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The Next Generation Digitalisierung. Demokratie. Veränderung. SAVE THE DATE July 6–7, 2020 Bonn,

Pluralism. Populism. dw.com/gmf #dw_gmf Journalism.

MAIN PARTNERS

CO-HOSTED BY PUBLIC PARTNERS Editorial DW/P. Böll DW/P. © ©

An jedem Anfang steht der Zweifel: Im schreiende soziale Ungerechtigkeiten. Die lichen Wandel möglich zu machen. Dafür Namen meiner Generation darf ich hier liberale Weltordnung, die in der Schule be- sind wir journalistisch gerüstet wie noch nie: schreiben – aber bin ich dafür die Richtige? weihräuchert wurde, steht unter Beschuss. Wir können den genauen Kurs eines Contai­ Immerhin fühle ich mich nicht selten wie aus Politik im klassischen Sinne, die Parteien fin- nerschiffs online nachverfolgen, enorme dem Takt geraten, hoffnungslos has been im den oft keine Antwort oder stellen noch nicht Datensätze durchsuchen und unsere Artikel Vergleich zu meinen coolen Zeitgenossen. Ich einmal die richtigen Fragen. Alte, weiße Politi- erreichen augenblicklich selbst die abgele- gehe am liebsten um zehn ins Bett, finde alte ker führen sich so auf, als träten sie gerade in gensten Regionen der Welt. Kupferstiche toll, empfinde wenig Begeiste- einer trashigen Reality-­TV-Show auf. Noch eine Bemerkung zu „Next Gene­ rung für Snapchat. Und verstehe mich blen- Deshalb sind wir verunsichert und des- ration“: Generation ist ein Differenzbe- dend mit manchen Eltern meiner Freunde. halb die Begeisterung für Aktivisten wie griff – und ein Konstrukt. Nicht jeder weiß, Trotzdem teile ich so vieles mit Men- Greta Thunberg und Joshua Wong. Sie sind welcher Generation er oder sie angehört, schen zwischen 15 und 35, das uns als Ge- wie wir: jung und – manchmal – wütend. Sie aber ich weiß zumindest, welcher ich nicht angehöre. Es wäre zu einfach, die „neue Generation“ als Vorwand zu nehmen, sich Wir wollen aufstrebende Stimmen Verantwortungen zu entledigen, mit einem Seufzer der Erleichterung zu sagen: Jetzt ­hörbar machen und so helfen, gesell­ kommen ja die jungen Wilden. Es ist auch zu einfach, uns mit Hohn zu begegnen, schaftlichen Wandel möglich zu machen. wenn unsere innovativen ­Höhenflüge mal missglücken. neration verbindet. Wir in Westeuropa und zeigen uns, dass unsere Stimme doch etwas Wir brauchen den Raum, Fehler zu ma- Nordamerika haben den Krieg nie erlebt. verändern kann an dem, was schon lange als chen. Potenzial kann sich nur dort ausdrü- Wir sehen eher, dass die Kriegszeugen, die Status quo gilt. cken, wo ohne Angst experimentiert werden Generation unserer Großeltern, verschwin- Bei der DW wissen wir: Eine Greta könnte kann. Und wir brauchen die wohlwollende det. Wissen und Gewissen. Wir können fast es nicht überall geben. 164 Umweltaktivisten Unterstützung und die Erfahrung der überall hin reisen, im Ausland leben und ar- wurden im vergangenen Jahr laut der bri- ­„jetzigen Generation“. Wir wollen von ihnen beiten. Wir sind in einer Welt aufgewachsen, tischen NGO Global Witness ermordet. Jun- lernen. Wir müssen es. Aber sie sollen auch in der Klimaschutz nicht mehr ein abseitiges ge Menschen, die mehr Teilhabe einfordern, von uns lernen. Denn es ist eine verdammt Thema für wenige ist, sondern eines der bri- werden bedroht, kommen ins Gefängnis oder komplexe Welt da draußen. santesten Themen. Für alle. müssen ins Exil. Als junge Journalistinnen Aber bei uns herrscht auch ein gewisses und Journalisten bei der DW schauen wir kri- Luisa von Richthofen Unbehagen. Die Probleme der Welt sind kom- tisch hin. Wir wollen aufstrebende­ Stimmen Volontärin plex: Erderwärmung, Migration und Krieg, hörbar machen und so helfen, gesellschaft-

Deutsche Welle 3 MENSCHEN BEGEGNEN DW © Rachel Stewart ©

beschäftigt sich mit den Eigenarten der Deutschen. Projekt The 77 Percent, das sich an Afrikas junge „Meet the Germans“ lautet ihre Einladung an das Bevölkerung richtet. Nun drückt sie der Reihe Meet weltweite DW-Publikum. In kurzen Videos bringt sie the Germans ihren Stempel auf. Eine Reihe, die den alle zwei Wochen Licht in die Bandbreite deutscher Spagat zwischen Aufklärung und Unterhaltung Tugenden – und Untugenden: ob Socken und San- schafft und auch für Deutsche erhellend ist. Wer dalen, Schrebergarten und Spargelzeit, Small Talk beispielsweise wissen möchte, wie wir Deutsche und Grammatik oder Wanderlust und Bücherwurm. auf Neuankömmlinge wirken, erfährt viel Neues. Auch mit Textbeiträgen und Fotogalerien nimmt Die englischsprachigen Videos sind im TV-Magazin das Meet-the-Germans-Team Stereotype und Kurio- Arts and Culture, auf dw.com und Social Media zu sitäten unter die Lupe. „Wir zeigen das Wichtigste, sehen – auch in deutscher Adaption. Mit 2,5 Millio- was man über deutsche Alltagskultur wissen muss“, nen Aufrufen auf Youtube war übrigens der Beitrag so die Reporterin, die gern experimentiert und auch zur Sauna-Kultur das beliebteste Video. Bisher, denn schon mal einen Beitrag in Versform bringt. die Liste ihrer offenen Themen ist noch lang. Rachel Stewart absolvierte bei der DW ihr Volon- tariat, arbeitete in der Kulturredaktion und für das dw.com/meet-the-germans

4 Weltzeit 4 | 2019 Inhalt

MENSCHEN BEGEGNEN 17 Adrian Lovett, Web Foundation „Online-Partizipation ist entscheidend“ 6 Jaafar Abdul Karim Neues Format – mehr Dialog 18 Kira Schacht, Datenjournalistin in den Top 30 bis 30 6 Anabel Hernández Preisträgerin als Kolumnistin 19 Joshua Wong, Hongkong Schirm-Herr sucht Verbündete 7 Jacek Lepiarz Preis der Bundespressekonferenz 20 Chheng Niem, Kambodscha Soziale Medien als zweischneidiges Schwert 7 Dagmar Engel Sportchefin mit Gewinnermentalität 21 Nachwuchsförderung 10 Neue Volontäre – neue IMS-Studierende AKTUELLES ERFAHREN 22 Just 6, Südafrika 8 DW Akademie Die Stimme als Instrument für Beethoven Ermutigung in Kolumbien 23 #Susamam, Türkei

PARTNERSCHAFT LEBEN Rapper für Recht und Gerechtigkeit

9 Verständigung MEDIEN ENTWICKELN Balkan Booster – dritte Auflage 24 Radio Sónica, Guatemala 9 Erinnerung Hoffnung aus dem Weltraum-Studio Deutsch-polnische Reportage-Reihe

PERSPEKTIVE WECHSELN 9 Schulterschluss Aachen mit Leben gefüllt 26 Michel Friedman 16 Grenzen brauchen Freiheit AUS ERSTER HAND 28 Magdalena Gwozdz-Pallokat 10 Zweite Amtszeit Zu dritt statt als Tandem „Gegenwind beflügelt uns“ – Im Gespräch mit DW-Intendant Peter Limbourg 30 Alexandra Belopolsky Nein, ich habe keine Angst TITELTHEMA

WELT ANSCHAUEN 12 Buumba Malambo, Sambia „Weil sie uns versteht“ 32 Die Reportage Fanny Facsar im Jemen 14 Shaharzad Akbar, Afghanistan Den Wünschen Flügel verleihen 34 Das Porträt Sannuta Raghu, Moderatorin von Eco India 16 Zahraa Ghandour, Irak „Es ist immer Zeit, über Freiheit zu sprechen“­ 26

Deutsche Welle 5 MENSCHEN BEGEGNEN

„Wir brauchen mehr Dialog“

Couragiert und nachdrücklich: Die DW hat in diesem Sommer ­JaafarTalk gestartet, ein stalten. Mit unserem neuen Programm bie- neues TV-Format mit Moderator ­Jaafar ­Abdul Karim. „Eine Plattform für faire und ten wir eine Plattform für faire und lösungs- ­lösungsorientierte Debatten“, so DW-Inten­dant Peter Limbourg. orientierte Debatten.“ Das Konzept: Gäste aus Ländern der Region mit deutlich unterschiedlichen An- sichten debattieren. Am Ende stimmen ­Studiopublikum und TV-Zuschauer darüber ab, welcher Gast seine Position besonders überzeugend vorgetragen hat. Die Premiere DW/H. Baydoun DW/H. ©

© von JaafarTalk kam aus Beirut. Thema der Sen- dung: polygame Ehen. „Wir konfrontieren die Menschen mit der Diversität und Modernität der Region und regen zum Austausch auf Augenhöhe an“, erläutert der Moderator. Ein Konzept das ankommt: Im August wurden die Videos der ersten fünf Folgen insgesamt 65 Millionen Mal angesehen. Jaafar Abdul Karim wird darüber hinaus weiterhin als DW-Reporter in Deutschland Fulminant gestartet: JaafarTalk unterwegs sein und sich beispielsweise in die Flüchtlingsdiskussion einbringen. Seine Begegnungen mit Migranten auf der einen „Die Normen und die Standards für Re- deriert. Mit der neuen wöchentlichen Show und Protagonisten rechtsextremer Gruppen spekt und Toleranz sind im Wandel. Was wir bleibt der Moderator seiner Linie treu: kon- auf der anderen Seite sind Teil des von ihm alle brauchen, ist mehr Dialog.“ Was Jaafar troverse Diskussionen über gesellschafts- eingeforderten und praktizierten Dialogs. Abdul Karim im Gespräch mit CNN-Modera- politische Themen, auch schwierige, auch Abdul Karim weiß, wovon er spricht. Er wur- torin Christiane Amanpour kürzlich forderte, tabuisierte. de in Liberia geboren. Er wuchs im Libanon ist für den populären Reporter und Modera- „Jaafar Abdul Karim erreicht ein Millio- und in der Schweiz auf, studierte in Frank- tor Programm. Und gilt für ihn in Deutsch- nenpublikum, das ihm vertraut“, betonte reich, Deutschland und England. ­Heute lebt land ebenso wie im Zielgebiet seiner neuen DW-Intendant Peter Limbourg zum Start er in Berlin. Sendung – den arabischen Ländern. des Programms. „Diese Menschen wollen Acht Jahre lang hat er das vielfach aus- zunehmend die politischen und sozialen facebook.com/dw.jaafartalk gezeichnete Jugendformat Shababtalk mo- Verhältnisse in ihren Ländern aktiv mitge- dw.com/ar

Preisträgerin als Kolumnistin

Die mexikanische Journalistin und Buchautorin Anabel ­Hernández, ausgezeichnet mit DW dem Freedom of Speech Award 2019 der DW, schreibt wöchentlich für den deutschen © © Auslandssender.

Die neue Kolumne auf dw.com erscheint El Chapo. Für die DW-Kolumnistin kein Grund auf Spanisch, Deutsch, Englisch und Portu- zur Beruhigung. „Denn die wahren Bosse und giesisch. Anabel Hernández beschäftigt sich Nutznießer der gewaltigen Maschinerie des seit vielen Jahren mit der organisierten Kri- internationalen Drogenhandels sind noch minalität, insbesondere mit Drogenkartel- nicht im Gefängnis“, weiß Hernández. Auch len und politischen Verwerfungen in ihrer die Situation der organisierten Kriminalität ­Heimat. Nach zahlreichen Morddrohungen in Brasilien, dem zweitgrößten Kokainmarkt musste sie Mexiko 2015 verlassen, ging zu- der Welt, nimmt sie unter die Lupe. Ebenso nächst in die USA und lebt heute im Exil in wie die Ermordung von Frauen in Mexiko – Europa. Taten, die nach ihren Recherchen zunehmen Die unerschrockene Investigativjour- und immer brutaler werden. nalistin bleibt überzeugt: „Für freie Journa- Ende Mai hatte Anabel Hernández den Straffreiheit. In ihrer DW-Kolumne wird sie listen, für freie Medien gibt es keine Unanta- DW Freedom of Speech Award erhalten – sich auch künftig mit der Rolle der politisch stbaren.“ So befasst sie sich in ihren ersten für ihren herausragenden Einsatz für die Verantwortlichen beschäftigen. DW-Beiträgen unter anderem mit der Verur- Meinungsfreiheit und ihren Kampf gegen teilung des berüchtigten mexikanischen Dro- Korruption, Drogenhandel und sexuel- dw.com/a-50172532 genbosses Joaquín Guzmán Loera, genannt le Ausbeutung, gegen Vertuschung und dw.com/freedom

6 Weltzeit 4 | 2019 Auszeichnung für einen Unbeugsamen

Jacek Lepiarz, DW-Korrespondent in Berlin, wird mit dem Preis der Bundespressekonfe- renz (BPK) geehrt, der am 29. November im Rahmen des Bundespresseballs überreicht wird.

Der Preisträger sei „nicht gewillt, sich Lepiarz leitete das Büro von DPA in War- den Veränderungen der Medien in Polen schau, später das Berliner Büro der Pol- einfach zu beugen“, sagte BPK-Vorsitzen- nischen Presseagentur (PAP). Der Aufstieg der Gregor Mayntz. „Jacek Lepiarz hat mit der PiS-Partei veranlasste ihn, die PAP zu seiner langjährigen Arbeit als Journalist verlassen. Seit 2018 berichtet er für die Pol- einen großartigen Beitrag zum gegensei- nisch-Redaktion der DW aus Berlin. Florian Gaertner/photothek.netFlorian © tigen Verständnis von Polen und Deutschen Jacek Lepiarz ist der erste Preisträger © geleistet.“ Zum 70-jährigen Bestehen der aus den Reihen des Vereins der Auslän- Bundespressekonferenz, die den Preis seit dischen Presse in Deutschland (VAP). Der 2014 verleiht, wolle die Jury „ein Zeichen 65-Jährige sieht die Ehrung als Anerken- setzen und auch diejenigen würdigen, die nung für sein Bemühen, „politische Unab- zunehmend unter Druck ihrer Regierungen hängigkeit und journalistische Objektivität zuletzt sei der Preis eine „Ermunterung für stehen und sich mutig für die Pressefreiheit auch in Zeiten angespannter deutsch-pol- jüngere Kolleginnen und Kollegen, dem po- einsetzen“, so Mayntz. nischer Beziehungen zu bewahren“. Nicht litischen Druck nicht nachzugeben“.

