ZEITGESCHICHTE Ein deutscher Aufstand Vor 50 Jahren begehrten über eine Million Menschen gegen die SED-Diktatur auf. Für ihren Mut werden die Aufständischen heute gefeiert. Weil die DDR-Bürger überwiegend friedfertig blieben, konnten die Sowjets die Rebellion leicht niederschlagen.

Sowjetpanzer auf der Leipziger Straße in Ost-Berlin: „Jetzt ist der Spuk sehr schnell vorbei“

s war der 15. Juni 1953. Die Delega- prangte, und den vier Männern mit den fuhren die Männer im Drillichzeug froh- tion der streikenden Arbeiter parkte schwieligen Händen verlief „freundschaft- gemut ab. Am nächsten Tag wollten sie Eden kleinen Lieferwagen ordnungs- lich“; darüber waren sich Delegationsleiter wiederkommen und die Antwort entge- gemäß vor dem Haus der Ministerien in Max Fettling, 46, und Grotewohl-Referent gennehmen. Berlin-Mitte. Dann ließen sich die Männer Kurt Ambrée, 27, hinterher einig. Doch die DDR war kein Staat, in der ein in der Auskunftsstelle des Haupteingangs Fettling, ein ungelernter Arbeiter, der Ministerpräsident und seine Mitarbeiter widerspruchslos darüber belehren, dass sie im Jahr zuvor zum Gewerkschaftsfunk- etwas entscheiden durften. „Es muss de- sich an einen Nebeneingang zu begeben tionär aufgestiegen war, übergab einen mokratisch aussehen, aber wir müssen al- hätten. Und sie wurden auch nicht unge- Brief, in dem die 300 Maurer, Zimmerleu- les in der Hand behalten“, hatte SED-Chef duldig, als an Stelle von Otto Grotewohl te und Gerüstbauer der Baustelle Kran- gleich nach Kriegsende das (die Pförtnerin: „Der Herr Ministerpräsi- kenhaus Berlin- forderten, ungeschriebene Grundgesetz seiner Dikta- dent ist nicht im Haus“) ein Referent zum dass bis zum Mittag des nächsten Tages tur verkündet. Und so befand nicht Regie- Gespräch in den zweiten Stock bat. die gerade verhängten Lohnkürzungen zu- rungschef Grotewohl über das Begehren Nur in Deutschland können Aufstände rückgenommen werden. Staatsvertreter der Bauarbeiter, sondern der gelernte Elek- so beginnen. Ambrée, ein studierter Finanzfachmann, triker Bruno Baum. In der Bezirksleitung Das Treffen zwischen dem Anzugträger, zeigte Verständnis und versprach, sich dar- der SED war Baum zuständig für Wirt- an dessen Revers das SED-Parteiabzeichen um zu kümmern. Nach anderthalb Stunden schaftsfragen – und der eisenharte Alt-

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kommunist, der Stalins Säuberungen und neuten Rebellion blieb. Als im Sommer Hitlers Auschwitz überlebt hatte, traf an 1989 die Menschen wieder unruhig wur- diesem Montagnachmittag die politische den, dachte Erich Mielke, Minister für Fehlentscheidung seines Lebens. Staatssicherheit, sogleich an 1953: „Ist es so, Bei dem Brief, verkündete er, handele es dass morgen der 17. Juni ausbricht?“, frag- sich „um eine größere, offenbar von West- te er Ende August vor seinen Generälen. Berlin gelenkte Aktion“. Man dürfe „auf Im Westen wurden die Revoluzzer für keinen Fall klein beigeben“. Geschulte Agi- ihren Mut gerühmt. Der Bundestag er- tatoren sollten am nächsten Morgen den klärte den 17. Juni zum Feiertag. Millio- Männern erklären, dass die Lohnkürzun- nen Menschen stellten fortan zu diesem gen unumgänglich seien, um den Sozialis- Datum brennende Kerzen ins Fenster. mus aufzubauen. In Hitlers langem Schatten bot die Er- Und so geschah es. hebung gegen die SED-Diktatur willkom- Kurz darauf brach der Sturm los. Zuerst mene Entlastung. Endlich einmal hatten gingen empörte Bauarbeiter in Berlin auf die Deutschen aufbegehrt. Das sei, erklär- die Straßen. Dann, am 17. Juni, der dem te der Historiker Theodor Schieder vor Ereignis seinen Namen gab, loderte das dem Bundestag 1964, der „Tag unserer ge- Feuer der Revolution in der ganzen DDR. schichtlichen Rehabilitation“. Über eine Million Menschen in gut 700 Von diesem apologetisch eingefärbten Städten und Dörfern protestierten eine Freiheitspathos ist später nicht viel geblie- knappe Woche lang gegen die SED-Diktatur. Sie demon- strierten auf Straßen und Im Land der Lichterketten werden couragierte kleine Plätzen, streikten in über tau- Leute neuerdings als Vorbilder verehrt und gefeiert. send Betrieben und Genos- senschaften, besetzten SED-Büros und ben; der 17. Juni verflachte zum geden- stürmten Gefängnisse. kenlosen Bundesausflugstag. Helmut Kohl Der Aufstand zählt, so der Berliner His- setzte 1990 ohne Schwierigkeiten durch, toriker Ilko-Sascha Kowalczuk, „zu den dass fortan der 3. Oktober als Tag der Ein- großen demokratischen Bewegungen der heit begangen wird. Danach ist der Auf- deutschen Geschichte“. stand fast gänzlich aus dem öffentlichen Die Rebellen widerlegten sogar das viel Bewusstsein verschwunden – bis zu die- zitierte Bonmot Stalins, Arbeiter würden sem Frühjahr. Denn zum 50. Jahrestag wird sich hier zu Lande erst eine Bahnsteigkar- die gescheiterte Revolution in einem Aus- te kaufen, bevor sie den Bahnhof stürmten. maß gefeiert wie kein anderes historisches Am 17. Juni um 10.30 Uhr notierte ein Ereignis im letzten Jahrzehnt. SED-Funktionär verwundert, dass Stahl- Über 600 Veranstaltungen, darunter al- werker aus Hennigsdorf die Sperren auf lein 75 Ausstellungen, hat die Stiftung zur dem Bahnhof Heiligensee tatsächlich Aufarbeitung der SED-Diktatur gezählt. „ohne Fahrkarten durchbrochen“ hätten Bundestag und Länderparlamente, Uni- und in zwei Zügen nach Berlin zur De- versitäten und Schulen, Landräte oder Ge- monstration gefahren seien. denkstätten beteiligen sich an dem Erin- Das Politbüro der SED floh schließlich nerungsrummel. Rund 30 neue Bücher ma- vor dem eigenen Volk in die Obhut der so- chen die Revolte zum wohl besterforschten wjetischen Truppen. Nicht einmal die Ge- Ereignis deutscher Nachkriegsgeschichte. nossen zweifelten daran, dass sie den Fort- Es gibt Theatervorführungen und Film- bestand der DDR am Ende nur General- präsentationen. Die Berliner Verkehrsbe- oberst Andrej Gretschko verdankten, dem triebe lassen Doppeldecker-Busse mit den Oberkommandierenden von sechs Armeen Kampfparolen von damals durch die Stadt

