69. Jahrgang, 44–45/2019, 28. Oktober 2019

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Hartz IV

Christoph Butterwegge · Rainer Hank Daniela Schiek · Carsten G. Ullrich DEUTSCHLAND GENERATIONEN DER ARMUT? NACH HARTZ IV: Jens Wietschorke ZWEI PERSPEKTIVEN GRENZEN DER Ulrich Walwei RESPEKTABILITÄT. HARTZ IV – GESETZ, ZUR GESCHICHTE EINER GRUNDSÄTZE, WIRKUNG, UNTERSCHEIDUNG REFORMVORSCHLÄGE Ursula Bitzegeio Bodo Aretz et al. · Marcel Fratzscher HARTZ IV ALS HARTZ IV REFORMIEREN? PROBLEMGESCHICHTE ZWEI PERSPEKTIVEN DER GEGENWART

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Hartz IV APuZ 44–45/2019

CHRISTOPH BUTTERWEGGE · RAINER HANK DANIELA SCHIEK · CARSTEN G. ULLRICH DEUTSCHLAND NACH HARTZ IV: GENERATIONEN DER ARMUT? ZWEI PERSPEKTIVEN Seit Einführung der Grundsicherung 2005 Deutschland stehe nicht zuletzt wegen Hartz IV wächst die Sorge, dass Hartz IV „vererbbar“ ist. vor einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Das direkte Miteinanderteilen wohlfahrtsstaatli- Zerreißprobe, meint Christoph Butterwegge. cher Abhängigkeit stellt indes nur einen Modus Rainer Hank verweist auf die Erfolge der Refor- des Umgangs von Familien mit ihrer Hartz-IV- men bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Geschichte dar. fragt sich, was es da zu jammern gibt. Seite 27–32 Seite 0 4 –11

JENS WIETSCHORKE ULRICH WALWEI GRENZEN DER RESPEKTABILITÄT. HARTZ IV – GESETZ, GRUNDSÄTZE, ZUR GESCHICHTE EINER UNTERSCHEIDUNG WIRKUNG, REFORMVORSCHLÄGE „Volk“ oder „Pöbel“, deserving oder undeser- Mit der vierten Hartz-Reform wurden Arbeits­ ving poor: In zahllosen Varianten strukturieren losen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der solche Unterscheidungen historische wie aktuelle damaligen Sozialhilfe zusammengelegt. Prinzi- Diskurse über die Unterklassen. Der Beitrag gibt pien wie „Fördern und Fordern“ sind bis heute einen Überblick und fragt nach diesbezüglichen umstritten. Welche Wirkungen hatte Hartz IV, Auswirkungen der Hartz-Gesetze. welche Reformoptionen sind im Gespräch? Seite 33–39 Seite 12–21

URSULA BITZEGEIO BODO ARETZ ET AL. · MARCEL FRATZSCHER HARTZ IV ALS PROBLEMGESCHICHTE HARTZ IV REFORMIEREN? DER GEGENWART ZWEI PERSPEKTIVEN Weder die Bekämpfung der manifesten Arbeits- Bodo Aretz, Jan Fries und Christoph M. Schmidt losigkeit noch der Reformprozess und schon gar halten Fördern und Fordern für ein erfolgreiches nicht der politische Streit um Arbeitslosen- und Leitprinzip und warnen vor Rückschritten. Grundsicherung sind heute abgeschlossen. Marcel Fratzscher fragt sich, ob das System Welche Bedeutung kommt der Hartz-IV-Reform der Grundsicherung noch zeitgemäß ist, und in einer Problemgeschichte der Gegenwart zu? präsentiert Reformvorschläge. Seite 40–46 Seite 22–26 EDITORIAL

Vor fast 15 Jahren, zum 1. Januar 2005, trat das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft. Anfang 2002 hatte die rotgrüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) als eine Reaktion auf den Skandal um falsche Vermittlungsstatistiken bei der Bundesanstalt für Arbeit eine Kommission unter Leitung des damaligen VW-Personalvorstands, Peter Hartz, eingesetzt. Die Hartz-Kommission sollte die „notwendigen gesetzgeberischen Schritte“ in den Kernbereichen „Arbeits- und Ausbildungsstellenvermittlung, Auszahlung von Lohnersatzleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik“ vor- bereiten. Daraus gingen die sogenannten Hartz-Gesetze I bis IV hervor, die 2002/03 verabschiedet wurden. Mit Hartz IV wurden unter anderem Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II auf dem Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt, die Zumutbarkeitskriterien für eine Arbeitsaufnahme verschärft und die Bezugs- dauer des Arbeitslosengeldes I auf höchstens 18 Monate verkürzt. Eingebettet in einen größeren Reformzusammenhang, der , die Schröder am 14. März 2003 verkündet hatte, löste Hartz IV eine Protestbewegung aus, in deren Fahrwasser die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) gegründet wurde. 2007 verschmolz sie mit der PDS zur Partei Die Linke. Bis heute sind die Arbeitsmarktreformen umstritten. „Hartz IV“ ist zur doppelgesichtigen Chiffre geworden: sowohl für einen in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Sozialabbau als auch für einen Aufbruch aus verkrusteten Strukturen und die erfolgreiche Bekämpfung verfestigter Massen- arbeitslosigkeit. Waren 2005 noch knapp fünf Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, hat sich die Zahl bis 2019 mehr als halbiert. Studien belegen, dass Hartz IV an diesem Beschäftigungsaufschwung einen Anteil hatte. Aber um welchen Preis? Kritisiert wurden und werden immer wieder der Umgang mit langjährig Berufstätigen, die Zumutbarkeitskriterien, die Sanktionierungen, die Höhe der Regelleistung, die Grundsicherung in Bezug auf Kinder sowie die Regelungen zum Hinzuverdienst und zum sogenannten Schonvermögen.

Anne Seibring

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DEUTSCHLAND NACH HARTZ IV: ZWEI PERSPEKTIVEN

sondern primär an den durch die Hartz-Refor- Die zerrissene Republik men drastisch verschärften Anspruchsvorausset- zungen, Kontrollmechanismen und Repressali- Christoph Butterwegge en der für die Leistungsgewährung zuständigen Jobcenter und Sozial- beziehungsweise Grund­ sicherungs­ämter. Das im Volksmund „Hartz IV“ genannte Gesetz Durch das Gesetz hat sich die finanzielle Si- war keine Arbeitsmarkt- oder Sozialreform wie tuation von Millionen Langzeit- beziehungs- jede andere. Denn das am 1. Januar 2005 in Kraft weise Dauererwerbslosen und ihren Familien getretene, vom damaligen Wirtschafts- und Ar- spürbar verschlechtert. Insbesondere durch das beitsminister Wolfgang Clement als „Mutter al- Abdrängen der Langzeiterwerbslosen, die vor- ler Reformen“ gewürdigte Vierte Gesetz für mo- her Arbeitslosenhilfe erhalten hatten, in den Für- derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hat die sorgebereich mit seinen für alle gleich niedrigen Bundesrepublik so tief greifend verändert wie Transferleistungen trug Hartz IV dazu bei, dass sonst kaum eine innenpolitische Entscheidung sich die Kinderarmut beinahe verdoppelte. Gab von Parlament und Regierung. 01 Während sei- es im Dezember 2004, also unmittelbar vor dem ne Befürworter/innen den anschließenden Kon- Inkrafttreten des Gesetzespakets, 1,1 Millionen junkturaufschwung und die Halbierung der Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die So- Arbeitslosigkeit wesentlich auf Hartz IV zurück- zialhilfe bezogen, so lebten im Dezember 2017 et- führen, machen seine Kritiker/innen geltend, dass was mehr als zwei Millionen und im Dezember die Bundesrepublik Deutschland unsozialer, käl- 2018 knapp unter zwei Millionen unverheiratete ter und inhumaner geworden sei. Im Folgenden Minderjährige von Hartz-IV-Leistungen. zeige ich, wie sich die Arbeitsmarktreform indi- Stark betroffen waren Ostdeutsche, alleiner- viduell, also auf die unmittelbar Betroffenen, und ziehende Mütter und Migranten, deren soziale gesamtgesellschaftlich, also auf das soziale Klima Probleme sich durch Hartz IV verschärften. Weil und die politische Kultur der Bundesrepublik, das Arbeitslosengeld II als ergänzende Transfer- ausgewirkt hat. leistung zu einem geringen Lohn konzipiert war, dürfte Hartz IV außerdem entscheidend dazu bei- BETROFFENE getragen haben, dass der Niedriglohnsektor, das UND PROFITEURE Haupteinfallstor für heutige Erwerbs-, Famili- en- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut, Insgesamt haben seit Anfang 2005 etwa 20 Mil- mittlerweile beinahe ein Viertel der Beschäftigten lionen Personen zumindest eine Zeit lang die umfasst. Ungefähr eine Million der Arbeitslosen- Grundsicherungsleistungen der Bundesagentur geld-II-Bezieher/innen sind gar nicht arbeitslos, für Arbeit bezogen. Aufgrund der hohen per- sondern können von dem Lohn, den sie erhalten, sonellen Fluktuation innerhalb des Grundsi- bloß nicht leben, ohne ergänzend Hartz IV in An- cherungssystems haben sehr viele Bürger/innen spruch zu nehmen. einmal oder sogar wiederholt die deprimieren- In der politischen, medialen und Fachöffent- de Erfahrung von Hartz-IV-Hilfebedürftigkeit lichkeit bleibt die Frage, ob Hartz IV arm macht gemacht. Dass die Gesamtzahl der Transferleis- oder ob damit erfolgreich Armutsprävention be- tungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenom- trieben wird, bis heute umstritten. Das verwun- men hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, dert kaum, weil „Armut“ ein politisch-norma- liegt nicht etwa an einem Rückgang der materi- tiver, sehr komplexer, mehrdimensionaler sowie ellen Bedürftigkeit von Leistungsberechtigten, moralisch und emotional aufgeladener Begriff

