69. Jahrgang, 44–45/2019, 28. Oktober 2019
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Hartz IV
Christoph Butterwegge · Rainer Hank Daniela Schiek · Carsten G. Ullrich DEUTSCHLAND GENERATIONEN DER ARMUT? NACH HARTZ IV: Jens Wietschorke ZWEI PERSPEKTIVEN GRENZEN DER Ulrich Walwei RESPEKTABILITÄT. HARTZ IV – GESETZ, ZUR GESCHICHTE EINER GRUNDSÄTZE, WIRKUNG, UNTERSCHEIDUNG REFORMVORSCHLÄGE Ursula Bitzegeio Bodo Aretz et al. · Marcel Fratzscher HARTZ IV ALS HARTZ IV REFORMIEREN? PROBLEMGESCHICHTE ZWEI PERSPEKTIVEN DER GEGENWART
ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Hartz IV APuZ 44–45/2019
CHRISTOPH BUTTERWEGGE · RAINER HANK DANIELA SCHIEK · CARSTEN G. ULLRICH DEUTSCHLAND NACH HARTZ IV: GENERATIONEN DER ARMUT? ZWEI PERSPEKTIVEN Seit Einführung der Grundsicherung 2005 Deutschland stehe nicht zuletzt wegen Hartz IV wächst die Sorge, dass Hartz IV „vererbbar“ ist. vor einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Das direkte Miteinanderteilen wohlfahrtsstaatli- Zerreißprobe, meint Christoph Butterwegge. cher Abhängigkeit stellt indes nur einen Modus Rainer Hank verweist auf die Erfolge der Refor- des Umgangs von Familien mit ihrer Hartz-IV- men bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Geschichte dar. fragt sich, was es da zu jammern gibt. Seite 27–32 Seite 0 4 –11
JENS WIETSCHORKE ULRICH WALWEI GRENZEN DER RESPEKTABILITÄT. HARTZ IV – GESETZ, GRUNDSÄTZE, ZUR GESCHICHTE EINER UNTERSCHEIDUNG WIRKUNG, REFORMVORSCHLÄGE „Volk“ oder „Pöbel“, deserving oder undeser- Mit der vierten Hartz-Reform wurden Arbeits ving poor: In zahllosen Varianten strukturieren losen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der solche Unterscheidungen historische wie aktuelle damaligen Sozialhilfe zusammengelegt. Prinzi- Diskurse über die Unterklassen. Der Beitrag gibt pien wie „Fördern und Fordern“ sind bis heute einen Überblick und fragt nach diesbezüglichen umstritten. Welche Wirkungen hatte Hartz IV, Auswirkungen der Hartz-Gesetze. welche Reformoptionen sind im Gespräch? Seite 33–39 Seite 12–21
URSULA BITZEGEIO BODO ARETZ ET AL. · MARCEL FRATZSCHER HARTZ IV ALS PROBLEMGESCHICHTE HARTZ IV REFORMIEREN? DER GEGENWART ZWEI PERSPEKTIVEN Weder die Bekämpfung der manifesten Arbeits- Bodo Aretz, Jan Fries und Christoph M. Schmidt losigkeit noch der Reformprozess und schon gar halten Fördern und Fordern für ein erfolgreiches nicht der politische Streit um Arbeitslosen- und Leitprinzip und warnen vor Rückschritten. Grundsicherung sind heute abgeschlossen. Marcel Fratzscher fragt sich, ob das System Welche Bedeutung kommt der Hartz-IV-Reform der Grundsicherung noch zeitgemäß ist, und in einer Problemgeschichte der Gegenwart zu? präsentiert Reformvorschläge. Seite 40–46 Seite 22–26 EDITORIAL
Vor fast 15 Jahren, zum 1. Januar 2005, trat das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft. Anfang 2002 hatte die rotgrüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) als eine Reaktion auf den Skandal um falsche Vermittlungsstatistiken bei der Bundesanstalt für Arbeit eine Kommission unter Leitung des damaligen VW-Personalvorstands, Peter Hartz, eingesetzt. Die Hartz-Kommission sollte die „notwendigen gesetzgeberischen Schritte“ in den Kernbereichen „Arbeits- und Ausbildungsstellenvermittlung, Auszahlung von Lohnersatzleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik“ vor- bereiten. Daraus gingen die sogenannten Hartz-Gesetze I bis IV hervor, die 2002/03 verabschiedet wurden. Mit Hartz IV wurden unter anderem Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II auf dem Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt, die Zumutbarkeitskriterien für eine Arbeitsaufnahme verschärft und die Bezugs- dauer des Arbeitslosengeldes I auf höchstens 18 Monate verkürzt. Eingebettet in einen größeren Reformzusammenhang, der Agenda 2010, die Schröder am 14. März 2003 verkündet hatte, löste Hartz IV eine Protestbewegung aus, in deren Fahrwasser die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) gegründet wurde. 2007 verschmolz sie mit der PDS zur Partei Die Linke. Bis heute sind die Arbeitsmarktreformen umstritten. „Hartz IV“ ist zur doppelgesichtigen Chiffre geworden: sowohl für einen in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Sozialabbau als auch für einen Aufbruch aus verkrusteten Strukturen und die erfolgreiche Bekämpfung verfestigter Massen- arbeitslosigkeit. Waren 2005 noch knapp fünf Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, hat sich die Zahl bis 2019 mehr als halbiert. Studien belegen, dass Hartz IV an diesem Beschäftigungsaufschwung einen Anteil hatte. Aber um welchen Preis? Kritisiert wurden und werden immer wieder der Umgang mit langjährig Berufstätigen, die Zumutbarkeitskriterien, die Sanktionierungen, die Höhe der Regelleistung, die Grundsicherung in Bezug auf Kinder sowie die Regelungen zum Hinzuverdienst und zum sogenannten Schonvermögen.
