Gesnerus 77/2 (2020) 279–311, DOI: 10.24894/Gesn-de.2020.77012

Vom «autistischen Psychopathen» zum Autismusspektrum. Verhaltensdiagnostik und Persönlichkeitsbehauptung in der Geschichte des Autismus

Rüdiger Graf

Abstract

Der Aufsatz untersucht das Verhältnis von Persönlichkeit und Verhalten in der Defi nition und Diagnostik des Autismus von Kanner und Asperger in den 1940er Jahren bis in die neueren Ausgaben des DSM und ICD. Dazu unter- scheidet er drei verschiedene epistemische Zugänge zum Autismus: ein exter- nes Wissen der dritten Person, das über Verhaltensbeobachtungen, Testver- fahren und Elterninterviews gewonnen wird; ein stärker praktisches Wissen der zweiten Person, das in der andauernden, alltäglichen Interaktion bei El- tern und Betreuer*innen entsteht, und schließlich das introspektive Wissen der ersten Person, d.h. der Autist*innen selbst. Dabei resultiert die Kerndif- ferenz in der Behandlung des Autismus daraus, ob man meint, die Persönlich- keit eines Menschen allein über die Beobachtung von Verhaltensweisen er- schließen zu können oder ob es sich um eine vorgängige Struktur handelt, die introspektiv zugänglich ist, Verhalten prägt und ihm Sinn verleihen kann. Die Entscheidung hierüber führt zu grundlegend anderen Positionierungen zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen, wie insbesondere zu ’ Applied Behavior Analysis. Autismus; Psychiatriegeschichte; Wissensgeschichte; Verhaltenstherapie; Neurodiversität

PD Dr. Rüdiger Graf, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam, [email protected].

Gesnerus 77 (2020) 279

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access «Autistic Psychopaths» and the Spectrum. Diagnosing Behavior and Claiming Personhood in the History of Autism

The article examines how understandings of personality and behavior have interacted in the defi nition and diagnostics of autism from Kanner and As- perger in the 1940s to the latest editions of DSM and ICD. It distinguishes three different epistemic approaches to autism: an external or third-person knowledge derived from observations, tests and parent interviews; a more practical, second-person knowledge, which emerges in the continuous daily interactions of primary caretakers; and fi nally the introspective fi rst person knowledge by autists themselves. The core difference in the treatment of au- tism derives from the following question: Can a person’s personality only be known by examining his or her behavior or is it an independent structure that can be accessed introspectively, endowing behavior with meaning? The answer to this question determines the attitude to the use behavior therapy in the case of autism and, particularly, to Ole Ivar Lovaas’ Applied Behavior Analysis. Autism; Behavior Therapy; ; Asperger; Personality; history of knowlegde

Einleitung

Seit der Film Ra inman im Jahr 1988 Millionen von Menschen wahrschein- lich zum ersten Mal mit Autismus konfrontierte, hat die massenmediale Auf- merksamkeit für das Phänomen stark zugenommen und sich gerade in den letzten Jahren noch einmal intensiviert.1 Diese Aufmerksamkeitssteigerung resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Zahl der Autismusdiagnosen in den letzten 40 Jahren vor allem im angloamerikanischen Raum, aber auch darü- ber hinaus sprunghaft angestiegen ist. Während epidemiologische Studien in den 1960er und 1970er Jahren schätzten, dass von 10.000 Kindern etwa vier oder fünf autistisch seien, ist diese Zahl im letzten Jahrzehnt in der anglo- amerikanischen Welt auf 157 angestiegen, so dass bei einem von 64 Kindern die Autismus-Diagnose gestellt wird bzw. gestellt werden kann.2 Nach den autoritativen Klassifi kationen des Diagnostic and Statistical Ma- nual of Mental Disorders (DSM) und der International Statistical Classifi ca-

1 Hacking 2009, 46. Zum Rainman-Effekt siehe Silberman 2015, 354–380 sowie exemplarisch Haddon 2003; Adam. A Story about Two Strangers 2009; Atypical. A Netfl ix Original Se- ries. Seasons 1–3 2017ff. 2 Evans 2017, 1. Etwas konservativere Schätzungen gehen von einem Prozent Autist*innen aus: Happé/Frith 2020.

280 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access tion of Diseases and Related Health Problems (ICD) bezeichnet Autismus eine tiefgreifende und umfassende Entwicklungsstörung («pervasive deve- lopmental disorder»), die sich in einer Kombination bestimmter Verhaltens- weisen, einem «behavioral syndrome», ausdrückt und deren genetische, neu- ronale oder physiologische Ursachen unbekannt sind.3 Dabei besteht auch Unsicherheit darüber, ob es sich überhaupt um ein Krankheitsbild handelt oder nicht vielmehr um eine Sammeldiagnose, die momentan für verschie- dene Störungen vergeben wird, welche aber durchaus unterschiedliche Ursa- chen haben können. In der öffentlichen Diskussion – vor allem in den ein- schlägigen Internet-Foren – werden bisweilen spektakuläre Theorien über die Ursachen der sogenannten «Autismus-Epidemie» diskutiert.4 Neben den Diskussionen über mögliche auslösende Faktoren herrscht allerdings weitge- hende Einigkeit darüber, dass für den raschen Anstieg der Diagnosen auch die Veränderung der diagnostischen Kriterien, die dadurch bedingte Ver- schiebung von Aufmerksamkeitsstrukturen bei Eltern, Psycholog*innen und Pädagog*innen sowie die Bereitstellung besonderer Unterstützungsangebote verantwortlich waren.5 Zur Entstehung des Autismus als psychiatrischer Diagnose und ihrer Verän- derung liegen für den angloamerikanischen Raum bereits erste Untersuchun- gen vor. Aus der psychiatrischen und neurowissenschaftlichen Forschungsdis- kussion heben Francesca Happé und Uta Frith sieben Trends hervor, entlang derer sich das wissenschaftliche Verständnis des Autismus seit den 1970er Jahren verändert habe:

«(1) from a narrow defi nition to wide diagnostic criteria; (2) from a rare to a relatively com- mon condition […]; (3) from something affecting children, to a lifelong condition; (4) from something discrete and distinct, to a dimensional view; (5) from one thing to many ‘autisms’, and a compound or ‘fractionable’ condition; (6) from a focus on ‘pure’ autism, to recogni- tion that complexity and comorbidity is the norm; and fi nally, (7) from conceptualising au- tism purely as a ‘developmental disorder’, to recognising a neurodiversity perspective, op- erationalised in participatory research models.»6 Weiter historisch zurückgreifend, hat Bonnie Evans gezeigt, dass Autismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts meist als kindliche Schizophrenie ver- standen und mit überbordender Phantasie und Halluzinationen verbunden worden war, wohingegen seit den 1960er Jahren gerade die Abwesenheit ei- nes inneren symbolischen Lebens zum Kriterium wurde.7 Diese akademische Diskussion wurde wesentlich von Eltern autistischer Kinder mitgeprägt, wie

3 Silverman 2012, 30–31. 4 Eyal et al. 2010. 5 Evans 2017, 4–5. Nadesan 2005, 1–2. schließt daraus «the idea of autism is fundamentally so- cially constructed»; siehe auch Happé/Frith 2020. 6 Happé/Frith 2020, 1. 7 Evans 2013.

Gesnerus 77 (2020) 281

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Chloe Silverman herausgearbeitet hat.8 Deren Verbände hatten eb enfalls ei- nen großen Einfl uss auf die Verbreitung von Autismuswissen und die Bereit- stellung von Hilfsangeboten.9 Stärker kulturwissenschaftlich angelegte Arbei- ten betonen darüber hinaus die Bedeutung des Autismus als «Diagnose der Gegenwart», anhand derer Menschen und Gesellschaften verhandeln, was sie sind bzw. nicht sind.10 In diesem Sinne meint etwa der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking, es sei nicht zufällig, dass Autisten oft als Außerirdische be- schrieben werden; ihr Verhalten erscheine uns so fremd wie ihnen das unsrige und sie dienten der kontrastierenden Diskussion über u ns selbst.11 Eine Kernannahme der noch jungen Autismus-Geschichtsschreibung be- steht darin, dass Autismus sozial konstruiert ist bzw. die Entwicklung der Dia- gnose durch sich wandelnde Vorstellungen von normalem und abnormem Ver- halten und die veränderlichen Techniken, dieses zu beobachten und zu klassifi zieren, geprägt wurde.12 Während das Therapieziel, Menschen vom Au- tismus zu befreien und damit «normal» z u machen, bis in die 1980er Jahre hin- ein universal anerkannt war, änderte sich dies mit der Entstehung von Self-ad- vocacy-Gruppen im Rahmen der allgemeinen Behindertenrechtsbewegung.13 An der Spitze der Neurodiversitätsbewegung reklamierten Autist*innen in den letzten 20 Jahren verstärkt das Recht, solche zu sein, und wehrten sich gegen die von außen an sie herangetragene Zumutung, von ihrem Autismus befreit werden zu müssen.14 Die Frage, ob Autismus therapiert werden muss oder nicht, berührt die grundlegendere Debatte darüber, was legitime Formen der Persön- lichkeit und ihres Ausdrucks sind und inwiefern die Fähigkeit, bestimmte kom- munikative und soziale Beziehungen zu anderen aufbauen zu können, ein kon- stitutives Merkmal für die Identität als Person ist.15 In den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen über den Autismus und dessen Therapie wird also auch die Frage verhandelt, was es bedeutet, eine Person bzw. ein Subjekt zu sein. In kognitions- und kulturwissenschaftlichen sowie philosophischen Diskussionen dient Autismus gewissermaßen als Grenzfall, um die Bedingun- gen des Menschseins auszuloten.16 Wenn ich im Folgenden die Geschichte des Autismus, seiner Diagnose und seiner Therapie untersuche, frage ich danach, inwiefern diese von sich

8 Silverman 2012. 9 Silverman 2012; Silberman 2015; Donvan/Zucker 2016. 10 Göhlsdorf 2019; Göhlsdorf 2014. 11 Hacking 2009, 45. 12 Nadesan 2005; Waltz 2013; Murray 2008. Zur Normalitätsbestimmung siehe Alexa Geist- hövels Einleitung zu diesem Heft. 13 Charlton 1998; Stoll 2017. 14 Silberman 2015. 15 Silverman 2012, 7. 16 Yergeau 2017, 91.

282 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access wandelnden und konkurrierenden Verständnissen dessen beeinfl usst wurde, was eine Person ist und auf welche Weise Wissen über sie generiert werden kann. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Persönlichkeit und Verhal- ten: Kann die Persönlichkeit eines Menschen allein über die Beobachtung von Verhaltensweisen erschlossen werden und existiert sie vielleicht gar nicht jen- seits von diesen oder handelt es sich um eine vorgängige Struktur, die auch in- trospektiv zugänglich ist, Verhalten prägt und ihm Sinn verleihen kann?17 Von diesen verschiedenen Formen des epistemischen Zugangs hängt es ab, so werde ich zu zeigen suchen, ob Autismus als therapiebedürftige Störung bzw. Krankheit begriffen wird, wie es im Schlachtruf der Autismus-Elternverbände «Cure Autism Now» zum Ausdruck kommt, oder als andersartige, aber glei- chermaßen legitime Weltsicht und Lebensform, wie Betroffene und die Neu- rodiversitätsbewegung argumentieren.18 Beide Sichtweisen beeinfl ussten ein- ander und ich werde zudem danach fragen, inwiefern ihr Wechselspiel in eine Zeitgeschichte des Selbst und der Subjektivierung einzuordnen ist. Um diese Fragen zu beantworten, untersuche ich zunächst das Verhältnis von Persönlichkeit und Verhalten in der Defi nition und Diagnostik des Au- tismus von den klassischen Formulierungen bei Kanner und Asperger in den 1940er Jahren bis in die neueren Ausgaben des DSM und ICD. Zweitens werde ich zeigen, dass aus diesen verschiedenen Autismusverständnissen auch grundlegend andere Positionierungen zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen folgten, wie insbesondere zu Ole Ivar Lovaas’ Applied Behavior Analysis, die seit den 1970er Jahren zum «Goldstandard der Autismustherapie» avancier- te.19 Dazu unterscheide ich idealtypisch zwischen verschiedenen epistemi- schen Zugängen zum Autismus: einem externen Wissen der dritten Person, das von wissenschaftlichen Expert*innen über zunehmend standardisierte Verhaltensbeobachtungen, Testverfahren und Elterninterviews gewonnen wird, einem stärker praktischen Wissen der zweiten Person, das in der andau- ernden, alltäglichen Interaktion von Eltern und Betreuer*innen mit Autist*innen entsteht, zu denen sie auch enge affektive Beziehungen haben, und schließlich dem introspektiven Wissen der ersten Person, d.h. der Autist*innen selbst.20 Dabei liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Ge- schichte des Autismus darin, wie diese Wissensformen zueinander in Bezie- hung gesetzt werden, wenn etwa Eltern zugleich psychiatrische Expert*innen sind, Autist*innen beanspruchen, Expert*innen ihrer selbst zu sein, oder

17 MacKinnon 1944. 18 Siehe als eindrückliche Darstellung der Konfl ikte zwischen diesen Gruppen: Solomon 2013, 219–292; Kavanagh 2015. 19 Silverman 2012, 114. 20 Zur Irreduzibilität verschiedener epistemischer und sprachlicher Zugänge zum Mentalen siehe klassisch Bieri 1993; Anscombe 1981.