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN mit einer halben Million Sowjetsoldaten. rollen. In Niesky bei Görlitz, im nieder- Der ukrainische Bauernsohn verhängte sächsischen Papenburg-Aschendorf oder in 167 der 217 Land- und Stadtkreise der im bayerischen Bad Staffelstein – überall DDR den Ausnahmezustand. 600 sowjeti- locken Vorträge oder Feierstunden. sche Panzer rollten allein durch Berlin – 13 Jahre nach der Einheit ringen die mit einigen Tanks weniger hatten 1942 Hit- Deutschen um ein Geschichtsbild, das zu lers und Mussolinis Truppen fast ganz der erweiterten Bundesrepublik passt. Und Nordafrika erobert. Gretschko ließ 18 Re- seitdem im Land der Lichterketten Zivil- bellen standrechtlich erschießen. Insgesamt courage zur Bürgertugend schlechthin aus- starben nach neuesten Forschungen 60 bis gerufen wurde, stehen Helden von neben- 80 Demonstranten. Über 13000 Aufrührer an so hoch im Kurs wie nie zuvor. wurden verhaftet, erst 1968 kam der letzte Ob Hitler-Attentäter Georg Elser oder von ihnen frei. die stillen Retter, die jüdische Deutsche vor Für die SED beendete der Aufstand jeg- den Nazis schützten – couragierte kleine liche Hoffnung auf ein sozialistisches Ge- Leute werden neuerdings als Vorbilder ver- samtdeutschland. Die Staatspartei musste ehrt und gefeiert. Anstand und Haltung, so den Spitzel- und Unterdrückungsapparat die unterschwellige Botschaft, könne jeder

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST ins Gigantische ausbauen und schließlich zeigen. Wie die Namenlosen vom 17. Juni. Diktator Ulbricht (1968) sogar eine Mauer errichten, um ihre Herr- Bundespräsident Johannes Rau rühmte Kalter Apparatschik schaft zu sichern. Die Angst vor einer er- kürzlich deren „Mut und Freiheitsliebe“

der spiegel 24/2003 39 Deutschland als beispielgebend; in zahlreichen Städten sollen nun Straßen nach dem Tag des Auf- Flächenbrand Ost stands benannt werden; schon fordern ehe- malige Bürgerrechtler wie Ehrhart Neu- Über eine Million Menschen haben zwischen DDR-Bezirke dem 16. und dem 21. Juni 1953 in rund mit ihren bert (CDU), den 17. Juni wieder als Feier- HAUPTSTÄDTEN tag zu begehen. 700 Orten der DDR ROSTOCK gegen das SED-Regime auf- Allerdings ist der Aufstand nicht nur Be- begehrt. Sie streikten und leg für Widerstandsgeist und Freiheitsliebe, demonstrierten, stürmten er verweist auch auf ein anderes Ver- Partei- und Stasigebäude mächtnis teutonischer Historie, das im all- oder befreiten Gefangene. gemeinen Jubel unterzugehen droht: die SCHWERIN Machtvergessenheit deutscher Revolu- BRENNPUNKTE NEU- tionäre. AUSSERHALB BERLINS BRANDENBURG Einen Aufstand erfolgreich durchzu- • Bitterfeld Machtübernahme, führen, hat schon Friedrich Engels gelehrt, Stasi-Zentrale gestürmt ist „eine Kunst genau wie der Krieg“ – öst- • Brandenburg lich der Elbe beherrschte sie kaum jemand. Gefangenenbefreiung Die Revoluzzer zerstörten zwar die Sym- • bole des verhassten Regimes: die riesigen Großdemonstrationen Propagandaplakate oder die roten Fahnen. • Gera OST-BERLIN Aber sie bildeten keine Gegenregierung. Gefangenenbefreiung Die von der SED so gefürchtete Bewaff- • Görlitz Machtübernahme, Brandenburg nung der Aufständischen blieb aus. Stasi-Zentrale gestürmt FRANKFURT (ODER) In Leipzig zerschlugen diese vielmehr • Halle