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DÖW DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES

FOLGE 209 Mitteilungen DEZEMBER 2012 100 JAHRE

Schon lange ist Jura Soyfer, „einer der großen Außenseiter der österreichischen Literatur" (Wendelin Schmidt-Dengler), kein Geheimtipp unter Literaturinteressierten mehr. Nur knapp 26 Jahre alt war er, als er – als Jude, Kommunist und antifaschistischer Autor vom NS-Regime verfolgt – im KZ Buchenwald umkam. Nach Kriegsende gerieten seine Texte für Jahrzehnte in Vergessenheit und erlebten erst in den späten 1970er-Jahren eine Renaissance. Am 8. Dezember 2012 jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal – ein willkommener Anlass, an Soyfer und sein Schaffen erneut zu erinnern. Unter anderen schildert Wolfgang Neugebauer, 1983–2004 wissenschaftlicher Leiter des DÖW, im Folgenden, wie sich der spätere Gründer und Leiter des DÖW Herbert Steiner zunächst im englischen Exil, dann in Österreich für die öffentliche Rezeption von Soyfers Texten engagierte. ORF 2 zeigt am 8. Dezember ein Soyfer gewidmetes Österreich-Bild, in dem ehemalige Weggefährten zu Wort kommen und Ausschnitte aus verschiedenen Fernsehaufzeichnungen von Soyfer-Werken präsentiert werden. (S. 3 ff.)

Wolfgang Neugebauer Jura Soyfer, Herbert Steiner und das DÖW

Jura Soyfer war nicht nur ein Publizist und der spätere Rechtsanwalt Hugo Ebner, Soyfer im Geist des Austromarxismus er- Dichter von herausragendem Format, son- Josef Schneeweiß, Spanienkämpfer und zogen, mit dem er sich aber bald kritisch dern auch ein äußerst aktiver politischer Arzt, und Gustav Vlachov, der nach 1945 auseinanderzusetzen begann. In diese Zeit Mensch, vor allem ein bedingungsloser als Botschafter Jugoslawiens nach Wien fallen seine ersten literarischen Veröffentli- Kämpfer gegen Faschismus und National- zurückkehrte (siehe Gruppenfoto unten). chungen in der VSM-Zeitschrift Der sozialismus, der seinen Einsatz letztlich In unzähligen Veranstaltungen, Vorträgen, Schulkampf, seine Beiträge für die Arbei- mit seinem Leben bezahlte. Von Anfang an Schulungen und Diskussionen wurde Jura ter-Zeitung sowie seine Mitwirkung als war sein literarisches Schaffen mit seinem politischen Engagement auf Engste ver- knüpft, und auch sein Privatleben spielte sich im Milieu politischer Organisationen ab. Seine politische Sozialisation erfuhr der aus einer ursprünglich wohlhabenden bür- gerlichen Familie aus Odessa stammende und seit 1921 in Wien lebende Jura Soyfer in der sozialdemokratischen Jugendbewe- gung, der er sich wie viele andere aus bür- gerlich-jüdischem Milieu kommende Ju- gendliche angeschlossen hatte. Ab 1927 war er in der von Joseph Simon geführten Gruppe der „Achtzehner“ (Wien-Währing) der Vereinigung Sozialistischer Mittel- schüler (VSM) aktiv, worüber Simon in seiner Autobiographie Augenzeuge aus- führlich berichtet. Unter den Kindern und Jugendlichen waren – neben Jura Soyfer und seiner damaligen Freundin Marika Burgenlandfahrt der „Achtzehner“, einer Gruppe der Vereinigung Sozialistischer Szécsi – u. a. der gleichaltrige, gleichfalls Mittelschüler, Ostern 1929 (DÖW Foto 3844) aus Russland stammende Mitja Samuel 1. Reihe, v. l. n. r.: Hugo Ebner, Marika Szécsi, Hans Likier, Kosta Panizza, Toni Kerner, Rapoport, später Biochemiker in der DDR, Leo Turnheim; 2. Reihe: Max Dünner, Joseph Simon, Peter Strasser, Jura Soyfer, Josef der nachmalige Obmann der Sozialisti- Schwarzwald; 3. Reihe: unbekannt, Walter Häuselmayer, Mitja Rapoport, Josef Schneeweiß, schen Jugend Österreichs Peter Strasser, Alfred Rußwurm, Karl Kerndl. 2 Mitteilungen 209

Textdichter am Politischen Kabarett, einer Agitpropeinrichtung der Sozialdemokratie. Nach den Februarkämpfen 1934 schloss sich Soyfer der kommunistischen Bewe- gung an, in der er wie viele andere ent- täuschte und kämpferische Sozialdemo- kratInnen, Intellektuelle und KünstlerIn- nen die einzige Alternative zum Faschis- mus erblickte. Im DÖW liegen zahlreiche Dokumente zu Jura Soyfers Aktivitäten im Kampf gegen den Austrofaschismus. Sein Mitkämpfer Franz Marek hat darauf hin- gewiesen, dass das im Dezember 1936 ver- breitete KPÖ-Flugblatt Der Mord von Rodaun (Original: DÖW Bibliothek 4029/431) von Soyfer verfasst worden ist. Angesichts der leidenschaftlichen Sprache, mit der darin der gewaltsame Tod des kommunistischen Häftlings Richard Suchy im Gewahrsam der Gendarmerie in Ro- daun angeprangert wurde, kann an der Jura Soyfer und Marika (Maria) Szécsi, Anfang der 1930er-Jahre (DÖW Foto 2884) Autorschaft kein Zweifel bestehen. „Eine ekstatische Kampfschrift, voll Rachepa- thos, Heroik, Hymnik und der Siegesge- wissheit aller echten Kampfschriften“ – so qualifiziert der US-amerikanische Litera- turwissenschaftler und Soyfer-Herausge- ber Horst Jarka das Flugblatt und arbeitet heraus, dass Soyfer darin – in Abkehr von früheren „deutschen“ Positionen – erst- mals auch die von der KPÖ propagierte Pro-Österreich-Linie vertrat. Ungeachtet der vom Regime praktizierten Zensur von Publikationen und Theaterauf- führungen hatte Soyfer damals seine pro- duktivste Schaffensperiode; er schrieb zahlreiche Stücke für Kleinkunstbühnen sowie Beiträge für Zeitungen und arbeitete an dem Roman So starb eine Partei, seiner Abrechnung mit der Sozialdemokratie. Am 17. November 1937 wurde Soyfer ver- haftet, wobei neben illegalen kommunisti- Oben: schen Druckwerken auch unveröffentlichte Szene aus Jura Soyfers Vineta, Arbeiten beschlagnahmt wurden (eine ge- aufgeführt von der Spielgruppe naue Auflistung findet sich in der im DÖW des Young ; in der Mitte vorhandenen Kopie des Gerichtsaktes). Otto Tausig Das wegen Hochverrats und anderer poli- (DÖW Foto 3668) tischer Delikte geführte Verfahren wurde im Zuge der Amnestie nach dem Berchtes- gadener Abkommen im Februar 1938 eingestellt und Soyfer kam am 17. Februar 1938 – für 25 Tage – in Freiheit. Die In- haftierung unterbrach nicht nur Soyfers Rechts: politische und literarische Tätigkeit, son- Der Lechner Edi schaut ins dern – was noch mehr wog – sie führte Paradies, Inszenierung des zum z. T. unwiederbringlichen Verlust von Londoner Exiltheaters Manuskripten und unveröffentlichten Wer- Laterndl; ken, die von der Polizei und vom Gericht im Bild: Peter Preses und beschlagnahmt worden waren und ver- Marianne Walla kamen. Als Mitarbeiter des DÖW habe ich (DÖW Foto 8642) mich in den 1970er-Jahren vergeblich bemüht, durch Nachforschungen im Lan- desgericht für Strafsachen Wien und in Dezember 2012 3

