Neue Wege gehen: Schwarz-Grün in Hessen
Erwartungen – Erfahrungen – Ergebnisse Volker Kronenberg
www.kas.de Neue Wege gehen: Schwarz-Grün in Hessen
Erwartungen – Erfahrungen – Ergebnisse
Volker Kronenberg Impressum
Herausgeberin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 2018, Sankt Augustin/Berlin
Umschlagfoto: © istock/ ollo Gestaltung und Satz: yellow too Pasiek Horntrich GbR Die Printausgabe wurde bei der Druckerei Kern GmbH, Bexbach, klimaneutral produziert und auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. Printed in Germany. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland.
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ISBN 978-3-95721-455-3 Inhalt
1. Einleitung 4
2. Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen in Bund, Ländern und Kommunen 10
3. Der Weg zur Bildung einer schwarz-grünen Koalition in Hessen 24
3.1 Der Wahlkampf 2013: Personen und Positionen 25 3.2 Das Wahlergebnis: Erneut „hessische Verhältnisse“ 29 3.3 Die Regierungsbildung: Wie Schwarz und Grün zueinander fanden 32 3.4 Zwischenfazit 38
4. Schwarz-grünes Regieren in Hessen anhand ausgewählter Politikfelder 42
4.1 Die Infrastruktur- und Umweltpolitik 43 4.2 Die Haushalts- und Finanzpolitik 51 4.3 Bildungspolitik 61 4.4 Innere Sicherheit 66 4.5 Exkurs: Die Flüchtlingsherausforderung 69
5. Fazit 82
Quellenverzeichnis 90
Literaturverzeichnis 96
Der Autor 111
3 Einleitung 1. Einleitung
Seit vielen Jahren, fast schon Jahrzehnten, wird aus der Kernenergie. Sowohl die im Saarland von das Modell einer Kooperation zwischen der Union 2009 bis 2012 amtierende schwarz-grün-gelbe aus CDU und CSU mit Bündnis 90/Die Grünen in „Jamaika“-Koalition als auch die in Hamburg von der deutschen Öffentlichkeit immer wieder dis- 2008 bis 2010 regierende, erste schwarz-grüne kutiert und publizistisch vor allem in den größe- Koalition auf Länderebene wurden vorzeitig auf- ren Tages- und Wochenzeitungen aufgegriffen.1 gekündigt. In Baden-Württemberg wurde 2016 Obwohl in den Augen mancher Beobachter und die erste grün-schwarze Koalition unter Minister- Kommentatoren Schwarz-Grün bis heute etwas präsident Kretschmann vereidigt. Weitere Bei- Exotisches anhaftet, sind schwarz-grüne bzw. spiele finden sich auf der kommunalen Ebene. So grün-schwarze Kooperationen vor allem im kom- halten sich beispielsweise in den Kommunen und munalen Bereich, aber auch auf Länderebene Kreisen des bevölkerungsreichsten deutschen bereits politische Realität: zunächst in Hamburg, Bundeslands Nordrhein-Westfalen schwarz-grüne zeitweilig im Saarland, ergänzt um die FDP, seit und rot-grüne Bündnisse seit Jahren zahlen- 2013 in Hessen, seit 2016 unter grün-schwarzen mäßig die Waage; zeitweilig überwogen gar die Vorzeichen in Baden-Württemberg sowie seit schwarz-grünen Kooperationen. Es sei daran erin- 2017 als „Jamaika“-Koalition in Schleswig-Holstein. nert, dass im nordrhein-westfälischen Mülheim Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass an der Ruhr 1994 die bundesweit erste schwarz- Schwarz-Grün, wenngleich nicht mehr in dem grüne Zusammenarbeit in einer Großstadt das Maße „exotisch“ wie in vergangenen Jahrzehnten, Licht der Welt erblickte. meist noch als Koalitionsoption „zweiter“ oder sogar „dritter Wahl“ gehandelt wird. Von einer Politische und kulturelle Annäherungen Wunschkoalition sprechen heute weder Union Die einstmals nahezu unvorstellbare Zusammen- noch Grüne – aus unterschiedlichen, sei es aus arbeit von Union und Grünen ist somit heute mit- inhaltlichen, arithmetischen oder strategisch-tak- nichten nur ein Thema des politischen Feuilletons tischen Gründen. oder des akademischen Elfenbeinturms. Schwarz- Grün ist in vielerlei Hinsicht eine gesellschaftliche Trotz vielfacher Annäherungen und erfolgreicher und politische Selbstverständlichkeit geworden, Zusammenarbeit in Kommunen und Ländern ist eine Koalition, die Strategen der verschiedenen Schwarz-Grün weiterhin eine besondere partei- Parteien ebenso bewegt wie deren Mitglieder und politische Konstellation. Geht es hierbei doch um Wähler. Ein Thema, das nicht nur auf koalitions- zwei Farben, die nach wie vor spezifische Milieus politische, machtstrategische Aspekte in Kommu- sowie gesellschaftliche und kulturelle Trends nen, Ländern oder dem Bund reduziert werden repräsentieren und die tatsächlich über lange kann, sondern das politische, gesellschaftliche Zeit als kaum miteinander kompatibel, wenn und kulturelle Wandlungsprozesse über nunmehr nicht gar als einander diametral entgegengesetzt drei Jahrzehnte hinweg spiegelt. erschienen: „Schwarz-Grün war bis zum Anfang der 1990er Jahre eine Konstellation, die dem poli- Als sich die grüne Öko-, Friedens- und Anti-Atom- tischen Beobachter eine ähnlich große Vorstel- bewegung als Bundespartei im Januar 1980 lungskraft abverlangte wie die Idee eines grünen gründete, bestand kaum ein Zweifel daran, dass Ministerpräsidenten.“2 diese „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly, Grüne) in ihrem Selbstverständnis und ihren Zielen einen Doch die Zeiten haben sich geändert. Sowohl auf- fundamentalen Gegenentwurf zur Union von links seiten der Grünen als auch der CDU sind seit eini- darstellen sollte: „Trotz aller wertkonservativen gen Jahren Zeichen der Annäherung zu erkennen: Beiklänge des Großthemas Ökologie und trotz Im Sommer 2011 lobte der baden-württembergi- aller Einflüsse von Aktivisten im grünen Grün- sche Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) die dungsprozess, die nicht der Tradition der neuen Kanzlerin einer CDU-geführten Großen Koalition Linken zuzurechnen waren,“ so blickt Hubert für den Beschluss zum unumkehrbaren Ausstieg Kleinert auf die grünen Anfänge zurück, „haben
