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Abhandlungen zum Rahmenthema XXXIX ,Literarische Bibelrezeption‘ Fünfte Folge

Leiter des Themas Ralf Georg Czapla (Heidelberg) Simone Lutz (München) 10 Vereinnahmung der Bibel: Libretti von deutschen Moses-Oratorien im 19. Jahrhundert

Von Linda Maria Koldau, Frankfurt am Main

Jedermann weiss und kann es immerfort bestätigt sehen – Niemand aber weiss es besser, als jene Meister selbst – dass bey der Composition eines Oratoriums an Entschädigung, und wäre es auch nur die eines Tagelöhners, bloss für die aufgewendete Zeit, jetzt gar nicht zu denken ist. Geniesst der Componist nicht schon eines beträchlichen Rufes: so kann sein Werk wohl nicht einmal zu öffentlicher Aufführung gelangen. Aber wenn er auch eines solchen Rufes ge- niesst, und damit erlangt, dass es hier einmal und dort einmal aufgeführt wird: so muss er es, fast ohne Ausnahme, zu dem, was man einen wohlthätigen Zweck zu nennen pflegt, mithin wieder umsonst, hingeben; und soll die Ausführung anstän- dig und wirksam herauskommen: was für Laufens und Rennens, Einladens, Einstudirens, Probirens, was für Zeitverlust, Beschwerde, mitunter auch Ver- drüsslichkeiten, fallen gemeiniglich dabey auf ihn! […] Die Composition eines Heftes hübscher Clavier-Variationen oder scherzhafter Gesellschaftslieder; ein rasch und brillant öffentlich vorgetragenes Rondo und dergl. würden wenigstens lebhafteres Anerkennen finden; und würde nun, dass sie diess gefunden, in recht vielen Zeitblättern wiederholt – […] so möchten diese Erzeugnisse unserm Meister leichtlich mehr zur Verbreitung seines Rufes dienen, als die Abfassung eines Oratoriums.1 Friedrich Rochlitz in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, 1828

Oratorien sind ein Verlustgeschäft – bereits im 19. Jahrhundert galt, was sich im heutigen Kulturleben fortsetzt: Mit Oratorien lässt sich, nimmt man die wenigen großen ‚Schlager‘ der Oratorienliteratur aus, wenig Geld verdienen. Das Missverhältnis zu den beliebten, brillanten Konzertgattungen, aber auch zu den großen Gattungen Oper und Symphonie, die auch heute ein großes und meist zahlungskräftiges Publikum anziehen, gestaltete sich im 19. Jahrhundert jedoch noch eklatanter als heute. Denn im 19. Jahrhundert war ein ungewöhn- lich großer Teil der deutschen Bevölkerung – vor allem der breiten Mittel- schicht – in Vereinen organisiert, und ein großer Teil dieser Vereine wiederum widmete sich dem gemeinschaftlichen Gesang und der Aufführung von Chor- werken und Oratorien.2 Somit waren weit mehr Menschen als heute unmittel- 1 Friedrich Rochlitz: Aus einem Schreiben an den Redacteur. In: Allgemeine musikalische

Zeitung 30 (1828), Sp. 239–245, hier Sp. 240 f. 2 Zum Verein als Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Auf- sätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976 (= Kritische Studien zur Geschichtswissen-

11 bar an der Einstudierung und Aufführung von Oratorien beteiligt, sei es als Sängerinnen und Sänger oder als Instrumentalisten und – seltener – Instru- mentalistinnen. Hinzu kam ein breites Publikum, das – nicht durch die allge- genwärtige Zugänglichkeit von Tonträgern sowie durch ein unüberschaubares kulturelles Angebot übersättigt – derartige Aufführungen als besondere Ereignis- se schätzte und mit entsprechender Begeisterung zu Konzerten ging.3 Den- noch konnte man, dem eingangs zitierten öffentlichen Brief des Musikkritikers und Schriftstellers Friedrich Rochlitz zufolge, an Oratorien im 19. Jahrhun- dert offenbar nur in Ausnahmefällen verdienen.4 Gleichwohl war der Enthusiasmus groß, mit dem gerade Laien diese Gattung rezipierten und förderten. Das Oratorium, meist auf die speziellen Bedürfnisse von lokalen Gesangsvereinen und Laienorchestern zugeschnitten, ermöglichte einen engen Kontakt zwischen der breiten Masse und der Musik, während die führenden Konzertgattungen Symphonie und Oper, die zwar ebenfalls ein breites Publikum anzogen, in der Regel einen weit größeren Abstand zwischen Ausführenden und Hörern bestehen ließen. Für eine Orato- rienaufführung war keine Bühne notwendig (der Wunsch nach Visualisierung führte im Laufe des 19. Jahrhunderts freilich dazu, dass man sich mit Leben- den Bildern oder Bildtransparenten zu den einzelnen Szenen behalf), die Solistenrollen sind in vielen Fällen auf die Möglichkeiten kleinerer Musik- zentren zugeschnitten, mitunter sogar gezielt für Laien komponiert. Im Zen-

schaft 18), S. 174–205. Zur politischen und soziologischen Bedeutung der Gesangvereine

vgl. u. a. Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984 (= Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts. Ab- handlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln 13); „Heil deutschem Wort und Sang!“ Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte. Kongressbericht Feuchtwangen 1994. Hrsg. von Friedhelm Brusniak und Dietmar Klenke. Augsburg 1995 (= Feuchtwanger Beiträge zur Musikforschung 1), S. 141– 196; Dieter Langewiesche: Die schwäbische Sängerbewegung in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – ein Beitrag zur kulturellen Nationsbildung. In: Zeitschrift für württem- bergische Landesgeschichte 52 (1993), S. 257–301; Dietmar Klenke: „Ein Schwur für’s deutsche Vaterland“. Zum Nationalismus der deutschen Sängerbewegung zwischen Paulskirchenparlament und Reichsgründung. In: Liberalismus, Parlamentarismus und De- mokratie. Fs. Manfred Botzenhart zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Michael Epkenhans, Martin Kottkamp und Lothar Snyders. Göttingen 1994, S. 61–107. 3 Obwohl das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert des aufblühenden Konzertwesens ist, verfüg- ten zahllose kleinere Städte über keinen regulären Kulturbetrieb. Konzerte, die von gastie- renden Musikern geboten wurden, waren daher kulturelle Höhepunkte, die von der Bevöl- kerung mit Spannung erwartet und entsprechend besucht wurden. 4 Friedrich Rochlitz (1769–1842) war Begründer der Allgemeinen musikalischen Zeitung, einer der bedeutendsten Musikzeitschriften des 19. Jahrhunderts. Als Kritiker und Publizist verfolgte er die musikalischen Strömungen seiner Zeit, die er wie wenige andere Zeitgenos- sen in die allgemeine Entwicklung der Musik- und Kompositionsgeschichte einzuordnen wusste.

12 trum der meisten Oratorien stehen die Chorsätze, die in der Regel leicht zu bewältigen sind und die textlichen Inhalte auf eindrückliche, wenn nicht gar plakative Weise in Musik ausdrücken – auf diese Weise trugen die Oratorien- komponisten den speziellen Bedürfnissen der Gesangvereine Rechnung, streb- ten die Sängerinnen und Sänger doch danach, auf Musikfesten und bei ande- ren Anlässen mit einem ‚großen‘, beeindruckenden Werk zu glänzen, das gleichwohl die Fähigkeiten von Laien nicht überschreiten durfte. Die Bedürfnisse der Musikvereine sind freilich nur eine Dimension des Oratoriums im 19. Jahrhundert. Seine Beliebtheit und die Vielzahl der – heute weitgehend vergessenen – Werke erklärt sich zudem daraus, dass das Orato- rium der ideale Träger für religiöse, nationale und politische Inhalte war, die hier – wie im Nationalismus des 19. Jahrhunderts allgemein – eine enge Verbindung eingehen.5 Auf der Grundlage ‚erhabener‘, ‚menschheitlicher‘ Themen – so der Anspruch, der immer wieder in der ästhetischen Diskussion um das Oratorium im 19. Jahrhundert durchscheint – werden Werke kompo- niert, an deren Aufführung eine große Menge von Ausführenden beteiligt ist. Als musikalisch geeinigtes ‚Volk‘ legen Ausführende und das ihnen applau- dierende Publikum ein öffentliches, emphatisches Bekenntnis zur religiös überhöhten Nation ab – hier werden nationale Sehnsüchte durch Musik über- höht, der zensierte Wunsch nach politischem Handeln kann sich auf scheinbar harmlose, weil ‚nur‘ musikalische Weise Bahn brechen. Die politische Bedeu- tung der Musik- und Sängerfeste wurde von den Zeitgenossen klar erkannt und genutzt. So sorgte auf dem 1. Deutschen Sängerfest 1845 in Würzburg das nationale Bekenntnis der Teilnehmer aus den – damals Dänemark verbunde- nen – Herzogtümern Schleswig und Holstein für größte Begeisterung; Zeitge- nossen berichten, dass es zu einer politisch brisanten Stimmung kam, als das

5 Es wäre müßig, hier eine umfassende Literaturübersicht zum Phänomen der Nationalreligi- osität im 19. Jahrhundert bieten zu wollen. Hingewiesen sei stellvertretend auf die Aufsatz- sammlungen Nation und Religion in der deutschen Geschichte (hrsg. von Heinz-Gerhard

Haupt und Dieter Langewiesche, Frankfurt / New York 2001), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (hrsg. von Wolfgang Schieder, Stuttgart 1993), Religion im Kaiserreich (hrsg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996) und „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert (hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000); dort finden sich zahlreiche weitere Literaturangaben (vgl. auch die entsprechenden Titel in Dieter Langewiesches Forschungs- bericht Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Neue Politische Literatur 40 [1995], S. 190–236). Erwähnenswert ist zudem Michael Salewskis knappe Zusammenfassung des Phänomens vor dem Hintergrund der Zeitgeistfor- schung (Religiöser Zeitgeist und historisches Selbstverständnis. In: Neue Wege der Ideen- geschichte. Fs. Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll, Paderborn

u. a. 1996, S. 173–190), die ihrerseits auf Kurt Kluxens Darstellung Religion und National- staat im 19. Jahrhundert verweist (in: Religion und Zeitgeist im 19. Jahrhundert. Hrsg. von

Julius H. Schoeps, Stuttgart / Bonn 1982, S. 37–57).