Anne Seibring
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DEUTSCHLAND NACH HARTZ IV: ZWEI PERSPEKTIVEN
sondern primär an den durch die Hartz-Refor- Die zerrissene Republik men drastisch verschärften Anspruchsvorausset- zungen, Kontrollmechanismen und Repressali- Christoph Butterwegge en der für die Leistungsgewährung zuständigen Jobcenter und Sozial- beziehungsweise Grund sicherungsämter. Das im Volksmund „Hartz IV“ genannte Gesetz Durch das Gesetz hat sich die finanzielle Si- war keine Arbeitsmarkt- oder Sozialreform wie tuation von Millionen Langzeit- beziehungs- jede andere. Denn das am 1. Januar 2005 in Kraft weise Dauererwerbslosen und ihren Familien getretene, vom damaligen Wirtschafts- und Ar- spürbar verschlechtert. Insbesondere durch das beitsminister Wolfgang Clement als „Mutter al- Abdrängen der Langzeiterwerbslosen, die vor- ler Reformen“ gewürdigte Vierte Gesetz für mo- her Arbeitslosenhilfe erhalten hatten, in den Für- derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hat die sorgebereich mit seinen für alle gleich niedrigen Bundesrepublik so tief greifend verändert wie Transferleistungen trug Hartz IV dazu bei, dass sonst kaum eine innenpolitische Entscheidung sich die Kinderarmut beinahe verdoppelte. Gab von Parlament und Regierung. 01 Während sei- es im Dezember 2004, also unmittelbar vor dem ne Befürworter/innen den anschließenden Kon- Inkrafttreten des Gesetzespakets, 1,1 Millionen junkturaufschwung und die Halbierung der Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die So- Arbeitslosigkeit wesentlich auf Hartz IV zurück- zialhilfe bezogen, so lebten im Dezember 2017 et- führen, machen seine Kritiker/innen geltend, dass was mehr als zwei Millionen und im Dezember die Bundesrepublik Deutschland unsozialer, käl- 2018 knapp unter zwei Millionen unverheiratete ter und inhumaner geworden sei. Im Folgenden Minderjährige von Hartz-IV-Leistungen. zeige ich, wie sich die Arbeitsmarktreform indi- Stark betroffen waren Ostdeutsche, alleiner- viduell, also auf die unmittelbar Betroffenen, und ziehende Mütter und Migranten, deren soziale gesamtgesellschaftlich, also auf das soziale Klima Probleme sich durch Hartz IV verschärften. Weil und die politische Kultur der Bundesrepublik, das Arbeitslosengeld II als ergänzende Transfer- ausgewirkt hat. leistung zu einem geringen Lohn konzipiert war, dürfte Hartz IV außerdem entscheidend dazu bei- BETROFFENE getragen haben, dass der Niedriglohnsektor, das UND PROFITEURE Haupteinfallstor für heutige Erwerbs-, Famili- en- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut, Insgesamt haben seit Anfang 2005 etwa 20 Mil- mittlerweile beinahe ein Viertel der Beschäftigten lionen Personen zumindest eine Zeit lang die umfasst. Ungefähr eine Million der Arbeitslosen- Grundsicherungsleistungen der Bundesagentur geld-II-Bezieher/innen sind gar nicht arbeitslos, für Arbeit bezogen. Aufgrund der hohen per- sondern können von dem Lohn, den sie erhalten, sonellen Fluktuation innerhalb des Grundsi- bloß nicht leben, ohne ergänzend Hartz IV in An- cherungssystems haben sehr viele Bürger/innen spruch zu nehmen. einmal oder sogar wiederholt die deprimieren- In der politischen, medialen und Fachöffent- de Erfahrung von Hartz-IV-Hilfebedürftigkeit lichkeit bleibt die Frage, ob Hartz IV arm macht gemacht. Dass die Gesamtzahl der Transferleis- oder ob damit erfolgreich Armutsprävention be- tungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenom- trieben wird, bis heute umstritten. Das verwun- men hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, dert kaum, weil „Armut“ ein politisch-norma- liegt nicht etwa an einem Rückgang der materi- tiver, sehr komplexer, mehrdimensionaler sowie ellen Bedürftigkeit von Leistungsberechtigten, moralisch und emotional aufgeladener Begriff
04 Hartz IV APuZ ist. 02 Hieraus resultieren eine unterschiedliche bis Inge Hannemann, jahrelang Mitarbeiterin ei- gegensätzliche Haltung der Kommentator(inn)en nes Jobcenters, klagt darüber, dass die Mensch- zu ihrem Gegenstand und stark differierende Be- lichkeit bei dem Versuch, die Vermittlung, Bera- wertungen. Dies gilt auch für das 2011 eingeführ- tung und Begleitung von Personen auf ihrer Suche te Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregie- nach Erwerbstätigkeit in betriebswirtschaftliche rung, das seine Befürworter/innen als Etappensieg Zahlen umzuwandeln, auf der Strecke geblieben im Kampf gegen die Kinderarmut feiern, während sei. 06 Hartz IV macht nicht bloß viele Menschen seine Kritiker/innen darin ein bürokratisches arm, sondern auch krank. Der massive Druck, Monstrum sehen, das die meisten anspruchsbe- den Jobcenter auf Bezieher/innen des Arbeits- rechtigten Eltern davon abhält, die entsprechen- losengeldes ausüben, zieht nicht selten Depres- den Leistungen zu beantragen. 03 sionen nach sich. Das vorgeblich „aktivierende“ Wie das Bremer Institut für Arbeitsmarktfor- Hartz-IV-System führt die Arbeitslosengeld-II- schung und Jugendberufshilfe (BIAJ) errechnete, Bezieher/innen oftmals in einen Teufelskreis aus wurden Hartz-IV-Bezieher/innen in den vergan- Perspektivlosigkeit und Passivität hinein, in dem genen Jahren immer mehr von der allgemeinen mit Frustrationserfahrungen, Überhand nehmen- Einkommensentwicklung abgekoppelt. Sowohl den Resignationstendenzen und sinkendem An- absolut wie relativ hat sich der Abstand zwi- spruchsniveau auch die Eigenaktivität nachlässt: schen dem Regelbedarf (ohne Miet- und Heiz- „Wer sich nicht mehr intensiv um sich selbst kosten) und der Armutsgefährdungsschwelle, sorgt, wer permanent Abstriche nicht nur bei der die laut einer EU-Konvention bei 60 Prozent des Job-, sondern auch bei der Lebensqualität macht, mittleren Einkommens liegt, seit Einführung von der verliert allmählich auch den Antrieb, seine Hartz IV erheblich vergrößert. Betrug er 2006 individuelle Erwerbs- und Lebenslage aktiv zu noch 401 Euro (absolut) und 53,8 Prozent (rela- verändern.“ 07 tiv), stieg er bis 2018 auf 619 Euro beziehungs- Unterscheidet man zwischen Betroffenen und weise 59,8 Prozent. 04 Einerseits kann man also Profiteur(inn)en der Arbeitsmarktreform, gibt es von einer zunehmenden Verarmung der Transfer- neben den Verlierergruppen auch Nutznießer/in- leistungsempfänger/innen ausgehen, andererseits nen und Gewinner/innen. Dazu gehörten bishe- traf die Armut weitere Personengruppen. So kam rige Sozialhilfebezieher/innen, die erwerbsfähig eine Studie, die die deutliche Senkung der Ar- waren und nun die Eingliederungsmaßnahmen beitslosigkeit auf die Hartz-Gesetze zurückführ- der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch neh- te, gleichwohl zu dem Ergebnis, dass diese „kei- men konnten, sofern die Jobcenter sie in deren ne armutslindernde Wirkung nach sich gezogen“ Genuss kommen ließen und ihre Fördermaßnah- hätten, sondern die Armut im Gegenteil nach men nicht auf Höherqualifizierte konzentrierten. zehn Jahren um etwa ein Drittel größer ausfalle Die eigentlichen Profiteure der rot-grünen Ar- als vor den Reformmaßnahmen. 05 beitsmarktreformen waren jedoch Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften, die möglichst 01 Vgl. ausführlich Christoph Butterwegge, Hartz IV und die billig, willig und wehrlos sein sollten. „Getreu Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, Weinheim– dem Grundsatz, wonach (nahezu) jede Arbeit 3 Basel 2018 . besser ist als keine, zielt Hartz IV auf die mög- 02 Vgl. ders., Armut, Köln 20194,. S. 8 ff 03 Vgl. als typisch für die unterschiedliche Bewertung Sandy lichst umfassende Internalisierung eines allgemei- 08 Pahlke, Bildungspaket 2011. Guter Einfall oder Reinfall?, Berlin nen Arbeitszwangs.“ 2014; Mara Dehmer/Jennifer Puls/Joachim Rock, Das Bildungs- Mit dem Gesetz wurde nicht bloß enormer und Teilhabepaket: eine Misserfolgsgeschichte. Bürokratische Druck auf Langzeiterwerbslose, sondern auch Hürden und fehlende Mittel reduzieren Bildungschancen, in: auf das Lohnniveau ausgeübt. Reallohnverluste Soziale Sicherheit 10–11/2016, S. 400–408. 04 Vgl. BIAJ, BIAJ-Materialien: Absolute und relative Lücke zwi- schen Regelbedarf (Hartz IV) und Armutsgefährdungsschwelle 06 Vgl. Inge Hannemann, Die Hartz-IV-Diktatur. Eine Arbeits- 2006–2018, 20. 8. 2019, http://biaj.de/archiv-materialien/1262- vermittlerin klagt an, Reinbek 2015, S. 138. absolute-und-relative-luecke-zwischen-regelbedarf-hartz-iv- 07 Klaus Dörre et al., Bewährungsproben für die Unterschicht? und-armutsgefaehrdungsschwelle-2006–2018.html. – Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt/M.– 05 Siehe Simon Jung, Die Hartz-Reformen und die Armutsent- New York 2013, S. 366. wicklung in Deutschland. Ursachen und armutsbeeinflussende 08 Ders., Hartz-Kapitalismus. Vom erfolgreichen Scheitern der Folgen (von) Deutschlands umfangreichster Sozialreform, jüngsten Arbeitsmarktreformen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Norderstedt 2012, S. 72 f. Deutsche Zustände, Folge 9, Berlin 2010, S. 294–305, hier S. 295.