die erbeuteten Karabiner am Rinnstein, in Machtübernahme, MAGDEBURG Bitterfeld stellten die Streikenden Wach- SED-Bezirksleitung gestürmt posten vor die Waffenkammer der Polizei- • Jena Gefangenenbefreiung station, damit niemand die Schießgeräte • Leipzig COTTBUS nutzte. Auf maximal 15 Tote schätzen Ex- SED-Bezirksleitung gestürmt Bitterfeld perten die Zahl der Toten, welche die DDR- • Magdeburg HALLE Staatsmacht am Ende zu beklagen hatte. Gefangenenbefreiung, Was hatten die Genossen gebangt, als es SED-Bezirksleitung gestürmt auf einmal losging. Von Lenin wussten sie, • Merseburg Merseburg LEIPZIG Gefangenenbefreiung, dass manche Ziele während eines Auf- Stasi-Zentrale gestürmt Görlitz stands „um den Preis noch so großer Ver- DRESDEN luste behauptet werden“ müssen, vorweg ERFURT Jena die Schaltstellen der Kommunikation. GERA KARL-MARX-STADT Im Haupttelegrafenamt in Ost-Berlin (Chemnitz) Quelle: Birthler-Behörde verbarrikadierten Einheitssozialisten des- SUHL halb die Fenster mit Stahlplatten und Sche- rengittern. Sie legten Feuerwehrschläuche aus, um mit dem Wasserstrahl Demon- stranten abwehren zu können. So genann- te fortschrittliche Kollegen erörterten, was er Weg in den Aufstand beginnt im „Verschärfung des Klassenkampfes“ nennt im Fall eines Angriffs zu tun sei. DSommer 1952. Walter Ulbricht, ein ge- Ulbricht die Welle von Verhaftungen, die Aber der trat nicht ein. Die größte Ge- lernter Tischler aus Leipzig, verkündet auf durch den SED-Staat rollt. 180 000 Ost- fahr für das Fernmeldewesen, heißt es in ei- Geheiß Stalins den „Aufbau des Sozialis- deutsche verlassen 1952 das Land, allein in nem SED-Bericht vom 22. Juni, sei von mus“ in der DDR. Die Folgen sind kata- der ersten Jahreshälfte 1953 sind es schon den starken Regenfällen ausgegangen. strophal. 226000. Der Aufstand kam für alle überraschend Die rücksichtslose Förderung der Doch am 5. März 1953 stirbt Stalin, und – auch für die Gegner des SED-Regimes. Schwerindustrie, die Kollektivierung der nun bestätigt sich die alte Regel, dass Dik- Die Folge: Die Aufbegehrenden hatten we- Landwirtschaft und die Aufrüstung der Ka- taturen nicht etwa gefährdet sind, wenn der eine Führung noch eine Strategie. Sel- sernierten Volkspolizei, Vorläufer der Na- sie den Druck auf das Volk erhöhen, son- ten ist es der Sowjetunion so leicht gefal- tionalen Volksarmee, bringen die schwach- dern wenn sie liberalisieren – und das muss len, eine Erhebung in ihrem Imperium nie- brüstige DDR-Wirtschaft an den Rand des Ulbricht. derzuschlagen wie in der DDR 1953. Ruins. Während in der Bundesrepublik Denn die neuen Kreml-Herren La- Allerdings erwies sich die Machtverges- schon Jahre zuvor Lebensmittelkarten ab- wrentij Berija und Georgij Malenkow senheit der Aufrührer im Nachhinein als geschafft worden sind, müssen eine List der Geschichte, die den Menschen die Ostdeutschen für Wurst, einen höheren Blutzoll ersparte. Denn Zucker oder Butter weiterhin Moskau, das ist gewiss, hätte damals unter Bezugsscheine vorlegen. keinen Umständen einen Regimewechsel Doch wer die SED-Politik in im Zentrum Europas hingenommen. Und Zweifel zieht, riskiert es, in den so verlief die Strafaktion der Russen ver- fensterlosen Kellern des Stasi- gleichsweise moderat. Als 1956 in Ungarn Gefängnisses Berlin-Hohen-