13 Schleswig-Holstein-Lied Schleswig-Holstein, meerumschlungen mehrfach ge- sungen und jeweils mit stürmischem Applaus quittiert wurde.6 Dass das Oratorium in diesem Konglomerat aus Nationalismus, säku- larisierter Religion, musikalischer Begeisterung und Feststimmung eine beson- dere Stellung inne hat, wurde bislang noch nicht weiter untersucht. In der Tat entstanden viele Oratorien – überlebt hat nur ein winziger Bruchteil der Oratorienproduktion im 19. Jahrhundert – gezielt für Musikfeste oder beson- dere Anlässe wie etwa das Gutenbergfest 1837 in Mainz.7 In einer besonderen Stimmung allgemeiner Festlichkeit, in Städten, die von weitangereisten ‚Mu- sik-Pilgern‘ nur so wimmelten, in einem gemeinsamen Bemühen um musikali- sche und gesellschaftliche Harmonie wurde das Oratorium zum Höhepunkt des Festes. Seine Aussagen wurden von den Mitwirkenden mit besonderer Emphase umgesetzt und vom Publikum mit besonderer Aufmerksamkeit auf- genommen. Insofern ist die Frage der Themenwahl für den allgemeinen Kontext einer Oratorienaufführung von hoher Bedeutung. Auffälligerweise treten im 19. Jahrhundert zunehmend nationale, nur bedingt oder gar nicht religiöse Sujets in den Vordergrund. Rein zahlenmäßig überwiegen zwar nach wie vor die traditionellen Oratorienstoffe, allen voran Christus-Oratorien – wobei das Augenmerk, analog zu theologischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, zu- nehmend dem Menschen und weniger dem Gottessohn Jesus Christus gilt. Daneben spielen weiterhin die klassischen Stoffe des Alten Testaments eine wichtige Rolle; dabei fällt im Hinblick auf die zeitgenössischen politischen Strömungen eine Konzentration auf die ‚nationalen Volksführer‘ Moses und Abraham sowie auf den ‚guten König‘ David auf.8 Dem gegenüber treten zunehmend patriotische Stoffe hervor: Als religiöse Nationalhelden stehen Bonifatius und Martin Luther im Mittelpunkt von insgesamt über zwanzig Oratorien, darüber hinaus sind Werke über Hermann, Wittekind, Alarich, Otto, die heilige Elisabeth, Gutenberg und Gustav Adolf bekannt. Diese Verlage-

6 Vgl. Georg Lommel: Das erste deutsche Sängerfest in Würzburg von einem nationalen Gesichtspunkte aus betrachtet. Würzburg 1845, S. 53. 7 schrieb sein Oratorium Gutenberg op. 55 im Auftrag der Stadt Mainz für die „Feier der Inauguration der Bildsaeule Johann Gutenbergs in Mainz“ im Jahr 1837 (vgl. Reinhold Dusella: Die Oratorien Carl Loewes. Bonn 1991 [= Deutsche Musik im Osten 1], S. 112). 8 Vgl. die Übersicht der Oratorien zu diesen Gestalten bei Howard E. Smither: A History of

the Oratorio, Vol. 4: The Oratorio in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Chapel Hill /

London 2000, S. 100. Smithers Auflistungen sind nicht vollständig – so führt er fünfzehn Moses-Oratorien auf, weitere Recherchen haben aber zu einer Mindestzahl von sechzehn geführt –, lassen aber deutlich erkennen, dass Moses, David und Abraham zu den beliebtes- ten alttestamentlichen Oratoriengestalten gehören. David wird häufig in Kombination mit Saul dargestellt (hier spielt auch das Vorbild Händels hinein); in den Abraham-Oratorien spielt die Opferszene mit Isaak eine wichtige Rolle.

14 rung entspricht unverkennbar den politischen Ereignissen und geistigen Strö- mungen des 19. Jahrhunderts – als Stichworte seien hier, wie oben bereits erwähnt, der zunehmende Nationalismus und die gegenseitige, gezielt geför- derte Überlagerung von Nation und Religion genannt.9 Doch auch traditionelle biblische Stoffe werden den politischen Bedürf- nissen entsprechend umgefärbt. Obwohl das 19. Jahrhundert von einem zu- nehmenden Antisemitismus gekennzeichnet ist, erfreut sich der Exodus des Volkes Israel unter dem ‚Volksführer‘ Moses bei Oratorienkomponisten weiterhin großer Beliebtheit. Insgesamt ließen sich im deutschen Sprachge- biet sechzehn Oratorien zur Thematik des Exodus ausfindig machen, die im

19. Jahrhundert komponiert und aufgeführt wurden (Tab. 1); möglicherweise entstanden in dieser Zeit noch weitere Werke, über die bislang nichts bekannt ist.10 Die meisten dieser Oratorien konzentrieren sich auf die Gestalt des Moses, der als engagierter Führer seines Volkes und Vollstrecker von Gottes Willen dargestellt wird. Die drei Oratorien, die sich dem Titel nach mehr auf das Volk Israel konzentrieren (Ignaz Xaver von Seyfrieds Die Israeliten in der Wüste, Rudolf J. Schachners Israels Heimkehr und Carl Amand Mangolds Israel in der Wüste), sind nur aus Erwähnungen in zeitgenössischen Musik- zeitschriften bekannt; bislang ließen sich weder die Libretti noch die Noten dieser Werke auffinden, sodass sich über die inhaltliche Schwerpunktsetzung noch nichts sagen lässt. Von den meisten Moses-Oratorien haben sich jedoch Partituren oder zumindest Klavierauszüge erhalten, sodass deutlich wird, welche Episoden aus den Büchern 2. bis 5. Mose (Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium) zusammengestellt und vertont wurden.

9 Ein Buch über Nationalismus, Nationalreligiosität und deutsche Helden im Oratorium des 19. Jahrhunderts ist in Vorbereitung. Vgl. dazu auch folgende Aufsätze der Verfasserin: Apostel der Deutschen: Bonifatius-Oratorien als Spiegel einer patriotischen Bonifatiusver- ehrung im 19. Jahrhundert. In: Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne. Kongressbericht Weingarten 2004. Hrsg. von Dieter Bauer, Klaus Herbers und Gabriela Signori. Stuttgart 2007 (= Beiträge zur Hagiographie 4), S. 337–395; Träger nationaler Gesinnung: Luther-Oratorien im 19. Jahr- hundert. In: Musik zwischen ästhetischer Interpretation und soziologischem Verständnis. Tagungsbericht 2004. Hrsg. von Tatjana Böhme-Mehner und Motje Wolf. Essen 2006 (= Musik-Kultur 13), S. 55–84. 10 In der Tabelle sind nur die Oratorien aufgeführt, die im deutschen Sprachraum entstanden;

Moses-Oratorien in anderen Ländern wurden u. a. von Vincenzo Bellini (Mosè liberatore, 1804), Hector Berlioz (La passage de la mer rouge, 1825), César Félicien David (Moïse au Sinaï, 1846), Edward Dearle (Israel in the Wilderness, 1880) und Jules Emile Frédéric Massenet (La terre promise, 1900) komponiert. In die Tabelle wurden nur Werke aufgenom- men, die im Original eindeutig als Oratorium ausgezeichnet sind, Mischgattungen wie Melodramen wurden nicht berücksichtigt. Das heute allgemein als Oper verstandene Werk Mosè in Egitto (1818, Neufassung 1827) von Gioacchino Rossini trägt im Original die Gattungsbezeichnung „azione tragico-sacra“.

