstatus. Der ist eine sprechen, das kirchliche Arbeitsrecht erst mal sehr juristische Form: Da gibt und vielleicht Fragen der Symbolik. es eine juristische Person, die bestimmte Aber die großen Schlachten sind hier Vorteile hat, steuerrechtlich, haftungs- geschlagen. Interessant ist, ob wir es rechtlich, von der Art und Weise, wie schaffen, andere religiöse Gruppen in sie integriert werden kann, wie man mit dieses Konzept mit zu integrieren und ihr arbeiten kann. Dadurch sind die bei- zwar positiv. Freiheit, das hat mir eben den großen christlichen Kirchen, aber bei Kardinal Marx sehr gut gefallen, ist auch andere Religionskörperschaften, auch immer Verantwortung. Wenn wir ansprechbar und handlungsfähig im Ge- islamische Glaubensgemeinschaften in- meinwesen. Wir sehen an den Schwie- tegrieren wollen, dann wollen wir auch, rigkeiten, islamische Gruppen zu integ- dass sie Verantwortung für unser Ge- rieren, was dieser Körperschaftsstatus meinwesen übernehmen. Dafür müssen an Ermöglichung bedeutet. Hinter dem, wir eine Form finden, aber wir müssen was auf den ersten Blick sehr technisch auch dafür sorgen, dass unsere eigene wirkt, verbirgt sich also sehr viel: eine Identität sichtbar bleibt, und wir nicht lebendige Kirche. in einem großen „Kuddelmuddel“ oder Mit dem Körperschaftsstatus ist zum „Anything Goes“ enden, sondern dass Beispiel auch das sogenannte Privile- auch Differenzen deutlich werden. gienbündel gekoppelt, wodurch die Kir- chen in der Lage sind, Kirchensteuer Florian Schuller: Differenzen zwi- einzuziehen. Dass sie wiederum mit ei- schen? nem Vertrag regeln können, dass die Fi- nanzämter des Staates für die Kirchen Andreas Voßkuhle: Zwischen den diesen Dienst verrichten, hängt eben- Glaubensgemeinschaften. Diese Diffe- falls mit dem Körperschaftsstatus zu- renzen dürfen nicht überspielt werden, Frage an Kardinal Reinhard Marx: „Was sammen. Also eine sehr juristische Kon- und der Staat hat die Aufgabe, mit den hätte Sie als Politiker gereizt?“ struktion, die zunächst niemanden Mitteln des Rechts als wohlwollender „vom Stuhl reißt“, aber für den Alltag Schiedsrichter diese Auseinanderset- der Kirchen von zentraler Bedeutung zung zu begleiten und im Sinne der ist. Das sind die Möglichkeitsräume, die wohlwollenden Neutralität Möglichkei- der Staat schaffen kann. Es gibt viele ten und Formen zu schaffen, in denen heißt, unsere Vorstellung von Religion halten wir ein besonderes Verhältnis. andere Bereiche, gerade im Bereich der eine solche Verantwortungsübernahme, ist geprägt von der christlichen Kirche, Das bedeutet keine Diskriminierung an- Diakonie, der Caritas, bei denen der eine solche Integration möglich sind. mit der man Verträge macht, die eine derer Religionen, denn wenn diese dem Staat eine lebendige Kirche ermöglicht, Körperschaft des Öffentlichen Rechts Staat zeigen, dass auch sie einen ähnli- indem er kooperiert, unterstützt, Sub- Kardinal Reinhard Marx: Hier ist, die eine reflektierte Theologie hat, chen Beitrag leisten und die Kriterien ventionen gibt und sagt: Wenn ihr Auf- kommt natürlich ein Problem auf, seit- die auf wissenschaftlichem Niveau an erfüllen, kann in Zukunft eine ähnliche gaben übernehmt, die teilweise unsere dem wir eben nicht nur Christen in un- Universitäten gelehrt wird. Ich will die Rechtsform gelten. Im Augenblick kann Aufgaben sind, dann beteiligen wir uns serem Land haben: Kann der Staat, wie anderen Situationen auch gar nicht be- ich das nicht erkennen. Die jetzige Situ- daran; aber wir erkennen auch an, dass im alten Römischen Reich der Antike, werten, das steht mir nicht zu als Kardi- ation stellt deshalb den Staat und die ihr etwa in einer Schule, die glaubens- zwischen religio licita und illicita, er- nal und Bischof. Ich stelle nur eine Gerichte vor die Frage, wie mit diesen gebunden ist, natürlich euren Glauben laubter und nicht erlaubter Religion, Schwierigkeit fest, wenn der Staat eine Religionen umzugehen ist. Das wird leben wollt. Der Staat identifiziert sich unterscheiden? Als die Diskussionen wohlwollende Neutralität gegenüber eine große Herausforderung bleiben. nicht, aber er ermöglicht. über das Kopftuch begannen, habe ich der Religion betont, aber Religion diffu- zunächst geschluckt und mich gefragt, ser wird. Über diese Herausforderung Florian Schuller: Und nicht nur mit Florian Schuller: Diese Möglichkei- was da langfristig auf uns zukommt. müssen wir diskutieren. Wir wollen na- den Religionen, sondern mit den Nicht- ten reißen zwar uns nicht vom Hocker, Man denkt ja immer: Haben wir nach- türlich nicht als christliche Kirchen, glaubenden, mit den Konfessionsfreien. weil wir sie als selbstverständlich neh- her einen Staat, der beschließt, was gute wenn jetzt der Religionsbegriff offener Es gibt ja durchaus aus diesen Kreisen men, aber zum Beispiel doch immer und was weniger gute Religion ist? wird, unter das bisherige Niveau der die Anfragen nach Präsenz zum Beispiel wieder die Kritik konfessionsfreier, Könnte uns das auch einmal treffen? Staat-Kirche-Beziehung gehen. Das in der Militär- oder Krankenhausseel- glaubensfreier, atheistischer Zeitgenos- Ich gebe Ihnen recht, für die beiden würde zu einem Verlust unserer Identi- sorge. sen auf sich ziehen. Wie schätzen Sie christlichen Kirchen ist das augenblick- tät und zu neuen Aggressionen oder entsprechende gesellschaftliche Trends lich kein Thema. Aber ich stelle fest, Re- Spannungen führen. Aber es ist eine de- Kardinal Reinhard Marx: Man darf ein, die die bisherigen Positionen der ligion ist kein einfacher Begriff. Und likate Aufgabe. aber einmal sachlich auf die Zahlen Kirchen doch deutlich in Frage stellen? was wir in unserem Land erreicht ha- Das Staatskirchenrecht ist keines- schauen. Die Humanistische Union be- ben mit der wohlwollenden Neutralität, wegs überholt. Der Staat kann durchaus kommt auch Zuwendungen vom Staat Andreas Voßkuhle: Was die beiden ist sehr stark am Christentum orientiert. sagen, hier sind Religionsgemeinschaf- und hat relativ wenige Mitglieder. Man großen Kirchen angeht, sehe ich im Muslime sagen zu mir: Herr Kardinal, ten, die aus unserer Erfahrung einen kann ja nicht sagen: Ich vertrete alle Moment wenig Probleme. Es gibt ein wir wollen gar keine Kirche sein. Das großen Beitrag leisten, mit ihnen unter- Konfessionslosen.

Zwei Inseln im Chiemsee waren der Ort Fraueninsel: Abtpräses Jeremias Bei der Ankunft auf Frauenchiemsee: (vorne), die Medizinerin Dr. Sibylle von der Jubiläumsveranstaltung für das Schröder OSB, Schwester Gisela Happ Inge Broy, theologische Referentin von Bibra, gefolgt vom Erzbischof, verlassen Erzbistum München und Freising. Auf OSB aus der Abtei Elbingen und Alois Kardinal Marx, und Oberlandesge- das Schiff. der Überfahrt von der Herren- zur Glück. richtspräsident Dr. Christoph Strötz

zur debatte 6/2017 41 Das andere: In welchen Aufgaben freilich etwas ganz Anderes. Schnell wollen wir Menschen haben, die die ka- von A nach B zu kommen, ist eine sehr tholische Überzeugung selber teilen und technische Geschichte, entweder mit durch ihr Leben Zeugin und Zeuge der dem Auto oder mit dem Hubschrauber. Kirche sind? Das ist für mich der Ob da unbedingt derjenige, der hier tä- Grundgedanke gewesen, und ich sehe tig ist, in der katholischen Kirche sein im Augenblick nicht, dass das Bundes- muss und, wenn er sich scheiden lässt verfassungsgericht oder die politisch und neu heiratet, aus dem Dienst ent- Verantwortlichen daran etwas rütteln fernt werden kann – da wäre ich zu- wollen. Wenn man gut begründen kann, rückhaltend. Wenn man aber als Patient dass die Kirche hier eine gewisse Auto- in ein konfessionsgebundenes Kranken- nomie hat, natürlich nicht außerhalb haus geht, dann ist das nun mal anders, des Grundgesetzes, glaubwürdig selber als wenn Sie in ein normales Kranken- zu regeln und deutlich zu machen, war- haus gehen. Und die Menschen, die sich um sie an diesen oder jenen Stellen das dort behandeln lassen, erwarten das re- eine oder das andere tut, wird das auch gelmäßig auch. Es wäre schwierig, in ei- für die Zukunft durchaus möglich sein, nem katholischen Krankenhaus Ärzte nicht zuletzt, weil sich auch in der Kir- zu beschäftigen, die aktiv für die Huma- che selber Veränderungen ergeben. nistische Union werben würden. Stichworte wie beispielsweise wieder- verheiratete Geschiedene oder Homo- Kardinal Reinhard Marx: Im We- sexualität waren vor fünfzig Jahren viel- sentlichen geht es ja um die Bereiche leicht nicht das Thema. Da kann ein der Caritas. Die pastoralen Felder sind Gericht sagen: Das müsst ihr unter euch absolut klar. Dass ein pastoraler Mitar- klären. Ihr müsst mir, dem Bundesver- beiter in der katholischen Kirche sein fassungsgericht, nur deutlich machen, muss und den Glauben der Kirche tei- Frage an Andreas Voßkuhle: „Bedeutet was eure Überzeugung ist und was für len sollte und so sein Lebenszeugnis ,offene Neutralität‘ nur die Ermögli- eure Mitarbeiter verbindlich gelten soll gibt, das war ja nie Thema. Aber die chung eines weltanschaulichen Disputs – aber bitte mit einer klaren gemeinsa- großen caritativen Bereiche haben sich verschiedener Gesprächspartner?“ men Linie. in den letzten 20 bis 30 Jahren eben Wir haben ja versucht, eine Öffnung auch zu erwerbswirtschaftlichen Betrie- in Gang zu bringen; das war nicht ganz ben entwickelt. Ich habe auch in der Bi- einfach in der Bischofkonferenz, gebe schofskonferenz gesagt, wenn wir durch ich zu. Wir führten heftige Debatten eine solche Diskussion oder durch das Florian Schuller: Auch Sie sehen da Florian Schuller: Sehr schön. Dann wegen befürchteter Identitätsverluste. Bundesverfassungsgericht darauf hinge- kein Problem, Herr Präsident? frage ich mal weiter. Sie haben vorhin Ich bin der Meinung, man soll die ka- wiesen werden, genauer hinzuschauen, bereits das kirchliche Arbeitsrecht ange- tholische Identität vielleicht nicht nur wo die entscheidenden Punkte sind, an Andreas Voßkuhle: Nein. Es ist nicht sprochen. Sind Sie zufrieden mit dem, am Taufschein des Mitarbeiters festma- denen wir festhalten müssen und eine meine Aufgabe, dazu Ratschläge zu er- was dazu jüngst von der deutschen Bi- chen. Es können auch Menschen in ei- engere Bindung an die Kirche erwarten, teilen. Aber ich glaube, die Kirchen schofskonferenz gekommen ist? ner katholischen Einrichtung arbeiten, dann wird das auch gelingen. können ganz entspannt sein. Dass es weltweit ist das sowieso eine Selbstver- Aber wenn wir es zu allgemein auf Gruppen gibt, die das anders sehen und Kardinal Reinhard Marx: Vor dem ständlichkeit, die beispielsweise sagen, alles übertragen, wird es nicht gut ge- sich sehr aktiv einmischen, führt Bundesarbeitsgericht war die Beteili- das was ihr wollt in dieser konfessionel- hen. Entsprechend haben wir dann den manchmal zu schwierigen Fragen. Der gung von Gewerkschaften ein wichtiger len Schule, das trage ich mit. Oder: Was Beschluss der Bischofskonferenz ge- Erste Senat hatte die Frage zu klären, Punkt. Ich komme aus der Katholischen in diesem Krankenhaus gewollt wird, fasst. Ich habe aber gleichzeitig gesagt: wie denn der Karfreitag geschützt wer- Soziallehre und habe damit kein großes dieses Leitbild, das trage ich mit, auch Lasst uns ein bisschen grundsätzlicher den kann. Wenn es sich eine Humanis- Problem. Selbstverständlich, das war wenn ich nicht katholisch bin, aber über die Zukunft des kirchlichen Ar- tische Union zum Ziele setzt, den Tag, übrigens eine These meiner Doktorar- trotzdem stehe ich für diese Zielrich- beitsrechts nachdenken und die Institu- den andere als höchsten Feiertag still be- beit, müssen die Prinzipien der Sozial- tung ein. tionen verpflichten, deutlich zu machen, gehen wollen, zu stören beziehungswei- lehre der Kirche auf die Kirche selber wofür sie stehen, also deren Verantwor- se dort ein Tanzfestival zu veranstalten, angewandt werden – im Rahmen der Florian Schuller: Herr Präsident, tung nochmal stärker in den Vorder- führt das zu Rechtsproblemen. Die müs- dogmatischen Grenzen. Das ist weitge- sind Sie mit der augenblicklichen Situa- grund rücken, im Gegensatz zu den ein- sen wir dann lösen. Aber das kriegen hend legitim und kann sich auch fort- tion zufrieden? zelnen Akteuren und Mitarbeitern. wir hin, da können Sie uns vertrauen. entwickeln. Denn die Institutionen selbst sind es, Andreas Voßkuhle: Ich kann nur un- die die Verantwortung tragen für die terstreichen, was Kardinal Marx gesagt Kirchlichkeit. Für die Gerichte und die hat. Es sind schwierige Felder. Wir ha- Öffentlichkeit bleibt es wichtig, dass wir ben uns beim sogenannten Chefarztfall nachvollziehbar erklären können, wo intensiver damit beschäftigt. Das darf wir nicht auf eine engere Bindung an ich sagen, ohne das Beratungsgeheimnis die Kirche verzichten wollen. Wenn das zu verletzen. Herausgekommen ist eine plausibel ist, wird es auch gerichtsfest abgewogene Lösung. Man wird sehen, bleiben. ob sie sich im europäischen Kontext dauerhaft durchsetzt. Wichtig war bei Florian Schuller: Konsens? dieser Entscheidung auch, deutlich zu machen, dass das Selbstverständnis der Andreas Voßkuhle: Konsens. Kirche natürlich nicht in völlig ökono- misierten Bereichen geltend gemacht Florian Schuller: Dann kommen wir werden kann. Um es klar zu sagen: Wo zu einem Punkt, bei dem es augenblick- die Kirche nur Geld verdienen will und lich in der Gesellschaft nicht nur Kon- als normales Unternehmen auftritt, sens gibt: die sogenannte Ehe für alle kann sie nicht irgendwelche Sonder- und ein eventueller Gang nach Karlsru- rechte geltend machen. Das war den he. Herr Kardinal, fangen Sie mal an … Betroffenen im Hintergrund immer, glaube ich, klar. Aber es war trotzdem Kardinal Reinhard Marx: Es geht ja wichtig, es deutlich auszusprechen, nicht darum, dass kirchliche Auffassun- denn selbstverständlich gibt es große gen zu staatlichen Gesetzen werden. Bereiche im caritativen Bereich, die Aber das Thema Ehe hat zu tun mit vollständig kommerzialisiert sind, in de- Grundlagen, über die der Staat nicht die nen auch der kirchliche Auftrag nur volle Definitionshoheit hat, worüber noch in homöopathischen Dosen spür- man natürlich rechtsphilosophisch strei- bar ist. ten kann. Es geht bei dem Thema nicht um bessere oder schlechtere Menschen, Florian Schuller: Kann man das so wir haben hier nicht mit Kategorien von genau feststellen? Sünde zu arbeiten, sondern reden über die Gesellschaft und den Staat, wie der Andreas Voßkuhle: Naja. Wenn Sie das zu regeln hat. Ich war sehr über- sich etwa den Bereich Krankentrans- rascht, dass das innerhalb von wenigen port anschauen. Wie ein Krankenwa- Tagen überstürzt durchgezogen wurde: gen eingesetzt wird, darüber gibt es hef- ein Thema, das doch emotional für die Kardinal Reinhard Marx: „Die Freiheit hängt zusammen mit tige Verteilungskonflikte. Wenn Sie in Menschen von großer Bedeutung ist. der Würde des Menschen.“ einem Krankenwagen irgendwo hinge- Das habe ich sehr bedauert. fahren werden, ist der kirchliche, religi- Mir würde es gefallen, wenn hier öse Hintergrund relativ gering. Wenn vom Bundesverfassungsgericht dem Sie in einem Krankenhaus sind, ist es Rechtsfrieden aufgeholfen wird. Immer-

42 zur debatte 6/2017 Die Klosterkirche von Frauenwörth … und in barocker Pracht. unter weiß-blauem Himmel …

hin hat man sich dort über viele Jahre sam in einer wirklich produktiven Art Habermas einmal schön formuliert: Es und bei dem man gar nicht weiß, wie immer wieder mit dem Thema beschäf- und Weise einen Raum schafft, in dem ist Aufgabe der Theologie, deutlich zu viele Mitglieder diese Kirche hat, weil tigt. Wir bleiben bei unserer Position, wissenschaftlich rational über Theologie machen, dass sie nicht von Märchen sie keine Register führt. Das geht nicht, dass die Ehe nicht nur kirchlich – bis nachgedacht wird. Und die Freiburger spricht oder von dem, was wir uns aus- das ist nicht der Standard, wie wir mit- jetzt war das auch Auffassung des Bun- Theologie war auch immer eine Theo- gedacht haben. Wir haben eine Grund- einander kooperieren. desverfassungsgerichts – eine Verbin- logie, die sich für praktische Zusam- lage, die legen wir offen. Hier ist die Bi- dung von Mann und Frau ist, offen für menhänge interessiert hat. Das war, bel, hier haben wir die Dogmatik, das Andreas Voßkuhle: Ich kann die die Weitergabe des Lebens. Ich habe glaube ich, auch für die katholische Kir- Kirchenrecht, und auf dieser Grundlage Bauchschmerzen durchaus nachvollzie- auch die Sorge, dass ein neuer Bruch che hilfreich in der alltäglichen Arbeit. arbeiten wir wissenschaftlich und füh- hen. Wir müssen aber auch sehen, dass entsteht zwischen biologischer Eltern- Juristen kommen mit Theologen in der ren neue Erkenntnisse ein, verändern wir von einem eigenen Vorverständnis schaft und sozialer Elternschaft. Diese Regel sehr gut aus. Woran liegt das? auch Positionen, wenn uns die Wissen- ausgehen, das die anderen nicht unbe- Frage kam jüngst sogar noch zusätzlich Wir vertreten beide eine normative Wis- schaft auf neue Wege führt. Das ist der dingt teilen. Es gibt sogar eine Entwick- auf die Tagesordnung einer Arbeitsgrup- senschaft, eine Textwissenschaft, es geht eine Punkt. Der zweite Punkt ist aller- lung in der Wissenssoziologie und Wis- pe des Bundestages. Man sieht, hier ist dabei um Wertungsspielräume, um Me- dings etwas kribbeliger für uns: Wenn senschaftssoziologie, die sich sehr kri- eine Diskussion in Gang gekommen, thoden, um das ganze Leben, die ganze es konfessionsgebundene Wissenschaft tisch mit dem, was wir reliable know- die nicht nur unter dem Gesichtspunkt Welt. Das beschäftigt auch einen Juris- oder Religionsunterricht geben soll, ledge nennen, also mit hartem Wissen, behandelt werden kann, wann homo- ten, der sich mit Staatslehre beschäftigt, dann muss es eine Mitwirkung der Ak- auseinandersetzt, und die nachgewiesen sexuelle Paare die Gleichberechtigung und insofern habe ich die Theologen in teure geben, also der Kirchen. Das ist hat, auch experimentell, dass das, was bekommen, es also unter das Signum Freiburg immer als Bereicherung wahr- bei uns geregelt durch Konkordate und wir naturwissenschaftlich für hartes „Diskriminierung von Homosexuellen“ genommen. Theologie ist eines der letz- Kooperation auf hohem Niveau. Aber Wissen halten, häufig eben nicht hartes zu stellen. Das ist nicht ganz der Bogen, ten wirklich interdisziplinären Fächer, für den Islam treten jetzt Verbände an; Wissen ist, sondern, dass sehr viele den man schlagen kann. Die Diskussio- die wir haben, und wir tun gut daran, es doch die sind nicht Kirche, und ich Wertungen, Pfadabhängigkeiten und so nen werden weitergehen, und wir be- zu schützen. Wir sehen jetzt bei neuen kann nicht einfach Ungleiches gleich weiter eine Rolle spielen. dauern, dass man nicht bei der bisheri- Herausforderungen und der Einrichtung nennen. Jedenfalls muss man die Kon- Eine Errungenschaft dieser Diskussi- gen Regelung geblieben ist. von Islamlehrstühlen, dass sich wieder sequenzen überlegen, wenn man einen on ist der „imaginierte Laie“. Das ist je- eine Möglichkeit öffnet, als Staat mit Verband, bei dem die Nichttheologen mand, der in einem spezifischen Umfeld Florian Schuller: Herr Präsident, Sie der Universität einen Raum zu schaffen, das Sagen haben, zur Kirche macht, etwas erlebt und beschreibt, und der werden jetzt sicher nicht konkret ant- in dem man über Religion nachdenken worten können … kann, auf einem etwas höheren Niveau als in anderen Zusammenhängen. Ich Andreas Voßkuhle: Ein Gericht würde mir noch mehr solche Orte wün- kann sich nicht aussuchen, welche Fälle schen. es bekommt. Wenn es zulässig angeru- Dass es bei der Besetzung von Lehr- fen wird, muss es entscheiden. Und das stühlen mitunter zu Problemen kommt, werden wir auch in diesem Fall tun. soll es nicht nur in der Theologie geben. Die Verteilung von wichtigen Lehrstüh- Florian Schuller: Gut, aber die grund- len war an den Universitäten immer pro- sätzlichen Positionen sind nicht unbe- blematisch; da wird immer gestritten, das kannt. gehört zumGeschäft, und warum soll es bei der Theologie anders sein? Kardinal Reinhard Marx: In Europa ist das Thema unter dem Signum der Kardinal Reinhard Marx: Der Wis- Gleichberechtigung gelaufen, und da senschaftsrat geht davon aus, dass auch wird es sehr schwer, andere Argumente eine islamische oder buddhistische mit einzubringen. Für uns ist wichtig, Theologie auf dem Standard dessen ar- dass der Staat nicht irgendwann einmal beiten muss, was wir Wissenschaft nen- auf die Idee kommt, uns noch bei unse- nen. Das ist natürlich nicht so einfach, rer Definition von Ehe zu bedrängen. wir haben einen von der westlichen Da müsste ich sozusagen einen „Kultur- Kultur geprägten Wissenschaftsstan- kampf“ ausrufen. dard, der mittlerweile auch von einigen in Frage gestellt wird; da gerät manches Florian Schuller: Kommen wir zu ei- ins Schwimmen. Vielleicht zeigt sich nem Punkt, wo der Präsident schon aber auch daran: Staat und Gesellschaft deutlicher sprechen kann. Sie waren in müssen hier zusammenwirken. Man Freiburg kurze Zeit Präsident einer Uni- muss von einer Wissenschaft an der versität mit einer ganz starken, ruhm- Universität erwarten können, dass sie und traditionsreichen theologischen Fa- ihre Grundlagen zur Debatte stellt und kultät. Theologische Fakultäten an nicht nur im eigenen Bereich bleibt. Da staatlichen Universitäten, was halten kann man nicht einfach sagen, das glau- Auch der Kaisersaal im Alten Schloss Sie davon? ben wir eben. So geht es nicht. von Herrenchiemsee stand auf dem Eine Religion hat nur Zukunft in der Besuchsprogramm von Kardinal Marx Andreas Voßkuhle: Freiburg ist ein modernen Gesellschaft, wenn sie kom- und Professor Andreas Voßkuhle. gutes Beispiel dafür, dass man gemein- munikativ anschlussfähig ist. Das hat

