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Musikstunde mit Wolfgang Sandberger Mythos Spätwerk, Teil 1 Montag, 03.06.2013

Da kommen sie noch einmal alle zusammen, in einem imaginären Spital: die altersweißen Komponisten, nachdenklich-versonnen. Der alternde Bach, in raffinierte Rätselkanons vertieft, der ebenfalls fast blinde Händel, gezeichnet von der Tristesse des Lebens im Alter - auf jeden Fall dabei auch der taube Beethoven und auch er darf nicht fehlen: Giuseppe Verdi, 85-jährig, langsamen Schrittes schlendert er über die Flure des Spitals: Das Werk ist getan, die „Quattro pezzi sacri“ sind komponiert, der „Falstaff“ in der Grande Opéra von Paris gespielt: tutto è finito und der Weisheit letzter Schluss: „Alles auf der Welt ist Narretei“:

Musik 1 CD 2 Track 16 3.16’’ Giuseppe Verdi Finale aus der Commedia lirica „Falstaff“ Bryn Terfel, Falstaff Anatoli Kotscherga, Anthony Mee, Enrico Facini Adrianne Pieczonka, Thomas Hampson Dorothea Röschmann, Daniil Shtoda Larissa Diadkovsky, Stella Doufexis Rundfunkchor Berliner Philharmoniker Claudio Abbado DGG 471 194-2

Tutto nel mondo è burla – alles auf der Welt ist Narretei, das Finale aus dem Falstaff von Giuseppe Verdi – ein Ausschnitt aus der Gesamtaufnahme mit Bryn Terfel in der Titelpartie, dem Rundfunkchor Berlin und den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado. Mit einer Fuge schließt dieses heitere Alterswerk von Giuseppe Verdi, mit jener Form also, die man so gar nicht mit dem italienischen Dramatiker in Verbindung bringt. Der Falstaff: in heiterer Gelassenheit hat sich der alternde Verdi hier vom Leben verabschiedet, doch ist dies nur eine mögliche Facette, die einem im Spätwerk großer Komponisten begegnet. „Spätwerke“ können auch radikal sein: spekulativ-entrückt wie bei Bach oder Beethoven, ja mache künden gar vom Jenseits. Das Alter bringt es mit sich: Niemandem mehr ist etwas zu beweisen, der Beifall des Publikums zweitrangig, der Komponist nur ganz mit seiner Kunst beschäftigt. Und dann sind da die Verleger, die Spätwerke zu letzten „Schwanengesängen“ stilisiert haben, wie bei Franz Schubert oder Richard Strauss. Doch das Altern eines Komponisten kann 3

– mit Gottfried Benn gesprochen – auch „ein Problem“ sein: da ist die Verlusterfahrung des Alterns, die Sorge um das Nachlassen der produktiven Kräfte. Diesen vielfältigen Facetten des Spätwerks ist die SWR 2-Musikstunde in dieser Woche auf der Spur. Die beste Strategie dem Alter gegenüber heißt sicher „Gelassenheit“, gepaart mit ein bisschen „Humor“, wie ihn eben der 84-jährige Verdi noch besessen hat. Im Oktober 1897 schickte der Komponist zum letzten Mal ein Werk an seinen Verleger: die „Quattro pezzi sacri“ – „vier geistliche Stücke“. Am Ende seines Lebens – so könnte man es sehen – ist Verdi also an den Ausgangspunkt seiner Laufbahn zurückgekehrt: zur Kirchenmusik, mit der er ja als Zwölfjähriger in der Dorfkirche von Le Roncole begonnen hatte. Doch gehört eine solche Sichtweise schon zur Mystifizierung. Verdi nämlich schickte die vier geistlichen Altersstücke durchaus mit einem Augenzwinkern an den Verleger: Das „Te Deum“ etwa hat der große Opernkomponist damals als „eine Danksagung“ bezeichnet: nein, „nicht für mich, sondern für das Publikum, das nach so vielen Jahren endlich davon befreit ist, noch neue Opern von mir anzuhören!“ Keine Oper ist auch das „Ave Maria“:

Musik 2 CD Track 5 5.57’’ Giuseppe Verdi „Ave Maria“ Philharmonia Chorus Carlo Maria Giulini EMI 567560-2