5 1. Einleitung
sich die Grünen von Anfang an eindeutig als scheinen heute, nach Fukushima und Energie- Linkspartei verstanden. Eine Linkspartei neuen wende, endgültig ausgeräumt. In Fragen der Stils freilich, deren Entstehung in erster Linie aus Integrations- und Zuwanderungspolitik hat man dem gesellschaftlichen Konfliktfeld zu verstehen sich, jenseits semantischer Nachhutgefechte um ist, das die Werteforschung als Konflikt von mate- Multikulti und/oder Leitkultur, pragmatisch weiter rialistischen und postmaterialistischen Haltungen aufeinander zu bewegt. Viele Beobachter hatten beschrieben hat.“3 Kein Wunder: Die wechselsei- dies noch vor wenigen Jahren nicht erwartet. tigen Vorbehalte von Union und Grünen waren groß, die Rhetorik, mit der sie sich begegneten, Rückwirkungen auf die politische eher derb denn nuanciert. Entsprechend laute- Kultur der Republik ten auch Urteile aus der Union, etwa seitens des Wenn also im Verhältnis von Grün und Schwarz damaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler, ein erheblicher Wandel, begleitet von jenem in der 1984 von „totalitären Elementen“ in grünen den zugehörigen wählersoziologischen Milieus, zu Inhalten sprach. Inhaltlich, rhetorisch und habitu- beobachten ist – der Göttinger Parteienforscher ell schienen Grüne und Union Welten zu trennen, Franz Walter attestierte Schwarz-Grün unter wäh- auch wenn ein genauerer Blick auf die milieu- lersoziologischen Gesichtspunkten vor einigen spezifische Zusammensetzung der grünen Basis Jahren die Gefahr einer „riskanten Überbürger- oder auf einzelne Gründungspersönlichkeiten der lichkeit“4 – dann stellt sich zwangsläufig die Frage Partei, wie zum Beispiel Herbert Gruhl, ein etwas nach dem künftigen Weg: Bewegen sich Schwarz anderes Bild hätte zeigen können. Doch milieu- und Grün, wählersoziologisch wie programma- spezifische Schnittmengen zwischen Schwarz und tisch-strategisch immer weiter aufeinander zu Grün interessierten von Anfang an weniger als oder – trotz allen Wandels – doch nicht? Konkret: die auffallenden Unterschiede und Gegensätze in Werden Bündnisse von Union und Grünen auch Programmatik und in großen Teilen des Perso- jenseits der kommunalen Ebene immer mehr nals. Berührungspunkte gab es ganz offensicht- zu einer Selbstverständlichkeit? Schleifen sich lich kaum. Wo sie dennoch vorhanden waren, einstige programmatische Gegensätze immer wurden sie willentlich und zum Teil kaschiert: weiter ab, oder werden auch in Zukunft Schwarz „Schwarz-Weiß“ dominierte das wechselseitige und Grün den klaren Gegensatz von rechts und Verhältnis von Schwarz und Grün. Differenzierte links markieren, ja womöglich markieren müssen, Stimmen bildeten auf lange Zeit die großen Aus- um den Identitätskern und die Bindungskraft für nahmen in beiden Parteien – aber auch darüber die Mitglieder und die eigene Wählerschaft nicht hinaus. zu gefährden? Doch, so die naheliegende Gegen- frage: (Was) gelten die tradierten Koordinaten von Die simple Farbenlehre einer klaren Trennung rechts und links im politisch-kulturellen Milieu zwischen Schwarz(-Gelb) und Rot(-Grün), die auf der „Berliner Republik“ noch? Sind die ersten Bundesebene die berühmt-berüchtigte Bonner „Laboratorien“ schwarz-grüner Kooperationen „Pizza-Connection“ junger Nachwuchspolitiker auf Landesebene ein Zeichen weiterer Annähe- von Union und Grünen Mitte der 1990er Jahre rung? Oder lassen sie mit ihren Schwierigkeiten, infrage zu stellen begann, ist heute in immer ihren Unwägbarkeiten und ihrem Potenzial zum weniger Bereichen festzustellen und spiegelt Scheitern nur die Seifenblase einer erhofften sich auch in der Vielzahl heutiger Koalitions- Etablierung von Schwarz-Grün in der Reihe deut- varianten auf der Ebene der 16 Bundesländer: scher Koalitionsoptionen zerplatzen?5 Schon diese Denn ebenso, wie sich die gesellschaftlichen und exemplarisch formulierten Fragen indizieren, wie kulturellen Milieus zum Teil erheblich gewandelt interessant eine Beschäftigung mit Schwarz-Grün haben, haben sich personelle Prägungen und in Hessen, rückblickend auf mehr als vier Jahre Inhalte in den Parteien CDU, CSU und Grüne ver- funktionierendes Koalieren, ist. ändert. Einstige neuralgische Konfliktpunkte – wie etwa die Frage des Umgangs mit der Kernenergie –
6 1. Einleitung
Der hessische „Fall“ nen am Beispiel des Landes Hessen untersucht Seit Januar 20146 wird Hessen unter der Führung und die zukünftigen Perspektiven von Koopera- von Ministerpräsident Volker Bouffier von einer tionen dieser Art beleuchtet, werden folgende schwarz-grünen Koalition regiert. Zur Landtags- Leitfragen rückblickend und perspektivisch wahl in Hessen im Herbst 2018 wird sie – ein fokussiert: vorzeitiger Bruch scheint wenige Monate vor der Wahl äußerst unwahrscheinlich – die erste Koali- 1. Welche Erfahrungen gibt es grundsätzlich tion dieser Art auf Landesebene in der Bundesre- mit schwarz-grünen Koalitionen und publik Deutschland sein, die eine volle Legislatur- Kooperationen auf Ebene der Länder sowie periode im Amt war. im kommunalen Bereich?