eine gut vorbereitete Opposition gegen die schönhausen zu verschwinden. ERNST / VOLLER BALTERMANNS sowjetischen Besatzer aufbegehrte, star- ben Tausende in Straßenkämpfen; 300 Un- Leichnam Stalins (1953) garn wurden hingerichtet. Kurskorrektur nach dem Tod 40 lautstark: „Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!“ Professor Robert Havemann, später Dissident, damals noch linientreuer Ge- nosse, sitzt in seiner Wohnung im siebten Stock, Strausberger Platz Nummer 9, beim späten Frühstück. Auf einmal dringen „ungewohnte Geräusche“ nach oben. Der kräftige Mann schaut aus dem Fenster: „Es war ein aufregendes Bild. Von allen Seiten kamen sie angerannt in ihrer Ar- beitskleidung, angezogen wie Eisensplitter

HERBERT GÖRZIG HERBERT von einem Magneten.“ Als die Bauleute den Alex- anderplatz erreichen, sind sie längst nicht mehr unter sich. Passanten schließen sich an, aus Büros und Läden strö- men Menschen, Straßenbah- Streikende Bauarbeiter*, Propagandaplakat: Darben für den Sozialismus nen bleiben stehen, und die Fahrgäste laufen mit. „Mehr fürchten, die inneren Spannungen könnten drastische Lohneinbußen zur Lohn statt Hohn“ oder ihren ostdeutschen Satelliten zerreißen: Folge. Dreimal im Monat „Runter mit den Normen“, „Wenn wir jetzt nicht korrigieren, kommt werden die Lohntüten aus- schallt es in Sprechchören eine Katastrophe.“ Fast alles, was Ulbricht gegeben; am Freitag, dem 12. über die Trümmerhaufen der im Jahr zuvor angeschoben hat, muss er Juni, erhalten die Berliner zerstörten einstigen Reichs- revidieren. Am 11. Juni verkündet das Bauarbeiter erstmals den re- hauptstadt. „Neue Deutschland“ die Kehrtwende: duzierten Satz. Vor dem Haus der Minis- Bauern sollen ihr Land zurückbekommen, terien ist der Zug bereits auf Häftlinge amnestiert, der Mittelstand soll erlin, Dienstag, 16. Juni 1953, gegen 7 10000 Menschen angeschwollen. Sie drän- gefördert werden. Von „Fehlern der SED BUhr morgens, Baustelle Krankenhaus gen sich um das mächtige Gebäude, in dem und der Regierung der DDR“ ist in der Friedrichshain: einst Hitlers Adlatus Hermann Göring re- Parteizeitung die Rede – unter Stalin un- Nur die Lehrlinge arbeiten; in den Bau- sidierte. Bald skandiert die Menge: „Wir denkbar. buden herrscht Kampfesstimmung. Die wollen Otto Grotewohl hören.“ Der von den Moskauer Diktatoren er- Zeitung „Tribüne“ der staatlichen Ge- Aber Grotewohl ist zum Glaspalast ge- wartete Effekt bleibt freilich aus. Die Ost- werkschaft FDGB hat einen Kommentar fahren, so nennen die Berliner das große deutschen danken nicht etwa untertänig mit dem Satz veröffentlicht: „Jawohl, die Gebäude des ZK. Dort tagt wie jeden für die Wende zum Stalinismus light, son- Beschlüsse über die Erhöhung der Normen Dienstag das Politbüro. dern hoffen auf ein Ende des Regimes. sind in vollem Umfang richtig.“ Für die Den ersten ängstlichen Anruf aus Gro- Aus Wendemark im Kreis Seehausen bei Bauarbeiter klingt das wie eine Antwort tewohls Büro im belagerten Haus der Mi- Wittenberge meldet noch am gleichen auf den Brief, den ihre Delegation unter nisterien blockt noch die Sekretärin des Abend ein SED-Mitglied: „Das gesamte Führung des Kollegen Fettling am Vortag obersten Parteigremiums ab: „Ist denn im Dorf ist in der Gastwirtschaft betrunken im Haus der Ministerien abgegeben hat. janzen Haus der Ministerien keen handfes- und trinkt auf das Wohl von Adenauer.“ In Unter den Unzufriedenen sind auch zwei ter Jenosse, der mal so’n paar Männecken der LPG Leppin im gleichen Kreis verwei- Abgesandte von der Baustelle für Block 40, berujen kann?“ gern die Genossenschaftsbauern die Ar- einem gigantischen Wohnkomplex direkt Dann lassen einige Funktionäre der Ber- beit: „Der Ami kommt doch bald.“ an der Stalin-Allee. An der geplanten liner SED ihren Chef Hans Jendretzky, ge- Bis heute ist ungeklärt, warum Berija Prachtstraße, Sinnbild der neuen Zeit, rei- nannt der schöne Hans, aus der Politbüro- und Malenkow ausgerechnet die Arbeiter hen sich Großbaustellen aneinander. Viele Sitzung rufen. Die Normen sollen sofort von den Segnungen des neuen Kurses aus- Männer, die hier arbeiten, sind auf Monta- gesenkt werden. Jendretzky und andere nehmen – und damit die Lunte für den ge und für die SED schwer zu disziplinieren. machen sich das zu Eigen, Ulbricht muss Aufstand am 17. Juni legen. Irgendwann an diesem Morgen lässt der nachgeben. Denn wie bislang streng geheime Be- Direktor des Krankenhauses das große Tor Noch ist die Frist nicht um, welche die richte aus dem Archiv des KGB-Nachfol- zur Baustelle schließen, offenbar ohne böse Bauarbeiter von der Baustelle Kranken- gers FSB in Moskau zeigen, die Archivlei- Absicht. Doch die beiden Abgesandten von haus Friedrichshain am Vortag in ihrem ter Generalmajor Wassilij Christoforow Block 40 müssen über den Zaun steigen, Brief gesetzt hatten. Und dennoch kommt dem SPIEGEL zugänglich machte, ist die um zurückkehren zu können. In der Stalin- das Zugeständnis viel zu spät. sowjetische Führung über die Unzufrie- Allee verbreitet sich die Nachricht: „Un- Gegen 14 Uhr klettert Heinz Brandt, Ho- denheit der deutschen Malocher durchaus sere Kollegen kommen nicht raus. Wir locaust-Überlebender und in der SED-Ber- informiert. Schon Ende Mai melden die müssen sie rausholen.“ lin zuständig für Agitation, vor dem Haus Geheimen kurzfristige Streiks in Leipzig Um 10.25 Uhr meldet die Volkspolizei der Ministerien auf einen Tisch. Er ruft: oder Finsterwalde. bereits 700 marschierende Bauarbeiter. In „Ich habe den Auftrag, euch einen wichti- Und das Grummeln wird immer lauter. der Polizeizentrale, notiert später ein Ober- gen Beschluss des Politbüros mitzuteilen, Um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, kommissar, herrscht „das große Rätselra- die zehnprozentige Normerhöhung ist auf- hat Ulbricht nämlich eine Steigerung der ten“. Der Aufstand der Arbeiterklasse ge- gehoben.“ Normen um zehn Prozent durchgesetzt. gen deren selbst ernannte Vorhut ist im Antwort: „Das wollen wir von der Re- Diese und andere Maßnahmen haben Marxismus-Leninismus nicht vorgesehen. gierung, das wollen wir von Walter Ul- An jedem der vielen Bauplätze, die sie bricht selber hören.“ * In der Berliner Stalin-Allee am 16. Juni 1953. passieren, skandieren die Demonstranten Und dann lautes Rufen:

der spiegel 24/2003 41 ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Brennender Pavillon in Leipzig, Genossen Semjonow, Grotewohl, Demonstranten in Görlitz: „Auf dem Territorium der Republik sind massenhafte