zur debatte 6/2017 43 Kardinal Reinhard Marx: Ich finde Entwicklung ohne Weiteres mit der Ver- das sehr interessant, das wäre wirklich fassung kompatibel wäre. Darüber den- Stoff für eine neue Runde der Diskussi- ken wir erst im Hauptsacheverfahren on, wie Wissen entsteht und was Wis- nach, und insofern lässt sich aus dem senschaft bedeutet. Vor allen Dingen ist Verfahren nichts ableiten für die Zu- es wichtig, das habe ich in den letzten kunft. Jahrzehnten gemerkt, Wissenschaft Ein anderer Fall war die Frage des nicht auf Naturwissenschaft zu reduzie- Kopftuchs einer Lehrerin. Eine eher ren. Das wäre ja schon mal ein erster komplizierte Entscheidung des Ersten Schritt. In Amerika denkt man bei sci- Senats um die Frage, inwieweit ein reli- ence immer an Naturwissenschaft. Die- giöses Symbol einen Konflikt herbeifüh- ser Unterschied ist schon etwas Typi- ren muss, damit man darauf verzichten sches unserer Kultur. Philosophie, Lite- muss. Ich will das jetzt nicht kommen- raturwissenschaft, Theologie sind Wis- tieren. Wir erleben aber, dass religiöse senschaften, auch wenn sie nicht so ar- Symbole auch heute noch sehr wichtig beiten wie eine Naturwissenschaft. sind und eine überschießende Tendenz Dann kommt auch noch hinzu: Was an besitzen. Deshalb müssen wir bewusst der Universität stattfindet, ist natürlich mit ihnen umgehen. nicht die ganze Religion. Theologie ist Ich möchte auf einen Aspekt, der mir nicht die Kirche, nicht die Lebenspraxis, bei der Diskussion auffällt, noch am nicht die Bewährung. Ich bin der Mei- Rande hinweisen. Religiöse Symbole nung, hier wissenschaftstheoretisch sind häufig Teil unserer Lebenswelt, Teil nochmal ranzugehen, das wird eines der unserer kulturellen Prägung. Wir sind größeren Projekte für die nächsten Jah- zum Beispiel mit dem Kreuz aufge- re, auch in der Philosophie. Ich kann wachsen. Hier ergibt sich ein neues Pro- mir schon eine Erweiterung des Wis- blem für die Religion, nämlich die Pro- sensbegriffs vorstellen über jenen Szien- fanisierung ihrer Symbole. Auch diese tismus hinaus, den wir sehr stark zeleb- Dimension des Problems müssen wir im riert haben, Naturwissenschaft sei die Blick behalten. Wenn wir sagen, das eigentliche Wissenschaft, und alles, was Kreuz ist nicht so sehr ein Zeichen des empirisch überprüfbar sei, die eigentli- christlichen Glaubens, sondern Teil un- che Wahrheit. Da begrüße ich sehr, serer Kultur, und wir finden das schön Kardinal Reinhard Marx: „Werte sind jedenfalls nicht einfach wenn eine neue Epoche kommt, ohne und fühlen uns wohl damit, dann be- irgendwo abgelagert und plötzlich da. Sie können nur existie- allerdings die gewonnenen Erkenntnis- deutet das natürlich auch eine gewisse ren, wenn Menschen sie überzeugend leben.“ schritte hinter sich zu lassen, sondern Profanierung, die mittransportiert wird. diese zu erweitern. Diese Dimension wird in der Diskussi- on etwas unterschätzt. Religiöse Symbo- Florian Schuller: Herr Kardinal, der le stellen wirklich eine komplexe Her- Begriff des „imaginierten Laien“ wäre ausforderung dar. deshalb vielleicht besser als die Exper- kann, was uns erst mal fremd erscheint. doch für unsere innerkatholischen Dis- ten in der Lage ist zu beschreiben, was Ich sehe die praktischen Schwierigkei- kussionen mal ein spannender neuer Kardinal Reinhard Marx: Ich kann notwendig ist. Häufig wird das am Bei- ten, aber wir sollten die Bereitschaft Ansatz … das nur unterstreichen. Es gibt ja die spiel von Eltern expliziert, die behinder- zum Dazulernen nicht von vornherein Tendenz zur Säkularisierung, auch te Kinder pflegen und betreuen: Die verweigern und darauf bestehen, dass Kardinal Reinhard Marx: Jeden Tag wenn sie etwas zurückhaltender gewor- Mutter, die das für viele Jahre macht, nur, was dem klassischen Humboldt- habe ich den „imaginierten Laien“ vor den ist, weil man merkt, dass Religion weiß viel besser, was für diese Kinder schen Universitätsideal entspricht, an mir: in der Reflektion und in der Gewis- vital bleibt. Aber die andere Tendenz ist gut ist, und wie sie behandelt werden der Universität gelehrt werden darf. Die senserforschung. eben auch da, und sie wird für die Zu- müssen, als ein Professor an der Univer- Wissenschaft selbst wirft eben neue Fra- kunft weltweit bedeutender: die Instru- sität, der darüber forscht. gen auf, auch bei dem, was sie lange Florian Schuller: Die Zeit jagt. Wir mentalisierung der Religion für die poli- An diesem Beispiel sehen wir, dass Zeit für unumstößlich gehalten hat. Wir hätten noch sehr viele Themen, eines tische Identität, für die kulturelle Identi- neue Konzeptionen von Wissen auch leben in einer Situation, in der der un- zum Schluss. Herr Präsident, Sie haben tät. Das gilt übrigens für alle Religionen. sinnvoll und bereichernd sein können. glaubliche Zuwachs an Wissen nicht zu am Anfang unseres Gesprächs schon Beim Islam ist es offensichtlich, aber Das kann natürlich auch der „imagi- einem Zuwachs an Sicherheit geführt mal auf das Problem religiöser Symbole auch beim Hinduismus und in vielen nierte“ Imam sein, der eben anders, als hat, sondern zu einer größeren Unsi- hingewiesen. Das reicht vom Kopftuch anderen Bereichen ist das so. Da muss wir das aus unserer Tradition heraus für cherheit, und mit dieser paradoxen Si- bis zum Kreuz auf der Berliner Kuppel, man auch auf die Gefahren achten. Wir wichtig erachten, etwas einbringen tuation müssen wir irgendwie leben. zu dem vor einigen Tagen jemand ge- gehen zwar nicht in die Kirche, aber meint hat, da sollte man stattdessen ein verteidigen das Kreuz auf dem Schloss. Mikroskop anbringen, das wäre dem ge- Oder: Wir sind für das christliche planten Humboldtforum eher angemes- Abendland, aber ob Jesus auferstanden sen. Religiöse Symbole in der Öffent- ist, ist nicht mein Problem, geht mich lichkeit? nichts an. Es ist klar, religiöse Symbolik hat eine große Bedeutung, überschie- Andreas Voßkuhle: Ich bitte um ßend, das würde ich genau so sehen. Nachsicht, wenn ich jetzt nur sagen Und deswegen ist der Staat gut beraten, kann, was wir entschieden haben. Zu- sorgsam damit umzugehen, genau wie letzt hat der folgende Fall gewisse Auf- mit den anderen Begriffen, auch mit dem merksamkeit erzeugt: Eine Referenda- Begriff Ehe. Das ist nicht nur der Begriff rin in Hessen wollte mit Kopftuch ihre an sich, sondern darin steckt eine über- Referendarzeit ableisten, was man ihr schießende Symbolik. Das Gleiche gilt verboten hatte vor dem Hintergrund ei- für den Sonntag. Es gibt nämlich nicht ner bestimmten Gesetzeslage, in der das nur die sichtbaren Symbole, sondern so vorgeschrieben wird. Die Frage war auch die viel stärker eingreifenden Sym- jetzt, wie man in einem einstweiligen bole, die in den Zeitablauf, in meine Le- Anordnungsverfahren damit umgeht. benspraxis eingreifen. Ob da ein Kreuz Ein einstweiliges Anordnungsverfahren am Wegesrand steht, das ändert viel- ist ein Verfahren zur vorläufigen Siche- leicht nicht mein Leben, wohl aber der rung einer Rechtsposition. Und dabei Sonntag und die Feiertage. Ein wichtiges stellt das Bundesverfassungsgericht eine Diskussionsfeld würde ich sagen. reine Folgenabwägung an: Es löst nicht den Fall, sondern schaut, was wäre, Florian Schuller: Damit haben wir wenn das Verbot einstweilen in Kraft einen großen Bogen geschlagen zurück bliebe, aber hinterher die Referendarin zum Anfang unseres Gesprächs. Nach- Recht bekäme, und was wäre im umge- her werden wir auf der Fraueninsel kehrten Fall. Da haben wir gesagt: Die Gottesdienst feiern und als Evangelium Referendarzeit lässt sich auch ohne die- jenen Text hören, in dem der Satz steht, se bestimmten Situationen ableisten, in um den es auch hier ging: „Gebt dem denen das Kopftuch verboten ist, wenn Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, sie zum Beispiel als Staatsanwältin auf- was Gottes ist.“ Gebt dem Bundesver- tritt. Insofern droht der jungen Frau fassungsgericht, was des Bundesverfas- kein ernster Nachteil. Wenn wir aber sungsgerichts ist, und gebt der Kirche, umgekehrt sagen würden, sie darf das was der Kirche ist. Ganz herzlichen Andreas Voßkuhle: „Wenn wir islamische Glaubensgemein- Kopftuch immer tragen, dann hätte dies Dank Ihnen beiden, Herr Präsident, schaften integrieren wollen, dann wollen wir auch, dass sie auf jeden Fall eine Veränderung der Jus- Herr Kardinal, und allen, die intensiv Verantwortung für unser Gemeinwesen übernehmen.“ tiz nach außen hin zur Konsequenz, zugehört haben, für diese faszinieren- und wir wissen nicht, ob eine solche den eineinhalb Stunden. „

44 zur debatte 6/2017 Bischof Dr. Gregor Maria Hanke und Professor Rupert Stadler Ein Akademiegespräch über „Nachhaltigkeit und Mobilität“ 20. September 2017, Orbansaal des Katholischen Canisiusstifts in Ingolstadt

Florian Schuller: Bischof Gregor Maria, Sie zeigen neben Ihrer geistli- chen Berufung zwei weltliche Leiden- schaften. Die eine ist das Bergsteigen und die andere das Motorradfahren. Man kann sogar von Ihnen lesen, dass Sie manchmal die mönchische Gelas- senheit verlassen würde, wenn Sie Mo- torrad fahren. Was verbindet die beiden Leidenschaften, die zur Natur und die zu Technik und Geschwindigkeit?

Bischof Gregor Maria Hanke: Beide Leidenschaften haben mit Herausforde- rung zu tun: im guten Sinne Grenzen zu erleben. Gerade beim Klettern ist das natürlich für mich als Schreibtischtäter oft die Erfahrung physischer Grenzen. Aber das ist auch ein schönes Gefühl. Was das Motorradfahren anbelangt, ist das ein schwarzer Fleck auf meiner ökologischen Seele, das gebe ich ehrlich zu. Ich habe einmal einer Frau gesagt, die sich furchtbar über diese Leiden- schaft beschwert hat: Ja, beten Sie doch auch für meine Bekehrung, ich habe es bisher noch nicht geschafft. Es ist sicher ein ambivalentes Hobby, wenn man es ökologisch betrachtet. Aber auf der an- deren Seite kann es auch ein schöner Ausgleich sein, wenn man im Urlaub eine Fahrt in die Natur unternimmt, und der Duft der Felder weht einem um Akademiedirektor Dr. Florian Schuller die Nase, was man im Auto so nicht (Mi.) moderierte das Podiumsgespräch spüren würde. Mich macht das immer zwischen Bischof Dr. Gregor Maria froh und happy. Natürlich muss man Hanke OSB von Eichstätt (re.) und sich auf der Straße immer wieder diszi- Professor Rupert Stadler. plinieren. Das ist auch eine gute Schule. Auch da lernt man manchmal seine Grenzen kennen, dass ich vielleicht noch nicht so weit bin in der Gelassen- heit, wie ich es eigentlich als Mönch sein könnte. man mal zehn Minuten absteigen und sere Vision: Wir begeistern durch nach- mein persönlicher Lebensentwurf im sich wirklich sammeln. haltige, individuelle Premium-Mobili- Kloster. In unserer Gesellschaft ist Mobi- Florian Schuller: Motorradfahren als tät.“ lität angesagt, das ist beruflich teilweise Meditationsübung zum Ruhig-Werden. Florian Schuller: Kann man das oder Herr Bischof, Professor Stadler: Was auch gar nicht anders machbar. Vernet- tun Sie es auch? schwingt bei Ihnen zum Thema Mobili- zungen machen die Menschen mobil Gregor Maria Hanke: Das ist ein tät alles mit? und lassen Sie zueinander kommen. Es großer Anspruch, ja. Rupert Stadler: Ich tue das tatsäch- wäre gut, diese beiden unterschiedlichen lich. Insbesondere in den vergangenen Bischof Gregor Maria Hanke: Ich Lebensformen als zwei Brennpunkte ei- Florian Schuller: Professor Stadler, Monaten habe ich in dieser Kapelle in- war ja 25 Jahre lang im Kloster, ehe ich ner Ellipse zu sehen. Die Mobilität kann es geht das Gerücht, dass Sie immer nere Ruhe gefunden. Bischof wurde. 25 Jahre lang Stabilitas sicherlich die Stabilität hinterfragen: noch, seit Ihrer Studentenzeit, in einer loci. Ich kam als junger 27-Jähriger ins Seid ihr noch unterwegs zur Welt, zu Musikband spielen und regelmäßig mit Florian Schuller: Darauf werden wir Kloster und musste das Bleiben lernen. den Menschen? Aber die Stabilität, wie den Kollegen zusammenkommen. Ist noch zu sprechen kommen. Zunächst Also das Amobil-Werden. Das ist der be- ich sie 25 Jahre im Kloster geübt habe, diese künstlerische, kreative Ader die will ich einfach zwei kurze Texte gegen- nediktinische Lebensentwurf. Man ver- kann auch die Mobilität hinterfragen: totale Alternative zu Ihrem augenblick- einander stellen. Den ersten kennt der lässt das Kloster nur, wenn es wirklich Warum seid ihr unterwegs? Was sucht lichen Job, oder können Sie als Vor- Herr Bischof auswendig. Im ersten Ka- notwendig ist. Man konnte das nicht aus ihr eigentlich, wenn ihr euch beispiels- standsvorsitzender auch immer wieder pitel der Regel des heiligen Benedikt eigenem Entschluss, sondern dazu be- weise in jeder Urlaubssaison auf den künstlerisch kreativ sein? spricht der Autor, ob es nun der heilige durfte es der Erlaubnis des Abtes. Das ist Weg macht, um möglichst weit weg zu Benedikt war oder wer auch immer, eine sehr konträre Lebensweise im Ver- fahren? Entdeckt ihr auch das Schöne in Rupert Stadler: Es ist schon richtig, über verschiedene Arten von Mönchen. gleich zu unserer mobilen Gesellschaft, der Nähe? Schätzt ihr noch das Schöne dass ich früher mal Gitarrenunterricht Die vierte Art der Mönche, heißt es da, obgleich jedes Kloster natürlich auch in der Nähe? Ist es notwendig, eine gro- hatte und auch Klavier gelernt habe, sind die sogenannten Gyrovagen, wört- Garagen mit Autos hat; auch im Kloster ße Flugreise zu unternehmen, wenn du beides aber mit relativ begrenzter Ener- lich: jene, die im Kreis herum gehen: kommt man nicht ohne PKWs, ohne Be- mit ein paar Autostunden mitten im Ge- gie. Heute treibe ich lieber Sport, weil „Ihr Leben lang ziehen sie landauf land- weglichkeit aus. Aber es war eine sehr birge oder in einer schönen Seenland- mir das gut tut. Dazu gehört das Moun- ab und lassen sich für drei oder vier Tage heilsame Zeit für mich, zu erleben: Du schaft bist und das Einfache, das Kleine tainbiken genauso wie auch mal, seit- in verschiedenen Klöstern beherbergen. musst nicht überall hin. Es gibt Lebens- schätzen lernst? Das kann dich genauso dem wir Ducati als Motorradmarke ha- Immer unterwegs, nie beständig, sind sie qualität auch abseits ständiger Beweg- erfüllen und hat vom Nachhaltigen her ben, mich aufs Motorbike zu setzen. Ich Sklaven der Launen ihres Eigenwillens lichkeit. Es hat mich dann als Mönch einen ganz anderen Wert. kann Bischof Gregor Maria Hanke nur und der Gelüste ihres Gaumens ... Besser immer wieder überrascht, wenn mal eine beipflichten. Man erlebt die Natur mit ist es, über den erbärmlichen Lebens- Fahrt anstand in der Sommerzeit, der Florian Schuller: Professor Stadler, einer wunderbaren Frische, wenn man wandel all dieser zu schweigen als zu re- Weg ging über oder unter die berüchtigte wie schaut es bei Ihnen mit den beiden zum Beispiel durch die Holledau fährt. den.“ Dagegen stellt dann die Regel die Autobahn A9, und dort waren ganze Ka- Ellipsenpunkten aus? Gerade jetzt, wenn geerntet wird, riecht Stabilitas loci im Kloster. rawanenströme Richtung Süden unter- man Natur pur. Und in Tagmersheim Der andere Text über Mobilität findet wegs. Da sind für mich zwei Welten zu- Rupert Stadler: So wie ich in der Ka- kenne ich eine schöne Kapelle, da kann sich auf der Homepage von Audi: „Un- sammengestoßen. Aber das war eben pelle innere Ruhe finde, so brauche ich