2. Welche historischen und systemischen Der Mannheimer Morgen konstatiert Ende 2017 Grundlagen und regionalen Besonder- im Sinne einer vorgezogenen Regierungsbilanz, heiten fand die schwarz-grüne Zusammen- Schwarz und Grün arbeiten absolut harmonisch arbeit in Hessen vor? und vertrauensvoll zusammen. Alle Vorhersagen, das Bündnis würde keine fünf Jahre halten, haben 3. Aufgrund welcher Entwicklungen und sich als gegenstandslos erwiesen.7 Tatsächlich Zusammenhänge kam es zur Bildung der sind die oben genannten Beispiele für Koalitions- schwarz-grünen Koalition in Wiesbaden? projekte mit der Beteiligung von Christdemokra- ten und Grünen auf Landesebene sämtlich ent- 4. Wie stellt sich die Regierungsbilanz weder vor Ablauf der regulären Legislaturperiode des Wiesbadener Bündnisses dar? Was gescheitert oder, wie im Falle von Baden-Würt- wurde in den jeweiligen Politikfeldern temberg und Schleswig-Holstein, noch keine volle erreicht, und wo besteht nach wie vor Legislaturperiode im Amt. Dies ist also Anlass Handlungsbedarf? genug, das schwarz-grüne Bündnis in Hessen 5. Welche Faktoren garantierten den Bestand einer Bilanz zu unterziehen. Die Wiesbadener und das weitestgehend geräuschlose Koalition ist darüber hinaus die erste dieser Art, Agieren der schwarz-grünen Koalition in die in einem industriepolitisch komplexen, stark Wiesbaden? dienstleistungsgeprägten westdeutschen Flächen- land regiert. Hinzu kommt der Umstand, dass 6. Welche Perspektiven lassen sich anhand gerade Hessen stets für relativ stark polarisierte des Beispiels Hessen – dem bekanntlich parteipolitische Auseinandersetzungen entlang „größte[n] Koalitionslabor“ 8 der Bundes- klar definierter Lagergrenzen bekannt war, was republik – für die schwarz-grüne Zusammen- die eingehendere Analyse besonders reizvoll arbeit in weiteren Ländern bzw. im Bund erscheinen lässt. In die vorliegende Studie wur- formulieren? den dabei alle politischen Entwicklungen integ- riert, die sich bis zum Jahresende 2017 ereignet Forschungsstand haben. Sie trägt damit zwar noch die Züge einer Zur allgemeinen theoretischen und methodischen Zwischenbilanz, es steht jedoch nicht zu erwarten, Einordnung wurden verschiedene Standardwerke dass die in ihr aufgestellten Befunde, Deutungen der allgemeinen Koalitionstheorie9 verwendet, die und Interpretationen bis zum Ende der Legis- durch weitere Literatur zur partei- und koalitions- laturperiode noch einmal umfassend korrigiert politischen Entwicklung der Bundesrepublik10 werden müssten. ergänzt wurden. Die Literaturlage zum spezi- fischen Thema schwarz-grüne Koalitionen ist im Erkenntnisinteresse Rahmen der allgemeinen Koalitionsforschung in und Forschungsfragen Deutschland nicht so üppig, wie man im ersten Indem die vorliegende Studie neben einer inhalt- Moment vielleicht meinen könnte. Neben frü- lichen Bilanz des Regierungshandelns auch die hen Pionierstudien von Gerhard Hirscher et al. Rahmenbedingungen für schwarz-grüne Koalitio- von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung11 und
7 1. Einleitung
Jürgen Hoffmann von der CDU-nahen Konrad- schaftliche Bearbeitung der ersten schwarz- Adenauer-Stiftung12 ist die 2008 publizierte Mono- grünen Koalition in einem industriepolitischen grafie von Katharina Ober13 zu nennen, die sich Schlüsselland stellt noch ein Forschungsdesiderat mit den Erfahrungen schwarz-grüner Kommunal- dar, das die vorliegende Studie schließen möchte. bündnisse in Nordrhein-Westfalen beschäftigt. Alle diese frühen Studien der 1990er und 2000er Dazu wurden u.a. Quellen wie der Koalitionsver- Jahre fokussieren mangels Erfahrungen auf trag, parlamentarische Debatten, Dokumente der Länder- und Bundesebene in erster Linie den Landesregierung aus den verschiedenen Ministe- kommunalpolitischen Kontext. rien, Pressemitteilungen etc. ausgewertet sowie auf die regionale und überregionale mediale Die ersten schwarz-grünen Kooperationsmodelle Berichterstattung zurückgegriffen. Flankiert auf Länderebene sorgten schließlich, beginnend wurde diese Quellen- und Literaturauswertung mit den 2010er Jahren, für einen gewissen For- durch persönliche Gespräche. In diesem Zusam- schungsschub. 2011 gaben Volker Kronenberg menhang sei insbesondere dem Ministerpräsi- und Christoph Weckenbrock eine umfangreiche denten des Landes Hessen Bouffier sowie dem Anthologie heraus, die neben wissenschaftlichen hessischen Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und journalistischen Einordnungen auch konkrete für die instruktiven und vertrauensvollen Gesprä- Erfahrungsschilderungen von politischen Prakti- che sowie für die interessanten Einblicke in den kern enthielt und die bis heute das wissenschaft- „Maschinenraum“ des Bündnisses gedankt. lich wie journalistisch breiteste Spektrum einer Annäherung an Schwarz-Grün in historischer und Außerdem danke ich meinem Team, konkret gegenwartsbezogener Perspektive enthält.14 2016 Dr. Manuel Becker, Mateus Beckert, Christian gab Kronenberg einen Anschlussband heraus, Botz, Hendrik Erz, Jonas Fehres, Lenno Götze, der aus einer Tagung an der Universität Bonn Kevin Medau, Marco Jelic, Oliver Rau und Anna hervorging und verschiedene Analysen namhafter Zell von ganzem Herzen für die Unterstützung Parteienforscher zum Thema Schwarz-Grün ver- des Projekts, für den großartigen Einsatz bei sammelte.15 Von Weckenbrock liegt nun ein Stan- der Recherche von Material, der Evaluation von dardwerk für den Gesamtkomplex Schwarz-Grün Befunden und auch bei der Bearbeitung des vor: „Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. Manuskripts. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Perspektiven für den Bund“16, ergänzt um eine kürzere, stärker essayistisch angelegte und ein breiteres Leserpublikum adressierende Fas- sung der Studie.17
Die beiden letztgenannten Publikationen umfas- sen auch erste Zwischenbilanzen zur schwarz-grü- nen Koalition in Hessen.18 Für die Hintergründe der historischen Genese des hessischen Parteien- systems und der politischen Kultur in Hessen ist insbesondere ein neuerer von Wolfgang Schroe- der und Arijana Neumann herausgegebener Sammelband19 hervorzuheben. Zum Wahlkampf und zum Wahlergebnis in Hessen 2013 liegt eine in der Zeitschrift für Parlamentsfragen veröffent- lichte einschlägige Analyse aus der Feder von Thorsten Faas vor.20 Erste Bewertungen finden sich in einem Aufsatz von Kleinert.21 Die wissen-
8 1. Einleitung
1 Volker Kronenberg/Christoph Weckenbrock (Hrsg.): 12 Jürgen Hoffmann: Schwarz-grüne Bündnisse in der Schwarz-Grün. Die Debatte, Wiesbaden, 2011. Volker Kommunalpolitik. Gründe, Erfahrungen, Folgerungen, Kronenberg: Schwarz-Grün. Erfahrungen und Perspek- St. Augustin, 1997. Jürgen Hoffmann: Schwarz-grüne Bünd- tiven, Wiesbaden, 2016. Vgl. auch die Dissertation von nisse in den Kommunen. Modell für Bund und Länder?, in: Christoph Weckenbrock, in der er über viele Jahre eine Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 628–649.
sorgfältige Auswertung unterschiedlichster Quellen zu 13 Katharina Ober: Schwarz-grüne Koalitionen in nord- schwarz-grünen Optionen durchgeführt hat. Christoph rhein-westfälischen Kommunen. Erfahrungen und Pers- Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. pektiven, Baden-Baden, 2008. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Pers- 14 Kronenberg/Weckenbrock (Hrsg.): Schwarz-Grün. pektiven für den Bund, Baden-Baden, 2017. Die Debatte. 2 Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland, 15 Kronenberg (Hrsg.): Schwarz-Grün. Erfahrungen und S. 22. Perspektiven. 3 Hubert Kleinert: Voraussetzungen und Grenzen 16 Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. schwarz-grüner Optionen, in: Kronenberg/Weckenbrock (Hrsg.): Schwarz-Grün. Die Debatte, S. 173–192, S. 177. 17 Christoph Weckenbrock: Schwarz-Grün für Deutschland? Wie aus politischen Erzfeinden Bündnispartner wurden, 4 Vgl. Franz Walter: Riskante Überbürgerlichkeit, in: Essen, 2017. Kronenberg/Weckenbrock (Hrsg.): Schwarz-Grün. Die Debatte, S. 134–143, S. 134. 18 Vgl. Weckenbrock: Schwarz-grüne Koalitionen in Deutsch- land, S. 865–878. Vgl. Christoph Weckenbrock: Schwarz- 5 Auf der Bundesebene sah es nach der Bundestagswahl Grün für Deutschland?, S. 164–168. 2017 einige Zeit so aus, als zeichne sich eine Zusammen- arbeit von Union, Grünen und der FDP ab, die dann aber 19 Wolfgang Schroeder/Arijana Neumann (Hrsg.): Politik und letztendlich nicht zustande kam. Regieren in Hessen, Wiesbaden, 2016.
6 Die Landtagswahl fand am 22.09.2013 statt. 20 Thorsten Faas: Die hessische Landtagswahl vom 22. Sep- tember 2013. Schwarz-grüne „hessische Verhältnisse“, in: 7 Vgl. Gerhard Kneier: Warmlaufen für den Wahlkampf, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2 (2014), S. 349–365. Mannheimer Morgen vom 30. Dezember 2017. 21 Vgl. Hubert Kleinert: Schwarz-Grün in Hessen, in: Kronen- 8 Bastian Scholz: Königsmacher im Dilemma. Die Grünen berg (Hrsg.): Schwarz-Grün. Erfahrungen und Perspektiven, zwischen Schwarz-Grün und Rot-Rot-Grün, in: Kronenberg S. 59–71. Vgl. ferner Hubert Kleinert: Kulturrevolution in (Hrsg.): Schwarz-Grün. Erfahrungen und Perspektiven, Wiesbaden? Zu Risiken und Perspektiven der schwarz- S. 131–140, S. 132. grünen Koalition in Hessen, in: Die Politische Meinung 9 Vgl. exemplarisch Mark N. Franklin/Thomas T. Mackie, 525 (2014), S. 84–88. Familiarity and Inertia in the Formation of Governing Coalitions in Parliamentary Democracies, in: British Journal of Political Science 13 (1983), S. 275–298. Michael Laver/ Norman Schofield, Multiparty Government. The Politics of Coalition in Europe, Oxford 1991. Wolfgang C. Müller/ Kaare Strom (Hrsg.), Policy, Office or Votes? How Political Parties Make Hard Choices, New York, 1998. Lieven de Winter/Patrick Dumont, Uncertainty and Complexity in Cabinet Formation, in: Kaare Strom/Wolfgang C. Müller/ Torbjörn Bergmann (Hrsg.), Cabinets and Coalition Bar- gaining. The Democratic Life Cycle in Western Europe, Oxford, 2008.