04 Hartz IV APuZ ist. 02 Hieraus resultieren eine unterschiedliche bis Inge Hannemann, jahrelang Mitarbeiterin ei- gegensätzliche Haltung der Kommentator(inn)en nes Jobcenters, klagt darüber, dass die Mensch- zu ihrem Gegenstand und stark differierende Be- lichkeit bei dem Versuch, die Vermittlung, Bera- wertungen. Dies gilt auch für das 2011 eingeführ- tung und Begleitung von Personen auf ihrer Suche te Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregie- nach Erwerbstätigkeit in betriebswirtschaftliche rung, das seine Befürworter/innen als Etappensieg Zahlen umzuwandeln, auf der Strecke geblieben im Kampf gegen die Kinderarmut feiern, während sei. 06 Hartz IV macht nicht bloß viele Menschen seine Kritiker/innen darin ein bürokratisches arm, sondern auch krank. Der massive Druck, Monstrum sehen, das die meisten anspruchsbe- den Jobcenter auf Bezieher/innen des Arbeits- rechtigten Eltern davon abhält, die entsprechen- losengeldes ausüben, zieht nicht selten Depres- den Leistungen zu beantragen. 03 sionen nach sich. Das vorgeblich „aktivierende“ Wie das Bremer Institut für Arbeitsmarktfor- Hartz-IV-System führt die Arbeitslosengeld-II- schung und Jugendberufshilfe (BIAJ) errechnete, Bezieher/innen oftmals in einen Teufelskreis aus wurden Hartz-IV-Bezieher/innen in den vergan- Perspektivlosigkeit und Passivität hinein, in dem genen Jahren immer mehr von der allgemeinen mit Frustrationserfahrungen, Überhand nehmen- Einkommensentwicklung abgekoppelt. Sowohl den Resignationstendenzen und sinkendem An- absolut wie relativ hat sich der Abstand zwi- spruchsniveau auch die Eigenaktivität nachlässt: schen dem Regelbedarf (ohne Miet- und Heiz- „Wer sich nicht mehr intensiv um sich selbst kosten) und der Armutsgefährdungsschwelle, sorgt, wer permanent Abstriche nicht nur bei der die laut einer EU-Konvention bei 60 Prozent des Job-, sondern auch bei der Lebensqualität macht, mittleren Einkommens liegt, seit Einführung von der verliert allmählich auch den Antrieb, seine Hartz IV erheblich vergrößert. Betrug er 2006 individuelle Erwerbs- und Lebenslage aktiv zu noch 401 Euro (absolut) und 53,8 Prozent (rela- verändern.“ 07 tiv), stieg er bis 2018 auf 619 Euro beziehungs- Unterscheidet man zwischen Betroffenen und weise 59,8 Prozent. 04 Einerseits kann man also Profiteur(inn)en der Arbeitsmarktreform, gibt es von einer zunehmenden Verarmung der Transfer- neben den Verlierergruppen auch Nutznießer/in- leistungsempfänger/innen ausgehen, andererseits nen und Gewinner/innen. Dazu gehörten bishe- traf die Armut weitere Personengruppen. So kam rige Sozialhilfebezieher/innen, die erwerbsfähig eine Studie, die die deutliche Senkung der Ar- waren und nun die Eingliederungsmaßnahmen beitslosigkeit auf die Hartz-Gesetze zurückführ- der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch neh- te, gleichwohl zu dem Ergebnis, dass diese „kei- men konnten, sofern die Jobcenter sie in deren ne armutslindernde Wirkung nach sich gezogen“ Genuss kommen ließen und ihre Fördermaßnah- hätten, sondern die Armut im Gegenteil nach men nicht auf Höherqualifizierte konzentrierten. zehn Jahren um etwa ein Drittel größer ausfalle Die eigentlichen Profiteure der rot-grünen Ar- als vor den Reform­maßnahmen. 05 beitsmarktreformen waren jedoch Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften, die möglichst 01 Vgl. ausführlich Christoph Butterwegge, Hartz IV und die billig, willig und wehrlos sein sollten. „Getreu Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, Weinheim–​ dem Grundsatz, wonach (nahezu) jede Arbeit 3 Basel 2018 . besser ist als keine, zielt Hartz IV auf die mög- 02 Vgl. ders., Armut, Köln 20194,. S. 8 ff 03 Vgl. als typisch für die unterschiedliche Bewertung Sandy lichst umfassende Internalisierung eines allgemei- 08 Pahlke, Bildungspaket 2011. Guter Einfall oder Reinfall?, Berlin nen Arbeits­zwangs.“ 2014; Mara Dehmer/Jennifer Puls/Joachim Rock, Das Bildungs- Mit dem Gesetz wurde nicht bloß enormer und Teilhabepaket: eine Misserfolgsgeschichte. Bürokratische Druck auf Langzeiterwerbslose, sondern auch Hürden und fehlende Mittel reduzieren Bildungschancen, in: auf das Lohnniveau ausgeübt. Real­lohnverluste Soziale Sicherheit 10–11/2016, S. 400–408. 04 Vgl. BIAJ, BIAJ-Materialien: Absolute und relative Lücke zwi- schen Regelbedarf (Hartz IV) und Armutsgefährdungsschwelle 06 Vgl. Inge Hannemann, Die Hartz-IV-Diktatur. Eine Arbeits- 2006–2018, 20. 8. 2019, http://biaj.de/archiv-materialien/1262- vermittlerin klagt an, Reinbek 2015, S. 138. absolute-und-relative-luecke-zwischen-regelbedarf-hartz-iv- 07 Klaus Dörre et al., Bewährungsproben für die Unterschicht? und-armutsgefaehrdungsschwelle-2006–2018.html. – Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt/M.–​ 05 Siehe Simon Jung, Die Hartz-Reformen und die Armutsent- New York 2013, S. 366. wicklung in Deutschland. Ursachen und armutsbeeinflussende 08 Ders., Hartz-Kapitalismus. Vom erfolgreichen Scheitern der Folgen (von) Deutschlands umfangreichster Sozialreform, jüngsten Arbeitsmarktreformen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Norderstedt 2012, S. 72 f. Deutsche Zustände, Folge 9, Berlin 2010, S. 294–305, hier S. 295.

05 APuZ 44–45/2019 vor allem im unteren Einkommensbereich wa- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld ren die Folge. Aufgrund der verschärften Zumut- (IKG), machte eine „neue Verhöhnung“ aus, die barkeitsregeln und der massiven Sanktionsdro- seit der Reform in weiten Bevölkerungskreisen hungen führt Hartz IV dem Niedriglohnsektor um sich gegriffen habe. Daraus zog der Journa- ständig neuen Nachschub zu. Unter dem Da- list Bruno Schrep den Schluss, dass die Solidar- moklesschwert von Hartz IV sind Belegschaf- gemeinschaft der Bundesbürger/innen ausein- ten, Betriebsräte und Gewerkschaften außerdem andergebrochen sei: „Viele Arbeitsplatzbesitzer, eher bereit, schlechte Arbeitsbedingungen und/ viele Nichtbetroffene haben einen stillschweigen- oder niedrigere Löhne zu akzeptieren. Schließ- den Pakt geschlossen: Sie grenzen sich von den lich bescheren sinkende Löhne und Gehälter von Hartz-IV-Empfängern ab, reißen Witze über sie, Arbeitnehmer(inne)n deren Arbeitgebern höhere vermeiden Kontakte, brechen Freundschaften Gewinne. Für die Bezieher/innen von Arbeitslo- ab. Dahinter steckt die pure Angst, womöglich sengeld II ist Hartz IV ein Disziplinierungsinstru­ ­ schon bald selbst betroffen zu sein.“ 09 Heitmey- ment und für „normale“ Arbeitnehmer/innen er sprach von „roher Bürgerlichkeit“, die einen eine Drohkulisse und ein Druckmittel. Hinge- Rückzug aus der Solidargemeinschaft einschlie- gen bieten die Grundsicherungsleistungen für ße: „Die Entkultivierung des Bürgertums offen- Arbeitgeber die Möglichkeit, Hartz IV gewinn- bart sich im Auftreten seiner Angehörigen und in steigernd als Kombilohnmodell zu nutzen. Für der Art und Weise, wie sie versuchen, eigene Zie- exzessives Lohndumping betreibende Unterneh- le mit rabiaten Mitteln durchzusetzen. Das zeigt mer, die überwiegend aus der Leiharbeitsbranche sich nicht zuletzt in der Abwertung schwacher stammen, bildet das an sogenannte Erwerbsauf- Gruppen.“ 10 stocker/innen gezahlte Arbeitslosengeld II eine Hier liegt ein wichtiger Grund für die He- indirekte Subvention, deren Höhe sich auf über rausbildung einer Subkultur im Bereich der Ar- zehn Milliarden Euro pro Jahr ­beläuft. beitslosengeld-II-Empfänger/innen samt ihren Familien, die von Hartz-IV-Kochbüchern über VERÄNDERUNGEN Sozialkaufhäuser bis zu Hartz-IV-Kneipen reicht, DES SOZIALEN KLIMAS wo Leistungsbedürftige unter sich bleiben und UND DER POLITISCHEN KULTUR ihr Bier zu Niedrigpreisen trinken. Manchmal scheint es, als ob innerhalb der Bundesrepublik Hartz IV hat einen sozialen Klimawandel be- zwei Welten oder eine „Parallelgesellschaft“ exis- wirkt und die politische Kultur der Bundesre- tieren. In den Hochhausvierteln am Rand der publik nachhaltig beschädigt. Stärker als vor der Großstädte besuchen die „Abgehängten“ jene Arbeitsmarktreform werden Langzeit- und Dauer­ Suppenküchen, die sich heute nobel „Lebensmit- erwerbslose öffentlich als „Drückeberger“, „Fau- teltafeln“ nennen und deren Zahl nach 2005 rapi- lenzer“ und „Sozialschmarotzer“ diffamiert. de anstieg, 11 erhalten Wäsche in Kleiderkammern Hatte man die Bezieher/innen der mit Hartz IV der Wohlfahrtsverbände, holen sich Einrich- abgeschafften Arbeitslosenhilfe noch als frü- tungsgegenstände aus Möbellagern und beschaf- her Sozialversicherte und ehemalige Beitrags- fen sich vieles, was sie darüber hinaus zum Leben zahler/innen wahrgenommen, wurden Langzeit­ ­ benötigen, in Sozialkaufhäusern. erwerbslose nach dem Inkrafttreten von Hartz IV In den vergangenen 15 Jahren waren hierzu- und Medienberichten über die steigende Belas- lande neben Tendenzen der Entsicherung und tung des Bundeshaushalts durch das Arbeitslo- Entsolidarisierung auch Prozesse der Entdemo- sengeld II, das Sozialgeld und die Übernahme ei- kratisierung zu beobachten. Hartz-IV-Bezieher/ nes Teils der Unterkunftskosten häufiger als faule innen werden nicht bloß sozial ausgegrenzt, son- Müßig- beziehungsweise teure Kostgänger/innen des Steuerstaates empfunden, was sich im Gefolge 09 Bruno Schrep, Die neue Verhöhnung: „Bierdosen sind Hartz- der globalen Banken-, Finanz- und Wirtschafts- IV-Stelzen“, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, krise ab 2008/09 verstärkte. Folge 6, Frank­furt/M. 2008, 218–223, hier S. 222. Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen und ihre 10 Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeind- lichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: ders. (Hrsg.), Kinder werden als „Hartzer“ verlacht und sozial Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin 2012, S. 15–41, hier S. 35. ausgegrenzt. Wilhelm Heitmeyer, damaliger Lei- 11 Stefan Selke, Schamland. Die Armut mitten unter uns, Berlin ter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- 2013, S. 231.