„Wir gewinnen – auf jeden Fall“

Dagmar Engel, frühere Chefredakteurin Nachrichten. 1997 bis 1998 berichtete sie der DW und Leiterin des Hauptstadtstudios als TV-Korrespondentin aus dem DW-Studio am Schiffbauerdamm, hat am 1. August die Washington. Wieder in Berlin, übernahm Leitung der Sportredaktion übernommen. sie die Leitung des Bereichs Aktuelles und DW/B. Geilert © Nachrichten, 2002 wurde sie zusätzlich Chef- Programmdirektorin Gerda Meuer zeigte © redakteurin. Ende 2013 wechselte sie von sich überzeugt, dass die „engagierte Journa- der Voltastraße an den Schiffbauerdamm, listin und erfahrene Managerin“ auch für den wo sie bis 2017 das Hauptstadtbüro leitete. Sport die nötige Fitness mitbringe. Die neue Zuletzt zeichnete sie für die Abteilung Infor- Teamchefin werde „mehr Raum schaffen für mation und ­Archive verantwortlich. hintergründige, gut recherchierte Geschich- Als Sportchefin folgt Engel auf ­Herdin ten zu kritischen Themen aus der Sportwelt Wipper, der neue Aufgaben im Bereich und auch die gesellschaftliche Integrations- Events übernahm. Für die Neupositionie- kraft des Sports beleuchten“, so Meuer. rung des Sports formulierte die Neue das Nach dem Studium der Germanistik, TV die Fernsehredaktion der Deutschen Motto: „Wir gewinnen – auf jeden Fall.“ Politikwissenschaft und Publizistik war Welle hervorging, blieb Engel beim neuen ­Dagmar Engel zunächst beim WDR und beim Auslandsfernsehen – als Redakteurin und dw.com/sport damaligen RIAS-TV tätig. Als 1992 aus RIAS- später als Leiterin des Programmbereichs

197 Millionen

wöchentliche Nutzerkontakte, das ist die aktuelle Reichweite der Auch im 30-sprachigen Online-Angebot zählen vor allem be- DW, 35 Millionen (22 Prozent) mehr als 2018. Ziel der DW ist es, bis wegte Bilder: Rund drei Viertel der Aufrufe werden durch Videos 2021 die Reichweite auf 210 Millionen wöchentliche Nutzerkon- generiert, wichtigster Verbreitungsweg sind hier die Facebook-­ takte zu steigern. Accounts der einzelnen Sendesprachen, insbesondere Arabisch Die jüngste Entwicklung ist vor allem auf einen stärkeren und Spanisch. Auch in weiteren Sendesprachen stieg die Nutzung Abruf der Online-Angebote zurückzuführen. Rund 61 Millionen auf Social-Media-Plattformen, am stärksten auf Youtube. Menschen nutzen regelmäßig die DW im Netz. Zugleich bleibt Die Radionutzung bleibt mit einem Publikum von 37 Millio- Fernsehen wichtig. Die Zuschauerzahlen sind gegenüber dem nen stabil – die Radiohörer der DW leben nahezu ausschließlich Vorjahr um zehn Millionen auf über 99 Millionen pro Woche in Subsahara-Afrika. gestiegen.

Deutsche Welle 7 AKTUELLES ERFAHREN

Ermutigung in Kolumbien

Für ihre Reportage „Gegen illegalen Koka-Anbau: ein zweifaches Risiko“ erhielten die jungen kolumbianischen Journalisten Paula Hernández und Juan Gómez den diesjährigen Investiga-Preis. Das Projekt wird von der DW Akademie unterstützt.

Gómez und Hernández, die für das Online-Portal Rutas del Con- flicto arbeiten, zeigen die Dimensionen der Gewalt gegen kolumbi- Consejo de Redacción de Consejo © anische Landwirte auf, die sich für Alternativen zum Drogenhandel © stark machen. Kolumbiens Bauern stehen am Scheideweg: Entwe- der sie setzen weiter auf Koka-Pflanzen für den illegalen Drogenhan- del oder sie stellen um auf andere Anbauprodukte. Doch zum einen erzielen sie mit Kaffee, Zuckerrohr und Kochbananen nur einen Bruchteil der Gewinne, die der Koka-Handel bringt – und die von der Regierung versprochenen Subventionen bleiben aus. Zum anderen wurden schon zahlreiche Befürworter des Anbaus von alternativen Das Gewinner-Team: (v. l.) Fernanda Barbosa, Paula Hernández, Juan Gómez Nutzpflanzen ermordet. Für Matthias Kopp, Ländermanager der DW Akademie für Ko- lumbien und Mitglied der Investiga-Jury, ist der Beitrag ein Beispiel in Bogotá erfolgte im Rahmen einer internationalen Konferenz zu für „professionellen und mutigen Journalismus“. Der renommierte Investigativjournalismus mit über 300 Teilnehmenden. Preis, ausgelobt von der Organisation Consejo de Redacción, fördert Qualitätsjournalismus in Kolumbien. Die Preisverleihung im August dw-akademie.com

@plus90-Tweets Roadmovies unvoreingenommen auf Ent- – montags um 18.45 Uhr. Moderiert wird deckungsreise. Ihre Themen: Verzicht und Euromaxx von Collien Ulmen-Fernandes Zum Youtube-Kanal +90, benannt nach Protest, Kinderwunsch in Zeiten des Klima- und Evelyn Sharma. 300 Partner weltweit der internationalen Ländervorwahl der wandels, Landwirtschaft und Artenvielfalt übernehmen das Kultur- und Lifestyle-For- Türkei, gibt es seit Mitte September auch und die Rückkehr der Wölfe. mat. Aktuell weckt unter anderem die Ru- den Twitter-Account @plus90. Das neue brik „How to Bauhaus“ viel Interesse. Die türkischsprachige Informationsangebot dw.com/onthegreenfence DW strahlt Euromaxx auf Arabisch, Eng- hatten BBC, DW, France 24 und Voice of lisch, Spanisch und Deutsch aus und bietet America im April gemeinsam auf You­ Partnern eine zusätzliche Fassung, die wei- tube gestartet. Die Video-Beiträge, die Künstler-Glück tere Adaptionen ermöglicht. ein breites Spektrum politischer und ge- sellschaftlicher Themen aufgreifen, sto- Im Hamburger Bahnhof – Museum für dw.com/euromaxx ßen auf großes Interesse, der Kanal zählt Gegenwart wurde der Preis der National- bereits mehr als 150.000 Abonnenten. galerie verliehen. Die DW ist langjähriger Die DW stärkt die unabhängige Bericht- Medienpartner und stellte die vier nomi- Bundesliga-Radio erstattung für ihr türkischsprachiges nierten Künstler ihrem weltweiten Publi- Publikum darüber hinaus mit der neuen kum vor. Diese Filmporträts von Preisträ- Seit Beginn der laufenden Spielzeit bringt Nachrichtensendung DW Haber – seit Juli gerin Pauline Curnier Jardin (Marseille, die DW die Fußball-Bundesliga auch auf via Periscope und Youtube. Berlin) sowie Simon Fujiwara (London), Englisch live via Radio nach Afrika. 16 Part- Flaka Haliti (Pristina) und Katja Novitskova nersender in sieben Ländern übernehmen youtube.com/plus90 (Tallinn) sind auch im Rahmen der Ausstel- die Live-Reportage eines Topspiels am twitter.com/plus90 lung mit Werken der genannten Künstler Samstag. Bereits seit 2016 bietet die DW zu sehen. Die Schau im Hamburger Bahn- diesen Service in den Sprachen Kisuaheli hof läuft bis 16. Februar 2020. und Haussa,­ später kamen Französisch Zaun-Gäste und Portugiesisch für Afrika hinzu. Die DW dw.com/kultur21 verbindet die Reportagen mit viel Hinter- In der fünfteiligen Umweltserie On the grundinformationen zu Mannschaften Green Fence geht der Blick vom Zaun und Austragungsort. Auch über Facebook kontrovers und ideologiefrei in alle Rich- Lifestyle-Partner können die afrikanischen Fans die Repor- tungen. Die Audiopodcasts bieten Infor- tage verfolgen und kommentieren. mation mit Unterhaltungswert. Neil King Das DW-Magazin Euromaxx ist jetzt auch und Gabriel Borrud gehen im Stil eines auf dem Bildungskanal ARD-alpha zu sehen dw.com/sports

8 Weltzeit 4 | 2019 PARTNERSCHAFT LEBEN

Klima-Wandel

Der Balkan Booster der DW verbindet journalistische Fortbildung mit Austausch und Verständigung.

21 junge Journalistinnen und Journalisten aus zehn Ländern des Balkans produzieren derzeit – als Tandem oder Trio – mit dem Smartphone Videos zu Umweltthemen. Es geht um Klimawandel, DW/A. SalihbegovicDW/A. Feinstaub, Plastik, Industrieabfall oder Abwasser. Die Filme werden © © über Social-Media-Kanäle der DW verbreitet. Für die Beteiligten ist es eine doppelte Entdeckungsreise. Sie erleben die noch von Vorurteilen belasteten Nachbarkulturen und entdecken Gemeinsamkeiten. Zuschauer können auf Albanisch, Bosnisch, Bulgarisch, Griechisch, Kroatisch, Mazedonisch, Rumä- nisch und Serbisch an der Entdeckungsreise teilnehmen. Es ist die dritte Auflage des Projekts. 2018 erreichte die DW mit dem Balkan Booster mehr als sechs Millionen Menschen. Balkan Booster: Auftakt zur dritten Auflage dw.com/europa

Ein Tandem – zwei Perspektiven

Gemeinsam mit den polnischen Partner-Portalen Wirtualna Pols- „Es sind erschütternde Geschichten von Schuld und Scham, aber ka und Interia hat die DW zum 1. September die 20-teilige Repor- auch von Einsicht und Versöhnung“, so Bartosz Dudek, Leiter der Pol- tage-Reihe „Schuld ohne Sühne“ gestartet. nisch-Redaktion der DW.

80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs besuchten WP deutsch-polnische Journalisten-Tandems Familien von polnischen © © Kriegsopfern und Familien von deutschen Tätern, um deren Lebens- wege nachzuzeichnen. Dem gingen umfangreiche Recherchen in beiden Ländern voraus. So traf ein Team einen Überlebenden eines Ghettos und brachte ihn mit dem Sohn des damals Verantwortlichen aufseiten Nazi-Deutschlands zusammen. Bei Recherchen zu einem SS- Arzt, der im Konzentrationslager Dachau medizinische Experimente Die Projektseite auf Polnisch: an polnischen Häftlingen durchführte, wies eine Spur in die bayerische dw.com/zbrodniabezkary Provinz – wo die Reporter auf eine Mauer des Schweigens stießen.

Aachen mit Leben gefüllt

DW-Intendant Peter Limbourg und Amtskollegin Marie-Christine Delegationen beider Partner kamen zu ihrem dritten Jahrestref- Saragosse von France Médias Monde (FMM) haben in Bonn die fen in der DW-Zentrale zusammen. FMM ist die Dachorganisation Stärkung der redaktionellen Zusammenarbeit bei europäischen der französischen Auslandsmedien France 24, Radio France Interna- Medienprojekten vereinbart. tionale (RFI) und Radio Monte Carlo Doualiya (MCD). Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls sind mehrsprachige Kopro- duktionen zu Themen, die junge Menschen bewegen, ge­plant. Diese werden über Social Media verbreitet. Darüber hinaus wollen die Part- ner Veranstaltungen wie die zweite Ausgabe des Pariser Friedens- DW/P. Böll DW/P. © forums zur Globalisierung im November oder die Münchner Sicher- © heitskonferenz im Februar nächsten Jahres nutzen, um neue Wege der Zusammenarbeit zu erproben, zum Beispiel durch gemeinsame Redaktionsteams vor Ort. Bewährt hat sich die Kooperation bereits bei den jüngsten Europawahlen im Mai: France 24 und DW hatten unter anderem gemeinsame Fernsehdebatten ­produziert. In Vorbereitung ist „Enter!“ – eine Plattform mit mehrsprachigen Schulterschluss: Marie-Christine Saragosse Informationen für junge Menschen in Europa. Damit wird zugleich und Peter Limbourg eines der im deutsch-französischen Vertrag von Aachen festge- legten Ziele umgesetzt.

Deutsche Welle 9 AUS ERSTER HAND „Gegenwind beflügelt uns“

Seit sechs Jahren steht Peter Limbourg an der Spitze der Deutschen Welle. Am 1. Oktober begann seine zweite Amtszeit als Intendant. Im Weltzeit-­Interview blickt er auf Meilensteine in der Entwicklung des deutschen­ Auslandssenders­ seit 2013 zurück, spricht über die zunehmenden Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit weltweit – und Herausforderungen­ für Medien und Journalismus.

Fragen Berthold Stevens, Redakteur DW/J. Röhl © ©

Was sind für Sie die wichtigsten Mei- Auch in Zukunft kommt es auf lensteine Ihrer ersten Amtszeit? Zuallererst: Wir haben die DW strukturell ­qualitativ hochwertige und und strategisch neu aufgestellt. Dazu ha- ben wir sie auf politischer Ebene nachhal- verlässliche Inhalte an. tig verankert und insbesondere einen kon­ tinuierlichen Etatzuwachs erreicht. Wichtige wir 210 Millionen Menschen erreichen. Ein ­Istanbul – dazu jetzt in Beirut und bald in Unterstützung erfahren wir dabei durch zentraler Aspekt zur Zukunftssicherung ist Neu-­Delhi und Jakarta. Wir stärken die Freien Rundfunkrat und Verwaltungsrat. 2013 hat- dabei unsere Digitalstrategie, denn unsere Journalisten, die weltweit für uns tätig sind. ten wir 272 Millionen Euro zur Verfügung, digitalen Angebote erfahren den größten Auch dies trägt dazu bei, dass wir vermehrt für 2020 rechnen wir mit 365 Millionen. Wir Zuwachs. auf exklusive Inhalte setzen können und so sind dem Ziel ein Stück näher gekommen, Wir haben darüber hinaus das Informa- unsere Marke stärken. Das deutsche TV-Pro- die DW finanziell auf das Niveau westlicher tionsprofil unserer Programme gestärkt, gramm haben wir zu einem Kulturkanal wei- Mitbewerber zu heben. Das ist Vorausset- insbesondere mit dem englischen TV-Pro- terentwickelt. Hier setzen wir auf Synergien zung für alle weiteren Ziele und bleibt auch gramm. In diesem Jahr haben wir es weiter der öffentlich-rechtlichen Sender, überneh- künftig oben auf der Agenda. regionalisiert, etwa mit News-Formaten für men attraktive Inhalte von ARD und ZDF. Hinzu kommt: Wir haben unsere Reich- Asien und Afrika. Parallel haben wir unser weite erheblich ausgeweitet – von 101 Millio- Korrespondenten-Netz ausgebaut, unter Die DW erfährt wachsenden Zuspruch nen wöchentlichen Nutzern im Jahr 2013 auf anderem mit Büros in Kiew, Lagos, Bo- beim weltweiten Publikum – hat aber kei- inzwischen 197 Millionen. Bis 2021 wollen gotá, Taipeh, Nairobi, Kapstadt, Jerusalem, neswegs nur Freunde in der Welt. Aktuell