Gesnerus 77 (2020) 283

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Psychiater*innen die Introspektion von Autist*innen in die Defi nition des Phänomens integrieren.

Autistische Psychopathen und Verhaltensdiagnosen

Fast zeitgleich beschrieben (1894–1981) und Hans Asperger (1906–1980) in den 1940er Jahren Kinder, die weder körperliche Beeinträch- tigungen aufwiesen noch offensichtlich «schwachsinnig» waren, wohl aber be- sondere Verhaltensweisen zeigten, die sie «autistisch» nannten. Kanner, der 1930 am Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore eine kinderpsychiatri- sche Klinik eingerichtet und 1935 das erste Lehrbuch zur Kinderpsychiatrie veröffentlicht hatte, war durch Anni Weiss (1897–1991) und Georg Frankl (1897–1976), zwei Wiener Heilpädagogen, die an seine Klinik gewechselt wa- ren, mit dem Autismusverständnis bekannt gemacht worden, das sich ur- sprünglich in Wien ausgebildet hatte.21 Bei elf Kindern, die in seiner Klinik vorgestellt worden waren, beobachtete er ein Syndrom von Verhaltensweisen, das er als «autistic disturbances of affective contact» begriff: «The outstan- ding, ‘pathognomonic,’ fundamental disorder is the children’s inability to re- late themselves in the ordinary way to people and sit uations from the begin- ning of life.»22 Aus dieser Unfähigkeit, sich zu anderen in Beziehung zu set- zen, resultiere von Anfang an eine «extreme autistic alonness». Diese beherrsche das gesamte Verhalten des autistischen Kindes, das außerdem ge- prägt sei von einem «anxiously obsessive desire for the maintenance of same- ness that nobody but the child himself may disrupt on rare occasions.»23 Die Kinder wiederholten die immer gleichen stereotypen Verhaltensweisen, näh- men andere Menschen vor allem als potenzielle Störungen von Regelhaftig- keit wahr und reagierten mit Temperamentsausbrüchen, wenn ihre Routinen gestört wurden.24 Das Bedürfnis nach Gleichheit und die dadurch bedingte autistische Ab- schottung von Anderen erklärten für Kanner die Schwierigkeiten autistischer Kinder beim Spracherwerb und allgemein beim Lernen, ihre Unfähigkeit zur sozialen Interaktion und ihre stereotypen Verhaltensweisen. Aufgrund dieser Probleme würden die Kinder oft für schwachsinnig gehalten, aber Kanner meinte, seine elf Patienten verfügten über ein gutes kognitives Potenzial, was schon ihr äußeres Erscheinungsbild verrate: «They all have strikingly intelli-

21 Sheffer 2018, 60; siehe auch die Zusammenfassung bei Göhlsdorf 2015, 225–226. 22 Kanner 1943, 242. 23 Kanner 1943, 245. 24 Kanner 1943, 249.

284 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access gent physiognomies. Their faces at the same time give the impression of seri- ous-mindedness and, in the presence of others, an anxious tenseness.»25 Kan- ner führte keine besonderen Tests mit den Kindern durch, sondern verließ sich zur Bestimmung der Störung auf die Erzählung von Fallgeschichten, wo- bei er auch immer auch auf die Familiengeschichte zurückgriff. Sein Wissen über das autistische Kind entstand also aus der Perspektive der dritten Per- son, und war zum Teil gefi ltert durch die Berichte der Eltern, die mit dem Kind interagiert hatten. Zur Verhaltenserklärung verwies er auf mentale Zu- stände des autistischen Kindes, die er aus dessen Verhalten erschloss, nämlich das Verlangen nach Gleichheit und Einsamkeit. Obwohl Kanner auch bei den Eltern auffällig häufi g emotionale Kälte, obsessive Verhaltensweisen und ein größeres Interesse an abstrakten oder konkreten Dingen als an Menschen wahrzunehmen glaubte, meinte er zunächst, das Bedürfnis des Kindes, allein zu sein, sei von Geburt an da und könne nicht auf eine etwa gestörte Bezie- hung zu seinen Eltern zurückgeführt werden. Es handele sich um «inborn au- tistic disturbances of affective contact», eine Einschätzung, die Kanner später phasenweise nicht mehr so eindeutig äußerte.26 Während Kanner die abnormen Verhaltensweisen autistischer Kinder aus ihrem Verlangen nach Gleichheit und ihrer Unfähigkeit, sich zu anderen in Beziehung zu setzen, ableitete, betrieb Hans Asperger in Wien zeitgleich We- sensschau. Der Mensch konnte für Asperger nicht als die Summe seiner Teile begriffen werden. Wenn man «seinem Wesen gerecht werden» wolle, müsse man die «menschliche Persönlichkeit» vielmehr als einen «Organism us» ver- stehen: «jeder seiner Wesenszüge ist auf den anderen bezogen, erhält von al- len anderen seine bestimmte Färbung, und wirft selbst auf alle anderen ein bestimmtes Licht.»27 Er wandte sich folglich gegen die charakterologische Me- thode, die Persönlichkeit von ihren einzelnen Charakterzügen und Verhal- tensweisen her zu erschließen, weil diese ihren Sinn erst in Bezug auf die Ge- samtpersönlichkeit erhielten. Daher sei es «in vielen Fällen besser, wenn man, anstatt zu versuchen, von den nach einem System geordneten Teilen zum Ganzen zu kommen, umgekehrt von der als ganzer erfaßten Persönlich- keit zu den einzelnen Wesenszügen geht.»28 Intelligenz- und Charaktertests lehnte Asperger grundsätzlich ab, weil die «künstlich herbeigeführte Testsi- tuation» bzw. «stereotype Testmaschinerie» nichts mit dem alltäglichen Le- ben zu tun habe.29

25 Kanner 1943, 247. 26 Kanner 1943, 250. 27 Asperger 1944, 79. 28 Asperger 1944, 81. 29 Asperger 1944, 81–82.

Gesnerus 77 (2020) 285

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Dagegen stellte er im Anschluss an Ludwig Klages (1872–1956) die «Intu- ition» des psychiatrischen Beobachters, der durch längerfristige, tägliche In- teraktion mit dem Kind dazu in der Lage sei, «das Aufbauprinzip der Per- sönlichkeit zu erfassen […], die Züge aufzuzeigen, von denen aus die zu beurteilende Persönlichkeit durchorganisiert ist.»30 Asperger beanspruchte also, sich weder auf standardisierte Testverfahren noch auf die Erzählungen anderer zu verlassen, sondern aus dem praktischen Umgang mit den Kindern in seiner Heilpädagogischen Abteilung ein letztlich intuitives Wissen zu ih- rer Diagnose zu generieren. Auf diese Weise könne man verschiedene Cha- raktertypen bilden, im Rahmen derer er die von ihm beobachtete «Gruppe abartiger Kinder» lokalisierte, die er als «autistische Psychopathen» bezeich- nete.31 Deren «Grundstörung» bestand für Asperger in einer «Einengung der Beziehungen zur Umwelt», die in der alltäglichen Interaktion offenbar werde und von der aus ihre «Persönlichkeit» durchorganisiert und zu begreifen sei.32 Autistischen Kindern fehle die «affektive» oder «instinktive» Fähigkeit, das Verhalten der anderen zu verstehen und es nicht nur nachzuahmen, son- dern sich kreativ anzueignen, so dass ihnen das Lernen und das Leben in der Gruppe schwerfalle:

«‘Normale’ Kinder erwerben sich die nötigen sozialen Gewohnheiten, ohne daß ihnen das meiste davon klar zu Bewußtsein kommt – sie lernen unbewußt, instinktiv. Gerade diese über den Instinkt sich abspielenden Beziehungen sind aber bei den autistischen Kindern ge- stört; diese Menschen sind, kraß ausgedrückt, Intelligenzautomaten. Über den Intellekt muß denn auch bei ihnen die soziale Anpassung gehen, sie müssen alles verstandesmäßig erlernen.»33

Wenn man die Persönlichkeit dieses «Menschenschlags» einmal begriffen habe, erkenne man Kinder, die ihm zuzurechnen seien, dann aber sehr rasch und zwar oft an kleinen Einzelheiten ihres Verhaltens.34 Die autistische Persönlichkeit beschrieb Asperger als «unharmonisch» und als «E xtremvariante der männlichen Intelligenz, des männlichen Charakters.»35 Anders als normale Kinder könnten autistische niemals auf «natürliche» Weise an der Gemeinschaft teilhaben, würden aufgrund ihrer Unfähigkeit zur sozialen Reziprozität aus ihr ausgeschlossen und blieben auch berufl ich erfolglos. Sofern sie über ausreichende intellektuelle Fähig- keiten verfügten, könnten sie jedoch mit der richtigen Förderung in hochspe- zialisierten Berufen oft gute Leistungen erbringen und so eine wichtige

30 Asperger 1944, 82. 31 Asperger 1944, 84. 32 Asperger 1944, 120–121. 33 Asperger 1944, 103. 34 Asperger 1944, 112. 35 Asperger 1944, 129.

286 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Funktion für die Gemeinschaft erfüllen. So schloss Asperger mit einem en- thusiastischen Aufruf, der kaum mit seiner tatsächlichen Bereitschaft, an der sogenannten Kindereuthanasie mitzuwirken, in Einklang zu bringen ist:

«Gerade bei solchen Charakteren zeigt sich, wie entwicklungs- und anpassungsfähig auch abartige Persönlichkeiten sein können […]. Diese Tatsache bestimmt denn auch unsere Ein- stellung und unser Werturteil gegenüber schwierigen Menschen dieser und anderer Art und gibt uns das Recht und die Pfl icht, uns fü r sie mit unserer ganzen Persönlichkeit einzuset- zen, denn wir glauben, daß nur der volle Einsatz des liebenden Erziehers bei so schwierigen Menschen Erfolge erzielen kann.»36

Auch hier nahm er für sich nicht die Rolle des distanzierten Beobachters und psychiatrischen Diagnostikers in Anspruch, sondern die des Heilpädagogen, der sich in einer längeren, auch emotional geprägten Interaktion mit dem au- tistischen Kind befi ndet. Indem er autistische Kinder als Psychopathen bezeichnete, schloss Asper- ger explizit an die zeitgenössische Diskussion über verschiedene Persönlich- keitstypen an. Psychopathische Persönlichkeiten hatte Kurt Schneider (1887– 1967) als «abnorme Persönlichkeiten» begriffen, die sowohl signifi kant vom Durchschnitt menschlicher Persönlichkeitsvariationen abweichen als auch «an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.»37 Schneiders Typologie der psychopathischen Persönlichkeiten er- schien Asperger aber zu statisch, und er teilte Paul Schröders (1873–1941) Kritik, dass es eine unzulässige Vereinfachung sei, Persönlichkeiten über ei- nen einzigen Charakterzug zu begreifen.38 Gleichzeitig kritisierte er aber Schröders Versuch, aus der Summe verschiedener Züge die Gesamtpersön- lichkeit zu bestimmen, weil so gerade die Spezifi k abnormer Persönlichkeiten nicht erfasst werden könne. Diese bestehe vielmehr darin, dass ein Zug allen anderen eine spezifi sche Prägung gebe, und dies müsse man erfassen, um so zu einer neuen wirklichkeitsadäquateren Typologie zu gelangen.39 Auch inter- national war die psychopathische Persönlichkeit eine Residualkategorie der psychiatrischen Praxis, die für verhaltensauffällige Menschen verwendet wurde, für die es keine anderen psychiatrischen Diagnosen gab, also für

«individuals who have manifested considerable diffi culty in social adjustment over a period of many years or throughout life, but who are not of defective intelligence nor suffering from structural disease of the brain or epilepsy, and whose diffi culties in adjustment have not been manifested by the behavioral syndromes which are conventionally referred to as neuroses and psychoses.»40

36 Asperger 1944, 135. Zu Aspergers tatsächlicher Praxis und seiner Verstrickung in das nati- onalsozialistische Mordprogramm siehe Czech 2018; Sheffer 2018. 37 Schneider 1928, 3. 38 Asperger 1944, 77. 39 Asperger 1944, 82–83. 40 Preu 1944, 923.