10 Vgl. beispielsweise Frank Decker und Eckhard Jesse (Hrsg.): Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundes- tagswahl 2013, Baden-Baden, 2013. Vgl. Patrick Horst, Koalitionsbildungen und Koalitionsstrategien im neuen Fünfparteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 3–4 (2010), S. 327–408.
11 Gerhard Hirscher et al.: Problemstrukturen schwarz-grüner Zusammenarbeit, München, 1995.
9 Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen in Bund, Ländern und Kommunen 2. Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen
Auf Länderebene gab und gibt es in verschie- Dies gilt nicht zuletzt für die jüngsten Bündnis- denen Konstellationen bisher fünf Beispiele für schlüsse auf Landesebene in Baden-Württem- Kooperationen zwischen CDU und Bündnis 90/ berg4 sowie in Schleswig-Holstein5. Der entspre- Die Grünen: 2008 kam es in Hamburg mit der chenden Besonderheit schwarz-grüner Bündnisse Koalition von CDU und Grünen unter dem Ersten sind sich die Beteiligten nicht nur bewusst, sie Bürgermeister Ole von Beust (CDU) erstmals zu wird auch nach außen demonstrativ betont. So einer vertragsbasierten Kooperation auf Landes- ist in den Koalitionsvereinbarungen von einer die ebene. Das zweite Bündnis dieses Typs ist die jeweiligen Stärken addierenden „Ergänzungsko- im Mittelpunkt dieser Studie stehende schwarz- alition“ (Hamburg), von einem „Projekt“ (Saar- grüne Koalition in Hessen. In Baden-Württem- land)6 oder vom Einbringen „neue[r] Impulse“ berg wurde ein Bündnis der beiden Parteien (Baden-Württemberg) die Rede.7 In Schleswig-Hol- 2016 unter umgekehrten Vorzeichen mit Minis- stein beschwor Ministerpräsident Günther mehr- terpräsident Kretschmann geschlossen. Eine fach die Vision einer „Verbindung von Ökonomie schwarz-grüne Kooperation unter Einschluss der und Ökologie“8. Die besondere Konstellation FDP bestand außerdem als sogenannte Saarmai- von Schwarz-Grün gilt dabei stets als Risiko und ka-Koalition unter den Ministerpräsidenten Peter Chance gleichermaßen. Müller und später Annegret Kramp-Karrenbauer (beide CDU) von 2009 bis 2012 im Saarland sowie Schwarz-Grün begünstigende Faktoren seit Juni 2017 auch in Schleswig-Holstein, wo Neben den bereits erwähnten wahlarithme- Daniel Günther (CDU) an der Spitze eines „Jamaika“- tischen Bedingungen lassen sich weitere Fak- Bündnisses steht. toren identifizieren, welche zur Bildung einer schwarz-grünen Koalition beitragen. Als generell Deutlich umfangreicher sind die Erfahrungen in bedeutend hat sich die Existenz eines „flexiblen Städten und Gemeinden. Bereits bis zum Jahr Koalitionsmarkt(s)“ gezeigt. Nur wenn vor der 2013 wurde eine entsprechende Zusammenarbeit Wahl kein allzu deutlicher Ausschluss von denk- in mindestens 187 Kommunen geschlossen – in baren Koalitionen nach der Wahl praktiziert wird, der Mehrzahl kleine und mittelgroße Städte. Aller- ist ein Bündnisschluss ohne Gesichtsverlust mög- dings gab es auch vertragsbasierte Kooperatio- lich.9 Auf der anderen Seite kann das bewusste nen in mindestens 15 Großstädten.1 Inzwischen Erschließen neuer Koalitionsoptionen jenseits dürften die Zahlen noch einmal höher liegen. bekannter Bündnisse eine unterstützende Rolle spielen. Gerade weil Schwarz-Grün kein „nor- Ein Bündnis „zweiter“ oder „dritter Wahl“ males“ Bündnis ist, eröffnet es als stilbildendes Schwarz-grüne Bündnisse sind bisher Sonderfälle, Experiment strategische Möglichkeiten.10 Die die vor allem unter ganz bestimmten Rahmen- grundsätzliche politische Ausrichtung der Par- bedingungen geschlossen wurden. Als lager- teien ist hingegen für ein Zustandekommen der übergreifende Allianz werden sie im Gegensatz Kooperation, zumindest auf kommunaler Ebene, zu schwarz-gelben oder rot-grünen Koalitionen eher zweitrangig. Wiewohl die Konstellation des nur in Ausnahmefällen angestrebt. Selbst in den Aufeinandertreffens eines gesellschaftspolitisch Fällen, in denen bestehenden schwarz-grünen eher liberal geprägten Unionsverbands mit eher Bündnissen beiderseits eine dezidiert positive bürgerlich orientierten Grünen eine harmonische Bilanz attestiert wurde, blieb die „Attraktivität der Zusammenarbeit begünstigt. Als Musterbeispiele angestammten Koalitionspartner […] erhalten.“2 können die Städte Frankfurt und Essen gelten, wo Schwarz-Grün ist in der Regel ein Bündnis „zwei- die schwarz-grüne Koalition auch über die erste ter“ oder „dritter Wahl“, das erst dann zustande Legislaturperiode hinaus fortgeführt wurde.11 kommt, wenn die Alternativen arithmetisch, poli- Dennoch ist sie für die Bildung einer Koalition tisch oder personell ausgeschlossen wurden.3 keine notwendige Voraussetzung.