05 APuZ 44–45/2019 vor allem im unteren Einkommensbereich wa- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld ren die Folge. Aufgrund der verschärften Zumut- (IKG), machte eine „neue Verhöhnung“ aus, die barkeitsregeln und der massiven Sanktionsdro- seit der Reform in weiten Bevölkerungskreisen hungen führt Hartz IV dem Niedriglohnsektor um sich gegriffen habe. Daraus zog der Journa- ständig neuen Nachschub zu. Unter dem Da- list Bruno Schrep den Schluss, dass die Solidar- moklesschwert von Hartz IV sind Belegschaf- gemeinschaft der Bundesbürger/innen ausein- ten, Betriebsräte und Gewerkschaften außerdem andergebrochen sei: „Viele Arbeitsplatzbesitzer, eher bereit, schlechte Arbeitsbedingungen und/ viele Nichtbetroffene haben einen stillschweigen- oder niedrigere Löhne zu akzeptieren. Schließ- den Pakt geschlossen: Sie grenzen sich von den lich bescheren sinkende Löhne und Gehälter von Hartz-IV-Empfängern ab, reißen Witze über sie, Arbeitnehmer(inne)n deren Arbeitgebern höhere vermeiden Kontakte, brechen Freundschaften Gewinne. Für die Bezieher/innen von Arbeitslo- ab. Dahinter steckt die pure Angst, womöglich sengeld II ist Hartz IV ein Disziplinierungsinstru schon bald selbst betroffen zu sein.“ 09 Heitmey- ment und für „normale“ Arbeitnehmer/innen er sprach von „roher Bürgerlichkeit“, die einen eine Drohkulisse und ein Druckmittel. Hinge- Rückzug aus der Solidargemeinschaft einschlie- gen bieten die Grundsicherungsleistungen für ße: „Die Entkultivierung des Bürgertums offen- Arbeitgeber die Möglichkeit, Hartz IV gewinn- bart sich im Auftreten seiner Angehörigen und in steigernd als Kombilohnmodell zu nutzen. Für der Art und Weise, wie sie versuchen, eigene Zie- exzessives Lohndumping betreibende Unterneh- le mit rabiaten Mitteln durchzusetzen. Das zeigt mer, die überwiegend aus der Leiharbeitsbranche sich nicht zuletzt in der Abwertung schwacher stammen, bildet das an sogenannte Erwerbsauf- Gruppen.“ 10 stocker/innen gezahlte Arbeitslosengeld II eine Hier liegt ein wichtiger Grund für die He- indirekte Subvention, deren Höhe sich auf über rausbildung einer Subkultur im Bereich der Ar- zehn Milliarden Euro pro Jahr beläuft. beitslosengeld-II-Empfänger/innen samt ihren Familien, die von Hartz-IV-Kochbüchern über VERÄNDERUNGEN Sozialkaufhäuser bis zu Hartz-IV-Kneipen reicht, DES SOZIALEN KLIMAS wo Leistungsbedürftige unter sich bleiben und UND DER POLITISCHEN KULTUR ihr Bier zu Niedrigpreisen trinken. Manchmal scheint es, als ob innerhalb der Bundesrepublik Hartz IV hat einen sozialen Klimawandel be- zwei Welten oder eine „Parallelgesellschaft“ exis- wirkt und die politische Kultur der Bundesre- tieren. In den Hochhausvierteln am Rand der publik nachhaltig beschädigt. Stärker als vor der Großstädte besuchen die „Abgehängten“ jene Arbeitsmarktreform werden Langzeit- und Dauer Suppenküchen, die sich heute nobel „Lebensmit- erwerbslose öffentlich als „Drückeberger“, „Fau- teltafeln“ nennen und deren Zahl nach 2005 rapi- lenzer“ und „Sozialschmarotzer“ diffamiert. de anstieg, 11 erhalten Wäsche in Kleiderkammern Hatte man die Bezieher/innen der mit Hartz IV der Wohlfahrtsverbände, holen sich Einrich- abgeschafften Arbeitslosenhilfe noch als frü- tungsgegenstände aus Möbellagern und beschaf- her Sozialversicherte und ehemalige Beitrags- fen sich vieles, was sie darüber hinaus zum Leben zahler/innen wahrgenommen, wurden Langzeit benötigen, in Sozialkaufhäusern. erwerbslose nach dem Inkrafttreten von Hartz IV In den vergangenen 15 Jahren waren hierzu- und Medienberichten über die steigende Belas- lande neben Tendenzen der Entsicherung und tung des Bundeshaushalts durch das Arbeitslo- Entsolidarisierung auch Prozesse der Entdemo- sengeld II, das Sozialgeld und die Übernahme ei- kratisierung zu beobachten. Hartz-IV-Bezieher/ nes Teils der Unterkunftskosten häufiger als faule innen werden nicht bloß sozial ausgegrenzt, son- Müßig- beziehungsweise teure Kostgänger/innen des Steuerstaates empfunden, was sich im Gefolge 09 Bruno Schrep, Die neue Verhöhnung: „Bierdosen sind Hartz- der globalen Banken-, Finanz- und Wirtschafts- IV-Stelzen“, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, krise ab 2008/09 verstärkte. Folge 6, Frankfurt/M. 2008, 218–223, hier S. 222. Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen und ihre 10 Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeind- lichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: ders. (Hrsg.), Kinder werden als „Hartzer“ verlacht und sozial Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin 2012, S. 15–41, hier S. 35. ausgegrenzt. Wilhelm Heitmeyer, damaliger Lei- 11 Stefan Selke, Schamland. Die Armut mitten unter uns, Berlin ter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- 2013, S. 231.
