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SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Vielfalt zwischen Atlantik und Pazifik – eine Musikgeschichte Kanadas zum 150. Geburtstag Teil 5 - Legenden und Migranten: Von den Rock-Ikonen zu globalen Popfarben.

Mit Stefan Franzen

Sendung: 30. Juni 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017

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SWR2 Musikstunde mit Stefan Franzen 26. Juni – 30. Juni 2017 Vielfalt zwischen Atlantik und Pazifik – eine Musikgeschichte Kanadas zum 150. Geburtstag Teil 5 - Legenden und Migranten: Von den Rock-Ikonen zu globalen Popfarben.

Signet

Mit Stefan Franzen. Herzlich Willkommen zu „Vielfalt zwischen Atlantik und Pazifik – eine Musikgeschichte Kanadas zum 150. Geburtstag“. Legenden und Migranten: Im fünften und letzten Teil ein großer Schlussbogen von den einstigen Rock-Ikonen zu globalen Popfarben.

Titelmelodie

Bis heute sind viele kanadische Musiker immer wieder dem Verdacht ausgesetzt, sie seien Amerikaner. Das gilt ganz besonders für die Rockmusik und hat natürlich auch viel damit zu tun, dass die Mehrheit der Bands schon sehr früh über die Grenze nach Süden abwandert, um eine Chance auf Erfolg zu haben. Der vergleichsweise kleine kanadische Musikmarkt bietet Ende der 1960er keine wirtschaftliche Grundlage. Eine unrühmliche Rolle spielen dabei auch die privaten Radiosender, die einheimische Bands größtenteils ignorieren. Das ist auch der Grund für den Exodus der Torontoer Band Mandala: Um ihr Album „Soul Crusade“ aufzunehmen, gehen sie in die USA und bekommen einen Plattenvertrag beim renommierten Label Atlantic. „Love-Itis“ ist die Singleauskopplung für diese Blue-Eyed Soulband, also eine Soulformation mit weißen Musikern, die den Sound aus Detroit und Memphis nach Kanada importiert.

MUSIK 01 Harvey Scales, Albert Vance, East-Lennie La Cour: „Love-Itis“ [frei 2‘42“] Roy Kenner: Gesang, Don Troiano: Gitarre, Don Elliot: Bass, Whitey Glan: perkussion, Hugh Sullivan: Orgel und Vibraphon (Mandala) Titel CD: Soul Crusade Atlantic, SD 8184, LC 00121

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Die Band Mandala aus dem Jahre 1968 mit ihrem damaligen Hit „Love-Itis“. Pierre Trudeau, der Vater des heutigen Premierministers, lässt 1971 die sogenannte Canadian Content Regulation durchsetzen, um die Amerikahörigkeit der einheimischen Musikindustrie zu beenden. Sie schreibt den Radiosendern vor, verstärkt kanadische Songs zu spielen. Eine der Bands, die bald massiv davon profitiert, ist The Guess Who aus Winnipeg. Ihre Vorgängergruppen eingerechnet existiert sie mittlerweile seit sage und schreibe sechzig Jahren. Auch sie müssen in ihrer Frühphase damit kämpfen, überregional bekannt zu werden, absolvieren Lehrjahre in Kalifornien und England, und schaffen schließlich einen Sound, der Regionales mit Psychedelischem, eingängige Popmelodien mit Hardrock verknüpft. Ihr vielleicht interessantestes Album stammt aus dem Jahr 1969 und nennt sich „Canned Wheat“, also Weizen in Dosen, eine unverblümte Anspielung auf ihre Bluesrock-Kollegen Canned Heat. Das Coverbild will mit ironischem Unterton sagen: Hier ist eine Band, die den Weizen aus den unermesslichen Ebenen ihrer Heimat Manitoba in handliche Konserven packt und in die große Welt importiert. Wenig später haben The Guess Who sogar den ersten Nummer 1-Hit einer kanadischen Band in der US-Hitparade: „American Woman“ trifft mit seiner Kritik am Establishment den Nerv der Zeit südlich und nördlich der Grenze. Hier eine etwas verspieltere, psychedelisch angehauchte Nummer aus dem „Canned Wheat“-Album: „Undun“.