zur debatte 6/2017 45 wohl – Als auch. Wir nutzen, wo immer Florian Schuller: Professor Stadler, es geht, Videokonferenzen, weil wir Sie haben in den 80er Jahren an der FH zum Beispiel Kollegen ersparen wollen, Augsburg BWL studiert. Es war die Zeit dass sie 250 Kilometer auf die Auto- der Nachwehen des Nachrüstungsbe- bahn müssen, um dann in Ingolstadt zu schlusses, diskutiert wurde in jener Stu- sein. Gleichzeitig ist es gut, mit den dentengeneration über sauren Regen Menschen Auge in Auge zu kommuni- oder Waldsterben. Wann hat Sie zum zieren. Wenn Menschen zusammen- ersten Mal das Thema Nachhaltigkeit kommen, hat das einen besonderen gepackt, oder wann kam bei Ihnen der Wert. Natürlich braucht es eine gute Gedanke auf: Das ist ein Thema, das in Ausgewogenheit. Wir haben ja auf der meinem Leben eine größere Rolle spie- IAA in Frankfurt ein Showcar ausge- len wird? stellt: Dieses Auto bietet dank seinem Interieur, das aussieht wie eine Lounge, Rupert Stadler: Die Diskussionen eine komplett neue Welt. Es hat kein des Club of über die Grenzen des Lenkrad und fährt die Passagiere an Wachstums oder der Bericht Ernst Ul- den gewünschten Ort. An Bord kom- rich von Weizsäckers an den Club of muniziert man mit einem persönlichen Rome über den „Faktor 4“, aber auch Assistenten. Auf diese Weise gewinnt die Klimadiskussionen habe ich natür- der Kunde Zeit – wir sprechen von der lich wahrgenommen. Richtig bewusst sogenannten 25. Stunde. In dieser wert- geworden ist mir das Ganze erst bei ei- vollen Zeit kann dann jeder selber ent- nem persönlichen Schlüsselerlebnis scheiden, ob er tolle Musik hört, die 1997: Da war ich das erste Mal in Chi- Stunde arbeiten will oder lieber – per na. Wenn einem die Augen reizen und Skype versteht sich – mit seiner Familie die Luft so schlecht ist, dass man bereits und Freunden kommuniziert. nach zwei Tagen ein Asthmahüsteln hat, sagt man sich: Das kann nicht un- Florian Schuller: Man kann auch ser Ziel sein. Und dann ist man zugleich Rosenkranz beten. dankbar, wie sich die Dinge in den ver- gangenen 20, 30 Jahren in Europa ent- Bischof Gregor Maria Hanke: Ja, wickelt haben. Im Ruhrgebiet zum Bei- zum Beispiel. Ich habe jetzt ganz faszi- spiel ist es noch nicht so lange her, dass niert zugehört, das klingt alles auch alle Schlote geraucht haben. Da steigen sehr begeisternd. Ich muss aber etwas dann schon die Sensibilität und das Be- Essig in den Wein gießen. Wenn ich auf wusstsein für die Verantwortung, wel- unsere Straßen schaue: die Mobilität chen Beitrag man selber in seinem Un- bringt uns an Grenzen. Wir können un- ternehmen und mit seinen Produkten möglich noch mehr Land verbauen. Na- für die Gesellschaft leistet. Die entspre- türlich werden auch in Zukunft Stra- chende Diskussion wird zum Teil natür- Dr. Ludwig Brandl, Direktor des ßenbauten notwendig sein, aber auch lich politisch vorgegeben durch Regulie- Diözesanbildungswerks im Bistum da kommen wir ja irgendwo an Gren- rung, was auch richtig ist. Sie muss aber Eichstätt: Er war zusammen mit der zen. Es gibt kein unbegrenztes Wachs- begleitet werden von Technologieent- Akademie Gastgeber des Abends und tum. Ein Wachstum, wie wir es in den wicklungen. Welche Materialien haben Mitorganisator. letzten Jahrzehnten hatten, würde fort- wir? Gibt es noch bleihaltige Materiali- geschrieben der Natur großen Schaden en in den Motoren, in den Lagerscha- zufügen. Gibt es auch dafür Perspek- len? Diese Dinge hat man einfach durch tiven in den Entwicklungsbüros der andere Technologien kompensieren Automobilindustrie? können. Und auch bei der Recycling- Mobilität in meinem beruflichen Alltag. Faktor Geschwindigkeit zu beherr- Und es ist ja auch grundsätzlich ein schen. Ich sehe es an den eigenen Kin- Phänomen der Gesellschaft, dass sie dern; sie sind im Kommunizieren zu- mobil sein will. Das erleben wir seit weilen deutlich schneller als der Vater. Jahrzehnten und Jahrhunderten, nur in unterschiedlicher Form. Mittlerweile Florian Schuller: In welchen Punk- auch in unterschiedlicher Geschwindig- ten? keit. Natürlich gibt es das Phänomen: immer höher, schneller, weiter. Ruhepo- Rupert Stadler: Im Umgang mit dem le dauern heute nicht mehr 25 Jahre, Smartphone zum Beispiel oder im Bu- stattdessen sucht der Mensch in immer chen von Mobilitätsdienstleistungen in kürzeren Zeiteinheiten neue Herausfor- der Stadt. Sie hinterfragen zum Bei- derungen. Unsere Gesellschaften in spiel: Brauche ich das Auto permanent Europa sind da noch gar nicht mal so oder miete ich es mir einfach mal? Ich extrem, wie es andere Nationen sind. nehme da einiges für mich mit: Wenn Wenn wir sehen, wie schnell sich zum wir Mobilität ressourcenschonend, um- Beispiel China entwickelt, wie sehr sich weltfreundlich und damit nachhaltig or- die Gesellschaft dort verändert: Ein Au- ganisieren, erhalten wir unsere Lebens- tomobil gewinnt dort immer mehr an qualität. In unserer Unternehmensstra- Bedeutung; es ist Basis für Lebensquali- tegie wollen wir mit den drei Säulen Di- tät und Zeichen von wirtschaftlichem gitalisierung, Nachhaltigkeit und Urba- Erfolg. Es ist vor allem mehr als bei uns nisierung genau den Kern dessen ein Statussymbol. Die technologischen treffen, was die Gesellschaft in den Umbrüche betreffen uns aber gleicher- nächsten zehn, zwanzig Jahren definie- maßen. Als Automobilindustrie befin- ren wird. Und wir versuchen, die ent- den wir uns aktuell in der größten sprechenden Impulse zu geben: Welche Transformation, die unsere Gesellschaft Antriebstechnologien brauchen wir je erlebt hat. Wir müssen da mithalten, morgen? Wie recyclingfähig sind die was unsere globale Mobilität angeht, Materialien, die wir verwenden? Wir aber auch was das Kommunikationsver- nehmen diese Verantwortung als Unter- halten betrifft. Damit rücken die Men- nehmen wahr und stellen uns den Auf- schen auf der Erde viel enger zusam- gaben unserer Zeit. Und das fordert die men: Vor 30 Jahren zum Beispiel war Gesellschaft zu Recht. Das ökologische ein Flug nach China noch etwas Beson- Gewissen, Ökologie und Ökonomie deres. Heute fliegen wir am Abend los, auch bei der Mobilität zusammenzu- kommen am Vormittag des nächsten bringen, ist heute tief verwurzelt. Tages im Reich der aufgehenden Sonne an, sind dann zum Beispiel zwei Tage Florian Schuller: Aber bietet nicht dort und fliegen am Abend des zweiten gerade Digitalisierung die Chance, Mo- Tags wieder zurück, so dass man am bilität ein wenig zurückschrauben zu nächsten Morgen schon wieder im hei- können, weil ich eben nicht mehr so mischen Büro sein kann. Das ist ein häufig nach China fliegen muss und auf Bischof Gregor Maria Hanke: „Ich kam als junger 27-Jähriger Phänomen unserer Zeit und das hat mit andere Weise mit den Menschen vor ins Kloster und musste das Bleiben lernen. Also das Amobil- dem Takt unserer modernen Industrie- Ort kommunizieren kann? Werden. Das ist der benediktinische Lebensentwurf.“ gesellschaften zu tun. Es ist deshalb wichtig, eine gute Balance zwischen Rupert Stadler: Es geht nicht um ein Mobilität und Stabilität zu finden, den Entweder – Oder, sondern um ein So-

46 zur debatte 6/2017 fähigkeit eines Autos hat sich viel getan: wissen lässt, oder mit der ich überzeugt Früher ging ein Auto komplett in die bin: Was mir hier auf der Erde gegeben Schrottpresse. Heute können die Mate- wurde, gehört nicht mir, sondern auch rialien eines Autos zu 95 bis 98 Prozent denen, die nach mir kommen. Ich trage recycelt werden. Verantwortung auch für die nachkom- menden Generationen, für deren Zu- Florian Schuller: Wo passiert das Re- kunft: Teilen kann etwas Erfüllendes cycling? sein. Ich wehre mich immer gegen eine ökologische Miesepeterhaltung, die das Rupert Stadler: Das beginnt bereits Leben versauert. Das ist ähnlich wie bei bei der Entstehung des Produkts. Zum Eltern, die Kinder großziehen. Eltern Beispiel: Mit welchen Sitzbezügen ar- müssen auch sehr viel teilen, Lebens- beiten wir? Wie wird das Leder herge- kraft, Zeit. Das ist natürlich anstren- stellt? Oder: Welche Türverkleidungen gend, kann aber auch schön sein. Eine haben wir? Verwenden wir auch nach- solche Haltung sollte bei der Ökologie wachsende Rohstoffe, die bei Hitze und des Herzens zum Durchbruch kommen, Kälte genauso kundenfreundlich sind, das Fürsorgende, ein elterliches Verhal- wie es unsere Kunden erwarten? Wir ten gegenüber der Schöpfung und auch betrachten das Thema Nachhaltigkeit gegenüber den nachkommenden Gene- bei Audi inzwischen umfassend „from rationen, eine Haltung der Liebe zur cradle to cradle“ also von der Wiege zur Zukunft. Wiege, von der Entstehung eines Pro- dukts bis zu seiner Neuentstehung aus Florian Schuller: Professor Stadler, wiederverwerteten Rohstoffen. Denn ist Ihnen das, was der Herr Bischof ge- wir sind überzeugt: Wer in seinem Un- rade gesagt hat, zu wenig ökonomisch? ternehmen nicht für Nachhaltigkeit sorgt, wird langfristig keine unterneh- Rupert Stadler: Ich bin Unterneh- merische Zukunft haben. Und das sage menslenker und auch meinem Anteils- ich gerade vor dem Hintergrund, dass eigner verpflichtet. Dieser hat aber na- wir hier auch noch unsere jüngere Ver- türlich auch ein Interesse, dass das un- gangenheit aufarbeiten müssen. ternehmerische Wirtschaften einer ver- nünftigen Nachhaltigkeit unterliegt. Florian Schuller: Warum sind wir Man kann nur zurückgeben, wenn man nachhaltig? Weil es die Menschen wol- zuvor etwas geleistet hat. Ich mache das len? Weil es die Situation erfordert? Bi- gern an einem konkreten Beispiel fest: schof Gregor Maria, einer Ihrer Lieb- Vor Jahren haben wir mit unserem Be- lingsbegriffe, schon in Ihrem ersten Bi- triebsrat vereinbart, dass wir einen Teil schofswort, heißt „Ökologie des Her- des Gewinns, der über eine bestimmte zens“. Was bedeutet er für Sie? Schwelle springt, an die Mitarbeiter zu- rückgeben. Warum machen wir das? Ingolstadts Oberbürgermeister Dr. Bischof Gregor Maria Hanke: Die Natürlich, damit der Mitarbeiter sich Christian Lösel sprach ein Grußwort Nachhaltigkeit muss selber nachhaltig wohl fühlt, uns loyal bleibt, damit wir und schilderte auch die beachtlichen sein. Wenn ich nur aus ökonomischen seine Kompetenz an Bord halten, aber Nachhaltigkeitserfolge seiner Kommune. Überlegungen und Erwägungen heraus, auch, damit wir mit ihm reden können, weil diese Erde eben endlich und be- wie wir die Produktivität und Leistungs- grenzt ist, mich reduziere, wird das auf bereitschaft im Unternehmen weiter Dauer nicht nachhaltig sein. Ökologie nach vorne entwickeln können. Voraus- des Herzens ist die Haltung, die mich setzung dafür ist, dass wir einen Gewinn erwirtschaften, der über einer gewissen Unser Fortschritt beruht darauf, dass es Schwelle liegt. Es ist immer ein Geben in Deutschland gute Ingenieure gibt, und Nehmen. Ich sehe die Zukunftsthe- gute Techniker, gute Handwerker, die men sehr stark aus der unternehmeri- tolle Technologien und Innovationen schen Perspektive, wiewohl immer klar entwickeln. ist: Soziale Marktwirtschaft hat beide Komponenten vernünftig zu verbinden. Florian Schuller: Bischof Gregor Und dafür stehe ich persönlich. Man Maria, langt Ihnen das? muss die Leistungsbereitschaft der Men- schen fördern, auch deren Kreativität Bischof Gregor Maria Hanke: Gut, und Ideenreichtum. ich verlange von einem Vorstandsvorsit-

Rupert Stadler: „So wie ich in der Kapelle innere Ruhe finde, Die mehr als 200 Gäste konnten sich so brauche ich Mobilität in meinem beruflichen Alltag.“ vor Beginn im Vorbau des Orbansaals stärken.

zur debatte 6/2017 47 das durch pilotiertes, automatisiertes nologie ein riesiges Thema sein. Das Fahren. Diese Trends entstehen da- zweite ist die Digitalisierung. Die Rech- durch, dass in den nächsten 20 Jahren nerkapazität verdoppelt sich nahezu je- wahrscheinlich 70 Prozent der Welt- des Jahr, die Computingpower an Bord bevölkerung in großen Metropolen zu- eines Automobils wird gigantisch sein. hause sein werden. Und in diesen Met- Das bedeutet pilotiertes Fahren, auto- ropolen sind das Mobilitätsbedürfnis nomes Fahren, Sensorik über Radar- und die Form der modernen Mobilität scanner, über Kameratechnologien, komplett andere. Auf der anderen Seite über digitalisierte Straßenformate. Da- verkaufen wir heute, morgen, übermor- mit einhergehend der dritte Punkt: Wie gen auch noch konventionelle Autos. kommuniziert dann der Kunde mit all Der neue Audi A8 ist technologisch diesen Welten? Denn auch die Ver- state of the art, in ihm finden sie alles, kehrsträger werden dann miteinander was wir heute können. Er ist für hoch- kommunizieren. Warum soll nicht je- automatisiertes Fahren im sogenannten mand, der am Flughafen landet, sich Level 3 entwickelt. über eine App ein Auto buchen, das schon bei der Landung auf ihn wartet Florian Schuller: Nur während des und das der Kunde später einfach ab- Staus oder auch für danach? rechnen kann? In China haben wir mittlerweile das Phänomen, dass Millio- Rupert Stadler: Als Staupilot auf der nen von Fahrrädern zurückkehren in Autobahn bis zu 60 km/h. Natürlich ist die Stadt, weil dort das Abrechnen über der Audi A8 zum Beispiel mein persön- Smartphone-Technologien total easy ist. liches Büro und fährt mit einem Sechs- Sie wischen praktisch einmal über Ihr zylinder-Diesel oder -Benziner, er wird Smartphone, und die paar Renminbis als Plug-in-Hybrid im Angebot sein und sind abgerechnet. Das heißt, für die eine Brücke bilden, über die wir in den letzten fünf oder zwei Kilometer nutzt nächsten zehn, zwanzig Jahren gehen. man das Fahrrad, lässt es wieder stehen, Diesen Spagat, diese Transformation und der nächste nutzt es. Wenn wir haben wir zu organisieren. Und welche langfristig im Geschäft mit Mobili- Marketingfibel rausgezogen wurde, um tätsangeboten dabei sein wollen, müs- heroisch zu sagen, ich glaube dieses sen wir solche Trends begleiten und ih- oder jenes, da bin ich zu weit weg vom nen den Platz rund um das Auto geben, Fach. Ich vermute, da ging es unseren den sie in der Lebenswelt unserer Kun- Marketingexperten eher um die Frage, den haben sollen. wie viel künstliche Intelligenz muss denn eigentlich an Bord sein und wel- Florian Schuller: Oberbürgermeister che Rolle spielt der Mensch. Dr. Christian Lösel hat in der Begrü- Rupert Stadler: „Früher ging ein Auto komplett in die Schrott- ßung auch von den E-Bikes gesprochen, presse. Heute können die Materialien eines Autos zu 95 bis 98 Florian Schuller: Was vor allem soll die die Stadt anbieten will. Das geht in Prozent recycelt werden.“ also die Botschaft sein, eher der A8 die chinesische Richtung? oder der Aicon? Rupert Stadler: Aber mit einem Un- Rupert Stadler: Da wir uns bereits terschied: In China kostet eine Stunde mitten in der Transformation befinden, einen halben Renminbi, das sind umge- zenden nicht, dass er sein Unternehmen jemand begegnet. Die hier sitzen, wol- werden wir wenige, aber klare Themen- rechnet nicht einmal zehn Cent. Das nach philosophischen Maximen leitet; len immer den Job haben, und Sie stel- felder adressieren. Punkt eins: Wie sieht heißt, nicht wir alleine definieren die er muss sein Handwerk gut beherr- len Bedingungen. Dann haben sie sich die Antriebstechnologie der Zukunft Regeln, sondern der Kunde bestimmt schen. Was ich gesagt hatte, geht mehr doch darauf eingelassen, ich war dann aus? Heute haben wir Verbrennungs- Kosten und Nutzen. Das wird im Pre- in das Atmosphärische hinein, es soll in Seeon und habe mit einer großen motoren und Plug-in-Hybride mit miumbereich ein wenig anders ausse- die Herzen und das Denken der Men- Gruppe von Ingenieuren und gehobe- 48-Volt-Bordnetzen. Nächstes Jahr brin- hen, da muss man mehr bieten als in schen beeinflussen, auch solcher, die in nem Management Meditation gemacht. gen wir den Audi e-tron auf den Markt. der Massenmobilität. Und der Kunde einem Unternehmen arbeiten, seien es Sie waren sehr offen dafür, es war eine Dieses rein elektrisch angetriebene wird beim autonomen Fahren erleben, einfache Mitarbeiter oder solche in ver- phänomenale Erfahrung. Man kann Auto hat rund 500 Kilometer Reichwei- dass die Bewegungsprofile und die Be- antwortlichen Führungspositionen. Um das, was ich in den Ohren einiger Tech- te. Und künftig kommt vielleicht auch wegungsökonomie deutlich effizienter diese Metaebene geht es mir. Ich kann niker vielleicht etwas geschraubt formu- mal ein Auto mit Brennstoffzelle – ein werden. Durch Carpooling und Car- nicht für betriebswirtschaftliche Belange liert habe, herunterbrechen. Es braucht toller Energieträger, wenn wir genügend sharing werden wir autonom fahrende Rezepte vorgeben. aber die konkrete Begegnung, damit regenerative Energiequellen haben, um Autos in bestimmten Zonen sehen, wo solche Gedanken Fleisch und Blut be- Wasserstoff auch erzeugen und anbieten man eben für zehn Cent kurz einsteigt Florian Schuller: Aber die Frage kommen. Klar gibt es auch Verantwort- zu können. Insofern wird Antriebstech- und online abrechnet. bleibt, möchte der Bischof den Vor- lichkeitsbereiche, zu denen ich als standsvorsitzenden auch auf die Meta- Geistlicher nichts sagen kann. ebene bringen oder reicht es, wenn sie immer wieder mal stellvertretend betont Florian Schuller: Professor Stadler, wird? bei den Berichten zur laufenden Frank- furter IAA kam in den großen Print- Bischof Gregor Maria Hanke: Das medien das zentrale Foto, auf dem zu Gespräch ist sehr wichtig, und deshalb sehen ist, wie die Bundeskanzlerin in ist es gut, dass wir heute beisammen Ihr Concept-Car Aicon einsteigt, in die- sind. In meiner Zeit in Plankstetten ka- ses unwahrscheinlich nachhaltige Auto. men Audi-Manager, Audi-Ingenieure zu Gleichzeitig haben Sie in der neuesten uns ins Kloster. Ich war damals als ZEIT auf den ersten drei Seiten eine Gastpater verantwortlich für das Bil- zentrale Werbung positioniert, aber dungshaus und habe gesagt: Ja, wir neh- nicht mit dem Aicon, sondern mit dem men gerne diese Managementkurse, neuen A8: „Fortschritt erfordert neues aber ein Modul möchte auch ich haben. Denken, der neue Audi A8 ist mehr. Es wurde immer sehr wohlwollend auf- Mehr Büro, mehr Lunch, mehr Kon- genommen, dass sich da ein Mönch ein- zertsaal, mehr Chatroom und damit klinkt. Noch vor der Zeit von Herrn persönlicher Freiraum.“ Und bei der Stadler als Vorstandsvorsitzender durfte Werbung im SPIEGEL kam sogar noch ich mal nach Seeon zu einem großen ein religiöser Touch hinein; denn drei Training von Audi. Die Assistenz des Mal fiel das Wort „glauben“: „Sie glau- Vorstands hatte mich aufgrund der ben nicht an höhere Intelligenz?“ Und Plankstettener Erfahrung eingeladen, am Ende: „unglaublich“. Meine Frage: zunächst hier in Ingolstadt zu referie- Wie bringen Sie beides zusammen? ren, wie ich mir meine Mitwirkung zum Den A8 als Chatroom, als Lunch, als Thema „Führen und Leiten nach der Konzertsaal und andererseits Ihren Regel Benedikts“ vorstellen würde; nachhaltigen Aicon? Das sind doch dann bekamen sie kalte Füße und ha- zwei sehr unterschiedliche Richtungen, ben gesagt: Da müssen wir jetzt doch die Ihre Identität symbolisieren sollen. Die Veranstaltung fand ein großes nochmal mit dem Vorstand reden. Ich Medienecho. Susanne Pfaller beispiels- habe gesagt: Gut, ich mache das nach Rupert Stadler: Ja natürlich, der Audi weise berichtete multimedial für den diesem Konzept und wenn euch das Aicon ist eine Vision der Mobilität der Bayerischen Rundfunk. nicht passt, dann mache ich es eben Zukunft, bei der man kein Lenkrad und nicht. Einer sagte: So ist uns noch nie keine Pedale mehr hat. Möglich wird

48 zur debatte 6/2017 Erfolgsmodell, aber eben nicht bei uns, sächsischen Werlte eine Pilotanlage ge- weil wir die Augen davor verschlossen baut, in der wir aus überschüssiger hatten. Wir haben große Potentiale in Windenergie mit der Elektrolyse von

der Gesellschaft und der Austausch Wasser und Hinzufügen von CO2 syn- wäre sehr wichtig. thetisches Erdgas erzeugen. Wasserstoff ist das Zwischenprodukt, Methan das Florian Schuller: Potentiale sowohl Endprodukt. Beide Produkte kann man im Blick auf neue Technik wie auf neu- speichern, anders als Wind oder Strom. es Denken. Da hat man einen riesengroßen positi-

ven C02-Effekt. Wir integrieren einen Bischof Gregor Maria Hanke: Neues kleinen Benziner, damit die Reichwei- Denken schafft auch neue Technik. Es ten länger sind, und sprechen dann von wird nicht umgekehrt gehen. Die Denk- einem bivalenten Antrieb. Ich bin vor muster müssen sich ändern, damit der ein paar Wochen einen monovalenten Weg für neue Techniken frei wird. Erdgasmotor gefahren: Das ist knackig und sportlich. Und über ein Modell mit Florian Schuller: Dann blicken wir regenerativen Energien tun wir auch et- mal auf neue Techniken des Antriebs. was Gutes für die Luftreinhaltung in Der Herr Bischof hat vorhin erzählt, er den Städten. Wir investieren in die al- hat inzwischen ein Erdgasauto bestellt. ternativen Antriebstechnologien, weil wir überzeugt sind, dass der Weg Schule Gregor Maria Hanke: Einen Audi machen wird. Und mittlerweile hören A4 g-tron. wir in punkto Erdgas immer häufiger: Erdgas sei unter Wert geschlagen. Florian Schuller: Er gehört in den Bereich der Verbrennungsmotoren. Florian Schuller: 900 Tankstellen Welche Zukunftsperspektiven gibt es soll es geben in ganz Deutschland. da? Rupert Stadler: Die Versorgung, die Rupert Stadler: Die Zwölfzylinder- Grundinfrastruktur sind nicht das Prob- Ära, die Zehnzylinder-Ära … – sie wird lem. Ich bin überzeugt, das wird gelöst