Gesnerus 77 (2020) 287

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Autismus erschien bei Asperger nicht als eine psychiatrische Krankheit oder geistige Behinderung, sondern vielmehr als eine Persönlichkeitsstruktur, die durch die Steigerung einzelner Züge den Normbereich so weit verlassen hatte, dass den betroffenen Individuen bestimmte Formen der gemeinschaft- lichen Existenz unmöglich waren. Sie waren abnorm, aber zugleich legte die Idee der Steigerung ein Kontinuum von der Normalität zur Abnormität nahe und Asperger betonte, dass Autisten der Gemeinschaft einen großen Nutzen erweisen könnten, wenn sie entsprechend gefördert würden.41 In der angloamerikanischen Welt blieb Asperger, der die von ihm be- schriebenen autistischen Psychopathen grundsätzlich von Kanners «early in- fantile autism» unterschied,42 zunächst unbekannt. Dort setzte sich nach Kanner ein Verständnis des Autismus durch, das diesen nicht als eine alter- native, wenn auch abnorme, Persönlichkeitsstruktur begriff, sondern viel- mehr grundsätzlich in Frage stellte, ob Auti st*innen überhaupt über eine ei- genständige Persönlichkeit verfügten. Sowohl in der psychoanalytischen Interpretation durch den Emigranten und Holocaust-Überlebenden Bruno Bettelheim (1903–1990) als auch in den diametral entgegengesetzten Autis- mus- und Therapievorstellungen von Bernard Rimland (1928–2006) und Ole Ivar Lovaas (1927–2010) wurde letztlich bezweifelt, dass es sich bei Autist*innen überhaupt um Personen handelte. Vielmehr erschienen sie als bloße Ensembles nicht-intelligibler, stereotyper Verhaltensweisen. Bettelheim entwarf in den 1950er und 60er Jahren eine öffentlichkeits- wirksame psychogenetische Theorie, in der er autistisches Verhalten als Re- aktion auf fehlende elterliche bzw. mütterliche Zuneigung und Liebe inter- pretierte. Weil ihre emotionslosen Mütter – popularisiert als «» – sie zu wenig liebten, wendeten sich die Kinder von der Welt ab und blieben auf einem frühen intellektuellen und emotionalen Entwicklungs- niveau stehen. Offensiv die Introspektion als einzig legitime Quelle psycho- logischen Wissens verteidigend, entwickelte Bettelheim seine Einsichten über die kindliche Psyche in Analogie zu seinen eigenen Erfahrungen als KZ-Häftling. Denn auch KZ-Häftlinge hätten auf Deprivationserfahrungen und Dehumanisierungsstrategien oft mit einem Rückzug aus der Welt re- agiert: «Some victims of the concentration camps had lost their humanity in response to extreme situations. Autistic children withdraw from the world before their humanity ever really develops.»43 Autistische Kinder verfügten für Bettelheim vor allem angesichts ihrer nur rudimentären sprachlichen Fä- higkeiten und ihres anscheinend nur wenig differenzierten, stereotypen Ver-

41 Silverman 2012, 37. 42 Castell et al. 2003, 136–142. 43 Bettelheim 1967, 7.

288 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access haltens über keine altersgemäß entwickelte Persönlichkeit. Aufgrund ihrer Abschottung von der Welt sei es kaum möglich zu bestimmen, wie «primi- tiv» ihre Persönlichkeit tatsächlich sei. Die Aufgabe der Psychoanalyse be- stand für Bettelheim darin, den Kindern zu helfen: «undo emotional isola- tion in a child and build up personality». 44 Therapeutisch versuchte er, sich in Analogie zu eigenen mentalen Prozessen in andere hineinzuversetzen, und meinte so beispielsweise zu verstehen, dass das stereotype Wiederholen von Daten und Fakten kein Zeichen dafür war, dass Autist*innen komplexere Sprache nicht beherrschten. Vielmehr versuchten sie auf diese Weise, ihre in- neren Gedanken zu verbergen. Die Auswahl ihrer Gesprächsgegenstände, meinte Bettelheim, habe zugleich eine tiefere Bedeutung, die es zu entschlüs- seln gelte. Bettelheims psychogenetisches Autismusverständnis und die Theorie der «refrigerator mothers» stieß bei Eltern und vor allem Müttern autistischer Kinder auf Ablehnung, weil sie durch sie stigmatisiert wurden, wie Steve Sil- berman ausführlich gezeigt hat.45 Dass Bettelheim autistischen Kindern ihre Persönlichkeit und letztlich ihre Humanität absprach, war hingegen nicht Stein des Anstoßes. Ein Absolvent von Bettelheims Orthogenic School über- nahm diese Perspektive sogar selbst, indem er in seiner Autobiographie be- richtete, er sei vor seinem Eintritt in die Schule nur ein «Ding» gewesen und erst durch die Arbeit von Bettelheim und seinen Mitarbeiter*innen zu einem anderen Menschen bzw. überhaupt erst zu einem Menschen geworden.46 Dis- kreditiert wurde Bettelheims psychogenetische Theorie durch die zeitgleich einsetzende epidemiologische Forschung, die psychiatrisches Wissen nicht mehr durch die Interpretation von Einzelfällen, sondern mit statistischen und zunehmend auch neurowissenschaftlichen Methoden erzeugte.47 Schon 1964 hatte der Psychologe Bernard Rimland, der selbst Vater eines autisti- schen Sohnes war und ein Jahr später die National Society for Autistic Child- ren gründete, versucht, das in Einzelstudien verfügbare Wissen über die Ver- breitung des Autismu s zusammenzutragen.48 Explizit richtete er sich gegen die psychogenetische Theorie und meinte, auch wenn Autismus sich als Ver- haltensstörung ausdrücke, sei dies kein Grund, seine Ursachen ebenfalls auf der Ebene des Verhaltens zu suchen – in diesem Falle des elterlichen. Intro- spektion und Analogiebildung seien zur Erklärung des Autismus genauso wenig hilfreich wie im Falle des Verfolgungswahns: Auch wenn das Kind sich

44 Bettelheim 1967, 8. 45 Silberman 2015, 187–222. 46 Eliot 2002, 4. 47 Evans 2017, 5. 48 Rimland 2015; Silberman 2015, 261–263.

Gesnerus 77 (2020) 289

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access so verhalte, als ob seine Mutter die Ursache psychotischer Ängste sei, sei es nicht gerechtfertigt, sie auch als solche anzunehmen.49 Stattdessen plädierte Rimland dafür, sich zunächst einmal auf die genaue Beschreibung des Ver- haltenssyndroms zu konzentrieren. Die Tatsache, dass er einen autistischen Sohn hatte, war entscheidend für Rimlands wissenschaftliche Beschäftigung mit Autismus, und seine familiäre Erfahrung ließ ihn auch die psychogene- tische Theorie zurückweisen. Zugleich bemühte er sich jedoch um seine möglichst objektive, wissenschaftliche Beschreibung des Autismus mit inter- subjektiv überprüfbaren Methoden. Die Schwere der Störung von Geburt an, das Verhalten autistischer Kin- der und die systematische Erhebung der verfügbaren Daten über die Verbrei- tung des Autismus legten für Rimland genetische und neurologische Ursa- chen nahe: «The child with early infantile autism is grossly impaired in a function basic to all cognition: the ability to relate new stimuli to remembe- red experience.»50 Autismus war damit für ihn kein affektives Problem mehr wie bei Kanner oder Asperger, welche die Kinder in ihrer sozialen Bezie- hungsfähigkeit eingeschränkt sahen, sondern vielmehr ein kognitives. Das Verhalten autistischer Kinder schien Rimland so, als ob die Verarbeitung ih- rer Wahrnehmungen systematisch gestört sei. Stimulus-Response-Schemata funktionierten zwar, aber nicht die darüber hinausgehenden Konzeptionali- sierungsleistungen, die einmal gemachte Erfahrungen in anderen Kontexten einsetzbar machten: «The autistic child’s brain functions as though it were operated by a clerk rather than a chemist; raw material comes and goes, but the parcels are never opened and their contents are never mixed to form any useful compound.»51 Auch hier deutet die Metapher des Büroangestellten, der Aufgaben unpersönlich ausführt, ohne ihnen eine eigene Note zu geben und auf deren Inhalt einzuwirken, auf die Vorstellung, dass es den Autisten gerade an einer spezifi schen Persönlichkeit mangelt. Um das Wissen über die Verbreitung des Autismus zu verbessern, fügte Rimland seinem Buch eine «Suggested Diagnostic Checklist» bei, die es ermöglichen sollte, autistische Verhaltensweisen zu erkennen und zu klassifi zieren.52 Im Gegensatz zu As- pergers Vorstellung der «abartigen», aber doch spezifi sch autistischen Per- sönlichkeit, die in konkreter heilpädagogischer Interaktion intuitiv erkannt werden musste und von der her das Verhalten zu entschlüsseln sei, wollte Rimland mithilfe eines objektivierenden Fragebogens das kindliche Verhal-

49 Rimland 2015, 71. 50 Rimland 2015, 106. 51 Rimland 2015, 111. 52 Rimland 2015, 278–296.

290 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access ten in seinen Einzelaspekten möglichst umfassend beschreiben, um dann in der Summe zu entscheiden, ob Autismus vorlag oder nicht. Gerade weil die Ursachen des Autismus unbekannt waren, konzentrierte sich die angloamerikanische Forschung in den 1970er und 1980er Jahren auf die möglichst genaue Beschreibung des autistischen Verhaltenssyndroms und die Entwicklung einheitlicher diagnostischer Kriterien.53 Denn erst durch solche Kriterienkataloge in Form von Fragebögen über kindliches Verhalten wurden epidemiologische Forschungen, die Ausdifferenzierung des Krank- heitsbildes und Aussagen über seine diachrone Veränderung im Individuum bzw. den Erfolg von Therapien möglich. Vorangetrieben wurde diese Ent- wicklung von dem britischen Kinderpsychologen Michael Rutter (*1933) und seiner Kollegin Lorna Wing (1928–2014), die ebenfalls Mutter eines autisti- schen Kindes war und den Children’s Handicaps, Behavior and Skills-Kata- log entwickelte, um so die gesellschaftliche Verbreitung autistischer Verhal- tensweisen zu bestimmen.54 In den 1980er Jahren entwarfen dann Gruppen um Michael Rutter das Au- tism Diagnostic Interview (ADI) und den Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS). Durch standardisierte Interviews der Hauptbezugsperso- nen (ADI) sollten Berichte über das tatsächliche Verhalten der Kinder ge- wonnen werden, um so statt «vaguely defi ned bizarre behaviors», die unge- schulte Augen wahrnahmen, «relatively specifi c abnormalities in the development of social communication, relationships, and play» zu erfassen.55 Abgefragt werden sollte das Verhalten der Kinder in drei Bereichen, die kon- stitutiv für die Diagnose des Autismus waren: Einschränkungen der Rezipro- zität sozialer Interaktion, Besonderheiten des sprachlichen Ausdrucks sowie das Vorkommen repetitiver, begrenzter und stereotyper Verhaltensweisen. Im Unterschied zu diesem Verhaltenswissen, das vermittelt durch die Beobachtun- gen von Personen, die mit dem Kind in direktem Austausch standen, gewonnen wurde, sollte der ADOS die direkte Verhaltensbeobachtung strukturieren, in- dem er «a standard series of contexts for the observation of communicative and social behavior of persons with autism and related disorders» defi nierte.56 Da- mit lieferte der ADOS ein Protokoll für Beobachter*innen, wie sie durch ihr eigenes Verhalten Sozialverhalten bei Kindern erzeugen konnten, um dessen Qualität und Ausprägung aufzuzeichnen und zu klassifi zieren nach «0 = within normal limits, […] 1 = infrequent or possible abnormality, [… oder] 2 = defi nite

53 Bernard-Opitz 1981; Ritvo 1976. 54 Evans 2017; Happé/Frith 2020, 5. 55 Le Couteur et al. 1989, 364. 56 Lord et al. 1989, 186.