Das „Spätwerk“, meine Damen und Herren, ist zunächst eine Kategorie aus der biographischen Literatur: Demnach hat ein Künstler eine kontinuierliche Entwicklung zu durchlaufen, ob er will oder nicht. Die Biographen jedenfalls – vor allem die des 19. Jahrhunderts – wollten es so: vom „Wunderkind“ und dem „Frühwerk“ entwickelt sich der Künstler über die „Jahre der Wanderschaft“ und dem „Jahrzehnt der Meisterschaft“ bis hin zum „Spätwerk“, in dem die künstlerische Entwicklung auf je eigne Weise kulminieren muss: als Bilanz, als stimmiger Abschluss eines Lebenswerkes, bisweilen aber auch als radikaler Aufbruch in unerhörte Regionen. Das Spätwerk als radikaler Kulminationspunkt: dafür stehen heute vor allem zwei Namen: Bach und Beethoven. An diesen beiden Komponisten haben die Musikgelehrten den emphatischen Spätwerk-Begriff entwickelt. Beispiel Bach: Schaut man auf das letzte Lebensjahrzehnt des Thomaskantors, so drängt sich der Eindruck auf, Bach habe sich mit etwa 55 Jahren in einen quasi selbst- verordneten Ruhestand begeben. Nicht um sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, sondern um sich in ein spekulatives Spätwerk zu stürzen, das kaum mehr etwas mit seinen Dienstpflichten als Thomaskantor zu tun hatte: 4

Musikalisches Opfer, Goldberg-Variationen, Kunst der Fuge. Bach hat seine offizielle Tätigkeit als Kantor praktisch auf die Verwaltung des Amtes reduziert - ohne sich dabei kompositorisch weiter für die Kirchenmusik zu engagieren.

Musik 3 SWR M 0004537 001 DIGAS 3.58’’ Aria aus den Goldberg-Variationen BWV 988 Murray Perahia, Klavier

Murray Perrahia spielte das Thema, die Aria aus den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Als Thomaskantor scheint der alternde Bach in resigniert zu haben. In den letzten Jahren seines Lebens interessierte ihn anderes. Ein Blick auf seine Musik verrät es: mit Werken wie den „Goldberg-Variationen“, den kanonischen Veränderungen über das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“, mit dem „Musicalischen Opfer“ oder der „Kunst der Fuge“ hat Bach sich mehr und mehr den Normen des öffentlichen Publikumgeschmacks entzogen: es sind Werke mit einem exklusiven Charakter, mit Fugen und Canons, deren Kunstfertigkeit auf die Spitze getrieben wird. Von zeitgenössischen Kritikern wurde solche kontrapunktische Raffinesse hingegen auch als „Schwulst“ abgetan, als fehlende Natürlichkeit. Die neue Musik der damaligen Zeit solle „annehmlich, galant, gefällig und natürlich“ sein, Bachs Musik hingegen sei – so der Kritiker Johann Adolf Scheibe – zu sehr gearbeitet, ja bisweilen verworren. „Spätwerk“ – bei Bach spiegelt sich in ihm auch die Distanz zur eigenen Gegenwart:

Musik 4 CD 2 Track 9 8.06'' Johann Sebastian Bach Fuga a 3 Soggetti BWV 1080/19 Robert Hill, Cembalo Hänssler CD 92.134 LC 6047

Das offene Ende der „Kunst der Fuge“ – gespielt von Robert Hill. Mythos Spätwerk: Nirgends ist dieser Mythos so greifbar wie in der „Kunst der Fuge“, um die sich zahlreiche Legenden ranken - vergleichbar dem berühmten Requiem-Diktat des todkranken Mozart. Carl Philipp Emanuel Bach nämlich berichtet, sein Vater sei während der Arbeit an der Kunst der Fuge gestorben, genauer: während dieser „letzten Fuge“, exakt an der Stelle, an der Bach sich eben durch das B-A-C-H-Motiv selbst zu erkennen gibt. Zur Vervollständigung hat der Bach-Sohn als Herausgeber der „Kunst der Fuge“ hier nun den Orgelchoral „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ hinzugefügt, jenen Choral, „den der selige Mann in seiner Blindheit einem seiner Freunde aus dem Stegereif in 5 die Feder dictiret“ habe. Nun, die Bach-Forschung hat diesen „Sterbechoral“ längst als Legende entlarvt, denn in der Grundsubstanz geht dieser Choral bereits auf das in entstandene Orgelbüchlein zurück Und: Nicht die „Kunst der Fuge“, die größtenteils bereits Anfang der 1740er Jahre entstanden ist, war Bachs letztes großes Werk, sondern die Vervollständigung der h-moll-Messe, an der Bach wahrscheinlich bis zum Oktober 1749 gearbeitet hat. Die neue Datierung der h- moll-Messe wirft zugleich ein neues Licht auf Bachs letzte Lebensmonate. Vieles deutet daraufhin, daß der Thomaskantor die Erweiterung der älteren Sätze Kyrie und Gloria zu einer „großen Messe“ ganz bewusst als sein letztes Werk, sein opus ultimum verstanden hat. Daß er sich über seinen eigenen Gesundheitszustand keine Illusionen machen konnte, liegt auf der Hand: Die Schrift seiner letzten Lebensjahre weist ganz offensichtlich Spuren von nachlassenden physischen Kräften auf. Speziell das Autograph der h-moll- Messe dokumentiert vom „Credo“ an die im Duktus eigentümliche Schrift eines Kranken: Taktstriche, Bindebögen und Notenlinien sind mit zittriger Hand geschrieben.