06 Hartz IV APuZ dern auch politisch ins Abseits gedrängt. Das par- die Partei ihre eigene sozialstrukturelle Basis mit lamentarisch-demokratische Repräsentativsys- Hartz IV zerstört hat. An die Stelle aufstiegsori- tem befindet sich in einer Krise, das wegen seiner entierter und selbstbewusster Facharbeiter/innen Stabilität gerühmte Modell der „Volksparteien“ sind vielfach Niedriglöhner/innen getreten, die franst aus, und die politische Partizipationsbe- nicht mehr aus Traditionsbewusstsein oder in al- reitschaft sozial Benachteiligter sinkt. „Während ter Verbundenheit die SPD unterstützen, sondern Bessergestellte weiterhin mit hoher Wahrschein- aus Enttäuschung über deren Politik und die eige- lichkeit wählen, bleiben viele Arme zu Hause.“ 12 ne soziale Perspektivlosigkeit gar nicht mehr oder Wie es scheint, ist Wahlabstinenz häufig die poli- womöglich die AfD wählen, deren Parteiname tische Konsequenz einer prekären Existenz. Of- sie als erhoffte „Alternative“ zum Neoliberalis- fenbar haben vor allem Geringverdiener/innen mus ausweist. Schließlich haben Gerhard Schrö- und Transferleistungsbezieher/innen, die von den der und Angela Merkel ihren Regierungskurs all- etablierten Parteien keine Vertretung ihrer In- zu oft als „alternativlos“ dargestellt. „Indem die teressen (mehr) erwarten, das Gefühl, mit ihrer etablierten Kräfte, einschließlich beträchtlicher Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewe- Teile der politischen Linken, sich der neolibe- gen zu können. ralen Sachzwangslogik ergeben haben, kann der Hauptleidtragende der Erosionstendenzen Rechtspopulismus sich als die Kraft inszenieren, im parteipolitischen Raum ist die SPD, innerhalb die ein Primat der Politik wiederherstellt.“ 13 der Hartz IV von Anfang an stark umstritten war. Dass die Angst vor dem sozialen Abstieg durch Selbst als die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vorge- Nahles im November 2018 erklärte, Hartz IV drungen ist, nutzt der AfD ebenfalls. Angst verlei- „hinter sich lassen“ zu wollen, hatte sie nicht alle tet Menschen zu irrationalen Reaktionen, weshalb Spitzenfunktionäre hinter sich. Dass die SPD auf- sich das deutsche Kleinbürgertum in ökonomi- grund der Agenda 2010 hunderttausende Mitglie- schen Krisen- und gesellschaftlichen Umbruchsi- der und mehrere Millionen Wähler/innen verlor, tuationen politisch vorwiegend nach rechts orien- hat sie nicht zu glaubwürdiger Selbstkritik veran- tiert. Erfolgreich ist der Rechtspopulismus auch, lasst. Statt die „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik weil seine Mittelschichtsideologie eine Zwangs- für grundfalsch zu erklären, räumt man nur ein, lage fleißiger Bürger/innen zwischen „korrupten dass sie heute fehl am Platze sei, weil inzwischen Eliten“ und „faulen Unterschichten“ konstruiert. Fachkräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit Mittelschichtangehörige, denen die etablierten herrsche. Unterschwellig lautet die Botschaft: Parteien keinen Schutz vor Deklassierung bie- Wenn der Arbeitsmarkt in dem sich anbahnenden ten, erkennen ihr Weltbild in dem rechtspopulis- Konjunkturrückgang erneut aus den Fugen gerät, tischen Narrativ wieder, dass sie als die eigentli- machen wir dieselbe Politik wie damals Gerhard chen Leistungsträger/innen der Gesellschaft nach Schröder und Wolfgang Clement. Strich und Faden ausgeplündert werden. Dabei hat deren Regierungspraxis den Nie- Wenn sich außerdem die Kluft zwischen Arm dergang der SPD eingeleitet, und zwar nicht und Reich vertieft, die sozioökonomische Un- bloß wegen der massenhaften Enttäuschung da- gleichheit wächst und der gesellschaftliche Zu- von (potenziell) Betroffener, sondern auch, weil sammenhalt schwindet, gerät die Demokratie in Gefahr. Dass die Bundesrepublik heute vor ei- 12 Armin Schäfer, Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger: Ist ner wirtschaftlichen, sozialen und politischen die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie?, Zerreißprobe steht, ist nicht zuletzt Hartz IV in: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.), Der unbekannte ­geschuldet. 14 Wähler? – Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen, Frank­furt/M.–New York 2011, S. 133–154, hier S. 139. 13 Ralf Ptak, Der Neoliberalismus entlässt seine Kinder: Krise(n) und Rechtspopulismus, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hent­ ges/Bettina Lösch (Hrsg.), Auf dem Weg in eine andere Republik? – CHRISTOPH BUTTERWEGGE Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, ist Professor für Politikwissenschaften (i. R.) am Weinheim–Basel 2018, S. 64–75, hier S. 73. 14 Vgl. Christoph Butterwegge, Die zerrissene Republik. Wirt- Institut für Vergleichende Bildungsforschung und schaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Weinheim–Basel 2019, S. 271 ff., S. 286 ff. [email protected]

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ERFOLG EINES GEMÄẞIGTEN Grundlos jammern NEOLIBERALISMUS

Rainer Hank Im Jahr 2005, als die Hartz-Reformen in Kraft traten, waren in Deutschland fast fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, davon 1,8 Millionen Lang- Gegenüber dem Leipziger Gewandhaus steht ein zeitarbeitslose, die länger als ein Jahr keine Arbeit Bauwerk aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, hatten. Dass es je wieder Vollbeschäftigung geben dessen Giebel das Tympanon eines antiken Tem- könnte, wurde von vielen als Illusion verworfen. pels imitiert. Darauf eingemeißelt ist der Satz: Und jetzt? Mitte 2019 hat sich die Zahl der Arbeits- „Omnia vincit labor“, die Arbeit besiegt alles. losen im Vergleich zu 2005 mehr als halbiert, auf Über der Inschrift stehen zwei Skulpturen von 2,3 Millionen. Es gibt nur noch gut 700 000 Lang- Arbeitern, die abwechselnd mit schweren Klöp- zeitarbeitslose. In Deutschland sind 45 Millionen peln die Glocke schlagen. Das Krochsche Hoch- Menschen erwerbstätig – das ist Rekordbeschäf- haus, so der Name des Gebäudes, hämmert zu tigung; 33 Millionen darunter in sozialversiche- Beginn des Industriezeitalters den Menschen eine rungspflichtigen Arbeitsverhältnissen – ebenfalls Weisheit aus Vergils Lehrgedicht über den Land- eine Rekordzahl, die den Vorwurf entkräftet, der bau ein: Arbeit ist uns Fluch und Verheißung. Preis der neu gewonnenen Arbeit seien vornehm- Seit Aristoteles galt die Überzeugung, Arbeit lich prekäre Beschäftigungsverhältnisse. In vielen sei die von Gott gegebene Bestimmung der Men- Regionen Deutschlands herrscht inzwischen Voll- schen. Der Wert der Arbeit erschöpft sich längst beschäftigung. Die Entlassungsquote liegt auf dem nicht nur in der Erzielung von Einkommen. niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Die Noch die entfremdetste Tätigkeit enthält einen Zahl der offenen Stellen hingegen hat einen neuen Rest von Sinngebung. Der deutsche Philosoph Rekordwert erreicht. 05 G.. W F. Hegel bestand darauf, jeder Teilnehmer Wie immer man es deutet: Dass der Weg noch am Leistungsaustausch auf dem Markt (oder in weiter hinein in die Massenarbeitslosigkeit ge- der Fabrik) habe das Recht, sein Brot zu verdie- stoppt wurde, ist eine Zäsur in der Geschichte der nen, mithin sich und seine Familie auf dem kultu- Bundesrepublik. Die Zeit von 1973 bis 2005 war rell gegebenen Niveau zu ernähren. 01 Das schafft eine Phase der Unterbeschäftigung, die nun – vor- Befriedigung, weil die Nächsten davon profitie- erst – zu Ende ist. Wir leben in Zeiten eines Job- ren, hat aber auch einen Eigenwert, weil der den Booms. Gefahren einer möglichen Rezession im Prozess der Arbeit begleitende „Flow“ als beglü- Sommer 2019 lassen den Arbeitsmarkt – bisher – ckendes Gefühl erlebt wird. 02 Der Mensch ist nur unberührt und robust. da ganz Mensch, wo er arbeitet. Nach Max We- Waren es die Hartz-Reformen, die für diese ber speist sich daraus die so fruchtbare Symbiose Trendwende der Beschäftigung verantwortlich von protestantischer Arbeitsethik und dem Geist sind? In Kürze nur so viel: 06 Die Zusammenle- des Kapitalismus. 03 Arbeit, Wachstum und Wohl- gung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe bedeute- stand bedingen einander. te die Abschaffung der an den letzten Lohn ge- Wenn das stimmt, ist allein die Möglichkeit koppelten Arbeitslosenhilfe. Das kann man als einer Welt, der die Arbeit auszugehen droht, einen Paradigmenwechsel beschreiben: Die Re- der worst case. Die Erfahrung von Arbeitslosig- formen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder keit entzieht nicht nur Einkommen, sondern zer- (SPD) haben den im Sozialstaat angelegten Ziel- stört die ganze Existenz. Man lässt den Dingen konflikt zwischen Versicherungs- und Anreiz- ihren Lauf, wird apathisch, verliert allen Elan. 04 effekten verschoben. Die Reform des „Forderns Gefragt, was sie unglücklich mache, nennen viele und Förderns“ schränkte die Versicherungsleis- Menschen Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Mehr tung des Staates ein mit dem Ziel, die Suchanreize noch: Auch wer Arbeit hat, fühlt sich weniger für Arbeitslose zu verstärken. 07 zufrieden, wenn andere arbeitslos sind. Kurz- Die Reformen haben ihre Wirkung nicht ver- um: Menschen die Chance auf Arbeit zu vermit- fehlt. Die Wahrscheinlichkeit, eine Stelle zu fin- teln, ist nicht nur ökonomisch, sondern auch psy- den, ist um rund 10 Prozent angestiegen, während chologisch geboten. Es ist darüber hinaus auch die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, um ethisch geboten, weil es um Würde geht. 30 Prozent gesunken ist. Hartz IV hat auch dafür ge-