Gesnerus 77 (2020) 291

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access abnormality.»57 Varianten dieser Interviewfragebögen für Betreuungsperso- nen und Kataloge standardisierter Situationen der Verhaltensbeobachtung, über die verschiedene Aspekte des kindlichen Verhaltens aus der Perspektive der zweiten oder dritten Person auf einer Skala von «autistisch» bis «nicht au- tistisch» erfasst werden, werden bis heute zur Diagnose eingesetzt.58 Eine Per- spektivverschiebung nimmt jedoch der wesentlich einfachere, von Simon Ba- ron-Cohen (*1958) und anderen zum Selbsttest entworfene Autism-Spectrum Quotient (AQ) vor, der Verhaltenspräferenzen und Empfi ndungen abfragt und es Erwachsenen ermöglichen soll, selbst zu diagnostizieren, inwieweit sie autistische Züge haben.59 Damit trägt der AQ der Tatsache Rechnung, dass die Autismusdiagnose seit den 1980er Jahren schrittweise ausgeweitet wurde und dadurch zunehmend auch Erwachsene in den Blick gerieten, die stärker ihre individuelle Erfahrung und Introspektion in das Verständnis des Autis- mus einbrachten. Die Professionalisierung der Autismusdiagnostik ging Hand in Hand mit der exakteren Fixierung, welche Verhaltensabnormitäten Autismus konsti- tuierten, bzw. hing von diesen Klassifi kationskriterien ab. Auch für die Ge- schichte des Autismus war in dieser Hinsicht die Publikation der dritten Auf- lage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases (DSM) im Jahr 1980 entscheidend, mit dem der Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie ausgeweitet wurde, indem Persönlichkeitsstörungen als wesentliche Achse mitaufgenommen wurden.60 Damit wurden, wie Alain Ehrenberg bemerkt hat, «Personen ohne sichtbare neurologische Störungen, aber mit emotiona- len oder psychischen Problemen» zu psychiatrischen Patienten und fungieren seitdem als «personifi zierte Gestalten einer neuropsychiatrischen Auffas- sung von Geisteskrankheiten als Grenzstörungen».61 Im Anschluss an einen Vorschlag von Michael Rutter wurde «Infantile Autism» nun als umfassende multidimensionale Entwicklungsstörung defi niert, die sich auszeichnete durch «a lack of responsiveness to other people (autism), gross impairment in communicative skills, and bizarre responses to various aspects of the environment».62 Während diese Verhaltensweisen alle vor dem 30. Lebens- monat beobachtet worden sein mussten, um von Autismus sprechen zu kön- nen, wurde diese Altersbeschränkung 1987 in der Revision des DSM III fal-

57 Lord et al. 1989, 190. 58 In der Bundesrepublik wurde der ADOS etwa in Frankfurt übernommen, an den kinder- psychiatrischen Kliniken in Münster und Marburg aber eigene Diagnosetools entwickelt. Neumärker 2010, 225. 59 Baron-Cohen et al. 2001. 60 Lunbeck 2003; Horwitz 2003. 61 Ehrenberg 2019, 43. 62 American Psychiatric Association 1980.

292 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access lengelassen. Einem Vorschlag von Lorna Wing folgend, wurde Autismus nun als ein Verhaltenssyndrom defi niert, das charakterisiert war durch 1. «quali- tative impairment in reciprocal social in teraction», 2. «qualitative impair- ment in verbal and nonverbal activity and in imaginative play» und 3. ein «markedly restricted repertoire of activities and interests».63 Schon zeitgenös- sisch erhob sich daran Kritik, weil die Diagnose zwar eine hohe Sensitivität bekommen habe, sich ihre Spezifi zität aber verringert habe, so dass die Fall- zahlen steigen würden.64 Nichtsdestoweniger wurde die in genaue Verhal- tensdimensionen ausbuchstabierte Defi nition 1993 von der ICD-10 so ähn- lich übernommen. Die ICD enthielt daneben aber auch das «Asperger’s Syndrome» als selbstständige Störung, die durch die gleichen Elemente wie der infantile Au- tismus charakterisiert war, ohne dass sich aber eine klinisch signifi kante Ver- zögerung des Spracherwerbs oder der kognitiven Entwicklung feststellen las- se.65 Nachdem das Asperger-Syndrom schon vorher in Europa und vor allem im deutschsprachigen Raum diagnostiziert worden war und dort auch bereits die Nähe zum Kannerschen Autismus gesehen wurde,66 hielt es erst 1994 Einzug in das DSM.67 In die englischsprachige Fachdiskussion war Aspergers Studie zu den autistischen Psychopathen 1991 durch Lorna Wing und eine Übersetzung von Uta Frith (*1941) aufgenommen worden.68 Frei von empi- rischer Evidenz und auch jenseits einer gewissen historischen Plausibilität präsentierte Frith Asperger als Musterbeispiel des einfühlenden Heilpäda- gogen. In praktischer Interaktion habe er mit sorgender Aufmerksamkeit das Gute in Kindern gefunden, die von der Gesellschaft ausgegrenzt und abge- lehnt worden seien, nicht zuletzt weil ihnen jeglicher Respekt für Autorität gefehlt habe.69 Die Autor*innen des von Frith herausgegebenen Sammelban- des, der das Asperger-Syndrom international bekannt machte, stimmten da- rin überein, dass es sich dabei um eine Ausprägung des Autismus handele, die nicht sehr selten sei. Vom Asperger-Syndrom Betroffene seien «autistic children who make good progress and are not crippled by multiple and severe learning . […] they tend to speak fl uently by the time they are fi ve, […] even if their language is noticeably odd in its use for communication.»70 Im Unterschied zu anderen Autisten könnten Menschen mit dem Asperger-

63 American Psychiatric Association 1987. 64 Szatmari 1992. 65 World Health Organization 1993, 153; Evans 2017, 348. 66 Dalferth 1986, 168. Bundesverband Hilfe für das autistische Kind 1993. 67 Bagatell 2010, 35. 68 Silverman 2012, 50; Frith 1991b. 69 Frith 1991a, 7. Siehe ins gegenteilige Extrem umschlagend Sheffer 2018. 70 Frith 1991a, 3.

Gesnerus 77 (2020) 293

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Syndrom zwar besser kommunizieren, verfügten aber genauso wie erstere über keine oder nur eingeschränkte Fähigkeiten, anderen Menschen mentale Zustände zuzuschreiben. Beim Asperger-Autismus handele es sich um eine erbliche Persönlichkeitsstörung, Betroffene seien aber bei guten kognitiven Fähigkeiten zu Anpassungsleitungen in der Lage, welche die Grenze zwi- schen abnormem Verhalten und seltsamem Verhalten innerhalb der Norm verschwimmen ließen. So fragte Frith:

«What, after all, is normality? Given that there is an enormous range of social behaviour with many degrees of adaptation and success or failure in the normal population, where does normality end and abnormality begin? Does it make sense to talk about defi cits and exclusive categories? Should one instead talk about normal and abnormal behaviour shad- ing into each other? To put it another way, should one look at Asperger syndrome as a nor- mal personality variant?»71

Auch wenn dieses Problem aufgeworfen wurde, gingen die Texte doch davon aus, dass es sich beim Asperger-Syndrom um eine Variante der autistischen Störung handele, auch weil betroffene Personen mit Mühe lernen müssten, was normale Menschen auf natürliche und intuitive Weise auffassen könn- ten. Ihr «devastating handicap» werde durch ihre Lernfähigkeit letztlich noch verschlimmert, weil sie sich so gut anpassen könnten, dass diese Grund- störung oft verkannt und über kleine Seltsamkeiten hinweggesehen werde.72 Mit der Auffassung, dass es sich beim Asperger-Syndrom um eine Vari- ante des Autismus handelte, vergrößerte sich die Zahl der Betroffenen enorm, zumal nun auch Erwachsene diagnostiziert werden konnten.73 Im Jahr 2013 wurde diese Auffassung allgemein kodifi ziert, indem in der fünf- ten Aufl age des DSM das Asperger-Syndrom und der «Infantile Autism» als verschiedene Formen einer übergreifenden « Disorder» zu- sammengefasst wurden, wie es Lorna Wing schon vorher vorgeschlagen hat- te.74 Dabei folgte die Integration in gewisser Weise der Logik des Fragebo- gens bzw. der diagnostischen Tools, die durch ihre Ausdifferenzierung zwangsläufi g Grenzfälle erzeugen mussten.75 Indem die kategoriale Tren- nung zwischen Kanners und Aspergers Autismus aufgehoben wurde, wuchs die Gruppe der Betroffenen nicht nur quantitativ, sondern ihre Zusammen- setzung veränderte sich auch qualitativ, weil nun die sprachlich oft hochgra- dig artikulationsfähigen Asperger-Autist*innen zu den nicht-sprachlichen oder wenig artikulationsfähigen Menschen hinzukamen, die vorher als Autist*innen diagnostiziert worden waren. Aus diesem Grund wandelte sich

71 Frith 1991a, 23. 72 Frith 1991a, 22. 73 Happé/Frith 2020. 74 American Psychiatric Association 2013; Wing 1996. 75 Anders Silberman 2015, 183, 216.

294 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access die Autismus-Lobbyarbeit grundlegend, weil neben den von Eltern getrage- nen Autismus-Verbänden nun Autist*innen selbst Deutungskompetenz be- anspruchten und ihr introspektives Wissen auch gegen das wissenschaftliche Wissen der psychiatrischen und psychologischen Expert*innen durchzuset- zen suchten.76 Die Konsequenzen dieser Ausweitung der diagnostischen Kri- terien zeigen sich besonders deutlich an der Diskussion über den Einsatz ver- haltenstherapeutischer Maßnahmen zur Überwindung des Autismus.

Applied Behavior Analysis als Schöpfung oder Zerstörung von Persönlichkeit

Von den 1950er bis in die 1980er Jahre bestand ein weitgehender Konsens darüber, dass es sich beim Autismus um eine schwerwiegende Verhaltensstö- rung handelte, die therapiebedürftig sei, wobei die Therapie oft für unmög- lich gehalten wurde. In den 1960er Jahren dominierten zunächst psychoana- lytische Therapie-Ansätze, die im Sinne Bettelheims das kindliche Trauma der elterlichen Zurückweisung überwinden und die vom autistischen Rück- zug verschüttete, eigentliche Persönlichkeit des Kindes zutage fördern soll- ten.77 In dem Maße, in dem die psychogenetische Autismustheorie in Miss- kredit geriet, widerfuhr dies jedoch auch den psychoanalytischen Therapie- verfahren. Zeitgleich erlebten verhaltenstherapeutische Ansätze, die mehr oder weniger explizit an B. F. Skinners (1904–1990) Behaviorismus anschlos- sen, einen Aufschwung.78 Autismus war der Bereich, in dem umfassende Ver- haltenstherapien zuerst, am konsequentesten und am längsten eingesetzt wurden – in modifi zierter Form werden sie es bis heute. Trotz ihres aufwän- digen und invasiven Charakters erfreuten sie sich von Beginn an starker el- terlicher Unterstützung, weil andere zeitgenössische Expert*innen Autismus entweder für untherapierbar hielten und die Einweisung in eine geschlossene Anstalt empfahlen oder der «r efrigerator mother»-Theorie anhingen und also den Eltern die Schuld gaben.79 Entscheidend für die Entwicklung einer autismusspezifi schen Verhaltens- therapie war eine Begegnung von Bernard Rimland mit Ole Ivar Lovaas. Die- ser hatte sich nach seiner Ausbildung als Psychologe zu Beginn der 1960er Jahre von der Psychoanalyse abgewandt, weil er sie für wirkungslos, wenn nicht gar kontraproduktiv hielt. Stattdessen entwickelte er Verfahren zur di-

76 Bagatell 2010, 36. 77 Moll/Schmidt 1991; Dirlich-Wilhelm 1984. 78 American Psychiatric Association 1973; Skinner 1953. 79 Kirkham 2017, 112.