15 Tab. 1: Deutsche Moses-Oratorien im 19. Jahrhundert

Komponist Librettist Oratorium Entstehung /UA Johann N. Hummel ??? Der Durchzug durchs Rote Meer ca. 1800–1810 Konradin Kreutzer Osiander Moses 1814 Seyfried, Ignaz Xaver v. ??? Die Israeliten in der Wüste 1820er-Jahre Friedrich Schneider Adolf Brüggemann, Pharao 1828/29 nach 2. Mose 7–14

Sigismund Neukomm Carl Freiherr von Bunsen / Das Gesetz des alten Bundes 1828/29 Neukomm, nach Worten oder Die Gesetzgebung auf der Heiligen Schrift dem Sinai Franz Lachner Eduard Bauernfeld Moses 1833/34 Carl Loewe Ludwig Giesebrecht, Die eherne Schlange 1834 nach 4. Mose 21,4–9 und Joh 3,14 Karl Ludwig Drobisch ??? Moses auf Sinai 1838 Adolph Bernhard Marx Adolph Bernhard Marx, Mose 1841 nach dem AT Anton Berlijn L. Philippson Moses auf Nebo 1843 Aloys Schmitt Wilhelm Kilzer Moses 1843 Rudolf J. Schachner Thomas Moore, bearb. Israels Heimkehr 1861 durch Emanuel Geibel Carl Amand Mangold ??? Israel in der Wüste 1863 Rudolf Thoma Diakonus Zachler Moses 1868 Salomon Hermann Moses 1887–89, 1892 von Mosenthal Max Bruch Ludwig Spitta Moses 1894/95

Die meisten erhaltenen Moses-Oratorien des 19. Jahrhunderts wurden zwischen den späten 1820er- und den frühen 1840er-Jahren komponiert. In den 60er- Jahren sind drei Oratorien nur durch Rezensionen nachgewiesen; in den 90er- Jahren entstanden dann die umfangreichen Werke von Anton Rubinstein und Max Bruch, die durch gedruckte Partituren, Klavierauszüge und eigenständig veröffentlichte Libretti gut belegt sind. Zu fragen wäre hier, warum sich Moses- Oratorien in einem bestimmten Zeitraum geradezu häuften, während der Stoff in anderen Jahrzehnten offenbar gemieden wurde. Die Pause zwischen den 1860er- und den 1890er-Jahren könnte auf Einflüsse des zunehmenden Antisemitismus seit den 1870er-Jahren hinweisen – immerhin stehen in den Moses-Oratorien der wichtigste Abschnitt aus der Geschichte des Volkes Israel und das Leben seines ‚Nationalhelden‘ Moses im Mittelpunkt. Allerdings mag es durchaus sein, dass im Zeitraum 1860–1890 Oratorien über diesen Stoff entstanden sind und aufgeführt wurden, ohne dass sich davon Nachrichten erhalten haben. Ob die beiden großen Moses-Oratorien in den 1890er-Jahren dann – in Verbindung mit einem erhabenen ‚nationalen‘ Stoff – das Streben nach Monumentalität, nach einer umfassenden Vereinigung mehrerer Künste widerspiegeln, wie es sich in vielen Werken dieser Zeit abzeichnet, wäre gleichermaßen zu fragen.

16 Die verhältnismäßig große Zahl an Moses-Oratorien dürfte darauf zu- rückzuführen sein, dass der Stoff, ungeachtet der zeitgenössischen antisemiti- schen Strömungen, den Bedürfnissen des Oratorienpublikums im 19. Jahrhun- dert entgegenkam.11 Dass hier in einer Zeit des wachsenden Nationalismus auch politische – und, damit untrennbar verbunden, nationalreligiöse – Be- dürfnisse hineinspielen, ist unverkennbar: Ein Volk wird durch göttliche Vor- hersehung aus der Knechtschaft befreit und dabei von einem starken, (weit- gehend) integren Führer geleitet, auf dem Weg in die Freiheit schließt es einen Gesetzesbund mit Gott, der die Nation ‚verfassungsmäßig‘ begründet; schließlich erhält das auserwählte Volk das Land, das es zur Nationsgründung benötigt. Auch im Detail stellen die vier Bücher des Pentateuch, dabei vor allem das Buch Exodus, den idealen Stoff für ein Oratorium zur Verfügung: Die Bibel bietet mit der Aussetzung und Errettung des Moses, seiner Flucht und Berufung, seinen Verhandlungen mit dem Pharao, den zehn Plagen, der Einsetzung des Passa, dem Durchzug durch das Rote Meer und der Vernich- tung der Ägypter, der Gesetzgebung am Sinai und den zahlreichen Konflikten auf der Wüstenwanderung des Volkes Israel sowie dem vielfachen Kampf um das Gelobte Land eine dichte Folge von dramatischen Episoden, Katastro- phen, wundersamen Errettungen und Intrigen – sogar eine zart angedeutete Liebesgeschichte (Moses und Ziporah) ist dabei. Volksszenen nähern den Stoff an ein Opernlibretto an, und auch für ein breites Spektrum an Gefühlen ist gesorgt: Der ‚Held‘ Moses ist keineswegs ein flacher Charakter, sondern er leidet, bei aller Erregbarkeit zum gerechten Zorn, unter Selbstzweifeln und Ängsten, steht so manches Mal vor der Resignation, um dann doch durchzu- halten, seinem Gott treu zu bleiben, sein Volk in das verheißene eigene Land zu führen – und dann noch einen visionären Heldentod auf der Schwelle zum Gelobten Land zu sterben. Kein Wunder also, dass der Stoff seit dem 17. Jahr- hundert bis in die jüngste Zeit in Oratorien, Opern, Kantaten, Balletten, Motetten und Chorstücken vertont wurde – sogar ein Musical Holy Moses! erschien im Jahr 1998, demgegenüber wurde 1843 auf dem Gebiet der drama- tischen Bearbeitung die Posse in 3 Akten Moses und die Propheten in uraufgeführt.12 Gerade im 19. Jahrhundert dürfte die nationale Befreiungs- und Gründungsthematik beim Publikum eine besondere Saite angerührt ha- ben. Charakteristischerweise fließen in den Moses-Vertonungen des 19. Jahr- hunderts die Gattungsgrenzen häufig ineinander – zahlreiche Werke sind als 11 Zu den antisemitischen Strömungen, die bei der Untersuchung von Moses-Oratorien stets

mit zu bedenken sind, vgl. unten, S. 19 f. 12 Die Songtexte und die Musik zum Musical Holy Moses! stammen von Sean Hartley, das Textbuch von Bob Kosby; der Text zur Posse Moses und die Propheten wurde von W. Drost und Eduard Jacobsen verfasst und mit einer Bühnenmusik von Gustav Michaelis ausge- stattet. Zu den zahlreichen Vertonungen des Moses-Stoffes vom 17. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert vgl. Alexander Reischert: Kompendium der musikalischen Sujets. Ein

Werkkatalog. 2 Bde., Kassel u. a. 2001, Bd. 1, S. 680–686.

17 Melodrama, Bühnenmusik, geistliche Oper oder Biblisches Drama ausge- zeichnet; im 20. Jahrhundert verzichtete man dann häufig ganz auf eine Gattungsbezeichnung. Dies verweist auf das grundsätzliche Problem der Ora- torienästhetik im 19. Jahrhundert, die im vielfachen Widerstreit einzelner Parteien zu keiner verbindlichen Gattungsdefinition führte; hier lässt sich allenfalls die zunehmende Tendenz zu Dramatisierung der Gattung feststellen, die im Extremfall die Bühneninszenierung von Oratorien und somit die Verwi- schung der Gattungen Oratorium und Oper zur Folge hatte.13 Auffallend ist, dass gerade Moses-Oratorien in der ästhetischen Diskussion eine zentrale Rolle spielen, komponierte doch der Musiktheoretiker Adolf Bernhard Marx im Laufe der 1830er-Jahre den Mose gewissermaßen als Anschauungsmodell für seine Auffassung von einem dramatischen Oratorium.14 Nicht zufällig stimmt diese Tendenz der Oratorienästhetik mit der Dramentheorie um die Mitte des 19. Jahrhunderts überein – und wieder bietet sich ein Stoff wie der Auszug des Volkes Israel sowie seine Behandlung im Oratorium als ideales Sujet an: Kunst und Musik sind zunehmend politisch und sozial verankert, die Kämpfe des Einzelnen, bislang im Zentrum der Tragödie, treten in den Hinter- grund, es geht nunmehr um die großen Auseinandersetzungen im Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit – Auseinandersetzungen, die von ganzen Völkern getragen und von einzelnen Führern allenfalls angeleitet werden.15

13 Tatsächlich bezeichnete Anton Rubinstein seine beiden letzten großen Bühnenwerke als „geistliche Opern“ und beanspruchte dabei für sich, damit eine eigenständige Gattung erfunden zu haben, die eine spezielle Infrastruktur bis hin zum eigens geschulten Personal verlangte. Vgl. dazu Anton Rubinstein: Die geistliche Oper. In: Vor den Coulissen, 2 Bde., hrsg. von Josef Lewinsky. Berlin 1881/82, Bd. 2, S. 46–54, sowie Annakatrin Täuschel: Anton Rubinstein als Opernkomponist. Berlin 2001 (= studia slavica musicologica 23), S. 138–144, und Linda Maria Koldau: Entgeistlichung der Bibel: Anton Rubinsteins geistliche Opern Moses (1887–1889) und Christus (1892–1894). In: Gotteswort und Men- schenrede. Die Bibel im Dialog mit Wissenschaften, Künsten und Medien. Hrsg. von Ralf

Georg Czapla und Ulrike Rembold. Bern u. a. 2006 (= Jahrbuch für Internationale Germa- nistik. Reihe A: Kongressberichte 73), S. 175–257. – Zur Oratorienästhetik des 19. Jahr- hunderts vgl. den Überblick von Winfried Kirsch: Oratorium und Oper. Zu einer gattungs- ästhetischen Kontroverse in der Oratorientheorie des 19. Jahrhunderts (Materialien zu einer Dramaturgie des Oratoriums). In: Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. Fs. Günther Massenkeil zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Rainer Cadenbach und Helmut Loos. Bonn 1986, S. 221–254. Eine umfassende Studie zur Thematik steht noch aus; einen knapp gehaltenen Überblick bietet neben Kirschs Studie Erich Reimers Artikel „Oratorium“, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht,

Loseblattsammlung, Stuttgart 1972 ff. 14 Vgl. Michael Zywietz: Adolf Bernhard Marx und das Oratorium in Berlin. Eisenach 1996 (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 6). Zur zeitgenössischen Kritik am Libretto von Händels Israel in Egypt vgl. die Rezensionen in der Allgemeinen musikalischen Zei- tung 38, 1836, Sp. 195 und 765, sowie in der Neuen Zeitschrift für Musik 16, 1842, S. 74. 15 Vgl. Otto-Reinhard Dithmar: Deutsche Dramaturgie zwischen Hegel und Hettner und die Wende von 1840. Diss. Heidelberg 1960, S. 46.