06 Hartz IV APuZ dern auch politisch ins Abseits gedrängt. Das par- die Partei ihre eigene sozialstrukturelle Basis mit lamentarisch-demokratische Repräsentativsys- Hartz IV zerstört hat. An die Stelle aufstiegsori- tem befindet sich in einer Krise, das wegen seiner entierter und selbstbewusster Facharbeiter/innen Stabilität gerühmte Modell der „Volksparteien“ sind vielfach Niedriglöhner/innen getreten, die franst aus, und die politische Partizipationsbe- nicht mehr aus Traditionsbewusstsein oder in al- reitschaft sozial Benachteiligter sinkt. „Während ter Verbundenheit die SPD unterstützen, sondern Bessergestellte weiterhin mit hoher Wahrschein- aus Enttäuschung über deren Politik und die eige- lichkeit wählen, bleiben viele Arme zu Hause.“ 12 ne soziale Perspektivlosigkeit gar nicht mehr oder Wie es scheint, ist Wahlabstinenz häufig die poli- womöglich die AfD wählen, deren Parteiname tische Konsequenz einer prekären Existenz. Of- sie als erhoffte „Alternative“ zum Neoliberalis- fenbar haben vor allem Geringverdiener/innen mus ausweist. Schließlich haben Gerhard Schrö- und Transferleistungsbezieher/innen, die von den der und Angela Merkel ihren Regierungskurs all- etablierten Parteien keine Vertretung ihrer In- zu oft als „alternativlos“ dargestellt. „Indem die teressen (mehr) erwarten, das Gefühl, mit ihrer etablierten Kräfte, einschließlich beträchtlicher Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewe- Teile der politischen Linken, sich der neolibe- gen zu können. ralen Sachzwangslogik ergeben haben, kann der Hauptleidtragende der Erosionstendenzen Rechtspopulismus sich als die Kraft inszenieren, im parteipolitischen Raum ist die SPD, innerhalb die ein Primat der Politik wiederherstellt.“ 13 der Hartz IV von Anfang an stark umstritten war. Dass die Angst vor dem sozialen Abstieg durch Selbst als die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vorge- Nahles im November 2018 erklärte, Hartz IV drungen ist, nutzt der AfD ebenfalls. Angst verlei- „hinter sich lassen“ zu wollen, hatte sie nicht alle tet Menschen zu irrationalen Reaktionen, weshalb Spitzenfunktionäre hinter sich. Dass die SPD auf- sich das deutsche Kleinbürgertum in ökonomi- grund der Agenda 2010 hunderttausende Mitglie- schen Krisen- und gesellschaftlichen Umbruchsi- der und mehrere Millionen Wähler/innen verlor, tuationen politisch vorwiegend nach rechts orien- hat sie nicht zu glaubwürdiger Selbstkritik veran- tiert. Erfolgreich ist der Rechtspopulismus auch, lasst. Statt die „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik weil seine Mittelschichtsideologie eine Zwangs- für grundfalsch zu erklären, räumt man nur ein, lage fleißiger Bürger/innen zwischen „korrupten dass sie heute fehl am Platze sei, weil inzwischen Eliten“ und „faulen Unterschichten“ konstruiert. Fachkräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit Mittelschichtangehörige, denen die etablierten herrsche. Unterschwellig lautet die Botschaft: Parteien keinen Schutz vor Deklassierung bie- Wenn der Arbeitsmarkt in dem sich anbahnenden ten, erkennen ihr Weltbild in dem rechtspopulis- Konjunkturrückgang erneut aus den Fugen gerät, tischen Narrativ wieder, dass sie als die eigentli- machen wir dieselbe Politik wie damals Gerhard chen Leistungsträger/innen der Gesellschaft nach Schröder und Wolfgang Clement. Strich und Faden ausgeplündert werden. Dabei hat deren Regierungspraxis den Nie- Wenn sich außerdem die Kluft zwischen Arm dergang der SPD eingeleitet, und zwar nicht und Reich vertieft, die sozioökonomische Un- bloß wegen der massenhaften Enttäuschung da- gleichheit wächst und der gesellschaftliche Zu- von (potenziell) Betroffener, sondern auch, weil sammenhalt schwindet, gerät die Demokratie in Gefahr. Dass die Bundesrepublik heute vor ei- 12 Armin Schäfer, Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger: Ist ner wirtschaftlichen, sozialen und politischen die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie?, Zerreißprobe steht, ist nicht zuletzt Hartz IV in: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.), Der unbekannte geschuldet. 14 Wähler? – Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen, Frankfurt/M.–New York 2011, S. 133–154, hier S. 139. 13 Ralf Ptak, Der Neoliberalismus entlässt seine Kinder: Krise(n) und Rechtspopulismus, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hent ges/Bettina Lösch (Hrsg.), Auf dem Weg in eine andere Republik? – CHRISTOPH BUTTERWEGGE Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, ist Professor für Politikwissenschaften (i. R.) am Weinheim–Basel 2018, S. 64–75, hier S. 73. 14 Vgl. Christoph Butterwegge, Die zerrissene Republik. Wirt- Institut für Vergleichende Bildungsforschung und schaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Weinheim–Basel 2019, S. 271 ff., S. 286 ff. [email protected]
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ERFOLG EINES GEMÄẞIGTEN Grundlos jammern NEOLIBERALISMUS
Rainer Hank Im Jahr 2005, als die Hartz-Reformen in Kraft traten, waren in Deutschland fast fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, davon 1,8 Millionen Lang- Gegenüber dem Leipziger Gewandhaus steht ein zeitarbeitslose, die länger als ein Jahr keine Arbeit Bauwerk aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, hatten. Dass es je wieder Vollbeschäftigung geben dessen Giebel das Tympanon eines antiken Tem- könnte, wurde von vielen als Illusion verworfen. pels imitiert. Darauf eingemeißelt ist der Satz: Und jetzt? Mitte 2019 hat sich die Zahl der Arbeits- „Omnia vincit labor“, die Arbeit besiegt alles. losen im Vergleich zu 2005 mehr als halbiert, auf Über der Inschrift stehen zwei Skulpturen von 2,3 Millionen. Es gibt nur noch gut 700 000 Lang- Arbeitern, die abwechselnd mit schweren Klöp- zeitarbeitslose. In Deutschland sind 45 Millionen peln die Glocke schlagen. Das Krochsche Hoch- Menschen erwerbstätig – das ist Rekordbeschäf- haus, so der Name des Gebäudes, hämmert zu tigung; 33 Millionen darunter in sozialversiche- Beginn des Industriezeitalters den Menschen eine rungspflichtigen Arbeitsverhältnissen – ebenfalls Weisheit aus Vergils Lehrgedicht über den Land- eine Rekordzahl, die den Vorwurf entkräftet, der bau ein: Arbeit ist uns Fluch und Verheißung. Preis der neu gewonnenen Arbeit seien vornehm- Seit Aristoteles galt die Überzeugung, Arbeit lich prekäre Beschäftigungsverhältnisse. In vielen sei die von Gott gegebene Bestimmung der Men- Regionen Deutschlands herrscht inzwischen Voll- schen. Der Wert der Arbeit erschöpft sich längst beschäftigung. Die Entlassungsquote liegt auf dem nicht nur in der Erzielung von Einkommen. niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Die Noch die entfremdetste Tätigkeit enthält einen Zahl der offenen Stellen hingegen hat einen neuen Rest von Sinngebung. Der deutsche Philosoph Rekordwert erreicht. 05 G.. W F. Hegel bestand darauf, jeder Teilnehmer Wie immer man es deutet: Dass der Weg noch am Leistungsaustausch auf dem Markt (oder in weiter hinein in die Massenarbeitslosigkeit ge- der Fabrik) habe das Recht, sein Brot zu verdie- stoppt wurde, ist eine Zäsur in der Geschichte der nen, mithin sich und seine Familie auf dem kultu- Bundesrepublik. Die Zeit von 1973 bis 2005 war rell gegebenen Niveau zu ernähren. 