„Weg mit der Regierung!“ rikanischen Sektor (Rias), den nach einer büro. Möglichst alles Polizei – nur im Not- Fritz Selbmann, Minister für Hüttenwe- CIA-Schätzung mehr als zwei Drittel aller fall Truppen.“ sen und Bergbau, ein gelernter Bergmann, ostdeutschen Haushalte regelmäßig hören. Zunächst sollen also die Deutschen in dem die proletarische Herkunft noch an- Die Amerikaner kontrollieren den Sender Uniform versuchen, den sich anbahnen- zusehen ist, traut sich schließlich vor die und fürchten Ärger mit den Sowjets, daher den Aufstand niederzuschlagen; die So- Tür des Regierungsgebäudes. „Liebe Kol- wollen sie das Wort „Generalstreik“ lieber wjetarmee bildet die letzte Reserve. legen“, beginnt er und wird schon unter- nicht senden lassen. Oberbefehlshaber Gretschko ordert so- brochen: „Du bist nicht unser Kollege – du Generalstreik – so etwas hatte es im fort Truppen aus dem Sommermanöver bist ein Lump und Verräter.“ Osten Deutschlands zuletzt 1920 gegeben. vor Berlin in die Stadt. Im Morgengrauen „Ich bin auch Arbeiter.“ Damals stärkten Millionen Menschen der rollen die verdreckten T-34-Panzer durch „Das hast du aber längst vergessen.“ demokratisch gewählten Regierung den Adlershof und schlagen mit ihren Peit- Einer der Demonstranten zieht Selb- Rücken gegen rechtsradikale Putschisten. schenantennen gegen die Straßenbahn- mann vom Tisch. Der Minister tritt schnell Nun geht es darum, eine Diktatur zu zer- Oberleitung; ein Funkenregen geht nieder. den Rückzug an. schlagen. In Schöneweide biegen die stählernen Ko- Einige hundert Meter weiter, am strate- Schon am Nachmittag hat der Ost-Ber- losse nach Karlshorst ab. gisch wichtigen Ministerium für Post- und liner Polizeichef Waldemar Schmidt (SED) Auf den anderen Einfallstraßen nach Fernmeldewesen, haben sich Einheitsso- ein scharfes Durchgreifen gefordert, doch Ost-Berlin herrscht ebenfalls reger Verkehr. zialisten bereits mit Knüppeln postiert. Im Wladimir Semjonow, sowjetischer Hoch- Ulbricht lässt aus Magdeburg und Leipzig Sekretariat liegen zwei Kleinkaliber-Ge- kommissar und damit mächtigster Mann Einheiten der Volkpolizei herankarren. Die wehre bereit. in der DDR, lehnte ab. In der Nacht drän- SED-Führung glaubt tatsächlich, die Re- Die Genossen sind besorgt, volte würde sich auf die Hauptstadt be- Trümmerberge vor den großen schränken – und entblößt die Provinz. Fenstern machen einen Einstieg Das Blut läuft über das Gesicht, ein Auge schwillt zu. leicht – aber es passiert nichts. Immer wieder rufen Leute: „Hängt ihn auf!“ is heute hält sich die Legende, der Auf- Niemand versucht, das Gebäu- Bstand am 17. Juni sei fast ausschließlich de zu stürmen, niemand drängt zum ZK, gen allerdings auch Ulbricht, Grotewohl eine Berliner Angelegenheit gewesen. Tat- wo Ulbricht und Co. immer noch tagen, und Stasi-Minister Wilhelm Zaisser auf sächlich sind die Rebellen in Städten wie niemand greift nach der Macht – das wird brüderliche Hilfe, denn die Meldungen der Bitterfeld, Görlitz oder Halle dem Ziel, die vertagt auf den nächsten Morgen. Volkspolizei alarmieren die Politbürokra- SED zu stürzen, viel näher gekommen als Um 14.15 Uhr, berichtet der Historiker ten. Ein Auszug: die in der geteilten Millionenmetropole. Hubertus Knabe in seiner detaillierten Dar- 20.12 Uhr Formierung eines Demonstra- Der Polizeichef des Bezirks Halle erhält stellung*, steigt der Bauarbeiter Horst tionszuges von ca. 1000 Menschen in der morgens um 2 Uhr Order, 350 seiner Män- Schlafke von der Baustelle Block C Süd Stalin-Allee. ner nach Berlin zu schicken; der höchste auf den Tisch vor dem Haus der Ministe- 20.35 Uhr Vom Block G Süd Stalin-Allee SED-Funktionär der Stadt macht sich rien und ruft: „Wenn Ulbricht oder Grote- werden Fahnen und Plakate abgerissen. ebenfalls auf den Weg. Die junge Gerda wohl nicht in einer halben Stunde hier sind, 20.40 Uhr Arbeitsniederlegung im Fort- Haak, verantwortlich für Agitation und dann marschieren wir durch die Straßen schrittswerk I. Propaganda, soll in der SED-Bezirkslei- und rufen zum Generalstreik auf.“ 21.08 Uhr Zwei Demonstrationszüge in tung, dem Zentrum der Macht, die Stellung Irgendjemand gibt die Parole aus, alle Stärke von insgesamt 3000 Personen be- halten. sollten sich am 17. Juni um 7 Uhr früh auf wegen sich in (der) Höchststraße Rich- In den großen Fabriken der Stadt sind dem Strausberger Platz versammeln. So tung Alexanderplatz. die Meldungen des Rias über die Unruhen verbreiten es die Demonstranten, als sie Auch Semjonow wird nun unruhig. Der in Berlin das einzige Thema: Soll man sich schließlich am Nachmittag vom Haus der Deutschland-Experte präsentiert sich west- dem Streik anschließen? Um 9.30 Uhr kann Ministerien zurück zur Stalin-Allee laufen. lichen Besuchern gern als kultivierter Plau- der Arbeitsdirektor der Lokomotiv- und So verbreitet es – fast immer in verklausu- derer und Verehrer Goethes. Jetzt zeigt Waggonbaufabrik Ammendorf die Leute lierter Form – auch der Rundfunk im ame- der glatte Diplomat Härte. nicht mehr aufhalten. Grotewohl notiert als Resultat der Ab- Über 2000 Arbeiter strömen in Richtung * Hubertus Knabe: „17. Juni 1953“. Propyläen Verlag, sprache: „Sowjetische Truppen in Bereit- Innenstadt. Sie rufen „Spitzbart, Bauch München; 488 Seiten; 25 Euro. schaft. Vor Einsatz Verständigung mit Pol- und Brille – nicht des Volkes Wille“ oder