18 Das Oratorium, im 19. Jahrhundert aus den benannten musiksoziologischen Gründen primär chorisch besetzt, bietet sich als ideale musikalische Gattung für ein solches Drama an. Und kein Stoff wäre besser dafür geeignet als der Auszug des Volkes Israel in das eigene Land, der nichts anderes darstellt als die Konstitution einer auf ‚guten‘ Gesetzen gegründeten Nation. Als ein weiterer Grund für die Beliebtheit des Moses-Stoffes ist schließlich die Händel-Renaissance im 19. Jahrhundert zu beachten, in der das Chor- Oratorium Israel in Egypt (1738) – in deutscher Fassung als Israel in Ägypten aufgeführt – eine wichtige, wenn auch nicht unumstrittene Rolle spielte. 1827 veröffentlichte Heinrich Carl Breidenstein eine Übersetzung und Einrichtung dieses Oratoriums, das mit seinem großen Chor-Anteil einzig unter den Orato- rien Händels dasteht. 1831 wurde Israel in Ägypten in Berlin aufgeführt, 1833 stand es, von Bartholdy dirigiert, im Mittelpunkt des Niederrheinischen Musikfestes, dem größten jährlich veranstalteten Musik- festival des 19. Jahrhunderts. Weitere Aufführungen mit großer Besetzung folgten: Gerade durch seinen großen Chor-Anteil, der die Anerkennung des Werks im England des 18. Jahrhunderts behinderte, eignete sich Israel in Ägypten für die musikalischen Bedürfnisse des 19. Jahrhunderts, ging es im Oratorium doch wesentlich darum, die sangesfreudigen Mitglieder von Mu- sikvereinen zu beschäftigen und ihnen attraktive Chorsätze zu bieten. Der hohen Wertschätzung entsprechend, die man Händels Musik und besonders seinen Oratorien entgegenbrachte, wurden die Aufführungen von Israel in Ägypten in der zeitgenössischen Musikpresse mit Aufmerksamkeit verfolgt und kommentiert, wobei freilich auch Kritik an der epischen Herangehenswei- se und dem Überwiegen der Chöre geäußert wird.16 Durch diese Rezensionen und Debatten gelangte Israel in Ägypten vermutlich besonders eindringlich in das Bewusstsein der musikalisch interessierten Öffentlichkeit und bot sich somit Oratorienkomponisten als Vorbild und Maßstab für eigene Werke an. Gleichwohl blieb der Stoff nicht unproblematisch – handelt es sich doch um die zentrale Gründungsgeschichte des Volkes Israel, und das in einer Zeit zunehmender Diskriminierung der Juden in Deutschland. In vielfacher Weise wurden Juden vom öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen, neue Formen des Antisemitismus wurden durch die politische und gesellschaftliche

Entwicklung – u. a. die Auflösung patriarchalischer und korporativer Strukturen im Zuge einer Verbürgerlichung der Gesellschaft – befördert.17 Dem wirkte ein zunehmendes Bemühen um Assimilation, aber auch um bewusste Stiftung einer jüdischen Identität entgegen, wie etwa die Gründung des Vereins für Kultur und Wissenschaft der Juden 1821 in Berlin, der allerdings nur bis 1824 bestand (zu

16 Vgl. Zywietz, S. 29–33. 17 Vgl. Eleonore Sterling: Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland (1815–1850). München 1956.

19 den Mitgliedern zählten u. a. Heinrich Heine, Immanuel Wolf, Eduard Gans und Julius Mosen). Nach wie vor galt das Bekenntnis zum jüdischen Glauben als Ausschlusskriterium für öffentliche Ämter in zahlreichen Ländern; nur die Konversion öffnete die Türen in die höheren sozialen und intellektuellen Kreise.18 Vor diesem Hintergrund erscheint die Komposition von Oratorien über den Auszug des Volkes Israel geradezu als Provokation – ob die Komponis- ten und Librettisten jüdischer Abstammung waren oder nicht. Tatsächlich war Adolf Bernhard Marx, dessen Mose als ‚Modell‘ für seine Vorstellung von einem dramatisch geprägten Oratorium in den 1840er-Jahren vergleichsweise große Aufmerksamkeit erhielt, konvertierter Jude – mit Taufnamen hieß er Samuel Moses, und nach eigener Aussage war er bereits als Jugendlicher von der Gestalt des Moses so fasziniert, dass er eine Gestaltung in „rein dramatischer Form“ ins Auge fasste.19 Ebenso hatte Felix Mendelssohn Bartholdy – evan- gelischer Christ jüdischer Abstammung und Enkel des Moses Mendelssohn – Pläne zur Komposition eines Moses-Oratoriums gefasst; das Libretto dazu sollte ihm sein Freund Adolf Bernhard Marx liefern, umgekehrt sagte Mendels- sohn Marx ein eigenes Libretto zu diesem Stoff zu.20 Auch bei Anton Rubin- stein, dem russischen Pianisten und Komponisten deutsch-jüdischer Abstam- mung, ist zu fragen, warum er vier Opern auf alttestamentliche Stoffe schrieb und wie er und sein Librettist Samuel Hermann Ritter von Mosenthal – ebenfalls jüdischer Abstammung – dazu kamen, eine Moses-Oper zu schreiben.21 Auf jeden Fall beeinflusste die Stoffwahl grundsätzlich die Rezeption und Beurteilung eines Oratoriums – Komponisten von Moses-Libretti hatten demnach damit zu rechnen, dass ihr Stoff unter Vorbehalten und möglicherweise mit Vorurteilen aufgenommen wurde, dass bestimmte Gruppen ihre Werke missdeuten oder sogar instrumentalisieren konnten.22 So konnte ein Moses-

18 Vgl. die knappe Darstellung bei Zywietz, S. 126–134.

19 Adolf Bernhard Marx: Erinnerungen. Aus meinem Leben. Berlin 1865, Bd. 1, S. 60 f. 20 Vgl. Edgar Kellenberger: Felix Mendelssohn als Librettist eines Moses-Oratoriums. Erst- edition mit Kommentar. In: Musik und Kirche 63 (1993), S. 126–139.

21 Vgl. Koldau, Entgeistlichung (wie Anm. 13), S. 184 f. Vom gebürtigen Kasseler Dichter Mosenthal stammen insgesamt drei Libretti zu Rubinsteins Opern: Die Kinder der Heide (1860; Libretto gestaltet nach Carl Becks Versroman Janko), Die Makkabäer (1872–1874, Libretto nach dem gleichnamigen Trauerspiel von Otto Ludwig und nach dem Buch der Makkabäer) und Moses (1887–1889, Libretto nach dem 2. bis 4. Buch Moses). Mosenthal wurde berühmt für sein Volksstück Deborah (1848), in dem er das jüdische Leben in der Spannung zwischen Tradition und Emanzipation im Österreich des 18. Jahrhunderts thema- tisiert und sich dabei für die friedliche Koexistenz von Juden und Christen als Alternative zur völligen Assimilation ausspricht. Darüber hinaus hat Mosenthal über 20 Dramen und zahlreiche Operntexte verfasst. Abgesehen von der Thematik seines Erfolgsstücks Deborah und von den Libretti für Rubinstein hat Mosenthal dabei keinen Schwerpunkt auf jüdische oder jüdisch-christliche Themen gelegt – hier steht die Frage im Raum, ob die Anregung zu dieser Themenwahl von Rubinstein kam.