Bischof Gregor Maria Hanke: „Wenn ich auf unsere Straßen schaue: die Mobilität bringt uns an Grenzen. Wir können unmöglich noch mehr Land verbauen.“

Florian Schuller: Sie sprechen im- Florian Schuller: Im Silicon Valley mer von Urbanisierung. Klar, aber in wird gerne von „disruption“ gesprochen, Peking sieht es anders aus als in Titting anstatt von „evolution“, also von radi- oder sonstwo in Bayern. In der Provinz kal neuem Denken und nicht nur von wird das einzelne Auto wahrscheinlich einem Weiterentwickeln dessen, was noch länger gebraucht werden. da ist. Vielleicht bräuchten wir in der Kirche auch manchmal etwas „disrup- Rupert Stadler: Das ist ja auch gut tion“, um ganz neu denken zu können. so. Natürlich ist in ländlichen Gegen- Aber zurück zur Automobilindustrie. den das Mobilitätsbedürfnis anders zu Was würden Sie sich von ihr an „dis- befriedigen als in den großen Metropo- ruption“ wünschen, Bischof Gregor len, wo zehn oder fünfzehn Millionen Maria? Einwohner leben. In der Stadt ist der Wunsch groß, den Parkraum zu redu- Bischof Gregor Maria Hanke: Ich zieren, um mehr Lebensqualität zu er- bin, wie gesagt, weder Ingenieur noch möglichen und wieder mehr Grünflä- Zukunftsforscher, aber das Thema chen zu gestalten. Meine unternehmeri- bleibt die Nachhaltigkeit, weil an ihr sche Aufgabe mit meiner Mannschaft unsere Zukunft hängt. Herr Stadler hat ist, diese Trends wahrzunehmen, sie schon angedeutet, wie sehr man sich ernst zu nehmen und dafür zu sorgen, auch in den Konzernen mit gesellschaft- dass wir im Wettbewerb mitspielen. An- lichen Trends befasst. Ich habe ja vor dernfalls würde das Geschäft ein ande- Jahren, als ich noch in Plankstetten war, rer machen – und das wollen wir natür- die Entwicklung des Audi A2 erlebt, der lich nicht. dann leider nicht den Durchbruch ge- schafft hat, weil es eben eine Idee war, Florian Schuller: Man hat ausgerech- die zu früh geboren wurde. Damals war net, wenn Robotertaxis in Berlin die ich erstaunt, welche soziologischen Vor- Herrschaft übernehmen würden, reicht gänge hinter der Entwicklung eines Au- Florian Schuller: „Aber bietet nicht gerade Digitalisierung die ein Siebtel des bisherigen Verkehrs aus. tos stehen. Es ist aber auch sehr wich- Chance, Mobilität ein wenig zurückschrauben zu können? tig, dass die Technik einen intensiven Rupert Stadler: Allein in Berlin zum Dialog hält mit den verschiedenen Rich- Beispiel ist jeder Autofahrer ungefähr tungen und Strömungen. Das beginnt 20 Minuten am Tag unterwegs, um ei- bei unseren ökologischen Bewegungen, nen Parkplatz zu suchen. Da müssen geht weiter in die Soziologie, in die Zu- zu Ende gehen. Irgendwann wird es werden. Genauso wie bei der Elektro- wir doch unsere technische Intelligenz kunftsforschung. Es braucht ein ganz vielleicht auch keinen Achtzylinder mobilität. Wichtig ist: Wir dürfen nicht einsetzen und schauen, wie wir das op- großes Podium, damit so etwas wie eine mehr geben. Das wird je nach Markt si- nur auf eine Technologieart setzen. Wir timieren. Mit unserer Audi Urban Fu- Neuausrichtung auch im Sinne der cher unterschiedlich laufen, in Amerika werden in unterschiedlichen Märkten ture Initiative zum Beispiel haben wir Nachhaltigkeit gewährleistet ist. Ich anders als in China, aber wir stellen uns unterschiedliche Ansätze brauchen. viele Studien gemacht, in Südamerika, kann keine Rezepte ausgeben, aber auf solche Entwicklungen ein. Der Ver- Und am Ende möge der Beste gewin- Mexiko, den USA und auch in Asien. In Herr Stadler hat das auch schon ange- brennungsmotor wird eine Art Down- nen. São Paulo steht ein Kunde, wenn er mit deutet, es ist sehr viel weltweit und sizing erleben, das heißt, wir werden seinem Auto fährt, 26 Tage im Jahr im auch bei uns in der Gesellschaft in Be- schöne turboaufgeladene Vierzylinder- Florian Schuller: Dann kommen wir Stau. Das ist fast so viel wie der Jahres- wegung. An diese Graswurzelbewegun- Motoren haben, die in ein paar Jahren mal zum Thema Diesel. Wie sehen Sie urlaub unserer Mitarbeiter bei Audi. Es gen sollte man das Ohr legen. Das sind alle teilelektrifiziert sein werden, also dessen Zukunft? kann doch nicht unser Ziel sein, das gut oft so prophetische Zukunftszeichen. ausgestattet mit 48-Volt-Bordnetz und zu heißen. Also ist es unser Job, dass Ich nenne nur ein Beispiel aus der Ver- Rekuperation. Das wird ein Muss sein. Rupert Stadler: Die sehe ich relativ wir uns dieser sogenannten Pain-Points, gangenheit, die Entwicklung des Fax- Dann kommen natürlich die Plug-in- klar. Wir werden den Diesel in Europa dieser Schmerzpunkte, annehmen. Das Gerätes in Deutschland. Das hat man Hybride und, wie vorhin angesprochen, noch viele Jahre als Antriebstechnologie ist unser Terrain und da können wir nicht beachtet, es wurde outgesourced der Audi g-tron mit Erdgasantrieb. Wir brauchen. Der Diesel mit seiner EU- noch viel bewegen. und war dann kurze Zeit ein großes haben vor einigen Jahren im nieder- 6-Abgasnorm ist ein sauberes Produkt.

zur debatte 6/2017 49 Florian Schuller: Elektromobilität Wie gehen wir um mit den begrenzten wird immer als das große nachhaltige Ressourcen? Konzept vorgestellt, aber wird da ei- gentlich das Problem der Batterien mit- Bischof Gregor Maria Hanke: Letzt- gesehen? In der Produktion mit all den lich kommen wir diesem Gedanken nur Seltenen Erden aus dem Kongo oder dadurch bei, dass wir unseren Lebens- aus China, genauso wie deren Entsor- stil generell überdenken und auf den gung. Manchmal habe ich den Ein- Prüfstand stellen. Wollten wir unseren druck, es ist wie bei der Atomkraft. Man Lebensstil zur globalen Grundlage ma- führt etwas ein und weiß nicht, wie man chen, bräuchten wir 17 Erdbälle. Was es am Ende entsorgen kann. Batterien wollen wir eigentlich in Zukunft? Wir sollen angeblich nur 80.000, 100.000 müssen agieren immer auch im Blick Kilometer halten, nicht mehr. Also der auf jene, die an diesen Entwicklungen nachhaltige Traum schlechthin ist E- noch nicht partizipieren können, aber Mobilität auch nicht? ökonomisch an der Schwelle stehen. Viele Menschen wollen den Wohlstand, Rupert Stadler: Vor zwei, drei Jahren wie wir ihn vorleben, aber er ist nicht waren bei Elektroautos etwa 200 Kilo- multiplizierbar. Folglich müssen wir uns meter Reichweite darstellbar. Mittler- die Frage stellen: Was wollen und was weile können wir 500 Kilometer Reich- können wir uns leisten? Das ist nicht weite anbieten. Damit kommen wir den nur eine ökonomische Frage, sondern Kundenbedürfnissen schon sehr viel nä- fängt bei ganz einfachen Dingen an. her. Und parallel dazu haben wir uns Dass ich mich bei meinem persönlichen intern im Rahmen unserer Umweltakti- Lebensstil immer wieder auf den Prüf- vitäten die Aufgabe gestellt, dass auch stand stelle und frage: Brauche ich das? die Batterie recyclingfähig sein muss. Benötige ich das? Wie gehe ich mit den Wenn heute gesagt wird, mehr als Dingen, die ich habe, um? Das ist letzt- 80.000 Kilometer Laufleistung geht lich eine Frage der inneren Einstellung. Auch junge Menschen interessierten nicht, stimmt das einfach nicht. Wir ge- Früher hat man bei uns in der Kirche sich für das Thema Nachhaltigkeit und ben auf die Batterie acht Jahre Garan- von Askese gesprochen. Das war dann Mobilität – auch sie hatten sich vorher tie; nach acht Jahren dürfte sie mindes- lange Zeit verpönt. Vielleicht sollte man am Imbiss gestärkt tens noch zwischen 80 und 90 Prozent diesen Begriff neu erwecken und mo- Leistungsfähigkeit haben. Wenn dann derner füllen, mit Solidarität. Wir soll- eine Batterie zu uns zurückkommt, sa- ten ein solidarisches Leben führen. gen wir mal nach zehn Jahren, ist sie ja Das kann natürlich nicht uniform be- immer noch leistungsfähig. Damit lässt schrieben werden, und es wäre auch Daran ändert auch die Diskussion Florian Schuller: Welche Möglich- sich arbeiten – wir nennen das „das se- gar nicht sinnvoll, wenn man das top nicht, die wir seit gut zwei Jahren ha- keiten gäbe es für eine Diskussion zum cond life“ der Batterie. Wir sind der down gesellschaftlich verordnen wollte. ben. Wir mussten feststellen, dass Feh- Thema Diesel, die sinnvoll nach vorne Überzeugung, in Batterien sind so viele Gerade den Grünen hat man ja auch ler gemacht worden sind. Diese Fehler führt? Welche Gesprächspartner sollten interessante Materialien drin, die kön- vorgeworfen, dass sie die Verbieter- muss man aufarbeiten und aus ihnen dann nach vorne kommen? nen wir alle gut einer Wiederverwen- partei seien, weil sie zu viel regulieren müssen wir lernen. Wir haben ein dung zuführen. So wie uns das heute wollen. Regulierung alleine wird uns Mehraugenprinzip organisiert, damit Rupert Stadler: Ich sehe, dass zu- bei einem konventionellen Auto gelingt, nicht verändern, Veränderung geschieht diese Fehler nicht noch einmal passie- nehmend eine sachliche Diskussion wird uns das morgen bei einem Elektro- nur als eine persönliche Entscheidung, ren. Aber nur weil Fehler gemacht wor- startet. Und einer solchen stelle ich auto gelingen. basierend auf dem persönlichen Be- den sind, zu sagen: Der Diesel hat keine mich gern. Wir haben im September wusstsein, dass wir vernetzt leben, dass Zukunft, wäre unvernünftig, denn der am Rande der IAA gute Gespräche mit Florian Schuller: Bischof Gregor das, was ich heute hier in Deutschland Diesel ist nach wie vor auch gegenüber Bundeskanzlerin Merkel geführt, auch Maria, Sie haben vorher von der Be- verbrauche, auf Zukunft auch fehlen dem Benziner vom Wirkungsgrad her im Automobilverband, wo wir als Auto- grenztheit der Ressourcen gesprochen. kann. hocheffizient, bringt einen großen posi- mobilindustrie weitere Leistungsbei- tiven Beitrag zur CO2-Bilanz, die wir träge liefern müssen. Es hängt ja sehr mit 95 Gramm Flottendurchschnitt ab stark am Thema Luftreinhalterichtlini- 2020 zu erfüllen haben. 95 Gramm en. Wer darf eigentlich rein in die Stadt,

CO2, das heißt im Kern nichts anderes, wer nicht? Diese Diskussion hat die als dass unsere gesamte Audi-Flotte in Bürger massiv verunsichert, und wir Europa zusammen maximal vier Liter haben alle die Verantwortung, dieses Kraftstoff verbrauchen darf. Da muss Level an Verunsicherung wieder auf ein Audi A8 darunter schlüpfen kön- ein gerüttelt Maß Normalität zurückzu- nen, und ein Audi A7 als sportliches bringen und dafür zu sorgen, dass wir Auto. Das heißt, wir brauchen neben zu vernünftigen Lösungen kommen. Audi A8 und Audi A7 auch mehr und Dabei geht es um besseren Verkehrs- mehr Automobile, die null emittieren. fluss, um intelligente Verkehrsleitsyste- me, um verkehrsträgerübergreifende Florian Schuller: Und wer schafft Mobilität. dann die Null? Florian Schuller: Welche Lösungen Rupert Stadler: In heutiger Anrech- in München oder Stuttgart können Sie nungsfähigkeit ist das ein reines Elekt- sich vorstellen? Weniger fahren? roauto, ein Battery-Electric-Vehicle. Gleichzeitig müssen wir selbstverständ- Rupert Stadler: Weniger fahren ist lich immer auch auf die Energiebilanz keine Lösung für den, der fahren muss. und den Energiemix schauen. Wenn ein Ich war vor drei, vier Monaten mit Großteil des Stroms aus Braunkohle er- Ministerpräsident Kretschmann in zeugt wird, dann ist das ein Schuss in Neckarsulm. Wir haben ihm die neue die falsche Richtung. Aber die Politik Sechszylinder-Technologie gezeigt, wie hat zumindest den Weg bereitet, dass wir die NOx-Emissionen drastisch sen- wir uns in Richtung einer erneuerbaren ken. Wir haben auch über die Einfahr- Energieagenda bewegen. Mit Sonne verbote für Stuttgart diskutiert. Und und Wind und Wasser gibt es gute Ele- dabei waren wir bei vielen Punkten ei- mente, mit denen wir eine Grundver- ner Meinung: Ein Handwerker zum sorgung sicherstellen können. Oft wird Beispiel, der sich vor zwei, drei Jahren heute auch viel Energie verschwendet. ein Auto gekauft hat, vielleicht nicht in All das heißt, positiv formuliert: Wir ha- die Stadt rein fahren darf und deshalb ben noch viel Potenzial. Wie gesagt, ich kein Geschäft machen kann, ist jetzt stehe zum Diesel, wir brauchen ihn in natürlich total verunsichert. Diesen unserer Industrie und auch in Europa, Knoten müssen wir wieder lösen. Diese nicht zuletzt zur Erfüllung der gesetzli- Lösungen wollen wir gemeinsam mit chen Ziele. Was dann in zwanzig Jahren den Städten ausarbeiten. Die Bundes- passiert, das können wir vielleicht in regierung hat finanzielle Mittel bereit- zehn Jahren besser beurteilen. Heute gestellt, wir können Technologien an- Bischof Gregor Maria Hanke: „Ich trage Verantwortung auch für lasse ich lieber Daten und Fakten spre- bieten. Seit ein paar Monaten gibt es die nachkommenden Generationen, für deren Zukunft: Teilen chen, bevor ich mich in eine Pseudodis- zudem eine Umweltprämie. Es wäre kann etwas Erfüllendes sein.“ kussion hineinbegebe, die meiner Mei- wünschenswert, wenn bei dieser Initia- nung nach aktuell leider zu wenig Maß tive noch mehr mitmachen. und Mitte hat.

50 zur debatte 6/2017 Florian Schuller: Nochmals zurück entscheidend ist. Deshalb die Frage: zu den Antriebsalternativen. Die Brenn- Welche Erwartungen an die Politik soll- stoffzelle. Wie schaut es da aus? In dem ten wir als Gemeinschaft stellen? Sollte Bereich scheint Audi ziemlich weit vor- es klare inhaltliche Linien geben? ne zu liegen. Bischof Gregor Maria Hanke: Ich Rupert Stadler: Audi ist im Volkswa- halte es für gefährlich, wenn die Politik gen-Konzern bei zwei Themen im Lead: Detailwege vorschreibt, also sprich: beim automatisierten Fahren und beim Dieser oder jener Energieträger ja, die- Thema Brennstoffzelle. Wenn wir er- ser oder jener Energieträger nein. Das neuerbare Energien zur Verfügung ha- ist der beste Weg, um die Kreativität aus ben, ist Wasserstoff ein perfekter Ener- den technischen Labors und Ingenieur- gieträger. Deswegen haben wir die büros herauszunehmen. Die Politik Kernkompetenzen „Brennstoffzelle“ an muss Rahmenbedingungen vorgeben, unserem Standort in Neckarsulm veror- im Sinne der Nachhaltigkeit. Dazu tet. Schon in ein paar Jahren werden kann natürlich auch gehören, dass man die ersten Autos mit Brennstoffzelle Zeitlimits setzt. Aber die Politik darf fahren, in Kleinserie – erst einmal. sich nicht in die Details einmischen, Kleinserie deshalb, weil wir heute noch denn um die Umsetzung der Ziele von nicht wissen, wie die Infrastrukturent- Nachhaltigkeit muss sich der Fachver- wicklung für Wasserstoff vorbereitet stand kümmern. Wir sind doch immer wird. wieder überrascht, welche kreativen Lö- sungen möglich sind, wenn die entspre- Florian Schuller: Die Brennstoffzelle chende Freiheit des Machens gepaart ist ist ja vor allem für schwere und größere mit klaren Vorgaben und Rahmenbe- Wagen geeignet, wegen der großen dingungen. Tanks. Wird sie also für normale PKWs eher nicht in Frage kommen? Rupert Stadler: Ich kann dem nur beipflichten und gebe dazu ein Beispiel Rupert Stadler: Es ist immer eine aus dem Alltag. Wer in ein Restaurant Frage, wie viel ein Kunde bereit ist, für geht und sich etwas bestellt, muss nach- ein kleines Auto zu zahlen, und welche her die Rechnung dafür zahlen. Wenn Technologie dann für diesen Preis kos- die Gesellschaft sagt, sie möchte 95 tentechnisch darstellbar ist. Da bin ich Gramm CO2 haben, und wir bieten eben schon wieder bei einer ökonomi- Technologien an, dann erwarte ich auch schen Formel. Denn wenn unter dem von der Gesellschaft, dass sie diesen Strich nichts rauskommt und wir nicht Weg gemeinsam mit uns geht. Das Glei- Rupert Stadler: „Ich sehe die Zukunftsthemen sehr stark aus mal in der Lage sind, die Löhne unserer che gilt für die Politik. Wir werden, was der unternehmerischen Perspektive.“ Mitarbeiter zu bezahlen, können wir die Ladeinfrastruktur für Elektroautos das nicht machen. Das Beispiel vom anbelangt, auch als Industrie in Vorleis- Audi A2 ist ja vorher angeklungen. tung gehen, nur dann werden andere Konzeptionell und technologisch per- folgen. Sie müssen dann auch folgen. Es fekt. Und doch seiner Zeit weit voraus, bleibt die Frage: Sind die, die laut for- gegenüber den Bewegungen der 1980er, er ihnen gehört oder ob sie eingeladen so weit, dass der Kunde nicht mitging. dern, auch an vorderster Front dabei 1990er Jahre wieder etwas schläfrig ge- wurden vom Herrn Stadler. Die Frage und bereit, dafür ein bisschen mehr zu worden. ist berechtigt. Brauche ich das Auto? Florian Schuller: Im Moment fahren bezahlen? Da trennt sich dann die Viele dieser großen Autos sind Firmen- ja auf deutschen Straßen angeblich nur Spreu vom Weizen, wenn es um das Florian Schuller: Zugespitzt gefragt: autos. Wenn man die mit eigener Mün- 230 Autos mit Brennstoffzelle. Da ist ökologische Gewissen geht. Ist es unchristlich, sich am tollen Fah- ze bezahlen muss, ist die Bereitschaft noch viel Entwicklung nach oben mög- ren in einem A8 zu freuen? derer, die gerne genießen, nicht ganz so lich. Zu einem letzten Bereich: syntheti- Florian Schuller: Der eine Bereich groß. Das sage ich jetzt mal laienhaft, sche Kraftstoffe. Welche Rolle werden ist die technische Entwicklung, der an- Bischof Gregor Maria Hanke: Es Herr Stadler mag mich korrigieren. Ich die spielen? dere die staatlichen Vorgaben. Aber Sie, kommt darauf an, mit welcher Ge- jedenfalls würde mir keinen A8 kaufen Bischof Gregor Maria, haben vorhin schwindigkeit sie fahren. Das ist schon wollen. Aber ich habe ja vorhin gesagt, Rupert Stadler: Synthetisches Erd- noch die Askese angesprochen. Reicht das erste. Das zweite wäre die Frage, ob dass ich einen A4 g-tron bestellt habe. gas, also compressed natural gas, CNG, es, wenn die Technik immer weiter ent- haben wir heute bereits, es ist verfügbar, wickelt wird, wenn es neue Chancen und nicht nur in der Pilotanlage, son- gibt, wenn Rahmenbedingungen gesetzt dern auch real. Die Frage bleibt, was es werden von Seiten der Politik? Ange- sonst noch für Möglichkeiten der syn- sichts Ihrer Erinnerung daran, unsere thetischen Kraftstoffe gibt. Gibt es syn- Art zu leben sei nicht für alle und in alle thetischen Diesel, synthetisches Ben- Zukunft möglich, reicht es da, wenn zin? Kriegt man das aus Mikroben? Um Elektromobilität und Brennstoffzellen das zu erforschen, haben wir eine Ver- entwickelt werden, aber ansonsten le- suchsanlage in den USA mitfinanziert. ben wir weiter wie bisher? In dem Labor stellt man sich zum Bei- spiel auch die Frage: Kann man synthe- Bischof Gregor Maria Hanke: Ich tische Kraftstoffe zum Beispiel aus orga- bin der festen Überzeugung, wie schon nischen Stoffen wie Stroh herstellen? gesagt, dass wir bereit sein müssen, un- Relativ schnell haben die Forscher fest- seren Lebensstandard, unsere Lebens- gestellt, dass die Balance in diesem Bei- weise, unseren Konsum auf den Prüf- spiel nicht stimmen würde, denn bis stand zu stellen. Ohne diese Bereit- man alle Strohballen der Region zusam- schaft werden wir nicht in die Zukunft mengefahren hat, hat man zu viel CO2 gehen können. Der Ruf nach Nachhal- verschleudert. Bei CNG hätte man be- tigkeit impliziert auch die Bereitschaft, reits die Infrastruktur, die Tankstellen; darüber nachzudenken. Wir sehen mo- zudem die Motoren mit sauberer Tech- mentan ja auch, was sich global tut, wie nologie. All das wäre für Betriebswirt- viele Menschen aus Afrika sich auf den schaftler das Einfachste. Aber wenn es Weg nach Europa machen, zum Teil aus einfach wäre, könnte es jeder. politischen Gründen, aber zum Teil auch aus ökonomischen Gründen. Wir Florian Schuller: Ist es vor allem das leben in einer globalisierten vernetzten technische Problem der Herstellung? Welt und die Menschen dort können eben auch zu Hause am Smartphone er- Rupert Stadler: Ja, im Forschungs- leben, welcher Reichtum in Europa, in bereich gibt es viel, aber die Industriali- Nordamerika herrscht, und der ist für sierung macht uns massiv Schwierigkei- viele Menschen anziehend. Diese Bewe- ten. Für Anlagen im industriellen Maß- gung ist auch unserem Lebensstil ge- stab braucht man schon mal eine Milli- schuldet und muss uns fragen lassen: arde Euro oder mehr, um Mengen zu Können wir in Zukunft diesen Stil wei- produzieren, die auch Relevanz haben. ter pflegen? Ich gebe zu, ich habe keine Patentrezepte, aber es muss doch zu- Unsere Zeitschrift „zur debatte“ fand Florian Schuller: Wir sind ein viel- mindest einen gesellschaftlichen Dis- aufmerksame Leser. fältiges technisches Panorama abgegan- kurs geben, über den Standard unseres gen, und immer wieder kam der Hin- Lebens und was wir uns zukünftig noch weis, dass der ökonomische Faktor mit- leisten können oder wollen. Da sind wir