10 Weltzeit 4 | 2019 gibt es Vorwürfe aus Moskau und in der Türkei drohen neue Restriktionen. Auch in China und Iran ist die DW nicht gut gelitten. Unbeliebt sind wir nur bei autokratischen und autoritären Regierungen, die es leider in einer wachsenden Zahl von Ländern gibt. Die Menschen in der Zivilgesellschaft in die- sen Ländern schätzen uns als glaubwürdige, verlässliche Informationsquelle. Wir liefern Fakten und unterschiedliche Perspektiven. Damit ermöglichen wir eine freie und unab- Informationsprofil geschärft: DW/J. Röhl hängige Meinungsbildung – auf Grundlage © Peter Limbourg im Newsroom der Werte, für die wir stehen. Wir bemühen © uns stets um eine ausgewogene Bericht- erstattung. Ein Grundsatz ist, immer alle Seiten zu Wort kommen zu lassen – wenn sollen – auch das ist ein wichtiges Element staatlichkeit. Das macht uns als starke Marke sie es denn wollen. Das schließt eine etwai- der Digitalstrategie. unverwechselbar. Dazu trägt auch der Free- ge Einmischung in innere Angelegenheiten dom of Speech Award bei, den wir seit 2015 unserer Zielländer, wie von der Duma unter- Die Herausforderungen für Medien und jährlich ausloben. stellt, aus. Gerade bei unseren Profilthemen Journalismus sind vielfältig – ob politisch, wie Menschenrechte, Demokratisierung gesellschaftlich oder technisch. Worauf Die DW beschäftigt Menschen aus 60 Nati- und Rechtsstaatlichkeit genießen wir hohe wird es für die DW künftig ankommen? onen. Wie erleben Sie diese Vielfalt? Glaubwürdigkeit. Das macht uns zugleich In der Tat gibt es eine Fülle von Entwick- Wenn wir Ziele erreichen, ist dies immer unbequem für jene, die Menschenrechte lungen, die die Arbeit von Journalistinnen eine Gemeinschaftsleistung. Deshalb ist es verletzen und Freiheiten einschränken. Aber und Journalisten nicht eben leichter ma- mir wichtig, Diversity und Innovationskraft Gegenwind beflügelt uns. chen. Die weltweite Tendenz, die Meinungs- im Haus zu fördern. Gleich zu Beginn meiner Wir gehen neue Wege. Der türkische und Pressefreiheit teils massiv einzuschrän- Amtszeit haben wir einen Wettbewerb der Youtube-Kanal +90, den wir gemeinsam mit ken, ist schwerwiegend und wird uns weiter Ideen ausgelobt. Wir haben das DW-Lab ein- Franzosen, Briten und US-Amerikanern ge- herausfordern. Wir müssen die Menschen gerichtet, eine Werkstatt für kreative Köpfe, startet haben und der auf großes Interesse mehr denn je befähigen, Falschmeldungen um journalistische Ideen abseits des Alltags- stößt, ist ein Beispiel, auch unsere erfolg- von Fakten zu unterscheiden. Da haben wir geschäfts zu entwickeln. Zugleich stärken reiche russischsprachige Satiresendung Zapovednik. Freiheit und Weltoffenheit sind Für den Zuwachs an Reichweite sorgen vor allem die digitalen Angebote. Wie sieht für uns Programm und gelebter­ Alltag. Ihre Digitalstrategie aus? Sie ist die Voraussetzung, um konkurrenzfä- mit der DW Akademie ein großartiges Kom- wir die Personalentwicklung, ganz wichtig hig zu bleiben. Es geht um inhaltliche Ausrich- petenzzentrum, dessen Arbeit weltweit ge- dabei: die Gleichstellung. Mehr Frauen in tung, zielgerichtete Verbreitung und die da- schätzt wird. Spitzenpositionen war mein Ziel von Beginn mit verbundenen strategischen Änderungen Künstliche Intelligenz ist und wird noch meines Wirkens bei der DW und wir haben es in allen Bereichen. Die Medien­nutzung ist in wichtiger für unsere Arbeit, gerade um Zeit erreicht. Derzeit haben wir eine Programm- ständigem Wandel, das Angebot muss Schritt und Ressourcen zu sparen. Allerdings bringt direktorin, eine Verwaltungsdirektorin, eine halten. Für uns heißt es jetzt „On-Demand nicht jede technische Neuerung nur Segen. Chefredakteurin. Strategie, Finanzen und first “: Unser Publikum soll jederzeit und an je- Die Möglichkeiten, Stimmen, Fotos, Videos Vertrieb werden von Frauen geführt. Im Üb- dem Ort auf unsere Angebote zugreifen kön- zu manipulieren, werden immer ausge- rigen forcieren wir die Anstrengungen, die nen. Das tun die Menschen aber nur, wenn feilter. Dem müssen wir mit ebenso ausge- besten Köpfe zu uns zu holen, nicht nur im unsere Inhalte hochwertig und relevant und feilter Verifizierung begegnen. redaktionellen Bereich. Die DW ist ein at- die Darstellungsformen attraktiv sind. In erster Linie wird es auch in Zukunft traktiver Arbeitgeber für Nachwuchskräfte. So setzen wir bewusst vermehrt auf auf qualitativ hochwertige und verlässliche Wir müssen nicht lange nach dem Sinn oder Video und innovative Formate über Sozi- Inhalte ankommen, Glaubwürdigkeit ist „Purpose“ für unser Unternehmen suchen. ale Medien, auf bildstarke Onlinebeiträge, unser Pfund. Wir werden weiter unser Re- Freiheit und Weltoffenheit sind für uns Pro- auf solide und transparent recherchierte cherchepotenzial erhöhen, unsere Regio- gramm und gelebter Alltag. Geschichten. Jede unserer Redaktionen nalkompetenz stärken und unseren Content entwickelt passgenaue Angebote, die auf s c här f e n – vo r all e m b e i un s e re n Pro fil ­t h e m e n twitter.com/DW_Limbourg möglichst vielen Plattformen funktionieren Menschenrechte, ­Demokratisierung, Rechts-

Deutsche Welle 11 TITELTHEMA

„Die mit dem Kopftuch“: Buumba ­Malambo im Wahlkampf

12 Weltzeit 4 | 2019 „Weil sie uns versteht“

In Afrika machen immer mehr junge Politike- Auch die Männer ins Boot holen rinnen von sich reden – beispielsweise Malis 35 Frauen sind in Sambias Parlamenten nur marginal vertreten: 18 Jahre junge Außenministerin Kamissa Camara Prozent sind es auf nationaler Ebene und nur neun Prozent in den oder Bogolo Kenewendo, mit 32 Wirtschaftsmi- Regionen. In Kafue sitzt Malambo als eine von zwei Frauen in der Volksvertretung – ohne Kopftuch, dafür im Hosenanzug und mit nisterin in Botswana. In Sambia zeigt die 26-jäh- modischem Kurzhaarschnitt. Beim Eintreten salutieren die Sicher- rige Lokalpolitikerin Buumba Malambo, wie man heitskräfte. Unlängst wurde die junge Politikerin zur Vizevorsitzen- mit Frauenthemen erfolgreich Wahlkampf führt. den des Distrikt-Parlaments und zur Vorsitzenden des Finanzaus- schusses gewählt. Als Honorable Chair of Finance beginnt Malambo eine Aus- Text Stefan Möhl, DW-Reporter, Johannesburg schusssitzung, als ein männlicher Kollege verspätet hereinplatzt. Jovial spricht er Malambo mit ihrem Vornamen an: „Buumba, lass uns doch später über die Finanzen reden.“ Unter Johlen der übrigen Ein Schwätzchen hier, ein Grußwort dort und immer wieder Sitzungsteilnehmer verweist Malambo ihn des Saales. Angriffe auf Hände schütteln. Buumba Malambo ist in ihrem Element. Gewöhn- ihre Autorität kann sie nicht zulassen. „So etwas bekomme ich oft lich ist das 2.000-Seelen-Dorf im Kafue-Distrikt ein ruhiger Flecken, zu hören. Männliche Kollegen in meinem Alter können es einfach keine 100 Kilometer von der sambischem Hauptstadt Lusaka ent- nicht ertragen, dass ich schon all diese Positionen innehabe. Die fernt. Doch wenn die junge Abgeordnete kommt, wollen alle sie se- denken, sie hätten ein Geburtsrecht darauf.“ hen – die junge Frau mit ihren bunten Kopftüchern, die nach Jahren des Stillstands wieder Leben und Entwicklung in diese abgeschie- dene Region Sambias gebracht hat. Männer denken, Wenn sie in den Dörfern ihres Wahlkreises Magoba unterwegs ist, trägt Malambo stets Kopftuch mit traditionellen Mustern und sie hätten ein Geburtsrecht Farben. Ein Zeichen des Respekts, das zu ihrem Markenzeichen ge- worden ist. „Hier in Sambia haben wir Fotos auf den Wahlzetteln. auf bestimmte­ Positionen. Die Frauen haben immer gesagt: Macht euer Kreuz bei der mit dem Kopftuch“, erklärt Malambo, während sie zum nächsten Grüpp- Solche Episoden hakt Malambo ungerührt ab. 2021 wird wie- chen eilt, um Hallo zu sagen. der gewählt. Bis dahin möchte sie, dass die Geburtsklinik steht. Ihr Dort sitzt Media Simonga, fast 80 Jahre alt. Eine bekennende nächstes großes Ding ist eine schlaglochdurchsiebte Schotterpi- Wählerin Malambos, die sie nicht nur wegen ihres Kopftuchs ste, die endlich durch eine asphaltierte Straße ersetzt werden soll. schätzt. „Uns Frauen hat noch nie jemand gefragt, was wir wollen. Zu einseitig dürfe sie sich nicht auf die Frauen verlassen, meint Wir haben sie gewählt, weil sie eine Frau ist. Weil sie uns versteht“, ­Malambo. Auch die Männer müsse sie mit ins Boot holen. erklärt Simonga.

Von der Aktivistin zur Politikerin

Politik wird auch in Afrika weiterhin von Männern dominiert. ­Buumba Malambo gehört zu den Ausnahmen. 2016 wurde sie als Sambias jüngste Repräsentantin in das Regionalparlament des Ka- 77 Prozent fue-Distrikts gewählt. Seitdem hat die 26-Jährige einiges angepackt: 300 Mädchen erhielten Schulkleidung und ein Bildungsstipendium. der afrikanischen Bevölkerung sind jünger als 35. Die Deut- Schulen und Kliniken wurden renoviert. Ein Polizeiposten wurde sche Welle gibt dieser jungen Mehrheit eine Stimme und eine eingeweiht. Und derzeit sammelt Malambo Mittel für den Bau einer Adresse für den Dialog: In dem Multimedia-Projekt The 77 kleinen Geburtsklinik – es wäre die einzige weit und breit. Wenn man Percent greift die DW die Themen auf, die junge Menschen sie auf ihre Erfolge anspricht, ist sie ganz die professionelle Politike- bewegen – lebendig, jung, politisch, kritisch. Als Radioformat, rin: „Ich möchte ein Afrika, in dem Frauen und Mädchen in Würde TV-Magazin und Online-Präsenz. Jede Woche eine neue De- leben. Das fängt mit der Geburt an.“ batte, auf sechs Plattformen, in sechs Sprachen: Amharisch, Ihre Karriere als Volksrepräsentantin kam eher unverhofft. Englisch, Französisch, Haussa, Kisuaheli, Portugiesisch. Auch ­Malambo studierte Sozialarbeit in Lusaka und machte ein Prakti- die „Street Debates“ vor Ort sind ein Kernelement des Pro- kum in Magoba. Dort erlebte sie, wie Mädchen mit 13, 14 Jahren die jekts. Dieser unmittelbare Dialog mit dem Publikum stößt auf Schule verließen und heirateten – ohne Abschluss, ohne Perspek- großes Interesse, ob in Kampala (Uganda), Mamou (Guinea) tive. Um sie länger in der Schule zu halten, sammelte Malambo via oder Accra (Ghana). Social Media Schulbücher und Uniformen. Freunde und Bekannte aus Lusaka spendeten. Als dann der Platz im Regionalparlament frei dw.com/77 wurde, forderten die Frauen im Dorf Malambo auf zu kandidieren.

Deutsche Welle 13 TITELTHEMA picture Photo alliance/AP © Den Wünschen ©

der Zivilgesellschaft saß ich den Taliban Flügel verleihen gegenüber.­ Der Krieg, der schon länger wütet, als ich lebe, hat einige meiner Freunde und Familien­mitglieder das Leben gekostet und Mit Sorge verfolgt sie, wie die Taliban international hofiert andere, einschließlich meiner Schwestern, werden. Bei den Gesprächen von Vertretern der afghanischen dazu gebracht, ins Ausland zu flüchten. Als junge Mutter möchte ich, dass die Kind- Zivilgesellschaft mit den Taliban im Sommer in Doha hat sich heitserinnerungen meines Sohnes einmal ihre Überzeugung bestätigt: Sollten die Taliban wieder an der heller sein werden, als meine es sind. Frei von brutalem Bürgerkrieg, Taliban-Herr- Macht beteiligt werden, hätte die junge Generation – zumal schaft und Flucht­erfahrung. junge Frauen – wenig Gutes für die Zukunft zu erwarten. Ein Gastbeitrag der Menschenrechtsaktivistin Shaharzad Akbar. Keine Bereitschaft zu ­ehrlichem Dialog

Trotz meiner Hoffnung auf ein Ende der Ge- walt bin ich in Sorge angesichts des US-ame- rikanischen und internationalen Engage- Ich bin während des Bürgerkriegs in dass er zur Schule geht voller Angst vor Ex- ments in Bezug auf eine Einbindung der Afghanistan aufgewachsen. Gleichwohl plosionen und Selbstmordanschlägen. Taliban. Schon angesichts der Rhetorik der haben meine Eltern meine Geschwister Als Aktivistin war ich Teil der Bemü- Taliban zu ihren Vorstellungen von der Zu- und mich ermutigt, Weltliteratur zu lesen, hungen, das vier Jahrzehnte dauernde Blut- kunft Afghanistans. Es läuft auf ein Ergebnis uns für Musik und Kunst zu interessieren, vergießen und die Gewalt in Afghanistan zu hinaus, das keinen Frieden verspricht. kritisch und fortschrittlich zu denken und beenden. Dazu zählt meine Teilnahme am In Doha habe ich die arrogante Kompro- unser Leben als starke und unabhängige innerafghanischen Dialog von Doha im ver- misslosigkeit der Taliban erlebt. Ihre Antwor- Frauen zu leben. gangenen Juli. Als eine der Vertreterinnen ten auf berechtigte Fragen der afghanischen­ Das ist natürlich auch die Vorstellung, die ich von der Zukunft meines Sohnes habe. Ich möchte, dass er in einer toleranten und globalisierten afghanischen Gesellschaft Ich werde nicht der Angst aufwächst, die den Wünschen ihrer Kinder Flügel verleiht, statt alles daran zu setzen, und Tyrannei­ nachgeben, die meine ihre Lebensentscheidungen mit Gewalt und Angst zu kontrollieren. Ich will auch nicht, Kindheit verschlungen­ hat.