22 Vgl. Zywietz, S. 140 f.

20 Drama oder Oratorium im 19. Jahrhundert als ‚Denkmal‘ für den verehrten oder aber angefeindeten Religionsstifter gelesen werden.23 Ebenso ließ sich ein solches Werk als Ausdruck jüdischen Selbstbewusstseins lesen, sei es von assimilierten Juden, die Wert auf ihre Identität als deutsche Juden legten, oder von Vertretern der Orthodoxie, denen eine Darstellung biblischer Personen im Drama freilich ein Dorn im Auge sein musste. Der Stoff wurde durch seine Verarbeitung beliebigen Interpretationen preisgegeben und damit in der Regel der Assimilation an bestimmte Vorstellungen und Glaubenshaltungen, ob eine solche Deutung von Librettisten und Komponisten beabsichtig war oder nicht. So schreibt der Musikforscher und Publizist Otto Jahn 1848 mit Bezug auf Mendelssohns Elias:

Der wahre Künstler, der einen jüdischen oder heidnischen Stoff behandelt, muthet uns nicht etwa zu, uns zu Juden oder Heiden zu verleugnen, sondern erfaßt das rein Menschliche desselben, und indem er, ein Kind seiner Zeit, ihn durch freie geistige Thätigkeit neu reproducirt und den ewigen Gesetzen seiner Kunst gemäß gestaltet, macht er ihn zum Eigenthum aller Zeiten, die für Kunst empfänglich sind.24

Der alttestamtentliche Stoff wird somit zum Werkstoff für die freie künstleri- sche Gestaltung – reduziert auf das „rein Menschliche“, steht er Christen wie Juden und „Heiden“ beliebig zur Verfügung. In eine andere Richtung geht die typologische Vereinnahmung der jüdischen Gründungsgeschichte. In Carl Loewes Männerchor-Oratorium Die eherne Schlange wird der „geschicht- liche Stoff“ aus 4. Mose 21,4 –9 (die Episode von der Schlangenplage in der Wüste) mit dem „dogmatischen Inhalt“ aus Johannes 3,14 (das Christuswort „Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschen- sohn erhöht werden“) kombiniert.25 Die alttestamentliche Episode wird dem- nach, Johannes 3,14 folgend, auf das Neue Testament und somit auf Christus bezogen, eine Lesart, die Loewe durch die Verwendung von christlichen Choralsätzen, darunter der Passionschoral O Haupt voll Blut und Wunden, verstärkt. Der Textdichter Ludwig Giesebrecht gibt in der Ausgabe seiner Gedichte an, dass er das Libretto zu diesem Werk auf den Wunsch von Loewe

23 Die Gleichsetzung von Oratorien mit Denkmälern ist für das 19. Jahrhundert keineswegs aus der Luft gegriffen, da sich in der oratorischen Darstellung vor allem von historisch belegten und nationalen Helden die gleichen Motivationen abzeichnen wie im allgegenwärtigen Bemühen, die Geschichte der eigenen Nation in Denkmälern fassbar zu machen und zu feiern (ein entsprechendes Kapitel wird im erwähnten Buch über Nationalismus, Nationalreligiosität und deutsche Helden im Oratorium des 19. Jahrhunderts erscheinen, vgl. Anm. 9). 24 Otto Jahn: Ueber Felix Mendelssohn Bartholdy’s Oratorium Elias. In: Ders., Gesammelte Aufsätze über Musik. Leipzig 1866, S. 40–63, hier S. 42. 25 Die Gegenübersetzung von „geschichtlichem Stoff“ und „dogmatischem Inhalt“ stammt von Loewes Textdichter Ludwig Giesebrecht.

21 schrieb – ob die gezielte christliche Vereinnahmung der alttestamentlichen Episode auf ihn oder auf den Komponisten zurückgeht, bleibt offen.26 Obwohl diese Art der typologischen Deutung des Alten Testaments auf uralte christ- liche Tradition zurückgeht, wurde sie im Oratorium des 19. Jahrhunderts in der Regel nicht mehr so plakativ eingesetzt. So war die einseitig christliche Lesart von Loewe und Giesebrecht in der zeitgenössischen Rezeption durchaus umstritten: Mit Vehemenz lehnte der Herausgeber der Allgemeinen musikali- schen Zeitung, Gottfried Wilhelm Fink, die Kombination von jüdischen und christlichen Elementen in Loewes Oratorium ab, da es auf diese Weise zu einer willkürlichen Fehlinterpretation des Alten Testaments komme.27 Auch die Reduktion des Stoffes auf das reine Drama, das zudem breiten Raum für orientalische Exotismen bietet (so in der geistlichen Oper Moses von Anton Rubinstein), bedeutet eine Verfremdung des eigentlichen Sinnge- halts und somit eine Enteignung des jüdischen Testaments. Dem steht die völlige Vermeidung ‚jüdischer‘ Elemente gegenüber, wie im kantatenhaften Werk Das Gesetz des alten Bundes oder Die Gesetzgebung auf dem Sinai (1829) des katholischen Komponisten Sigismund Neukomm, der das Libretto zusammen mit dem Hymnologen Carl Freiherr von Bunsen auf der Grundlage des Dekalogs konzipierte. Hier treten keine Personen auf, Moses spielt gar keine Rolle – viel mehr werden die zehn Gebote von Chören verkündet und mit Bibelworten in Form von Arien, Rezitativen und Chorsätzen kommentiert. Das Werk wird abgeschlossen von einer Chorfuge auf den Text des Sanctus, das angesichts der katholischen Sozialisation von Komponist und Librettist eher als christlich-liturgischer Text zu lesen ist denn als alttestamentliches Zitat aus Jesaja 6. Die zehn Gebote werden in diesem Werk somit als rechtli- che Grundlage der christlichen Glaubensgemeinschaft interpretiert, von den jüdischen Ursprüngen ist hier keine Rede mehr. Noch einen Schritt weiter geht der Komponist Rudolf J. Schachner mit seinem „Oratorium in vier Gesängen“ Israels Heimkehr (1861). Das ungewöhn- liche Werk, das ebenfalls eher kantatenhaften denn oratorischen Charakter trägt, basiert auf Hymnendichtungen des irischen Dichters Thomas Moore (1779–1852), die von dem evangelischen Theologen und Dichter Emanuel Geibel durch verbindende Rezitative aus Bibeltext ergänzt wurden. Das ‚Pro- gramm‘ dieses Werks kommt in den Überschriften der vier „Gesänge“ (kurze Abteilungen, die aus Arien, Chorsätzen und Rezitativen bestehen) zum Aus- druck: Gefangenschaft – Befreiung – Versöhnung – Verheißung. Tatsächlich kommt es hier zu einer geradezu anachronistischen Vermischung verschiede- ner Abschnitte aus der Geschichte des Volkes Israel, die von den allgemein

26 Ludwig Giesebrecht: Gedichte. 2 Bde., Stettin 21867, Bd. 1, S. 467. 27 „Wer darf sich die Freiheit erlauben, das Wesen des Alten Testaments so völlig zu verdre- hen?“ Gottfried Wilhelm Fink: Die eherne Schlange. In: Allgemeine musikalische Zeitung 37 (1835), Sp. 498–495, hier Sp. 494.

22 gefassten Überschriften zusammengehalten werden. So verweist der erste „Gesang“, Gefangenschaft, mit seinen Bezügen auf Babylon und die Wasser- fluten (vgl. Psalm 137) eher auf die babylonische Gefangenschaft als auf die Knechtschaft des Volkes Israel in Ägypten – ein chronologischer Unterschied von rund 700 Jahren. Mit dem „Siegeschor und Lied“ Laßt die Pauken schallen im zweiten „Gesang“ verweist der Textkompilator Geibel dann aber doch auf den Exodus, endet dieser Chor doch mit den Versen „Die Wagen, die Reiter, all’ herrlich und hehr, / Wie eitel ihr Stolz; denn der Herr hat gespro- chen, / Und Wagen und Reiter versanken ins Meer.“28 Auch das anschließende Sopran-Solo mit der Frage „Wer kehrt zurück zu bringen Egypten die Kunde / Von euch, gesendet im stolzen Muth?“ zeigt, dass mit der „Heimkehr“ Israels doch der Exodus gemeint ist. Im folgenden „Gesang“, Versöhnung, wird diese Verankerung mit Hinweisen auf die Wüstenwanderung bestätigt – die „Abend- hymne“ jedoch, eine Übersetzung von Thomas Moores Hark! ’t is the breeze of twilight calling, hat Geibel im Stil eines Kirchenliedes übersetzt, sodass hier ein unvermuteter Bezug zur christlichen Hymnologie auftritt. Dies ist der einzige Abschnitt des Oratoriums, der aus dem biblischen Wortlaut heraus- fällt. Der letzte „Gesang“, Verheißung, besteht durchweg aus Psalmversen, die gleichermaßen als jüdisch und christlich konnotiert gelesen werden können. Durch die überwiegende Beschränkung auf das Bibelwort oder aber einen biblischen Duktus in den frei gedichteten Abschnitten erhalten die Themen der einzelnen „Gesänge“ in Schachners Oratorium einen überkonfessionellen, überzeitlichen Charakter. Indem die Bezüge zum Buch Exodus nur angedeutet werden, lassen sich Gefangenschaft, Befreiung, Versöhnung und Verheißung durchaus als allgemein menschliche Situationen lesen, die nicht notwendiger- weise in der Geschichte des Volkes Israel verwurzelt sein müssen – zudem war die typologische Lesart im 19. Jahrhundert noch immer so gegenwärtig, dass kein Christ an einer Gleichsetzung seiner Notlage mit den Nöten des Volkes Israel Anstoß genommen hätte. Die Abendhymne jedoch, die als pastorales Duett von Sopran und Tenor gesungen wird, stellt einen unverkennbaren Bezug zur Ausdrucksweise christlich-geistlicher Lyrik her, sodass auch hier von einer christlichen Vereinnahmung des alttestamentlichen Stoffes auszugehen ist. In den Libretti, die auf eine epische oder dramatische Nacherzählung des Exodus bedacht sind und sich somit enger an den Stoff der Mosesbücher halten, fällt die Konzentration auf einige der beliebtesten – weil ‚dramatisch- sten‘ – Episoden auf (vgl. Tab. 2). So wird mit Vorliebe die Berufungsszene am brennenden Dornbusch dichterisch-musikalisch gestaltet; charakteristisch für die Oratorienästhetik des frühen 19. Jahrhunderts ist in Konradin Kreut- zers Oratorium, dass die Stimme Gottes durch die Stimme eines Engels ersetzt ist, da es als unschicklich galt, die Stimme Gottes oder Christi durch einen