01 Das schafft eine Phase der Unterbeschäftigung, die nun – vor- Befriedigung, weil die Nächsten davon profitie- erst – zu Ende ist. Wir leben in Zeiten eines Job- ren, hat aber auch einen Eigenwert, weil der den Booms. Gefahren einer möglichen Rezession im Prozess der Arbeit begleitende „Flow“ als beglü- Sommer 2019 lassen den Arbeitsmarkt – bisher – ckendes Gefühl erlebt wird. 02 Der Mensch ist nur unberührt und robust. da ganz Mensch, wo er arbeitet. Nach Max We- Waren es die Hartz-Reformen, die für diese ber speist sich daraus die so fruchtbare Symbiose Trendwende der Beschäftigung verantwortlich von protestantischer Arbeitsethik und dem Geist sind? In Kürze nur so viel: 06 Die Zusammenle- des Kapitalismus. 03 Arbeit, Wachstum und Wohl- gung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe bedeute- stand bedingen einander. te die Abschaffung der an den letzten Lohn ge- Wenn das stimmt, ist allein die Möglichkeit koppelten Arbeitslosenhilfe. Das kann man als einer Welt, der die Arbeit auszugehen droht, einen Paradigmenwechsel beschreiben: Die Re- der worst case. Die Erfahrung von Arbeitslosig- formen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder keit entzieht nicht nur Einkommen, sondern zer- (SPD) haben den im Sozialstaat angelegten Ziel- stört die ganze Existenz. Man lässt den Dingen konflikt zwischen Versicherungs- und Anreiz- ihren Lauf, wird apathisch, verliert allen Elan. 04 effekten verschoben. Die Reform des „Forderns Gefragt, was sie unglücklich mache, nennen viele und Förderns“ schränkte die Versicherungsleis- Menschen Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Mehr tung des Staates ein mit dem Ziel, die Suchanreize noch: Auch wer Arbeit hat, fühlt sich weniger für Arbeitslose zu verstärken. 07 zufrieden, wenn andere arbeitslos sind. Kurz- Die Reformen haben ihre Wirkung nicht ver- um: Menschen die Chance auf Arbeit zu vermit- fehlt. Die Wahrscheinlichkeit, eine Stelle zu fin- teln, ist nicht nur ökonomisch, sondern auch psy- den, ist um rund 10 Prozent angestiegen, während chologisch geboten. Es ist darüber hinaus auch die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, um ethisch geboten, weil es um Würde geht. 30 Prozent gesunken ist. Hartz IV hat auch dafür ge-
08 Hartz IV APuZ sorgt, dass das „Matching“ zwischen offenen Stellen bessert und – nicht zu vergessen – das Einkom- und Arbeitssuchenden enorm verbessert wurde. 08 men vieler erhöht. 10 Es könnte sogar sein, dass der größte Erfolg Es war das erklärte Ziel der Reformen, Arbeit von Hartz IV gar nicht darin bestand, neue Stel- attraktiv und Arbeitslosigkeit unattraktiv wer- len zu schaffen, sondern den Abbau der Beschäfti- den zu lassen. Dahinter steht die Überzeugung, gung zu verhindern. 09 Die Angst vor allem langjäh- Arbeit – selbst unter ungünstigen Bedingungen – rig beschäftigter, älterer Menschen, nach maximal sei allemal der Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Man zwei Jahren Arbeitslosigkeit auf Hartz IV ange- kann diesen Systemwechsel mit guten Gründen wiesen zu sein, führt dazu, dass diese bereit sind, als Rückkehr zu den Ursprüngen der Sozialen Zugeständnisse bei Löhnen im Tausch für Arbeits- Marktwirtschaft deuten, die sich den Grundsät- platzsicherheit zu machen. Es ist so gesehen kein zen der Freiburger Schule verpflichtet weiß: eine Wunder, dass die Hartz-Reformen flankiert wur- „Verschiebung des Leitbildes von der Vollversor- den durch sogenannte betriebliche Bündnisse, bei gung zur Eigenverantwortung“. 11 denen die Gewerkschaften diesem Tausch von – Das entsprach dem politischen Lebensgefühl temporärem – Lohnverzicht mit Beschäftigungs- der späten 1990er Jahre: Ein Sozialstaat, der für garantien zugestimmt haben. Zwar haben langjäh- die Menschen keine Arbeit hat, kann auch nicht rig beschäftigte Arbeitnehmer ein relativ geringes sozial sein. Kanzler Schröder (und seine Bera- Risiko, arbeitslos zu werden, doch die Gruppe ist ter) waren beeindruckt vom damaligen britischen zahlenmäßig sehr groß und fällt damit statistisch Premierminister Tony Blair, der mit einem „drit- ins Gewicht. ten Weg“ die „neue Mitte“ der Gesellschaft errei- Die Reformen der Agenda 2010 insgesamt chen wollte: Ein „aktivierender Sozialstaat“ soll- haben die Zufriedenheit der Bürger in Deutsch- te die „Beschäftigungsfähigkeit“ (employability) land deutlich verbessert, die Möglichkeit zur der Menschen befördern. Das war ein gemäßigter gesellschaftlichen Partizipation, die in einer Neoliberalismus, der durchaus die Grundüber- Arbeitsgesellschaft an Arbeit gekoppelt ist, ver- zeugungen der vormaligen liberalen Regierungs- chefin Margaret Thatcher teilte. Es ist eine Ironie 01 Vgl. Axel Honneth, Arbeit und Anerkennung. Versuch einer der Geschichte, dass ausgerechnet die Sozialde- Neubestimmung, in: Michael S. Aßländer/Bernd Wagner (Hrsg.), mokraten mit dem Liberalismus Ernst gemacht Philosophie der Arbeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, haben, während die Reformen der Kohl-Regie- Berlin 2017, S. 418–442. 02 Mihály Csíkszentmihályi, Flow, Stuttgart 2008. rung sich in einer ziemlich folgenlosen Rhetorik 03 Man kann den Glauben an Gott als eine Art Schmiermittel der „geistig-moralischen Wende“ erschöpften. des Arbeitsethos und Bedingung der Möglichkeit von Wachs- Indes ist dieser gemäßigte Neoliberalismus der tum interpretieren. Vgl. Rachel M. McCleary/Robert Barro, The SPD nicht wesensfremd. Er speist sich aus dem Wealth of Religions. The Political Economy of Believing and Leistungsethos der Arbeiterschaft, das die Sozial- Belonging, New Jersey–Oxford 2019. 12 04 Vgl. die klassische Studie von Marie Jahoda/Paul F. demokratie im 19. Jahrhundert prägte. Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder WARUM DIE Arbeitslosigkeit, Frankfurt/M. 1975 (1933). VERELENDUNGSTHEORIE VERSAGT 05 Vgl. Enzo Weber, Ausgegrenzt. Hartz IV sollte ein soziales Netz sein, keine Bedrohung, in: Süddeutsche Zeitung, 26. 8. 2019, S. 16. Diese Erfolgsgeschichte der Hartz-Reformen wi- 06 Vgl. den Beitrag von Ulrich Walwei in dieser Ausgabe. derspricht in nahezu allen Punkten dem linken 07 Vgl. Philip Jung/Moritz Kuhn, Ist Hartz IV noch zukunftsfä- hig?, in: Ifo Institut, Ifo Schnelldienst 6/2019, S. 3–6. 08 Vgl. Sabine Klinger/Thomas Rothe/Enzo Weber, Makro- 10 Während bis in die 2000er Jahre „Angst vor Arbeitslosigkeit“ ökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen: Die Vorteile in Befragungen ganz oben rangierte, ist diese Sorge seit gerau- überwiegen, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, mer Zeit aus den Angst-Katalogen vollkommen verschwunden. IAB-Kurzbericht 11/2013; Enzo Weber, The Labour Market in Vgl. R+V-Versicherungen: Die Ängste der Deutschen im Lang- Germany: Reforms, Recession and Robustness, in: De Economist zeitvergleich, 2019, www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/ 4/2015, S. 461–472. aengste-der-deutschen-langzeitvergleich. 09 Vgl. Benjamin Hartung/Philip Jung/Moritz Kuhn, Hartz IV 11 Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegen- hat gewirkt – aber anders als oft vermutet. Die Reform der wart, München 2015, S. 255. Arbeitslosenversicherung und das deutsche Arbeitsmarktwun- 12 Vgl. Jürgen Osterhammel, Hierarchien und Verknüpfungen. der, 19. 12. 2018, https://newsroom.iza.org/de/archive/research/ Aspekte einer globalen Sozialgeschichte, in: Akira Iriye/ders., what-hides-behind-the-german-labor-market-miracle. Geschichte der Welt 1750–1870, München 2016, S. 627–836.