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nen bleiben, politisch Verfolgte dürfen in die Freiheit. Szenen wie jene aus Brandenburg, die sich vielerorts ähnlich zutragen, bringen den Aufständischen vom 17. Juni den Ruf ein, wohl die vernünftigsten Revoluzzer der deutschen Geschichte gewesen zu sein. „Wir wollen als deutsche Arbeiter diszi- pliniert streiken“ ist die in Dresden von Streikführer Wilhelm Grothaus verbreitete Devise. In Görlitz patrouillieren streikende Arbeiter vor dem Büro des Oberbürger- meisters, damit dieses nicht verwüstet wird. Rudolf Weber vom Streikkomitee Halle hinterlässt beim Rundfunksender der Stadt ein Schreiben: Im Namen des Zentralen Streikkomitees JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST STADT GÖRLITZ STADT ordne ich an, dass sämtliche Immobilien regierungsfeindliche Aktionen festzustellen“ im Gebäude des Rundfunkstudios auf keinen Fall demoliert werden dürfen. Per- „Ulbricht, Pieck und Grotewohl machen ten, sie können 21000 Betriebsschützer und sonen, welche sich trotz Hinweis dieser uns den Magen hohl“. diverse Sondereinheiten einsetzen oder auf Anordnung irgendeiner Straftat schuldig Es sind ungefähr zehn Kilometer, welche 13000 Stasi-Mitarbeiter und 113000 Solda- machen, werden wir aufs Strengste zur die Demonstranten auf der vierspurigen ten von der Kasernierten Volkspolizei zu- Rechenschaft ziehen. Magistrale zurücklegen müssen. Ihr Weg rückgreifen. Es fehlt nur der Satz, dass auch das Be- führt direkt durch das große Industriege- Doch die Sicherheitskräfte sind auf den treten des Rasens verboten ist. biet Halles; rasch schwillt der Zug an. Kampf gegen das eigene Volk kaum vor- Vereinzelt sind allerdings auch andere, Um 10 Uhr begreift SED-Statthalterin bereitet – und ohne ausdrücklichen Schieß- blutige Vorfälle überliefert. In Branden- Gerda Haak, dass sie handeln muss. Was befehl von oben trauen sich viele unten burg etwa übernehmen im Gefängnis bald tun? Sie ruft im Zentralkomitee in Berlin nicht, das Feuer zu eröffnen. Einige Offi- die Streikführer das Kommando, und sie an. Der zuständige Funktionär verweist sie ziere verbieten sogar ausdrücklich, auf die liefern Richter Benkendorff der tobenden gleich weiter, dann ist die Leitung tot. Auch Demonstranten zu zielen. Menge aus. der Polizeichef von Halle kann nicht hel- Wie wenig sich manche der jungen Män- Noch auf dem Justizgelände schlagen fen, er hat keine Genehmigung von den ner in den „bewaffneten Organen“ (SED- ihm Aufständische bereits die Schädel- Russen. Jargon) im Jahre vier nach der DDR-Grün- schwarte auf, das Blut läuft über das Ge- Um 11.15 Uhr fährt Haak zur sowjeti- dung den ewigen Autoritäten Marx, En- sicht, ein Auge schwillt zu. Nahezu ohn- schen Kommandantur und drängt auf ei- gels oder Lenin verpflichtet fühlen, belegt mächtig stolpert der Mann an der Spitze ei- nen Einsatz. Aber Moskaus Generälen ein Vorfall in Brandenburg. Dort sollen ner johlenden Menge zum Marktplatz. Im- fehlen ihre Truppen, die sind noch im Som- Volkspolizisten ein Polizeigebäude vor auf- mer wieder rufen Leute: „Hängt ihn auf, mermanöver. Und ohne ihre Sowjetsolda- gebrachten Demonstranten schützen. hängt ihn auf!“ Ein Arzt rettet den schwer ten als Rückhalt verweigern sie auch der Plötzlich tönt es aus der Menge: „Wenn du Verletzten schließlich in seine Wohnung. Volkspolizei den Schießbefehl. nicht sofort nach Hause kommst, dann Dass die verhasste Staatsmacht in Hun- Haak eilt zurück in ihre Bezirksleitung. kannst du was erleben.“ Da löst sich ein derten Städten zurückweichen muss, Davor sammeln sich bereits erste Demon- junger Vopo aus der Absperrkette, übergibt spricht sich rasch herum oder wird vom stranten. „Plötzlich hörten wir Lärm und Pistole und Koppel einem Kollegen und Rias übertragen und versetzt die Streiken- großes Randalieren im Haus. Im Erdge- wechselt unter dem Beifall der SED-Geg- den in Hochstimmung. Längst ist aus der schoss wurden Scheiben eingeschlagen. ner die Seiten; Muttern sei Dank. Arbeiterrevolte ein Volksaufstand gewor- Wir waren im Moment völlig ratlos“, no- Der Zorn der Aufständischen richtet sich den. Die Kirchen, viele Intellektuelle und tiert die Funktionärin hinterher. in allen Städten gegen die Symbole der Akademiker sowie natürlich die Ost-CDU, Die Genossen schließen sich in ihren SED-Macht, vor allem die Zuchthäuser. die Ost-Liberalen und die anderen Block- Büros ein. Vergebens versuchen die Haus- In Brandenburg sieht der verhasste SED- parteien stehen allerdings in Treue fest zur besetzer, die Türen einzutreten. Sie plün- Richter Harry Benkendorff um kurz nach SED. In einem der nun dem SPIEGEL frei- dern die Vertriebsabteilung für Parteilite- 10 Uhr die Menschenmassen auf das Ge- gegebenen Berichte des sowjetischen Ge- ratur und werfen Ulbricht-Biografien unter richt zukommen, das neben dem Gefäng- heimdienstes heißt es: großem Jubel der Menge aus dem Fenster. nis liegt. Die Demonstranten verlangen die Auf dem Territorium der Republik sind Als Volkspolizisten einen der Demon- Freilassung aller politischen Häftlinge. massenhafte regierungsfeindliche Aktio- stranten festhalten, reißen die Aufständi- Benkendorff und drei Polizisten ver- nen festzustellen. schen ihnen die Schulterstücke runter und schanzen sich und nehmen die Eingangs- Doch nur in wenigen Orten, so berich- nehmen ihnen die Pistolen ab. Wer sich treppe unter Feuer. Doch die Vertreter des tet der Historiker Hans-Peter Löhn, kris- wehrt, wird von den Arbeitern verprügelt. SED-Staats haben pro Pistole nur acht tallisiert sich aus den Reihen der Aufstän- So etwas haben die Spitzengenossen der Schuss Munition, und von draußen rufen dischen eine „zentrale Führungsgruppe“ SED immer befürchtet. Wenige Monate die Aufständischen: „Kameraden, legt die heraus – Voraussetzung für eine nicht nur vor dem Aufstand hatte jedes Politbüro- Waffen nieder, ihr seid sowieso die Letzten, symbolische Machtübernahme*. Mitglied von der Stasi einen Waffenschein alle anderen haben sich schon ergeben.“ Es sind Männer wie der Besitzer eines bekommen. Da lassen Ulbrichts Repräsentanten schließ- Blumengeschäfts und ehemalige Landrat Dabei fehlt es dem SED-Staat nicht an lich fünf der Rebellen hinein. Männern und Schießgerät, um Unzufrie- Gemeinsam schaut Richter Benkendorff * Hans-Peter Löhn: „Spitzbart, Bauch und Brille – sind dene abzuwehren. Die Machthaber gebie- mit ihnen die Gefangenenakten durch. nicht des Volkes Wille“. Edition Temmen, Bremen; 212 Sei- ten über 115000 Volks- und Grenzpolizis- Betrüger und Vergewaltiger müssen drin- ten; 10,90 Euro.