28 Librettodruck Berlin 1861, S. 7.

23 vs. Volk und Sendung nicht Gott, sondern ein vision des Moses typologische Kreuzes- Besonderheiten Einstieg, danach dramatisch Gattungszuordnung, mus. Gestaltung Nahesson Ahieser 8 Oberste Levitengeschlechter Chöre des Volkes Eleasar (Hohepriester) Dina Chöre Engel spricht als Bote Mose – lyrischer Personen 3,14–15) Ahaliab eingebunden übernommen Verkündigung des 5.–10.Bibelversen)aus indirekt Dekalogs des Ende: Elizur typologische Vorausnahme der Auferstehung Christi Elisama => endet mit Ausblick auf dieErrettung Israels durch MosesEnde: Gotteslob (Chor) Chöre: Midianit. Hirten und Hirtinnen, Engel –Moses: des Konflikt keine Namensnennung Familie und Frieden 1) Verkündigung des 1.–4. (mit AngabeIm Lager der Israeliten (Wüste): nur Soli und Chöre freie Dichtung Rezitativen, Chören, Chorfugen Exodus, allgemein- Berufung in Midian freie Dichtung Moses – lyrisch-pastorale Dichtung – Moses fordert die Be- Dekalog Bibel Personen, keine – Kantate: Reihung von kein expliziter Bezug auf Das Moses Vergleich ausgewählter Libretti von deutschen Moses-Oratorien des 19. Jahrhunderts op. 40 Schlangen-Episode Oratorium Episoden Textherkunft

, Or. in 1)–Moses Liebesgeschichte Jethro –Cavatine,Rez.-Arie, Formen: Zeichen als gegnung /

Die eherne , Or. in 2 Abt. Gebots, bibl. KommentarTextstellen) der und Arien, keine Handlung (nur christliche Interpretation Bundes (1829)Libr.: zusammen-gestellt von Bunsenund Neukomm Ende: Gebots, bibl. Kommentar 2) Gotteslob (Sanctus, Chorfuge) – Muster: Gebot – Kommentar – Verkündigung der Gebote (Chor) durch Arien, Chöre, Rez. für Männerstimmen typologische Verbindung Bezaleel Kurzsoli in Chorstimmen Fürsten und vom Volk (1834), Vocal-Or.21); Mose (4. Libr.: L. Giesebrecht zum NT (Joh Ithamar –Chöre,durchweg Formen: => zum Schluss von den Teilen“)Erstgeburt)der Todes des Ein Engel(Totschlag) erzählt => Gott spricht nicht, Libr.: Osiander 2) Innerer Konflikt des Moses, Schlange („Cantate in zweiin („Cantate Voraussage(mit Berufung HirtenEdomit. 2 – dramat. Episoden im RückblickMoses mit Gottes Libretto Kreutzer, Neukomm, Gesetz des alten Loewe, Sendung 2 Teilen (1814) Ziporah Zipora Pastorale, Romanze, Duett, – Tab. 2:

24 achjagen der Ägypter Mutter als Mittlerinnen eingeführt Korah als Meuterer Besonderheiten Mauerschau Schlacht nur per blick erzählt (Moses im Phanor: der Frauen episch: – N Gattungszuordnung, mus. Gestaltung Königin von Ägypten – Personen einzelne Ägypter – Aufschub der Katastrophe Kohrah „dramatisch“: – a. durch Aaron durch Vermittlung – Pharaos Frau und

freie Dichtung Mose Psalmverse Mirjam der Bücher Mose Midian Volk Miriam Gebot Jungfrauen Murren des Volks; Meutereides Kohrah (knapp)ohne ArmeVerkündigung 1. Ein Greis Tochter Seine Chöre: Volk Israel, „Gericht“ (2 Plagen: Blut und – Finsternis; Tod der Erstgeburtnur indirekt) Stimme Gottes –pernur Durchzug Pharao Rache = erste Plagen (Unwetter, Finsternis) Tod der Erstgeburt Chor der Ägypter Duett, Chöre Rückkehr aus Midian ein), Phanor, Königssohn – Formen: Rez., Romanze, Liebe Mirjam – Phanor 3. Der Bund– Wüstendurchzug: Lob und– Schlacht per Mauerschau,– Vision Christi (Jesaja) x Ende: Gottes Verkündigung des 1. Gebots (Alleinanspruch; Solo für Stimme Gottes)Krieger einzelne Ein Jüngling Pharaos MutterKrieger, Ägypter, Mauerschau – Durchzug per Mauerschau 2) Vermittlung durch Phanor, 3) Durchzug Ende: Gotteslob (Chor) – Verhandlung mit Pharao als – Berufung des Mose in 2. Das Gericht v. , Or. , Verhandlung und Durchzug freie Dichtung Moses – Vorgeschichte im Rück-Ägypters des Figur (1841) 1. Die Berufung – Bibel Oratorium Episoden Textherkunft Moses

/

Mose in drei Abt. (1833) 1)Fronherrschaft, Israels Libr.: Bauernfeld vor Pharao (setzt bei Moses Pharao Schilf) Vermittlung; Libretto Lachner, Marx, Libr.: MarxLibr.: – Fronherrschaft in Ägypten – AusschmückungIsraeliten einzelne – szenische AnweisungenÄgypten in bereits

25 des Osiris, rael, Egyptische Frohnvogt; Der rauen und Mädchen des Dekalogs an das Volk für die Israeliten am Sinai statt später Pharaonentochter Moses als Retter Israels israelitischen Konfliktes (Ex 2,13–14) arao, König von Egypten; – direkte Verkündigung – Meuterei des Korah – Fürsprache der — Besonderheiten (inszeniert) und weiterdramatisierend – Prophezeiung über lyrisch-reflektiv Gattungszuordnung, mus. Gestaltung 2 allgemein, nicht Exodus Hinweise auf Exodus und Chöre freier Text (Th. Moore),Personen, keine – => überkonfessionelles => Freiheitsfest schied und Entrückung des Moses am Sinai, Meuterei Korahs Gotteslob Programm: Elend => über Israel 2 Plagen (Finsternis, Erstgeb.) Befreiung: Siegeschor,Triumph Versatzstücken, kaum Solo-Rollen Abendhymne (pastoral) Berufung des Moses Oper – Wegfall des inner- Ende: gemeinsamer Lobpreis des Moses (Engel und Volk) 7) Verkündigung des Dekalogs 8) Schlacht gegen Moabiter, Ab- Ende: Gotteslob (Chor) Errettung 5) Passa und Durchzug 6) Lobgesang 4. Verheißung: Gottesvolk und 4) Verhandlung mit Pharao, Episoden Textherkunft Personen 1) Gefangenschaft: Klage, – Gesamtdarstellung des Exodus freie Dichtung nach Ex. 25 Solisten, – vollkommen dramatisch –Job des Figur (1861) 2) Israels 1 , Or. inKampfzum Aufruf sehr allgemein mit bibl. nur verschiedene –Arie, Rez., Chor, Formen: Oratorium

/

(1887–89), 1) Errettung des Kindes Moses Umdeutung des Passa 17 Chöre Hauptmann der Krieger; Job, ein israelitischer Greis; Stimme Gottes; Jethro, Midianitischer Priester; Zipora, seine Tochter; Ph Ein Bote; Miriam; Eine Stimme; Aaron; Korah; 4 Priester-Leviten; Kur; Josua; Balak, König von Moab; Bileam, der Seher. Chöre: F Krieger, Chor der Himmlischen, Nachtgeister, Hauptleute Balak’s, Krieger Israels. im Gefolge Asnath’s, Israeliten, Egyptische Krieger, Himmlische Heerschaaren (Knabenchor), Töchter Midian’s, Edomiten, Priester Priesterinnen der Isis, Gefolge Pharaos und Asnath’s, Volk von Egypten, Die Ältesten Israel’s im Moses, Is 4 Gesängen Emanuel Geibel 3. Versöhnung: Gottes Gnade – Bibeltext (E. Geibel), 8 Bildern, op. 112Libr.: MosenthalÄgyptersdes Erschlagung 3) Midian: Rettung der Zipora, –undVokal- alle Formen: Instrumentalformen der – Parteinahme der Moses für Israeliten Libr.: Th. Moore, Libretto Schachner, Heimkehr Rubinstein, Moses Geistliche Oper in 2)Israel, über Fronherrschaft 12 „Zum ersten Male aufgeführt durch die Sing-Akademie [Berlin] zum Besten des Gustav-Adolph-Vereins.“ Asnath, Tochter Pharao’s, König von Egypten; Johebet, eine Israelitin; Miriam, ihre Tochter; Eine Sclavin Asnath’s; Moses; Der