dessen Depositenstelle diese Unterlagen wahrung und Verbreitung von dessen und die Schmetterlinge mit ihren Soyfer- zu finden. Werk eingesetzt zu haben. Der 1923 in Vertonungen. 1973 konnte Herbert Steiner Als Jude, polizeibekannter Kommunist Wien geborene Steiner wirkte seit 1940 als den Thomas Sessler-Verlag (Ulrich und antifaschistischer Schriftsteller war Sekretär von Young Austria und Schrift- Schulenburg) gewinnen, sich der Bühnen- Soyfer dreifach gefährdet und versuchte leiter von dessen Verlag Jugend voran. Er aufführungen anzunehmen, wodurch eine daher – gemeinsam mit seinem Freund begann Soyfer-Texte zu sammeln und trat weitere Verbreitung im gesamten deut- Hugo Ebner – am 13. März 1938 mit in Kontakt mit der Familie und Helli Andis schen Sprachraum erfolgte. Skiern in die Schweiz zu gelangen. An der (Ultmann), die Soyfer einst als seine Braut Ein Meilenstein in der vom DÖW stets Grenze verhaftet wurde er vom Polizei- bezeichnet hatte. „Wir sind sicher“, geförderten Soyfer-Rezeption war die Her- gefängnis Innsbruck am 23. Juni 1938 in schrieb Steiner am 17. Dezember 1944 an ausgabe des Gesamtwerkes durch den an das KZ Dachau überstellt. Sein Mithäft- sie, „dass [Soyfers Werk] in einem freien der University of Montana wirkenden Ger- ling Max Hoffenberg, ein späterer DÖW- Österreich, in das wir hoffentlich bald manistikprofessor Horst Jarka 1980 im Mitarbeiter, hat die gemeinsame Gefäng- zurückkehren werden, großen Anklang (damals bedeutenden) Europa Verlag; er- nis- und KZ-Haft in einem ausführlichen finden wird.“ Horst Jarka hat zu Recht weiterte Neuausgaben erschienen 1984 Bericht (veröffentlicht in: Fritz Herrmann, dazu angemerkt, dass sich diese Hoffnung und 2002. In meisterhafter Weise hat es Jura Soyfer. Die Anfänge eines volksver- nicht erfüllte. In den Jahren nach 1945, Jarka verstanden, Werk, Autor, Milieu und bundenen österreichischen Dichters, phil. während der Zeit des Kalten Krieges, als politisch-gesellschaftliche Verhältnisse in Diss., Wien 1949) bzw. DÖW-Interview in Österreich boykottiert einen Gesamtzusammenhang zu stellen. eindrucksvoll beschrieben. An dem im KZ wurde (Soyfers Freunde und Im Zuge dieser Soyfer-Renaissance ent- Dachau noch möglichen „Kulturleben“ (an fungierten als Initiato- stand 1982 auch ein Jura Soyfer-Theater. arbeitsfreien Sonntagnachmittagen) wirkte ren), war auch Jura Soyfer politisch nicht Schließlich gründete Herbert Steiner ge- Soyfer – u. a. gemeinsam mit Hermann opportun. Seine Stücke wurden viele Jahre meinsam mit anderen an Soyfer interes- Leopoldi und Fritz Grünbaum – mit und fast ausschließlich von kommunistischen sierten Personen und Institutionen (Sessler schuf das Dachau-Lied (Stacheldraht, mit Spielgruppen und avantgardistischen Verlag, Jura Soyfer-Theater, Otto Tausig, Tod geladen ...). Die Freilassung (aufgrund Kleinbühnen aufgeführt. Ein Lichtblick Willi Verkauf-Verlon, Ulf Birbaumer, eines US-Einreisevisums) vor Augen starb war lediglich die Herausgabe der ersten Heinz Kommenda, Hubert Christian Ehalt, Jura Soyfer am 16. Februar 1939 im KZ Soyfer-Ausgabe 1947 durch den Schau- Konstantin Kaiser, Fritz Wendl u. a.) 1988 Buchenwald an Typhus. spieler Otto Tausig im Auftrag der Freien die Jura Soyfer-Gesellschaft, die im DÖW Die Verfolgung von Dichter und Werk, der Österreichischen Jugend, als deren Gene- ihren Sitz hatte und an der DÖW- frühe Tod im KZ und die Herrschaft des ralsekretär Herbert Steiner wirkte. MitarbeiterInnen (Herbert Exenberger, Nazismus in weiten Teilen Europas konn- Nach der Gründung des DÖW 1963 inten- Johanna Lendwich, Elisabeth Campagner, ten die Verbreitung von Jura Soyfers Werk sivierte Herbert Steiner seine Sammeltä- Winfried R. Garscha und der Autor) letztlich nicht verhindern. Es waren Freun- tigkeit zu Soyfer-Texten. Im Gefolge einer maßgeblich mitarbeiteten. Die ständig dInnen, Verwandte, Bekannte und poli- ersten Jura Soyfer-Ausstellung im DÖW erweiterten Bestände wurden in ein Jura tische MitstreiterInnen im britischen und anlässlich des 60. Geburtstages 1972, bei Soyfer-Archiv (einen spezifischen Ab- amerikanischen Exil, die sich um seine der der Generaldirektor der Wiener Städti- schnitt des DÖW-Archivs) eingebracht, schriftstellerischen Arbeiten, vor allem um schen Versicherung Otto Binder, ein KZ- erschlossen und zugänglich gemacht. Sie seine Bühnenwerke, kümmerten. Schon Kamerad aus Buchenwald, die Gedenk- waren für Horst Jarka und andere Soyfer- 1939 kam es im Austrian Centre in Lon- rede hielt, tauchte das inzwischen ver- Forscher eine wichtige Quelle ihrer Arbeit don zu einer Soyfer-Aufführung und die schollene Romanfragment So starb eine und werden auch weiterhin von zahlrei- österreichische Exil-Jugendorganisation Partei wieder auf. Die Briefe Soyfers an chen Interessierten – WissenschaftlerIn- Young Austria in Great Britain publizierte Marika Szécsi konnte Steiner nach dem nen, Studierenden, KünstlerInnen, Journa- das Dachau-Lied. Es ist das besondere Tod von Szécsis Ehemann Prof. Eduard listInnen – benützt. So gesehen hatte Verdienst des nachmaligen Gründers und März von dessen Sohn erhalten. Herbert Steiner mit seiner optimistischen Leiters des DÖW Herbert Steiner, die Be- Wichtige Beiträge zur Popularisierung Prognose von 1944 „vom großen An- deutung Soyfers erkannt und sich – eigent- Soyfers leisteten Helmut Qualtinger und klang“ von Soyfers Werk doch nicht ganz lich lebenslang – für die Auffindung, Be- Peter Turrini mit ihren Soyfer-Lesungen Unrecht.

Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde Teddy Podgorski erinnert am 8. 12., 18.25 Uhr, ORF 2 mit einem Österreich-Bild an Jura Soyfer

An „Wiener Legenden“ erinnert die leben- Conrads, O. W. Fischer: „Ein schrecklich 2012, 18.25 Uhr, ORF 2. Unter dem Titel de Fernsehlegende Podgorski unter der glanzvolles Leben“, Normannischer Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde Regie von Fritz Wendl in einer losen Ös- Kleiderschrank, Wiener Bürger über Curd gibt es in der im DÖW aufgenommenen terreich-Bild-Serie des ORF-Wien. Jürgens, Nadja Tiller, Traumfrau aus Wien Sendung etwa Erinnerungen von einstigen Der Anfang wurde 2008 anlässlich des und zwei Sendungen Wiener Lieder(lich- Soyfer-Weggefährten wie Leon Askin, 80. Geburtstags von Helmut Qualtinger keiten) über Schauplätze, Themen und le- , Hans Weigel und Curt mit Herr Qu. und die Zukunft Österreichs gendäre Interpreten des Wiener Lieds. Ponger und Soyfer-Interpretationen u. a. gemacht. Es folgten Guten Abend die Nun ist Jura Soyfer an der Reihe: an sei- von Helmut Qualtinger, Otto Tausig, Madln, Servas die Buam über Heinz nem 100. Geburtstag, am 8. Dezember Lukas Resetarits, Maria Bill, den 4 Mitteilungen 209