08 Hartz IV APuZ sorgt, dass das „Matching“ zwischen offenen Stellen bessert und – nicht zu vergessen – das Einkom- und Arbeitssuchenden enorm verbessert wurde. 08 men vieler erhöht. 10 Es könnte sogar sein, dass der größte Erfolg Es war das erklärte Ziel der Reformen, Arbeit von Hartz IV gar nicht darin bestand, neue Stel- attraktiv und Arbeitslosigkeit unattraktiv wer- len zu schaffen, sondern den Abbau der Beschäfti- den zu lassen. Dahinter steht die Überzeugung, gung zu verhindern. 09 Die Angst vor allem langjäh- Arbeit – selbst unter ungünstigen Bedingungen – rig beschäftigter, älterer Menschen, nach maximal sei allemal der Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Man zwei Jahren Arbeitslosigkeit auf Hartz IV ange- kann diesen Systemwechsel mit guten Gründen wiesen zu sein, führt dazu, dass diese bereit sind, als Rückkehr zu den Ursprüngen der Sozialen Zugeständnisse bei Löhnen im Tausch für Arbeits- Marktwirtschaft deuten, die sich den Grundsät- platzsicherheit zu machen. Es ist so gesehen kein zen der Freiburger Schule verpflichtet weiß: eine Wunder, dass die Hartz-Reformen flankiert wur- „Verschiebung des Leitbildes von der Vollversor- den durch sogenannte betriebliche Bündnisse, bei gung zur Eigenverantwortung“. 11 denen die Gewerkschaften diesem Tausch von – Das entsprach dem politischen Lebensgefühl temporärem – Lohnverzicht mit Beschäftigungs- der späten 1990er Jahre: Ein Sozialstaat, der für garantien zugestimmt haben. Zwar haben langjäh- die Menschen keine Arbeit hat, kann auch nicht rig beschäftigte Arbeitnehmer ein relativ geringes sozial sein. Kanzler Schröder (und seine Bera- Risiko, arbeitslos zu werden, doch die Gruppe ist ter) waren beeindruckt vom damaligen britischen zahlenmäßig sehr groß und fällt damit statistisch Premierminister Tony Blair, der mit einem „drit- ins Gewicht. ten Weg“ die „neue Mitte“ der Gesellschaft errei- Die Reformen der Agenda 2010 insgesamt chen wollte: Ein „aktivierender Sozialstaat“ soll- haben die Zufriedenheit der Bürger in Deutsch- te die „Beschäftigungsfähigkeit“ (employability) land deutlich verbessert, die Möglichkeit zur der Menschen befördern. Das war ein gemäßigter gesellschaftlichen Partizipation, die in einer Neoliberalismus, der durchaus die Grundüber- Arbeitsgesellschaft an Arbeit gekoppelt ist, ver- zeugungen der vormaligen liberalen Regierungs- chefin Margaret Thatcher teilte. Es ist eine Ironie 01 Vgl. Axel Honneth, Arbeit und Anerkennung. Versuch einer der Geschichte, dass ausgerechnet die Sozialde- Neubestimmung, in: Michael S. Aßländer/Bernd Wagner (Hrsg.), mokraten mit dem Liberalismus Ernst gemacht Philosophie der Arbeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, haben, während die Reformen der Kohl-Regie- Berlin 2017, S. 418–442. 02 Mihály Csíkszentmihályi, Flow, Stuttgart 2008. rung sich in einer ziemlich folgenlosen Rhetorik 03 Man kann den Glauben an Gott als eine Art Schmiermittel der „geistig-moralischen Wende“ erschöpften. des Arbeitsethos und Bedingung der Möglichkeit von Wachs- Indes ist dieser gemäßigte Neoliberalismus der tum interpretieren. Vgl. Rachel M. McCleary/Robert Barro, The SPD nicht wesensfremd. Er speist sich aus dem Wealth of Religions. The Political Economy of Believing and Leistungsethos der Arbeiterschaft, das die Sozial- Belonging, New Jersey–Oxford 2019. 12 04 Vgl. die klassische Studie von Marie Jahoda/Paul F. demokratie im 19. Jahrhundert prägte. Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder WARUM DIE Arbeitslosigkeit, Frank­furt/M. 1975 (1933). VERELENDUNGSTHEORIE VERSAGT 05 Vgl. Enzo Weber, Ausgegrenzt. Hartz IV sollte ein soziales Netz sein, keine Bedrohung, in: Süddeutsche Zeitung, 26. 8. 2019, S. 16. Diese Erfolgsgeschichte der Hartz-Reformen wi- 06 Vgl. den Beitrag von Ulrich Walwei in dieser Ausgabe. derspricht in nahezu allen Punkten dem linken 07 Vgl. Philip Jung/Moritz Kuhn, Ist Hartz IV noch zukunftsfä- hig?, in: Ifo Institut, Ifo Schnelldienst 6/2019, S. 3–6. 08 Vgl. Sabine Klinger/Thomas Rothe/Enzo Weber, Makro- 10 Während bis in die 2000er Jahre „Angst vor Arbeitslosigkeit“ ökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen: Die Vorteile in Befragungen ganz oben rangierte, ist diese Sorge seit gerau- überwiegen, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, mer Zeit aus den Angst-Katalogen vollkommen verschwunden. IAB-Kurzbericht 11/2013; Enzo Weber, The Labour Market in Vgl. R+V-Versicherungen: Die Ängste der Deutschen im Lang- Germany: Reforms, Recession and Robustness, in: De Economist zeitvergleich, 2019, www.ruv.de/presse/aengste-der-​deutschen/​ 4/2015, S. 461–472. aengste-der-deutschen-langzeitvergleich. 09 Vgl. Benjamin Hartung/Philip Jung/Moritz Kuhn, Hartz IV 11 Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegen- hat gewirkt – aber anders als oft vermutet. Die Reform der wart, München 2015, S. 255. Arbeitslosenversicherung und das deutsche Arbeitsmarktwun- 12 Vgl. Jürgen Osterhammel, Hierarchien und Verknüpfungen. der, 19. 12. 2018, https://newsroom.iza.org/de/archive/research/ Aspekte einer globalen Sozialgeschichte, in: Akira Iriye/ders., what-hides-behind-the-german-labor-market-miracle. Geschichte der Welt 1750–1870, München 2016, S. 627–836.

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Narrativ eines epochalen Sozialabbaus, einer Les- Menschen, die nicht mehr arbeitslos sind. Es ist art, der Die Linke als Partei bekanntlich neben auch eine soziale Wohltat für das Land. der SED der DDR ihre Existenz verdankt. Folgt Dass es, zweitens, Armut in Deutschland gibt, man dem Politikwissenschaftler Christoph But- ist unbestritten. Dass es zugleich Armutsschicksale terwegge, bedeuten die Hartz-Reformen „eine gibt, die von Generation zu Generation in „Hartz- Verschlechterung in fast allen Bereichen des ge- Familien“ weitervererbt werden, ist ebenfalls un- sellschaftlichen Lebens“. 13 bestritten – und bitter. Aber das alles hat es auch Diese Verelendungstheorie, die auch von an- schon vor den Reformen gegeben: Familien, die aus deren vertreten wird, umfasst im Wesentlichen der „Stütze“, wie man die Sozialhilfe damals nann- die folgenden Deutungen: Die Hartz-Reformen te, nicht heraus kamen. Es stimmt auch, dass die Ar- seien erstens das Ende des Sozialstaates, wie wir mutsgefährdung in Deutschland gestiegen ist: 15 Laut ihn kannten, sie hätten zweitens ein neues Preka- dem fünften Armuts- und Reichtumsbericht der riat arbeitender Armer (working poor) geschaf- Bundesregierung von 2017 leben 15,7 Prozent der fen und am Ende, drittens, die Ungleichheit im Bevölkerung an der Armutsgrenze. Das sind knapp Land vergrößert. Diese fatale Ungerechtigkeit 13 Millionen Menschen. Zum Vergleich: 2002 galten der Hartz-Reformen habe, viertens, auch politi- hierzulande noch knapp 12,7 Prozent aller Bürger sche Risiken – „Neoliberalismus bringt Rechtsra- als arm. Betroffen von Armut in Deutschland sind dikalismus“. Nichts davon lässt sich belegen. vor allem kranke und alte Menschen sowie Arbeits- Erstens ist es verfehlt, Hartz IV als „sozialen lose. Besonders dramatisch ist die Armutsquote bei Kahlschlag“ zu brandmarken. Dass seit 2005 die Kindern, die mit 19,7 Prozent deutlich über dem Ausgaben für die Arbeitslosigkeit zurückgehen, Durchschnitt der Bevölkerung liegt. 16 Mit Hartz IV ist wahr. Doch dies ist der verbesserten Beschäf- hat das alles relativ wenig zu tun. tigung geschuldet, die weniger Transferzahlun- Die Zunahme des Armutsrisikos liegt in dem gen erforderlich machte. Arbeitslosigkeit kommt gestiegenen Anteil an Personen mit Migrationshin- die Allgemeinheit heute billiger zu stehen als vor tergrund; die Armutsquote bei Personen ohne Mi- den Reformen. Das bedeutet nicht, dass der So- grationshintergrund dagegen hat sich in den ver- zialstaat insgesamt geschrumpft wäre. Im Gegen- gangenen 25 Jahren wenig verändert. 17 Das soll teil: Insgesamt sind die Sozialausgaben stärker als nicht heißen, dass Armut unter Migranten weniger das Wachstum auf inzwischen knapp eine Billion schlimm wäre. Es soll nur zeigen, dass der Anstieg Euro angeschwollen. Das sind fast 50 Prozent der Armutsquote keinen Bezug zu den Agenda- mehr als Mitte der 2000er Jahre. 14 Von Kahlschlag 2010-Reformen hat, sondern vor allem daran liegt, keine Rede! dass Migranten, wenn sie hier ankommen, Defizite Man kann noch weiter gehen: Dass die Deut- in der Sprache haben oder soziale Netzwerke feh- schen sich diesen Ausbau des Sozialstaats leis- len, was eine Beschäftigungsaufnahme erschwert. ten konnten, ist Folge der Hartz-Reformen, die Auch der Anteil der Vollzeiterwerbsperso- für sprudelnde Steuereinnahmen und üppige So- nen ist seit 1984 nicht gesunken; er liegt konstant zialbeiträge mitverantwortlich sind. Wenn mehr bei 40 Prozent. Hätte die Prekarisierungstheorie Menschen Arbeit haben, zahlen sie mehr Einkom- Recht, müssten sich Verschlechterungen zeigen. mensteuern und insgesamt mehr Versicherungs- Die Zahl der Mini-Jobber oder Soloselbstständigen beiträge für die Risiken Krankheit, Pflegebedürf- ist nicht in die Höhe geschossen. 18 Zurück ging al- tigkeit und Alter. Sie konsumieren mehr, was die lerdings die Zahl derer, die nicht erwerbstätig sind: Binnennachfrage stärkt – und abermals über die Mehrwertsteuer mehr Geld in die öffentlichen Kassen spült. Dies (verbunden mit niedrigen Zin- 15 Armutsgefährdet sind Menschen, wenn sie 60 Prozent oder weniger des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Diese re- sen) brachte den deutschen Finanzminister in die lative Armut sollte man nicht mit tatsächlicher Armut verwechseln. komfortable Lage, den Staat auszubauen, ohne 16 Vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und neue Schulden machen zu müssen. Vollbeschäfti- Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2017. gung ist nicht nur ein Gewinn in sich und für die 17 Vgl. Markus M. Grabka/Jan Goebel, Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen, Deutsches Institut für 13 Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen. Auf dem Wirtschaftsforschung, DIW-Wochenbericht 21/2018, S. 450–460. Weg in eine andere Republik?, Weinheim–Basel 20183, S. 9. 18 Gert G. Wagner, Die Mär von der bröckelnden Mittelschicht, 14 Siehe www.deutschlandinzahlen.de, Stichwort: Sozialbudget. in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. 4. 2016, S. 13.