11 2. Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen
Auch innerparteiliche Fragmentierung und die sind, kann auch die eigenständige themenspezi- Existenz ausgesprochener Gegner von Schwarz- fische Profilierung für die jeweilige Partei leichter Grün haben, in den bisher bekannten Fällen, fallen und muss nicht auf andere Kanäle auswei- weniger dazu beigetragen, das Bündnis zu desta- chen. Damit dieser Mechanismus funktioniert, bilisieren, sondern wurden eher als „strategisches muss allerdings eine beträchtliche Bereitschaft Argument in den Koalitionsverhandlungen“ dazu auf allen Seiten zum Kompromiss gegeben sein. 17 genutzt, „parteipolitische ‚rote Linien‘ […] zu verteidigen“12. Wichtiger ist, so hebt u.a. Roland Programmatische Schnittmengen Sturm hervor, die gute „Chemie“ zwischen den Dieses Ringen um Konsens fällt naturgemäß auf Hauptakteuren in den Fraktionen und der Regie- einigen politischen Feldern leicht, auf anderen rung, wie sie etwa in Hamburg bis zum Rücktritt deutlich schwerer. Als Konsensbereiche lassen von Ole von Beust oder im Saarland unter Müller sich kommunalpolitisch vor allem die Finanz- konstatiert wurde.13 Persönliche Beziehungen politik und die Kulturpolitik sowie einige Bereiche sind nicht nur für eine vertrauensvolle Zusam- der Umweltpolitik identifizieren. Hierbei stellt vor menarbeit wichtig, sondern können auch helfen, allem die Haushaltskonsolidierung inklusive ent- auftretende Unstimmigkeiten zu überbrücken. sprechend zu ergreifender Maßnahmen wie die Aus demselben Grund ist eine klare und dauer- Verschlankung von Behörden durch Zusammen- haft bestehende innerparteiliche Struktur mit legungen oder Auslagerungen von Verwaltungs- „sattelfester“ Führungsspitze zentral für das aufgaben eine Konstante dar.18 Zustandekommen, aber noch viel mehr für die Stabilität der Koalition. Von Vorteil ist es, wenn Kompromisslinien können in der Kommunalpoli- eine personelle Annäherung bereits im Vorfeld tik häufig in den Bereichen Integration, Wirt- stattgefunden hat,14 denn im Regierungsalltag schaft, Schule und Soziales ausgemacht werden. sind schwarz-grüne Kooperationen erfahrungsge- Während etwa die CDU den Grünen regelmäßig in mäß auf einen hohen Koordinations- und Abstim- Fragen der Migration und Integration entgegen- mungsbedarf angewiesen.15 kam, zeigte sich umgekehrt aufseiten der Grünen vor allem bei der Anerkennung von wirtschaft- Größere programmatische Überschneidungen lichen Interessen, der Bedeutung von lokalen waren für das Zustandekommen schwarz-grü- Großbetrieben oder infrastrukturellen Besonder- ner Koalitionen zwar hilfreich, aber keineswegs heiten – wie Häfen oder Luftverkehrsstandorten zwingend. Unterschiedliche Interessen und – sowie bei der Gewerbesteuer Konzessions- Vorstellungen, vor allem aber unterschiedliche bereitschaft. Gerade im Bereich von Migration Auffassungen davon,wie bestimmte Ziele verfolgt und Integration kann Schwarz-Grün durchaus werden, sind in einem schwarz-grünen Bünd- eine gewisse Innovationskraft attestiert werden. nis unvermeidlich. Weckenbrock vertritt deshalb Durch die Schaffung entsprechender Anlauf- die Auffassung, dass ein mögliches verbinden- stellen, Ämter und unterstützender Ausschüsse des Leitmotiv sinnvollerweise erst im Rahmen wurde in einigen Städten Pionierarbeit für eine gemeinsamer Regierungspraxis entwickelt wird, konsistente Integrationspolitik geleistet. Ideologi- um dieses einem Bündnis nicht vorab als Hypo- sche Debatten in der Schulpolitik konnten in den thek aufzubürden.16 schwarz-grünen Kommunen meist als landes- politische Aufgabe ausgeklammert bzw. auf eine Die politische Nähe von sogenannten natür- andere politische Ebene ausgelagert werden.19 In lichen Koalitionspartnern kann bedingen, dass den Ländern war die Schulpolitik hingegen durch- die eigene parteipolitische Profilierung vor allem aus ein Konfliktfeld, konnte allerdings teilweise emotional bestimmt ist; ein lagerübergreifendes z. B. in Hamburg durch einen – letztendlich mittels Bündnis wie das zwischen Schwarz und Grün eines Volksentscheids gekippten – Kompromiss unterliegt dieser Logik nicht. Weil jeder Partner befriedet werden. Auch im Saarland konnte auf seine eigenen Themenfelder hat, die ihm wichtig diesem Feld eine Einigung erzielt werden, die