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Narrativ eines epochalen Sozialabbaus, einer Les- Menschen, die nicht mehr arbeitslos sind. Es ist art, der Die Linke als Partei bekanntlich neben auch eine soziale Wohltat für das Land. der SED der DDR ihre Existenz verdankt. Folgt Dass es, zweitens, Armut in Deutschland gibt, man dem Politikwissenschaftler Christoph But- ist unbestritten. Dass es zugleich Armutsschicksale terwegge, bedeuten die Hartz-Reformen „eine gibt, die von Generation zu Generation in „Hartz- Verschlechterung in fast allen Bereichen des ge- Familien“ weitervererbt werden, ist ebenfalls un- sellschaftlichen Lebens“. 13 bestritten – und bitter. Aber das alles hat es auch Diese Verelendungstheorie, die auch von an- schon vor den Reformen gegeben: Familien, die aus deren vertreten wird, umfasst im Wesentlichen der „Stütze“, wie man die Sozialhilfe damals nann- die folgenden Deutungen: Die Hartz-Reformen te, nicht heraus kamen. Es stimmt auch, dass die Ar- seien erstens das Ende des Sozialstaates, wie wir mutsgefährdung in Deutschland gestiegen ist: 15 Laut ihn kannten, sie hätten zweitens ein neues Preka- dem fünften Armuts- und Reichtumsbericht der riat arbeitender Armer (working poor) geschaf- Bundesregierung von 2017 leben 15,7 Prozent der fen und am Ende, drittens, die Ungleichheit im Bevölkerung an der Armutsgrenze. Das sind knapp Land vergrößert. Diese fatale Ungerechtigkeit 13 Millionen Menschen. Zum Vergleich: 2002 galten der Hartz-Reformen habe, viertens, auch politi- hierzulande noch knapp 12,7 Prozent aller Bürger sche Risiken – „Neoliberalismus bringt Rechtsra- als arm. Betroffen von Armut in Deutschland sind dikalismus“. Nichts davon lässt sich belegen. vor allem kranke und alte Menschen sowie Arbeits- Erstens ist es verfehlt, Hartz IV als „sozialen lose. Besonders dramatisch ist die Armutsquote bei Kahlschlag“ zu brandmarken. Dass seit 2005 die Kindern, die mit 19,7 Prozent deutlich über dem Ausgaben für die Arbeitslosigkeit zurückgehen, Durchschnitt der Bevölkerung liegt. 16 Mit Hartz IV ist wahr. Doch dies ist der verbesserten Beschäf- hat das alles relativ wenig zu tun. tigung geschuldet, die weniger Transferzahlun- Die Zunahme des Armutsrisikos liegt in dem gen erforderlich machte. Arbeitslosigkeit kommt gestiegenen Anteil an Personen mit Migrationshin- die Allgemeinheit heute billiger zu stehen als vor tergrund; die Armutsquote bei Personen ohne Mi- den Reformen. Das bedeutet nicht, dass der So- grationshintergrund dagegen hat sich in den ver- zialstaat insgesamt geschrumpft wäre. Im Gegen- gangenen 25 Jahren wenig verändert. 17 Das soll teil: Insgesamt sind die Sozialausgaben stärker als nicht heißen, dass Armut unter Migranten weniger das Wachstum auf inzwischen knapp eine Billion schlimm wäre. Es soll nur zeigen, dass der Anstieg Euro angeschwollen. Das sind fast 50 Prozent der Armutsquote keinen Bezug zu den Agenda- mehr als Mitte der 2000er Jahre. 14 Von Kahlschlag 2010-Reformen hat, sondern vor allem daran liegt, keine Rede! dass Migranten, wenn sie hier ankommen, Defizite Man kann noch weiter gehen: Dass die Deut- in der Sprache haben oder soziale Netzwerke feh- schen sich diesen Ausbau des Sozialstaats leis- len, was eine Beschäftigungsaufnahme erschwert. ten konnten, ist Folge der Hartz-Reformen, die Auch der Anteil der Vollzeiterwerbsperso- für sprudelnde Steuereinnahmen und üppige So- nen ist seit 1984 nicht gesunken; er liegt konstant zialbeiträge mitverantwortlich sind. Wenn mehr bei 40 Prozent. Hätte die Prekarisierungstheorie Menschen Arbeit haben, zahlen sie mehr Einkom- Recht, müssten sich Verschlechterungen zeigen. mensteuern und insgesamt mehr Versicherungs- Die Zahl der Mini-Jobber oder Soloselbstständigen beiträge für die Risiken Krankheit, Pflegebedürf- ist nicht in die Höhe geschossen. 18 Zurück ging al- tigkeit und Alter. Sie konsumieren mehr, was die lerdings die Zahl derer, die nicht erwerbstätig sind: Binnennachfrage stärkt – und abermals über die Mehrwertsteuer mehr Geld in die öffentlichen Kassen spült. Dies (verbunden mit niedrigen Zin- 15 Armutsgefährdet sind Menschen, wenn sie 60 Prozent oder weniger des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Diese re- sen) brachte den deutschen Finanzminister in die lative Armut sollte man nicht mit tatsächlicher Armut verwechseln. komfortable Lage, den Staat auszubauen, ohne 16 Vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und neue Schulden machen zu müssen. Vollbeschäfti- Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2017. gung ist nicht nur ein Gewinn in sich und für die 17 Vgl. Markus M. Grabka/Jan Goebel, Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen, Deutsches Institut für 13 Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen. Auf dem Wirtschaftsforschung, DIW-Wochenbericht 21/2018, S. 450–460. Weg in eine andere Republik?, Weinheim–Basel 20183, S. 9. 18 Gert G. Wagner, Die Mär von der bröckelnden Mittelschicht, 14 Siehe www.deutschlandinzahlen.de, Stichwort: Sozialbudget. in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. 4. 2016, S. 13.