10 Hartz IV APuZ von 32 Prozent 1984 auf 20 Prozent 2013. Es ist men des Arbeitsmarktes, sondern der Schock der zu vermuten, dass Hartz IV daran einen beträchtli- Migration von 2015. Eine maßgebliche Rekrutie- chen Anteil hat – und genau das war auch gewollt. rungsbasis sind nicht die arbeitslosen Hartz-IV- Ohne Zumutungen wäre das nicht zu machen. Bezieher, sondern jene Zurückgebliebenen, die – zu Hartz IV bindet die Unterstützung durch den Recht oder zu Unrecht – wähnen, die Migranten Staat an die Bereitschaft zur Arbeitssuche und zögen als privilegierte „Einwanderer in den Sozial- Arbeitsaufnahme und an die Selbstverständlich- staat“ an ihnen vorbei. 21 Die AfD wurde bekannt- keit, sich bei der Arbeitsagentur beraten zu las- lich nicht als Anti-Hartz-IV-Partei gegründet, sen. Hartz IV besteht auch darauf, das Vermögen sondern als konservativ-liberale Anti-Euro-Pro- (jenseits von Freibeträgen des Schonvermögens) testbewegung, von wo sie sich immer weiter nach auf die Transfers anzurechnen: Das entspricht rechts bewegt hat. Der Populismus hat einen völki- dem Subsidiaritätsprinzip der Sozialen Markt- schen Verteilungskampf innerhalb des Sozialstaates wirtschaft. Einzig die hohe Transferentzugsra- eröffnet. AfD-Mann Björn Höcke plädiert deshalb te für Empfänger von Arbeitslosengeld II ist ein nicht für weniger, sondern für mehr Sozialstaat, schwerer Systemfehler, denn er vergrößert die dessen Wohltaten indessen den Fremden vorent- Schwelle zur Aufnahme von Arbeit, was kontra- halten werden sollten. Das ist in der Tat schlimm, produktiv ist. Dazu gibt es inzwischen aber gute hat aber mit den Hartz-Reformen nichts zu tun. Korrekturvorschläge. 19 Sollten sie sich durchset- zen, wäre ihr Effekt eine weitere Verbesserung FAZIT der Beschäftigungssituation in Deutschland. Völlig verfehlt ist es, drittens, zu behaupten, Die Agenda-2010-Reformen und mit ihnen die Hartz IV habe die Ungleichheit vergrößert. Das Hartz-Reformen sind ein Beleg für die Leistungs- Gegenteil ist wahr: Die Ungleichheit der Einkom- fähigkeit des deutschen Modells der Sozialen men hat zwar seit dem Ende des vorigen Jahrhun- Marktwirtschaft und nicht, wie die Linke behaup- derts zugenommen, wie überall in den entwickel- tet, Ausweis seiner Kapitulation. Die Reformen ten Ländern. Doch die Spreizung der Einkommen mögen die Linke gespalten haben – in SPD, Lin- ist 2005 zum Stillstand gekommen, ausgerechnet ke und sozialchauvinistische Teile der AfD –, aber in jenem Jahr, in dem die Gesetze in Kraft getreten sie haben die Gesellschaft geeint, weil sie – gewiss sind. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient, der über subjektiv nicht immer attraktive Anreize – die Ungleichheit misst, bei 0,29. 20 Zum Vergleich: in großem Stil Teilhabe wieder ermöglicht haben. Weltweit reichen die Werte von 0,24 in einigen ost- Teilhabe ist in einer Arbeitsgesellschaft nur über europäischen Ländern bis 0,60 in Südafrika. Vor Arbeit möglich. Die ökonomische Spaltung in der Umverteilung durch Steuern, Renten und an- Arbeitslose und Arbeitsplatzbesitzer wurde – zu- dere Transfers beträgt hierzulande der Gini-Koef- mindest von der Tendenz her – überwunden, ver- fizient 0,51, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten. bunden mit beträchtlichen Erfolgen: Die Zahl der Unser Wohlfahrtsstaat komprimiert die Ungleich- Arbeitslosen wurde mehr als halbiert. heit somit besonders stark. Das ist das Ziel der So- Das ist kein neoliberaler Fluch, sondern hu- zialen Marktwirtschaft. Was gibt es da zu meckern? maner Segen staatlicher Souveränität. Es ist der Viertens wird für den Erfolg des Rechtspopu- demokratische Staat, der, legitimiert durch das lismus alles und jedes verantwortlich gemacht. An souveräne Volk, die Rahmenbedingungen setzt erster Stelle stehen aber definitiv nicht die Refor- und, wenn Modernisierung nötig ist, verändert. 22 Hartz IV beziehungsweise die Agenda 2010 wa- ren solche Projekte der Modernisierung. Die Lin- 19 Vgl. etwa Maximilian Blömer/Clemens Fuest/Andreas Peichl, ke sollte aufhören, dagegen Front zu machen. Sie Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!) Der Ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems, in: Ifo Schnelldienst liegt falsch, die Bürger wissen das. Oder wie sonst 4/2019, S. 34–43. soll man die schlechten Umfragewerte für SPD 20 Ein Gini-Koeffizient von 0 bedeutet vollkommene Gleichheit, und Linke deuten? ein Gini-Koeffizient von 1 wäre vollkommene Ungleichheit. 21 Vgl. Klaus Dörre, Marsch durch die Betriebe? Rechtspopulis- RAINER HANK tische Orientierungen in der Arbeitswelt, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 4/2018, S. 124–135. ist Publizist und Kolumnist („Frankfurter Allgemeine 22 Vgl. Torben Iversen/David Soskice, Democracy and Prosperity. Sonntagszeitung“). Zuletzt erschien: „Lob der Reinventing Capitalism through a Turbulent Century, Princeton 2019. Macht“ (Klett-Cotta Stuttgart 2017).

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HARTZ IV – GESETZ, GRUNDSÄTZE, WIRKUNG, REFORMVORSCHLÄGE Ulrich Walwei

Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsu- der Kritik. 02 Die Rede war etwa von „Verschiebe- chende („Hartz IV“) 2005 zählt zu den großen So- bahnhöfen“, auf denen die Träger der Arbeitslo- zialreformen der deutschen Nachkriegsgeschich- senhilfe (Bundesagentur für Arbeit, BA) und die te. Der vierte Teil der Hartz-Reformen war schon Träger der Sozialhilfe (Kommunen) Leistungs- im Vorfeld seiner Verabschiedung höchst umstrit- empfängerinnen und Leistungsempfänger hin ten. Auch fast 15 Jahre später reißt die Kritik an und her manövrierten. Zudem wurden verwal- den Grundpfeilern des Gesetzeswerkes nicht ab. tungsaufwändige Doppelbetreuungen und un- Inzwischen stellt die Politik Hartz IV zunehmend terschiedliche Zugangsbedingungen zu den So- infrage. Die Vorschläge aus dem politischen Raum zialleistungen für Ineffizienz und hohe Kosten reichen von einer moderaten Weiterentwicklung verantwortlich gemacht. Weil die Leistungsge- des geltenden Systems über eine Abschaffung we- währung im gesplitteten System aus Sicht von Be- sentlicher Grundprinzipien bis hin zu Alterna- obachtern zu sehr im Vordergrund stand, wurden tiven wie die eines bedingungslosen Grundein- außerdem Zweifel an der Konsequenz der Wie- kommens. Vor diesem Hintergrund liefert der dereingliederungsbemühungen geäußert. nachfolgende Beitrag eine Bestandsaufnahme. Es Mit den Hartz-Reformen wurden Arbeits- werden sowohl Wirkungsbefunde zu den Leistun- losenhilfe und Sozialhilfe im Wesentlichen auf gen des bestehenden Systems dargelegt als auch dem Leistungsniveau der vormaligen Sozialhil- Möglichkeiten und Grenzen aktueller Reformvor- fe zusammengelegt und 2005 im Zweiten Buch schläge diskutiert. Sozialgesetzbuch (SGB II) neu geregelt. Leitge- danke ist, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am ENTSTEHUNGSZUSAMMENHANG, besten über eine Integration in das Erwerbsleben GESETZ UND PRINZIPIEN erreichen lässt. Das Gesetz zielt explizit auf eine Stärkung von Eigenverantwortung und Eigen- Bis Ende 2004 bestand in Deutschland ein drei- initiative im Sinne einer „aktivierenden Arbeits- gliedriges System der sozialen Sicherung bei Ar- marktpolitik“ und damit einem „Fördern und beitslosigkeit aus Arbeitslosengeld, Arbeitslosen- Fordern“ der Hilfebedürftigen. Das SGB II ko- hilfe und Sozialhilfe. Das Arbeitslosengeld war difiziert die Leistungsansprüche erwerbsfähiger und ist eine an einkommensabhängigen Beiträgen Personen ab 15 Jahren bis zum Erreichen der Re- orientierte Versicherungsleistung, die für einen gelaltersgrenze sowie ihrer im Haushalt lebenden befristeten Zeitraum gewährt wird. 01 Die frühere Eltern, unverheirateten Kinder und Partner, inso- Arbeitslosenhilfe konnte dagegen unbefristet ge- fern diese ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen währt werden, wenn der Anspruch auf Arbeits- Mitteln bestreiten können. Die Grundsicherung losengeld ausgelaufen war. Die am vorherigen für Arbeitsuchende umfasst zudem Leistungen Nettoentgelt ausgerichtete Lohnersatzrate der zur Beratung, zur Beendigung oder Verringerung Arbeitslosenhilfe fiel jedoch niedriger aus als die der Hilfebedürftigkeit. Seitdem gilt das Prinzip, des Arbeitslosengeldes und unterlag zudem einer dass die Leistungen aus einer Hand gewährt wer- eingeschränkten Bedürftigkeitsprüfung. Das drit- den. Entweder werden die Arbeitsmarktdienst- te Element war die Sozialhilfe, die von mittello- leistungen von gemeinsamen Einrichtungen aus sen Personen auch ohne vorhergehende Beschäf- Bundesagentur für Arbeit und Kommunen (Job- tigung bezogen werden konnte. center, veraltet ARGE) oder in alleiniger Verant- Die Koexistenz von Arbeitslosen- und Sozial- wortung von Kommunen (Optionskommunen) hilfe stand schon lange vor der Hartz-Reform in bereitgestellt.