14 Weltzeit 4 | 2019 Afghanische Träume

„Ich werde nie aufhören, an eine bessere Zukunft für die nächste Generation von Mäd- chen in Afghanistan zu glauben.“ Mit 16 Jahren wurde Fatemah Qaderyan (Bildmitte) Sprecherin der „Afghan Dreamers“. Das nur aus Mädchen bestehende High-School-

Delegation zu Frauenrechten, Regierungs- führung, Wahlen, internationalen Verträgen, die Afghanistan unterzeichnet hat, und ande- ren Schlüsselfragen blieben vage. Sie zeigten keine Bereitschaft zu einem ernsthaften, ehr- lichen Dialog – ein beunruhigendes Zeichen, was ihre Kompromissbereitschaft bei einigen dieser Schlüsselthemen in künftigen inneraf- ghanischen Verhandlungen betrifft. Das Fehlen konkreter Aussagen der Tali- ban und der USA zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Afghanen, insbesondere der afghanischen Frauen, hat mich sehr besorgt gemacht. Wer wird von dieser Zukunft pro- fitieren? Diejenigen, die an einem Verhand- picture Photo alliance/AP lungstisch Macht und Einfluss gewinnen, © oder die mehr als 30 Millionen afghanischen © Zivilisten, die seit Jahrzehnten Krieg erleben müssen? Robotik-Team machte 2018 weltweit Schlagzeilen: Allen Hindernissen zum Trotz nahm Eine Rückkehr der Taliban an die poli- das Team an einem internationalen Robotik-Wettbewerb in den USA teil (Foto S. 14) und tische Macht könnte zu erheblichen Ände- entschied diesen am Ende für sich. Qaderyan, deren Vater kurz nach ihrer Rückkehr bei rungen des Regierungssystems und der Ver- einem Bombenattentat der IS-Terrormiliz getötet wurde, setzt sich weiterhin dafür ein, fassung führen. Nimmt man die Herrschaft dass Mädchen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Ausbildung bekommen – ge- der Taliban in ihren derzeitigen Einflussbe- rade für technische Berufe. Auch um ihre Zukunft sorgt sich Shaharzad Akbar. reichen als Indiz und Maßstab, könnte dies auch schwere Rückschritte bei den indivi- duellen Rechten und Freiheiten bedeuten. Die Regierungsführung im Taliban-Stil legt serer Vision von Frieden und Freiheit auf- Zukunft zu leben – unabhängig davon, ob den Schwerpunkt auf religiöse Polizeiarbeit geben müssen, um ein Ende der Gewalt zu diese Zukunft, die ich mir für Afghanistan und nicht auf die gleichberechtigte Bereit- bewahren. Das Gleiche würde ich auch von vorstelle, zu meinen Lebzeiten oder erst in stellung von Dienstleistungen und Chancen, den Taliban erwarten. seiner Generation verwirklicht wird. die es den Talenten und Fähigkeiten der ge- Dennoch bin ich mir einer Sache sicher: samten Bevölkerung ermöglichen, sich zu Ich werde nicht der Angst und Tyrannei nach- Hinweis: Dieser Beitrag von Shaharzad entfalten. geben, die meine Kindheit ver­schlungen Akbar ist die gekürzte Fassung eines Der schlimmste Fall wäre eine Rückkehr hat. Ich werde dem Beispiel meiner Eltern ­Artikels, den die Autorin Ende August bei zu Bürgerkrieg und Chaos. Im Falle eines folgen und mein Kind großziehen, um im cnn.com veröffentlicht hat. voreiligen Rückzugs und in Ermangelung Geiste fortschrittlicher Werte wie Toleranz starker Überwachungs- und Durchset- und mit unerschütterlicher Hoffnung für die zungsmechanismen durch die internationa- le Gemeinschaft könnte sich jede der Seiten aus den Verhandlungen zurückziehen und einen militärischen Sieg anstreben. Shaharzad Akbar

Kompromisse akzeptieren ist seit Kurzem Vorsitzende der unab­ hängigen afghanischen Menschenrechts- Ich weiß, dass meine Vision von einem fried- kommission (Afghanistan Independent lichen Afghanistan von meiner Erziehung Human Rights Commission, AIHRC). Die und meinen persönlichen Werten bestimmt 32-Jährige war zuvor Stellvertreterin wird, die von einigen, aber nicht von allen Af- des Nationalen Sicherheitsrats für Frie- ghanen geteilt werden. den und Zivilschutz in der afghanischen Ich akzeptiere, dass wir, sollten die Af­ ­Regierung. ghanen jemals die Chance haben, den Tali- privat ban gegenüberzusitzen und zu verhandeln, © @ShaharzadAkbar Kompromisse eingehen und einen Teil un- ©

Deutsche Welle 15 „Es ist immer Zeit, über die ­Menschen zu erreichen. Wir haben be- obachtet, wie Extremisten sie nutzen, wie Politiker sie nutzen. Jetzt nutzen auch wir Freiheit zu­ sprechen“­ sie, um uns auszudrücken, uns zu vernetzen und zu lernen. Bedauerlicherweise ist un- sere Online-Bewegung noch nicht sehr ef- Die junge irakische Schauspielerin und Dokumentarfilmerin fektiv, weil es sehr teuer und aufwendig ist, Zahraa Ghandour zählt zu jenen, die aufbegehren gegen wirkungsvollen Content zu teilen. Ich hoffe aber, dass wir auf dem richtigen Weg sind, verkrustete Strukturen und überkommene Traditionen. auch wenn wir bislang nur wenige sind. Ihr Stoff sind gesellschaftliche Themen – auch Tabus. In Ihrem Film „Baghdad in my shadow“ Fragen Leonard Proske, Redakteur greifen Sie Tabuthemen auf: Homosexu- alität, Frauenrechte, religiösen Extremis- mus. Ist die irakische Gesellschaft bereit für diese Öffnung? Es ist immer die richtige Zeit, um über Frei- heit zu sprechen, und es ist immer die rich- tige Zeit, um die Menschen daran zu erin- nern, dass sie es verdienen, respektiert zu werden und ohne Angst leben zu können. Viele Dinge, die heute als schockierend gel- ten, werden morgen normal sein. Ich kann Abdullah Rashid/Reuters ©

© nicht sagen, dass die Menschen hier ins- gesamt offener werden, denn sie leben in Angst nach all ihren Erfahrungen. Aber ich kann versichern, dass die junge Generation nicht mehr nach überkommenen Traditi- onen leben will. Wir wollen das Leben, das wir selbst wählen, nicht das Leben, das man für uns ausgewählt hat.

Zahraa Ghandour

Jahrgang 1991, ist irakische Schauspie- lerin und Produzentin von Dokumenta- tionen zu Gesellschaftsthemen. 2017 schaffte sie den Durchbruch als Dar- stellerin in „The Journey“, einem Film des Regisseurs Mohammed Al-Dara- Welche Probleme beschäftigen die ira- Säkularismus ist in meinen Augen dringend dji. Zuletzt spielte sie die Hauptrolle in kische Jugend am meisten? notwendig für ein besseres Irak. Die Reli­ „Baghdad in my shadow“ unter der Re- Wir jungen Menschen haben so viele Pro- gion von der Politik zu trennen und zugleich gie von Samir. Aktuell arbeitet sie an ei- bleme, aber ich denke, es sind vor allem die als persönliche Angelegenheit zu bewahren ner Dokumentation über die irakische Korruption, die Stammesmentalität und ist ein Muss. Ich wünsche mir, dass diese Frauenrechtsaktivis­tin Hanaa Edwar. ein schwaches Bewusstsein für die persön- Trennung per Gesetz geschieht, bis die Men- lichen Rechte. Das sind die Hauptgründe, die schen verinnerlichen, dass sie andere nicht uns in die schlechte Situation geführt haben, nach ihrem Glauben beurteilen dürfen. mit der wir jeden Tag konfrontiert werden. Es gibt korrupte Machthaber, die ein Interes- Sehen Sie es als Aufgabe der Jugend, den se daran haben, neue unfreie Generationen Irakern international Gehör zu verschaffen zu schaffen, um ihre eigenen Positionen zu und dies vor allem über Soziale Medien? schützen. Darüber hinaus beschäftigen sie Ja, es ist Aufgabe der Jugend, dafür zu sor- die Jugend mit überflüssigen Dingen und gen, dass man überall auf der Welt ver- einem sinnentleerten Umgang mit Technik. steht, wie wir wirklich sind. Dass wir nicht picture alliance/H. Kaiser/dpa so sind, wie Diktatoren und korrupte Poli- © © Wäre die Trennung von Staat und Religion tiker uns haben erscheinen lassen. Soziale ein Weg zu einer politischen Wende? Medien sind das stärkste Instrument, um

16 Weltzeit 4 | 2019 „Online-Partizipation Adrian Lovett

ist CEO und Präsident der seit 2008 ist entscheidend“ bestehenden World Wide Web Foun- dation. Ziel der gemeinnützigen Orga- nisation ist es, Menschen den Zugang Seit zwei Jahren steht Adrian Lovett an der Spitze der zum Internet zu ermöglichen und World Wide Web Foundation. Die Stiftung macht sich Freiheit und Sicherheit im Netz sicher- zustellen. Die Stiftung arbeitet mit Re- stark für den freien Zugang zum Internet, für die freie gierungen, Unternehmen und Vertre- ­Meinungsäußerung und die Sicherheit im Netz. tern der Zivilgesellschaft zusammen. Sie führt Studien durch und steuert Fragen Vera Tellmann, Redakteurin internationale Projekte. Das jüngste Projekt ist der Contract of Web, in dem sich Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zur Einhaltung bestimmter Prinzipien für ein offenes Junge Menschen nutzen das Internet werden sich bestehende Ungleichheiten zu- und freies Internet verpflichten. besonders intensiv, sind am stärksten ver- nächst eher verschärfen. netzt. Was können gerade sie dafür tun, damit das Internet den größtmöglichen Universeller Zugang zum Internet ist noch Nutzen für die Gesellschaft hat? Vision. Was sind die Gründe und was muss Um sicherzustellen, dass das Internet den sich ändern? Menschen Vorteile bringt, braucht die Ju- Der Hauptgrund für die enorme Ungleichheit gend eine starke Stimme in der Debatte über beim Internetzugang sind die Kosten. In Afri- dessen Zukunft. Regierungen sind für Ge- ka müssen die Menschen im Schnitt sieben setze und Vorschriften verantwortlich, Un- Prozent ihres Monatseinkommens für ein Gi- ternehmen spielen eine große Rolle bei der gabyte an mobilen Daten ausgeben. Zudem Entwicklung der Technologien, die wir alle müssen wir eine weitaus größere Vielfalt an verwenden. Ihre Entscheidungen müssen Online-Inhalten fördern. Beispielsweise sind World Wide Web Foundation Web Wide World sich jedoch an den Bedürfnissen der breiten nur fünf Prozent der Weltbevölkerung eng- © Bevölkerung orientieren. Deswegen müssen lische Muttersprachler, ­trotzdem sind derzeit © wir die Sorgen, Energien und Fähigkeiten der Menschen bündeln und eine globale Bewe- gung zum Schutz des Internets aufbauen. Wir haben gesehen, wie erfolgreich öffentlicher Druck sein kann: In den USA blockierten Aktivisten zwei Gesetzesvor- schläge, die die freie Meinungsäußerung im Netz hätten behindern können. In Benin und Ungarn haben Proteste erreicht, dass geplante Internetsteuern zurückgenom- men wurden. Junge Menschen haben den größten Anteil an der Zukunft des Inter- Belinda Lawley/SouthbankBelinda Centre ©

nets. Sie werden in dieser Bewegung füh- © rend sein, so wie sie es heute in der Umwelt- bewegung sind.

Ist das Internet tatsächlich so vielfältig, wie wir annehmen? Es ist der vielfältigste Raum, den die Welt je erlebt hat. Es gibt jedoch große digitale Gräben, die es zu überbrücken gilt. Fast 50 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen Zugang, Frauen sind unverhältnismäßig oft betroffen. In Industrieländern nutzen über 80 Prozent der Menschen das Internet, in Entwicklungsländern weniger als 20 Pro- zent. Das Netz hat das Potenzial, eine große Jugend braucht eine starke Stimme in der ausgleichende Kraft zu sein, aber auf dem Debatte über die Zukunft des Internets Weg, diese Missverhältnisse zu beheben,

Deutsche Welle 17 TITELTHEMA

Jeder Mensch muss Zugriff auf Belinda Lawley/SouthbankBelinda Centre das Internet © © ­erhalten – frei von Gewalt, Angst und Einschüchterung.

50 Prozent der Webseiten nur auf Englisch Ungleichheiten im Digitalen sind vor allem müssen sicherstellen, dass die Rechte der verfügbar. Plattformen und Tools müssen begründet durch Ungleichheiten in Bildung Frauen auch im Netz geschützt werden. Jeder so konzipiert werden, dass sie mehrere Spra- und Einkommen. Geht es um Unterschiede Mensch muss Zugriff auf das Internet erhal- chen unterstützen und dass die Menschen aufgrund des Geschlechts, deuten Untersu- ten – frei von Gewalt, Angst und Einschüch- mit der Technologie, der Konnektivität und chungen darauf hin, dass patriarchalische Ge- terung. Online-Partizipation ist entscheidend den Fähigkeiten ausgestattet werden, die sie sellschaftsstrukturen ein weiterer wichtiger für die freie Meinungsäußerung und das für die Erstellung von Inhalten benötigen. Faktor sind. Unter Gewalt und Beläs­tigung im ­öffentliche­Engagement. Netz leiden Frauen in allen Ländern, auch in Ihre Stiftung hat ermittelt, dass Nutze- den USA, Großbritannien und Deutschland. webfoundation.org rinnen in der Minderheit sind und Frauen Auch hier werden Journalistinnen, Aktivis­ auch seltener online ihre Stimme erheben. tinnen und Politikerinnen häufig Opfer von Gilt dies weltweit? Bedrohungen und ­Angriffen. Regierungen

Im digitalen ­Heuhaufen Böll DW/P. © © Kira Schacht (23), Freie Journalistin im DW-Data-Team, ist eines der jungen Talente im Jour- nalismus 2019: Das Medium Magazin wählte sie in die Top 30 bis 30. Der Ritterschlag.