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allerdings ebenfalls nur zum Teil durchgesetzt Nicht selten korrespondierte der schwarz-grünen werden konnte. Ähnliches gelang in Hamburg Annäherung eine entsprechende, vorausgegan- beim Streit um den Bau des Kohlekraftwerks gene rot-grüne Entfremdung. Mittel- oder lang- Moorburg.20 fristig vermochte eine solche Grundlage allerdings kaum eine wirksame Klammer zu bilden25, was in Politikfelder mit Konfliktpotential nicht geringem Maße in einem sogenannten Ver- Schwieriger war die kommunale Kompromissfin- handlungsparadoxon begründet lag. dung auf den Feldern Verkehr, Innere Sicherheit und in Teilen der Umweltpolitik, auf denen meist Das schwarz-grüne diametral entgegengesetzte Positionen bestan- „Verhandlungsparadoxon“ den. Im Ausbau von Straßen und Flughäfen, Dieses Paradoxon konstatiert Weckenbrock Fragen der Förderung oder Einschränkung des gerade aufgrund der häufig bestehenden per- Individualverkehrs, dem Bau von Kraftwerken, sönlichen Vorbehalte der Grünen gegenüber der Ausweisung von Gewerbeflächen oder bei der der Union26: In Koalitionsverhandlungen forder- Einführung und dem Ausbau von Videoüberwa- ten die Grünen von der Union wesentlich mehr chung gab es regelmäßig grundsätzliche thema- inhaltliche und personelle Zugeständnisse als in tische Konflikte mit Potenzial zum Scheitern des Verhandlungen mit der SPD. Weil die Sozialde- Bündnisses.21 Auch in Hamburg und Hessen lagen mokratie den Grünen programmatisch in vielen und liegen hier die größten Herausforderungen Bereichen deutlich näher stand, wird von der für eine schwarz-grüne Zusammenarbeit. Auf Union ein politisches Entgegenkommen gefor- diesen Aspekt wird im Zuge der konkreten Ana- dert, das weit über das hinausgeht, was in einer lyse des schwarz-grünen Regierens in Hessen mit rot-grünen Koalition denkbar wäre. Diese Forde- Blick auf den Konfliktpunkt Flughafen später noch rungen speisten sich vor allem aus der Erwartung eingegangen. Ebenso konfliktträchtig verliefen in einer Kompensation für den Lagerwechsel, um Schleswig-Holstein die Koalitionsverhandlungen diesen der häufig skeptischen Grünen-Basis in den Bereichen Wirtschaft und Verkehr und schmackhaft zu machen. Diese sogenannte wären angesichts bestehender Dissense fast Lagerwechselprämie wurde den Grünen von der gescheitert.22 Der Umgang mit diesen sensiblen CDU in der Regel bereitwillig zugestanden bzw. Politikfeldern, mit neuralgischen thematischen von den Grünen sehr erfolgreich ausgehandelt Punkten, kann demnach auch als Gradmesser und ließ sich in fast allen untersuchten Beispie- des Funktionierens der Koalition gelten. Hierbei len der vergangenen Jahre ausmachen: Sowohl hat sich vor allem auf kommunaler Ebene das inhaltlich als auch personell waren die Grünen Ausklammern bestimmter Themen als hilfreich in der Regel deutlich präsenter, als es angesichts erwiesen.23 Dies ist allerdings auf Landes- oder ihres elektoralen Gewichts zu erwarten gewesen gar Bundesebene aufgrund signifikant größerer wäre.27 Regelmäßig dominierten grüne Themen thematischer Zuständigkeiten nicht ohne Weite- die Koalitionsvereinbarungen und häufig auch die res möglich. Außenwahrnehmung der Koalition. Die Grünen konnten somit als die klaren Gewinner der Ver- Nicht zuletzt: Ein vor allem in Kommunen auf- handlungen gelten.28 tretendes Phänomen ist der schwarz-grüne Bündnisschluss in klarer Abgrenzung zu einer Konsequenzen bei Folgewahlen jahrzehntelangen SPD-Dominanz, in Abgrenzung Dies bedeutet allerdings nicht automatisch, dass zur Monokultur, zu einer als „roter Filz“ beschrie- sich schwarz-grüne Bündnisse für die Grünen benen Ämterpatronage.24 Bei den Grünen ist dies inhaltlich als besonders erfolgreich erwiesen in einigen Fällen mit schlechten Kooperations- hätten. Beispielsweise konnte die Partei in Ham- erfahrungen oder mit einem als wenig respektvoll burg trotz einer zweijährigen recht konfliktfreien, empfundenen Umgang der SPD mit dem als auf persönlicher Ebene durchaus harmonischen selbstverständlich dem eigenen Lager zugerechne- Zusammenarbeit im Ergebnis angesichts der ten kleineren Partner verbunden („Koch“/„Kellner“). Bestätigung des Kraftwerkbaus in Moorburg, der
13 2. Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen
Elbvertiefung, dem Scheitern eines Wiederauf- gegengebracht als von grüner Seite, wo bislang baus der Straßenbahn sowie des Primarschulkon- eher „rationale Zustimmung“ bei „emotionaler zeptes keines ihrer zentralen Wahlziele verwirk- Zurückhaltung“ charakteristisch ist.33 lichen.29 Die überproportionale Berücksichtigung grüner Interessen erwies sich häufig als Stolper- Die politischen Akteure in Hessen konnten also stein für die Stabilität schwarz-grüner Koalitionen, in vielfältiger Weise auf Erfahrungen in Kommu- sorgte sie doch an der Unionsbasis – mitunter nen und anderen Bundesländern zurückgreifen. aber auch an der Spitze – für Unmut. Eine zu Allerdings stand den Beteiligten auch als mahnen- deutliche „grüne Handschrift“ in Arbeit und des Menetekel vor Augen, dass im Erfahrungs- Außenwahrnehmung der Koalition führte etwa in horizont von 2013, als das Wiesbadener Bündnis Saarbrücken, Kassel und Kiel dazu, dass die CDU geschmiedet wurde, alle schwarz-grünen Koope- sich als Verliererin der Kooperation fühlte, was rationen auf Landesebene bis dato gescheitert zum Versuch der inhaltlichen und persönlichen waren. Erschwerend kam noch hinzu, dass gerade Abgrenzung der Union und somit letztlich zum Hessen lange Zeit als ein Bundesland galt, in dem Scheitern der Koalitionen beitrug.30 die politische Kultur besonders stark polarisiert war.