zur debatte 6/2017 51 Florian Schuller: War dieser A4 die müssen akzeptieren, dass die Menschen obere Schmerzgrenze bei Ihnen? unterschiedlich sind. Wir sollten des- halb versuchen, eine vernünftige soziale Bischof Gregor Maria Hanke: Naja, Balance zu finden. Es wird immer Men- ich bin auch schon A3 gefahren und schen geben, die wohlhabender sind war voll zufrieden. Aber für mich ist das als andere. Worauf es meines Erachtens Auto bei Dienstreisen nicht nur Fortbe- aber im Leben ankommt: Wir sollten wegungsmittel, sondern auch teilweise versuchen, Vorbild für andere zu sein – Arbeitszimmer, und beim A3 wird es und das hat jetzt erst mal mit dem Auto schon etwas eng. Ich bin kein Techni- nichts zu tun, sondern mit der Art, wie ker, aber ich habe mir eingebildet, dass man durch sein Leben geht. Vielleicht auch der Achsenabstand ein bisschen hat Papst Franziskus sein Auto-Beispiel kleiner ist, das heißt die Unebenheiten symbolisch dafür verwendet, so inter- auf den Straßen werden deutlicher beim pretiere ich das jetzt einmal. Ich versu- Tippen in den Laptop übertragen. Des- che, vorbildlich zu sein, in der Art und halb habe ich mich auch im Sinne mei- Weise wie ich auftrete, wie ich mit mei- ner Arbeitseffizienz entschlossen, den nen Mitarbeitern umgehe, wie ich führe, A4 zu wählen, und ich hoffe, dass das wie ich Verantwortung lebe. Mit 90.000 auch vom Ökologischen, Nachhaltigen Menschen, die bei uns beschäftigt sind, her ein vernünftiger Schritt und eine die Familien haben, hat man schon mal vernünftige Entscheidung war. die eine oder andere schlaflose Nacht. Insofern, so hoffe ich, werde ich meiner Florian Schuller: Zum Schluss je- Funktion gerecht, und andere haben weils eine persönliche Frage. Professor andere Funktionen und müssen diesen Stadler, Papst Franziskus hat am 7. Juli gerecht werden. 2013 gesagt: „Es tut mir weh, wenn ich einen Priester oder eine Nonne in ei- Florian Schuller: Bischof Gregor nem nagelneuen Auto sehe. So etwas Maria, Sie haben vorher erzählt, dass geht nicht.“ Und er meinte dann, dass Sie etliche Kurse mit Managern von zwar Autos notwendig seien; „doch es Audi gestaltet haben. Auf der Home- reicht auch ein demütigeres, nicht page von Audi liest man nach der Visi- wahr? Denkt daran, wie viele Kinder on „Wir begeistern durch nachhaltig in- verhungern.“ „Denn nur“, weiter Zitat dividuelle Premiummobilität“ als kon- Papst Franziskus: „ein kurzer Nerven- krete Ziele: „Rendite, profitable Markt- kitzel kann uns nicht wirklich glücklich durchdringung, Agilität, Unternehmens- machen.“ Professor Stadler, wenn Sie image.“ Wenn Sie in den Vorstand ein- die Chance hätten, mit Papst Franziskus geladen würden, über diese vier Ziele zu sprechen, was würden Sie ihm ant- zu predigen, worum würde es in Ihrer Bischof Gregor Maria Hanke: „Wollten wir unseren Lebensstil worten? Predigt gehen? zur globalen Grundlage machen, bräuchten wir 17 Erdbälle.“

Rupert Stadler: … jetzt dachte ich Rupert Stadler: Darf ich zunächst schon, mit ihm zu tauschen. Das wäre kurz ergänzen? Mir ist wichtig, dass schwieriger! Wenn ich mit Papst Fran- zum Ziel „Unternehmensimage“ die ziskus ins Gespräch kommen könnte, Reputation gehört, das heißt Integrität Bischof Gregor Maria Hanke: Ge- Fieberthermometer einer Firmenphilo- würde ich nichts unversucht lassen und beziehungsweise integres Handeln. Die- gen Rendite an sich ist nichts einzuwen- sophie. Und wenn dann am Ende etwas ihn zunächst einmal auf eine Testfahrt se Aufgabe ist Ansporn und Anspruch den. Jeder von uns möchte eine Form Erfolgreiches herauskommt, ist das ganz einladen. Ich muss gestehen, ich fahre zugleich, und das hat etwas mit Haltung von Rendite, das heißt: einen Lohn ha- und gar nicht schlecht. Der Weg, wie es gern mal in einem Audi TT RS, ob er da und Kultur zu tun. ben, mit dem er leben kann. Die Frage zustande kommt, der würde mein Inter- mitkommen würde, weiß ich nicht. Wir ist, von woher die Renditen kommen. esse auf sich lenken. Bei einer solchen Begegnung ginge es mir um die Firmenphilosophie, um die Florian Schuller: Ich bedanke mich Philosophie des Zusammenarbeitens, bei Ihnen beiden, Professor Stadler, um die Frage, was hat der Mitarbeiter, Bischof Gregor Maria, für das intensive, der Einzelne, für einen Wert. Eine ganz offene und ehrliche Gespräch. „ wichtige Frage für mich. Das ist der

In der ersten Reihe hatte neben dem amtierenden OB auch Ingolstadts früherer Oberbürgermeister Dr. Peter Schnell Platz gefunden. Rupert Stadler: „Wir werden den Diesel in Europa noch viele Jahre als Antriebstechnologie brauchen. Der Diesel mit seiner EU-6-Abgasnorm ist ein sauberes Produkt.

52 zur debatte 6/2017 Bischof Dr. Stefan Oster SDB Dank- und Bittwallfahrt nach Altötting 23. September 2017, von Heiligenstatt nach Altötting

Unter den Überbegriff „Begegnun- gen“ stellte Bischof Stefan Oster seine geistlichen Impulse, die er bei der Dank- und Bitt-Wallfahrt der Katholi- schen Akademie Bayern nach Altötting formulierte. Ausgehend von vier Evan- gelien-Texten über die Gottesmutter Maria erläuterte Bischof Oster, wie ver- schieden Begegnungen sein können und welche ganz unterschiedlichen Folgen sie haben können. Gläubige aus Mün- chen, aber auch aus dem Bistum Passau hatten sich am Samstag, 23. September 2017, eingefunden, um zusammen mit dem Bischof von Heiligenstatt zur Alt- öttinger Gnadenkapelle zu gehen, wo die Wallfahrt mit einer Eucharistiefeier endete. Die Wallfahrt im Passauer Bistum stand unter der Überschrift „Der Weg mit Maria – Gott in der Welt begegnen“. Nach der Begrüßung durch Pfarrer Her- mann Schächner, als Pfarrer von Burg- kirchen am Wald auch für Heiligenstatt zuständig, erzählte Erwin Schadhauser – in der Kirchenverwaltung der Experte für die Geschichte des Ortes – den Gäs- ten aus München, wie es zu diesem überregional weniger bekannten Wall- fahrtsort kam. Bereits seit 1373, also rund 100 Jahre früher als nach Altöt- ting, würden Pilger nach Heiligenstatt kommen. Auslöser der Wallfahrt war Beim Gottesdienst in der Gnadenkapelle Schuller ebenso zur Seite wie Jakob und die wundersame Wiederauffindung ei- standen Bischof Stefan Oster die beiden Franziska, die ministrierten, sowie ner gestohlenen Hostie. Die Kirche, ur- Konzelebranten Pater Norbert Schlenker Mesner Thomas Kowatschewitsch. sprünglich dem Leib Christi und heute (2.v.li.) und Akademiedirektor Florian den Unschuldigen Kindern geweiht, seit dem 15. Jahrhundert Grablege der Gra- fen von Tißling, erhielt 1629 ihre heuti- ge Gestalt. 2004 hätte man das Gottes- haus, das einen umfangreichen Reliqui- Maria, dass die menschliche Vernunft gen unter Leitung von Kapuzinerpater An der ersten Station hörten die Pil- enschatz beherbergt, dann umfassend immer mit dem Glauben in Bezug ste- Norbert Schlenker, dem stellvertreten- ger den Text von der Begegnung Marias renoviert, so Schadhauser. hen müsse, um positiv wirken zu kön- den Wallfahrtsrektor von Altötting, auf mit ihrer Base Elisabeth. Stefan Oster Bischof Stefan Oster ging in seiner Be- nen. Eine hörende Vernunft sei nötig, den rund sechs Kilometer langen Weg. sprach dabei vom Gelingen beziehungs- grüßung auf die Satzung der Akademie um Verstand und Herz zusammenzu- Für den Bischof war die Akademie- weise Misslingen von Begegnungen. Ge- ein, lobte deren intellektuelle Arbeit, führen. Wallfahrt insofern eine Premiere, als er lungene Begegnungen, wie die der bei- mahnte aber ausgehend vom Evange- Nach dem bischöflichen Wallfahrts- diese Strecke nach eigenem Bekunden den Frauen, könnten nachhaltige Ver- liumstext von der Verkündigung an segen machten sich die rund 80 Gläubi- das erste Mal zu Fuß ging. änderungen im Leben bewirken. Der

Jürgen Walter Petzold: „Heute will ich einfach auf der Wallfahrt mitgehen und mich tragen lassen. Ich Warum nehme ich an komme schon ewig in die Akademie, weil ich ihren der Wallfahrt teil? Versuch, den Raum, in dem wir leben, geistig zu erwei- Um Sie, liebe Leser, etwas an die- tern sehr schätze. So etwas ser Wallfahrt teilhaben zu lassen, ermöglicht den Blick über fragten wir zum einen neun Men- den Tellerrand hinaus.“ schen, die mit uns pilgerten, was sie bewegt hat, den Weg von Heiligen- statt nach Altötting mitzugehen. Le- Antje Bitterlich: sen Sie die kurzen Antworten zu den „Ich nehme an der heuti- Porträts. Die Bilder auf den kom- gen Wallfahrt teil, weil ich menden Seiten sollen Ihnen dann ei- nicht nur schon lange nach nen visuellen Eindruck vermitteln. Altötting wollte, sondern Alle Fotos auf diesen Seiten stam- mich auch über die Mög- men von Robert Kiderle. lichkeit freue, Bischof Os- ter zu begegnen, den ich für seine Bücher und als gro- ßer Fan von Don Bosco verehre.“

zur debatte 6/2017 53 Bischof, der während des gesamten Angelika Stoyhe: Wegs mitten unter seinen Mitpilgern „Der liebe Gott weiß, dass lief, hatte für die zweite Station als Text ich Gutes tu‘; Wallfahren die Begegnung Marias mit dem greisen gehört allerdings normaler- Simeon im Tempel ausgesucht. Diese weise nicht dazu – heute Geschichte zeige, dass man bei Begeg- wurde ich „mitgeschleppt“ nungen auch Unangenehmes, ja Schlim- und erlebe so meine erste mes erfahren kann, so Stefan Oster. Akademieveranstaltung. Marias Begegnung mit dem zwölfjähri- Zwar ist die Akademie mit gen Jesus im Tempel schließlich war der ihren 60 Jahren genauso alt dritte ausgewählte Evangeliums-Text. wie ich, dennoch hatte ich Diese Begegnung schildere einen Wen- bislang nur von ihr gehört. depunkt im Leben Jesu, als dieser an- In Zukunft möchte ich aber fange, zu lehren und zu leiten. Alle öfter kommen.“ Christen sollten dies als Motivation se- hen, als Jüngerinnen und Jünger für den Glauben zu leben. Abgeholt von Blasmusik, zogen die Pilger – Marienlieder singend und be- tend – dann vom Altöttinger Stadtrand zum Kapellplatz. Im benachbarten Rat- haus lud Bürgermeister Herbert Hofau- er die Wallfahrer zu einem kleinen Empfang, bei dem er in einer launigen Rede auf die enge Verknüpfung seiner Stadt mit den Pilgern hinwies, aber Karl Brandther: auch auf sonstige Vorzüge seines Hei- „Das ist eine besondere matortes. Willy Kamperschroer: Wallfahrt: Sie lässt mich In seiner Predigt bei der Eucharis- „Heute bin ich das erste das Schöne genießen – tiefeier legte Bischof Stefan Oster dann Mal auf einer Wallfahrt – nicht nur das gute Wetter, unter anderem dar, dass eine Wallfahrt und ich bin restlos begeis- sondern auch die interes- Symbol des christlichen Lebens sei, tert. Ich freue mich, dass santen Leute und die über- nämlich des Weges zu Gott. Und der Bischof Oster dabei ist und wältigenden Gespräche. Kern der christlichen Frohbotschaft, das empfinde eine tiefe Erfül- Beeindruckt bin ich auch Ziel des christlichen Lebens, sei die Ver- lung. Insofern kann ich nur von der Bodenständigkeit söhnung des Menschen mit Gott. Alles loben und bin wirklich des Bischofs. Außerdem Weitere im Leben, soziales und politi- froh, dass ich die Veranstal- werden wir ja nachher in sches Engagement, selbst Nächstenliebe tung im Internet entdeckt Altötting nicht nur von der seien Folgen eben dieser inneren Ein- habe. Denn bislang kannte Gottesmutter, sondern stellung. ich die Akademie vor allem auch vom Bürgermeister Akademiedirektor Dr. Florian Schul- für ihre tollen Vortragsver- empfangen.“ ler bezeichnete in einem Schlusswort anstaltungen.“ die Wallfahrt zum einen als einen Dank an Gott für dessen Schutz in der 60-jäh- rigen Geschichte der Akademie. „Aber Wolfgang Schleuppner: es ist auch eine Bittwallfahrt, Ausdruck „Meine Frau und ich sehen der Hoffnung, dass er uns auch in Zu- die Veranstaltungen im kunft beschirme“, so der Akademie- Rahmen des Akademiejubi- direktor. „ läums auch als Möglichkeit, die verschiedenen bayeri- schen Diözesen zu besu- chen. Deshalb waren wir unter anderem auch schon beim Gespräch zwischen Kardinal Marx und Prof. Andreas Voßkuhle auf Her- renchiemsee dabei. Damals wie heute haben wir viel Neues erfahren und erlebt.“

Sabine Kern: „Die Akademie habe ich über meine Freundin Astrid Schilling, die dort Studien- leiterin ist, kennengelernt. Bislang war ich hauptsäch- lich auf Veranstaltungen der Young Professionals, al- lerdings gehe ich gerne wandern und erinnere mich beim Wallfahren an früher, da ich das mit meinen El- tern oft gemacht habe.“

Sr. Irmtrud Schreiner, FCJ: „Ich komme gerade vom Ja- kobsweg, auf dem ich seit Maria Heininger: Jahren jeweils ein Stück „Ursprünglich komme ich gehe. Von der heutigen aus Passau, aber inzwi- Wallfahrt habe ich von einer schen wohne ich nur sechs Bekannten erfahren. Zwar Kilometer von Altötting war ich schon in Altötting, entfernt. Das Zugpferd der aber in Anbetracht der mor- heutigen Wallfahrt ist na- gigen Bundestagswahl scha- türlich der Bischof, der uns det es gewiss nicht, für die tolle geistliche Impulse gab. Welt zu beten. Die Akade- Mein Mann, mit dem ich mie schätze ich für ihre ak- heute hier bin, hat auch tuellen Themen, tollen Refe- eine berufliche Verbindung renten sowie für das schöne zu Heiligenstatt. Selbst den Gebäude. Und wenn man Weg bin ich schon mehr- mal selbst nicht kommen mals gegangen – allerdings kann, kann man ja in „zur bislang nur in umgekehrter debatte“ nachlesen.“ Richtung und bei Nacht.“

54 zur debatte 6/2017 Das Innere der Kirche in Heiligenstatt: 2004 wurde das Gotteshaus, das einen umfangreichen Reliquienschatz beherbergt, umfassend renoviert.

Bischof Oster und Pfarrer Hermann Schächner, als Pfarrer von Burgkirchen am Wald auch für Heiligenstatt zuständig.

Der Bischof und der Akademiedirektor Gebete, Lieder und freuten sich sichtlich auf die gemeinsa- Zuhören schon in der me Wallfahrt. Wallfahrtskirche von Heiligenstatt.

Die Pfarrkirche in Heiligenstatt, ursprünglich dem Leib Christi und heute den Unschuldi- gen Kindern geweiht und seit dem 15. Jahrhundert Grablege der Grafen von Tißling, erhielt 1629 ihre heutige Gestalt.

zur debatte 6/2017 55 Schon auf dem Weg: Noch ist der Kirchturm von Heiligenstatt zu sehen.

Seine erste Statio auf dem Pilgerweg hielt der Bischof noch in der Heiligen- stätter Kirche.

Auch Maisfelder waren ständige Begleiter der Pilger.

Erwin Schadhauser – in der Kirchenver- München, wie dieser überregional waltung der Experte für die Geschichte weniger bekannte Wallfahrtsort in der des Ortes – erzählte den Gästen aus Nähe von Altötting entstand.

Gegen halb zwei brach die Pilger- gruppe von Entlang der Bahnstrecke von Mühldorf Heiligenstatt auf. nach Altötting …

56 zur debatte 6/2017 Ein Teil des Weges führte entlang von Wiesen und schattenspendenden Bäumen. Kapuzinerpater Norbert Schlenker und die Gruppe an und wirkte als Vorbeter, Bischof Oster: Der stellvertretende Vorsänger und fand noch Zeit, auf dem Wallfahrtsrektor von Altötting führte Weg Besonderheiten zu erklären.

Die Pilger beteten nicht nur auf dem Weg, sondern auch während der Sehr persönlich, gestützt auf Texte des Stationes. Lukasevangeliums, gestaltete Bischof Stefan Oster seine Stationes.

Kurz vor der ersten Statio auf dem Altötting ist in Sicht. Rund zwei Stun- Bischof Stefan Oster drei Stationes Pilgerweg. den dauerte die Wanderung, auf der hielt.

Altötting ist in Sicht. Rund zwei Stunden dauerte die Pilgerfahrt, auf der Bischof Stefan Oster drei Stationes hielt.

Am Ziel angekommen: Die Pilger mit … der Regionalzug überholt den Bischof Stefan Oster auf dem Altöttin- Pilgerzug. ger Kapellplatz.

zur debatte 6/2017 57 Singen und Beten vor der Gnadenka- Für seine organisatorische Arbeit Christian Hörmann ebenfalls ein pelle: auch hier leitete Pater Norbert an. bekam Akademie-Studienleiter Dr. Geschenk vom Bürgermeister.

Eine Musikkapelle empfing den Pilgerzug. Begleitet von der Musik ging es betend und singend durch den Ort.

Und auch die Pilger mussten nicht ohne Gabe das Rathaus verlassen: Für alle gab es Weihrauch.

Altöttings Bürgermeister Herbert Hofauer und der Bischof unterhielten sich im Rathaussaal bei einem Glas Orangensaft.

Ein Teil der Pilger fand während der Messe Platz im Innenraum der Gnadenkapelle, die anderen feierten den Gottesdienst im Vorraum.

Der Marienaltar in Bürgermeister Herbert Hofauer hatte in ein Porträt von Papst em. Benedikt der Altöttinger den Rathaussaal geladen, in dem auch XVI. hängt. Gnadenkapelle.