Schmetterlingen, Herwig Seeböck und krieg aus, der Beginn der Generalprobe eisernen Witz eines lebenden Kämpfers. Ernst Meister zu sehen und zu hören. für den Zweiten Weltkrieg. Jura Soyfers Traum war nicht der himmel- Zum Lied des einfachen Menschen, das Sämtliche Soyfer-Stücke wurden als soge- blaue Traum des Wiener Spießers. Die mit der Zeile Ihr nennt uns Menschen, nannte Mittelstücke 1936 und 1937 in den Farbe der Welt, von der Jura Soyfer träum- wartet noch damit endet, sind Filmdoku- Wiener Kleinkunstbühnen Literatur am te, war nicht himmelblau.“ mente aus den 1930er-Jahren, z. B. von Naschmarkt und ABC uraufgeführt. Dort Demonstrationen, zu sehen. Und auch spielten damals unter anderen auch Lilly zum Dachau-Lied gibt es historisches Palmer, Josef Meinrad und Robert Filmmaterial. Vom Lagereingang mit den Lindner, Autoren waren etwa Carl Merz, gusseisernen Buchstaben „Arbeit macht Friedrich Torberg und Fritz Eckhard. Dort frei“ bis zu Luftbildern des KZ. Der Kom- arbeitete Soyfer auch mit dem im ponist des Dachau-Lieds, Herbert Zipper, Nachkriegsösterreich gefürchteten Thea- erzählt, wie dieses entstand. terkritiker Hans Weigel und Leon Das Dachau-Lied war aber nicht Soyfers Aschkenasy, der als Leon Askin in Holly- letztes Werk. Das war ein – nicht erhalte- wood Karriere machte, zusammen. nes – unter Lebensgefahr gestaltetes Ka- 40 Jahre später, als in Österreich eine barettprogramm in Buchenwald. Darüber Soyfer-Renaissance begann, verglichen erzählte der kommunistische Journalist Askin und Weigel Soyfer sogar mit Bertolt Curt Ponger, der Jura Soyfer noch am Brecht. Abend vor dessen Tod ein letztes Mal ge- Helmut Qualtinger wiederum, der sich sehen hatte, 1977 in einem ORF-Interview Ende der 1970er-Jahre der Soyfer-Popu- u. a.: „Es war kurz vor Weihnachten, wir larisierung mit ganz besonderem Engage- Schallplattencover der Schmetterlinge mussten bei der Hinrichtung eines Gefan- ment annahm, bezeichnete ihn als „Öster- genen zusehen. Der KZ-Kommandant be- reichs Büchner“ und mangelndes Ver- fahl, Weihnachten zu feiern. Wir beschlos- ständnis für Soyfer nannte er „reinen Blö- Ganz besondere Verdienste um die Ver- sen, Kabarett zu machen. Jura Soyfer und dismus“. In Lesungen (auf einer nach wie breitung des Soyfer-Werks hatte Otto Fritz Grünbaum machten mit. Der Text ist vor erhältlichen CD dokumentiert) wid- Tausig. Während des Zweiten Weltkriegs leider ebenso verschwunden in Buchen- mete er sich nicht zuletzt Soyfers Roman- bekam er in London als Leiter einer Exil- wald wie Jura Soyfer und Fritz fragment So starb eine Partei. Im Februar Theatergruppe erstmals (von Erich Fried) Grünbaum.“ 1934 war Jura Soyfer bereit gewesen, Soyfertexte. Daraufhin versuchte er von Den Großteil des Österreich-Bilds zu Jura nicht mehr nur mit Worten zu kämpfen. quer durch die Welt verstreuten ExilantIn- Soyfers 100. Geburtstag machen aber Als er zur Sammelstelle kam, waren aller- nen weitere Soyfer-Manuskripte zu be- Ausschnitte aus den unterschiedlichsten dings die Waffen nicht zu finden. Erbittert kommen und 1947 war er nach der Rück- Fernsehaufzeichnungen von Soyfer-Wer- über das Versagen der Sozialdemokratie kehr nach Wien der Herausgeber des ers- ken aus. trat er der verbotenen KPÖ bei und be- ten Buchs mit Soyfer-Werken. Als Bei- Das Gesamtwerk umfasst rund 1000 Sei- gann seinen einzigen Roman zu schreiben. spiel, wie sich Otto Tausig als Schau- ten und entstand in nur rund fünf Jahren. Die erhaltenen 130 Seiten sind eine schar- spieler (immer wieder) Soyfer widmete, Soyfers Theaterstücke wurden in mehr als fe Analyse der sozialdemokratischen Tra- wählten Teddy Podgorski und Fritz Wendl 30 Sprachen übersetzt. Sein erstes Stück, gödie, der Krankengeschichte einer Mas- für ihre Sendung den Beginn eines Zeit im Der Weltuntergang oder Die Welt steht auf senpartei. Bild-Beitrags aus dem Jahr 1982 über eine kein’ Fall mehr lang, wurde 1936 uraufge- Der Kabarettautor Jura Soyfer stand aber Ausstellung zu Jura Soyfers 70. Geburts- führt, ist eine Apokalypse aus dem Geist auch an der Wiege der Wiedergeburt des tag im Wiener Theatermuseum: Sätze aus von Nestroys Lumpazivagabundus und politischen Kabaretts in Österreich. Lukas Weltuntergang, die aus aktuellen Nach- von ’ Letzten Tagen der Resetarits war nämlich bei den Recher- richten sein könnten. Menschheit: Der Rat der Gestirne schickt chen für sein erstes Kabarettprogramm im 1980 erschien in Österreich die erste den Kometen Konrad zur Erde, um dem DÖW auf ihn gestoßen. Soyfer-Gesamtausgabe, die allerdings, dort herrschenden Treiben ein Ende zu be- Und auch die Politpopgruppe Schmetter- ebenso wie zwei Bände der vierbändigen reiten. Auf der Erde erkennt ausschließlich linge trug Wesentliches zur Wiederent- 2002 erschienenen Ausgabe, vergriffen ist. der Physiker Professor Guck die Dimen- deckung Jura Soyfers bei. Im Sommer 1983 wurde in Wien das Soyfer-Theater, sion der Gefahr. In der im Soyfer-Öster- 1980 war im Wiener Schauspielhaus die das heutige Theater am Spittelberg, ge- reich-Bild gezeigten Szene mit Ernst Premiere der Schmetterlinge-Produktion gründet. 1984 wurde dort Soyfers Vineta Meister fallen Sätze wie: „Zum Zer- Verdrängte Jahre, zu der auch eine Schall- gezeigt und auch vom ORF übertragen. schmettern bin ich da“, „Menschheit ken- platte erschien. Unter den Darstellern wa- Das Gleichnis von Vineta, einer versunke- nen wir nicht“, „Bloß kein liberalistisches ren u. a. Maria Bill und Lukas Resetarits. nen Stadt, ist die beklemmende Vision ei- Gequassel“ und „Judentum, Freimaurerei Im damaligen ORF-Jugendmagazin Ohne ner ohnmächtigen Gesellschaft, eine radi- und Bolschewismus haben einen Kometen Maulkorb gab es einen Probenbericht, aus kale Umkehrung des „Glücklich ist, wer entsandt.“ Die letzte Aufführung der Welt- dem ein Ausschnitt nun wieder im Öster- vergisst …“. Ein Ausschnitt daraus ist im untergang-Uraufführungsserie war am reich-Bild zu sehen ist. Im Programmbuch Soyfer-Österreich-Bild ebenso zu sehen 11. Juli 1936, dem Tag, an dem in Berch- zu Verdrängte Jahre wird Leon Askin mit wie Herwig Seeböck, der die Moritat Im tesgaden das Hitler-Schuschnigg-Abkom- folgender Soyfer-Charakteristik zitiert: Paradies aus Der Lechner Edi schaut ins men unterzeichnet und damit der Unter- „Jura Soyfers Humor war nicht der des Paradies singt. Dieses Lehrstück über ei- gang Österreichs besiegelt wurde. Wenige ‚goldenen Wiens‘, des sterbenden Tingel- nen, der auszog, um den Schuldigen an Tage später brach der Spanische Bürger- Tangels; Jura Soyfers Humor schaffte den seinem Elend zu finden, schrieb Soyfer, Dezember 2012 5 als es im Herbst 1936 in Österreich Ich sah sie von Radiosendern bespickt; In Armut und in Reichtum grenzenlos. 350.000 Arbeitslose gab. Und die Moritat Die warfen Wellen von Lüge und Hass. Gesegnet und verdammt ist diese Erde, Im Paradies endet mit den Zeilen: Ich sah sie verlaust, verarmt – und Von Schönheit hell umflammt ist diese beglückt Erde, Sieh den Menschen vor dem Tod, Mit Reichtum ohne Maß. Und ihre Zukunft ist herrlich und groß. Selbst als Mörder ohne Milde! Ist’s noch der, den Dein Gebot Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde, * Schuf nach Deinem Ebenbilde? Voll Leben und voll Tod ist diese Erde, Greif, o Herr, den Lehm nicht an! In Armut und in Reichtum grenzenlos. Vier Tage vor Jura Soyfers 100. Geburts- Schlag Dich nicht mit eignen Waffen! Gesegnet und verdammt ist diese Erde, tag, am 4. Dezember um 19 Uhr, findet im Oder wenn Du’s schon getan, Von Schönheit hell umflammt ist diese Wiener Rabenhof-Theater eine Soyfer- Mach ihn wieder ungeschaffen! Erde, Gala – Ihr nennt uns Menschen? Wartet Und ihre Zukunft ist herrlich und groß. noch damit! – statt. Mitwirkende sind Jura Soyfer, der in schlimmen Zeiten lebte unter anderen Erwin Steinhauer, Josef und diesen in seinem Werk entsprechend Denn nahe, viel näher als ihr es begreift, Hader, I Stangl, Mercedes Echerer und die begegnete, ließ trotzdem keines seiner Steht diese Zukunft bevor. Schmetterlinge. Stücke pessimistisch enden. Und so be- Ich sah, wie sie zwischen den Saaten gründet auch der Komet Konrad, der in schon reift, Ebenfalls im Rabenhof-Theater zeigt am Weltuntergang ausgeschickt worden war, Die Schatten vom Antlitz der Erde schon 7. und 8. Dezember das Gemeindebau- die Erde zu zerstören, dem Rat der Pla- streift theater eine Neuinterpretation von Soyfers neten, warum er seine Aufgabe nicht er- Und greift zu den Sternen empor. Debutstück Der Weltuntergang (1936). füllt hat, mit dem Lied von der Erde, mit Ich weiß, dass von Sender zu Sender bald Information: www.rabenhoftheater.com. dem – in einer Aufnahme der Schmetter- fliegt linge – das Österreich-Bild auch endet: Die Nachricht vom Tag, da die Erde Das Rote Wien im Waschsalon Karl- genas. Marx-Hof präsentiert noch bis 2. Mai Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift, Dann schwelgt diese Erde, erlöst und 2013 die Sonderausstellung Gehn ma halt Hab ich die Erde gesehn. beglückt, a bisserl unter ... 100 Jahre Jura Soyfer Ich sah sie von goldenen Saaten umreift, In Reichtum ohne Maß. mit zeichnerischen Beiträgen von Andrea Vom Schatten des Bombenflugzeugs Maria Dusl. Information: www.dasrote- gestreift Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde, wien-waschsalon.at. Und erfüllt von Maschinengedröhn. Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,