26 Menschen singen zu lassen.29 Dankbar für eine packende, dramatisch empfun- dene Vertonung erweisen sich auch die zehn Plagen – in den Oratorien werden meist nur die plakativsten ausgewählt – und der Durchzug durchs Rote Meer. Dabei bot das Oratorium gerade den Vorteil, dass diese bühnentechnisch anspruchsvollen Episoden in dieser Gattung ganz in die Musik verlegt werden – das sparte nicht nur Geld, sondern regte auch die musikalische Kreativität an. Denn gerade der Mangel einer szenischen Darstellung forderte die Kom- ponisten dazu heraus, diese Ereignisse musikalisch möglichst anschaulich darzustellen. Plakative Wortmalerei war im 19. Jahrhundert freilich nicht mehr erwünscht: Die Kritik an den hüpfenden Fröschen in Händels Israel in Ägypten (Froschplage: Arie The land brought forth frogs für Alt oder Counter- tenor), die Heinrich Carl Breidenstein 1827 in der Präsentation seiner Einrich- tung dieses Oratoriums äußert, zeigt, dass allzu bildliche Wortausdeutung, wie sie zu Händels Zeit noch selbstverständlich war, im 19. Jahrhundert nicht mehr als ästhetisch adäquates Ausdrucksmittel galt.30 Die großen Unterschiede in der Besetzung und im Umfang der Werke (angezeigt durch die Anlage der Libretti, die von einer Einzelepisode bis hin zu einer episodenweisen Zusammenfassung des 2. bis 4. Buch Mose variieren) lassen erkennen, wie groß der Spielraum ist, den der Moses-Stoff den Libret- tisten und Komponisten bot. Die Skala der musikalischen Gestaltung reicht von einer lyrisch-kantatenhaften Darstellung (Kreutzer; Neukomm) bis hin zum Bühnendrama (Rubinstein; Marx ohne szenische Aufführung). Bezeich- nend in Kreutzers Oratorium Moses Sendung (1814) – das vom Librettisten Osiander tatsächlich als „Cantate“ bezeichnet wurde – ist die Konzentration auf lyrisch-pastorale Aspekte. Demgemäß konzentriert sich dieses Werk ganz auf die Berufung des Moses in der Wüste Midian, wobei der pastoral einge- färbten Liebesgeschichte zwischen Moses und Ziporah großer Raum gewährt wird. Dramatische Episoden wie die Erschlagung des Ägypters werden im Rückblick erzählt, und auch die Rettung der Mädchen aus den Händen der edomitischen Hirten spielt sich mühelos innerhalb eines Quintetts ab. Viel größeren Raum nehmen die pastoralen Elemente ein, ausgestaltet durch Duet- te und Romanzen. Bezeichnend etwa ist das Liebesduett zwischen Moses und Ziporah – eine Konzession an den Oratoriengeschmack des späten 18. Jahr- hunderts, wie sie in späteren Moses-Oratorien nicht mehr vorkommt:31

29 Dieser Schwierigkeit musste sich noch Mendelssohn bei der Komposition des Paulus stellen; er löste das Problem, indem er Christi Frage „Saul, was verfolgst du mich?“ von einem Frauenchor singen ließ. Der Ausweg, den Kreutzers Librettist Osiander wählte, nämlich einen Engel als Übermittler des göttlichen Willens an die Stelle von Gottes Stimme treten zu lassen, hatte sich seit Metastasio im Oratorium eingebürgert. 30 Heinrich Carl Breidenstein: Israel in Ägypten. In: Berliner allgemeine musikalische Zei-

tung 4 (1827), S. 240 ff.

31 Zitat aus dem Libretto-Druck Stuttgart 1814, S. 9 f.

27 MOSES. Zipora! Geliebte! Sieh’ diesen grünen Hain! Er ladet uns in seine Schatten ein. Laß in süßem Wechsellaut Der Liebe Lied ertönen.

ZIPORA. Hat sich die Zeit ihren Fesseln entwunden? Rollet geschwinder der Wagen der Nacht? Hat sich beflügelt der Kreislauf der Stunden, Seit mit mir Moses die Heerden bewacht?

MOSES. Seit ich dich, holde Zipora, gefunden, Sind mir vergangene Leiden ein Traum, Und mir hat lieblich die Zukunft umwunden Dämmernder Hoffnungen rosiger Saum.

ZIPORA. Hör ich der Quelle melodisches Rauschen Tönt sie mir süßer, umschlingt mich dein Arm. Furchtlos vermag ich dem Donner zu lauschen, Nahst du, so fliehet der Schrecken und Harm.

MOSES. Hebt sich vom östlichen Lager die Sonne Schwebet das Bild der Geliebten mir vor. Feuriger steigt dann mit heiliger Wonne Dankend mein Opfer zum Ew’gen empor.

BEYDE. Wie uns Arabia’s glühende Sterne Hell stets umstrahlen und jugendlich neu, Also auch bis zu unendlicher Ferne Flammt unsre Liebe beständig und treu. Wie uns dort Riesengebürge umthürmen, Himmelan strebend mit felsiger Wand, Also vereinet uns, trotzend den Stürmen, Ewig untrennbar der Zärtlichkeit Band.

Tatsächlich bietet die biblische Geschichte um Moses einen weiteren Vorteil, der sie als Grundlage für eine Vertonung als Oratorium oder sogar Oper ideal erscheinen lässt: Mit Ziporah und Mirjam treten hier zwei Frauengestalten auf, die dem chronischen Mangel an Frauenrollen in fast allen anderen Orato- rienstoffen des 19. Jahrhunderts gegenüberstehen.32 Während Ziporah in der

32 Ausnahmen sind Oratorien, die speziell Frauengestalten gewidmet sind, etwa der alttesta- mentlichen Ruth (deutsche Oratorien im 19. Jahrhundert von Karl Anton Florian Eckert, 1834; Aloys Schmitt, 1866; Louise Adolfa Le Beau, 1881/82; zudem mehrere Kantaten auf diesen Stoff) oder der heiligen Elisabeth von Thüringen (, 1857–1862). Auffälli- gerweise ist Susanna, die in zahlreichen Oratorien des 17. und 18. Jahrhunderts als Sinnbild für Reinheit und Keuschheit dargestellt wird, im 19. Jahrhundert kein einziges Werk gewidmet – möglicherweise verbot die enge Moral der Zeit eine Darstellung dieser anstößi-

28 Bibel nur als kleine Randfigur erscheint – von den Librettisten des 19. Jahr- hunderts wird sie dagegen, wie bei Osiander / Kreutzer, gerne zur Protagonis- tin einer zarten Liebesgeschichte ausgestaltet –, ist der Prophetin Mirjam mit ihrem Dankgesang nach dem Durchzug durch das Rote Meer eine prominente und sogar spezifisch musikalische Rolle zugeteilt. Als ältere Schwester des Moses, die nach 2. Mose 2,4 bei der Aussetzung des Kindes dabei ist und mit List der Pharaonentochter die wahre Mutter als Amme empfiehlt, wird Mirjam bei Anton Rubinstein mit einer prominenten Solo-Rolle gleich im Ersten Bild eingeführt und beherrscht dann mit ihrem Lobgesang das gesamte Sechste Bild. Der Librettist zu Franz Lachners Moses-Oratorium (1833), Eduard Bauernfeld, erfindet dagegen eine gewissermaßen interkulturelle Liebesge- schichte zwischen Mirjam und dem todgeweihten Pharaonensohn Phanor (einer fiktiven Gestalt), der sich als Fürsprecher für das Volk Israel verwendet und dann an der zehnten Plage (der Erschlagung der Erstgeburt aller Ägypter) zugrunde geht. Die Liebesromanze ist nur angedeutet und entspinnt sich, ähnlich wie bei Kreutzer, in einem Duett. Mirjam, in der Bibel als Prophetin bezeichnet, wird dabei zur Seherin, die den Tod des edlen Königssohns vorausahnt:33

PHANOR. Wehe, Wehe Eurem Loose! Bald erreicht Euch bitt’re Qual.

MIRIAM. Und du welkest, wie die Rose In der Sonne heißem Strahl.

PHANOR. Könnt’ ich aus des Vaters Händen Dich, dein armes Volk befrei’n!

MIRIAM. Könnt’ ich Euer Schicksal wenden! Könnt’ ich retten – Dich allein!

BEIDE. Gegen heißes Rachestreben Kämpfen wir vergebens an; Dunkle Ahnung fühl’ ich beben, Todesschauer zieh’n heran.

Die Zurückhaltung in der Darstellung dieser Liebesgeschichte erscheint charak- teristisch für die Gattung Oratorium, in der es kaum je um zwischenmenschliche

gen Geschichte. Auch die gewalttätige Frauengestalt Judith wird von deutschen Oratorien- komponisten im 19. Jahrhundert auffallend vermieden; die Tendenz ging allenfalls dahin, Judith-Opern zu komponieren, also eine Gattung, in der ‚abartige‘ Charaktere – als solcher musste Judith nach dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts gelten – ohne weiteres dargestellt werden konnten. Zum Judith-Bild des 19. Jahrhunderts vgl. Marion Kobelt-Groch: Judith macht Geschichte. Zur Rezeption einer mythischen Gestalt vom 16. bis 19. Jahrhundert. München 2005. 33 Nach dem Libretto-Druck Mannheim 1836, S. 11.