der spiegel 24/2003 43 Herbert Gohlke oder der Um 9.15 Uhr stehen am Arbeiter Hans Höring, die Bahnhof Friedrichstraße und dafür sorgen, dass Halle zu in der Leipziger Straße zwei diesen Ausnahmen gehört. Kioske in Flammen, bald Mit sechs weiteren Demon- brennt auch die verhasste stranten gründen sie auf Zollbude am Potsdamer dem Hallmarkt, dem zentra- Platz, wo Ost-Berliner bei len Kundgebungsplatz, ein der Rückkehr aus dem West- Streikkomitee. Und da eine teil der Stadt gefilzt werden. Lautsprecheranlage der SED Vor dem Haus der Minis- bereitsteht, kann sich jeder terien drängen 25000 Men- von ihnen den Tausenden schen gegen den Ring, wel- kurz vorstellen und wird – chen die Vopos um den Vor- ganz basisdemokratisch – mit platz gelegt haben. Aus der Beifall bestätigt. Menge fliegen Steine. Wer- Was das Hallenser Streik- den sich die SED-Genossen komitee nun an Forderungen halten können? formuliert, verlangen die Um kurz vor 10 Uhr ruft Ostdeutschen fast überall: Semjonow aus Karlshorst im Rücktritt der DDR-Regie- Zentralkomitee an. Dort will rung, Senkung der Preise, gerade das Politbüro eine Entlassung aller politischen Krisensitzung beginnen. Der Gefangenen und freie Wah- Hochkommissar verlangt von len in ganz Deutschland. den führenden Einheitssozia- Ob das einem Votum für listen, sofort zu ihm zu kom- rheinischen Kapitalismus men. Er fürchtet um deren und Westbindung gleich- Sicherheit. kommt oder als Plädoyer Der Chefredakteur des für ein neutrales Gesamt- „Neuen Deutschland“, Ru- deutschland mit Planwirt- dolf Herrnstadt, steigt bei Ul- schaft verstanden werden bricht ein:

muss, wie es der westdeut- VEREIN ZEIT-GESCHICHTE(N) Wir fuhren in geschlossener schen SPD vorschwebte, ist Aufständische in Halle: Votum für ein neutrales Gesamtdeutschland? Kolonne durch die Straßen, bis heute umstritten. Sicher die inzwischen voll von auf- ist: Die Rebellen verlangen vielerorts „werden euch die Imperialisten ersäufen geregten Menschen waren. Einige dran- den Abzug aller Besatzungsmächte – also wie einen Wurf junger Katzen.“ gen mit erhobenen Fäusten auf die Wagen auch der Amerikaner. Und der Ruf, die Ist dieser Augenblick jetzt gekommen? ein. Weder Ulbricht noch ich sprachen. Großindustrie zu reprivatisieren, wird nir- Im ehemaligen Offizierscasino der Pio- gends laut. uf dem Strausberger Platz in Berlin nierschule 1 in Karlshorst, wo am 8. Mai Wohl am weitesten geht die Macht- Adrängen sich am 17. Juni bereits mor- 1945 Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel übernahme in Görlitz an der deutsch-pol- gens um 7 Uhr über 10000 Demonstranten, die bedingungslose Kapitulation unter- nischen Grenze. Hier leben viele Ver- wenig später laufen 150 000 Menschen zeichnet hatte, stehen die DDR-Größen triebene, etliche aus dem Ostteil der Stadt durch Berlin-Mitte. Sie haben kein festes dann ratlos herum. am anderen Ufer der Neiße, der jetzt zu Ziel, keinen Plan, keine Organisation. Sie Hochkommissar Semjonow behandelt Polen gehört. Innerhalb weniger Stunden fluten die Straßen der Stadt, manche ran- seine Gäste mit herablassender Ironie. besetzen die Aufständischen nicht nur dalieren, viele brüllen vor allem die Wut „Rias gibt durch, dass es in der DDR eine alle wichtigen Gebäude, sondern bilden auf das Regime heraus. Regierung schon nicht mehr gibt“, erklärt ein Stadtkomitee. Bis zur Durchführung Allein der Protestzug aus Köpenick zum er ihnen. „Na, fast stimmt es doch.“ freier Wahlen soll dieses die laufenden Stadtzentrum ist mehrere Kilometer lang. Der Diplomat meldet nach Moskau, dass Geschäfte leiten. Um kurz nach 15 Uhr In der Mühlenstraße entdecken die De- die Unruhen vom Westen gesteuert seien. gibt der einstige Sozialdemokrat Max Latt monstranten einen Ifa-Wagen mit dem po- Das war, räumt Boris Basanow, ein dama- bekannt, dass man nun die SPD neu grün- lizeilichen Kennzeichen GB 013 417. An liger Mitarbeiter Semjonows, heute ein, den werde. diesem Tag ist das eine gefährliche Buch- „unsere Erfindung“. stabenkombination, denn nur Der westdeutsche Geheimdienst etwa Funktionäre führen „GB“ im tappt während der Ereignisse vollkommen „Wenn ich sterbe, werden euch die Imperialisten Nummernschild. im Dunkeln. Immer noch hält der BND ersäufen wie einen Wurf junger Katzen.“ Das Auto gehört der SED-erge- die Akten seines Vorläufers „Organisation benen Ost-CDU, drinnen sitzt der Gehlen“ unter Verschluss. Zu diesem Zeitpunkt ist Görlitz eine be- Parteivorsitzende und stellvertretende Doch im Herbst 1953 entführt die Stasi freite Stadt. Und während mit jeder Minu- DDR-Ministerpräsident Otto Nuschke. Sein den Berliner Spitzenmann des Dienstes te die Freude darüber wächst, röhren in Chauffeur will noch Gas geben, doch einer Werner Haase samt Unterlagen. Darunter vollem Tempo sowjetische Panzer Rich- fasst durch das offene Fenster und zieht den befindet sich ein Schreiben vom 20. Juni tung Neiße, um dem Treiben ein Ende zu Schlüssel ab. 1953 aus Pullach, das nun Roger Engelmann bereiten. Über die nahe Oberbaumbrücke schie- von der Birthler-Behörde und Karl Wilhelm In Moskau fürchten Stalins Erben Beri- ben die Arbeiter den Wagen in den West- Fricke veröffentlicht haben. Darin steht: ja und Malenkow zu dieser Zeit, dass sich sektor, West-Berliner Polizisten retten Der bisherige Gesamteindruck über die eine Prophezeiung des toten Tyrannen nun Nuschke vor den aufgebrachten Menschen Vorgänge in Ost-Berlin und in der Zone bewahrheiten könnte. „Wenn ich sterbe“, in das Polizeirevier 109 in der Köpenicker verstärkt die Auffassung, dass es sich um hatte der Generalissimus vorhergesagt, Straße. von östlicher Seite inszenierte Aktionen