10 Hartz IV APuZ von 32 Prozent 1984 auf 20 Prozent 2013. Es ist men des Arbeitsmarktes, sondern der Schock der zu vermuten, dass Hartz IV daran einen beträchtli- Migration von 2015. Eine maßgebliche Rekrutie- chen Anteil hat – und genau das war auch gewollt. rungsbasis sind nicht die arbeitslosen Hartz-IV- Ohne Zumutungen wäre das nicht zu machen. Bezieher, sondern jene Zurückgebliebenen, die – zu Hartz IV bindet die Unterstützung durch den Recht oder zu Unrecht – wähnen, die Migranten Staat an die Bereitschaft zur Arbeitssuche und zögen als privilegierte „Einwanderer in den Sozial- Arbeitsaufnahme und an die Selbstverständlich- staat“ an ihnen vorbei. 21 Die AfD wurde bekannt- keit, sich bei der Arbeitsagentur beraten zu las- lich nicht als Anti-Hartz-IV-Partei gegründet, sen. Hartz IV besteht auch darauf, das Vermögen sondern als konservativ-liberale Anti-Euro-Pro- (jenseits von Freibeträgen des Schonvermögens) testbewegung, von wo sie sich immer weiter nach auf die Transfers anzurechnen: Das entspricht rechts bewegt hat. Der Populismus hat einen völki- dem Subsidiaritätsprinzip der Sozialen Markt- schen Verteilungskampf innerhalb des Sozialstaates wirtschaft. Einzig die hohe Transferentzugsra- eröffnet. AfD-Mann Björn Höcke plädiert deshalb te für Empfänger von Arbeitslosengeld II ist ein nicht für weniger, sondern für mehr Sozialstaat, schwerer Systemfehler, denn er vergrößert die dessen Wohltaten indessen den Fremden vorent- Schwelle zur Aufnahme von Arbeit, was kontra- halten werden sollten. Das ist in der Tat schlimm, produktiv ist. Dazu gibt es inzwischen aber gute hat aber mit den Hartz-Reformen nichts zu tun. Korrekturvorschläge. 19 Sollten sie sich durchset- zen, wäre ihr Effekt eine weitere Verbesserung FAZIT der Beschäftigungssituation in Deutschland. Völlig verfehlt ist es, drittens, zu behaupten, Die Agenda-2010-Reformen und mit ihnen die Hartz IV habe die Ungleichheit vergrößert. Das Hartz-Reformen sind ein Beleg für die Leistungs- Gegenteil ist wahr: Die Ungleichheit der Einkom- fähigkeit des deutschen Modells der Sozialen men hat zwar seit dem Ende des vorigen Jahrhun- Marktwirtschaft und nicht, wie die Linke behaup- derts zugenommen, wie überall in den entwickel- tet, Ausweis seiner Kapitulation. Die Reformen ten Ländern. Doch die Spreizung der Einkommen mögen die Linke gespalten haben – in SPD, Lin- ist 2005 zum Stillstand gekommen, ausgerechnet ke und sozialchauvinistische Teile der AfD –, aber in jenem Jahr, in dem die Gesetze in Kraft getreten sie haben die Gesellschaft geeint, weil sie – gewiss sind. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient, der über subjektiv nicht immer attraktive Anreize – die Ungleichheit misst, bei 0,29. 20 Zum Vergleich: in großem Stil Teilhabe wieder ermöglicht haben. Weltweit reichen die Werte von 0,24 in einigen ost- Teilhabe ist in einer Arbeitsgesellschaft nur über europäischen Ländern bis 0,60 in Südafrika. Vor Arbeit möglich. Die ökonomische Spaltung in der Umverteilung durch Steuern, Renten und an- Arbeitslose und Arbeitsplatzbesitzer wurde – zu- dere Transfers beträgt hierzulande der Gini-Koef- mindest von der Tendenz her – überwunden, ver- fizient 0,51, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten. bunden mit beträchtlichen Erfolgen: Die Zahl der Unser Wohlfahrtsstaat komprimiert die Ungleich- Arbeitslosen wurde mehr als halbiert. heit somit besonders stark. Das ist das Ziel der So- Das ist kein neoliberaler Fluch, sondern hu- zialen Marktwirtschaft. Was gibt es da zu meckern? maner Segen staatlicher Souveränität. Es ist der Viertens wird für den Erfolg des Rechtspopu- demokratische Staat, der, legitimiert durch das lismus alles und jedes verantwortlich gemacht. An souveräne Volk, die Rahmenbedingungen setzt erster Stelle stehen aber definitiv nicht die Refor- und, wenn Modernisierung nötig ist, verändert. 22 Hartz IV beziehungsweise die Agenda 2010 wa- ren solche Projekte der Modernisierung. Die Lin- 19 Vgl. etwa Maximilian Blömer/Clemens Fuest/Andreas Peichl, ke sollte aufhören, dagegen Front zu machen. Sie Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!) Der Ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems, in: Ifo Schnelldienst liegt falsch, die Bürger wissen das. Oder wie sonst 4/2019, S. 34–43. soll man die schlechten Umfragewerte für SPD 20 Ein Gini-Koeffizient von 0 bedeutet vollkommene Gleichheit, und Linke deuten? ein Gini-Koeffizient von 1 wäre vollkommene Ungleichheit. 21 Vgl. Klaus Dörre, Marsch durch die Betriebe? Rechtspopulis- RAINER HANK tische Orientierungen in der Arbeitswelt, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 4/2018, S. 124–135. ist Publizist und Kolumnist („Frankfurter Allgemeine 22 Vgl. Torben Iversen/David Soskice, Democracy and Prosperity. Sonntagszeitung“). Zuletzt erschien: „Lob der Reinventing Capitalism through a Turbulent Century, Princeton 2019. Macht“ (Klett-Cotta Stuttgart 2017).
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HARTZ IV – GESETZ, GRUNDSÄTZE, WIRKUNG, REFORMVORSCHLÄGE Ulrich Walwei
Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsu- der Kritik. 02 Die Rede war etwa von „Verschiebe- chende („Hartz IV“) 2005 zählt zu den großen So- bahnhöfen“, auf denen die Träger der Arbeitslo- zialreformen der deutschen Nachkriegsgeschich- senhilfe (Bundesagentur für Arbeit, BA) und die te. Der vierte Teil der Hartz-Reformen war schon Träger der Sozialhilfe (Kommunen) Leistungs- im Vorfeld seiner Verabschiedung höchst umstrit- empfängerinnen und Leistungsempfänger hin ten. Auch fast 15 Jahre später reißt die Kritik an und her manövrierten. Zudem wurden verwal- den Grundpfeilern des Gesetzeswerkes nicht ab. tungsaufwändige Doppelbetreuungen und un- Inzwischen stellt die Politik Hartz IV zunehmend terschiedliche Zugangsbedingungen zu den So- infrage. Die Vorschläge aus dem politischen Raum zialleistungen für Ineffizienz und hohe Kosten reichen von einer moderaten Weiterentwicklung verantwortlich gemacht. Weil die Leistungsge- des geltenden Systems über eine Abschaffung we- währung im gesplitteten System aus Sicht von Be- sentlicher Grundprinzipien bis hin zu Alterna- obachtern zu sehr im Vordergrund stand, wurden tiven wie die eines bedingungslosen Grundein- außerdem Zweifel an der Konsequenz der Wie- kommens. Vor diesem Hintergrund liefert der dereingliederungsbemühungen geäußert. nachfolgende Beitrag eine Bestandsaufnahme. Es Mit den Hartz-Reformen wurden Arbeits- werden sowohl Wirkungsbefunde zu den Leistun- losenhilfe und Sozialhilfe im Wesentlichen auf gen des bestehenden Systems dargelegt als auch dem Leistungsniveau der vormaligen Sozialhil- Möglichkeiten und Grenzen aktueller Reformvor- fe zusammengelegt und 2005 im Zweiten Buch schläge diskutiert. Sozialgesetzbuch (SGB II) neu geregelt. Leitge- danke ist, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am ENTSTEHUNGSZUSAMMENHANG, besten über eine Integration in das Erwerbsleben GESETZ UND PRINZIPIEN erreichen lässt. Das Gesetz zielt explizit auf eine Stärkung von Eigenverantwortung und Eigen- Bis Ende 2004 bestand in Deutschland ein drei- initiative im Sinne einer „aktivierenden Arbeits- gliedriges System der sozialen Sicherung bei Ar- marktpolitik“ und damit einem „Fördern und beitslosigkeit aus Arbeitslosengeld, Arbeitslosen- Fordern“ der Hilfebedürftigen. Das SGB II ko- hilfe und Sozialhilfe. Das Arbeitslosengeld war difiziert die Leistungsansprüche erwerbsfähiger und ist eine an einkommensabhängigen Beiträgen Personen ab 15 Jahren bis zum Erreichen der Re- orientierte Versicherungsleistung, die für einen gelaltersgrenze sowie ihrer im Haushalt lebenden befristeten Zeitraum gewährt wird. 01 Die frühere Eltern, unverheirateten Kinder und Partner, inso- Arbeitslosenhilfe konnte dagegen unbefristet ge- fern diese ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen währt werden, wenn der Anspruch auf Arbeits- Mitteln bestreiten können. Die Grundsicherung losengeld ausgelaufen war. Die am vorherigen für Arbeitsuchende umfasst zudem Leistungen Nettoentgelt ausgerichtete Lohnersatzrate der zur Beratung, zur Beendigung oder Verringerung Arbeitslosenhilfe fiel jedoch niedriger aus als die der Hilfebedürftigkeit. Seitdem gilt das Prinzip, des Arbeitslosengeldes und unterlag zudem einer dass die Leistungen aus einer Hand gewährt wer- eingeschränkten Bedürftigkeitsprüfung. Das drit- den. Entweder werden die Arbeitsmarktdienst- te Element war die Sozialhilfe, die von mittello- leistungen von gemeinsamen Einrichtungen aus sen Personen auch ohne vorhergehende Beschäf- Bundesagentur für Arbeit und Kommunen (Job- tigung bezogen werden konnte. center, veraltet ARGE) oder in alleiniger Verant- Die Koexistenz von Arbeitslosen- und Sozial- wortung von Kommunen (Optionskommunen) hilfe stand schon lange vor der Hartz-Reform in bereitgestellt.