Die Datenjournalistin folgt der Einsicht: „Ein Datenvisualisierung … bringt die Erkennt- Schlagwort ist noch kein Thema. Ein Thema nis aus dem Heuhaufen zum Publikum. ist eine Frage oder eine These.“ Dann mal Künstliche Intelligenz … ist wie eine Mikro- los. Wir liefern das Schlagwort, das Top-­ welle: in der Theorie toll, in der Praxis so lala. Talent ergänzt die These. Und die Wenigsten verstehen, was darin passiert. Datenjournalismus … liefert faktenbasierte Programmieren … ist aus Faulheit zu emp- Perspektiven zu emotionalen Debatten – fehlen. Lieber einmal fünf Stunden in den und erzählt Geschichten, die sonst im Dun- Code investieren, als fünf Tage in Copy-­und- keln blieben. Paste-Arbeit. Seit Juni 2017 unterstützt das Datenjourna- Datenrecherche … sollte fest zum Hand- Datenschutz … ist eine der wichtigsten ge- lismus-Team die DW-Redaktionen. Gianna werkszeug aller Journalistinnen und Journa- sellschaftlichen Herausforderungen unserer Grün, Eva Lopez, Kira Schacht und Tom Wills listen gehören. Zeit. helfen bei Recherchen und bei der Einord- Excel-Tabellen … sind die besten Freunde Meine Daten … sind diese: vier Jahre Daten- nung größerer Datensätze.­ und ärgsten Feinde jeder Datenjournalistin. journalismus in Dortmund studiert, wäh- Open Data … ist essenziell für eine freie In- renddessen mit sechs Freunden das Unter- dw.com/daten formationsgesellschaft. nehmen Journocode gegründet, ein Jahr mediummagazin.de – #top30mm Datenanalyse … heißt, Erkenntnis im digi- beim rbb volontiert, 2018 zur Deutschen talen Heuhaufen finden. Welle gewechselt. Datenauswertung … ist wie ein Interview, Daten in Arbeit … sind natürlich top-secret. nur mit Zahlen.

18 Weltzeit 4 | 2019 picture alliance/NurPhoto © ©

Auf der Suche nach internationalen Ver- bündeten: Joshua Wong im September 2019 vor der Bundespresse­konferenz Schirm-Herr

Schon als Teenager war Joshua Wong in Hongkong politisch aktiv. Schirme sollten vor Pfefferspray schützen und wurden 2014 zum Symbol der Umbrella Movement für ein allge- meines Wahlrecht. Erklärtes Ziel des 23-jährigen Politikstu- denten heute: die Unabhängigkeit Hongkongs von China. Joshua Wong Fragen Leonard Proske, Redakteur ist das Gesicht der Proteste in Hong- kong, wo seit Juni wöchentlich bis zu einer Million überwiegend junge Menschen demonstrieren – für De- Wie schaffen Sie es, junge Menschen die Menschen in Hongkong nicht das Ge- mokratie und gegen den Einfluss der dazu zu bewegen, über einen langen Zeit- fühl haben, alleine dazustehen. Wir haben chinesischen Regierung auf die Son- raum für ihre Rechte zu demonstrieren? festgestellt, dass traditionelle Medien von derverwaltungszone. Wong ist Ge- Es sind nicht die politischen Aktivisten, die Pro-Peking-Kräften zensiert und kontrolliert neralsekretär der Partei Demosistō. die Menschen auf die Straße bringen. Es ist werden. Deswegen stecken wir mehr Arbeit Nachdem die Hongkonger Regierung die kompromisslose Politik von Chinas Präsi- in die Sozialen Medien. Anfang September ein geplantes Ge- dent Xi Jinping und die Art, wie Regierungs- setz, das den Gefangenenaustausch chefin Carrie Lam die Freiheit der Menschen Lassen Sie sich von ähnlichen Bewegungen zwischen Hongkong und der chi- in Hongkong immer weiter beschneidet. in anderen Teilen der Welt inspirieren? nesischen Regierung vereinfachen Wir vergleichen Hongkong mit Berlin in den sollte, zurückgezogen hat, fordern die Welche Rolle spielen Soziale Medien, um Zeiten des Kalten Kriegs und des Mauer- Demonstranten weiterhin ein allge- internationale Aufmerksamkeit auf Ihre falls. Es geht vor allen Dingen darum, dass meines Wahlrecht sowie eine unab- Bewegung zu lenken? autoritäre Gesetze und Regeln nicht bedeu- hängige Untersuchung der Polizeige- Hongkong wird als internationale Stadt ten, dass man aufhören muss zu kämpfen. walt und die Freilassung verhafteter verstanden. Deswegen müssen wir nach Deswegen werden wir weiter für unser Ziel, Demonstranten. internationalen Verbündeten suchen, damit freie Wahlen, kämpfen.

Deutsche Welle 19 Ein zweischneidiges Schwert

Seit drei Jahren arbeitet Chheng Niem als Journalist bei der Tageszeitung The Phnom Penh Post in Kambodschas Hauptstadt. Tätigkeiten in zivilgesellschaftlichen Organisa- tionen gingen dem voraus. Und der erfolgreiche Abschluss des Masterstudiums International Media Studies bei der DW Akademie in Bonn.

Text Chandara Sor, Projektkoordinator der DW Akademie in ­Kambodscha privat © ©

Das Masterstudium in Deutschland habe bestimmen weiterhin seine persönlichen Chheng Niem ihm vor allem und die Möglichkeiten Schwerpunkte: Menschenrechte und Justiz. geboten, mehr über die Medienlandschaft Als Reporter der National News Section bei schloss im Herbst 2013 das Master- in zahlreichen Ländern zu erfahren, auch in der Phnom Penh Post gehören natürlich studium International Media Studies seiner Heimat. Das Studium liegt inzwischen auch Themen aus anderen Politikfeldern der DW Akademie ab und kehrte in sechs Jahre zurück. Heute stellt Niem fest: In sowie aus Wirtschaft und Kultur zu seinem sein Heimatland Kambodscha zurück. Kambodscha gab es in den vergangenen Jah- Tagesgeschäft. Dort begann er zunächst als Kommu- ren einen Rückschritt in Sachen Pressefrei- Während des zweijährigen Masterstu- nikationsexperte bei einer NGO, die heit. „Einige regierungskritische Titel muss- diums in Deutschlands habe ihm beson- im Rahmen der geschichtlichen Aufar- ten schließen. Bei anderen wurden führende ders gefallen, wie die öffentlich-rechtlichen beitung tätig war – ein Projekt des von Köpfe ausgewechselt. TV und Radio sind tra- Sender die Entwicklung eines Ereignisses der UNO unterstützten „Khmer Rouge ditionell eher regierungsfreundlich – hier hat verfolgten oder Debatten um Gesetzesinitia­ Tribunals“. 2015 war er als Koordinator sich wenig bewegt.“ tiven bis zur Verabschiedung. „Meine Favo- für Bürgerjournalisten beim Cambo- Manche Lücken schließen nach seiner riten im Radio waren Deutschlandfunk und dian Center for Independent Media Überzeugung inzwischen die Sozialen Medi- WDR 5, im Fernsehen ARD und ZDF – und hier (CCIM) tätig. Ein Jahr später wechselte en. „Wenn es beispielsweise um Korruption Diskussionsformate zu aktuellen Themen. So er als Journalist zur Tageszeitung The und Unterschlagung geht, wie im Fall einiger etwas würde ich gern auch in Kambodscha ­Phnom Penh Post. Regierungsangehöriger, spielen Social-Me- sehen“, so Niem. dia-Kanäle eine positive Rolle. Sie zielen je- doch zumeist auf einzelne Politiker aus der zweiten und dritten Reihe ab“, so Chheng Niem. „Und Falschmeldungen im Netz sind auch in Kambodscha ein wichtiges Thema.“ Vibol Mam ©

Für die junge Generation seien die Sozi- © alen Medien „ein zweischneidiges Schwert“. Die Jugend verbringe einerseits viel Zeit mit Unterhaltungsangeboten – „zu viel“, wie der junge Journalist meint, und zu wenig mit Bil- dungsangeboten. Das sei allerdings ein glo- baler Trend. Andererseits hätten sie durch- aus die Vorzüge von Social Media erkannt. Junge Leute nutzen „Mainstream-Medien kaum noch linear, sondern eher via Face­ book live“. Und auch wenn Unterhaltung oben auf der Agenda stehe: „Die Jugend in Kambodscha interessiert sich durchaus für Politik, für Umweltthemen und Soziale Pro- bleme“, meint Niem. Die Erfahrung aus der Tätigkeit für eine NGO im Rahmen der Aufarbeitung der Medienkompetenz vermitteln: Workshop der DW Akademie in Kambodscha Schreckensherrschaft der Roten Khmer

20 Weltzeit 4 | 2019 Aus der Höhle der Löwen

Der Weg zum Volontariat bei der DW ist steinig und hart. Es fühlt sich an wie die ­geballte ­Synthese aus Dschungelcamp, ­Germany’s Next Topmodel und Deutschland sucht den ­Superstar. Meint Killian Bayer. Er muss es wissen.

Das vierstufige Auswahlverfahren be- ginnt mit einer schriftlichen Bewerbung. Die Zukunft im Blick: die neuen DW-Volos … Anschließend hat man 14 Tage Zeit, mit viel DW/P. Böll DW/P. Herzblut und ein wenig Grips, viel Schweiß © und bittersüßen Tränen eine Arbeitsprobe © zu schmieden, die ihresgleichen sucht. Dann muss man rein in die Höhle der Löwen zur Endauswahl. Zwölf aus 40 – in drei inten- siven Tagen. „Kennenlernen“ nennt das Aus- bildungsleiter Ramón Garcia Ziemsen. Mit viel Talent und ein wenig Glück be- kommt man sie am Schluss – die Eintritts- karte ins DW-Volontariat. Das Ticket für die nächsten 18 Monate gelöst haben Anna Carthaus, Beatrice Fiechtner Christofaro, Monir Ghaedi, Emily Gordine, Nehal Johri, Tatiana Kondratenko, Jennifer Pahlke, Delali Sakpa, Grzegorz Szymanowski, Serdar Var- dar, Olivera Zivkovic – und der Autor dieser Zeilen. Menschen aus unterschiedlichen Kul- turkreisen und Ländern, Abenteurer und Weltenbummler. Darunter ein Filmemacher und ein G-20-Gipfel-erprobter Simultanü- bersetzer, eine quereinsteigende Neurowis- senschaftlerin und eine Ärztin. Im Dutzend sprechen wir Bengali, Deutsch, Englisch, Französisch, Hindi, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Serbisch, Spanisch und Türkisch. Seminarblöcke mit versierten Trainern, Umgang mit Radio, Fernsehen, Print und Online. Die Tage sind lang, das Feedback DWE. SenftlebenDWE. ist knallhart. Die Stimmung ist harmo- © … und die IMS-Studierenden mit Prof. Schmidt (2. v. r.) nisch, wir lachen viel. Im Wechsel geht es in © DW-Redaktionen in Bonn und Berlin, auch für zwei Monate in eines der Außenstudios – Moskau, Brüssel, Washington, Nairobi, Vielfalt an Erfahrung Taipeh, Bogotá. Das Highlight. Zwei der neuen Volos verpassten übri- In der DW Akademie hat Mitte September der elfte Jahrgang der International Media gens den Auftakt. Ihr Visum-Antrag hing in ­Studies (IMS) das Mas­terstudium aufgenommen. Neu-Delhi respektive Sarajewo fest. Auch das gehört zu den Erfahrungen als DW-­ Prof. Christoph Schmidt, Leiter der Aka- Die DW Akademie bietet das Masterstu- Volontär. demischen Ausbildung, zeigte sich bei der dium zusammen mit der Hochschule Bonn- Begrüßung der 30 Studierenden in Bonn Rhein-Sieg und der Universität Bonn an. Es dw.com/volontariat „beeindruckt von der Expertise, die hier im ist bilingual (deutsch/englisch) ausgerichtet Raum versammelt ist“. Die jungen Leute und umfasst die Themengebiete Medien- bringen Erfahrungen aus dem Journalismus und Entwicklungszusammenarbeit, Jour- Schiedsrichter gesucht und der PR-Branche mit, haben als Medien- nalismus, Kommunikationswissenschaften Für das Volontariat suchen wir neugierige, wissenschaftler oder Datenjournalistinnen und Medienwirtschaft. weltoffene und kritisch denkende junge gearbeitet oder waren für Nichtregierungs- Menschen mit Sprachtalent, journalistischer organisationen tätig. Vielfalt dokumentiert dw.com/masterstudiengang Erfahrung und Studium. Oder Quereinstei- auch die Herkunft – unter anderem kommen ger – ob Mathematiker, Krankenpfleger, die IMS-Studierenden aus Georgien, Kenia, Koch, Pilot oder Schiedsrichter. Die nächste Kolumbien und Mexiko, aus den Palästinen- Bewerbungsphase startet im Spätherbst. sischen Gebieten und Pakistan.

Deutsche Welle 21 Die Stimme als Instrument­

Auf ihren Reisen um die Welt lernt die A-cappella-Band Just 6 aus Südafrika unterschiedliche Kulturen, soziale Bedingungen und politische Systeme kennen. Die sechs jungen Musiker schätzen diese Erlebnisse als persönliche Bereicherung, erzählen die Bandmitglieder Nkosie Hospas und Rashaka Mbevhana. Im September gastierte Just 6 im Rahmen des Campus-Projekts von DW und Beethovenfest in Bonn.

Text Vera Tellmann, Redakteurin DW/P. Böll DW/P. © ©

2011 gründete Rashaka Mbevhana mit Freunden die Band. Er- ihren Heimatländern, und das Bundesjugendorchester lieferte den fahrungen sammelten alle in Kirchenchören, keiner am Konserva- Rahmen dazu. torium oder an der Universität. „Musik bedeutet für uns Liebe und Trotz unterschiedlicher Tradition und Ausbildung funktionierte Gemeinschaft“, beschreibt Mbevhana die Hauptmotivation. Zwei das Zusammenspiel der beiden Gesangsensembles von Beginn an. der Sänger stammen aus Simbabwe, einer aus Eswatini (ehemals Die Lieder Südafrikas spiegeln die Geschichte des Kolonialismus und Swasiland) und drei aus Südafrika. Vor vier Jahren entschieden sie der Apartheid wider. Das Campus-Projekt griff diese Impulse auf sich, als Just 6 eine Profikarriere zu starten. Seither sind sie die meis­ und verwob sie mit europäischer Gesangskultur. te Zeit des Jahres auf Reisen. Am Anfang sang das Ensemble afrikanische Lieder, heute reicht „Birth of Change“ und ein Jubiläum das Repertoire von Klassik über Jazz bis zu Volksliedern – auch deut- schen, wie sie in Bonn bewiesen. Parallel wuchs die Fangemeinde, 2019 vergab die DW ihren Kompositionsauftrag an den 29-jäh- heute ist die Eigenbezeichnung „South Africa’s Number 1 Band With rigen Tshepo Tsotetsi. Der Südafrikaner schrieb das Werk „Birth No Instruments“ keine Übertreibung mehr. of ­Change“, das in Bonn uraufgeführt wurde. Tsotetsi ist Gründer Just 6 begeistern nicht nur mit Virtuosität und Showtalent, son- und künstlerischer Leiter des Miagi New Skool Orchestra, dem afri- dern auch mit Weltoffenheit. Auf ihren internationalen Tourneen kanische Musiker und Komponisten der Bereiche Jazz und Klassik sammelten sie Erfahrungen mit Populismus, Propaganda und Xeno- angehören. Sie machen die ethnische Vielfalt und das Lebensgefühl phobie, die ihnen „die Augen geöffnet“ hätten. Die jungen Männer des Kontinents hörbar. zeigen sich überzeugt, dass Musik Menschen jeden Alters und un- terschiedlicher Herkunft zu einem respektvollen Umgang animieren kann. Die Stimme sei hierbei „das ausdrucksstärkste Instrument“, sa- Musik bedeutet für uns gen die Sänger nicht ohne Stolz. Sie verstehen ihre Rolle als Vermitt- ler. „Wir bringen die Menschen zusammen, aber jeder ist anders, und Liebe und Gemeinschaft. genau darin liegt doch das Besondere“, so Nkosie Hospas. Selbstverständlich gebe es auch andere Themen, die junge Men- Das Campus-Projekt ist ein Workshop- und Konzertformat, das schen weltweit verbinden, so die beiden Sänger im Gespräch. Für junge Musiker aus aller Welt nach Bonn holt zu einem Dialog mit jun- Hospas ist es die Popmusik, für Mbevhana der Sport, genauer ge- gen deutschen Künstlern und mit Beethovens Werk. Im nächsten sagt Fußball. Das Idol des Südafrikaners ist ein Deutscher: Michael Jahr feiert es 20-jähriges Bestehen. Junge Künstler aus aller Welt ka- Ballack. men in den zwei Jahrzehnten in die Beethovenstadt am Rhein – bei- spielsweise aus Mexiko, China, der Ukraine, Indien und der Mongolei. Lebensgefühl und Gesangskultur im Dialog 2020 wird es noch bunter.