Heinz Lunzer „... ein Nestroy, der Marx gelesen hat.“1 „Such dir das Land, das dir gehört“2

Jura Soyfer ist trotz seines kurzen Lebens ein bedeutender Autor der österreichischen Zwischenkriegszeit. Er hätte, wie ein Kritiker schrieb, der Brecht dieses Landes werden können3 – so vielversprechend erschien das Werk des jungen Mannes, der mit 26 Jahren im Konzentrationslager Buchenwald starb.

Jura Soyfer wurde vor hundert Jahren, am nen wöchentlich politische Satiren in der blieb. Wichtiger schien Soyfer die Arbeit 8. Dezember 1912, in Charkow/Charkiv Arbeiter-Zeitung und in der sozialdemo- fürs Theater – auf kleinen Bühnen, in Kel- (Russland, heute Ukraine) als Sohn des jü- kratischen Wochenschrift Der Kuckuck. lertheatern war noch am ehesten Opposi- dischen Industriellen Wladimir und dessen Kritisch nahm er zu politischen und sozia- tion zu machen gegen den sich zur Dikta- Frau Ljubow Soyfer geboren. 1921 flüch- len Geschehnissen Stellung; im Theater tur entwickelnden konservativen Staatsap- tete die Familie nach Österreich. Jura sah er nicht nur den Faktor der Unterhal- parat von Dollfuß und Schuschnigg. Soyfer besuchte das Gymnasium in der tung, sondern auch der Bildung und Politi- Soyfer schrieb die meisten Stücke für das Hagenmüllergasse im dritten Wiener Ge- sierung der ZuschauerInnen. Über Variété Theater ABC – Hans Weigel und Leo meindebezirk. Früh politisch gebildet, trat und Kabarett hinaus versuchte er 1932 Aschkenasy (später Leon Askin) hatten er 1927 dem Verband Sozialistischer Mit- und 1933 mit den Rote-Spieler-Truppen ihn dorthin vermittelt, zur politisch telschüler und dem Politischen Kabarett Agitprop zu machen – die ZuhörerInnen schärfsten der zahlreichen, aber oft kurzle- der Sozialdemokraten bei. direkt mit der politischen Aussage zu kon- bigen Kleinkunstbühnen Wiens. Sie In der Familie wurde Russisch, Franzö- frontieren. brachten zum Teil wie Kabaretts kurze sisch und Deutsch gesprochen; wohl auf- Der Bürgerkrieg im Februar 1934 radikali- grund der mehrsprachigen Erziehung war sierte ihn; er trat der seit 1933 verbotenen 1 Edwin Zbonek nach: Horst Jarka, Jura Soyfer. Soyfers Begeisterung für Sprachen, Kommunistischen Partei Österreichs bei. Leben – Werk – Zeit, Wien 1987, S. 365. Sprachspiele und Literatur groß. Er Das Versagen der Sozialdemokratie in der 2 Jura Soyfer in Astoria. schrieb für das Theater und für das politi- jungen Republik beschrieb er in dem Ro- 3 Günter Stocker in: Neue Zürcher Zeitung, 7. 6. sche Kabarett; ab Dezember 1931 erschie- man So starb eine Partei, der Fragment 2003. 6 Mitteilungen 209

Sketches, zum Teil größere bis abendfül- lende Stücke. Jura Soyfer wurde bald Hausautor des ABC. Hier kamen neben zahlreichen Szenen (die nicht alle erhalten sind) diese Stücke zur Aufführung: z Weltuntergang, eine kabarettartige Re- vue, ein Besserungsstück, das zeigt, wie die Kriegstreiberei Hitlers die Welt dem Verderben zuführt und wie Igno- ranz und Zeitungsgläubigkeit davon ablenken, die Gefahren zu erkennen; z Der Lechner-Edi schaut ins Paradies, ein Arbeitslosen-Stück, das die wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründe analysiert; Edi versucht durch eine Reise mit der Zeitmaschine die Erfindungen, die im vermeintli- chen Fortschritt so viele Menschen er- setzen, rückgängig zu machen; z Astoria, ein „auf den Kopf gestelltes Besserungsstück“ (Doll), politisiertes Szene aus Der Lechner Edi schaut ins Paradies in einer Aufführung der Volkstheater, das die Instrumentalisie- Kleinkunstbühne Literatur am Naschmarkt, 1936 (DÖW Foto 4784) rung der Armen durch die Reichen, Korruption und Klassenverrat themati- siert; zugleich eine Satire auf das aus: er habe nicht nur die Probleme des zentrationslager Buchenwald. Dort starb Großwerden der deutschen Reaktionä- volkstümlichen Publikums auf die Bühne er am 16. Februar 1939 an Typhus. re und die ausländische Achtung ge- gebracht, sondern auch den Unterschied Einige Texte Jura Soyfers wurden 1947 genüber dem Nationalsozialismus; zwischen Arm und Reich. Wiederholt hat- von seinem Schauspielerkollegen Otto z Vineta, die versunkene Stadt, ein gro- te Soyfer in der Zeitung Der neue Tag Tausig unter dem Titel Vom Paradies zum teskes Lehrstück, das, als negative Gelegenheit, seine Vorstellungen von den Weltuntergang publiziert; die Gesamtaus- Utopie, das emotions-, zeit- und ge- politischen Funktionen des Theaters fürs gabe der Schriften, soweit sie erhalten schichtslose Leben in einer Stadt, wo Publikum anzudeuten und vor allem sind, kam 2002 in vier Bänden heraus, alle dem Vergessen anheimgegeben Kritik zu üben am verniedlichenden, ver- ediert von Horst Jarka. sind, zeigt und damit zum Engage- harmlosenden oder nur Meinungen bestär- Die österreichische Literatur ist nicht arm ment, zum Lernen aus der Geschichte, kenden Theater, also Kritik daran, was die an kritischen Autoren – denkt man an zum wachen Reagieren auf Bedrohun- meisten großen und auch kleinen Bühnen , Karl Kraus, Helmut gen der Gegenwart aufruft; an Konventionellem brachten – die „Step- Qualtinger und Carl Merz, Thomas z Broadway-Melodie 1492 ist die Be- pe des Wiener Kunstlebens“. Bernhard; unter ihnen ist Jura Soyfer ge- arbeitung eines Stücks von Walter Als deklarierter Gegner der Nationalsozia- wiss der am intensivsten gezielt politisch Hasenclever und für listen wusste Soyfer, wie sehr sein Leben Denkende. das Wiener Kabarett. Ein wichtiger durch den „Anschluss“ Österreichs an das Teil von Soyfers Eingriffen, die unter „Dritte Reich“ gefährdet war. Er versuchte Nestroys Einfluss stehen, sind die am 13. März 1938 in die Schweiz zu Heinz Lunzer war 1979–2008 Ge- Lieder des Stücks, zu denen Jimmy flüchten, wurde aber gefasst und in Vor- schäftsführer der Dokumentationsstel- Berg die Musik komponierte. arlberg inhaftiert. Am 23. Juni 1938 brach- le für neuere österreichische Literatur te man ihn in das Konzentrationslager und hat zahlreiche Publikationen zur Johann Nestroys Bedeutung strich Jura Dachau (hier schrieb er das berühmte österreichischen Literatur und Exillite- Soyfer 1936 in einem Zeitungsartikel her- Dachau-Lied), im Herbst 1938 ins Kon- ratur veröffentlicht.