29 Liebe geht. Bauernfeld deutet den Prozess des Verliebens nur vorsichtig an, der entscheidende Wandel vollzieht sich im plötzlichen Wechsel von Mirjams Sorge um das ägyptische Volk („Euer Schicksal“) zur speziellen Sorge um Phanor in ihrem zweiten Vers. Im anschließenden Duettgesang vereint sich das Paar zum „wir“, doch ist die aufkeimende Liebe durch Todesahnungen von vornherein überschattet und zum Scheitern verurteilt. Insgesamt spielt Mirjam eine tragende Rolle im Oratorium von Bauern- feld und Lachner; sie ist die tragisch Liebende, die rechte Hand des Moses und die Frauenstimme dieses Oratoriums. Im dramatisch konzipierten Oratorium von Adolf Bernhard Marx dagegen ist ihre Rolle der Mittlerin zwischen den Völkern auf die Frau und die Mutter des Pharao übertragen – beides fiktive Gestalten, die ein weibliches, vermittelndes Element in das Oratorium ein- bringen sollen. Mirjam dagegen ist hier ganz auf die Vertreterin ihres Volkes reduziert; sie tritt erst im Zweiten Teil auf – wobei sie freilich mit der eröffnenden Arie an prominenter Stelle steht – und übernimmt mit Psalmver- sen stellvertretend die Klage für das ganze Volk. Auch im Dritten Teil räumt Marx ihr einen besondere Rolle ein: Als letzte menschliche Protagonistin verkündet die Prophetin (erneut mit Bibelworten) das Kommen des Herrn – ihr folgt dann machtvoll die Stimme Gottes mit dem Ersten Gebot, ein ein- dringliches Schlusswort für das gesamte Oratorium. Tatsächlich kommt der Schlussgestaltung in sämtlichen Moses-Oratorien ein besonderer Stellenwert zu. Hier wird der maßgebliche Akzent für die Deutung des dargestellten Moses-Stoffes gesetzt, hier wird entschieden, was dem Publikum letzten Endes von dem Oratorium in Erinnerung bleiben soll, welche Erbauung oder Lehre die Zuhörer aus dem geistlichen (oder weniger geistlichen) Werk mit nach Hause nehmen. In vielen der Moses-Oratorien steht das allgemeine Gotteslob am Schluss, also ein konventionelles Ende, das den eigentlichen Sinn und Zweck der (tra- ditionell verstandenen) Gattung betont. Meistens verwenden die Librettisten für den groß angelegten, chorisch gedachten Abschluss Psalmverse, also kon- fessionell ‚neutrale‘ Bibelworte, die von dem überwiegend christlichen Publi- kum freilich als eigenes Glaubensgut verstanden wurden. Eine Ausnahme stellt das Sanctus am Ende von Sigismund Neukomms Das Gesetz des alten Bundes oder Die Gesetzgebung auf dem Sinai dar, das, wie oben erwähnt, zweifellos als liturgischer und nicht als alttestamentlicher Text verstanden wurde.34 Als Einzelfall erscheint die eindeutige typologische Deutung auf Christus am Ende von Carl Loewes Männerchor-Oratorium Die eherne Schlange, die allerdings, wie bereits besprochen, zum theologischen ‚Programm‘ dieses Werkes gehört.

34 Diesem Chor folgt allerdings noch eine chorische ‚Schluss-Fuge‘ auf den Psalmtext „Freuet euch des Herrn, und danket ihm, und preiset seine Herrlichkeit“ (Psalm 97,12), sodass auch dieses Werk konventionell mit einem Lob aus den Psalmen endet.

30 Bei Adolf Bernhard Marx gibt die emphatische Verkündigung des Ersten Gebots durch die „Stimme Gottes“ selbst dem Oratorium einen überraschen- den, das Publikum zweifellos beeindruckenden Abschluss. Sie ist als Auswir- kung von Marx’ Plädoyer für das dramatische Oratorium zu lesen: Marx setzt hier nicht nur einen geradezu bühnenwirksamen Schlusspunkt, der mangels szenischer Darstellung mit einem der machtvollsten Bibelworte erzielt wird. Darüber hinaus spricht er sich auf diese Weise gegen die konventionelle Vereinnahmung des Oratoriums für kirchlich-erbauliche Zwecke aus: Sein Schlusswort ist kein allgemeiner Appell zum Lobe Gottes, in das die Zuhörer wenn nicht singend, so doch mitempfindend einstimmen sollen, sondern es stellt mit der Einsetzung des Ersten Gebots die Stiftung der „Nation“ Israel dar – in der Musik wird dieser ‚historische Moment‘ durch massiven Chorklang betont.35 Auf diese Weise ist das ‚glückliche Ende‘ vorweggenommen, auch wenn der Einzug in das Gelobte Land in diesem Oratorium gar nicht thematisiert wird – und möglicherweise verweigert sich der konvertierte Jude Adolf Bern- hard Marx auf diese Weise auch der gängigen Vereinnahmung des Moses-Stoffs für christliche Zwecke, indem er das Erste Gebot, also den ersten Satz im ‚Grundgesetz‘ des Volkes Israel, zum apotheotischen Schlusswort macht. Einen Schritt weiter gehen Salomon Hermann Mosenthal und Anton Rubinstein – beide ebenfalls jüdischer Abstammung – in der geistlichen Oper Moses (1887–1889). Denn hier steht nicht mehr das – interkonfessionell tragbare – Lob Gottes am Schluss, sondern hier geht es um den heroischen Menschen Moses, der in dieser monumentalen Oper als zweifelnde, mutige, gottvertrauende und verantwortungsvolle Persönlichkeit gezeichnet wird. Ihm, dem israelitschen Opernhelden und Propheten, gilt das abschließende allge- meine Lob, nicht etwa einem christlich verstandenen Gott – und in ähnlich 35 Diese historisierend-dramatische Haltung spiegelt sich in der Rezension Gebhard von Alvenslebens zu Marx’ Oratorium wider: „Denn Marx kann sich bei dem Sturme und Drange gewaltiger Geschicke freilich nicht darum kümmern, ob man bei seiner Musik immer beten oder religiöse Empfindungen haben könne. […] Der Künstler, den der lebenswarme Athem großer Thaten […] durchschauert, hat wahrlich nicht die Zeit, bei jeder nur möglichen Veranlassung gleich die Hände zum Gebet zu falten. Er hat ja auch keine Noth, denn im lebendigen Schaffen der Schönheit […] bekennen wir ja […], daß wir Gott im Herzen tragen. – Aber da kommt man mit den Gesetzen des Künstlerstyls und meint, es müsse alles Große, was in einem Oratorium geschieht, immer wieder auf Gott zurückgeführt werden, und es müsse dann ein Ausbruch christlicher Bewunderung erfolgen, gleichsam als ob es Gott daran gelegen sein könnte, daß ihm seine Bekenner bei jeder seiner Leistungen Beifall klatschen. […] Will man fromm sein, so singe man Psalmen, Messen, Cantaten […], aber gehe nicht darauf aus, einem lebendigen Stoffe den frischen Lebensnerv abzuschnei- den. Denn das Oratorium gehört gar nicht mehr zum Gottesdienst; es hat sich losgemacht von dem kirchlichen Ritus […] und verherrlicht die Größe und Allmacht Gottes auf seine Weise […], in lebendiger Darstellung der Thaten und Schickungen des Herrn.“ (Gebhard von Alvensleben: Über die Idee dramatischen Fortgangs und Zusammenhangs im Oratori-

um. Bei Gelegenheit der Aufführung des „Moses“ von A. B. Marx. In: Neue Zeitschrift für Musik 16 (1842), S. 65–67, 69–71, 73–74, 77–78, 81–82, 85–86, hier S. 71.

31 emphatischer Weise geht diesem Abschluss das Erste Gebot voraus. Der jüdische Bezug wird hier durch den Anklang an das Shemah Israel und die Verwendung des Namens Jehova verstärkt, diesmal verkündet aus dem Munde des großen Propheten:36

Moses (sich wieder umwendend). Höre Israel, Jehova, dein Gott, ist der Einzige, Eine! Jehova ist dein Gott! (Moses entschwindet, alle stürzen auf die Knie.) Chor der Himmlischen (unsichtbar). Zieh’ hinauf auf Nebo’s Höhen, Gottes Engel sind dir nah’, Kein Prophet gleich Mose wird ersteh’n, Der des Ew’gen Antlitz sah! Allgemeiner Chor. Kein Prophet gleich Mose wird je ersteh’n, Der des Ew’gen Antlitz sah! * * * Obwohl die große Zahl der Moses-Oratorien, -Melodramen, -Opern und -Theaterstücke im 19. Jahrhundert vermutlich auf das relativ einheitliche Bedürfnis nach der Darstellung eines großen nationalen Volksführers zurück- zuführen ist, zeigen die beispielhaft ausgewählten Oratorien, wie unterschied- lich die Lesarten und der Umgang mit dem alttestamentlichen Stoff waren. In der Regel wird die jüdische Geschichte des Propheten Moses und des Exodus des Volkes Israel vereinnahmt – sei es durch eine christliche Umdeutung, sei es für dramatische Ziele, sei es für politische Zwecke. So ist bei den Moses- Oratorien des 19. Jahrhunderts stets nach der Herkunft und den Motivationen von Librettist und Komponist zu fragen, ferner nach dem Entstehungs- und Aufführungskontext der Werke sowie nach der Reaktion der Beteiligten und der Zuhörer. Die äußeren Bedingungen dienen als Schlüssel für ein Verständ- nis der unterschiedlichen Lesarten ein- und desselben alttestamentlichen Tex- tes: Der Exodus des Volkes Israel unter seinem großen Führer und Gottesmann Moses erscheint hier nicht nur theologisch, sondern auch gesellschaftlich, politisch, dichterisch und musikalisch vieldeutig. Dichter, Musiker, Ausfüh- rende und Publikum machten sich diese Vieldeutigkeit zunutze – die Moses- Oratorien des 19. Jahrhunderts sind als Dokumente für die bleibende Be- deutung, aber auch die große ‚Verletzlichkeit‘ der Bibel als zentraler Text für das christlich-jüdische Abendland in der Neuzeit zu lesen.

36 Aus der Partitur (Achtes Bild), Leipzig o. J., S. 60–64.

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