Ein Konzert, so bunt und vielfältig wie das Leben im multikulturellen dw.com/beethovenfest Südafrika – so bewarb das Programmheft des Beethovenfests das Campus-Projekt 2019. Just 6 und die deutsche A-capella-Band ­Sjaella präsentierten die Ergebnisse gemeinsamer Workshops in

22 Weltzeit 4 | 2019 Campus-Konzert im World Conference Center in Bonn: Just 6 und Sjaella

„Macht den Mund auf!“

Wer dazu in der Türkei aufruft, steht mit einem Bein im Gefängnis. 18 türkische Rapper haben es dennoch getan und mit ihrem ­15-Minuten-Song #Susamam viele Millionen Klicks erzielt. Ein Exklusiv-Interview der DW mit einigen der Künstler sorgte für weiteren Wirbel.

Der türkische Musiker Saniser hat das vor. Dazu wollten die Rapper nicht länger hätten auch sie nicht gesprochen, bekennt aufwendige Projekt initiiert. #Susamam schweigen. „Es geht uns um Recht und Ge- der Musiker. „Aber wir hoffen, dass wir es (Ich kann nicht schweigen) ist eine mutige rechtigkeit. Wir versuchen, die Menschen zu eines Tages können. Sonst wird das Klima Aktion, denn das Musik-Video greift scho- ermutigen. Unsere Botschaften beinhalten immer schlimmer.“ nungslos politische und gesellschaftliche keine Gewalt“, sagte Ados. Es gehe um Auf- Steffen Heinze, Redakteur Missstände in der Türkei auf: die Zerstörung richtigkeit und um Haltung, ergänzt Rapper der Umwelt, Vetternwirtschaft und Polizei- Asil Slang im DW-Interview. Über viele Dinge youtu.be/L5K3IxINr7A gewalt, kaum ein aktuelles Problem bleibt unerwähnt. Die Musiker, die ein „Zeichen gegen Un- gerechtigkeit“ setzen wollten, trafen den

Nerv der türkischen Bevölkerung. Nur weni- XandreLeo © ge Stunden nach der Veröffentlichung wur- © de das Video mehr als 18 Millionen Mal auf Youtube geklickt. „Es gibt nichts, wovor wir Angst haben müssen. Was auch immer passieren mag“, sagt einer der beteiligten Rapper im Inter- view der DW. „Wir sprechen über Probleme, die das ganze Land betreffen.“ Viele Men- schen in der Türkei hätten Angst, sich kritisch und offen zu äußern. „Es scheint, dass wir et- was tun müssen, um diese Angst zu überwin- den“, machte der Rapper Ados deutlich. #Susamam setzt ein Zeichen gegen Repression. Ein mutiger Schritt, denn die Regierung unter Präsident Erdogan geht „Es geht uns um Recht und Gerechtigkeit“: Saniser mit harter Hand gegen kritische Bürger

Deutsche Welle 23 MEDIEN ENTWICKELN Radio Sónica © ©

auf ihren Bildschirm. Sie schneidet ein Video, Hoffnung aus dem das später auf Facebook zu sehen sein wird. Denn Sónica ist mehr als nur ein Radiosen- der: Die Inhalte werden auch für Soziale Me- dien konzipiert und produziert. Auf bunten Weltraum-Studio Karten an der Wand hat die Redaktion einige Themen vermerkt: Häusliche Gewalt, Dro- gen, Teenager-Schwangerschaften – drän- gende Probleme vieler junger Menschen in In Guatemala-Stadt macht Radio Sónica Programm für Guatemala. ­Jugendliche aus Problemvierteln. Mithilfe eines mobilen Alejandra wuchs wie viele aus ihrer Hö- rerschaft in einem der Armenviertel der ­Studios gehen sie in ihren Stadtteilen selbst auf Sendung. Stadt auf. Meist sind solche Siedlungen Ein Projekt mit Unterstützung der DW Akademie. mit dicht aneinander gedrängten Beton- stein-Häusern illegal unter Brücken oder Text Johannes Metzler, DW Akademie an Hängen errichtet. Bei starken Regenfäl- len können ganze Stadtteile abrutschen. Es fehlt nicht nur an Arbeit, sondern auch Alejandra steigt aus einem der roten Schule. Ihre Eltern sagten, dass dafür kein an Hoffnung. Pandillas haben das Sagen – Stadtbusse, die an einem Kreisel mitten im Geld da sei und sie ja ohnehin bald schwan- Jugendbanden, die mit Schutzgelderpres- Wohngebiet halten. Während der Bus da- ger werde. Alejandra musste zu Hause blei- sung, Drogen und Auftragsmorden ihr Geld vonfährt und eine dicke schwarze Dieselwol- ben und ihrer Mutter im Haushalt helfen. verdienen. Alejandra war 13 Jahre alt, als sie ke in die Luft bläst, geht Alejandra in ihrer Heute sitzt sie an einem Laptop im Re- begann, mit einer solchen Gruppe durch die Schuluniform bis zu einem mehrstöckigen daktionsraum. Ein langer Tisch, in der Ecke Straßen zu ziehen. „Ich war wütend, weil Block am Ende der Straße. Hier ist das Gua­ bunte Sitzsäcke. Hier bereitet das Team das meine Eltern mich nicht mehr zur Schule temaltekische Institut für Radiobildung Programm vor. Neben Alejandra sitzt Mike, lassen wollten. Es fühlte sich damals an wie (IGER), zu dem auch Radio Sónica gehört. Anfang 20. Er lehnt sich entspannt zurück meine zweite Familie.“ „Ich kann es immer noch kaum fassen“, sagt – seine Sendung ist bereits vorbei. Mike ist Nicht Alejandras Geschichte an sich ist die 21-Jährige, „morgens gehe ich wieder derzeit einziger Mann am Mikrofon, alle an- ungewöhnlich, sondern dass sie ihre Ge- zur Schule, nachmittags bin ich Radiomode- deren Sendestrecken werden von jungen schichte in der Sprache der Jugendlichen ratorin.“ Frauen moderiert. im Radio erzählen kann. Sónica ist der ein- Der Sender hat Alejandra ihre Zukunft Das ist keine Selbstverständlichkeit in zige Sender, der sich in Guatemala-Stadt zurückgegeben. „Ich war immer neugierig. Mittel­amerika, wo auch in den Medien oft an benachteiligte Jugendliche richtet und Lernen macht mir Spaß“, sagt sie. Trotzdem Männer das Sagen haben. Gegenüber blickt sie systematisch ins Programm einbezieht. war für sie mit 13 Jahren Schluss mit der Community-Managerin Sara konzentriert Es sind junge Leute, für die anderswo kein

24 Weltzeit 4 | 2019 Radio Sónica © © Radio Sónica

ist seit 2015 auf Sendung und hat al- lein durch Schulbesuche in den Jahren 2017 und 2018 über 2.500 Jugendliche erreicht. Betrieben wird der Sender vom Guatemaltekischen Institut für Radiobildung (IGER). Dieses bietet seit über 40 Jahren Fernbildung für Men- schen an, die vom regulären Schul- system nicht erreicht werden. Die DW Akademie und ihre Partner sind Pioniere für Media and Information Literacy (MIL) in Mittelamerika. Autor Johannes Metzler hat mehrere Jahre für die DW Akademie in Guatemala gearbeitet und viele Ideen zu Radio Mobil und agil: junge Stimmen für junge Hörer Sónica beigetragen.

Platz ist: weder in ihren Stadtteilen, wo die durch. „Das war hart. Ich musste von mor- sind gefährlich. Deswegen gibt es das „Welt- Banden herrschen, noch in den schwer be- gens bis abends arbeiten und bekam fast raum-Studio“: eine bunte Box, die mitten wachten Einkaufszentren, in denen sie vom nichts dafür“, sagt sie. auf Schulhöfen „landet“. Das mobile Studio Wachpersonal weggeschickt werden. In den Guatemala ist kein Land, in dem die ist ein Mittel, um die Jugendlichen mit ihren Medien tauchen sie vor allem als Kriminelle Kinder nachmittags zum Klavierunterricht Themen live ins Radio zu bringen. Das Team auf. Wer arm ist, wird ausgeblendet – das oder zu Radio Sónica fahren, um Programm hat auch Spiele entworfen, mit denen junge gilt auch für die Medien. Die kommerziellen zu machen. Straßen und öffentliche Plätze Leute lernen, welche Gefahren im Internet Sender haben wohlhabendere Zielgruppen, nur sie sind für Werbekunden interessant. Schicksale wie das von Alejandra sind für Wer selbstbewusst seine Stimme die nationalen Medien kein Thema. Mit 16 Jahren brach sie schließlich mit ihren Eltern, ­erheben kann, braucht weder Drogen ging von zu Hause weg und schlug sich un- ter anderem als Verkäuferin auf dem Markt noch Waffen.

lauern. Und wie sie etwa in ihren Sozialen Netzen Fakten und Falschmeldungen aus- einanderhalten können. Dies ist ein Beitrag gegen die ausufernde Gewalt: Denn wer DW/ J. Metzler

© selbstbewusst seine Stimme erheben kann, © wer sich für seine Anliegen Gehör verschaf- fen kann, der braucht weder Drogen noch Waffen. Alejandra hofft, dass ihre Geschichte an- deren Mut macht. Ihre Eltern haben mittler- weile eingesehen, dass es ein Fehler war, sie nicht weiter zur Schule zu schicken. Sie sind stolz, seitdem sie im Radio zu hören ist. „Hier bei Radio Sónica habe ich von Dingen erfah- ren, von denen ich vorher nie gehört hatte“, sagt sie. „Es ist für mich der Ort, an dem ich aufgeblüht bin.“ Aufgeblüht: Alejandra am Mikrofon dw-akademie.com

Deutsche Welle 25 PERSPEKTIVE WECHSELN

Grenzen brauchen Freiheit

Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Eine nicht nur im Wortsinn in Beton gegossene,­ die Welt teilende Grenze wurde überwun- den. Michel Friedman greift den Anlass auf – mit Gedanken zu Grenzen und Begrenztheit, zu Freiheit und Grenzenlosigkeit.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sie nur und erhält erst durch hinzugefügte schreibt: „Die Grenzen meiner Sprache be- Attribute ihren ausgrenzenden Charakter. deuten die Grenzen meiner Welt“. Dies gilt Grenzen können identitätsstiftend sein oder selbstverständlich auch für mich, der den zerstörerisch. Versuch unternimmt, über Grenzen nach- Für den Menschen ist das Bewusstsein zudenken, obwohl auch mein Denken be- von der zeitlichen Begrenztheit der eigenen grenzt, mein Bewusstsein unzureichend ist, Existenz, die Vorstellung vom Ende – jeden- sodass meine Sprache unweigerlich an ihre falls des Hierseins – eine tiefsitzende Krän- Grenzen stößt. kung. Doch dass Phantasie und Vorstel- Grenzen sind dynamisch und nicht, wie lungskraft neue und andere Welten oder viele es sich erhoffen, statisch. Sie sind in die Unendlichkeit des Universums, also die Bewegung, weil Menschen in Bewegung räumliche Dimension, nur schwer denken sind, weil neues Wissen die Begrenztheit können, bedeutet nicht, dass unsere gedank- des alten Wissens zeigt, es falsch oder ein- lichen Grenzen unüberwindbar sind. Emotio- fach hinfällig sein lässt. Die Erkenntnisse, die nale und kognitive Intelligenz sowie soziale aus dem neuen Wissen entstehen, bilden für Empathie ermöglichen es dem Menschen, einen kurzen Augenblick ein Ausrufezeichen seit es ihn gibt, die eigenen Grenzen zu über- und können alte Grenzen einreißen und winden, um neue Konzepte und Techniken neue ziehen. Aber selbst diejenigen, die die- des Überlebens zu entwickeln. Die Begrenzt- sen Prozess hervorgerufen haben, werden heit des Denkens, so scheint es jedenfalls, ist Filminstallation „Shadow Play“ von sehr schnell wieder als Nicht-Genug-Wis- temporär und öffnet sich neuen Lösungen Javier Téllez sende markiert. und Gedanken – auch wenn das Gefühl ent- Grenzen brauchen Freiheit, ein para- steht, dass dies bisweilen zu langsam und doxes Verhältnis. Die Sehnsucht, Grenzen nicht immer zielführend erfolgt. zu überschreiten: Denkgrenzen, Gefühls- Alle Grenzen, vor allen Dingen physische Wohlstandes und der Privilegien ist eines grenzen, Zeitgrenzen, physische Grenzen, (Grundstücke) oder nationale (Staaten), sind der stärksten Motive, sich abzuschotten und nationale Grenzen, Grenzen im Universum, Konstruktionen. Gleichzeitig stellen sie den nur dort (Schein-)Öffnungen zu ermögli- die Sehnsucht, das „Darüber-Hinaus“ zu er- Versuch dar, aus Menschengruppen Ge- chen, wo es dem eigenen Vorteil dient. Diese fahren, bringt uns auf den Mond, auf den meinschaften zu kreieren, teils mit einer immer noch dominante Denkweise erleben Mars, am liebsten in das ganze Universum. nationalen Identität, und diese Eingrenzung wir gerade (nicht nur) in der Europäischen Gleichzeitig ist der Mensch auf Grenzen, und mit allen Mitteln der Macht und der Gewalt Union in aller Deutlichkeit. Es zeigt sich, dass seien es nur temporäre, angewiesen, sie ge- zu verteidigen. Manchmal, so scheint es, Grenzen verschiedene Grade der Durchläs- ben Orientierung, Halt. Das Gehirn braucht sind die Konstruktionen hilflos. sigkeit aufweisen und diese immer wieder Muster, um arbeiten zu können. Grenzkonstruktionen haben neben die- neu verhandelt werden müssen. Begrenzung muss nicht zwangsläufig ser Machtkomponente immer auch eine Die innere Grenzenlosigkeit der EU ist Begrenztheit bedeuten. Zunächst markiert ökonomische. Die Erhaltung des eigenen in vielen Bereichen relativiert worden. Die DW ©

© Michel Friedman

diskutiert in seiner Sendung Auf ein Wort mit renommierten Gästen über die vielschichtige Bedeutung von Begriffen wie Glück, Angst, Identität und Vernunft. Im Gespräch mit dem Soziologen Thomas Faist geht es um Flucht, mit dem Philo- sophen Heiner Bielefeldt um Menschenrechte. Im Rahmen der neuen Staffel wird Michel Friedman im November auch den Begriff Mauer zum Thema machen. Alle bisherigen Fol- gen sind im Media Center auf dw.com verfügbar.

