Abhandlungen Zum Rahmenthema XXXIX ,Literarische Bibelrezeption‘ Fünfte Folge

Abhandlungen Zum Rahmenthema XXXIX ,Literarische Bibelrezeption‘ Fünfte Folge

10.3726/82030_9 Abhandlungen zum Rahmenthema XXXIX ,Literarische Bibelrezeption‘ Fünfte Folge Leiter des Themas Ralf Georg Czapla (Heidelberg) Simone Lutz (München) 10 Vereinnahmung der Bibel: Libretti von deutschen Moses-Oratorien im 19. Jahrhundert Von Linda Maria Koldau, Frankfurt am Main Jedermann weiss und kann es immerfort bestätigt sehen – Niemand aber weiss es besser, als jene Meister selbst – dass bey der Composition eines Oratoriums an Entschädigung, und wäre es auch nur die eines Tagelöhners, bloss für die aufgewendete Zeit, jetzt gar nicht zu denken ist. Geniesst der Componist nicht schon eines beträchlichen Rufes: so kann sein Werk wohl nicht einmal zu öffentlicher Aufführung gelangen. Aber wenn er auch eines solchen Rufes ge- niesst, und damit erlangt, dass es hier einmal und dort einmal aufgeführt wird: so muss er es, fast ohne Ausnahme, zu dem, was man einen wohlthätigen Zweck zu nennen pflegt, mithin wieder umsonst, hingeben; und soll die Ausführung anstän- dig und wirksam herauskommen: was für Laufens und Rennens, Einladens, Einstudirens, Probirens, was für Zeitverlust, Beschwerde, mitunter auch Ver- drüsslichkeiten, fallen gemeiniglich dabey auf ihn! […] Die Composition eines Heftes hübscher Clavier-Variationen oder scherzhafter Gesellschaftslieder; ein rasch und brillant öffentlich vorgetragenes Rondo und dergl. würden wenigstens lebhafteres Anerkennen finden; und würde nun, dass sie diess gefunden, in recht vielen Zeitblättern wiederholt – […] so möchten diese Erzeugnisse unserm Meister leichtlich mehr zur Verbreitung seines Rufes dienen, als die Abfassung eines Oratoriums.1 Friedrich Rochlitz in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, 1828 Oratorien sind ein Verlustgeschäft – bereits im 19. Jahrhundert galt, was sich im heutigen Kulturleben fortsetzt: Mit Oratorien lässt sich, nimmt man die wenigen großen ‚Schlager‘ der Oratorienliteratur aus, wenig Geld verdienen. Das Missverhältnis zu den beliebten, brillanten Konzertgattungen, aber auch zu den großen Gattungen Oper und Symphonie, die auch heute ein großes und meist zahlungskräftiges Publikum anziehen, gestaltete sich im 19. Jahrhundert jedoch noch eklatanter als heute. Denn im 19. Jahrhundert war ein ungewöhn- lich großer Teil der deutschen Bevölkerung – vor allem der breiten Mittel- schicht – in Vereinen organisiert, und ein großer Teil dieser Vereine wiederum widmete sich dem gemeinschaftlichen Gesang und der Aufführung von Chor- werken und Oratorien.2 Somit waren weit mehr Menschen als heute unmittel- 1 Friedrich Rochlitz: Aus einem Schreiben an den Redacteur. In: Allgemeine musikalische Zeitung 30 (1828), Sp. 239–245, hier Sp. 240 f. 2 Zum Verein als Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Auf- sätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976 (= Kritische Studien zur Geschichtswissen- 11 bar an der Einstudierung und Aufführung von Oratorien beteiligt, sei es als Sängerinnen und Sänger oder als Instrumentalisten und – seltener – Instru- mentalistinnen. Hinzu kam ein breites Publikum, das – nicht durch die allge- genwärtige Zugänglichkeit von Tonträgern sowie durch ein unüberschaubares kulturelles Angebot übersättigt – derartige Aufführungen als besondere Ereignis- se schätzte und mit entsprechender Begeisterung zu Konzerten ging.3 Den- noch konnte man, dem eingangs zitierten öffentlichen Brief des Musikkritikers und Schriftstellers Friedrich Rochlitz zufolge, an Oratorien im 19. Jahrhun- dert offenbar nur in Ausnahmefällen verdienen.4 Gleichwohl war der Enthusiasmus groß, mit dem gerade Laien diese Gattung rezipierten und förderten. Das Oratorium, meist auf die speziellen Bedürfnisse von lokalen Gesangsvereinen und Laienorchestern zugeschnitten, ermöglichte einen engen Kontakt zwischen der breiten Masse und der Musik, während die führenden Konzertgattungen Symphonie und Oper, die zwar ebenfalls ein breites Publikum anzogen, in der Regel einen weit größeren Abstand zwischen Ausführenden und Hörern bestehen ließen. Für eine Orato- rienaufführung war keine Bühne notwendig (der Wunsch nach Visualisierung führte im Laufe des 19. Jahrhunderts freilich dazu, dass man sich mit Leben- den Bildern oder Bildtransparenten zu den einzelnen Szenen behalf), die Solistenrollen sind in vielen Fällen auf die Möglichkeiten kleinerer Musik- zentren zugeschnitten, mitunter sogar gezielt für Laien komponiert. Im Zen- schaft 18), S. 174–205. Zur politischen und soziologischen Bedeutung der Gesangvereine vgl. u. a. Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984 (= Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts. Ab- handlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln 13); „Heil deutschem Wort und Sang!“ Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte. Kongressbericht Feuchtwangen 1994. Hrsg. von Friedhelm Brusniak und Dietmar Klenke. Augsburg 1995 (= Feuchtwanger Beiträge zur Musikforschung 1), S. 141– 196; Dieter Langewiesche: Die schwäbische Sängerbewegung in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – ein Beitrag zur kulturellen Nationsbildung. In: Zeitschrift für württem- bergische Landesgeschichte 52 (1993), S. 257–301; Dietmar Klenke: „Ein Schwur für’s deutsche Vaterland“. Zum Nationalismus der deutschen Sängerbewegung zwischen Paulskirchenparlament und Reichsgründung. In: Liberalismus, Parlamentarismus und De- mokratie. Fs. Manfred Botzenhart zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Michael Epkenhans, Martin Kottkamp und Lothar Snyders. Göttingen 1994, S. 61–107. 3 Obwohl das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert des aufblühenden Konzertwesens ist, verfüg- ten zahllose kleinere Städte über keinen regulären Kulturbetrieb. Konzerte, die von gastie- renden Musikern geboten wurden, waren daher kulturelle Höhepunkte, die von der Bevöl- kerung mit Spannung erwartet und entsprechend besucht wurden. 4 Friedrich Rochlitz (1769–1842) war Begründer der Allgemeinen musikalischen Zeitung, einer der bedeutendsten Musikzeitschriften des 19. Jahrhunderts. Als Kritiker und Publizist verfolgte er die musikalischen Strömungen seiner Zeit, die er wie wenige andere Zeitgenos- sen in die allgemeine Entwicklung der Musik- und Kompositionsgeschichte einzuordnen wusste. 12 trum der meisten Oratorien stehen die Chorsätze, die in der Regel leicht zu bewältigen sind und die textlichen Inhalte auf eindrückliche, wenn nicht gar plakative Weise in Musik ausdrücken – auf diese Weise trugen die Oratorien- komponisten den speziellen Bedürfnissen der Gesangvereine Rechnung, streb- ten die Sängerinnen und Sänger doch danach, auf Musikfesten und bei ande- ren Anlässen mit einem ‚großen‘, beeindruckenden Werk zu glänzen, das gleichwohl die Fähigkeiten von Laien nicht überschreiten durfte. Die Bedürfnisse der Musikvereine sind freilich nur eine Dimension des Oratoriums im 19. Jahrhundert. Seine Beliebtheit und die Vielzahl der – heute weitgehend vergessenen – Werke erklärt sich zudem daraus, dass das Orato- rium der ideale Träger für religiöse, nationale und politische Inhalte war, die hier – wie im Nationalismus des 19. Jahrhunderts allgemein – eine enge Verbindung eingehen.5 Auf der Grundlage ‚erhabener‘, ‚menschheitlicher‘ Themen – so der Anspruch, der immer wieder in der ästhetischen Diskussion um das Oratorium im 19. Jahrhundert durchscheint – werden Werke kompo- niert, an deren Aufführung eine große Menge von Ausführenden beteiligt ist. Als musikalisch geeinigtes ‚Volk‘ legen Ausführende und das ihnen applau- dierende Publikum ein öffentliches, emphatisches Bekenntnis zur religiös überhöhten Nation ab – hier werden nationale Sehnsüchte durch Musik über- höht, der zensierte Wunsch nach politischem Handeln kann sich auf scheinbar harmlose, weil ‚nur‘ musikalische Weise Bahn brechen. Die politische Bedeu- tung der Musik- und Sängerfeste wurde von den Zeitgenossen klar erkannt und genutzt. So sorgte auf dem 1. Deutschen Sängerfest 1845 in Würzburg das nationale Bekenntnis der Teilnehmer aus den – damals Dänemark verbunde- nen – Herzogtümern Schleswig und Holstein für größte Begeisterung; Zeitge- nossen berichten, dass es zu einer politisch brisanten Stimmung kam, als das 5 Es wäre müßig, hier eine umfassende Literaturübersicht zum Phänomen der Nationalreligi- osität im 19. Jahrhundert bieten zu wollen. Hingewiesen sei stellvertretend auf die Aufsatz- sammlungen Nation und Religion in der deutschen Geschichte (hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche, Frankfurt / New York 2001), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (hrsg. von Wolfgang Schieder, Stuttgart 1993), Religion im Kaiserreich (hrsg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996) und „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert (hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000); dort finden sich zahlreiche weitere Literaturangaben (vgl. auch die entsprechenden Titel in Dieter Langewiesches Forschungs- bericht Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Neue Politische Literatur 40 [1995], S. 190–236). Erwähnenswert ist zudem Michael Salewskis knappe Zusammenfassung des Phänomens vor dem Hintergrund der Zeitgeistfor- schung (Religiöser Zeitgeist und historisches Selbstverständnis. In: Neue Wege der Ideen- geschichte. Fs. Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Hrsg.

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