46 der spiegel 24/2003 Deutschland UNITED PRESS (L.); DPA (R.) PRESS (L.); DPA UNITED Sowjetische Truppen in Berlin, deutsches Opfer: Wagemutige versuchen, die Panzer mit Holzbalken zu stoppen mit dem Ziel handelt, die Wiedervereini- sich gerade Bergbauminister Selbmann und schießen!“, kam der Zug langsam zum gung im großdeutschen Rahmen ins Rol- seine Mitarbeiter mit Tischbeinen, denn Halten. Ich erklärte den Vopos, dass wir len zu bringen. einige der Demonstranten haben schon Arbeiter aus Köpenick wären, aber sie Ähnlichen Unsinn verbreiten auch der den Materialversorgungstrakt erobert. sagten, wenn wir nicht zurückgingen, hät- französische Geheimdienst und die CIA. Der Kommandeur der Kolonne kann ten sie Befehl zu schießen. Langsam be- Um 11.45 Uhr berichtet Semjonow den Selbmann beruhigen. Er werde nun die wegte sich die Masse hinter uns zurück. deutschen Genossen, Moskau habe ein Straßen räumen – und das macht der Mann Als die Entfernung etwa gut 50 Meter be- Machtwort gesprochen: Der „Ausnahme- auch. Zuerst feuern die Sowjetsoldaten mit trug, schossen sie doch. zustand“ werde verhängt. „Jetzt ist der ihren Maschinengewehren nur in die Luft. Berger wird festgenommen und zu sie- Spuk sehr schnell vorbei.“ Dann halten sie auch in die Menge. ben Jahren Arbeitslager verurteilt. Er muss Viele Politbüro-Mitglieder haben wäh- Schreiend werfen sich die Menschen auf im Gulag in Workuta schuften. rend der Nazi-Zeit großen persönlichen Mut den Boden, flüchten in die umliegenden Im Westen ist später von Massakern und gezeigt. Feigheit kann also nicht das Motiv Straßen und vor allem über den im Zwei- einem Blutbad die Rede. Inzwischen sind dafür gewesen sein, dass niemand von ihnen ten Weltkrieg zerbombten Potsdamer sich die Analytiker weitgehend einig, dass in diesem Augenblick aufbegehrt. Ist es die Platz, der an der Demarkationslinie liegt, die Sowjetarmee für ihre Verhältnisse mo- linke Variante deutschen Obrigkeitsden- in den Westen. derat vorgeht. Die meisten Opfer werden kens, oder fürchten sie einfach nur um ihre In Mitte und anderen Stadtteilen rollen von Querschlägern getötet. Ledersessel und Dienstwagen, auf die sie die Panzer langsam über den Asphalt und Und die Deutschen machen es Moskaus so lange haben warten müssen? zwingen die Aufständischen auf die Geh- Männern auch nicht allzu schwer. Um 14.18 Als in Ungarn 1956 die Menschen gegen steige. Volkspolizisten und Sowjetarmisten Uhr meldet ein Volkspolizist: „Starker das Regime aufstehen, solidarisieren sich greifen sich, wen sie erwischen können. Fußgängerverkehr von Richtung Alex nach Teile der KP-Führung mit den Aufständi- Viele der Demonstranten werden jetzt Lichtenberg“ – es sind Demonstranten, die schen. Auch während des Prager Frühlings erst rabiat – es ist die Wut der Enttäu- nach Hause gehen. 1968 haben die Russen tsche- Zwar streiken noch Tage später über choslowakische Spitzenge- hunderttausend Ostdeutsche in vielen nossen gegen sich. „Vergiss das nie: Die DDR kann ohne uns, ohne die DDR-Betrieben. Zehntausende protestie- Die Führung der SED hin- Sowjetunion, ihre Macht und Stärke, nicht existieren.“ ren in Halle oder Magdeburg sogar auf gegen versagt kläglich. Nicht der Straße. Aber die Machtfrage ist be- ein einziges Mitglied des obersten Zirkels schung. Sie stecken das weitgehend leer antwortet. verlangt, auf einen Waffeneinsatz zu ver- stehende Columbus-Haus am Potsdamer Selbst in den Dörfern stehen die T-34- zichten. Keiner tritt gar aus Protest zurück. Platz in Brand oder demolieren das Walter- Kolosse, nachts zieht die Stasi um die Häu- Es ist der Tiefpunkt des deutschen Kom- Ulbricht-Stadion. ser und verhaftet Streikführer. Die stille munismus. In der Leipziger Straße versuchen Wa- Hoffnung, Moskau würde die SED fallen gemutige, die Panzer mit Holzbalken zu lassen, hat sich zerschlagen. n der Ferne können die Politbürokraten stoppen, die sie in die Ketten schieben. Ei- Die DDR ist endgültig etabliert. Ischon bald das Röhren der Panzer ver- nige springen sogar auf die Ungetüme und Doch eines wissen nun alle, und nie- nehmen, die in die Berliner Innenstadt rol- wollen Steine in die offenen Luken werfen. mand hat es so klar ausgesprochen wie len. Semjonows Adlatus Basanow erinnert In Berlin schießen nun auch die Vopos, Kreml-Chef Leonid Breschnew 1970 ge- sich an zwei Vorgaben aus Moskau: „Ers- etwa vor dem Polizeipräsidium am Alex- genüber Ulbrichts späterem Nachfolger tens im Falle massenhafter Ausschreitun- anderplatz oder auf der Warschauer Stra- : „Erich, ich sage dir offen, gen das Feuer zu eröffnen. Zweitens die ße, wie der damalige Ost-Berliner Streik- vergiss das nie: Die DDR kann ohne uns, Bildung von Standgerichten und die Er- führer Siegfried Berger berichtet (im In- ohne die Sowjetunion, ihre Macht und schießung von Rädelsführern.“ ternet nachzulesen unter www.17juni53.de): Stärke, nicht existieren. Ohne uns gibt es Die Panzer fahren mit offenen Luken Eine größere Zahl von Volkspolizisten keine DDR. “ durch die Stadt; ein Geschosshagel aus fau- kam uns mit ihren Gewehren im An- Als 1989 die Ostdeutschen erneut auf lem Gemüse und Steinen geht auf sie nie- schlag entgegen. Wir in der ersten Reihe die Straße gehen und Michail Gorbatschow der. Um kurz vor 12 Uhr erreichen 20 T-34 hakten uns gegenseitig ein. Als die Poli- den Sowjetmilitärs das Eingreifen unter- sowie ein Dutzend Panzerspähwagen das zisten uns ihre Gewehrläufe auf die Brust sagt, bricht das SED-Regime sofort zu- Haus der Ministerien. Drinnen bewaffnen drückten und riefen: „Zurück, oder wir sammen. Klaus Wiegrefe; Uwe Klußmann

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