12 Hartz IV APuZ

Die Leistungen der Grundsicherung richten maßnahmen zum Einsatz. Für erwerbsfähige und sich an Menschen in einer finanziellen Notsitua- leistungsberechtigte Personen ist im Grunde jede tion, die weder über ein ausreichendes Einkom- Arbeit zumutbar. Zudem unterliegen Hilfebe- men noch über ein abschöpfbares Vermögen ver- dürftige Mitwirkungspflichten, wie der aktiven fügen. Für die Höhe der Hartz-IV-Leistung ist es Arbeitsuche oder der Teilnahme an arbeitsmarkt- gleichgültig, ob Transferempfänger jemals gearbei- politischen Maßnahmen. Eine mangelnde Mit- tet haben oder über längere Zeiträume beruflich wirkung wird als Pflichtverletzung sanktioniert tätig waren. Lediglich das „Schonvermögen“ trägt und mit gestuften Leistungskürzungen versehen. früheren wirtschaftlichen Aktivitäten der Hilfebe- Ausnahmen von der Mitwirkungspflicht gelten dürftigen Rechnung. Es umfasst neben einer even- nur für den Fall, dass wichtige Gründe, wie etwa tuell selbst genutzten Wohnung zusätzlich noch Betreuungsaufgaben, dem entgegenstehen. altersabhängige Freibeträge sowie der Altersvor- sorge dienende Ersparnisse. Je nach Größe der Be- ENTWICKLUNG darfsgemeinschaft erhalten die Hilfebedürftigen BEI LEISTUNGSEMPFÄNGERN eine pauschalierte, am soziokulturellen Existenz- UND ARBEITSMARKTPOLITISCHEN minimum orientierte Regelleistung sowie Mit- MAẞNAHMEN tel für Kosten der Unterkunft. 2019 beträgt der Regelbedarf für eine erwachsene alleinstehende Die Entwicklung des Zahlengerüstes im SGB II Person 424 Euro, für einen erwachsenen Partner muss vor dem Hintergrund der seit 2005 stark ver- 382 Euro und für Kinder je nach Alter zwischen besserten Arbeitsmarktsituation gesehen werden. 245 Euro bis 339 Euro. Grundsätzlich werden die Die Arbeitslosigkeit hat sich von knapp fünf Mil- tatsächlichen Kosten der Unterkunft (inklusive lionen Mitte der vergangenen Dekade auf pro- der Aufwendungen für Heizung) anerkannt, so- gnostizierte 2,2 bis 2,3 Millionen 2019 mehr als weit die Aufwendungen angemessen sind. halbiert. 03 Die Erwerbstätigkeit erreichte zuletzt Auch erwerbstätige Personen können Leistun- einen Rekordwert nach dem anderen und wird gen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezie- 2019 mit mehr als 45,2 Millionen wohl den höchs- hen, wenn deren Erwerbseinkommen aus abhän- ten Wert seit der Wiedervereinigung erreichen. Die giger oder selbstständiger Tätigkeit nicht für den Zahl dürfte damit um rund sechs Millionen höher Lebensunterhalt ausreicht. Hier gilt das Prinzip, liegen als 2005. Stärkster Treiber des Erwerbstä- dass Erwerbseinkommen auf den Regelbedarf an- tigenanstiegs ist die sozialversicherungspflichti- gerechnet werden. Davon sind 100 Euro komplett ge Beschäftigung, die zuletzt noch stärker zulegen freigestellt. Darüber hinaus verbleiben weitere Be- konnte als die Erwerbstätigkeit insgesamt und seit träge prozentual gestaffelt nach Einkommenshö- 2005 von 26,4 auf geschätzte 33,5 Millionen 2019 he anrechnungsfrei und zwar bei Einkommen von sogar um mehr als sieben Millionen gestiegen ist. mehr als 100 Euro bis zu 1000 Euro 20 Prozent und Der Arbeitsmarkt war also – abgesehen von der von mehr als 1000 Euro bis zu 1200 Euro 10 Pro- Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 – über einen zent. Die obere Einkommensgrenze erhöht sich langen Zeitraum außerordentlich aufnahmefähig. von 1200 Euro auf 1500 Euro, wenn ein minder- Obwohl sich die Zahl der erwerbsfähigen Leis- jähriges Kind mit in der Bedarfsgemeinschaft lebt. tungsberechtigten nach dem anfänglichen Anstieg Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur in 2005 ebenfalls rückläufig entwickelte, zeigten Wiedereingliederung der Hilfebedürftigen ent- sich in der vergangenen Dekade etwas geringere sprechen weitgehend denen der Arbeitslosen- Fortschritte als bei der Entwicklung der Arbeits- versicherung. Zusätzlich kommen öffentlich losigkeit. Ihre Zahl sank von fünf Millionen 2008 geförderte Formen der Beschäftigung (etwa Ar- auf 4,1 Millionen 2018 (Abbildung 1). Die leicht beitsgelegenheiten), sozialintegrative Leistun- schwächere Entwicklung ist zum einen darauf zu- gen (zum Beispiel Schuldnerberatung) oder auch rückzuführen, dass es gerade im SGB II nach wie Leistungen für Bildung und Teilhabe als Förder- vor eine beträchtliche Zahl von Personen gibt, die dem „harten Kern“ der Arbeitslosen zuzurechnen

01 Vgl. Ulrich Walwei, Zur Ökonomie der Arbeitslosenversiche- rung, in: APuZ 27/2009, S. 27–33. 03 Vgl. Anja Bauer et al., IAB-Prognose 2019/20. Konjunktu- 02 Vgl. Anke Hassel/Christof Schiller, Der Fall Hartz IV. Wie es reller Gegenwind für den Arbeitsmarkt, Institut für Arbeitsmarkt- zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frank­furt/M. 2010. und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 18/2019.

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Abbildung 1: Arbeitslose und erwerbsfähige Leistungsbezieher (ELB) im SGB II 2008 bis 2018, Jahres- durchschnitte und Quoten in Prozent

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1) Arbeitslosenquote zum Jahresdurchschnitt bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen. 2) Die ELB-Quote errechnet sich als Anteil der erwerbsfähigen Leistungsbezieher an der Wohnbevölkerung bis zur Regelalters- grenze zum 31. Dezember eines Jahres. Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2018, eigene Darstellung.

Abbildung 2: Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsbezieher (ELB), 2009 bis 2018, jeweils Jahresdurch- schnitte

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Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2019, eigene Darstellung.

14 Hartz IV APuZ sind. Zum anderen ist die Zahl der nicht arbeits- Anteil der Langzeitleistungsbezieher (LZB) mit losen Leistungsberechtigten weiterhin hoch. Der etwa 70 Prozent zuletzt sehr hoch ausfiel (Ab- Personenkreis umfasst unter anderem Personen, bildung 4). LZB sind erwerbsfähige Leistungs- die dem Arbeitsmarkt, etwa aufgrund von arbeits- berechtigte, die in den vergangenen 24 Mona- marktpolitischen Maßnahmen oder Betreuungs- ten mindestens 21 Monate hilfebedürftig waren aufgaben, temporär nicht zur Verfügung stehen. 04 und sich am statistischen Stichtag im SGB II-Be- Parallel zu den erwerbsfähigen Leistungsberech- stand befanden. Ein wesentlicher Grund für die tigten verzeichneten auch die erwerbstätigen Leis- Verfestigung des Leistungsbezugs ist das häufi- tungsbezieher einen kontinuierlichen Rückgang ge Auftreten „multipler Risikomerkmale“. 06 Da- (Abbildung 2). Die Einführung des gesetzlichen mit ist gemeint, dass Leistungsempfänger nicht Mindestlohns 2015 hat sich nicht stark bemerkbar selten mehr als ein für den Wiedereintritt in den gemacht. Dies ist zum einen darauf zurückzufüh- Arbeitsmarkt hinderliches Merkmal aufweisen ren, dass Beschäftigte mit einem niedrigen Monats- (gesundheitliche Beeinträchtigung, fehlende Bil- einkommen von 450 Euro mit rund 40 Prozent ei- dung und Qualifikation oder auch höheres Le- nen großen Anteil der „Aufstocker“ ausmachen. bensalter). Wenngleich der Anteil der LZB über Zum anderen zählen zur Gruppe der Beschäftigten die Zeit leicht gestiegen ist, ging deren absolu- mit einem höheren anzurechnenden Einkommen te Zahl im Zuge der positiven Gesamtentwick- nur relativ wenige alleinstehende Personen, die al- lung zurück. lein durch eine Vollzeitbeschäftigung mit Mindest- Betrachtet man die Arbeitslosigkeit insge- lohn ein Existenzminimum hätten sichern können. samt, befindet sich der weit überwiegende Teil Bei größeren Bedarfsgemeinschaften ist selbst ein der Arbeitslosen im SGB II. So betrug 2018 der „Mindestlohn-Vollzeiteinkommen“ in der Regel Anteil der Arbeitslosen im SGB II rund zwei nicht existenzsichernd. 05 Drittel (Abbildung 5). Bei den Langzeitarbeits- Anders als die Zahl der erwerbsfähigen und er- losen fällt der Anteil der Leistungsempfänger im werbstätigen Leistungsberechtigten ist die Zahl der SGB II noch höher aus als in der Arbeitslosenver- Kinder unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften sicherung (SGB III). Knapp 90 Prozent der Lang- im vergangenen Jahrzehnt nicht kontinuierlich zu- zeitarbeitslosen beziehen Leistungen nach dem rückgegangen (Abbildung 3). Sie stieg zunächst ein- SGB II. Lediglich ältere Personen mit einem Ar- mal unmittelbar nach der Einführung von Hartz IV, beitslosengeldbezug von mehr als zwölf Monaten um dann wieder bis etwa 2012 zu sinken. Seitdem zählen im SGB III zu den Langzeitarbeitslosen. zeigt sich – anders als bei den Gesamtzahlen – ein An dieser Stelle ist auch der Blick auf die Dy- leicht aufwärtsgerichteter Trend. Während die Zahl namik der Langzeitarbeitslosigkeit zu richten. 07 der auf Hartz IV angewiesenen Kinder in Familien Die Wahrscheinlichkeit, als Langzeitarbeitsloser mit deutscher Staatsangehörigkeit in den vergange- im nächsten Monat eine Erwerbstätigkeit auf- nen Jahren beständig zurückgegangen ist, stieg im zunehmen, hatte zwar von 1,8 Prozent 2007 auf Zuge der wachsenden Zahl hier lebender ausländi- 2,0 Prozent in den Aufschwungsjahren 2010 und scher Familien die Zahl der Kinder in diesen Be- 2011 zugenommen. In den Folgejahren verrin- darfsgemeinschaften. So ist etwa bei Geflüchteten gerte sich aber die Abgangsrate und lag 2017 bei zu beachten, dass sie nach Abschluss ihres Asylver- 1,6 Prozent. Im Vergleich dazu hatten Kurzzeit- fahrens Leistungen der Jobcenter beziehen, etwa arbeitslose in 2017 eine mehr als sechsmal größere während der Teilnahme an Sprach- und Integra- Chance (10,2 Prozent), eine Beschäftigung zu fin- tionskursen oder wenn sie nach den Integrations- den. Zudem kann gezeigt werden, dass sich Lang- maßnahmen nicht gleich eine Arbeit finden. zeitarbeitslose in der Grundsicherung (SGB II) Generell zeigen sich im Leistungsbezug be- mit einer Abgangsrate von 1,4 Prozent noch ein- trächtliche Verfestigungstendenzen. Dies kommt mal deutlich schwerer tun als Langzeitarbeitslose unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass der