Gesnerus 77 (2020) 295

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access rekten Verhaltensmodifi kation, die er in Abgrenzung und Analogie zur Psy- choanalyse als Applied Behavior Analysis (ABA) bezeichnete.80 Durch Rim- land bekam er Kontakt zu Eltern autistischer Kinder, und Rimland unterstützte den Lovaas’schen Therapieansatz mit der von ihm gegründeten US-amerikanischen National Society for Autistic Children.81 Methodisch folgte Lovaas explizit Skinners Theorie der operanten Konditionierung, die zunächst an Tieren erprobt worden war. Skinner zufolge sollte Verhalten nicht durch Rekurs auf innere Ursachen, sondern nur durch empirisch beob- achtbare Relationen von Stimulus und Response erklärt und gesteuert wer- den.82 Dazu wurde menschliches Verhalten in kleinste Einheiten zerlegt, um dann erwünschtes Verhalten durch Lob und Belohnungen zu unterstützen und verfestigen und unerwünschtes durch Ignorieren oder negative Sanktio- nen zu unterdrücken. Der verhaltenstherapeutische Ansatz verhielt sich also gewissermaßen komplementär zur Diagnostik anhand von Fragebögen zu Sozial- und Kommunikationsverhalten sowie Stereotypien, indem er ver- sprach, die Verhaltensweisen direkt zu korrigieren, die für psychiatrische Expert*innen das autistische Syndrom konstituierten. Lovaas hielt Autist*innen aber auch deshalb für die ideale Zielgruppe seiner therapeuti- schen Versuche, weil er sie genau wie Bettelheim nicht als Personen mit ei- ner spezifi schen autistischen Persönlichkeit begriff, sondern vielmehr als En- sembles nicht-intelligibler Verhaltensweisen. Die von Lovaas entwickelten Therapieansätze konzentrierten sich zu- nächst auf nicht-sprachliche Autist*innen, die über die gleichen motorischen Fähigkeiten wie «normale Kinder» verfügten und sich auch dem äußeren Anschein nach nicht von diesen unterschieden. Zugleich zeigten sie für Lo- vaas aber wenige oder keine Verhaltensweisen, die sie als «soziale Indivi- duen» hätten defi nieren können.83 Seine Applied Behavior Analysis war ein umfassendes Programm der Verhaltensmodifi kation, bei dem ein autistisch es Kind 40 Stunden pro Woche mithilfe der Skinnerschen Techniken therapiert werden sollte. In Lovaas‘ Texten wird deutlich, dass er nicht die Vorstellung hatte, Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeit bzw. überhaupt Perso- nen zu therapieren. Vielmehr behauptete er, diese erst zu erschaffen: «Con- sidering the minimal behavioral development of autistic children, we were in a sense trying to build individuals starting with a tabula rasa.»84 Für Lovaas war das stereotype und oft selbstzerstörerische Verhalten der nicht-sprachli-

80 Probst 2010. 81 Silverman 2012, 106–111; Rimland 1978. 82 Skinner 1953. 83 Skinner 1953, 2. Siehe auch allgemeiner mit ähnlicher Perspektive Matson 1981. 84 Lovaas 1977, 1.

296 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access chen autistischen Kinder zwar eine besondere therapeutische Herausforde- rung, er verstand es aber nicht als Ausdruck ihrer Persönlichkeit.85 Diese würde erst entstehen, wenn sie sich durch d ie Applied Behavior Analysis auch sprachlich artikulieren könnten: «In the back of our minds we had some notion that if the child learned to talk, somehow a conception of himself would emerge, that he might become more defi ned as a person, that he might show more self-control.»86 Weil das autistische Verhalten für Lovaas nicht vers tändlich war, konnte er die Kinder auch nicht als Menschen mit einer be- stimmten Persönlichkeit oder auch nur als eigenständige Personen wahrneh- men. Stattdessen erschienen sie ihm als unbeschriebene Blätter, aus denen die zeit- und personalaufwändige Verhaltenstherapie erst normale Menschen machen musste. Sein therapeutisches Ziel war explizit «to make them as nor- mal as possible».87 Grundsätzlich war Normalisierung das erklärte Ziel verhaltenstherapeu- tischer Interventionen. So führte ein Überblick über die verschiedenen The- rapieansätze des frühkindlichen Autismus 1991 aus, dass Betroffene sowohl «Verhaltensdefi zite» als auch «Verhaltensexzesse» aufwiesen, die normali- siert werden müssten und könnten.88 Als «gut» galt Vertreter*innen der Ver- haltenstherapie, «was nachweisbar das Verhalten des Kindes normalisiert.»89 Denn nur durch den «Abbau von typischen autistischen Verhaltensweisen» könnten das «Handlungsrepertoire» autistischer Kinder erweitert, eine größere «Flexibilität des Verhaltens» erreicht und ihre Entwicklungspotenziale er- weitert werden.90 Insofern die Ursachen des Autismus unbekannt waren und sind und damit auch nicht direkt beseitigt werden können, galt und gilt die Verhaltenstherapie – v.a. in den USA – als einzig wissenschaftlich validierte Autismustherapie. Von seiner Variante der Applied Behavior Analysis be- hauptete Lovaas, dass sie in etwa der Hälfte der Fälle zur Heilung bzw. Überwindung des Autismus führe. 47 Prozent der von ihm behandelten Kin- der seien «normal functioning», hätten die erste Klasse einer normalen Schule erfolgreich absolviert und besäßen einen durchschnittlichen IQ.91

85 Lovaas 1977, 30–31. 86 Lovaas 1977, 13. 87 Lovaas 1977, 2. 88 Moll/Schmidt 1991. Siehe auch Früh 2002, 22: «Zu den Exzessen, die es abzubauen gilt, ge- hören selbststimulierendes Verhalten, stereotype Verhaltensweisen, Aggressionen, selbst- verletzendes Verhalten sowie Zornausbrüche. Daneben stehen die Defi zite in den Berei- chen der Aufmerksamkeit, der Imitationsfähigkeit, der Sprache, im Spielverhalten, in den Selbsthilfefertigkeiten und der Emotionalität sowie in den kognitiven Fähigkeiten (IQ). In diesen Bereichen werden Fähigkeiten aufgebaut». 89 Bernard-Opitz 1981, 6. 90 Hebborn-Brass 1993, 44. 91 Lovaas 1987, 8.

Gesnerus 77 (2020) 297

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Der Aufschwung und kontinuierliche Appeal der Applied Behavior Ana- lysis in der Autismustherapie ist insofern erklärungsbedürftig, als Skinners behavioristische Theorie der operanten Konditionierung parallel in anderen Bereichen in Misskredit geriet.92 Auch Lovaas’ Therapie sah sich allerdings heftiger Kritik ausgesetzt. Während im Fach die wissenschaftliche Validität seiner Behauptung, Autismus könne durch die ABA überwunden werden, in Frage gestellt wurde,93 bezog sich öffentliche Kritik vor allem auf den Ge- brauch negativer Sanktionen, wie etwa schon 1965 im Anschluss an einen sen- sationsheischenden Artikel im Life-Magazine. Hier wurden Lovaas‘ Therapie an der University of Calofornia, Los Angeles, als eine schockierende aber ef- fektive Methode aus «Screams, Slaps and Love» präsentiert, durch die «far- gone mental cripples» bzw. «utterly withdrawn children whose minds are sealed against all human contact and whose uncontrolled madness had turned their homes into hells» zu normalen Menschen werden könnten. Explizit her- vorgehoben wurde, dass Lovaas eben nicht nach den Ursachen des kindlichen Verhalten frage, sondern es vielmehr direkt durch Belohnung (Lob, Essen und Zuneigung) und Bestrafung (Anschreien, Schläge und Elektroschocks) modifi ziere: «Lovaas feels that by holding any mentally crippled child accoun- table for his behavior and forcing him to act normal, he can push the child to- ward normality.»94 Tatsächlich wussten die Autoren zu berichten, dass der sie- benjährige Chuck nach nur sechswöchiger Behandlung durch Lovaas begonnen habe, erste einfache Sätze zu sprechen und sich wie ein normaler Junge zu verhalten. Angesichts der offensichtlichen Härte der von Lovaas eingesetzten negati- ven Sanktionen – die neunjährige Pamela befand sich etwa barfuß in einem Raum, über dessen Boden sie kleine Stromschläge erhielt, um den Respekt vor dem Wort «Nein» zu erlernen – stieß die sogenannte Lovaas-Therapie aber auch auf elterliche Vorbehalte und Kritik.95 Diese versuchte Bernard Rimland mit der National Society for Autistic Children auszuräumen. Die Gegner der Verhaltenstherapie waren für ihn «conditioned by Bettelheim and other mother-haters», so dass sie jetzt glaubten, autistische Kinder seien ei- gentlich normal und hätten sich nur aus einem Mangel an mütterlicher Liebe in sich selbst zurückgezogen.96 Die Fundamentalkritik an der Verwendung ne- gativer Sanktionen zur Verhaltensmodifi kation hielt er für irrational. Denn schließlich werde bei der Behandlung kranker Menschen meist in deren kör-

92 Kirkham 2017, 109. 93 Siehe abwägend Poustka et al. 2012. 94 «Screams, Slaps and Love» 1965, 90, 92. 95 «Parents Speak» 1976. 96 Rimland 1978, 100.

298 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access perliche Unversehrtheit eingegriffen, und es müsse schlicht der potenzielle Nutzen von Therapien gegen deren Risiken abgewogen werden. Beim Autis- mus fi el diese Risikoabwägung für Rimland eindeu tig aus, wie er in Analogie zur gehörlosen und blinden Schriftstellerin Helen Keller (1880–1968) verdeut- lichte: «It was a good thing that Helen Keller’s teacher was not afraid to use aversive stimuli when she thought they were needed. If she had insisted on using only hugs and kisses, Helen would have assuredly ended up as a living vegetable – a hopeless, institutionalized, blind deaf-mute.»97 Dabei zeigt auch Rimlands Wortwahl, dass er den Status von Menschen als Personen an ihre Fähigkeit zur differenzierten und intelligiblen Kommunikation band. Nachdem sich die National Society for Autistic Children unter Rimlands Vorsitz 1975 zur Applied Behavior Analysis bekann t hatte, wurde die ABA in den 1980er Jahren allgemein als effektive Autismustherapie anerkannt, und Elterngruppen begannen eine intensive Lobbyarbeit, damit sie auch von Krankenkassen übernommen würde. Allerdings wandte sich Rimlands in- zwischen in Autism Society of America umbenannte Organisation 1988 ge- gen den Missbrauch negativer Sanktionen zur Unterdrückung unerwünsch- ter Verhaltensweisen.98 Daneben entstanden andere und weniger invasive Therapieprogramme wie Eric Schoplers (1927–2006) North Carolina State program for autistic children, das als Treatment and Education of Autistic and Related Communications Handicapped Children (TEACCH) weltweite Verbreitung fand.99 Bis heute empfi ehlt die weltweit größte Autismus-Eltern- Lobbygruppe allerdings die Applied Behavior Analysis als Standardtherapie, die vor allem in den USA oft eingesetzt wird.100 In der Bundesrepublik Deutschland ist die Verhaltenstherapie bei Autis- mus weniger verbreitet, obwohl auch hier ihre verstärkte Nutzung seit den 1970er immer wieder gefordert wurde.101 Vor allem der Bremer Pädagoge Hermann Cordes (*1937) setzte sich dafür ein, weil er meinte, es sei «gefähr- lich, die autistischen Kinder in ihren stereotypen, selbststimulatorischen Ver- haltensweisen zu belassen», und man es ihnen durch Therapien ermöglichen müsse, «ein Dasein zu führen, das so normal ist, wie es nur irgend» möglich sei.102 Dafür richtete er in Bremen mit Mitteln der Bund-Länder-Kommis- sion einen Modellversuch ein, während parallel in Hamburg Bernd Miller am Institut für Therapie autistischer Verhaltensstörungen für eine individuali- sierte Förderung warb, um «die im einzelnen Kind oder Jugend lichen ange-

97 Rimland 1978, 101. 98 Silverman 2012, 106–111; Laureys/Morgan 1986. 99 Neumärker 2010, 188–189. 100 Kirkham 2017, 109. 101 Bernard-Opitz 2011. 102 Cordes/Wilker 1976b, 6; Cordes/Wilker, 1976a, 19.