Horst Jarka: Jura Soyfer heute

Der Literaturwissenschaftler Horst Jarka hat 1980 erstmals das Gesamtwerk Jura Soyfers herausgegeben und damit wesentlich dazu beigetragen, Soyfer im österreichischen Literaturkanon zu verankern. Der folgende Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors leicht modifiziert der Biographie Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit (Wien 1987, S. 516–519) entnommen.

Das Interesse an Soyfer, das in den letzten ihr eigenes Oppositionspotential auf. Die Pevny und Helmut Zenker getragen. Alle zehn Jahren zweifellos angewachsen ist, Soyfer-Rezeption war begleitet von einer diese Autoren äußern sich kritisch zur setzte nicht zufällig verstärkt mit den Stu- neuen Welle gesellschaftskritischer, realis- herrschenden Kultur und Politik, reißen dentenprotesten der sechziger Jahre ein. tischer Literatur, sie wurde von Autoren Löcher in die Fassade des Wohlfahrtsstaa- Die parteigebundene und die „freischwe- wie Heinz Rudolf Unger und Peter tes Österreich, der „Insel der Seligen“, bende“ Linke lud an Soyfers Engagement Turrini, Michael Scharang, Wilhelm verweisen auf die Opfer, unter denen der Dezember 2012 7 gehobene Lebensstandard „erkauft“ wird, Heidelberg, in der DDR. Man beginnt unmittelbar verständlich“?3 Heute, wo der auf die Bewusstlosigkeit der Konsumge- langsam, die Stücke aus ihren begrenzen- Untergang näher ist als je zuvor und die sellschaft. Im Gegensatz zum Soyfer der den Fixierungen zu lösen, nicht nur aus Welt, wie in Soyfers Stück, weiterläuft dreißiger Jahre werden sie nicht zensuriert der auf die „Kleinkunst“. Natürlich sind nach der Devise business as usual? Ist die- und erhalten – wenn auch nicht ausrei- Soyfers Stücke Dokumente der dreißiger ses Stück, als Warnung vor Hitlers Krieg chend – Subventionen. Auch im Rahmen Jahre, eines antifaschistischen Theaters, geschrieben, heute nicht noch aktueller, da des pluralistischen Kulturkonzeptes der das als zeit- und dramengeschichtliches es nicht mehr wie damals um die Be- SPÖ hat Soyfer einen gewissen, wenn Phänomen überhaupt erst erkannt und ge- herrschung der Welt geht, sondern um ihre auch beschränkten Platz: Manche Linke würdigt werden muss. Aber ist die Proble- mögliche Vernichtung? Ist die Rettung der betrachten Soyfers Werk als für die Ge- matik der Stücke Soyfers, trotz aller Ver- Erde in Soyfers Stück wirklich nur ein genwart besonders relevant, für sie ist sei- änderungen seither, nicht erschreckend ak- Märchenschluss? Ist die Liebe als Beja- ne im Roman geübte Kritik am Partei- tuell geblieben? Sein Lechner Edi ist ein hung des Lebens nicht unsere einzige Ret- establishment erneut gültig, seine visionä- Beispiel dafür, wie sehr Soyfer konkrete tung als Grundvoraussetzung aller uner- re Energie eine Herausforderung an die politische Fragen in grundlegend gesell- lässlichen rationalen Bemühungen? „Wir, Adresse phantasieloser Realpolitiker und schaftliche einbettet. Nicht nur das Ar- die dem Tod entgegengehen, erwarten ein konsumhöriger Parteimitglieder.1 Konser- beitslosenthema ist bis heute gültig, auch Wunder“, hat W. H. Auden gesagt – vative Sozialisten verweisen auf sein die Frage nach der Selbstbestimmung des Soyfers leidenschaftliche Mahnung: Wir Werk zur Erinnerung an schlechtere Zei- Menschen im technischen Zeitalter und selbst müssen dieses Wunder vollbringen. ten, als Mahnung zur Erhaltung der gegen- nach den dafür erforderlichen Machtver- Und Vineta, Soyfers Spiel vom verzwei- wärtigen – noch – besseren. Als Doku- hältnissen. Wenn der Lechner Edi seine felten Versuch, in einer Welt des Schein- mente einer Zeit, über die breite Bevölke- Rückschrittlichkeit mit den Worten be- lebens und der Sinnlosigkeit zu leben, sei- rungsschichten auch heute noch nicht viel gründet: „Nur dass i irgend a Arbeit krieg“ ne Vision einer toten Gesellschaft mecha- wissen oder wissen wollen, erfüllen (Jura Soyfer. Das Gesamtwerk, hrsg. von nischer Entpersönlichkeit und totalen Ver- Soyfers Werke eine wichtige aufklärende Horst Jarka, Wien–München–Zürich gessens? Brechts Anklage von 1952 ist Funktion. 1980, S. 577) – kürzeste Formel für die gültig geblieben: „Das Gedächtnis der In den vergangenen zehn Jahren hat es Zwangslage der deutschen Arbeiter in den Menschheit für erduldete Leiden ist er- mehr als vierzig Soyfer-Inszenierungen dreißiger Jahren, die zwischen Hungern staunlich kurz. Ihre Vorstellungskraft für gegeben, nicht nur in Wien und Graz, auch und Aufrüstung keine Wahl hatten –, er- kommende Leiden fast noch geringer. [...] in Braunschweig und Zürich, in Stuttgart, innert das nicht an das Argument der „Ar- Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu beitsbeschaffung“, das heute der ökologi- bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist schen und Friedensbewegung entgegenge- der Tod. Allzu viele kommen uns schon 1 Eine Stelle aus dem Roman (Jura Soyfer. Das halten wird? (Zur Erinnerung: Die Zahl heute vor wie Tote, wie Leute, die schon Gesamtwerk, hrsg. von Horst Jarka, der deutschen Gesamtverluste im Zweiten hinter sich haben, was sie vor sich haben, Wien–München–Zürich 1980, S. 402 f.) kom- Weltkrieg, fünf Millionen, entsprach der so wenig tun sie dagegen.“4 Vineta ist ein mentiert Wolfgang Lesowsky so: „Aktueller Arbeitslosenziffer 1932). einziger Appell gegen diese Abgestumpft- geht’s kaum. 1977 ist 1934 noch immer nicht aufgearbeitet und unsere Herrschaften sozialde- Astoria meinte schon 1937 mehr als heit, ein Aufschrei des Lebens gegen den mokratische Nationalräte und aristokratische Austria und ist seither zur Weltmacht ge- Tod, ein Bekenntnis, das als Motto über Gewerkschaftsbonzen sollten sich zumindest worden. Die Abstraktion Staat entfremdet Jura Soyfers ganzem Werk stehen könnte: diesen einen, einzigen Augenblick aus dem Le- überall den Bürger seiner Heimat, Illu- „Ich lehne mich auf, also bin ich“ – Credo ben des Lokomotivführers Dreher zum Beispiel sionen bewähren sich weiterhin als lukra- aller, die sich gegen den Wahnsinn des nehmen. Nicht, dass morgen der Bürgerkrieg ausbrechen soll – aber: wie weit sind eigentlich tives Geschäft und Herrschaftsmittel. Wettrüstens wehren. die Herrschenden von den von ihnen Verwal- Soyfers Broadway-Melodie des Kolonia- Ja natürlich, wird mancher sagen, Soyfers teten, Vertretenen, Getretenen entfernt?“ lismus ist nicht verklungen.2 Und ist sein Themen sind zweifellos wichtig, aber geht W. Lesowsky, Jura Soyfer heute, in: Das Jüdi- Weltuntergang wirklich, wie ein namhaf- er nicht allzu naiv an sie heran? Übersah sche Echo (Wien), Nr. 1, Band XXVI, S. 67. ter Kritiker behauptete, „heute kaum mehr er nicht die Komplexität der Situation – „Seine [Soyfers] Kritik an der Sozialdemokratie von links liefert denen, die heute die Regierung schon in den dreißiger Jahren? Wie sollen von links kritisieren wollen, Argumente. Erst die da seine Stücke uns heute etwas zu sagen nun 1982 mehr als zehn Jahre dauernde Allein- haben? Es stimmt, dass Soyfer keine regierung der SPÖ scheint die Rezeptionssitua- Volkes, die Berufspolitiker, eher Vertrauen? Problemstücke schrieb, keine psychologi- tion für jenen Autor begünstigt zu haben, der in Ihrer aller Hauptprinzip – und die Sozialde- schen Analysen, keine politologischen Ex- der Kompromissbereitschaft dieser Partei und mokratie ist sich darin einig geworden mit den vor allem in ihrer Verbürgerlichung den Verrat konservativen und reaktionären Kräften der kurse bot und keine normativen Rezepte. an den sie von Anfang an inspirierenden Idealen Gesellschaft – liegt im Nichtverändernwollen Seine Stücke sind Parabeln des Protests, in sehen musste.“ Wendelin Schmidt-Dengler, Die des herrschenden Systems [...]. Keiner von unse- allgemein verständlicher Sprache zerstö- Zeitgeschichte im Spiegel der Literatur der Ers- ren sogenannten Sozialisten, der nicht ‚die ren sie Illusionen, die der Ungerechtigkeit, ten und Zweiten Republik. Kontinuität und Wan- Utopie an das Geschäft der Realisierung‘ ver- der Unmenschlichkeit und dem Unheil del ihrer Strukturen und Probleme, hrsg. v. Erich riete (Habermas).“ Fritz Herrmann, Jura Soyfer. Zöllner, Schriften des Instituts für Österreich- Eine politische Einschätzung, in: Exil. For- dienen. Deswegen spielt man heute wieder kunde: 47, Wien 1985, S. 173–189, hier S. 186. schung. Erkenntnisse. Ergebnisse, Frankfurt Jura Soyfer. „Heute über Jura Soyfer als politischen Men- 5. Jg. (1985), Nr. 1, S. 20. schen zu schreiben, verlangt Bezugnahme auf 2 In Gedenken an Soyfers Anklage des Kolonialis- unsere eigene Lage. Auch unsere politischen mus nannte sich die erste österreichische Ar- 3 Hans Weigel, In Memoriam, Graz–Wien–Köln Gegenstände sind untergangsdrohend. Und ist beitsgruppe in Nicaragua Jura-Soyfer-Brigade. 1979, S. 159. der eigentliche Akteur der Geschichte, ‚das Ausführliche Berichte darüber in: Das Magazin, 4 Bertolt Brecht, Zum Völkerkongress für den Volk‘, heute so anders – eher souverän als da- 3, 1984; Die Linke, Februar 1984; RP 4, Frieden, Wien 1952, in: ders., Gesammelte mals? Und verdienen die heutigen Anführer des 1983/84; Falter 5, 1984. Werke, Bd. 20, Frankfurt 1967, S. 322 f. 8 Mitteilungen 209