58 zur debatte 6/2017 Erzbischof Dr. Ludwig Schick und Günter Nooke Ein Akademiegespräch über „Afrika und unsere Verantwortung“ 13. Oktober 2017, Iwalewa-Haus der Universität Bayreuth

Florian Schuller: Herr Erzbischof, wann waren Sie das erste Mal in Afrika und warum?

Erzbischof Ludwig Schick: Das erste Land Afrikas, das ich besucht habe, war das heute sehr bekannte und stark kriti- sierte Simbabwe. Das war 1987 oder 1988. Mein Anliegen war damals, einen Freund zu besuchen. Als ich nebenamt- licher Kaplan in einer Pfarrei in der Di- özese Fulda war, wurde einer meiner Ministranten Jesuit. Jesuiten müssen ja gehorchen und dürfen nicht wählen, was sie werden und wohin sie gehen sollen. Aber sie dürfen den Wunsch ha- ben, in die Mission zu gehen, und so kam er nach Simbabwe, hat dort viele Jahre gelebt und wurde vor zwei Jahren nach Mosambik versetzt. Damals war Simbabwe ein blühendes Land. Ich war später noch oft in Simbabwe, heute ist es ein ziemlich heruntergekommenes Land.

Florian Schuller: Herr Nooke, Sie sind Beauftragter der Bundesregierung bzw. der Bundeskanzlerin für Afrika, aber angebunden an das Bundesminis- terium für Wirtschaftliche Zusammen- arbeit. Was tut ein Beauftragter der Bundeskanzlerin für Afrika? Erzbischof Ludwig Schick von Bam- Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin Günter Nooke: Es war eine Idee der berg, Akademiedirektor Dr. Florian (v.l.n.r.), diskutierten engagiert im Bundeskanzlerin, weil 2010 beim dama- Schuller und Günter Nooke, der Iwalewa-Haus der Universität Bayreuth. ligen G-8-Treffen alle Staats- und Regie- rungschefs einen besonderen Beauftrag- ten für Afrika hatten. So war es nötig, für die Regierung die Afrikapolitik zu koordinieren. Das war die eine Seite. Land macht Ihnen am meisten Hoff- Jetzt zu Simbabwe. Es ist ein wunder- gebildeten Menschen verlassen das Die andere ist, dass ich im Ministerium nung, und welches Land raubt Ihnen schönes Land mit herrlichen Land- Land. Das war in Simbabwe so. Man für Wirtschaftliche Zusammenarbeit bei den Schlaf? schaften, es hat genügend fruchtbare ging entweder in die Südafrikanische Minister Gerd Müller angesiedelt bin. Flächen, um für alle Menschen dort die Republik, das Nachbarland, das einiger- Ich bin seit dieser Legislaturperiode, Erzbischof Ludwig Schick: Das hat nötigen Nahrungsmittel zu erzeugen. Es maßen stabil war, was es jetzt auch also seit 2014, auch dort der Beauftragte natürlich auch etwas mit den persönli- gibt die Sambesi-Fälle, die früher viel nicht mehr ist, oder man ging gleich ins für Afrika. Insofern habe ich innerhalb chen Erfahrungen zu tun. Aber ich wür- mehr Tourismus anzogen als heute. englischsprachige Ausland, nach Eng- des Hauses Zugriff auf Finanzierungs- de zunächst einmal sagen: Afrika gibt es Man hat in Simbabwe, und das ist der land oder nach Amerika. möglichkeiten und bereite nicht nur die überhaupt nicht. Afrika ist ein Konti- größte Reichtum, Menschen, die jung, Reisen der Kanzlerin vor. nent mit 54 Ländern, ich habe mehr als dynamisch, auch sehr taff sind, die gut Florian Schuller: Herr Nooke, wel- die Hälfte davon besucht. Und diese 54 arbeiten können. Es ist alles vorhanden, ches Land macht Ihnen am meisten Florian Schuller: Hatten Sie schon Länder sind in sich nochmal sehr unter- was ein Land braucht, um sich entwi- Sorge? früher eine Vorliebe für Afrika? schiedlich. Wenn man das erst einmal ckeln zu können und nach vorne zu sieht, kann man besser damit umgehen. kommen. Und was hat das Ganze ver- Günter Nooke: Vielleicht muss man Günter Nooke: Ich war zuvor von Aber ich will Ihre Frage gern beantwor- hindert oder zurückgeworfen? Eine Re- sagen, dass ein so großes Land in der 2006 bis 2010 Menschenrechtsbeauf- ten: Welches Land macht mir am meis- gierung unter Mugabe, die immer abso- Mitte Afrikas, wie es die Demokratische tragter der Bundesregierung. Das The- ten Sorgen? Das ist Simbabwe. Dort lutistischer geworden ist und sich nicht Republik Kongo darstellt, zurzeit unter ma der Menschenrechte in Afrika hat kenne ich sehr viele Menschen, habe mehr für das Volk interessiert, sondern der Regierung von Präsident Kabila, die schon damals für mich eine sehr große viele Freunde. Ich hatte ein blühendes die eigene Klientelpolitik betreibt. Um sich an keine Absprache mehr hält und Rolle gespielt. Als Afrikabeauftragter Land erlebt und merke jetzt, wie es her- bestimmte Gruppen der Bevölkerung zu einfach an der Macht bleibt wie eben geht es für mich jetzt allerdings nicht unter kommt. Man kann an Simbabwe befriedigen, wurden andere Kreise und viele andere Staats- und Regierungs- nur um Menschenrechte, sondern auch auch erkennen, wie Wirtschaftsentwick- Schichten ausgeschlossen. Es war sicher chefs in Afrika, für die Gesamtstabilität um Wirtschaft, Rohstoffe, Frieden und lung fehl geht, wie ein Land zurückge- sehr unklug, die weißen Farmer einfach des Kontinents besondere Bedeutung Sicherheit, Kultur. worfen wird und wie Menschen da- aus dem Land zu jagen und das Land hat. Denn die neun Nachbarstaaten wä- durch an den Rand des Existenzmini- zu verteilen, ohne dass das nötige ren alle betroffen, wenn es dort zu Florian Schuller: Gibt es auch einen mums, ja in Not und Elend, geraten. Knowhow für Ackerbau und Viehzucht Kämpfen kommt. Wir haben das kaum Beauftragten der Bundeskanzlerin für da gewesen wäre. Was eine Gesellschaft mitbekommen in Europa. Bisher sind Asien oder Lateinamerika? Florian Schuller: Könnten Sie noch zerstört, ist dann auch die Missachtung dort vier oder fünf Millionen Menschen ein paar der Schwierigkeiten und der der Menschenwürde und der Men- umgekommen. Wir brauchen Regierun- Günter Nooke: So jemanden haben Ursachen nennen, warum dies so ge- schenrechte. Bis heute ist die Rechtssi- gen in den afrikanischen Staaten, die wir nicht, weil man eben gesehen hatte, kommen ist? tuation so, dass man wegen irgendetwas sich um ihre eigene Bevölkerung küm- dass Afrika unser Nachbarkontinent mit ins Gefängnis kommen kann, ohne dass mern wollen. Dann können wir ihnen besonderen Herausforderungen ist. Erzbischof Ludwig Schick: Nochmal es zu einem Gerichtsverfahren kommt. auch Unterstützung geben. Aber wenn grundsätzlich, wir sehen immer Afrika Bei solchen Missständen hat zum es nur darum geht, an der Macht zu Florian Schuller: Wenn man über als schwarz. Aber Afrika ist bunt, auch Schluss niemand mehr rechtes Interes- bleiben, dann stellt sich natürlich die Afrika spricht, dann muss man sich im- im übertragenen Sinn. Es gibt ganz viel se, am Aufbau der Gesellschaft mitzu- Frage: Stabilisiert das Geld der deut- mer klar machen, das reicht von Nami- Reichtum, ganz viele Möglichkeiten. wirken. Die das einigermaßen können, schen Steuerzahler, das wir als Ministe- bia bis Ägypten. Welches afrikanische Und die Länder sind sehr verschieden. die intelligentesten, die am besten aus- rium ausgeben, nicht die falschen Leute?

zur debatte 6/2017 59 vielen anderen Ländern, die manchmal Erzbischof Ludwig Schick: Was Herr über Jahrzehnte an der Macht hängen. Nooke sagt in Beziehung auf die Bil- Es stimmen also ganz viele Vorausset- dungssysteme, sehe ich auch so. Aber es zungen, und wenn ich viel Geld zu sind viele Lehrer in die Südafrikanische vergeben hätte, würde ich deshalb in Republik weggegangen. Dennoch, die den Senegal investieren, weil sich das Infrastruktur der Bildung ist vorhanden. lohnt. Ich finde allerdings, dass sie im Augen- blick nicht sehr gut funktioniert. Florian Schuller: Herr Nooke, wel- ches Land macht Ihnen Freude? Florian Schuller: Sie sprechen von Simbabwe? Günter Nooke: Ich würde mich ger- ne, Herr Schuller, um die Antwort drü- Ludwig Schick: Ja, von Simbabwe. cken. Botswana wäre so ein Land gewe- Aber wir wollten ja allgemein nochmal sen. Ich möchte aber an einen anderen über Bildung sprechen. Ich bin der fes- Gedanken anknüpfen. Es ist zu einfach, ten Überzeugung, dass die Schultasche „gut“ oder „schlecht“ immer nur an der wichtiger ist als die Aktentasche. Und Regierung fest zu machen. Manchmal in Afrika tragen viele die Aktentasche, sind die Guten nicht ganz so gut, wie ohne dass sie jemals die Schultasche wir denken, oder bleiben es nicht, und richtig getragen haben. Das ist ein Pro- die Schlechten sind nicht ganz so blem mit den Eliten, aber nicht nur in schlecht, wie wir denken, und bleiben Afrika. Sie sind oft ein großer Entwick- es auch nicht. Die Dynamik in den ein- lungshemmer. Wenn man Entwicklung zelnen Ländern und manchmal sogar in voran bringen will, muss man vielen einzelnen Regionen ist viel größer als den Schulranzen geben und vielleicht wir vermuten. Zum Beispiel hat es in auch bezahlen. Es ist wichtig, zunächst Gambia jetzt gerade eine ganz gute Ent- in die Grundschulausbildung viel Geld Der Bamberger Erzbischof Ludwig wicklung gegeben. zu stecken, damit sich Bildung verbrei- Schick und sein Amtsbruder Joachim Ich will zurückkommen auf Simbab- tet, und sich daraus dann die Oberschu- Ouédraogo, Bischof von Koudougou in we. Ich hatte vor einem Jahr die Mög- len und die Universitäten entwickeln. Burkina Faso, im Gespräch mit lichkeit, am 3. Oktober, dem Tag der Auch meine Mitbrüder im Bischofsamt Teilnehmern der Veranstaltung. Deutschen Einheit, bei einem Empfang zielen sehr oft gleich auf die Universitä- der deutschen Botschaft mit dem Vize- ten. Das ist verständlich, weil man mit präsidenten und Politikern der Oppo- den Universitäten mehr Renommee er- sition, aber auch mit jungen Leuten zu reichen kann. Wir sprechen auch vom sprechen. Klar, das Land ist herunter- Trickle-down-Effekt: Wir machen oben Dieses Problem macht gerade die Arbeit Florian Schuller: Und welches Land gewirtschaftet, aber das Bildungssystem was, das setzt sich dann allmählich in Afrika immer wieder zu einer großen bereitet Ihnen am meisten Freude? ist immer noch ziemlich gut im Ver- nach unten durch. Ich habe schon ein Herausforderung. Wir berauschen uns gleich zu vielen anderen afrikanischen paar Mal gesagt: Wir sollten auch mal immer an den Wirtschaftsdaten, dass Erzbischof Ludwig Schick: Wenn Staaten – fast noch besser als in Süd- das Trickle-up beachten. Mit dem Trick- zum Beispiel von den zehn am schnells- ich die Wirtschaftsdaten sehe, würde afrika. Sie leben von der Substanz, aber le-down sind wir zum Teil gescheitert. ten wachsenden Volkswirtschaften der ich auch Botswana nehmen. Aber ich es gibt noch ein starkes Bewusstsein Das wissen wir aus vielen Bereichen, Welt sechs in Afrika liegen, allerdings gehe jetzt doch in ein anderes Land. zum Beispiel der Eltern. Man bezahlt und gerade im Bildungsbereich bin ich auf sehr niedrigem Ausgangsniveau und Das ist der Senegal. Aus dem Senegal dort selbst für die Grundschule 20 Dol- der Überzeugung: Man muss eine allge- mit weiterhin hohem Bevölkerungs- kommen sehr viele Flüchtlinge zu uns. lar – und das drei Mal im Jahr. Das ist meine Basis schaffen und dann natür- wachstum. Man kann genauso sagen: Das ist aber kein Indikator dafür, dass viel Geld für viele Menschen in Sim- lich die Begabten fördern, damit sie von Die ersten sechs Länder mit dem größ- es dem Land schlecht geht. Das kann babwe. Es gibt dort eine junge Schicht unten nach oben kommen. Gott sei ten Ungleichverhältnis von Reich und sogar ein Indikator sein, dass es dem von Menschen, die gar nicht alle zur Dank hat sich die Kirche insgesamt bei Arm nach dem sogenannten Gini-Ko- Land gut geht, dass nämlich viel Bil- Mugabe-Partei oder zur Opposition ge- ihrer Missionsarbeit in zwei Bereichen effizienten befinden sich auch alle in dung angeboten, aber keine Jobs kreiert hören, sondern mir über ethnische besonders hervorgetan, das sind die Bil- Afrika. Zum Beispiel zeigt sich in Bots- werden, und dann die gut Ausgebilde- Grenzen hinweg, junge Frauen und jun- dung und das Gesundheitswesen. Beide wana, wo es wirtschaftlich ziemlich gut ten nach draußen gehen. Mir macht ge Männer, sagten: „Wir wollen die Al- Faktoren hängen erstens eng zusam- läuft, ein immenser Unterschied zwi- der Senegal auch deshalb Freude, weil ten nicht mehr. Wir haben die Nase menhängen und sind zweitens ganz schen Arm und Reich. In Namibia, der dort Entwicklung stattfindet. Das Bil- voll, das kann so nicht weiter gehen. fundamental für jede Entwicklung. früheren deutschen Kolonie, geben wir dungssystem ist am Wachsen, auch die Wir wollen einfach, dass eine verant- pro Kopf das meiste Geld aus und ha- Universitäten, oder landwirtschaftliche wortliche, andere Politik gemacht wird.“ Florian Schuller: An diesem Punkt ben es trotzdem nicht geschafft, die im- Projekte. Auch die Regierung ist eini- Wenn man sich bewusst macht, wel- will ich Bischof Joachim Ouédraogo aus mense Ungleichheit in der Einkom- germaßen demokratisch; es gibt keinen che Rolle die Alten in Afrika spielen, Koudougou ins Spiel bringen. Wie mensverteilung zu beseitigen. Präsidenten wie solche in Nigeria und geht das sehr stark an das natürliche schaut es denn bei Ihnen in Burkina Sozialgefüge heran. Man setzt nicht Faso aus mit dem Verhältnis von mehr darauf, dass andere es für einen Grundbildung und Universitätsbildung? machen, sondern dass man bereit ist, sich selber einzubringen. Die haben sich Bischof Joachim Ouédraogo: Danke dort mit den neuen digitalen Technolo- für diese Frage. In Burkina Faso gibt es gien vernetzt. Wenn diese jungen Men- eine sehr hohe Rate von Analphabeten schen sagen würden: Wenn Mugabe – 64 Prozent. Wir machen aber große stirbt oder nicht mehr an der Macht ist, Fortschritte, sowohl der Staat als auch wollen wir einfach mal 14 Tage diskutie- die privaten Träger, um Grundschulen ren, wie es mit dem Land weiter gehen in vielen Gegenden unseres Landes auf- soll, dann sollten nicht wieder alle Bot- zubauen. Und auch die Zahl der weiter- schafter und internationalen Organisa- führenden Schulen wächst langsam. Al- tionen sagen: Das ist jetzt ein Macht- lerdings sind in Burkina Faso auch 60 vakuum. Sondern es könnte sein, dass Prozent der Bevölkerung unter 35 Jahre man mit einer freien Diskussion einen alt. Daher können nur sehr wenige das ziemlichen Pusch nach vorne bekäme, höchste Bildungsniveau erreichen. Und und plötzlich würde aus einem Land, selbst wenn sie es erreichen, gibt es kei- das jetzt so negativ da steht, schnell ein ne Arbeit für sie. echtes Erfolgsmodell. Viel hängt von den inneren Strukturen ab. Es lohnt Günter Nooke: Man muss sich wirk- sich immer, erstens einzelne Länder ge- lich bewusst machen, wie anders Afrika nau anzuschauen, und zweitens zu fra- ist. Wir fangen immer gleich bei Bildung gen: Welches Potenzial ist da? Das kön- an. In vielen Ländern herrscht extreme nen einerseits die landwirtschaftlichen Armut; und wenn ich bei vielen Kin- Flächen oder das Industrieentwick- dern Mangelernährung feststellen muss, lungspotenzial sein, aber eben auch die können wir selbst in der Grundschule jungen Menschen, die gut ausgebildet oder später nicht mehr das erreichen, sind. In Simbabwe gibt es gerade bei was durch Bildung möglich ist. Armut den Jüngeren ein Bewusstsein, sich für macht krank. Deshalb bleibt die Be- ihren eigenen Staat verantwortlich zu kämpfung extremer Armut, die manch- fühlen. mal auch bei der Entwicklungszusam- menarbeit belächelt wird, natürlich Prof. Dr. Stefan Leible, Präsident Florian Schuller: Sie haben beide auf wichtig. Es hilft Menschen dadurch, der Universität Bayreuth, sprach ein das Thema Bildung Bezug genommen. dass sie nicht retardiert aufwachsen, Grußwort an die Teilnehmer. Aber Sie waren etwas skeptischer bei sondern ihr Potential als Persönlichkeit Simbabwe, Herr Erzbischof? ausschöpfen können; das ist schon mal

60 zur debatte 6/2017 der erste Schritt. Die Grundschule ist si- cher wichtig. Als Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind wir aber besonders in den letzten drei, vier Jahren wieder ver- stärkt in berufliche Bildung eingestie- gen. Erzbischof Schick hat es ja gesagt, man will alle möglichst mit weißem Kit- tel und nicht diese Blaukragen. Man möchte nicht arbeiten, sondern hinterm Computer im Ministerium sitzen. Aber am Ende wird eine Wirtschaft nur auf- gebaut, wenn auch ein paar Leute da sind, die arbeiten können und eine Be- rufsausbildung haben. Deshalb investie- ren wir relativ viel in diesem Bereich. Auch vom Herrn Bischof aus Burki- na Faso wurde gesagt: Wenn man eine Ausbildung oder ein universitäres Studi- um abgeschlossen hat, möchte man na- türlich auch Arbeit haben und das, was man gelernt hat, einsetzen. Deshalb ist Bildung ein Migrationsfaktor, wenn hin- terher nicht die Möglichkeit besteht, ad- äquate und angemessen bezahlte Arbeit zu finden. Deshalb versuchen wir, mehr Infrastruktur zu schaffen, damit private Firmen sich ansiedeln können. Es ist richtig, die ganz Armen haben gar kein Geld, um nach Europa zu kommen. Die werden bestenfalls in ihrem eigenen Land vertrieben oder schlimmstenfalls ins Nachbarland. Die es sich leisten können, kommen eher aus dem Sene- gal, Ghana oder Nigeria, die sammeln dann auch die für eine Flucht notwen- digen 5000 Euro oder mehr im Dorf. Das Geld bekommt natürlich der, der am besten ausgebildet ist, weil er die höchste Rendite verspricht und sie als Geldrücküberweisung in das Dorf leis- ten kann. Das ist ein ziemlicher Teufels- kreis, und deshalb braucht es einfach an vielen Stellen Prosperitäts- oder Indus- triezonen, wo sich wenigstens einiges entwickelt.