MUSIK 02 Randy Bachman: „Undun“ [frei 3‘29“] The Guess Who Titel CD: Canned Wheat RCA Victor, LSP 4157, LC 00316

Dem größten kanadischen Rockmusiker kann man sich auf unzählige Arten nähern, auch über die deutsche Literatur. Was ihn dazu gebracht hat, zur Beruhigung für seine drei Monate alte Tochter, die unter Blähungen litt, ausgerechnet Neil Young aufzulegen, schreibt der deutsche Autor Navid Kermani, das war seine Stimme. Kermani wörtlich: „Diese jämmerlich hohe, regelmäßig ins Weinerliche kippende, für einen Sänger, zumal für einen Rocksänger eigentlich unmögliche Stimme, die viel zu 4 schmal, fast fistelig ist, diese Stimme eines Kafkaschen Hungerkünstlers, die für jeden Unempfänglichen neuralgisch sein muss und mir nun schon so viele Jahre die boshaftesten Bemerkungen von Bekannten beschert, wohingegen ich wie wahrscheinlich jeder seiner Fans sie mehr als alles andere an ihm liebe.“ Trotz oder gerade wegen dieser Stimme: Neil Young ist Kanadas bekanntester Musiker überhaupt, sein Schaffen, das von Folkballaden bis zu krachigen Gitarrengewittern reicht, nicht aus der Rockgeschichte wegzudenken. Viele Fans sind sich einig, dass Youngs Arbeit mit Crazy Horse den Kern seiner Musik bildet. Mit der Band, die nach einem Lakota-Häuptling benannt ist, hat er auch immer wieder Themen der Ureinwohner Nord- und Südamerikas aufgegriffen. So etwa auf dem vielgepriesenen Konzeptalbum „Zuma“ von 1975. Youngs ungeschliffenes Charisma entfaltet sich in epischen Stücken wie „Cortez The Killer“ oder „Danger Bird“.

MUSIK 03 Neil Young: „Danger Bird“ 6‘53“ (Intro einblenden unter Autor bis 0‘45“, ausblenden ab 6‘20“ möglich) [frei 5‘30“] Neil Young: Gesang und Gitarre Band (Crazy Horse) Titel LP: Zuma Reprise Records, REP 54 057, LC 00392

Der grobe unbehauene Rock von Crazy Horse und Neil Young. Doch auch für die virtuoseren, komplexeren Strukturen des Progressive Rock ist Kanada eine gute Brutstätte. Neben der Band Saga steht vor allem das Torontoer Trio Rush seit Mitte der 1970 bis heute für diesen Sound, getragen von der markigen Kopfstimme des Sängers Geddy Lee, der auch gleichzeitig Bass und Keyboards spielt. Die vielen Kapitel, die die Band durchlaufen hat, reichen vom Blues- und Hardrock, bis zur wegweisenden Verwendung von Synthesizern und stadiontauglichen Poprefrains. Ein kleiner Umbruch im Schaffen von Rush ist „Permanent Waves“ von 1980, hier fließen Wave und Reggae-Elemente ein, und wer bei „The Spirit Of Radio“ genau hinhört, kann sogar ein paar Zeilen Lyrik von Simon & Garfunkel entdecken. (0‘50“)

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MUSIK 04 Geddy Lee, Alex Lifeson, Neil Peart: „The Spirit Of Radio“ [frei 4‘56“] Geddy Lee: Gesang, Bass und Keyboards, Alex Lifeson: Gitarren, Neil Peart: Drums (Rush) Titel CD: Permanent Waves Mercury Records, 822 548-2, LC 00268

In den 1980er Jahren kommerzialisiert sich der Sound des kanadischen Rock, und er wird vor allem von einem Mann dominiert, der auch in unseren Breiten ein Superstar wird: Bryan Adams. Alben wie „Cuts Like A Knife“ oder „Reckless“ finden sich bei uns auf den Top-Positionen der Charts. Der Verzicht auf Bryan Adams an dieser Stelle gibt uns die Möglichkeit, etwas genauer in die zweite Reihe der kanadischen Rockvertreter in den frühen Neunzigern hineinzuhören. Ganz entgegen dem damaligen Grunge-Trend spielt eine Band aus Halifax namens Sloan einen melodiösen und doch kernigen Rock, der ihnen gelegentlich den hinkenden Vergleich „kanadische Beatles“ einbringt. Vor allem ihr Album „“ überzeugt die Kritiker so, dass die Scheibe 1995 zum besten kanadischen Album aller Zeiten gekürt wird. Sloan gehört zu den vielen Bands Kanadas, von denen man hier bei uns kaum etwas gehört hat, die aber in den nationalen Wertungen ganz weit oben stehen. Hier ist „“. (1‘15“)