Man beginnt, seine Stücke von den sie ba- gatellisierenden oder ins Museale verban- Winfried R. Garscha nenden Interpretationen zu befreien. Be- reitet sich ein neues Missverständnis vor? Seine politischen Träume dürfen nicht zur Dokumente von und über Jura Soyfer harmlosen Utopie gerinnen, seine Zeit- in den Archivbeständen des DÖW parabeln nicht mit Ewigkeitswerten be- frachtet werden. Ein Kritiker hat eines sei- ner Stücke – ausgerechnet den Alptraum Das DÖW verwahrt Werke Jura Soyfers, 12917 enthaltene handschriftliche Text Vineta – als „zeitlos gültig“ bezeichnet. Teile des Briefwechsels sowie Texte über Streik der Diebe, den er nach einer Idee Ein ironisches Lob. Soyfer schrieb seine Soyfer teilweise im Original, größtenteils von Franz Paul vermutlich im Jahre 1931 Stücke, damit die Zeiten, in denen sie gül- jedoch in Kopien oder Abschriften. verfasst hatte. Im Kuvert findet sich auch tig sind, endlich überwunden werden. Die Dokumente aus der Zeit vor 1945 ha- ein Zeitungsausschnitt aus dem Berliner Viele werden in Soyfers hartem Realis- ben unterschiedliche, teils mitteleuropäi- Tageblatt von 1928: Was verdienen Diebe mus, seiner Ironie, seiner Skepsis, seiner sche, teils britische, teils amerikanische in Buenos Aires?, der Paul und Soyfer of- Klarsichtigkeit, mit der er das Verhängnis Papierformate. Die beiden größten Kon- fenbar auf die Idee gebracht hatte, die Not kommen sah, den wertvollsten Teil seines volute sind Texte fürs Theater, die für Auf- der Wirtschaftskrise aus der Perspektive Werkes sehen. Eine solche Einschätzung führungen im Laterndl, dem österreichi- von Dieben, bei deren „Kundschaft“ geht am Wesentlichen dieses Werkes vor- schen Exiltheater in London, verwendet nichts mehr zu holen ist, zu schildern. bei – an der Zuversicht, die nicht aufgibt. wurden, sowie die Original-Typoskripte Die in der Arbeiter-Zeitung abgedruckten Diese Zuversicht als ideologische, heute der wichtigsten Werke Soyfers, die sich im Reportagen Soyfers über Hamburg (Das überholte, durch die Ereignisse immer Privatbesitz von Helli Andis (ursprüng- Gesicht der Zeit. Dampfer, Dirnen, Sena- wieder widerlegte Naivität abzuschreiben lich: Helene Ultmann) befanden und in ih- toren) und sechs Briefe Soyfers an seine hieße jener lebensfeindlichen Apathie das rem Auftrag von Horst Jarka, dem in den damalige Freundin Maria (Marika) Szécsi Wort reden, die Soyfer bekämpfte – dass USA lebenden Herausgeber der Werkaus- dokumentieren Soyfers Deutschland- er es noch im Konzentrationslager tat, gabe Soyfers, im Rahmen der Veranstal- Reise vom Sommer 1932. sollte jeden scheinbar noch so begründe- tung zum 50. Todestag von Jura Soyfer im Die Briefe der Jahre 1937 und 1938 sind ten Pessimismus beschämen. Wiener Rathaus am 16. Februar 1989 nicht alle vollständig überliefert. Die letz- Soyfers Werk hat die Nazibarbarei über- feierlich an Herbert Steiner übergeben ten unter ihnen schrieb Jura Soyfer aus dauert. Sie ist vergangen, nicht aber die di- wurden. Es war das Verdienst von Helli dem Gefängnis in Innsbruck (an Helli versen Systeme, die aus Kurzsichtigkeit Andis, der Freundin Jura Soyfers, dass Ultmann) bzw. aus den KZ Dachau und oder Machtstreben die Bedrohung der diese Werke 1939 außer Landes gebracht Buchenwald (an seine Eltern und an Helli Menschheit vorantreiben und verhindern, werden konnten und in den USA sicher Ultmann). dass die „Zukunft der Erde herrlich und verwahrt wurden. Weitere Texte Jura Die letzten ausführlichen Nachrichten groß“ werde. Nach allem, was wir von Soyfers wurden im englischen Exil ge- über Soyfers Schicksal sind in Briefen Soyfer wissen, ist es kaum vorstellbar, sammelt, wobei der spätere Gründer des überliefert. Am 21. Februar 1938, nach dass er heute im Kampf gegen diese le- DÖW, Herbert Steiner, eine herausragende seiner Freilassung im Rahmen der „Fe- bensfeindlichen Kräfte abseits stünde, Rolle spielte. bruar-Amnestie“ von Bundeskanzler ebenso unvorstellbar ist, dass er bei sei- Ein schönes Beispiel für die Arbeitsweise Schuschnigg, schrieb Soyfer einen länge- nem satirischen Witz und seiner humanis- Jura Soyfers bietet der im DÖW-Akt ren Brief an seine frühere Freundin tischen Überzeugung sich irgendeinem System verschriebe. Die Frage, in wel- chem Parteilager er heute stünde, ist müßi- ge Spekulation.5 Versuchte Antworten dar- auf sagen mehr über den Beantworter aus als über Soyfer selbst. Sein Werk eignet sich nicht zur Selbstbestätigung:

Wir sind das schlecht entworfene Skizzenbild Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt. Ein armer Vorklang nur zum großen Lied. Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!

5 Dazu Franz Marek: „Wo Jura heute stünde – darüber habe ich oft nachgedacht. Vielleicht an meiner Seite [als Eurokommunist], vielleicht wäre er auch der Faszination der USA erlegen Mitteilung von Helli Ultmann an Marika Rapoport (Szécsi) in den USA über und – ein amerikanischer Dichter geworden.“ den Tod Jura Soyfers, 6. März 1939 (Brief an Verf., 25. 9. 1978) Dezember 2012 9

Marika und deren damaligen Mann Mitja ber 1937 über „die Verhaftung des Schrift- nehmungsniederschriften. Akt 12322 ent- Rapoport, am 12. April 1938 berichtete stellers Jura Soyfer und seiner Freundin hält u. a. die Karteikarte des Polizeige- Helli Ultmann an Mitja Rapoport nach Helene Ultmann“ und Soyfers anschlie- fängnisses Innsbruck für Soyfer vom Juni Cincinnati, Ohio, über die Festnahme ßende „Anhaltung“ sind im DÖW-Akt 1938. Soyfers. Am 6. März 1939 übermittelte sie 6708/12 enthalten, DÖW-Akt 12558 ist Marika Rapoport auf einer handgeschrie- die Kopie des umfangreichen Strafakts des Mit Hilfe der im DÖW verwahrten Akten benen Karte die Todesnachricht. LG Wien (Vr 9437/37) von 1937/38 gegen lassen sich auch die Bemühungen Herbert Die Originale der oben angeführten Do- Jura Soyfer (in verschiedenen Dokumen- Steiners um die Bewahrung der von Jura kumente sind nicht öffentlich zugänglich, ten auch „Juri Soyfer“) wegen Betätigung Soyfer hinterlassenen Texte und Schrift- die entsprechenden Kopien werden unter für die Kommunistische Partei und der zeugnisse rekonstruieren, sowie die seit den Signaturen 2748, 5068, 7576, 12917, Verbreitung staatsfeindlicher Druckwerke. dem englischen Exil mit dem Namen 20468 und 20485 aufbewahrt. Darin finden sich auch Durchsuchungs- Steiners verbundenen, vielfältigen Bemü- Kopien der Berichte der Generaldirektion protokolle der Wohnungen von Jura hungen, Soyfers Werk einer breiteren Öf- für die öffentliche Sicherheit vom Novem- Soyfer und Helene Ultmann sowie Ver- fentlichkeit bekannt zu machen.