Musik 5 DIGAS 2.00'' J. S. Bach h-moll-Messe, daraus: Credo Gächinger Kantorei Bach-Collegium Stuttgart Helmuth Rilling Hänssler (LC06047) 92.070

Neben Bach ist der Komponist, an dem der Begriff des musikalischen Spätwerks am deutlichsten entwickelt worden ist: gerade die späten Streichquartette gelten bis heute als Musterbeispiele eines Komponierens, das zu völlig neuen Ufern aufbricht: radikal, sperrig, unerhört. Der große Beethoven-Forscher Carl Dahlhaus hat die „Zeitlosigkeit“ dieser späten Quartette betont, zeitlos verstanden hier aber nicht im klassischen, normativen Sinne wie etwa bei einem klassischen Sportwagen oder einem klassisches Kostüm, die beide zeitlos schön sein können – nein: die „Zeitlosigkeit“ der Spätwerke Beethovens ist anders gemeint: Für Beethovens späte Quartette ist charakteristisch, dass sie bereits bei ihrer Entstehung sich gleichsam innerlich der eigenen Gegenwart entfremdet haben. Nicht erst als Werke des „klassischen Kanons“ sind sie der eigenen Zeit entwachsen, sondern schon in ihrem eigentlichen Entstehungsprozess: Die Musik selbst scheint einer anderen Zeit anzugehören, wobei gar nicht so leicht zu bestimmen ist, welcher: Archaisierende Momente verweisen auf die Vergangenheit, die Fuge und andere kontrapunktische Techniken etwa, auch alte Kirchen-Tonarten wie die „lydische 6

Tonart“, die in dem folgenden Satz eine große Rolle spielen wird. Zugleich aber wird auch die Zukunft beschworen, durch die eigentümliche Abstraktheit dieser Musiksprache. Herzstück des a-moll-Quartetts op. 132 ist der dritte Satz, den Beethoven nach einer schweren Erkrankung komponiert hat: „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart“. Umfangreiche Skizzen zeigen das besondere Interesse Beethovens an der alten Kirchenmusik, doch deren Mittel werden in diesem Streichquartett nicht archaisierend zitiert, nein, Beethoven lässt sie gleichsam dialektisch umschlagen: in das gegenwärtige Erleben eines radikal-persönlichen Ausdrucks

Musik 6 Track 7 bis 5.20’’ Ludwig van Beethoven Streichquartett a-moll op. 132, daraus: Dritter Satz Artemis Quartett AM 1245-2 LC 5152