MUSIK 05 Jay Ferguson, Chris Murphy, Patrick Pentland, : „Coax Me“ [frei 3‘25“] Jay Ferguson: Gitarre, Chris Murphy: Bass, Patrick Pentland: Gitarre, Andrew Scott: Drums (Sloan) Titel CD: Twice Removed Geffen Records, GED24711, LC 07266

Heiligenzell im Schwarzwald und die kanadische Rockmusik haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Doch es gibt eine geheime Verknüpfung: Ein Franko- Ontarier und seine aus Ungarn stammende Frau geben hier Ende der 1970er kanadischen Kindern von Militärangehörigen der kanadischen Luftwaffenbasis Lahr 6

Schulunterricht. Ihre eigene Tochter heißt Alanis. Die vier Jahre im Black Forest haben keine Auswirkungen auf die Musik von . Doch sie wird die erste Frau, die nach Anfängen im Pop Mitte der 1990er endlich die Phalanx der männlichen Rockkollegen durchbricht. Seit der CD „Jagged Little Pills“ mit den Hits „“ und „Ironic“ hat Morissette ihren Stil in eine empfindsamere Richtung gelenkt, und parallel dazu auch hin und wieder ins Schauspielfach reingeschmeckt, etwa bei Sex and The City oder in ihrer wunderbaren Rolle als Gott im Film „Dogma“. Hier kommt eine Rarität aus ihrem Schaffen, die sie 2003 in Vancouver bei einer Akustiksession aufgenommen hat: „So Unsexy“

MUSIK 06 Alanis Morissette: „So Unsexy (remixed)“ (unter Autor einblenden, ab 0‘14“ frei bis 4‘35“, dann unter Autor aus) [frei 4‘20“] Alanis Morissette: Gesang und Gitarre Band Titel CD: The Collection Maverick, 9362 49490-2, LC 01485

Dass Pop aus Kanada nicht immer eine so gefühlige und ernste Angelegenheit ist wie in Alanis Morissettes Balladen, dringt auch bis zu uns vor: Bands wie die Barenaked Ladies mit ihren humoresken Auftritten oder die Crash Test Dummies mit abgründigen und ironischen Texten verweisen auf das Erbe des britischen Humors. Auch bei den Hidden Cameras, ein Kollektiv von bis zu 20 Musikern, spielt Ironie eine große Rolle. Sie sind seit 15 Jahren das prominenteste Aushängeschild der Queer-Szene von Toronto, werfen kompromisslose Blicke auf die Freunde und Sorgen des homosexuellen Alltags in der Metropole und lassen sich in ihren Liveshows von Gogo-Tänzern begleiten. Auch hierzulande haben sie etliche Anhänger, Mehmet Scholl etwa: Seinen Abschied bei Bayern München haben sie musikalisch begleitet, was bei der Clubführung doch für einige Irritationen gesorgt hat. Mastermind John Gibb stellt auf dem kürzlich erschienenen Album „Home On Native Land“ aus schwuler Perspektive die Frage nach der kanadischen Identität, und er tut das mit jeder Menge Country- und Folkflair, das sich zum typisch 7 symphonischen Popsound der Band hinzugesellt. Hier ist aus diesem Album der Titel „Big Blue“.

MUSIK 07 John Gibb: „Big Blue“ [frei 3‘17“] John Gibb: Gesang Band (Hidden Cameras) Titel CD: Home On Native Land Rough Trade, RTRADCD158, LC 11945

Die größte kanadische Rock-Enthüllung dieses Jahrhunderts kommt ganz ohne Zweifel aus Montreal, und sie wird von einem Ehepaar angeführt, das gar keine kanadischen Wurzeln hat. Der Texaner und die aus Haiti stammende Régine Chassagne gründeten 2002 – ein Name, der nicht nur in Montréal eine neue Welle des Alternative Rock auslöst, sondern weltweit für Nachahmer sorgt. Warum? So richtig erklären kann man es kaum. Arcade Fire instrumentieren mit Geige, Blechbläsern und Kirchenorgeln, sie bedienen sich beim Art Rock und der Klassik, ihr Sound ist ungeschmirgelt, unbequem, nie eingängig, und der Gesang von Butler irgendwo zwischen hysterisch und hymnisch. Vielleicht hat all das den Nerv der Nullerjahre getroffen, nachdem man die eher sterilen Neunziger überlebt hatte. Arcade Fire zählen zu ihren Fans David Bowie und , und seit ihrem Debütalbum „Funeral“ hat die kanadische Rockmusik ein viel experimentelleres Gesicht bekommen. Aus dem zweiten Werk „“ kommt hier das Orgel-schwangere „Intervention“, aufgenommen in einer alten Kirche.