Präsentation des Hörbuchs WIR GRATULIEREN Nicht nur in Worten, auch in der Tat

Käthe Sasso erzählt ihre Jugend im Widerstand Gen.-Dir. i. R. Dkfm. Dr. Heinz Kienzl feierte seinen 90. Geburtstag. Box mit 3 Audio-CDs – 183 Minuten supposé, Berlin 2012. ISBN 978-3-86385-003-6, EUR 29,80

Montag, 7. Jänner 2013, 19 Uhr WIR BETRAUERN Hauptbücherei am Gürtel, Urban Loritz-Platz 2a, 1070 Wien

Der Maler Robert Lettner, im französi- Als 16-jährige Widerstandskämpferin wurde Käthe Sasso 1942 von der Gestapo verhaf- schen Internierungslager Gurs geboren, tet. Damit begann ihr dreijähriger Leidensweg, der durch mehrere Gefängnisse und ein setzte sich oft mit der Thematik Wider- Arbeitserziehungslager bis in das KZ Ravensbrück führte. Angeklagt wegen „Vorbe- stand auseinander. Er verstarb am 6. Sep- reitung zum Hochverrat“, bewahrte nur das jugendliche Alter Käthe Sasso vor der To- tember 2012 im Alter von 69 Jahren. desstrafe – die Mehrzahl ihrer KameradInnen der kommunistischen Widerstandsgruppe wurde hingerichtet. Nach der Räumung des Konzentrationslagers Ravensbrück rettete sich 1945 Käthe Sasso gemeinsam mit einer Freundin durch Flucht aus dem Todes- Henry Friedlander marsch in Richtung Bergen-Belsen und konnte nach Wien zurückkehren. (1930–2012) Anschaulich und lebendig erzählt Käthe Sasso im Hörbuch von einer glücklichen Kindheit in einem burgenländischen Dorf, der Schulzeit in Wien und der politischen Prof. Henry Friedlander, renommierter Prägung durch das familiäre Umfeld. Nach dem frühen Verlust der Mutter hielt sie die Holocaustforscher, Auschwitz-Überleben- Verbindungen zum Widerstand aufrecht; durch einen Spitzel wurde die Gruppe verraten. der und einer der engsten Freunde des Die erschütternden Erfahrungen inmitten der Todeszellen und der monströsen Bestialität DÖW in den USA, starb am 17. Oktober des Lagers, der Käthe Sasso ständig ausgeliefert war, zeigen eine außergewöhnliche 2012 im Alter von 82 Jahren. Frau, deren Mut des Herzens sie befähigt hat, sogar in aussichtslosen Situationen immer Als Heinz Friedländer am 24. September ihren Leidensgenossinnen beizustehen. 1930 in Berlin geboren, wurde er mit sei- Es ist auch dem Einsatz Käthe Sassos zu danken, dass der Begräbnisstätte der hingerich- nen Eltern im Herbst 1941 in das Ghetto teten WiderstandskämpferInnen am Wiener Zentralfriedhof (in der „Gruppe 40“) die an- Litzmannstadt deportiert. Von dort erfolg- gemessene und würdige Pflege zuteil wird. Mit enormem Engagement nimmt sie bei te die Überstellung nach Auschwitz und vielen Veranstaltungen die Verpflichtung zur Zeitzeugenschaft wahr und beindruckt vor später in weitere Konzentrationslager. Nur allem durch ihre Authentizität, mit der sie den schlichten Heroismus der Solidarität im Friedlander und sein Vater erlebten die Lebensalltag unter barbarischen Bedingungen vermitteln kann. Befreiung 1945. 1947 wanderte Henry Friedlander in die Programm Einleitung: Mag.a Hannah Lessing (Nationalfonds der Republik USA aus, wo er Geschichtswissenschaften Österreich für Opfer des Nationalsozialismus) studierte. Ab 1952 amerikanischer Staats- bürger, lehrte er nach dem Abschluss sei- Prof. Rudolf Gelbard im Gespräch mit Käthe Sasso nes Studiums an verschiedenen Universi- täten; 1975–2001 war er als Professor für Veranstalter: Büchereien Wien | Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider- Judaistik am Brooklyn College der City standes | Bundesverband österreichischer AntifaschistInnen, WiderstandskämpferInnen University of New York tätig und widmete und Opfer des Faschismus (KZ-Verband/VdA) | Bund Sozialdemokratischer Freiheits- sich der Erforschung des Holocaust. Ins- kämpfer/innen, Opfer des Faschismus und aktiver Antifaschist/inn/en | ÖVP-Kamerad- besondere untersuchte Friedlander den schaft der politisch Verfolgten und Bekenner Österreichs Zusammenhang zwischen der Euthanasie- 10 Mitteilungen 209

Aktion T4 und den Massenmorden mittels dem Bruno Brand Tolerance Book Award zender einer Expertenkommission für die Giftgas im Osten. Diesem Thema war des Simon Wiesenthal Zentrums und dem Neugestaltung der Gedenkstätte Bergen- auch seine letzte große Publikation (The DAAD-Buchpreis der German Studies Belsen (Niedersachsen). Origins of Nazi Genocide. From Eutha- Association ausgezeichnet. Seine Recher- Henry Friedlander, der die letzten Jahre nasia to the Final Solution, 1995; deut- chen führten Friedlander oft in das DÖW, zurückgezogen im US-Bundesstaat Maine sche Fassung: Der Weg zum NS-Genozid. dessen MitarbeiterInnen er seit Mitte der lebte, wurde in Washington neben seiner Von der Euthanasie zur Endlösung, 1997) 1970er-Jahre freundschaftlich verbunden Frau, der im Jahr 2000 verstorbenen His- gewidmet. Für diese Arbeit wurde er mit war. 2001–2007 war Friedlander Vorsit- torikerin Sybil Milton, bestattet.