Florian Schuller: Bildung kann also Foto: Pressestelle Erzbistum Bamberg / Hendrik Steffens auch gefährlich sein? „Farben des Senegal – Kunst aus der kirche. Einige Ausstellungsstücke Bamberger Partnerdiözese Thiés“ heißt waren auch während der Diskussion im Günter Nooke: Gefährlich würde ich die Ausstellung der Stabsstelle Welt- Iwalewahaus zu sehen. nicht sagen. Man sollte nur nicht mei- nen, wenn alle gebildet sind, dann ha- ben wir die Probleme in Afrika gelöst. Da hängt viel mehr dran. Da ist einmal das Thema Religion, ganz allgemein im Dafür ist Bildung conditio sine qua non, weitesten Sinne Kultur und Tradition. ohne die geht es nicht. Wir sprechen oft Wir haben im Ministerium extra eine von dualer Bildung, das ist richtig; denn Abteilung installiert, Entwicklung und mit Bildung müssen gleichzeitig Jobs Religion. Man muss sich bewusst ma- kreiert werden. Bildung soll helfen, ei- chen, wie oft noch lokale Prägung oder nen Beruf auszuüben, der mich und lokale Religion oder Tradition das ge- meine Familie auch ernährt. Aber ich sellschaftliche Leben in den Dörfern be- habe immer gesagt, es muss eine triale stimmen, und wie schwer es für junge Bildung geben. Das hat in Afrika nicht Leute ist, sich gegen Ältere zu stellen. immer gut funktioniert, auch nicht in Nicht zuletzt deshalb sind manche unseren kirchlichen Schulen. Das dritte Staatchefs in Afrika länger als 30 Jahre Modul der Bildung muss Bildung in an der Regierung: weil man eben den Ethik, in Moral, in Demokratie etc. Alten nicht stürzt. sein. Auch bei Regierungsverantwor- tungsträgern, die in kirchlichen Schulen Florian Schuller: Und worin besteht groß geworden sind, mangelt es daran. nun unsere konkrete Verantwortung? Ein Zweites, die Gesundheit. Herr Wie sollen wir reagieren? Herr Erzbi- Nooke hat es auch schon gesagt. Ge- schof, Sie haben vorhin als die beiden sund sind viele in Afrika deshalb nicht, Grundherausforderungen Bildung und weil sie nicht genügend Nahrung haben. Gesundheitssystem genannt. Muss un- Wir müssen sehen, dass wir die Land- sere Mitverantwortung auch noch in wirtschaft fördern und zwar vor allen anderen Bereichen zum Tragen kom- Dingen das sogenannte Family-Farming, men? also die kleinteilige Landwirtschaft, die Familien zumindest die Basisernährung Erzbischof Ludwig Schick: Ich sehe garantiert, auch wenn man immer noch schon noch andere Bereiche. Unsere etwas dazu kaufen muss. Dazu ist es na- kirchliche Entwicklungshilfe stand ja türlich wichtig, dass den einzelnen immer unter der Maxime: Hilfe zur Menschen und Familien auch ihr Land Selbsthilfe. Man darf nicht paternalis- belassen wird, und sie es bewirtschaften tisch andere in Abhängigkeit halten, können. Deshalb muss geklärt sein, auch wenn man es noch so gut mit ih- wem welches Stück Land gehört. Das nen meint, sondern es braucht eine ist ein ganz großes Problem in Afrika. partnerschaftliche Entwicklungshilfe. Zum Beispiel die Kataster, die wir hier Das bedeutet, dass man den Menschen in Europa haben, fehlen zum Teil völlig, hilft, auf die eigenen Beine zu kommen, und so kann man Menschen quasi auch die Verantwortung für ihr Leben, für ihre noch zu Recht ihres Landes berauben. Erzbischof Ludwig Schick: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Gesellschaft, für ihre Länder, auch für Das muss anders werden. Wir müssen die Schultasche wichtiger ist als die Aktentasche.“ den Kontinent, in die eigenen Hände zu helfen, dass in allen Ländern Afrikas nehmen und etwas voran zu bringen. Kataster erstellt werden. Ein weiteres

zur debatte 6/2017 61 Das Problem ist, Sie könnten viel Geld wächst, solange von außen etwas zu- verdienen, indem Sie Gurken und To- fließt, wenn Rohstoffe gefunden und maten in Afrika für Afrika produzieren, verkauft werden oder Rücküberweisun- aber selbst das passiert nicht. Wir müs- gen kommen oder Entwicklungshilfe sen uns bewusst machen, dass es vor geleistet wird, ist das zu wenig. Ich wür- Ort sehr schwer ist, erfolgreiche Famili- de die beiden Nachbarkontinente Euro- enbetriebe oder auch ein kommerzielles pa und Afrika gerne als Weggefährten Farming mit etwas Technisierung, also verstehen. Wir machen gemeinsam den mit Maschinen und Speichertechnik in einen oder anderen Schritt in die richti- Afrika für die afrikanischen Märkte zu ge Richtung, vielleicht müssen wir auch betreiben. Das hat ganz verschiedene den einen oder anderen Schritt, den wir Gründe. falsch gemacht haben, wieder zurück- gehen. Florian Schuller: Welche Gründe hat Aber wir sind aufeinander angewie- es? sen. Ohne, dass wir die Probleme in Af- rika gemeinsam lösen, wird Europa Günter Nooke: Vor allem, dass es zu nicht überleben. Wenn sie nur an den wenige Menschen gibt, die das entspre- Senegal denken, der vorhin positiv ge- chende Knowhow haben. Ich habe im nannt wurde: Acht von zehn jungen Kongo junge deutsche Männer, mit 22, Männern im Senegal wollen nach Euro- 23 Jahren, getroffen, die hatten vorher pa, wenn sie könnten. Ist das die Reali- in Deutschland eine kleine Computer- tät, brauchen wir nicht mehr über Ober- firma und als sie gemerkt hatten, dass grenzen reden, sondern wir haben ein sie damit nicht reüssieren, sind sie in ganz anderes Problem. Die Kanzlerin den Kongo gegangen. Auf die Frage: hat gesagt: Das Wohl Afrikas liegt im „Was macht ihr hier?“ kam die Ant- Interesse Deutschlands und Europas. wort: „Naja wir bauen Tomaten oder Auf das Interesse Deutschlands legt Gurken an, gehen auf den Markt, eine Bundeskanzlerin ihren Eid ab, also Auch Günter Nooke freute sich über schauen, was am teuersten ist, und das die höchste Form unserer Verantwor- den Kontakt zu Besuchern im Iwalewa- bauen wir im nächsten Jahr an.“ Die tung. Hier liegt eine Herausforderung Haus. Frage ist, warum macht das niemand für die gesamte Europäische Union. Ei- anderes? Weil vielleicht das Startkapital nerseits müssen wir alle ambitionierter fehlt; da kann man sicher helfen. Aber sein und auch einmal Dinge denken, die man kann auch fragen: Ist die Ausbil- wir vorher für unmöglich gehalten ha- dung noch nicht weit genug gestreut? ben, aber andererseits auch ehrlicher, großes Problem bildet natürlich der Kli- zu tun, wie wir hier in Europa Land- Die Subventionen, über die wir reden, wenn wir sagen, was wir leisten kön- mawandel, die Tatsache, dass sich die wirtschaft subventionieren oder nicht. die Hähnchenschenkel, alles, was afri- nen, und was nicht. Das ist dann etwas Wüstenzonen ausbreiten und an den Man kann durchaus eine gewisse schö- kanische Märkte zerstört, ist natürlich völlig anderes, als afrikanische Staats- Rändern der Meere die großen Katast- ne Naturlandschaft erhalten und sie eine große Versuchung, aber kein afri- und Regierungschefs und Gesellschaf- rophen verstärkt und häufiger auftreten. deshalb subventionieren. Es ist natür- kanischer Staat muss solche Produkte ten leisten können. Diese Ehrlichkeit lich schwieriger, Tomaten hierher zu lie- importieren. Es bleibt immer noch eine hilft viel weiter, als sich an der Universi- Florian Schuller: Wenn Sie von Fa- fern, aber das wäre von den Transport- politische Entscheidung der afrikani- tät eine neue Theorie auszudenken, mily-Farming sprechen, sind wir sehr kosten her teuer und die Standards aus schen Verantwortlichen, was durch den zehn Jahre eine Entwicklungszusam- schnell bei der Politik, konkret bei den hygienischen Gründen sind so hoch, Zoll kommt. Natürlich gibt es auch eine menarbeit in dieser Richtung zu betrei- hohen europäischen Schutzzöllen. dass sie in Afrika nur von wenigen – Verantwortung, die wir haben, aber ben und dann zu merken, es war ganz Beispiele sind Mangoproduzenten in nicht die gesamte Verantwortung liegt gut, aber geholfen hat es doch nicht. Günter Nooke: Diese Diskussion Westafrika und Gemüseproduzenten in bei uns. Zum Beispiel ist es beim Thema kommt immer wieder hoch. Ich will Kenia – erfüllt werden. Dann kommt Korruption ein Unterschied, ob ein Florian Schuller: „Das Wohl Afrikas mich da auch gerne unbeliebt machen. dazu, dass wahrscheinlich von dem, was Staats- oder Regierungschef Milliarden liegt im Interesse Europas.“ Wegen eines Dass es in Afrika mit der Landwirt- wirklich in Afrika zurzeit produziert beiseiteschafft, oder ob ein kleiner Poli- ähnlichen Satzes ist bei uns schon ein- schaft nicht voran geht, hat nichts damit wird, gar nicht so vieles hierher kommt. zist an einer Wegkontrolle versucht, mal ein Bundespräsident zurückgetre- fünf Dollar zu bekommen, damit seine ten. Herr Erzbischof, wie sollen Geld Familie überlebt. und Engagement der Entwicklungshilfe sinnvoll weitergegeben werden? Erzbischof Ludwig Schick: Ich stim- me Herrn Nooke zu. Wir würden Afrika Erzbischof Ludwig Schick: Ich kom- viel mehr helfen, wenn wir uns von un- me nochmal auf das zurück, was ich seren Nahrungsmitteln aus unserer Re- schon am Anfang sagte. Wir haben Ent- gion ernähren und dazu beitragen wür- wicklungshilfe immer nach dem Grund- den, dass hier bei uns – ökologisch – satz verstanden: Hilfe zur Selbsthilfe. mehr angebaut würde. Das würde unse- Der Satz ist sehr banal beim ersten Hin- rer Natur helfen, das würde unserer Er- hören, hat aber eine tiefe Wahrheit. Wir nährung und Gesundheit gut tun und müssen sehen, dass Afrika wirklich auf dann gäbe es eben nicht überzählige die eigenen Beine kommt, und dabei Hühnchenschenkel und überzählige natürlich auch unsere eigenen Interes- Butterberge. Die Diskussion über die sen berücksichtigen. Den Titel dieser Zölle ist eine Phantomdiskussion. Veranstaltung, den wir mit meiner Zu- stimmung gewählt haben, „Afrika und Florian Schuller: Eine andere Frage: unsere Verantwortung“, könnte man Was hat die Entwicklungshilfe gebracht? auch mal anders formulieren: „Afrika Was sollte anders gemacht werden? und unsere Bereicherung“. Afrika hat ganz viele Reichtümer, Europa und Günter Nooke: Ich mache das jetzt Deutschland haben auch viele Reichtü- schon zu lange: Für die ganz radikalen mer; und wenn wir die austauschen, gut Lösungen bin ich nicht mehr zu haben. und vernünftig und partnerschaftlich, Wir machen nicht mehr die Fehler von werden wir beide reicher. Europa und vor 20 Jahren. Wir machen vielleicht Afrika, Deutschland und Simbabwe, der andere, die nicht mehr ganz so groß Senegal und Nigeria wären reicher. sind. Natürlich ist es richtig: Wenn ein Zum Beispiel könnten wir keine Han- Land sich entwickeln soll, geht es nicht dys herstellen, wenn wir nicht von Afri- darum, Geld von außen rein zu pum- ka viele Edelmetalle bekämen. Und Af- pen. Volkswirte sagen, dass eigentlich rika braucht von uns das Knowhow, mit erst einmal mal in den Gesellschaften den eigenen Naturressourcen besser selbst etwas passieren muss. Ein Stan- umzugehen. Afrika hat wunderbare dardsatz, den ich erst vorgestern vom Kulturen, und im Austausch der Kultu- Chefvolkswirt der Weltbank gehört ren würden wir alle reicher werden. Das habe: Gib den Armen kein Geld, son- gilt für die Wirtschaft, die Kultur, die dern gib ihnen die Möglichkeit, Geld zu Bildung und vieles mehr. verdienen. Man soll also nicht zu pater- Im Augenblick haben viele bei uns nalistisch daher kommen. Aber ich immer noch den Eindruck, wir müs- glaube schon, dass man mit mehr Geld sen unseren Standard bewahren. Ich Günter Nooke: „Aber am Ende wird eine Wirtschaft nur auch mehr gute Dinge tun kann. Man erlebe das im Augenblick bei vielen aufgebaut, wenn auch ein paar Leute da sind, die arbeiten muss es nur gut einsetzen und so das Diskussionen. Man hat Angst vor Afri- können und eine Berufsausbildung haben.“ endogene Wachstum in den Gesellschaf- ka. Die kommen mit den Booten daher ten ankurbeln. Wenn nur dann etwas und nehmen uns unseren Wohlstand

62 zur debatte 6/2017 weg. Diese Angst ist erstens unberech- tigt und zweitens nicht hilfreich. Wenn man sagen würde, wir haben Reichtü- mer, tauschen die aus und so kommen wir beide miteinander auf den Weg in eine bessere Zukunft, würde das viel mehr helfen. Das müsste allerdings nicht nur in die Köpfe der Politiker, auch in die der einfachen Menschen. Wir dürfen bei der Lösung von Proble- men nicht immer nach oben schauen und sagen: Die da oben tun nichts, dann muss ich auch nichts tun. Das ist zu billig. Wir alle können etwas tun, da- mit unsere Zukunft eine bessere wird.

Florian Schuller: Auf eine solche Haltung würden wir uns wohl schnell einigen können. Aber die Frage bleibt: Welche konkreten Strukturkonsequen- zen, welche Zusammenarbeitskonse- quenzen ergeben sich daraus? Direkt den Vertreter der Politik gefragt: Auf welche Weise, jenseits der seltenen Er- den für unsere Handys, ist in den letz- ten Jahren Deutschland durch den Aus- tausch mit Afrika bereichert worden?

Günter Nooke: Es sind vor allem die Menschen, die man überall auf der Welt trifft. Es gibt sicher viele unter uns, die sehr genau wissen, warum sie nach Na- mibia, nach Tansania in den Urlaub fah- ren, und trotzdem sind die Landschaf- ten und Tiere nur der eine Teil. Tiere kann man in Büchern nachschlagen. Aber die afrikanischen Kulturen und Entwicklungen zu verstehen, besonders wenn man die lokalen Sprachen nicht spricht, ist eine große Herausforderung, gerade für uns. Deshalb habe ich das Bild der Weggefährten gewählt; man- ches kann man erst verstehen, wenn man miteinander unterwegs ist. An die- ser Stelle zwischendurch gesagt: Kir- chen sind ein ganz wichtiger Partner für Foto: dpa/Belal Khaled die Beziehungen, die zwischen Europa Die Aktualität des Akademiegesprächs Militärputsch beendet wurde. Ob die und Afrika wachsen, weil viele der klas- im Erzbistum Bamberg zeigte sich rund Regierung des neuen Präsidenten sischen Maßnahmen der Entwicklungs- einen Monat später, als im November Emmerson Mnangagwa – von diesem zusammenarbeit, die wir selbst als Re- die jahrzehntelange Herrschaft Robert Mann freudig begrüßt – die Situation im gierung oder die mit unserem Geld Mugabes durch einen unblutigen Land verbessern wird, muss sich zeigen. Nicht-Regierungsorganisationen verant- worten, oft nicht in die Tiefe des Landes reichen, wo eben noch ein Priester ist, und vor Ort eine kirchliche Veranstal- tung stattfindet. Wir sollten noch ein man will afrikanischen Menschen vor- uns viel länger und genauer aufeinander selbst sind engagiert in den Social Me- bisschen stärker hinhören, was tatsäch- enthalten, so zu leben wie wir. Aber einlassen. dia präsent. Nur manchmal, wenn Sie lich das Interesse afrikanischer Staaten man kann den Standard, den wir ha- irgendwo in Afrika sind, kommt nichts, ist. Oft ist es allerdings nicht ganz ein- ben, nicht erhalten ohne die Nachteile, Florian Schuller: Herr Erzbischof, Sie weil Sie in irgendeinem Funkloch ste- fach zu unterscheiden, was Regierungen die damit verbunden sind. Das erfordert haben vorhin das Thema Digitalisierung cken. Also Digitalisierung, die wir nicht sagen und was vielleicht die Mehrheit ein ehrlicheres Aushandeln in den afri- ins Spiel gebracht. Handys und Smart- zurückschrauben können, als unwahr- der Bevölkerung sagen würde. Wenn kanischen Gesellschaften, was man will phones haben die Fluchtbewegungen scheinliche Bereicherung und unwahr- die Menschen frei reden könnten, was und in welcher Geschwindigkeit. Ich überhaupt erst möglich gemacht. Sie scheinliche Herausforderung. auch nicht immer gegeben ist, weil sie nehme mal ein Beispiel von Ihrem Fa- Angst haben oder nur das sagen, was milienbetrieb, Herr Erzbischof. Ein man hören will in dem Land, käme Staatschef hat mal gesagt: Die größte manches andere heraus. Also ich denke, Herausforderung in den afrikanischen dass hier eine Möglichkeit besteht, sich Gesellschaften heißt, wie kommen wir stärker aufeinander einzulassen. von den 70 – 80 Prozent Subsistenz- Bei aller Kritik an Handys und den wirtschaft in der Landwirtschaft zu klei- neuen Technologien: Durch sie besteht nen profitablen Familienbetrieben. Das die Möglichkeit, sich zu informieren hätte dann zur Folge, dass man nicht und zu vernetzen. Man sieht aber natür- bei jeder Dürre gleich wieder das Welt- lich auch, wie Menschen anderswo auf ernährungsprogramm braucht. Wenn der Welt leben. Wir leben hier in Euro- Sie einen erfolgreichen Familienbetrieb pa auf eine Art und Weise, die sehr auf haben, der jedes Jahr vom Verkauf der Effizienz hin getrimmt ist, wo vieles mo- Früchte etwas zur Seite legen kann, um netarisiert wird, und wir meinen, man eben alle fünf oder zehn Jahre eine Dür- würde nur so leben können. Das große re zu überstehen, sind Sie ein Unterneh- Problem ist, dass afrikanische Jugendli- mer, jemand, der Geld hat. Aber wenn che zwar sehen, wie man in Europa Sie sich für eine Sippe mit 100 oder 200 lebt, aber kein Verständnis dafür haben, Leuten verantwortlich fühlen, und es was es erfordert, damit man so leben wird jemand von denen krank und kann. Die Frage an die jungen Afrika- braucht eine Operation in der Haupt- ner wäre also: Wollt ihr eigentlich ge- stadt, haben Sie ein riesengroßes Prob- nauso leben oder könnt ihr überhaupt lem: Dann können Sie das gesparte genauso leben wie wir bei uns? Würden Geld nicht für die Milderung der Dürre- wir hier in Bayreuth genauso arbeiten, folgen oder Ihren Betrieb aufheben, wenn den ganzen Tag 35 Grad Hitze sondern geben es für die Schutzbefohle- und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit nen aus. Das sind kulturelle Prägungen, Michael Kleiner von der Stabsstelle herrschten? Das wäre auf dem Bau die wir uns überhaupt nicht vorstellen Weltkirche im Erzbistum Bamberg nicht so ganz einfach. Es gibt Heraus- können, und deshalb warne ich immer präsentierte einen Teil der Ausstellung forderungen, die stellen sich ganz an- davor, zu denken: Es gibt die eine Lö- „Farben des Senegal – Kunst aus der ders, und seien es nur die Klimafrage sung, wir müssen das und das machen, Bamberger Partnerdiözese Thiès“. oder die Wetterfrage. Es heißt dann oft, und dann geht es Afrika gut. Wir müssen

zur debatte 6/2017 63 Er vergleicht das immer mit historisch gewachsen? Welchen Stan- Afrika. Nicht einfach weil wir charak- dard setzten wir deshalb? terlich so geprägt sind, sondern auf- grund unserer klimatischen Verhältnis- Günter Nooke: Ich bin überzeugt: Es se, die es in Afrika überhaupt nicht gibt! gibt so etwas wie universale Menschen- Das muss man sich klar machen, um rechte. Niemand will gefoltert werden, andere zu verstehen. jeder will sagen dürfen, wann er Hunger Wir wollten ja über Verantwortung hat, und nicht den Mund verboten be- reden. Um Ihre Frage zu beantworten, kommen. Es soll auch eine gewisse Frei- was könnten wir tun, damit es Afrika heit der Entwicklung für jeden einzel- und uns besser geht: Wir müssen weg nen geben. Die in der Allgemeinen Er- von unserer Wegwerfgesellschaft, zum klärung der Menschenrechte veranker- Beispiel auch bei Nahrungsmitteln. Das ten, elementaren Menschenrechte sind wäre ein wichtiger Beitrag, um Afrika etwas, für das es sich lohnt zu kämpfen besser zu ernähren. Wir müssen uns mit und sie zu verteidigen. Als ich Men- unseren Produkten ernähren, damit schenrechtsbeauftragter wurde und wir auch ökologisch nachhaltiger werden 2006 den neuen Menschenrechtsrat in und uns so auch einsetzen für die Be- Genf etabliert hatten, hatte das Thema wahrung der Schöpfung. Wir müssen noch Konjunktur, jetzt redet kaum noch nicht an Weihnachten Erdbeeren von jemand darüber. Das ist sehr schade. Gott weiß wo her haben. All das belas- Ich halte viel von der Idee universaler tet die Umwelt. Die Erdbeeren müssen Menschenrechte, meine aber, dass wir hertransportiert werden, die werden ir- einen großen Fehler gemacht haben, in- gendwo unter irgendwelchen Zelten mit dem wir den Menschenrechtskatalog irgendwelcher Wärme und viel Energie sehr weit gefasst und im Grunde jede gezüchtet. Wir würden gesünder leben, Politik zur Menschenrechtspolitik er- etwas für das Klima tun und Afrika klärt haben. Wenn Sie fragen, was Men- mehr Lebensmöglichkeiten geben. Ein schen wollen, dann sagen die immer: Weiteres ist die Kleidung. Die würde et- Gut und sicher leben, und wahrschein- was teurer für uns, wenn wir auf Pro- lich – in Deutschland nicht alle, aber in duktionsstandards schauen würden - Afrika alle –, meinen Kindern soll es das müssen wir aber in Kauf nehmen. mal besser gehen. So unterschiedlich ist Man muss sich aber auch überlegen, ob das gar nicht, was sich Menschen wün- man immer den neusten Schrei bei schen. Handys, Smartphones oder iPads mit- Das muss man dann nochmal ausdis- macht. Weiter – was und wie kann man kutieren, aber wir machen uns auch im- recyceln? Das würde Arbeitsplätze mer etwas vor. Wir haben in Ländern, Erzbischof Ludwig Schick: „Afrika hat ganz viele Reichtümer, schaffen, hier wie in Afrika, und dort in denen schlechte Regierungen Men- Europa und Deutschland haben auch viele Reichtümer; und mithelfen, bei der Gewinnung von Na- schenrechte besonders schlimm verlet- wenn wir die austauschen, gut und vernünftig und partner- turressourcen viel menschenwürdiger zen, dies durchaus deutlich formuliert. schaftlich, werden wir beide reicher.“ zu arbeiten. Wir bräuchten, um einen Im Rahmen der Compact with Africa weiteren Punkt anzubringen, internatio- Initiative der Privatwirtschaft sind wir nale Arbeitsrechtsstandards und inter- in Länder gegangen wie die Elfenbein- nationale Gewerkschaften. Alle diese küste oder Ghana und nicht nach Ru- Möglichkeiten haben wir zum Teil anda, obwohl Ruanda ein prosperieren- Die Afrikaner sind manchmal viel angeht, sind viele Länder Afrikas weiter selbst in der Hand. Dafür müssen wir des Land ist, aber eben auch ein Land, weiter als wir. Wenn in Kenia Nomaden als wir hier. auch auf unsere Politiker einwirken. das mehr oder weniger als Entwick- Ziegen verkaufen, geschieht das nicht Ich will nochmal Herrn Nooke un- Warum jedoch fragen wir unsere Politi- lungsdiktatur funktioniert. Ähnlich ist per Bargeld, sondern per digitaler Über- terstützen. Ich lese zurzeit das Buch ker immer nur, was uns zum Vorteil ge- es in Äthiopien. China wird immer als weisung mit dem Handy. Wie erleben von Asfa-Wossen Asserate, dem äthiopi- reicht? Vorbild genommen, Menschenrechte Sie Digitalisierung und damit Globalisie- schen Prinzen, über „Deutsche Tugen- spielen dort keine Rolle. Aber noch- rung, wenn Sie in Afrika unterwegs den“. Da ist mir einiges aufgegangen, Günter Nooke: Da machen wir eine mals, um die Menschenrechte zu retten, sind? auch für meine weltkirchliche Erfahrung. ganze Menge, Herr Erzbischof. Es gibt müssen wir den Kern, den Mindeststan- Er schreibt zum Beispiel: Warum sind die Internationale Arbeitsorganisation dard hochhalten und nicht alles als, Erzbischof Ludwig Schick: Zunächst die Deutschen so pünktlich? Warum in Genf. Die setzt Standards, gerade Menschenrechtsorganisationen sagen einmal, ich erlebe in Bayern mehr Funk- sind die Deutschen so fleißig? Warum wenn es um menschenwürdige Arbeit das manchmal, „Human Rights based löcher als in Kenia. Was Social Media haben sie auch so viel Vorratswirtschaft? geht. Dann hat Gerd Müller als Ent- approach“ begreifen. Dann ist nämlich wicklungsminister das Thema in den alles, was wir machen, Menschenrecht, letzten Jahren, mit dem Textilbündnis, und jeder hat das Recht, so zu leben wie nach ganz oben gestellt. Aber Sie kön- wir. Jeder Mensch hat das Recht auf ein nen in souveränen Staaten nur das um- würdiges Leben, jeder hat aber auch die setzen, wozu eine Regierung bereit ist Pflicht, für das gute Leben selber hart mitzugehen. zu arbeiten.