06 Vgl. Jonas Beste/Mark Trappmann, Erwerbsbedingte Abgän- 04 Vgl. Kerstin Bruckmeier et al., Grundsicherung für Arbeit- ge aus der Grundsicherung: Der Abbau von Hemmnissen macht’s suchende nach SGB II: Langer Leistungsbezug ist nicht gleich möglich, IAB-Kurzbericht 21/2016. Langzeitarbeitslosigkeit, IAB Kurzbericht 20/2015. 07 Vgl. Ulrich Walwei, Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit: 05 Vgl. Kerstin Bruckmeier/Jürgen Wiemers, Trotz Mindestlohn: Der Weg ist steinig und schwer, in: Wirtschaftsdienst 9/2017, viele bedürftig, in: Wirtschaftsdienst 7/2015, S. 444 ff. S. 621–628.

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Abbildung 3: Zahl der Unter-18-Jährigen in Bedarfsgemeinschaften, 2005 bis 2018

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Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2019, eigene Darstellung.

in der Arbeitslosenversicherung (3,3 Prozent). 08 Aufnahme einer Erwerbstätigkeit leicht zu, die Damit lässt sich konstatieren, dass insbesonde- berufliche Weiterbildung blieb in etwa stabil, und re in der Grundsicherung für Erwerbsfähige der die Zahl der Personen in Beschäftigung schaffen- harte Kern der Arbeitslosen zu verorten ist, zu- den Maßnahmen war rückläufig. Zurückzufüh- mal sich dort die Abgangschancen zuletzt ten- ren ist Letzteres in erster Linie auf den geringeren denziell nicht verbessert haben. Einsatz der „Ein-Euro-Jobs“. Vor allem für den Eine der wichtigen Fragen im SGB II betrifft „harten Kern“ der Arbeitslosen kamen somit we- die Intensität des Einsatzes arbeitsmarktpoli- niger Fördermaßnahmen zum Einsatz. tischer Maßnahmen. Unabhängig von den da- Blickt man auf die Bestände der erwerbsfähi- bei immer zu beachtenden potenziellen Einglie- gen Leistungsbezieher im SGB II, kann gezeigt derungseffekten der verschiedenen Maßnahmen werden, wie viele Personen davon zu einem be- prägen zahlenmäßige Entwicklungen die Wahr- stimmten Zeitpunkt mindestens eine Sanktion nehmung des Grundsicherungssystems seitens aufweisen. Während die Sanktionsquote in der der Hilfebedürftigen und der Gesellschaft. Die vergangenen Dekade noch unter drei Prozent Statistiken zeigen für 2012 bis 2018 in dieser Hin- lag, erreichte sie in den vergangenen Jahren sta- sicht ein differenziertes Bild. Die gestiegene ar- bil Werte von knapp über drei Prozent. Bei der beitsmarktorientierte Aktivierungsquote 09 belegt, Sanktionierung nach Altersgruppen zeigen sich dass mehr erwerbslose Personen im Rechtskreis merkliche Unterschiede. Die höchsten Sankti- SGB II in Maßnahmen der Arbeitsförderung onsquoten weisen Jüngere (unter 25 Jahre) auf, eingebunden wurden. Mit Blick auf die aufwän- die niedrigsten zeigen sich bei Älteren (über digeren Maßnahmen legte die Förderung zur 55 Jahre). Sanktionen werden am häufigsten aufgrund von Meldeversäumnissen ausgespro- 08 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeitsmarkt in Deutsch- chen. 2017 traf dies auf knapp 78 Prozent aller land 2017, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit ausgesprochenen Sanktionen zu. Der Anteil der 2/2017 (Sondernummer). Sanktionen mit geringeren Leistungskürzungen 09 Die arbeitsmarktorientierte Aktivierungsquote ergibt sich aus der Zahl der Maßnahmen der Arbeitsförderung in Relation ist seit 2007 kontinuierlich gestiegen, das heißt, zu den Maßnahmeteilnehmern plus Arbeitslose in dem betref- schwerwiegendere Sanktionen wie etwa Pflicht- fenden Rechtskreis. verletzungen wurden in relativer Betrachtung

16 Hartz IV APuZ

Abbildung 4: Bestand der Langzeitleistungsbezieher im SGB II und Anteil an allen erwerbsfähigen Leistungsbeziehern (ELB) in Prozent, 2009 bis 2019

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Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2019, eigene Darstellung.

Abbildung 5: Arbeitslose im SGB II und SGB III (in Tausend) und Anteil der Arbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen (in Prozent), 2005 bis 2018

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Ab 2007 auf Basis der integrierten Arbeitslosenstatistik mit Daten der zugelassenen kommunalen Träger (zkT), ab 2008 automatisiertes Schätzverfahren bei Datenausfällen der zkT. Die Untererfassung in 2005 und 2006 und im geringen Umfang in 2007 wurde mit einer einfachen Schätzung ausgeglichen, sodass Zeitreihenvergleiche möglich sind. Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2019, eigene Darstellung.

17 APuZ 44–45/2019 seltener ausgesprochen. Sonderauswertungen einem beträchtlichen fiskalischen Mehraufwand der Arbeitsmarktstatistik der BA illustrieren, einhergingen, sondern auch Arbeitsanreize sin- dass der Anteil der Sanktionen mit den höchs- ken ließen, weil die Grundsicherung als „implizi- ten Kürzungsbeträgen von 500 Euro und mehr ter Mindestlohn“ fungiert. 12 rund 1,5 Prozent am Bestand der erwerbsfähi- Im Gegensatz zu relativ hohen Anreizen für gen Leistungsbezieher (ELB) mit mindestens ei- Grundsicherungsempfänger, in den Arbeitsmarkt ner Sanktion ausmacht. Bezogen auf alle ELB einzutreten, sind die Anreize zur Ausweitung des entsprechen diese Fälle weitreichender Sanktio- Arbeitseinkommens, etwa durch eine längere Ar- nierung einer Quote von etwa 0,05 Prozent der beitszeit, im aktuellen System weit weniger gut Leistungsbezieher. ausgeprägt. 13 Hohe Transferentzugsraten bei zu- sätzlichem Einkommen jenseits der Freigrenze WIRKUNGSBEFUNDE von 100 Euro führen zu massiven Anrechnungen von 80 Prozent oder mehr. Dazu kommt ein sub- Die vielfältigen Erkenntnisse zu den Wirkun- optimales Zusammenspiel von Grundsicherung, gen der Hartz-IV-Reform im Allgemeinen und Wohn- und Kindergeld, was für einzelne Betrof- der verschiedenen Leistungen der Grundsiche- fene im Falle von Lohnsteigerungen sogar mit rung im Besonderen können hier aus Platzgrün- Nettoeinkommensverlusten einhergehen kann. den nicht im Detail dargelegt werden, daher Forschungsbefunde liefern zudem Aussagen folgt eine zusammenfassende Darstellung zen- zur Verteilungssituation vor und nach den Refor- traler Befunde. men. Sie zeigen, dass die Armutsrisikoquote nach Nach den vorliegenden wissenschaftlichen der Hartz-IV-Reform nicht substanziell gestie- Erkenntnissen hat Hartz IV einen spürbaren Bei- gen ist. 14 Allerdings ist in den untersten beiden trag zum Arbeitsmarktaufschwung seit 2005 ge- Einkommensquintilen die Aufstiegswahrschein- leistet. 10 Die positiven Wirkungen stehen im Zu- lichkeit gesunken. Demnach ist nicht zuletzt im sammenhang mit einer höheren Suchintensität, SGB II eine mangelnde Aufwärtsmobilität zu mehr Zugeständnissen bei der Arbeitsplatzsuche konstatieren. und einer gestiegenen Einstellungsbereitschaft Die Grundsicherungsreform hat im Ver- der Betriebe. Weitere Indizien liefern eine über gleich zum dreigliedrigen Vorgängersystem mehr die Zeit verbesserte Matching-Effizienz und die Transparenz über die Problemlagen am Arbeits- Verringerung der strukturellen Arbeitslosigkeit, markt geschaffen. Seitdem ist noch offenkundiger gemessen an der NAIRU, der „Non-Accelatering geworden, dass Hartz-IV-Empfänger nicht nur Inflation Rate of Unemployment“. 11 vordergründig ein Beschäftigungsproblem haben, Der Grundsicherung ist allgemein zugute zu sondern weitere Faktoren wie Gesundheit, Schul- halten, dass sie für Leistungsberechtigte ein so- den, Wohnungslosigkeit oder Betreuungspflich- ziokulturelles Existenzminimum in verlässlicher ten ihre Arbeitsmarktchancen einschränken. Weise bereitstellt. Die ständige Herausforderung Dienstleistungen aus einer Hand, unter Einbezie- bei dessen Festlegung besteht jedoch darin, den hung sozialintegrativer Leistungen, sind zwar die Zielkonflikt zwischen „Armutsfestigkeit“ einer- richtige Antwort auf derart komplexe Problemla- seits und „Wahrung des Lohnabstands“ ande- gen, dennoch ist es wissenschaftlichen Befunden rerseits in angemessener Weise zu adressieren. zufolge für die Träger der Grundsicherung wei- Normative Setzungen sind an dieser Stelle unver- terhin schwer, den hohen Ansprüchen gerecht zu meidlich. Analysen zur Anhebung der Regelsätze werden. So kann gezeigt werden, dass Aktivie- zeigen, dass deutliche Steigerungen nicht nur mit rung bessere Ergebnisse erzielt, wenn mit einem