Zuzuschreiben ist dieser Eindruck sicherlich auch Das Parteiensystem Hessens spiegelt im Wesent- den von der Union verzeichneten tendenziellen lichen die Parteien des bundesdeutschen Par- Verlusten bei den auf ein schwarz-grünes Bündnis teiensystems wider, jeweils repräsentiert durch folgenden Kommunalwahlen, während die Grü- deren hessische Landesverbände. Historisch nen eher Zugewinne verbuchen konnten. Diese ist die Regierungsbeteiligung des „Gesamtdeut- Entwicklungen ließen sich allerdings nur teilweise schen Blocks/Bundes der Heimatvertriebenen auch auf kommunale Themen zurückführen, und Entrechteten“ (GB/BHE) zwischen 1954 und sondern zeichneten mitunter eher einen Bun- 1962 an zwei Kabinetten unter Ministerpräsident destrend nach, sodass ein klares Urteil über die Georg-August Zinn (SPD) für die Geschichte der elektoralen Folgen nicht möglich ist.31 Eindeutiger Koalitionsbildungen in Hessen bedeutsam.34 ist die Analyse bei den beiden bereits beendeten Bündnissen auf Landesebene: Sowohl in Ham- In den ersten drei Jahrzehnten war Hessens Par- burg als auch im Saarland wurde eben jene Partei teiensystem von einer starken Sozialdemokratie abgestraft, der die Hauptschuld für ein vorzeitiges geprägt. Obwohl die hessische Christdemokratie Ende der Koalitionen angelastet wurde. dies ab Mitte der 1970er Jahre zumindest in den Wahlergebnissen zum Landtag in Wiesbaden Als stabil haben sich vor allem Bündnisse erwie- zeitweise aufbrechen konnte, konnten christliche sen, in denen CDU und Grüne als sich ergänzende Demokraten – mit Ausnahme der schwarz-gelben Partner agierten. In Frankfurt am Main und Essen Koalition unter Walter Wallmann (1987–1991) – konnte sich beispielsweise die Union mit ihren die Führung in der hessischen Staatskanzlei erst Kompetenzen in Innerer Sicherheit, Wirtschaft zum Ende des Jahrhunderts übernehmen, perso- und Stadtentwicklung als komplementär zu den nifiziert in den Ministerpräsidenten Roland Koch grünen Akzentuierungen in Umwelt, Verkehr und (1999–2010) und Bouffier (seit 2010). Verbraucherschutz profilieren. Nachweisbare Erfolge der Union wirken sich erfahrungsgemäß Generell lässt sich nach Neumann (2016) das Par- auch positiv auf die Akzeptanz des Bündnisses teiensystem Hessens in vier Entwicklungsphasen durch die eigene Basis und die Fraktion aus, einteilen: Von einer (1) Hegemonial- bzw. Konzent- während die Durchsetzung grüner Projekte rationsphase (1946 bis 1970) über eine (2) Konkur- eine Zustimmung der Parteibasis nicht grund- renz-/Polarisierungsphase (1970 bis 1982/83) sowie sätzlich garantiert.32 Generell, so eine Tendenz eine (3) Pluralisierungs-/Konfrontations-/Erosions- schwarz-grüner Bündniserfahrungen der vergan- phase (1982/83 bis 1999) charakterisiert Hessen genen Jahre, wird einem schwarz-grünen Bündnis derzeit eine (4) Christdemokratische Dominanz- von der CDU-Basis eine größere Zustimmung ent- phase (1999 bis heute).35
14 2. Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen
Abbildung 1: Faktoren für die schwarz-grüne Koalitionsstabilität und Regierungspraxis in den Kommunen (dunkelblauer/-orangener Kasten = entscheidender Faktor; hellblauer/-orangener Kasten = einflussreicher Faktor).
negativ positiv zuvorZuvor aus-aus- Anschlussfähige geklammertegeklammerte Ausrichtung der Abnehmende StreitpunkteStreitpunkte Parteiverbände Bündnisakzeptanz Strategische in den Parteien Annäherung im Vorfeld der Koalition Vernetzungspro- bleme innerhalb der Kritische Attraktivität der Koalitionsparteien Ereignisse Wunschpartner Ausbildung eines stabilen strategischen Zentrums Profilierungs- offensiven der CDU Schwarz-grüne oder der Grünen Koalitionsstabilität Gleichbleibende Regierungspraxis Bündnisakzetanz in den Parteien Grünes Übergewicht im Koalitionsalltag Koalitionspolitik Betonung des Konflikte Kompromisse Konsens Komplementär- er ehr n egra i n inanzen charakters der Personelle Koalition Fluktuationen in den we ir schaf erwa ung Führungsebenen Sicherhei Schu e u ur S zia es Be reuung
Quelle: Eigene Darstellung nach Christoph Weckenbrock, Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Perspektiven für den Bund, 2017, S. 518.
Die erste Phase (1946 bis 1970), von Neumann „war Hessen in den 1970er Jahren das Zentrum nochmals unterteilt in eine Formierungsphase des extrem polarisierten Streits um Gesamtschule, (1946 bis 1950) und die eigentliche Hegemonial- Bildungspolitik und des Agierens der Neuen Linken phase (1950 bis 1970), war geprägt sowohl von an den Hochschulen gewesen und hatte die Union der übermächtigen Stellung der Sozialdemokrati- mit ihren harten Attacken auf die sozialdemokra- schen Partei im Parteiensystem als auch von der tische Kulturpolitik beträchtliche Mobilisierungs- Konzentration des Parteiensystems auf bestimmte erfolge erreicht, die ihr zwischen 1966 und 1974 Parteien und Wählervereinigungen. Während sich einen Anstieg von 26 Prozent[punkten; Anmerkung die CDU in den ersten beiden Jahrzehnten noch des Verfassers] auf 47 Prozent der Wählerstimmen verhältnismäßig kooperativ gegenüber der SPD bescherte. Die Spuren dieses ‚Kulturkampfs‘ haben zeigte, schwenkte sie in der zweiten Hälfte der auch noch die frühen rot-grünen Jahre geprägt.“36 1960er Jahre, mit der Übernahme des Parteivorsit- Ab etwa 1970 kann man in Hessen von dem für zes durch Alfred Dregger 1967, auf einen härteren die zeitgenössische Bundesrepublik charakteristi- oppositionellen Kurs ein. „Tatsächlich“, so blickt schen Drei-Parteien-System aus CDU, SPD und FDP Kleinert auf die politische Kultur Hessens zurück, sprechen.37
15 2. Schwarz-Grün: Bisherige Erfahrungen
Abbildung 2: Wahlbeteiligung und -ergebnisse nach Partei, Landtagswahl Hessen 1946–2013.