Gesnerus 77 (2020) 299

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access legten Fähigkeiten» aufzudecken und «unter Wahrung seiner Persönlichkeit mit wissenschaftlichen Methoden optimal» zu fördern.103 Wie Cordes trat auch Vera Bernard-Opitz für verhaltenstherapeutische Ansätze wie die ABA ein, seit sie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Rahmen ihrer Göttinger Promotion an einer Privatschule für autistische Kinder in Kalifor- nien geforscht hatte. Dabei vertrat sie die Position, dass «das Ziel therapeu- tischer Bemühungen [zwar] die Autonomie der behinderten Persönlichkeit» sei, «das Erreichen dieses Zieles [aber] über den kurzzeit igen Verlust von Freiheit gehen» könne.104 Noch um die Jahrtausendwende berichteten wie- derholt Eltern und Therapeut*innen in der Zeitschrift des Elternverbandes autismus Deutschland e.V. von spektakulären Therapieerfolgen der ABA, durch die autistische Kinder normalisiert worden seien, so dass ihnen gesell- schaftliche Teilhabe in Schulen möglich wurde, als ob es sich dabei um einen völlig neuen Ansatz handele.105 Schon jetzt wurde aber auch die ursprüngli- che verhaltenstherapeutische Idee des Abbaus autistischer Verhaltensweisen nicht nur wegen der Nutzung negativer Sanktionen kritisch gesehen, sondern auch von denjenigen, die jenseits der Perspektiven der dritten und zweiten Person auch die der Autist*innen selbst einnahmen und argumentierten: «Je- des Verhalten erfüllt eine Funktion und ist aus der Sicht des Betreffenden sinnvoll. Ziel ist es, neue Verhaltensweisen zu üben, die dieselbe Funktion erfüllen.»106 Diese Perspektiverweiterung sowie die Tatsache, dass sich die Verhaltens- therapie in der Bundesrepublik auch jetzt nicht annähernd in dem Maße durchsetzte wie in den USA, dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sich die Struktur des Betroffenenaktivismus in den 1990er Jahren gewandelt hatte. Mit der Ausweitung der diagnostischen Kriterien und der Konstruk- tion des Autismus-Spektrums wurde die Diagnose zunehmend bei sogenann- ten high-functioning Autist*innen mit hoch entwickelter Artikulationsfähig- keit gestellt. War die Autismus-Selbsthilfebewegung zunächst vor allem von Eltern getragen worden, die auch immer wieder entscheidende Beiträge zur Forschung geleistet hatten, erhoben nun zunehmend Betroffene selbst das Wort. Das hing auch mit einer allgemeinen Verschiebung in der Behinder- tenrechtsbewegung zusammen, im Rahmen derer Behinderte beanspruch- ten, dass nicht mehr nur über sie, sondern mit ihnen gesprochen wird und sie ihre Interessen selbst vertreten.107 Darüber hinaus stellte das Internet Mög-

103 Miller 1976, 40. 104 Bernard-Opitz 1981, II. 105 Krautter 2001; Anonymus 2000; Früh 2002; Schwaab 2006. 106 Amlang 2006, 9. 107 Charlton 1998, IX. Für Die Bundesrepublik und die «Clubs Behinderter» und «Krüppel- gruppen», die Körperbehinderte schon in den 1970er Jahren gründeten, siehe Stoll 2017.

300 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access lichkeiten der Allianz- und Organisationsbildung bereit, die gerade Autist*innen bereitwillig nutzten, weil ihnen synchrone Face-to-face-Ko m- munikation grundsätzlich schwerer fällt als eine asynchrone medial vermit- telte.108 Von Autist*innen, die sich in Netzwerken wie dem Autism Network International, oder Aspies e.V. organisierten, wurde nun die Applied Behavior Analysis ganz grundsätzlich kritisiert und das Thera- pieziel überhaupt in Frage gestellt. So griff die kanadische Autistin (*1961) 2004 in einem einfl ussreichen Manifest das «Misbehaviour of Behaviourists» als Menschen- rechtsverletzung an. Die Anwendung verhaltenstherapeutischer Techniken bei autistischen Menschen stellte sie in die Tradition früherer Diskri minie- rungen und Enthumanisierungen von Menschen, die von gesellschaftlichen Normvorstellungen abwichen: «One widespread result of autism-ABA indus- try articles of faith is the dismantling of autistic people into series of bizarre and inappropriate behaviours. Similar dehumanizing strategies have formed the backbone of human rights violations throughout history.»109 Autist*innen erschienen den Verfechtern der ABA nicht als Menschen mit einer spezifi sch autistischen Persönlichkeitsstruktur und entsprechenden Rechten, diese auch auszuleben, sondern vielmehr als «oblivious, insensate, monstrous coll- ections of purposeless and repugnant behaviours.»110 Demgegenüber bean- spruchte Dawson, dass diese Verhaltensweisen nicht sinnlos, sondern ein au- thentischer und harmloser Ausdruck ihrer spezifi schen autistischen Persönlichkeitsstruktur seien.111 Für neurotypische Menschen nicht-intelligi- ble, abnorme und stereotype Verhaltensweisen wie Händewedeln, Hüpfen oder rhythmische Körperbewegungen, die in den diagnostischen Manualen abgefragt wurden und von der Therapie als Verhaltensexzesse eliminiert werden sollten, seien aus der Perspektive der Betroffenen sehr wohl sinnhaft und Teil ihrer Identität. Sie zu unterdrücken beraube sie letztlich dieser Iden- tität. Die Verhaltenstherapie schaffe also keine Persönlichkeit, sondern zer- störe sie vielmehr und sei damit eine Menschenrechtsverletzung. Denn das Ziel der Behavioristen bestehe darin, «autistic behaviour, and therefore au- tistic people» auszulöschen.112 Hans Aspergers Theorie des Autismus konnte im Zusammenhang der Au- tismus-Selbsthilfebewegung zu einem positiven Bezugspunkt werden, weil er Autismus expliziter als Kanner als eine spezifi sche Persönlichkeitsstruktur

108 Bagatell 2010, 35. 109 Dawson 2004. 110 Dawson 2004. 111 Kirkham 2017, 116. 112 Dawson 2004.

Gesnerus 77 (2020) 301

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access begriffen hatte.113 In der Rezeption seit den 1990er Jahren wurde von Betrof- fenen daraus vielfach abgeleitet, dass diese autistische Persönlichkeit nicht therapierbar und auch nicht therapiebedürftig sei, sondern vielmehr eine le- gitime Lebensform, zumal sie oft mit den von Asperger hervorgehobenen be- sonderen Begabungen einhergehe.114 An der Spitze der Neurodiversitätsbewe- gung vertreten Autist*innen die Position, dass «conditions like autism, dyslexia, and attention-defi cit/hyperactivity disorder (ADHD) should be re- garded as naturally occurrin g cognitive variations with distinctive strengths that have contributed to the evolution of technology rather than mere check- lists of defi cits and dysfunctions.»115 Dabei schließen sie explizit an das Vor- bild der LGBT-Rechtsbewegung an, welche erfolgreich gegen Pathologisie- rungen ihres Sexualverhaltens und für die Anerkennung diverser Identitäten, die nicht der binären Norm entsprechen, gestritten hatten. Dieser Konnex konnte umso leichter hergestellt werden, als Lovaas an Sexualitätskonversi- onstherapien gearbeitet hatte, bevor er sich der Autismustherapie zuwandte. Aus der Perspektive der Neurodiversitätsbewegung geht es der Applied Be- havior Analysis letztlich gar nicht um das Individuum, sondern vielmehr um die Kohäsion des Kollektivs, zu dessen Gunsten abnorme, autistische Sub- jekte ausgelöscht werden sollten: «I believe ABA requires rhetorical reorien- tation: it shapes (and wreaks violence upon) the lives of its many subjects, all in the name of normalcy. […] its aims are to socialize – to straighten – every embodied domain of its neuroqueer subjects.»116 Entscheidend für diese Ver- änderung ist eine epistemische Verschiebung, mit der introspektivem, aus der Perspektive der ersten Person gewonnenem Wissen über Verhalten genauso viel Validität zugestanden wird wie dem, das dritte Personen (Psychiater*innen und Therapeut*innen) oft unter Rekurs auf die Beobachtungen von zweiten Personen (Eltern und Erzieher*innen) in wissenschaftlichen Verfahren ge- winnen. Explizit reklamieren Autist*innen für sich eine «standpoint episte- mology», welche die Hegemonie wissenschaftlichen Wissens grundsätzlich in Frage stellt: «A standpoint position claims that authority over knowledge is created through direct experience of a condition or situation.»117 Kritik an verhaltenstherapeutischen Kurzschlüssen und dem Verzicht auf kausale Analysen übt auch (*1947), die vielleicht bekann- teste US-amerikanische Autistin, Autismus-Expertin und Professorin für Tierhaltung. Grandin teilt grundsätzlich die Auffassung, dass Autismus ein

113 Siehe als Beispiel für die unkritische Asperger-Begeisterung Silberman 2015. 114 Silberman 2015. 115 Silberman 2015, 16; Baron-Cohen 2017. 116 Yergeau 2017, 99. 117 Kapp 2020, V.

302 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Verhaltenssyndrom sei, das nur durch die Beobachtung von Verhaltenswei- sen festgestellt werden könne.118 Obwohl sie in ihrer eigenen Autobiographie, die Bernard Rimland als ersten Lebensbericht eines «recovered autistic» be- zeichnete, rückblickend den Wert vieler Verhaltensinterventionen ihrer Mut- ter und der Schule für ihre eigene Entwicklung hervorhebt,119 warnt sie doch davor, Therapien bloß auf der Ebene des Verhaltens ansetzen zu lassen. Denn das gleiche Verhalten könne sehr verschiedene – bei Grandin neuronale – Ur- sachen haben und die gleichen Ursachen zu sehr verschiedenen Verhaltens- weisen führen. Wie viele andere Autist*innen auch, beschreibt Grandin die Spezifi k des Autismus als Wahrnehmungsstörung bzw. als Unfähigkeit, Sin- neswahrnehmungen adäquat zu fi ltern und zu verarbeiten. Das gleiche Phä- nomen der Reizüberfl utung könne sowohl zum vollständigen Rückzug, zum «shut-down», eines autistischen Menschen als auch zu einem heftigen Wutaus- bruch führen, wie bei dem von ihr beschriebenen Mädchen Carly:

«Two different behaviors, two different sensory-profi le subtypes – at least so it would seem if you were sitting across from her, watching her from the outside. But if you were Carly, liv- ing your life from the inside, the two reactions would have the same cau se: sensory overload. Too much information.»120 Als Naturwissenschaftlerin argumentiert Grandin, um die Bedeutung ein- zelner autistischer Verhaltensweisen zu verstehen, müsse man die Ebene des Verhaltens verlassen und vielmehr die neuronalen Strukturen genauer erfas- sen. Indem sie ihr Gehirn immer wieder mit bildgebenden Verfahren unter- suchen lässt, objektiviert sie sich anscheinend selbst und versucht sich selbst gegenüber den Standpunkt der dritten Person einzunehmen. Zugleich nimmt sie jedoch auch die gleiche Perspektivverschiebung vor, die im Zentrum der Neurodiversitätsargumentation steht, indem sie gegen die externe Beobach- tung und Erfassung von anscheinend nicht sinnhaften Verhaltensweisen durch Dritte in objektiven Skalen die individuelle Sinnhaftigkeit dieses Ver- haltens in der Perspektive der ersten Person in Stellung bringt. Dieser von Autist*innen immer wieder beschriebenen introspektiven Erfahrungsebene wurde wissenschaftlich zumindest insofern Rechnung getragen, als im DSM V Besonderheiten der Sinneswahrnehmung als Elemente zur Beschreibung der Autismus-Spektrum-Störung mitaufgenommen wurden.121 Debatten über die Therapie autistischer Verhaltensweisen kreisten und kreisen im Kern darum, was noch ein legitimer Ausdruck von Persönlichkeit

118 Grandin/Panek 2013, 4 . «Autism can’t be diagnosed in the laboratory […] as with many other psychiatric syndromes, such as depression and obsessive-compulsive disorder, au- tism is defi ned by observing and evaluating behaviors». 119 Grandin 1986. 120 Grandin/Panek 2013, 81. 121 Waltz 2013.