Gastprofessuren führten ihn an internatio- Eric Hobsbawm (1917–2012) nal renommierte Lehrstätten, die Stanford University, das Massachusetts Institute of Einer der wichtigsten Historiker und zugleich Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts, Technology, die Cornell University, die Univ.-Prof. Dr. Eric J. Hobsbawm, starb am 1. Oktober 2012 im Alter von École des Hautes Études en Sciences So- 95 Jahren in London. Nicht nur seine jahrzehntelange Freundschaft mit Herbert ciales, das Collège de France, die Univer- Steiner, dem 2001 verstorbenen Mitbegründer des DÖW und der ITH, brachte sidad Nacional Autonoma in Mexiko und Hobsbawm immer wieder in Kontakt zum Dokumentationsarchiv, als dessen die New School for Social Research in „Archivbestand“ er sich scherzhaft bezeichnete (so in seiner Festrede anlässlich des New York. 40-jährigen Jubiläums des DÖW 2003, in der er über Herbert Steiner und die Politisch und in seinen Publikationen en- Bedeutung der Widerstandsforschung sprach). gagierte sich Hobsbawm für soziale Ge- rechtigkeit. Sein 1962 erschienenes Buch Am 9. Juni 1917 als Sohn eines britischen te sich Hobsbawm an Flugblattaktionen Sozialrebellen. Archaische Sozialbewe- Kolonialbeamten und einer Wienerin in für die KPD: „Darin lag ein Element des gungen im 19. und 20. Jahrhundert gab Alexandria (Ägypten) geboren, wuchs Wildwestspielens – wir waren die Indianer der Geschichtsforschung über die „einfa- Eric Hobsbawm im Wien der Zwischen- und nicht die US-Kavallerie –, doch die chen Leute“ entscheidende Impulse. Be- kriegszeit auf. In der, wie er selbst meinte, reale Bedrohung war immerhin so groß, kannt wurde Hobsbawm insbesondere „Rückschau eines Historikers“ erinnerte er dass wir wirklich Angst empfanden und durch seine Trilogie Das lange 19. Jahr- sich später an diese Jahre: zugleich eine Erregung darüber, dass hundert – Europäische Revolutionen: wir eine Gefahr auf uns nahmen.“ 1789–1848, Die Blütezeit des Kapitals. „Ich verbrachte meine Kindheit in der ver- (Hobsbawm, Gefährliche Zeiten, S. 98) Eine Kulturgeschichte der Jahre armten Hauptstadt eines Großreichs, die Seine Teilnahme an der letzten legalen 1848–1875 sowie Das imperiale Zeitalter nach dessen Zusammenbruch einer ziem- Demonstration der KPD am 25. Jänner 1875 bis 1914 – und seine Publikation lich kleinen provinziellen Republik von 1933 sollte ihn entscheidend prägen: über das „kurze 20. Jahrhundert“: Zeit- großer Schönheit angehörte, die nicht dar- alter der Extreme. Weltgeschichte des an glaubte, dass es sie unbedingt geben „Als ich zwei Jahre später, isoliert in Eng- 20. Jahrhunderts. Sein Gesamtwerk be- müsse.“ land, über die Grundlage meines Kom- einflusst mittlerweile Generationen von (Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein munismus nachdachte, war dieses Gefühl HistorikerInnen. 2003 veröffentlichte er Leben im 20. Jahrhundert, München– einer Massenekstase einer ihrer fünf Be- seine Erinnerungen (Gefährliche Zeiten. Wien 2003, S. 25) standteile – neben dem Mitgefühl für die Ein Leben im 20. Jahrhundert), zuletzt er- Ausgebeuteten, dem ästhetischen Reiz ei- schien von ihm der Band Wie man die Welt Nach dem Tod seiner Eltern – der Vater nes vollkommenen und umfassenden in- verändert. Über Marx und den Marxis- starb 1929, die Mutter 1931 – lebte er bei tellektuellen Systems, dem ‚dialektischen mus. seinem Onkel in Berlin. Dort schloss er Materialismus‘, ein wenig von der Hobsbawm wurde vielfach ausgezeichnet, sich politisch der Linken an und war ab Blakeschen Vision vom neuen Jerusalem u. a. erhielt er den Bruno Kreisky-Preis für Herbst 1932 im KPD-nahen Sozialisti- und einer kräftigen Portion intellektueller das politische Buch, den Leipziger Buch- schen Schülerbund aktiv; später (1936) Spießerfeindlichkeit.“ preis zur Europäischen Verständigung, die trat er der Communist Party of Great Bri- (Hobsbawm, Gefährliche Zeiten, S. 96) Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien tain bei, deren Mitglied er bis zu deren in Gold und den Bochumer Historiker- Auflösung 1991 blieb. „Der deutsche Na- Kurz nach der Machtübernahme der Na- preis. 2008 erhielt er das Ehrendoktorat tionalismus, ob in der traditionellen Form tionalsozialisten im März 1933 reiste der Universität Wien und wurde zum des PHG [Prinz-Heinrichs-Gymnasium, Hobsbawm nach England. Nach dem Stu- Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt. das Hobsbawm in Berlin besuchte] oder in dium der Geschichtswissenschaften in der Form von Hitlers Nationalsozialismus, Cambridge begann er 1947 am Birkbeck war keine Option für einen Engländer und College der Universität London zu unter- Diese Zeitung ist eine von Juden, auch wenn ich verstehen konnte, richten. Von 1971 bis zur Emeritierung 1.800 aus dem Leseprogramm von warum er auf Menschen, die weder das ei- 1982 war der Mitbegründer der marxisti- EISENBACHER GmbH ne noch das andere waren, so attraktiv schen Tradition in der britischen Ge- MEDIENBEOBACHTUNG wirkte. Was blieb außer den Kommunisten schichtsschreibung dort als Professor für übrig [...]“ (Hobsbawm, Gefährliche Wirtschafts- und Sozialgeschichte tätig. 1060 WIEN, LAIMGRUBENGASSE 10 Zeiten, S. 79) Ab 1984 hatte er einen Lehrstuhl für Po- TEL.: 01/36060 - 5401; FAX: 01/36060 - 5699 E-MAIL: [email protected] In den letzten Monaten vor der NS- litik und Gesellschaft an der New School INTERNET: www.eisenbacher.net Machtübernahme in Deutschland beteilig- for Social Research in New York inne. Wir freuen uns über Ihr Interesse: Fünfmal jährlich werden rund 5000 Exemplare der Mitteilungen in alle Welt versandt ... Herstellung und Versand verursachen allerdings beträchtliche Kosten. Um unsere Mitteilungen so wie bis- her kostenlos versenden zu können, erlauben wir uns auch heuer, unsere LeserInnen um eine Spende auf un- ser Konto BAWAG 05410 028 400 (BLZ 14000) zu ersuchen. BezieherInnen in Österreich bitten wir, hier- für den beiliegenden Erlagschein zu verwenden.

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Österreicher im Exil. Mexiko 1938–1947. Eine Dokumentation, Herbert Exenberger/Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran, hrsg. v. DÖW. Deuticke 2002, 704 S., Bildteil. Leinen oder Wien 2003, 112 S., i 5,– ... Stück Karton i 15,– Leinen ... Stück Karton ... Stück DÖW, Katalog zur permanenten Ausstellung. Wien 2006, 207 S., 160 Abb., i 24,50 ... Stück Florian Freund, Concentration Camp Ebensee. Subcamp of Mauthausen, 2nd revised edition, 1998, 63 S., i 4,30 DÖW, Catalog to the Permanent Exhibition, Wien 2006, 95 S., ... Stück über 100 Abb., i 14,50 ... Stück

Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Öster- Bewahren – Erforschen – Vermitteln. Das Dokumentations- reichs 1938–1945, Wien 1999, 86 S. i 4,30 archiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 190 S., ... Stück i 13,50 ... Stück

Josef Hindels, Erinnerungen eines linken Sozialisten, Wien Martin Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“. Österreichi- 1996, 135 S. i 6,50 ... Stück sche Jüdinnen und Juden in Theresienstadt. Wien 2009, 232 S., i 19,90 ... Stück Kombiangebot Gedenken und Mahnen in Wien, Gedenkstätten zu Widerstand Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner, und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, hrsg. v. Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. DÖW, Wien 1998 und Gedenken und Mahnen in Wien. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswär- Ergänzungen I, Wien 2001. i 13,– (statt i 15,–) tigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009, 630 S., i 29,90 ... Stück ... Stück Günther Morsch / Bertrand Perz, Neue Studien zu nationalso- Gerhardt Plöchl, Willibald Plöchl und Otto Habsburg in den zialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Be- USA. Ringen um Österreichs „Exilregierung“ 1941/42, Wien deutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, 2007, 288 S., Ladenpr. i 9,90 ... Stück Metropol Verlag 2011, 446 S., Ladenpr. i 24,– ... Stück Wolfgang Form/Oliver Uthe (Hrsg.): NS-Justiz in Österreich. Heinz Arnberger / Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Gedenken Lage- und Reiseberichte 1938–1945. Schriftenreihe des DÖW zu und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Wi- Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten, Bd. 3, derstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Mandelbaum Verlag LIT Verlag 2004, LVIII, 503 S., Sonderpreis i 25,– ( Ladenpr. 2011, 712 S., Ladenpr. i 39,90 ... Stück i 49,90) ... Stück Florian Freund, Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumen- Hans Landauer, Erich Hackl, Lexikon der österreichischen Spa- tation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943–1945, nienkämpfer 1936–1939, 2. erw. Aufl., Theodor Kramer Gesell- Braintrust, Verlag für Weiterbildung 2010, 444 S., i 29,– schaft 2008, 270 S., Ladenpr. i 29,90 ... Stück ... Stück Jahrbuch 2011, hrsg. vom DÖW, Schwerpunkt: Politischer Wi- derstand im Lichte von Biographien, Wien 2011, 302 S., Institut Theresienstädter Initiative/DÖW (Hrsg.) Theresien- i 13,50 ... Stück städter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden in Theresienstadt 1942–1945, Prag 2005, 702 S., i 29,– Jahrbuch 2012, hrsg. vom DÖW, Gedenkstätte für die Opfer ... Stück der Gestapo Wien. Bilder und Texte der Ausstellung, Wien 2012, 205 S., i 9,50 ... Stück Wolfgang Stadler, „... Juristisch bin ich nicht zu fassen.“ Die Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwir- Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwäl- kungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer, hrsg. vom te 1945–1955, LIT Verlag 2007, 397 S., Ladenpr. i 29,90 DÖW, Wien 2012, 420 S., i 19,50 ... Stück ... Stück

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