Erzbischof Ludwig Schick: Ich woll- Erzbischof Ludwig Schick: Ich wür- te unsere eigene Verantwortung beto- de dem ohne Wenn und Aber zustim- nen. Wenn wir wirklich Verantwortung men. Die Menschenrechte sind indivi- für Afrika wahrnehmen wollen, müssen duell und universal. Wenn immer von wir bereit sein, hier unseren Standard bestimmten Gruppen, auch Regierun- zu verändern. gen, behauptet wird, sie seien kulturell abhängig, dann kommt das meistens Günter Nooke: Beispiel T-Shirt: Ich von Leuten, die ihre Privilegien, ihre nenne mal die Zahl, die mir ein Textil- Rechte und ihre Herrschaft behalten unternehmer in Mauritius genannt hat: wollen und deshalb die Allgemeingültig- Ein T-Shirt kostet in Mauritius in der keit der Menschenrechte ablehnen. Produktion drei Dollar und wird mit ei- Und noch eine Erfahrung. Ich war nem guten Label als Marken-T-Shirt bei in vielen Ländern Asiens, Afrikas, La- uns für umgerechnet 35 bis 40 Dollar teinamerikas. Unabhängig von Hautfar- verkauft. Das Problem liegt nicht daran, be, Religion, Kultur und Bildung, im in- ob wir drei oder vier Dollar vor Ort be- nersten Kern sind die Menschen gleich. zahlen, sondern dass man danach so Sie haben die gleichen Wünsche, sie viel Geld verdienen kann. Es wäre über- möchten geliebt werden, anerkannt, res- haupt kein Problem, bei der Produktion pektiert werden, sie möchten sich ent- entsprechend auskömmliche Löhne zu wickeln können. Und gleichzeitig wir- bezahlen, die T-Shirts würden gar nicht ken in allen Menschen die gleichen Ver- viel teurer werden, aber wir haben ein suchungen. Nämlich egoistisch zu wer- System geschaffen, das mehr versklavt, den und die anderen auszubeuten. Und als uns das in der westlichen Welt be- jetzt komme ich auf die Frage der Reli- Der Bamberger Domkapitular Dr. Josef Ebenso Dr. Wolfgang Stahl: Er fungierte wusst ist. gion. Zunächst einmal müssen wir als Zerndl (li.), Regionaldekan und Pfarrer in seiner Eigenschaft als Leiter der Christen die individuellen und universa- in St. Hedwig in Bayreuth sowie Mit- Katholischen Erwachsenenbildung in Florian Schuller: Herr Nooke, Sie len Menschenrechte unbedingt einfor- glied im Allgemeinen Rat der Akade- Bayreuth als einer der Mitveranstalter. haben eine Vergangenheit als Kämpfer dern. Von unserem Glauben her sagen mie, war zur Veranstaltung gekommen. für Menschenrechte während der fried- wir: Es gibt nur einen Gott, und alle lichen Revolution in der DDR. Sind Menschen sind nach Gottes Bild und die Menschenrechte universal? Sind sie Gleichnis geschaffen. Das bedeutet, dass

64 zur debatte 6/2017 alle die gleiche Würde haben, eine gott- getan wird. Ich wünschte mir, dass die ebenbildliche Würde. Damit zusammen Diskussion auch in den Nachrichten hängen auch die gleichen Rechte, wie- nicht nur über den Wahlprozess selbst derum unabhängig von Religion, Haut- geht, dass gefragt wird, ob er ganz de- farbe, Kultur. Das müssen wir als das mokratisch war oder nicht, sondern Allerwichtigste verteidigen und daraus dass wir uns genauer damit auseinan- entsprechende Konsequenzen ziehen. dersetzen, was eigentlich ein demokra- Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit tisch gewählter Staatschef treibt, zum sie das Leben in Fülle haben.“ Alle. Beispiel in Tansania. Dieser frei gewähl- Dann muss ich mich auch für alle ein- te Präsident regiert leider nicht gut, setzen, damit sich überall die Menschen wenn es darum geht, Opposition zuzu- in ihren kulturellen und gesellschaftli- lassen und freie Meinungsäußerung zu chen, politischen und wirtschaftlichen ermöglichen. Das Parteiengesetz wird Bezügen entwickeln können. Letztlich gerade geändert. Tansania ist ein Land, glauben wir ja nicht, dass die Welt ir- in dem Ost- wie Westdeutschland enga- gendwann in Chaos und Vernichtung giert waren, die katholische und die endet, sondern in den neuen Himmel evangelische Kirche, mit dem wir viel und die neue Erde hineingeht. Deshalb Romantik verbinden, „die Serengeti darf müssen wir alles tun, dass das voran nicht sterben“, aber was dort gerade geht. passiert, ist Rückentwicklung.

Florian Schuller: Und wenn es Erzbischof Ludwig Schick: Die ka- schlimmste Verletzungen der Men- tholischen Bischöfe haben sich gerade schenwürde in einem Staat gibt, militä- in Tansania zu Wort gemeldet und ge- rischen Einsatz? sagt: So geht das nicht.

Erzbischof Ludwig Schick: Der mili- Florian Schuller: Wir sind einen sehr tärische Einsatz kann als letztes Mittel weiten Weg gegangen. Aber wir müssen möglich sein, nämlich um Menschen noch unbedingt jenen Bereich anspre- vor der Tötung durch andere zu bewah- chen, für den Sie, Herr Erzbischof, als ren. Das ist immer unsere Auffassung Vorsitzender der Kommission Weltkir- gewesen. Aber es darf niemals ein Ein- che der Deutschen Bischofskonferenz satz sein für irgendwelche Vorteile, son- besondere Verantwortung tragen, näm- dern er dient der Verteidigung des Men- lich für jene kirchliche Sendung, die wir schen. Und ich darf immer nur mit ver- im klassischen Verständnis als Mission hältnismäßigen Mitteln einschreiten, bezeichnen. Was heißt heute Mission, um Menschen aus Lebensgefahr zu be- heute Zeugen zu sein für den Glauben freien. Nichts anderes. an Jesus Christus, wie es die letzten Ver- Günter Nooke: „Oft ist es allerdings nicht ganz einfach zu se im Matthäusevangelium prononciert unterscheiden, was Regierungen sagen und was vielleicht die Günter Nooke: Wenn die Kirche uns formulieren: „Geht zu allen Völkern“? Mehrheit der Bevölkerung sagen würde.“ in dieser Angelegenheit soweit entgegen kommt, ist die Politik sehr zufrieden. Es Erzbischof Ludwig Schick: Ich habe reicht völlig aus, wie es Erzbischof davon eine klare Vorstellung und möch- Schick beschrieben hat. Ich halte es für te diese ganz kurz darlegen, weil vieles ein gutes Zeichen, dass die Afrikanische Reden meist mehr verschleiert als Klar- Union und oft auch die regionalen Or- heit zu bringen. Wir sprechen von Mis- Florian Schuller: Herr Erzbischof, Psalm 18: „Du führst mich hinaus ins ganisationen in Afrika ein Recht haben, sion im Sinne von Evangelisierung. Und im Alten Testament gibt es eine große Weite“. Zehn Verse später kommt im zu intervenieren, wenn es ganz schlimm Evangelisierung ist Evangelisierung, Geschichte der Begegnung der Kultu- Psalm 18 dann einer meiner Lieblings- kommt. Ich nehme als Beispiel Gambia, nicht Rekrutierung. Das erst mal als ren, den Besuch der Königin von Saba sätze: „Mit meinem Gott überspringe als dessen Präsident in der Hauptstadt Vorwort. bei König Salomon. Die Königin kommt ich Mauern.“ Ich wünsche uns allen, von Senegal vereidigt wurde, weil es in Matthäus 28 fordert: Geht in die mit Geschenken und geht mit Geschen- dass wir Mauern des Nichtwissens oder Gambia nicht möglich war. In Europa Welt hinaus und versucht, alle Men- ken, die sie von Salomon erhält. Wenn Nichtverstehens heute Abend über- tun wir uns bei solchen Problemen schen mit dem bekannt zu machen, was Sie diese Geschichte übertragen auf sprungen haben. Herzlichen Dank Ih- schwer. Die europäische Verfassung und das Evangelium als Kernbotschaft ent- Ihre Erfahrungen mit Afrika: Welche nen beiden für die Hilfestellungen dazu, der Maastricht-Vertrag, der Lissabon- hält: Dass es einen guten Gott gibt, den Geschenke hat die Königin von Saba, Herr Erzbischof, Herr Nooke, und dan- Vertrag, geben es nicht her, dass wir uns Vater aller Menschen, nochmals: unab- hat Afrika Ihnen persönlich oder auch ke allen Anwesenden, deren Interesse in die Souveränität eines einzelnen Mit- hängig von Kultur, Rasse oder Hautfar- der Erzdiözese oder uns allen gebracht, an Afrika sie heute hergeführt hat. gliedsstaates einmischen, wie es in Afri- be. Die Konsequenz daraus ist, dass alle und welche hoffen Sie, zurückgeben zu ka möglich ist. In Afrika wird also Menschen die gleiche Würde und die können? durchaus schon eine gewisse Verant- gleichen Rechte besitzen. Dann: dass wortung wahrgenommen. Ich hatte ver- alle Menschen sich nach dem Hauptge- Erzbischof Ludwig Schick: Von Afri- gangene Woche mit dem afrikanischen bot richten sollen, nämlich Gott lieben ka habe ich persönlich als Geschenke Kommissar für Frieden und Sicherheit und den Nächsten wie sich selbst. Wenn erhalten, und ich glaube, das kann man entsprechende Gespräche geführt in man damit die Menschen vertraut auch verallgemeinern: Die Freude, die Addis Abeba. macht und ihnen hilft, danach zu leben, Unvoreingenommenheit, auf Menschen Aber eine Militärintervention ist im- dann ist das Evangelisierung. Wenn sie zuzugehen, auch die tiefere Religiosität, mer eine ganz schwierige Sache. Man dann noch Gemeinschaft bilden und die nicht wie bei uns meist verschämt muss dafür sorgen, dass sich die Missio- zur Kirche werden oder zur Kirche gezeigt wird; dort ist man religiös auch nen nicht verselbstständigen, zehn Jahre kommen, ist das Evangelisierung, und unverschämt, zeigt die Freude auch in im Land bleiben, und nur noch versucht alles andere ist es nicht. der Liturgie. All das ist eine große Be- wird, Geld abzugreifen, weil nicht mehr reicherung, auch der interreligiöse Dia- viel passiert. Man muss schon sehr ge- Florian Schuller: An Sie beide noch log, der nicht in allen Ländern funktio- nau hinsehen, wo echte Terrorbekämp- jeweils eine Schlussfrage mit der Bitte, niert, aber in vielen. Das sind die Ga- fung geschieht. Das deutsche Interesse in einem Satz zu antworten. Herr Noo- ben, die wir von Afrika haben können. besteht natürlich darin, die Afrikaner zu ke, Sie haben als DDR-Bürgerrechtler Aber auch wir haben Gaben zu bringen. befähigen, ihre Probleme selbst zu lö- den Umschwung in einem Wertesystem Nämlich die Gabe von Strukturen, die sen. Das trifft vor allem in der Sahelzo- und Regierungssystem nicht nur erlebt, Gabe zum Beispiel von einem funktio- ne zu, wo es um Terrorismusbekämp- sondern auch bewusst herbeigeführt. nierenden Staatswesen, in dem unter- fung und Schmugglerbekämpfung geht, Welche Ihrer Erfahrungen von damals, schieden wird zwischen Judikative, Le- nicht nur um die Verteidigung der Men- 1988/89, würden Sie gerne an Men- gislative und Administrative. Was wir schenrechte. schen in afrikanischen Ländern weiter- kirchlich einbringen können, sind unse- Nochmals zu den Menschenrechten. geben wollen? re Formen von Laienmitarbeit, ob das Viele Staats- und Regierungschefs ver- die Verwaltungsräte für die Finanzen letzen Menschenrechte massiv, aber wir Günter Nooke: Egal, ob ich jetzt Re- sind, Pfarr- und Gemeinderäte, da kann müssen genau hinsehen, was diese voluzzer war oder Staatsdiplomat, als Afrika von uns etliches lernen. Auch bei Staats- und Regierungschefs im Einzel- praktizierender evangelischer Christ uns können die kirchliche Verwaltung, nen tun. Manche sind nicht ganz so halte ich es für wichtig, dass man mit das Laienengagement und mehr Partizi- schlimm. Wir haben uns angewöhnt, dem, was einem der Glaube bedeutet, pation am kirchlichen Leben noch bes- das Menschenrechtsthema sehr stark gerade auch in Afrika viel mehr Ver- ser werden, aber sie sind hilfreich, um War auch einer der Mitveranstalter: mit der Frage zu verknüpfen: Waren die trauen schafft, als wenn man daher Kirche aufzubauen und voran zu brin- Christian Kainzbauer-Wütig, Geschäfts- Wahlen demokratisch? Demokratie kommt und den aufgeklärten, säkularen gen. führer der Katholischen Erwachsenen- kommt in der Allgemeinen Erklärung Weltbürger gibt. Das nimmt man uns bildung im Erzbistum Bamberg. der Menschenrechte im Relativsatz als nicht ab, und das ist auch keine Hal- Florian Schuller: Der kommende Partizipation vor. Aber entscheidend ist tung, die uns in Deutschland weiter Weltmissionssonntag hat als Motto ei- doch, was mit der Macht, die man hat, bringt. nen leicht abgewandelten Vers aus dem

zur debatte 6/2017 65 Sommernacht der Künste Nachsinnen über die Schöpfung 27. Juni 2017, Tagungszentrum der Katholischen Akademie in München-Schwabing

Mit einem starken Akzent auf moder- erleben, eine davon von Wilfried Hiller, ner Kunst und Musik beging die Katho- sie durften den „Singphonikern“ lau- lische Akademie Bayern ihr 60-jähriges schen und das sommerliche Ambiente Bestehen in ihrem Tagungszentrum in der Akademie und ihres Parks genie- München-Schwabing. In München lud ßen. die Akademie für den Abend des 27. Wilfried Hillers Werk „Schöpfung – Juni 2017 zur „Sommernacht der Küns- ein klingendes Mosaik“ – eine Auftrags- te“ in die Mandlstraße 23. Im Mittel- arbeit für die Katholische Akademie – punkt des Abends zum Thema „Schöp- stand im Mittelpunkt des Abends. Es fung“ standen Musikstücke, die mit entstand unter Verwendung der Über- Werken der bildenden Kunst, die in der setzung des Buches Genesis von Martin Akademie beheimatet sind, in Bezie- Buber und Franz Rosenzweig, im Spiel hung treten. Die rund 230 Gäste – dar- mit einem Mosaik und Skulpturen von unter viele Musikschaffende – konnten Antje Tesche-Mentzen im Atrium und unter anderem zwei „Uraufführungen“ Garten der Katholischen Akademie.

Künstlerin Antje Tesche-Mentzen mit Orgelprofessor Friedemann Winklhofer, der bei der Sommernacht der Künste mitwirkte.

Der Text stammt vom evangelischen Re- Rasenberger. Die 1962 geborene Schüle- gionalbischof Stefan Ark Nitsche. So rin von Wilfried Hiller trat mit ihrem führte die Katholische Akademie als Werk zum großen Wandteppich – ein Mäzen einen katholischen Komponis- Werk von Christine Stadler (1922 bis ten und einen evangelischen Librettis- 2000) mit dem Namen „Schöpfung“ – in ten, der sich auf eine jüdische Vorlage Beziehung und vertonte das berühmte stützte, zusammen. „Wessobrunner Gebet“, einen althoch- Die zweite Uraufführung des Abends deutschen Text vom Anfang des 9. Jahr- war ein kleines, sehr bewegendes a ca- hunderts, der als ältestes deutschsprachi- pella Stück der Komponistin Mona ges christliches Gedicht überhaupt gilt. „

Der Komponist und sein Librettist: Wilfried Hiller (re.) und Stefan Ark Nitsche.

Inspiriert von Blasius Gerg und seinem Werk „Vom Chaos zur Ordnung“: Franziska Strohmayr und Thomas Sporrer spielten „Crux“ von Luboš Fišer.

66 zur debatte 6/2017 „Die Singphoniker“ sangen zum Abschluss entspannende Lieder.

Die Geigerin Franziska Strohmayr und die Harfenistin Irmgard Gorzawski wirkten mit bei der Uraufführung von Wilfried Hillers „Schöpfung – ein klingendes Mosaik“.

Das Video vom Mosaik, das beim Sorgten mit ihrem Schlagwerk für den Konzert zugespielt wurde, entstand Takt und den Sound: Takuya Taniguchi, mit Hilfe dieser surrenden Drohne. Carl Amadeus Hiller und Thomas Sporrer (v. l. n. r.).

zur debatte 6/2017 67 Leitsätze der Akademie

kritisches Hinterfragen fördern Plattform für 5HÁH[LRQbilden Prozesse anstoßen positionieren in der pluralen Welt interdisziplinäres Kooperationen und Netzwerke aufbauen Denken fördern Wissenschaftliche Vertiefung des katholischen Weltverständnisses virtuelle Räume nutzen Freiheit des Christen in den Mittelpunkt stellen Wissenschaft übersetzen inneren Gehalt des Glaubens ÀQGHQ sprachfähige Theologie weiterentwickeln katholisches3URÀOstärken

Vielfalt katholischer Bildungsträger stärken dezentrale Strukturen stärken 3URÀO regionale Netzwerke bilden mit der KEB verzahnen Förderung der katholischen Bildungsarbeit in der Bildungslandschaft positionieren mit Diözesen übertragbare Veranstaltungsformen Struktur ÁlFKHQGHFNHQGHU

68 zur debatte 6/2017 aktuelle .RQÁLNWIHOGHUerkennen

soziale Medien einsetzen auf Menschen zugehen

jüngere Zielgruppen gewinnen neue Formate Ökumene und Weltreligionen zuwenden und Orte ausprobieren Begegnung von Glaube und Welt im gegenseitigen Austausch Kunst und Kultur SÁHJHQ Umwelt, Friede, Kapitalismuskritik thematisieren Diskursfähigkeit und Streitkultur stärken angstfreiem Denken Raum geben

vernünftigen Glauen unterstützen katholisches Milieu heute bilden

schärfen

thematischer und methodischer Leuchtturm sein Satzung § 2 zusammenarbeiten Die Katholische bilden Akademie in Bayern hat die Aufgabe, Bildungswerke bewahren die Beziehungen  zwischen Kirche und Welt zu klären und zu fördern.

zur debatte 6/2017 69 zur debatte Themen der Katholischen Akademie in Bayern

Jahrgang 47 Herausgeber und Verleger: Katholische Akademie in Bayern, München Direktor: Dr. Florian Schuller Verantwortlicher Redakteur: Dr. Robert Walser Anschrift Verlag u. Redaktion: Katholische Akademie in Bayern, Mandlstraße 23, 80802 München Postanschrift: Postfach 401008, 80710 München Telefon / Telefax 0 89 / 38 10 20 / 0 89 / 38 10 21 03 E-Mail: [email protected] Fotos: Akademie, Robert Kiderle, Florian Treitner Gestaltung: TreitnerDesign GbR, Egmating b. München Druck: Kastner AG - Das Medienhaus, Schloßhof 2 – 6, 85283 Wolnzach

Nachdruck und Vervielfältigung jeder Art sind nur mit Einwilligung des Herausgebers zulässig.

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70 zur debatte 6/2017 ISSN 0179-6658

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