26 Weltzeit 4 | 2019 Gropius Bau/Galerie Kilchmann/Javier Peter Tellez © ©

Gefängnis liegt in einem selbst, kann aber Man kann die nur gefunden werden, wenn man dieses Ich infrage stellt und dadurch Risse in den in Be- Freiheit des ton gegossenen Wahrheiten zulässt. Durch Mauern Dass Mauern, die errichtet werden, auch Menschen­ wieder eingerissen werden können, ist vor Mit der Ausstellung „Durch Mauern 30 Jahren in Deutschland demonstriert wor- gehen“ gibt der Berliner Gropius Bau ­unterdrücken und den. Hierbei ist bemerkenswert, dass es die zum 30. Jahrestag des Mauerfalls Bürgerinnen und Bürger der deutschen Dik- Denkanstöße. 28 Künstlerinnen und begrenzen,­ den tatur in der DDR waren, die trotz berechtig- Künstler setzen sich mit Mauern – re- ­Freiheitswillen ter Angst vor dem System die entscheidende alen und metaphorischen – und ih- Energie aufgewandt haben, um diese Mauer, ren Folgen für betroffene Menschen aber nie. also diese physische Grenze, zum Einsturz auseinander. Darüber hinaus geht es zu bringen. Alle politisch Verantwortlichen, darum, wie Teilung und Spaltung über- Bereitschaft, dem Menschen an sich – unab- die heute wieder Mauern erbauen, sollten wunden werden können. Die Ausstel- hängig von seiner Hautfarbe, seiner Religi- sich im Klaren sein, dass man die Freiheit lung ist bis 19. Januar 2020 zu sehen. on, seines Geschlechts und seiner Herkunft des Menschen unterdrücken und begrenzen Im Bild die Filminstallation „Shadow – grenzenlos in die Augen zu schauen, statt kann, den Freiheitswillen aber nie – und dass Play“ von Javier Téllez. ihm mit Abwehr und Vorurteilen zu begeg- die Sehnsucht nach einem Stück mehr Gren- nen, erlebt in den liberalen Demokratien ei- zenlosigkeit die treibende Hoffnung unserer nen massiven Rückschlag. Existenz ist. Jedes „Wir“ braucht ein „Ihr“, jede Gren- ze ist nicht nur die Verteidigung vor dem Eindringling von außen, sondern auch ein „Gefängnis“ derjenigen, die sich im Inne- ren befinden. Der Schlüssel zum inneren

Deutsche Welle 27 PERSPEKTIVE WECHSELN Zu dritt statt als Tandem

Ich dachte, zu diesem Thema sei alles gesagt. 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Seit einem Vierteljahrhundert ist die EU für die meisten Europäer ein Zuhause. Klar, es gibt Meinungsverschiedenheiten, Konflikte, den Brexit. Aber von „neuen Mauern“ zu reden schien mir übertrieben.

Text Magdalena Gwozdz-Pallokat, DW-Korrespondentin, Warschau

Ich habe mich getäuscht. Schlagzeilen sie von der EU erwarten und wie sie die Rolle könne uns nichts mehr auseinander­divi­ beim staatlichen Sender TVP in Polen, dem Deutschlands in der Gemeinschaft sehen. dieren. Die Polen fühlten sich zwar nicht medialen Einpeitscher der PiS-Regierung, immer genügend einbezogen, aber doch lassen keine Zweifel: „Deutschland und Aus einer anderen Welt spürte man einen Stolz darauf, dabei zu sein. Frank­reich wollen die EU in einen Super- Die EU-Gelder waren und sind eine enorme staat verwandeln, in dem Berlin und Paris Meine Generation, Anfang der 1980er-Jahre Unterstützung für das Land, und die Rolle dominieren.“ Zwei Staaten gegen den Rest geboren, erinnert sich noch an ein Europa Deutschlands in der EU schien klar: Der west- der EU-Welt also? Ist das nur eine Randmei- der Grenzen. Die Reise mit dem Auto von liche Nachbar war, allen Verwicklungen und nung oder spiegelt sie wider, was viele Po- meiner Heimatstadt in Oberschlesien nach schrecklichen Geschichtserfahrungen zum len denken? Berlin zog sich – wenn der Zoll das Auto Trotz, eine Art Garant für den Zusammenhalt. Umfragen zeigen, dass die Polen EU-Ent- durchwühlte – bis zu zehn Stunden hin, heu- Für ihn habe sich daran nicht viel ver- husiasten sind. Bis zu 91 Prozent bejahen te sind es fünf. In Berlin angekommen, sah ändert, sagt Aleksander Kwaśniewski, Po- demnach die Union. Doch wie passt das zu- ich in meinen unten zu breiten Jeans irgend- lens Ex-Präsident, der das Land in EU und sammen mit der in der Sache oft EU-skep- wie anders aus als die Kinder in Zehlendorf. NATO führte. Im Gespräch mit der DW be- tischen Haltung, die vor allem im Ausland re- Ich war ein Unikum für sie, so interessant, tont er, Deutschlands Rolle sollte bei der gistriert wird? Oft werde ich von deutschen dass sie alle meine Hand halten wollten. europäischen Integration führend blei- Kollegen gebeten, ihnen das zu erklären. Sie 2004 trat Polen der EU bei. Es rückten ben. Ein Gegenpol zu PiS-Politikern, die die wollen wissen, was los ist mit den Polen, was zwei Welten zusammen. Man glaubte, fortan Rolle Deutschlands als zu dominant sehen.

28 Weltzeit 4 | 2019 Deutschland wird Schlichter. Deutschland und Polen streiten über Nord Stream – Frankreich findet einen Kompromiss. Viel wird debattiert über „Werte“, die „Europa“ zugrunde liegen – aber in jedem Land auf andere Weise. Wieso schaffen wir nicht zunächst im Rahmen des Weimarer Dreiecks Klarheit über gemeinsame Nenner, Adobe Stock/David Hughes

© statt weiter um das zu kreisen, was trennt? © Sprachbarrieren sind noch immer hinderlich. Dreisprachige Schulen wären ein Ansatz. Denkbar wäre auch die Bündelung un- terschiedlicher diplomatischer Traditionen. Denn, wie in der Wochenzeitung Die Zeit zu lesen war: „Es ist Europas große Stärke, dass es diplomatisch mit mehreren Stim- men sprechen kann. Deutschland pflegt ei- nen guten Draht nach Teheran, Frankreich nach Riad. Wenn sie diese Kanäle parallel und abgestimmt nutzen, ist ihr Einfluss um ein Vielfaches größer als allein.“ Auch Polen kann hier etwas beisteuern, hat traditionell etwa einen starken Draht zu den Palästi- nensern, auch besondere Beziehungen mit Israel. Selbst mit Trump ergeben sich über Wir brauchen ein Dreierformat, Warschau womöglich neue Optionen. das bilaterale Streitfragen schlichtet

Alte Ideen – neue Mauern Außenpolitisch neue Optionen privat ©

Kritik gibt es seitens der Regierung auch Was also tun, um die „neuen Mauern“ in Eu- © am Tandem Deutschland-Frankreich. War- ropa wieder einzureißen? Ich erfahre immer schau sieht sich abgehängt und versucht deutlicher, wie viel Halbwissen, Unwissen Gegengewichte zu etablieren – setzt auf und auch gern geglaubte Lügen übereinan- die Visegrad-Gruppe, die Kooperation mit der kursieren. Tschechien, der Slowakei und Ungarn, oder International präsente Medien wie auf das Intermarium-Forum, ein Bündnis die DW leisten hier schon viel Aufklä- der Staaten, die zwischen Russland und rungsarbeit. Wieso schaffen wir keinen Deutschland liegen, eine Idee, die aus der deutsch-französisch-polnischen Rundfunk, Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten eine Art Arte+? Dieser könnte eine gemein- Weltkrieg stammt. Insgesamt wünsche sich same Öffentlichkeit schaffen und – wenn es Polen derzeit etwas weniger statt mehr Eu- sein muss – unterschiedliche Standpunkte ropa, sagt Andrzej Kaluza vom Deutschen gegenüberstellen. Magdalena Gwozdz-Pallokat

Viel Halbwissen, Unwissen und auch berichtet als Freie Journalistin für die DW aus Warschau. Sie studierte Germa- gern geglaubte Lügen kursieren. nistik, Publizistik und Medienforschung in Breslau und Zürich und war Stipen- Polen-Institut. In Warschau sei man der Warum schaffen wir angesichts vieler diatin der Robert-Bosch-Stiftung, des Meinung, mehr Europa würde die Menschen bilateraler Streitfragen nicht ein Dreier­ Goethe-Instituts und der Marion-Dön- überfordern, Europa wirke nicht nur abstrakt format, das den Ausgleich vermittelt: hoff-Stiftung. Von 2009 bis 2016 arbei- und bürokratisch, sondern auch im Auftritt mit der jeweils unbeteiligten Seite als tete sie als Moderatorin und Reporterin oft rechthaberisch gegenüber denen, die an- Schlichter? Beispiele: Polen und Frankreich beim polnischen staatlichen Sender TVP. derer Meinung seien als „West-Eliten“. streiten über die Dienstleistungsfreiheit –

Deutsche Welle 29 PERSPEKTIVE WECHSELN

„Vaterland“ von Günther Schäfer an der East Side Gallery in Berlin: ein „Friedenssymbol und Mahnmal gegen jeglichen Fanatismus“ – in 25 Jahren 50 Mal von Schmierereien befreit picture Zinken alliance/dpa/Paul © ©

DEUTSCHLANDBILD Nein, ich habe keine Angst

Sie stammt aus der Ukraine, ist in Israel aufgewachsen und mus, die theokratischen Gesetze. Noch er- lebt heute in München. In ihrem Gastbeitrag für die Weltzeit schreckender finde ich, wie dieser Wissens- mangel sich in der Antisemitismus-Debatte erklärt Alexandra Belopolsky, warum sie sich als Ausländerin in Deutschland widerspiegelt. Vor allem in nicht vor Fahnen und Heimatliebe fürchtet. der gesellschaftlichen Unfähigkeit, zu Recht geäußerte scharfe Kritik an der Besatzung und an der israelischen Politik zu ertragen, Ob ich Angst hätte, fragen mich gerne hat das in Deutschland noch nie jemand ab- ohne sie als Antisemitismus abzustempeln. biodeutsche Freunde, Kollegen und fremde wertend kommentiert. Wenn ich Angst vor etwas in dieser Hinsicht Menschen, die meinen Akzent oder meine Ich habe keine Angst davor, zu erzäh- habe, dann davor, dass in Deutschland Kri- Herkunft mitbekommen. Nach dem antise- len, dass ich eine israelische Staatsbürger- tik an der israelischen Besatzung genauso mitischen Anschlag in Halle steht diese Fra- schaft habe. Kein einziges Mal habe ich je in mundtot gemacht wird wie in Israel. ge überall im Raum. Ich muss jedoch alle, die Deutschland aufgrund dessen Ablehnung Ich habe keine Angst vor deutschen Fah- eine Bejahung erwarten, enttäuschen. erlebt, geschweige denn etwas Schlim- nen. Ich finde es völlig normal, das Land, in Ich habe keine Angst davor, auf die Stra- meres. Im Gegenteil: was mich nervt ist, wie dem man geboren wurde, und die Kultur, ße zu gehen. Ich habe keine Angst vorm Ein- Menschen, die höchstens eine Woche am Tel mit der man aufgewachsen ist, zu lieben. So kaufen, weder in der Münchner Bäckerei, Aviver Strand verbracht haben, sofort mir wie man eben die eigene Familie, in der man wo die Verkäuferin mir mit einem rollenden gegenüber von dem Land schwärmen. Ich aufgewachsen ist, liebt. Wie in der Familie „Grüß Gott“ begegnet, noch sonstwo. Ich finde es immer wieder erschreckend, wie kann diese Liebe allerdings enden, wenn es habe keine Angst davor, eine andere Spra- wenig diese Israel-Liebhaber über die poli- Missbrauch gibt. Patrioten von Ländern, die che in der Öffentlichkeit zu sprechen (ich tische und gesellschaftliche Realität in Israel ihre Bürger missbrauchen, sind in der Regel habe vier zur Auswahl) – anders als in Israel, wissen. Über den Rassismus, den Nationalis- diejenigen, die mir Angst machen. Deutsch-

30 Weltzeit 4 | 2019 Man muss die demokratischen Werte tagtäglich leben. land hingegen ist ein freies Land, und ich die Polizei zu beschimpfen, gingen wir nach glaube fest daran, dass die Deutschen den Hause und haben uns Kaffee gemacht. Ausdruck der Landesliebe nicht den Nazis Ein einziges Mal hatte ich wirklich eine Impressum überlassen dürfen. solche Angst, dass ich über Auswanderung Ich habe keine Angst vor dem Wort Hei- nachgedacht habe. Das war kurz nachdem Deutsche Welle mat. Ich suche meine, seit ich sechs Jahre alt mutmaßlich ein Neonazi den Kasseler Re- Unternehmenskommunikation war, und ich beneide zutiefst alle, die eine gierungspräsidenten Walter Lübcke vor sei- 53110 Bonn haben. Wer einen solchen Schwebezustand nem Haus erschossen hatte. Ich war an der T 0228.429-2041 nationaler Zugehörigkeit nie persönlich er- Grundschule, als Itzhak Rabin erschossen [email protected] lebt hat, sollte anderen nicht Heimatlosig- wurde. Ich weiß, was die Ermordung von Po- dw.com/presse keit wünschen. Er hat keine Ahnung, wovon litikern in einem Land anrichten kann. er redet. Doch die Angst war nur ein Reflex. Sie flickr.com/photos/deutschewelle Ich habe keine Angst vor Rechtsradi- blieb nicht lange hängen. Das System in Isra- issuu.com/deutsche-welle kalen. Das einzige Mal, dass mir welche im el war von Anfang an mangelhaft. Die Demo- facebook.com/dw.deutschewelle Alltag begegnet sind, war vor einigen Jah- kratie ist in der Bundesrepublik hingegen twitter.com/deutschewelle ren, als durch unser Stadtviertel seit ihrer Gründung so stark und stabil wie marschierte. Wir sind zur überwältigend kaum irgendwo auf der Welt. Im Demokra- VERANTWORTLICH größeren Gegendemonstration gegangen. tieindex 2018 der Zeitschrift The Econoimist Christoph Jumpelt Es hat geregnet. Die Pegidisten gingen ihre steht Deutschland auf dem 13. Platz von Route. Wir standen mit warmen Jacken und lediglich 20 Ländern, die eine vollständige REDAKTION Regenschirmen am Straßenrand, neben Demokratie genießen. Diese Demokratie ist Berthold Stevens einem sehr netten Polizisten, der immer von einer etwa 15-prozentigen Minderheit nasser und müder wurde. Er tat mir leid. nicht so leicht zu zerstören. GESTALTUNG Als irgendwelche Linksradikale anfingen, Das heißt jedoch nicht, dass sie unzer- Lisa Jansari störbar ist. Dafür muss man sich bemühen. Demokratie ist, wie man es weltweit sehr BILDNACHWEIS privat