Gesnerus 77 (2020) 303

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access ist und ab welchem Störungsgrad der sozialen Kommunikation und Interak- tion bzw. der Einschränkung und Wiederholung von Verhaltenspatterns der Status des Menschen als Person insgesamt in Frage steht. Wenn man Letzte- ren eng an bestimmte Formen der sozialen Reziprozität und Kommunikation bindet, kann es leicht so erscheinen, als ob «more people are becoming auti- stic» gleichbedeutend sei mit «more people are becoming nonpeople».122 Eine derartige Dramatisierung kam auch in einer Plakatkampagne des New York University Child Study Center im Dezember 2007 zum Ausdruck, de- ren Poster sich wie Erpres serschreiben einer Kindesentführung lasen: «Au- tism. We have your son. We make sure he will not be able to care for himself or interact socially as long as he lives. This is only the beginning.»123 In die- ser nach Protesten zurückgezogenen Kampagne schienen die nicht kontrol- lierbaren autistischen Verhaltensweisen das Individuum der Gemeinschaft zu entziehen und in eine eigene Welt einzuschließen, aus der es befreit wer- den müsse. Demgegenüber betont die Neurodiversitätsbewegung den Eigen- wert dieser Welt und die subjektive Sinnhaftigkeit von Verhaltensweisen, die sich der externen Verhaltensbeobachtung nicht erschließen, sondern für Dritte nur exzessiv oder defi zitär erscheinen. Diese Auseinandersetzung nimmt in den einschlägigen Foren oft geradezu glaubenskriegerische Züge an.124 Ihre Heftigkeit resultiert nicht zuletzt aus den verschiedenen Formen der Betroffenheit, die mit der Ausweitung der Diagnose im Begriff des Au- tismusspektrums noch einmal zugenommen hat. Während hochgradig arti- kulierte, berufl ich erfolgreiche und selbständig lebende Autist*innen die Le- gitimität ihrer Weltsicht und Lebensform gegen Normalisierungsbestrebungen verteidigen, erklären Eltern autistischer Kinder, diese Menschen hätten nur wenig mit ihren Kindern gemein, die sich nur rudimentär sprachlich artiku- lieren könnten oder zu selbstverletzendem Verhalten tendierten und voraus- sichtlich nie zu einem eigenständigen Leben in der Lage sein würden.

Fazit

Eine wie auch immer geartete Persönlichkeit zu haben bzw. zugeschrieben zu bekommen, setzt voraus, dass man eine Person ist bzw. als solche anerkannt wird. Wenn der Begriff der Person an die Fähigkeit zur sozialen und kommu- nikativen Interaktion gebunden wird, ist der Status autistischer Menschen als Personen prekär. Sowohl in der psychoanalytischen als auch in der verhaltens-

122 Yergeau 2017, 91; Göhlsdorf 2014; Hacking 2009. 123 Kras 2010, 1–2. 124 Solomon 2013, 219–92.

304 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access therapeutischen Literatur der 1960er und 1970er Jahre wurden ihnen auf- grund ihrer Defi zite im Sozial- und Kommunikationsverhalten sowie ihrer Stereotypien wesentliche Persönlichkeitsmerkmale zunächst abgesprochen. Sie erschienen vielmehr als Ensembles nicht-intelligibler Verhaltensweisen, deren Persönlichkeit erst therapeutisch von der Psychoanalyse zutage geför- dert bzw. von der Applied Behavior Analysis erzeugt werden musste. Auch deshalb und nicht nur wegen der Betonung der bisweilen besonderen Bega- bungen autistischer Menschen, fi el Hans Aspergers Theorie der «autistischen Persönlichkeit» in der angloamerikanischen Autismus-Community in den 1990er Jahren auf fruchtbaren Boden. Sollten Psycho- und Verhaltensthera- pien autistische Menschen überhaupt erst zu Personen machen, bestand die Attraktivität des Asperger-Syndroms bzw. des Begriffs der autistischen Per- sönlichkeit paradoxerweise gerade in ihrer Untherapierbarkeit. Sie eröffneten die Möglichkeit, Autismus als eine grundsätzlich andersartige, aber gleicher- maßen legitime Weltsicht und Lebensweise zu begreifen. In anderen Zusam- menhängen wirkten Persönlichkeitszuschreibungen oft stigmatisierend und wurden zu Recht kritisiert, wenn sie etwa Individuen auf kriminelle oder de- viante Charakterzüge und damit Verhaltensweisen festlegten.125 Im Unter- schied dazu hatte und hat die Idee der autistischen Persönlichkeit für Betrof- fene ein befreiendes Potenzial. Gerade indem sie diese auf bestimmte Verhal- tensweisen als Ausdruck ihrer Persönlichkeit festlegt, entbindet sie sie von den Normalisierungszumutungen verhaltenstherapeutischer Ansätze. Dass der Kannersche frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom zu einer übergreifenden Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst wer- den konnten, resultierte aber auch daraus, dass sich in der Autismusdiagnostik nicht die von Asperger vorgeschlagene intuitive Methode der Persönlichkeits- erkenntnis durchsetzte. Stattdessen wurde das Verhaltenssyndrom in immer differenzierteren Beschreibungen des kindlichen Sozial-, Kommunikations- und Spielverhaltens anhand von Fragebögen für Eltern, Therapeut*innen, Erzieher*innen und Lehrer*innen sowie Verhaltensbeobachtungsmanualen für psychiatrische Expert*innen erfasst. Auf diese Weise entstanden differen- zierte Verhaltensbeschreibungen, in denen zwar alle Autist*innen eine Fami- lienähnlichkeit aufweisen, aber letztlich keiner dem anderen entspricht. Es lag auch in der Logik dieser Form der Verhaltensdiagnostik, dass Grenzfälle ent- standen, die Differenz zwischen normalem und abnormem Verhalten ver- wischt wurde und sich die Zahl der Betroffenen ausweitete. Damit wuchs die Gruppe derer im Autismusspektrum, die hochgradig artikulationsfähig waren und ihr introspektives, aus der Perspektive der ersten Person gewonnenes Wis-

125 Lowrey 1944.

Gesnerus 77 (2020) 305

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access sen gegen die externen Beobachtungen ihres Verhaltens durch Dritte in Stel- lung bringen konnten. Im Unterschied zu Arbeiten, die sich einen dieser Standpunkte normativ zu eigen machen und wie etwa aus der Neurodiversitätsper- spektive den therapeutischen Umgang mit Autist*innen kritisieren, habe ich versucht, die Irreduzibilität der drei verschiedenen Zugänge zum Autismus herauszuarbeiten und zu zeigen, dass ihre Interaktion für die Entwicklung der Autismusgeschichte entscheidend ist. Autismus war und ist aus der Per- spektive des psychiatrischen Diagnostikers, der dem ADI und ADOS folgt, des Elternteils oder Erziehers, der oder die täglich mit einem autistischen Menschen interagiert und aus der Innenperspektive dieses Menschen selbst etwas grundsätzlich Anderes. Die Geschichte des Autismus zu verstehen be- deutet nicht, eine der drei Perspektiven einzunehmen, sondern zu beschrei- ben, wie sie aus welchen Gründen miteinander interagierten, hegemonial wurden oder zurücktraten. Hier war es zunächst das Wissen von Eltern und Erzieher*innen aus dem Umgang mit ihren Kindern, das in das psychiatri- sche Wissen einfl oss und dazu führte, dass ihre Kinder nicht mehr als schwachsinnig oder geistig behindert klassifi ziert wurden, sondern Autismus zu einer eigenen Kategorie wurde.126 Mit dem Aufstieg der Kinder- und Ju- gendpsychiatrie wurde die Beschreibung des Autismus als Verhaltenssyn- drom aus der Perspektive der dritten Person mit immer ausgefeilteren Ana- lysetools hegemonial, aber vor allem seit der Jahrtausendwende wird diese herausgefordert und inzwischen auch modifi ziert durch das introspektive Wissen autistischer Menschen selbst. Die Geschichte des Autismus fügt sich damit in eine Zeitgeschichte des Selbst und der Subjektivierung und kann sie zugleich erweitern. Im Zuge der grundlegenden Verwissenschaftlichung des Sozialen im 20. Jahrhundert wur- den immer mehr Lebensbereiche vermessen und mit der Defi nition von Nor- malverteilungen auch Devianz defi niert.127 Vor allem seit den 1970er Jahren wurden jedoch überkommene normative Subjektivitäts- und Individualitäts- vorstellungen zunehmend in Frage gestellt und pluralisiert, so dass zwar nicht die Individualität, wohl aber der Anspruch auf Individualität in den westlichen Industrienationen zunahm.128 Subjektpositionen, die zuvor nicht nur als von der ethnischen, sexuellen oder kulturellen Norm abweichend, sondern auch als minderwertig begriffen wurden, beanspruchten Legitimität und Gleichwertigkeit.129 Mit leichter zeitlicher Verzögerung zeigt sich diese

126 Sheffer 2018; Silverman 2012. 127 Verheyen 2018; Mau 2017, sowie die Einleitung von Alexa Geisthövel in diesem Band. 128 Eitler/Elberfeld 2015; Reckwitz 2012; Föllmer 2013. 129 Reckwitz 2018.

306 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Entwicklung auch an der Behandlung bestimmter psychischer Erkrankun- gen bzw. – wie im Falle des Autismus – an ihrer Transformation zu Persön- lichkeitsstörungen, so dass aus dem «zu heilenden Kranken» ein Individuum wurde, «dessen Potential durch die Erschaffung einer Lebensform zu för- dern ist, ein Potential, das bei Bedarf auf die Krankheit einwirkt.»130 Ent- scheidend für diese Entwicklung war, dass es Autist*innen gelang, die Legi- timität ihres introspektiven Wissens der ersten Person gegen das externe Wissen Dritter und auch der Menschen, die für sie sorgten, zu artikulieren und durchzusetzen.

Literatur

American Psychiatric Association, Task Force Report 5: Behavio r Therapy in Psy- chiatry (1973). American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical M anual of Mental Dis- orders: DSM III (Washington, D.C. 31980). American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Dis- orders: DSM-III-R (Washington, D.C. 31987). American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Dis- orders: DSM-5 (Washington, D.C. 52013). Amlang, Maud, «Möglichkeiten verhaltenstherapeutischer Maßnahmen bei autis- tisch behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen», in: Autismus 61 (2006) 4–12. Anonymus, «Eine besorgte Mutter entscheidet sich für ‘Lovaas’», in: Autismus 50 (2000) 31–33. Anscombe, Gertrude, The Collected Philosophical Papers of G. E. M. Ans combe (Minneapolis 1981). Asperger, Hans, «Die autistischen Psychopathen im Kindesalter», in: Archiv für Psy- chiatrie und Nervenkrankheiten 117/1 (1944) 76–136. Bagatell, Nancy, «From Cure to Community: Transforming Notions of Autism», in: Ethos 38 (2010) 33–55. Baron-Cohen, Simon, «Editorial Perspective: Neurodiversity – a revolutionary con- cept for autism and psychiatry», in: The Journal of Child Psychology and Psychi- atry 58 (2017) 744–747. Baron-Cohen, Simon et al., «The Autism-Spectrum Quotient (AQ)», in: Journal of Autism and Developmental Disorders 31/1 (2001) 5–17. Bernard-Opitz, Vera, Entwicklungs- und verhaltensbezogene Ansätze im Training autistischer Kinder: Beschreibung und Analyse von Programmen zur kompensa- torischen Förderung in Kalifornien; Entwicklung eines Curriculums für diese Po- pulation in Deutschland (Göttingen 1981). Bernard-Opitz, Vera, «Autismusspezifi sche Verhaltenstherapie (AVT) und Applied Beha vior Analysis (ABA)», in: Autismus 71 (2011) 2–6.