Soweit dieser Ausschnitt aus dem dritten Satz des a-moll-Quartetts op. 132 von Ludwig van Beethoven. Es spielte das Artemis Quartett. Spätwerk ist freilich auch bei Beethoven nicht gleich Spätwerk. Das letzte Quartett aus dem Jahr 1826 stand erstaunlich lange im Schatten der zuvor entstandenen ‚radikalen’ Quartette, die bis heute als die eigentlichen „späten Quartette“ gelten. Dass das letzte Quartett op. 135 dennoch eine gewisse Popularität erlangt hat, lag primär an dem Finale und seinem berühmten Motto „Der schwer gefaßte Entschluß“ nebst dem Frage-Motiv des einleitenden Grave „Muß es sein?“ - „Es muß sein!“, so antwortet das Allegro. Dem Pathos solcher Überschriften sind selbst nüchterne Musikhistoriker erlegen, doch die Musik dieses Finalsatzes lässt sich kaum von dem vermeintlich spektakulären Motto aus verstehen. Bezeichnend schon die erste Rezension des Beethoven-Kenners Adolf Bernhard Marx, der 1829 urteilte: Alle „seltsamen, scheinbar oft widersprechenden Züge“ dieser Musik müssten „barock, ja widrig erscheinen“, falls man nicht eine höhere „Idee“ in diesem Quartett erkenne, die ihnen erst „Bedeutung und Zusammenhang“ gebe. Auf der Suche nach dieser „Idee“ interpretierte er die vier Sätze aus der Perspektive des Komponisten als „wehmüthige Erinnerung“, „erzwungene Lustigkeit“, „zarteste Klage“ und schmerzliches „Entsagen“. Immerhin räumte Marx ein, das Werk damit völlig missverstanden zu haben. Die Sprache der Musik ist eben ohne Begriffe. Dass die Darstellung von Charakteren und Affekten zu Beethovens musikalischer Konzeption gehörte, drängt sich freilich bei jeder Note auf. Doch der Anspruch dieser Musiksprache weist über Charaktere und Affekte hinaus: Musik war für Beethoven eine „höhere Offenbarung“ als die Dichtung bzw. die Sprache. Also kann die Musik nicht deren tönende Illustration sein. Und in kaum einer anderen Gattung hat 7

Beethoven seine spezifisch musikalische Sprache so entwickelt wie in den „vernünftigen Unterhaltungen“ seiner Quartette. Hier also das Finale des letzten Quartetts op. 135:

Musik 7 Track 11 7.14’’ Ludwig van Beethoven Streichquartett op. 135 A-dur, daraus: Schlussatz, Grave, ma non troppo tratto. Allegro Alexander String Quartet Sony

Das Finale aus dem letzten Streichquartett von Ludwig van Beethoven. Lebensalter und Werkgestalt bedingen einander. Diese Idee hat einst vor allem der große Theoretiker des Verstehens, Wilhelm Dilthey, entwickelt. Am Beispiel nicht von Beethoven, sondern von Goethe. Dilthey hat Goethes Schaffen in Perioden eingeteilt, in dem er die Vita des Dichterfürsten als Hintergrund hinter den Werken rekonstruiert hat. Ausgangspunkt für das Alterswerk ist dabei die Erkenntnis, dass die „Fülle und Stärke des Erlebens“ mit dem Alter abnehme, während „die Summe der Erfahrung ordentlich gewachsen“ sei. Die Ideale der Zukunft werden „im Alter abgelöst von der Zusammenfassung des Ertrages der Vergangenheit“. Ob Goethe oder Beethoven, ob Fontane oder Verdi: Das Spätwerk erscheint aus dieser Perspektive als große Summe des Lebens. Doch Vorsicht: Dass man sich hier bei der Interpretation einzelner Werke auch ganz schön vertun kann, zeigen gerade die Werke, die fälschlich als Spätwerke verstanden worden sind: die berühmte „Wut über den verlorenen Groschen“ etwa, jenes Capriccio, das man lange Zeit wegen der hohen Opuszahl 129 als Spätwerk des Titanen Beethoven verstanden hat, ein Spätwerk, in dem der alternde Meister einer inneren Laune nachgegeben hätte. Manche Anekdote hat sich entwickelt, wurde ausgeschmückt und alles schien so schön zum Bild von dem Titanen Beethoven zu passen, der seine aufbrausenden Gefühle selbstironisch in ein hübsches Stück Musik gesetzt habe. Und in der Tat scheinen in diesem Stück, in dem sich Rondo- und Variationenform verbinden, cholerische Momente humoristisch gebrochen zu sein. Doch 1945 stellte sich auf Grund philologischer Befunde heraus, dass diese Musik bereits die Musik des 25-Jährigen Beethoven ist. Freilich: das Stück verliert damit nichts von seinem Esprit: „Etwas Lustigeres gibt es kaum, als diese Schnurre“, ganz unbefangen urteilte so Robert Schumann:

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Musik 8 Track 10 5.32’’ Ludwig van Beethoven Rondo a capriccio G-dur op. 129 “Die Wut über den verlorenen Groschen” Anatol Ugorski, Klavier DGG 435 881-2