12 Hartz IV APuZ
Die Leistungen der Grundsicherung richten maßnahmen zum Einsatz. Für erwerbsfähige und sich an Menschen in einer finanziellen Notsitua- leistungsberechtigte Personen ist im Grunde jede tion, die weder über ein ausreichendes Einkom- Arbeit zumutbar. Zudem unterliegen Hilfebe- men noch über ein abschöpfbares Vermögen ver- dürftige Mitwirkungspflichten, wie der aktiven fügen. Für die Höhe der Hartz-IV-Leistung ist es Arbeitsuche oder der Teilnahme an arbeitsmarkt- gleichgültig, ob Transferempfänger jemals gearbei- politischen Maßnahmen. Eine mangelnde Mit- tet haben oder über längere Zeiträume beruflich wirkung wird als Pflichtverletzung sanktioniert tätig waren. Lediglich das „Schonvermögen“ trägt und mit gestuften Leistungskürzungen versehen. früheren wirtschaftlichen Aktivitäten der Hilfebe- Ausnahmen von der Mitwirkungspflicht gelten dürftigen Rechnung. Es umfasst neben einer even- nur für den Fall, dass wichtige Gründe, wie etwa tuell selbst genutzten Wohnung zusätzlich noch Betreuungsaufgaben, dem entgegenstehen. altersabhängige Freibeträge sowie der Altersvor- sorge dienende Ersparnisse. Je nach Größe der Be- ENTWICKLUNG darfsgemeinschaft erhalten die Hilfebedürftigen BEI LEISTUNGSEMPFÄNGERN eine pauschalierte, am soziokulturellen Existenz- UND ARBEITSMARKTPOLITISCHEN minimum orientierte Regelleistung sowie Mit- MAẞNAHMEN tel für Kosten der Unterkunft. 2019 beträgt der Regelbedarf für eine erwachsene alleinstehende Die Entwicklung des Zahlengerüstes im SGB II Person 424 Euro, für einen erwachsenen Partner muss vor dem Hintergrund der seit 2005 stark ver- 382 Euro und für Kinder je nach Alter zwischen besserten Arbeitsmarktsituation gesehen werden. 245 Euro bis 339 Euro. Grundsätzlich werden die Die Arbeitslosigkeit hat sich von knapp fünf Mil- tatsächlichen Kosten der Unterkunft (inklusive lionen Mitte der vergangenen Dekade auf pro- der Aufwendungen für Heizung) anerkannt, so- gnostizierte 2,2 bis 2,3 Millionen 2019 mehr als weit die Aufwendungen angemessen sind. halbiert. 03 Die Erwerbstätigkeit erreichte zuletzt Auch erwerbstätige Personen können Leistun- einen Rekordwert nach dem anderen und wird gen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezie- 2019 mit mehr als 45,2 Millionen wohl den höchs- hen, wenn deren Erwerbseinkommen aus abhän- ten Wert seit der Wiedervereinigung erreichen. Die giger oder selbstständiger Tätigkeit nicht für den Zahl dürfte damit um rund sechs Millionen höher Lebensunterhalt ausreicht. Hier gilt das Prinzip, liegen als 2005. Stärkster Treiber des Erwerbstä- dass Erwerbseinkommen auf den Regelbedarf an- tigenanstiegs ist die sozialversicherungspflichti- gerechnet werden. Davon sind 100 Euro komplett ge Beschäftigung, die zuletzt noch stärker zulegen freigestellt. Darüber hinaus verbleiben weitere Be- konnte als die Erwerbstätigkeit insgesamt und seit träge prozentual gestaffelt nach Einkommenshö- 2005 von 26,4 auf geschätzte 33,5 Millionen 2019 he anrechnungsfrei und zwar bei Einkommen von sogar um mehr als sieben Millionen gestiegen ist. mehr als 100 Euro bis zu 1000 Euro 20 Prozent und Der Arbeitsmarkt war also – abgesehen von der von mehr als 1000 Euro bis zu 1200 Euro 10 Pro- Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 – über einen zent. Die obere Einkommensgrenze erhöht sich langen Zeitraum außerordentlich aufnahmefähig. von 1200 Euro auf 1500 Euro, wenn ein minder- Obwohl sich die Zahl der erwerbsfähigen Leis- jähriges Kind mit in der Bedarfsgemeinschaft lebt. tungsberechtigten nach dem anfänglichen Anstieg Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur in 2005 ebenfalls rückläufig entwickelte, zeigten Wiedereingliederung der Hilfebedürftigen ent- sich in der vergangenen Dekade etwas geringere sprechen weitgehend denen der Arbeitslosen- Fortschritte als bei der Entwicklung der Arbeits- versicherung. Zusätzlich kommen öffentlich losigkeit. Ihre Zahl sank von fünf Millionen 2008 geförderte Formen der Beschäftigung (etwa Ar- auf 4,1 Millionen 2018 (Abbildung 1). Die leicht beitsgelegenheiten), sozialintegrative Leistun- schwächere Entwicklung ist zum einen darauf zu- gen (zum Beispiel Schuldnerberatung) oder auch rückzuführen, dass es gerade im SGB II nach wie Leistungen für Bildung und Teilhabe als Förder- vor eine beträchtliche Zahl von Personen gibt, die dem „harten Kern“ der Arbeitslosen zuzurechnen
01 Vgl. Ulrich Walwei, Zur Ökonomie der Arbeitslosenversiche- rung, in: APuZ 27/2009, S. 27–33. 03 Vgl. Anja Bauer et al., IAB-Prognose 2019/20. Konjunktu- 02 Vgl. Anke Hassel/Christof Schiller, Der Fall Hartz IV. Wie es reller Gegenwind für den Arbeitsmarkt, Institut für Arbeitsmarkt- zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt/M. 2010. und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 18/2019.
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Abbildung 1: Arbeitslose und erwerbsfähige Leistungsbezieher (ELB) im SGB II 2008 bis 2018, Jahres- durchschnitte und Quoten in Prozent