130 Ehrenberg 2019, 69.

Gesnerus 77 (2020) 307

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Bettelheim, Bruno, The Empty Fortress: Infantile Autism and the Birth of the Self (Ne w York 1967). Bieri, Peter (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes (Bodenheim 21993). Bundesverband Hilfe für das autistische Kind, Denkschrift: Zur Situation autisti- scher Menschen in der Bundesrepublik Deutschland (Hamburg 1993). Castell, Rolf/Uwe-Jens Gerhard/Gotthard Jasper/ Dagmar Bussiek, Geschichte der Kinder- u nd Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961 (Göt- tingen 2003). Charlton, James I., Nothing About Us Without Us: Oppression and Em- powerment (B erkeley 1998). Cordes, Hermann/Friedrich W. Wilker, «Das ‘Bremer Projekt’: Kompensatorisches Programm fü r autistische Kinder», in: Bundesverband Hilfe für das Autistische Kind e.V. (Hrsg.), Therapie des frühkindlichen Autismus: Förderung autistischer Kinder in der BRD und in Dänemark. Modelle in Berlin - Bremen - Gießen - Hamburg - Kopenhagen - Viersen - Weißenseifen (Hamburg 1976a) 8–39. Cordes, Hermann/Friedrich W. Wilker, «Einleitung», in: Bundesverband Hilfe für das Autistische Kind e.V. (Hrsg.), Therapie des frühkindlichen Autismus (1976b) 3–6. Czech, Herwig, «Hans Asperger, National Socialism, and ‹Race Hygiene’ in Nazi- Era Vienna», in: Molecul ar autism 9/29 (2018), online unter: https://molecularau- tism.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13229-018-0208-6. Dalferth, Matthias, «Synopse verschiedener Symptomlisten zur Diagnostizierung des frühkindlichen Autismu s», in: Zeitschrift für Heilpädagogik 37/3 (1986) 167–179. Dawson, Michelle, «The Misbehavior of Behaviorists: Ethical Challenges to the Au- tism-ABA Industry» (2004), URL: https://www.sentex.ca/~nexus23/naa_aba.html. Dirlich-Wilhelm, Hanne, «Therapie autistischer Kinder», Frühförderung interdiszi- plinär 3/4 (1984) 172–176. Donvan, John/Caren Zucker, : The Story of Autism (New York 2016). Ehrenberg, Alain, Die Mechanik der Leidenschaften: Gehirn, Verhalten, Gesell- schaft (Berlin 2019). Eitler, Pascal/Jens Elberfeld, «Von der Gesellschaftsgeschichte zur Zeitgeschichte des Selbst – und zurück», in: Pa scal Eitler/Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst: Therapeutisierung - Politisierung – Emotionalisierung, Histoire Band 79 (Bielefeld 2015) 7–30. Eliot, Steven, Not the Thing I was: Thirteen Years at Bruno Bettelheim’s Orthogenic School (New York 2002). Evans, Bonnie, «How Autism Became Autism: The Radical Transformation of a Central Concept of Child Development in Britain», in: History of the Human Sciences 26 (2013) 3–31. Evans, Bonnie, The Metamorphosis of Autism: A History of Child Development in Britain. Social histories of medicine (Manchester 2017). Eyal, Gil,/Brendan Hart/Emine Onculer/Neta Oren/Natasha Rossi, The Autism Ma- trix: The Social Origins of the Autism Epidemic (Cambridge, UK, Malden, MA 2010). Föllmer, Moritz, Individuality and Modernity in Berlin: Self and Society from Wei- mar to the Wall, New Studies in European History (Cambridge 2013).

308 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Frith, Uta, «Asperger and His Syndrome», in: Uta Frith (Hrsg.), Autism and As- perger Syndrome (Cambridge 1991a) 1–36. Frith, Uta (Hrsg.), Autism and Asperger Syndrome (Cambridge 1991b). Früh, Gaby, «Intensive Verhaltenstherapie nach Lovaas, A rtikel zum Workshop vom 2.3.2002 in Trier anlässlich der Bundestagung ‘Autismus und Gesellschaft’», in: Autismus 54 (2002) 19–26. Göhlsdorf, Novina, «Störung der Gemeinschaft: Grenzen der Erzählung. Die Figur des autistischen Kindes», in: Jahrbuch der Psycho analyse: Autistische und autis- toide Störungen (Stuttgart 2014) 1–20. Göhlsdorf, Novina, «Wie man aufschreibt, was sich nicht zeigt: Autismus als Wider- stand und Anreiz früher kinderpsychiatrischer Aufzeichnungen», in: Cornelius Borck/Armin Schäfer (Hrsg.), Das psychiatrische Aufschreibesystem (Paderborn 2015) 225–244. Göhlsdorf, Novina, «Autismus: Diagnose der Gegenwart», in: Kinder- und Jugend- lichen-Psychotherapie. Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefe npsychologie 50/182 (2019) 277–303. Grandin, Temple, Emergence. Labeled Autistic. A True Story (Novato/CA 1986). Grandin, Temple/Richard Panek, The Autistic Brain: Thinking Across the Spectrum (Boston 2013). Hacking, Ian, «Humans, Aliens, and Autism», in: Daedalus 138/3 (2009) 44–59. Haddon, Mark, The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (B erlin 2003). Happé, Francesca/Uta Frith, «Annual Research Review: Looking Back to Look For- ward – Changes in the Concept of Autism and Implications for Future Research», in: Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines 61/3 (2020) 218–232. Hebborn-Brass, Ursula, «Praktische Anleitungen zur Verhaltensmodifi kation autis- tisch gestörter Kinder», in: Ursula Hebborn-Brass (Hrsg.), Autistisch e Kinder in stationärer Langzeitbehandlung: Eine empirische Längsschnittuntersuchung und Erfahrungsberichte (München 1993) 41–56. Horwitz, Allan V., Creating Mental Illness (Chicago 2003). Kanner, Leo, «Autistic disturbances of affective contact», in: The Nervous Child 2 (1943) 217–250. Kapp, Steven K. (Hrsg.), Autistic Community and the Neurodiversity Movement: Sto- ries from the Frontline (Singapore 2020). Kavanagh, Chandra, «Accommodation or Cure: A Synthesis of Neurodiverse and Cure Theory Recommendations for Autism Action», in: AAPP Bulletin 22 (2015) 4–8. Kirkham, Patrick, «‘The Line between intervention and Abuse’ – Autism and Ap- plied Behaviour Analysis», in: History of the Human Sciences 30 (2017) 107–126. Kras, Joseph F., «The Ransom Notes’ Affair: When the Neurodiversity Movement Came of Age», in: Disability Studies Quarterly 30/1 (2010) online unter: https:// ds q-sds.org/article/view/1065/1254. Krautter, Angela, «Was ist die Lovaastherapie?», in: Autismus 52 (2001) 29–33. Laureys, Kenneth/Roy Morgan, «Abuse of Aversive Therapy Opposed by NSAC», in: The Advocate Januar/Februar (1986) 6–7. Le Couteur, Ann et al., «Autism Diagnostic Interview: A Standardized Investigator- Based Instrument», in: Journal of Autism and Developmental Disorders 19 (1989) 363–3 87.

Gesnerus 77 (2020) 309

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Lord, Catherine et. al., «Autism Diagnostic Observation Schedule: A Standardized Observation of Communicative and Social Behavior», in: Journal of Autism and Developmental Disorders 19 (1989) 185–212. Lovaas, Ole I., «Behavioral Treatment and Normal Educational and Intellectu- al-Functioning in Young Autistic-Children», in: Journal of Consulting and Clin- ical Psychology 5 5 (1987) 3–9. Lovaas, Ole I., The Autistic Child: Language Development Through Behavior Mod- ifi cation (New York 1977). Lowrey, Lawson G., «Delinquet and Criminal Personalities», in: Joseph M. Hunt (Hrsg.), Personality and the Behavior Disorders: A Handbook Based on Experi- mental and Clinical Research, Bd. 2 (New York 1944) 794–822. Lunbeck, Elizabeth, «Psychiatry», in: Dorothy Ross/Theodore M. Porter (Hrsg.), The Modern Social Sciences, The Cambridge History of Science 7 (Cambridge 2003) 663–677. MacKin non, Donald W, «The Structure of Personality», in: Joseph M. Hunt (Hrsg.), Personality and the Behavior Disorders: A Handbook Based on Experimental and Clinical Research (New York 1944) 3–48. Matson, Johnny L. (Hrsg), Handbook of Behavior Modifi cation with the Mentally Retarded. Applied (New York 1981). Mau, Steffen, Das metrische Wir: Über die Quantifi zierung des Sozialen (Berlin, Frankfurt/Main 2017). Miller, Bernd, «Die Förderung autistischer Kinder und Jugendlicher im Institut für Therapie autistischer Verhaltensstörungen», in: Bundesverband Hilfe für das Au- tistische Kind e.V. (Hrsg.), Therapie des frühkindlichen Autismus (1976) 40–48. Moll, G. H./M. H. Schmidt, «Entwicklungen in der Therapie des frühkindlichen Au- tismus. Ergebnisse der Therapieforschung», in: Zeitschrift für Kinder- und Ju- gendpsychiatrie 19 (1991) 182– 203. Murray, Stuart, Representing Autism: Culture, Narrative, Fascination. (Liverpool 2008). Nadesan, Majia H., Constructing Autism: Unravelling the ‘Truth’ and Understanding the Social (London 2 005). Neumärker, Klaus-Jürgen, «… der Wirklichkeit abgewandt»: Eine Wissenschafts- und K ulturgeschichte des Autismus, Autismus 21 (Berlin 2010). «Parents Speak: Reactions to ‘Employing Electric Shock with Autistic Children’», Journal of Autism and Childhood Schizophrenia 6 (1976) 289–294. Poustka, Luise/Boris Rothermel/Tobias Banaschewski/Inge Kamp-Becker, «Inten- sive verhaltenstherapeutische Interventionsprogramme bei Autismus-Spektrum- Störungen», in: Kindheit und Entwicklung 21 (2 012) 81–89. Preu, Paul W., «The Concept of the Psychopathic Personality», in: Joseph M. Hunt (Hrsg.), Personality and the Behavior Disorders: A Handbook Based on Experi- mental and Clinical Research (New York 1944 ) 922–937. Probst, Paul, «Nachruf auf Ole Ivar Lovaas (8.5.1927–2.8.2010)», in: Heilpädagogi- sche Forschung 36 (2010) 193–201. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne (Weilerswist 22005). Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schrif- tenreihe/Bundeszentrale für Politische Bildung Band 10213 (Bonn 2018).

310 Gesnerus 77 (2020)

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access Rimland, Bernard, «Parents Speak: A Risk/Benefi t Perspective on the Use of Aver- sives», in: Journal of Autism and Childhood Schizophrenia 8 (1978) 100–104. Rimland, Bernard, Infantile Autism: The Syndrome and Its Implications for a Neu- ral Theory of Behavior, The Century Psychology Series, 50th Anniversary Edition (New York 2015). Ritvo, Edward R. (Hrsg.), Autism: Diagnosis, Current Research and Management, Two-Day Seminar Held January 25–26, 1975, Los Angeles, California, Series on Child Behavior and Development (New York 1976). Schneide r, Kurt, Die psychopathischen Persönlichkeiten (Leipzig, Wien 21928). Schwaab, Stefanie, «Die Intensive Verhaltensintervention nach Lovaas – ein pädago- gisch-therapeutisches Konzept zur Förderung von Kindern mit autistischen Ver- haltensweisen?», in: Zeitschrift für Heilpädagogik 57 ( 2006) 295–303. «Screams, Slaps and Love: Surprising, Shocking Treatment Helps Far-Gone Mental Cripples», in: Life 58/18 (1965) 90–101. Sheffer, Edith, Asperger’s Children: The Origins of Autism in Nazi Vienna (New York, London 2018). Silberman, Steve, NeuroTribes: The Legacy of Autism and the Future of Neurodiver- sity (New York 2015). Silverman, Chloe, U nderstanding Autism: Parents, Doctors, and the History of a Dis- order (Princeton, Oxford 2012). Skin ner, B. F., Science and Human Behavior (New York 1953). Solomon, Andrew, Far from the Tree: Par ents, Children and the Search for Identity (New York 2013). Stoll, Jan, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Disability History 3, (Frankfurt/ Main, New York 2017). Szatmari, Peter, «A Review of the DSM-III-R Criteria for Autistic Disorder», in: Journal of Autism and Developmental Disorders 22 (1992) 507–523. Verheyen, Nina, Die Erfi ndung der Leistung (München 2018). Waltz, Mitzi, Autism: A Social and Medical History (Basingstoke 2013). Wing, Lorna, The Autistic Spectrum: A Guide for Parents and Professionals (Lon- don 1996). Wor ld Health Organization, The ICD-10 Classifi cation of Mental and Behavioural Disorders: Diagnostic Criteria for Research (Genf 1993). Yergeau, Melanie, Authoring Autism: On Rhetoric and Neurological Queerness. Thought in the Act Ser. (Durham 2017).

Gesnerus 77 (2020) 311

Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access