MUSIK 08 Régine Chassagne, , Win Butler, , , , Jeremy Gara: „Intervention“ [frei 4‘15“] Win Butler: Gesang Band (Arcade Fire) Titel CD: Neon Bible Merge Records, MRG285, LC 20279 8

Das neue Jahrtausend in der kanadischen Rock- und Popgeschichte, es ist ein Spiegelbild der multikulturellen Gesellschaft. Gerade in den Großräumen Montreal und noch mehr in Toronto ist ein so hoher Anteil von Immigranten aus aller Damen und Herren Länder zu finden, dass das natürlich nicht ohne Konsequenzen für die Musikszene bleibt. Kanada als globales Dorf hat frische Farben in die Charts gebracht. 2004 bekennt sich die Sängerin Nelly Furtado ganz ausdrücklich zu ihren Wurzeln auf den Azoren: Ihr zweites Album nennt sie „Folklore“, dichtet portugiesische Verse und baut Elemente aus dem Fado und der brasilianischen Musik ein. Ihre jüngere Kollegin Alysha Brilla aus der Studentenstadt Kitchener- Waterloo macht ihr indo-tansanisches Erbe zum Thema, betupft ihre Arrangements mit Sitar und hindustanischem Gesang, bezieht aber auch Reggae mit ein. Zuerst „Island Of Wonder“, ein Duett von Nelly Furtado mit dem brasilianischen Altstar Caetano Veloso und danach Alysha Brilla mit dem Stück „Immigrant“.

MUSIK 09 Nelly Furtado, J. Gahunia, S. Diaz: “Island Of Wonder“ [frei 3‘48“] Nelly Furtado: Gesang, Caetano Veloso: Gesang Band Titel CD: Folklore DreamWorks Records, 4505089, LC 07266

MUSIK 10 Alysha Brilla: „Immigrant“ [frei 4‘00“] Alysha Brilla: Gesang und Gitarren Band Titel CD: „Womyn“ Sunny Jam Records, LC nicht hinterlegt

Wir sind am Ende unserer kanadischen Musikstunde und -woche anlässlich des morgigen 150. Geburtstages des Landes angelangt und haben nur an der Oberfläche der vielfältigen Klänge kratzen können. Die vielen Überschneidungen 9 zwischen Folk und Klassik, der Jazz und die afro-kanadische Szene: All das ließ sich hier nicht vertiefen. Ich ermutige Sie zu weiteren Erkundungen, online gibt es eine Playlist. Zum Schluss ein Blick auf die aktuelle HipHop- und R&B-Szene, auch sie ist in Kanada ein Spiegel der globalen Gesellschaft. Mit Drake und The Weeknd hat Kanada zwei Musiker, die international ganz vorne mitmischen. Der von Äthiopiern abstammende Abel Makkonen Tesfaye wird von Kritikern als neuer gehandelt und unter seinem Künstlernamen The Weeknd feiert er weltweit Erfolge. Hier The Weeknd mit seiner Single „Starboy“, aufgenommen mit der französischen Dance-Formation .

MUSIK 11 Abel „The Weeknd“ Tesfaye, Tomas Bangalter, Guy-Manuel De Homem-Christo, Martin McKinney, Henry Russell Walter: „Starboy“ [frei 3‘50“] The Weeknd: Gesang Band (Daft Punk) Titel CD: „Starboy“ Single Universal, 602557 246773, LC 07552

Das war die Musikstunde mit kanadischem Rock und Pop zum 150. Geburtstag des Landes. Stefan Franzen sagt Danke fürs Zuhören. Wie immer finden Sie die Manuskripte auf unserer SWR2 Homepage, dort können Sie die Sendungen auch eine Woche lang nachhören. Morgen begrüßt Sie Günther Huesmann in der SWR2 Musikstunde zu „Jazz across the border“.