© anschaulich sieht, nicht selbstverständlich. Titel: © Getty Images/hadynyah © Die Ausschreitungen in Chemnitz, die wie- derholte Zerstörung des Gedenkorts an ein DRUCK NSU-Opfer in Zwickau, der Anschlag in Halle BRANDT GmbH, Bonn – der Hass auf Andersstämmige, -gläubige und -denkende wird aktiv, weil er das falsche Das Papier für diese Weltzeit wurde aus Gefühl hat, gesellschaftliche Legitimierung Holz erstellt, das aus verantwortungs- zu haben. Die Demokraten im Land müssen voller, nachhaltiger, europäischer Wald- ständig wachsam sein und aufpassen – nicht wirtschaft stammt. Es wird auf Dünge- zuletzt auf sich selbst und die eigenen Re- mittel und Pestizide­ verzichtet und der flexe. Dies gilt sowohl für Konservative, die Bestand wird wieder aufgeforstet. sich über jede Abschiebung unabhängig von den Umständen freuen, als auch für Libe- WERBUNG IM PROGRAMM Alexandra Belopolsky rale, die gegen bestimmte Zeitungen und T 0228.429-2731 Journalisten hetzen. Es reicht nicht zu sagen, [email protected] wurde in Charkiw, Ukraine, geboren, dass man gegen Antidemokraten sei – man lebte 20 Jahre in Tel Aviv und ist heu- muss die demokratischen Werte auch selbst te Freie Journalistin in München. Sie tagtäglich leben. hat das Masterstudium International Angst sollte allerdings niemand haben. Media Studies der DW Akademie­ ab- Auch nicht Menschen, deren ausländische geschlossen, ist Alumna des Medien­ Wurzeln auf den ersten Blick offensichtlicher vielfalt-Programms der Heinrich-­ sind als meine. Auch nicht Gläubige, die in Böll-­Stiftung und des „Trialog der die Synagoge oder die Moschee gehen. Ich Kulturen“-Austauschprogramms der finde, Angst ist überwiegend nutzlos, wenn Herbert-Quandt-Stiftung. Ihre Texte es gesellschaftliche oder politische Debat- sind unter anderem in Süddeutsche ten betrifft. Nein, ich habe keine Angst. Aber Zeitung, Stuttgarter Zeitung, Berliner ich kann wütend werden. Das, finde ich, ist Tagesspiegel, Frankfurter Allgemeine viel hilfreicher. Zeitung und Zeit Online erschienen.

Deutsche Welle 31 WELT ANSCHAUEN DW/F. Facsar © ©

Wo die Seelen verkümmern

Nur sehr wenige Berichterstatter konnten in den vergangenen und um die Interimshauptstadt Aden – ein Monaten aus dem Jemen berichten. Journalistinnen und Jour- Spiegel der komplexen politischen Situation. Einige wurden von Regierungstruppen be- nalisten erhielten praktisch keinen Zugang. Auch die Leiterin ziehungsweise dem, was davon noch übrig des DW-Büros in Lagos, Nigeria, hatte kaum noch mit einem ist, kontrolliert. Andere von Kräften, die auf Seiten der Vereinigten Arabischen Emirate Visum gerechnet. Eine Reportage aus einem vielschichtigen, stehen – als Teil der von Saudi-Arabien an- zerrissenen – und vergessenen Land. geführten Koalition zur Wiedereinsetzung der international anerkannten Regierung Text Fanny Facsar, DW-Korrespondentin von Präsident Hadi, im Exil in Riad. Wieder andere Kontrollpunkte waren in der Hand von Separatisten der STC, die von einem ei- Es war im Juli, als ich einen Anruf aus Yemenia besteigen durften. Ich habe die genen Staat im Süden des Jemen träumen. Aden erhielt: „Sie haben ein Einreisevisum lange Reise vom DW-Studio in Lagos, Nige- Auch in Aden operieren militante Islamisten, für den Jemen.“ Ich reagierte zunächst un- ria, über Kairo und Amman nach Aden allein von denen man nicht weiß, wann sie wieder gläubig. Nahezu ein Jahr war vergangen, seit gemacht – ohne Team, ohne TV-Ausrüstung. zuschlagen werden. ich zum ersten Mal versucht hatte, in den Je- Wir nennen es „Travel Low Key“. Vor Ort konn- men zu gelangen. Bei mehreren Botschaften te ich dennoch direkt loslegen und filmen, Eine Verborgene erhält Zugang­ in Europa musste ich anfragen, um alle nöti- denn seit zehn Monaten bereits stand ich in gen Papiere zusammen zu bekommen. Wird regelmäßigem Kontakt mit einem lokalen In diesem Chaos wechselnder Allianzen ist es dieses Mal tatsächlich klappen? Oder wird Team. Ich hatte das Gefühl, mir bekannte, ja die Berichterstattung gefährlich, zumal für man mich am Flughafen in Amman zurück- vertraute Leute zu treffen. Ausländer. Nicht nur, weil ich eine Frau im schicken, wie so viele Journalisten vor mir? Doch die überall herrschende Unsicher- konservativen Jemen war, war es notwen- Die – obwohl sie die richtigen Papiere hat- heit und Anspannung war sofort spürbar. dig, mich unter einem Schleier zu verber- ten – keine Maschine der Fluggesellschaft Wir passierten diverse Kontrollpunkte in gen. Während der Drehtage hatte ich den

32 Weltzeit 4 | 2019 Das Jemen der Neuankömmlinge ­Eindruck, als würde ich eine Blackbox öff- nen. Natürlich hatte es in den Monaten vor dem Stockholmer Abkommen im Dezember vergangenen Jahres, das zu einer Art Waf- fenstillstand führte, häufig Bilder von Hun- gersnöten und Kämpfen gegeben. Doch kam die Berichterstattung aus dem Jemen so gut wie zum Erliegen, nachdem praktisch niemand mehr aus dem Land selbst an In- formationen kommen konnte. Ich interessierte mich für das tägliche Leben der Menschen. Für die Kinder, die hungern, und für die Frage, warum nicht genug Hilfsgüter ins Land kommen. Auch für die 26-jährige Fatima, die kürzlich ihr Me- dizinstudium beendet und nun Schwierig- keiten hat, ihren Job zu machen. Denn sie ist nicht auf den emotionalen Stress in einem Krankenhaus vorbereitet. Hier bekommt eine Reporterin eher Zugang. Gerade in ei- ner konservativen Gesellschaft wie der je- menitischen öffnen sich einer Frau die Türen eher, wenn es um bestimmte Geschichten geht. Das galt auch bei Recherchen für mei- ne Reportagen aus Saudi-Arabien im ver- gangenen Jahr. DW/F. Facsar © Es gibt viele Jemen ©

Meine Reise führte mich in alle divergie- renden Ausprägungen des Landes, das sich Weg nach Saudi-Arabien – Menschen, die Nur wenige Tage, nachdem ich Aden ver- „Jemen“ nennt. In der Tat gibt es viele Jemen: nur sehr wenig wussten über den andau- lassen habe, gibt es ein Selbstmordatten- das Jemen, in dem sich die Menschen noch ernden Krieg im Jemen. tat auf eine Polizeistation in der Nähe des immer leisten können, in einen Supermarkt Ich habe auch Jemeniten getroffen, die Krankenhauses, in dem wir gefilmt haben. zu gehen; das Jemen derer, die in den Stra- trotz allen Elends kulturelles Leben erhal- Ja, es ist ein schwer zugänglicher Ort, voller ßen schreien, dass sie nur zwei Portionen ten und fördern wollen, die von Kinos und Risiken, sobald man ankommt. Und doch ist Fisch für eine siebenköpfige Familie kaufen Theatern träumen. Es treibt sie um, dass die der Jemen es wert, erneut hierher zu kom- können. Und das Jemen der Neuankömm- Menschen nicht nur sterben, weil Lebens- men. Um über die Menschen zu berichten, linge, der afrikanischen Migranten, die zu mittel fehlen, sondern zugleich ihre Seelen die unter einer Politik leiden, die andere zu Hunderten die Wüste durchqueren auf dem verkümmern ohne Kultur. verantworten haben. Menschen, für die sich

DW Hier öffnen sich © © einer Frau die Türen eher, wenn es um bestimmte Geschichten geht.

anscheinend niemand mehr interessiert, seit sich die Aufmerksamkeit verschoben hat hin etwa zum Konflikt am Golf, zwischen Iran und den USA. Während der „vergessene Krieg“ im Jemen fortdauert.

Träumen von Kinos und Theatern

Deutsche Welle 33 WELT ANSCHAUEN

Umweltthemen stehen ganz oben auf der Agenda: Sannuta Raghu

34 Weltzeit 4 | 2019 Höchste Zeit für Eco India

„In Indien fragen dich die Leute nach dem Sinn deiner Existenz, wenn du nicht Ärztin oder Ingenieur wirst.“ Sannuta Raghu ist dennoch Journalistin geworden. Seit einem Jahr moderiert sie das Umweltmagazin Eco India, eine Koproduktion von DW und dem indischen Partner Scroll.in.

Text Katja Somasundaram, Eco-India-Team, und Joanna Gottschalk, Redakteurin

Journalistin wollte Sannuta Raghu schon Aber als die Anfrage von Scroll.in kam, dort des Klimawandels aufmerksam machen, in der siebten Klasse werden. Ihre Eltern das Video-Team aufzubauen, ergriff sie die sondern den Menschen auch konstruktive – beide Wissenschaftler – hatten einen an- Chance, selbst gestalten und eigene Vorstel- Lösungen aufzeigen und Möglichkeiten, sich deren Weg für ihre Tochter vorgesehen und lungen umsetzen zu können. zu engagieren. versuchten, sie für Naturwissenschaften zu Als sie 2016 für die Position Head of Für das gemeinsame Umweltmagazin begeistern. Wissensdurst und Neugierde Video engagiert wurde, war Scroll.in nicht bringt die DW Ressourcen und Know-how weckten die Eltern durch eine Vielzahl an Bü- mehr als Text auf einer Webseite. Die ein, um Themen umfänglich zu recherchie- chern zu wissenschaftlichen Themen. Darin Nachrichtenplattform war 2014 von zwei ren und Geschichten filmisch ansprechend wurden Fragen und Probleme aufgeworfen, Journalisten gegründet worden, um unab- zu erzählen. Gemeinsam erreichen die Part- die weitere Recherchen erforderten. Die hängig und ausgewogen über Indien zu ner viel mehr Menschen, die Sendung wird Faszination war bei der Schülerin entfacht. berichten. Das war der wesentliche Unter- über Scroll.in von verschiedenen Video-­on- Allerdings nicht für die Wissenschaft, son- schied zu anderen indischen Medien und Demand-Plattformen übernommen und dern für den Journalismus. damit auch der Anreiz für Raghu. „Es gibt soll demnächst auch auf indischen Fernseh­ kanälen laufen. Im Juni hatte Sannuta Raghu Gelegenheit, die DW-Redaktion in Wir können die Auswirkungen auf Berlin kennenzulernen. Dort werden die Geschichten geplant und recherchiert und die Umwelt nicht mehr ignorieren. die Sendung zusammenstellt. Die Zusammenarbeit während eines ge- Die heutige Eco-India-Moderatorin weiß viele ­Organisationen, die sich als Informa- meinsamen Drehs erlebte die Moderatorin noch, wie sich ab Ende der 1990er-Jahre mit tionsanbieter bezeichnen, in Wahrheit aber als nahezu familiär. „Obwohl wir normaler- dem Erscheinen von Star News, Indiens ers­ einseitige Meinungsmache betreiben.“ Als weise viele tausend Kilometer voneinander tem 24-Stunden-Nachrichtensender, ein Video-Chefin setzte sie auf einen Mix aus entfernt sind und unsere Arbeitsbedin- gesellschaftlicher Wandel in der Einstellung Bewegtbild und Grafikelementen, um Nut- gungen so unterschiedlich sind, hat es sich gegenüber journalistischer Arbeit vollzog. zer und Follower von Scroll.in sowohl zu in- angefühlt, als würde ich mit meinem Team „Obwohl es zu der Zeit schon viele exzel- formieren als auch zu unterhalten. in Mumbai arbeiten“, erinnert sich Raghu. Es lente Journalistinnen gab, waren es letztlich „Es war höchste Zeit für ein Magazin wie sei wichtig, sich auf Gemeinsamkeiten, nicht die Rund-um-die-Uhr-News, die Frauen im Eco India“, ist die Moderatorin überzeugt. auf Unterschiede zu fokussieren. Journalismus auch in unserem Wohnzimmer Sie zweifelte nicht daran, dass die Inhalte bei Seit September dieses Jahres wird Eco ins Gespräch brachten.“ den Zuschauern ankommen würden. Aus- India auch auf Hindi produziert. Das wird die Nach dem Journalismusstudium war sie wirkungen des Klimawandels sind in Indien Reichweite des Magazins noch einmal erheb- als Reporterin und Redakteurin unter ande- sehr präsent. Überschwemmungen, Dürren, lich ausweiten, eine Hindi-Ausgabe wird vie- rem beim indischen CNN-Ableger CNN-IBN verschmutzte Flüsse sind nur einige der Um- len weiteren Menschen den Zugang zu Um- tätig. Im Laufe der Jahre empfand sie das weltprobleme, die die Menschen zu spüren weltthemen ermöglichen. Nach Vorstellung Fernsehen als Aneinanderreihung von Ge- bekommen. Gleichzeitig steht Umweltschutz von Sannuta Raghu sollten weitere Sprach- sprächsfetzten. „Es wurde viel geredet, aber oft im Konflikt mit wirtschaftlichen Interes- fassungen folgen – „definitiv auf Tamil und kein Kontext vermittelt“, so Sannuta Raghu. sen. Raghu betont, dass in Indien dem Drang Bengali, denn auch das sind wichtige, weit Dies war auch einer der Gründe, weshalb nach Wirtschaftswachstum mit entspre- verbreitete Sprachen in Indien und darüber sie ihrem Traumberuf fast den Rücken ge- chenden Umweltlösungen begegnet werden hinaus“. kehrt hätte. „Ich war überzeugt, dass Fern- müsse. „Wir können die Auswirkungen auf sehnachrichten nicht mehr das waren, was die Umwelt nicht mehr ignorieren“, sagt sie. dw.com/ecoindia ich machen wollte.“ Sie bewarb sich beim In Eco India möchte die Moderatorin deshalb Umweltprogramm der Vereinten Nationen. nicht nur auf die ­großen Herausforderungen

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