10 Vgl. Brigitte Hochmuth et al., Hartz IV and the Decline of 12 Vgl. Michael Feil/Jürgen Wiemers, Höheres ALG II und German Unemployment: A Macroeconomic Evaluation, Nürn- Kindergrundsicherung: Teure Vorschläge mit erheblichen Neben- berg 2019. wirkungen, IAB-Kurzbericht 11/2008. 11 Vgl. Sabine Klinger/Thomas Rothe/Enzo Weber, Makro- 13 Vgl. Maximilian Blömer/Clemens Fuest/Andreas Peichl, Was ökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen: Die Vorteile sind die wichtigsten Ansatzpunkte für eine Reform von Hartz IV?, überwiegen, IAB-Kurzbericht 11/2013; Sachverständigenrat in: Wirtschaftsdienst 4/2019, S. 243–247. zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 14 Vgl. Jürgen Schupp/Gerhard Becker, Hartz IV weder Mehr Vertrauen in Marktprozesse. Jahresgutachten, Wies­ Rolltreppe aus der Armut noch Fahrstuhl in die Armut, in: baden 2014. Wirtschaftsdienst 4/2019, S. 247–251.

18 Hartz IV APuZ hinreichenden Maß an quantitativen und quali- nung von Lebensleistungen und damit einhergehen- tativen Ressourcen ein individuell ausgerichtetes der Gerechtigkeitsvorstellungen. Beide Varianten Fallmanagement realisiert werden kann. 15 sind jedoch systemfremd. Die Arbeitslosenversiche- Evaluationsstudien zeigen, dass die im SGB II rung ist nicht als Kapitalversicherung mit Anspar- eingesetzten Maßnahmen positive Wirkungen nach konten konzipiert, die Grundsicherung sichert in fi- sich ziehen. 16 Maßnahmeteilnehmer weisen in al- nanziellen Notfällen das Existenzminimum. ler Regel höhere Beschäftigungschancen auf als Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob aus vergleichbare Gruppen von Nicht-Teilnehmern. Gründen der sozialen Gleichbehandlung Besser- Betriebsnahe Maßnahmen weisen die stärksten stellungen für die Zielgruppe der langjährig Be- Eingliederungseffekte auf. Kaum oder wenig po- rufstätigen wirklich gut zu begründen sind. Denn sitiv wirken dagegen Arbeitsgelegenheiten („Ein- unter sonst gleichen Bedingungen dürfte der „bes- Euro-Jobs“). Insbesondere für Langzeitarbeitslose sergestellte“ Personenkreis verglichen mit denjeni- ergeben sich für viele der im SGB II eingesetzten gen, die bestenfalls kurze Beschäftigungsepisoden Maßnahmen positive Beschäftigungseffekte. Vie- aufweisen, durch seine mehrjährige Erwerbsarbeit le Forschungsergebnisse zu den Sanktionen im materiell deutlich besser abgesichert sein und durch SGB II belegen, dass Sanktionen die Abgangsrate seine Berufserfahrung zumeist auch eine bessere aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung beschleuni- Wettbewerbsfähigkeit am Arbeitsmarkt aufweisen. gen und – wenn auch in geringerem Umfang – den Schließlich spricht gegen eine materielle Besserstel- Rückzug aus dem Leistungsbezug verstärken. 17 lung dieser Zielgruppe auch das belegbare Risiko, Gleichzeitig können Sanktionen jedoch die Le- dadurch die Arbeitslosigkeit zu verlängern. 19 benssituation davon Betroffener beeinträchtigen. 18 Eine mögliche Alternative ist die Überprü- fung der aktuellen Regelungen zum „Schon- REFORMOPTIONEN vermögen“. Eine großzügigere Ausgestaltung im Sinne einer Ausweitung des Schonvermögens ist Die aktuell kursierenden Vorschläge zur Reform gerade mit Blick auf langjährig Berufstätige eine der Grundsicherung für Arbeitsuchende können interessante Gestaltungsoption, da negative Ar- den beiden Leistungssträngen des SGB II zugeord- beitsmarkteffekte an dieser Stelle weniger wahr- net werden: Zum einen beziehen sie sich auf Ver- scheinlich sind. Ähnlich könnte auch bei der änderungen bei den Hilfen zum Lebensunterhalt Schonung von selbst genutztem Wohneigentum und zum anderen auf Anpassungen bei der Akti- verfahren werden. Doch auch bei Umsetzung vierung und damit der Intensität des Förderns und solcher Vorschläge bedarf es einer sorgfältigen Forderns erwerbsfähiger Hilfebedürftiger. Güterabwägung, denn es stehen sich Anreize in Richtung einer individuellen Vorsorge, beispiels- Hilfen zum weise eines Wohneigentums, und das soziale Lebensunterhalt Gleichbehandlungsgebot unter Berücksichtigung Die Forderung nach einer besseren sozialen Absi- der individuellen Leistungsfähigkeit gegenüber. cherung langjährig Berufstätiger im Falle von Ar- Anrechnungsregelungen zum Hinzuver- beitslosigkeit, durch eine längere Bezugsdauer des dienst bei gleichzeitigem Bezug bedürftigkeits- Arbeitslosengelds oder durch befristete Zuschläge orientierter Leistungen wie der Grundsicherung auf die Regelleistung, bewegt sich an der Schnittstel- können zwei Ziele verfolgen, die potenziell im le von SGB III und SGB II. Sie zielt auf die Anerken- Konflikt stehen können. Zum einen können solche Regelungen durch einen anrechnungsfreien Frei- betrag auf einen leichten Zugang in den Arbeits- 15 Vgl. Holger Bär et al., Grundsicherung und Arbeitsmarkt in markt zielen, zum anderen auf starke Anreize zu Deutschland: Lebenslagen – Instrumente – Wirkungen, Bielefeld 2018. einer Ausweitung der Arbeitszeit und damit güns- 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Gerard J. van den Berg/Arne Uhlendorff/Joachim 19 Vgl. Johannes Schmieder/Till von Wachter/Stefan Bender, Wolf, Sanctions for Young Welfare Recipients, in: Nordic Econo- The Causal Effect of Unemployment Duration on Wages: Evi- mic Policy Review 1/2014, S. 177–208. dence from Unemployment Insurance Extensions, in: American 18 Vgl. Joachim Wolff, Sanktionen in der Grundsicherung – Economic Review 106/2016, S. 739–777; Johannes Schmieder/ was eine Reform anpacken müsste, 19. 6. 2019, www.iab- Simon Trenkle, Disincentive Effects of Unemployment Benefits forum.de/sanktionen-in-der-grundsicherung-was-eine-reform- and the Role of Caseworkers, Institut zur Zukunft der Arbeit, IZA anpacken-muesste. Discussion Paper 9868/2012.

19 APuZ 44–45/2019 tigeren Voraussetzungen für eine möglichst schnel- Ein weiterer Schlüssel zur Verbesserung der le Beendigung der Hilfebedürftigkeit. Technisch materiellen Lebenssituation von Grundsicherungs- geht es um die Frage nach der Höhe der „Transfer- empfängern und anderen Menschen im unteren entzugsrate“ für hinzuverdiente Einkommen. Einkommensbereich ist eine Ausweitung der sozi- Forschungsbefunde legen nahe, dass eine Sen- alen Grundversorgung und das Angebot öffentli- kung der Transferentzugsrate gegenüber dem cher Güter. Dies schließt bezahlbaren Wohnraum, Status Quo den Anreiz, mehr zu arbeiten, stär- ein gutes und kostengünstiges Angebot an öffent- ken und damit ein Hinauswachsen aus dem Leis- lichem Nahverkehr, niedrigschwellige und kosten- tungsbezug begünstigen würde. 20 Bei Reformen günstige Freizeit-, Bildungs- und Informationsan- stellt sich aber nicht nur die Frage nach verbes- gebote sowie Betreuungseinrichtungen für Kinder serten Anrechnungsregelungen. Vielmehr geht es und Pflegebedürftige sowie Vergünstigungen für um eine weitergehende Neuordnung des Niedri- kulturelle und sportliche Veranstaltungen ein. geinkommensbereichs. Hier sind viele Interakti- onen zwischen Grundsicherung, Wohngeld, Kin- Intensität des Forderns dergeld, Sozialversicherung und Steuerrecht zu und Förderns bedenken und weitere Anreize zu einer Auswei- Die Kritik an der Grundsicherung macht sich oft- tung der Beschäftigung zu generieren. Ein vom mals an der Intensität des Forderns fest. Dabei rei- IAB ins Spiel gebrachter Erwerbszuschuss, der chen die Vorschläge von moderaten Änderungen in Verbindung mit verbesserten Anrechnungsre- über eine sanktionsfreie Grundsicherung bis hin zu gelungen Wohn- und Kindergeld obsolet machen einem bedingungslosen Grundeinkommen. Wäh- würde, würde Kosten von zwei bis drei Milliar- rend sich eine sanktionsfreie Grundsicherung nur den Euro verursachen, läge aber weit unter den durch den Wegfall der bestehenden Sanktionsre- potenziellen Mindereinnahmen anderer fiskal- gelungen im SGB II vom Status Quo unterschei- politischer Maßnahmen. 21 Durch den Erwerbs- den würde, sehen Ansätze eines bedingungslosen zuschuss würden nicht nur die Arbeitsanreize Grundeinkommens zumeist ebenso den Verzicht gestärkt, sondern auch die Nettoeinkommens- auf eine Bedürftigkeitsprüfung und eine Integration position vieler Niedrigeinkommenshaushalte weiterer Elemente wohlfahrtsstaatlicher Sicherung verbessert. Einen kostenneutralen Vorschlag mit in die vorgesehene ebenfalls sanktionsfreie und al- einer ähnlichen Stoßrichtung legte zuletzt das len zustehende Mindestsicherung vor. Ifo-Institut vor. 22 Bei einer Abschaffung von Sanktionen wür- Die Gewährung von Hilfen zum Lebensun- de man sich vom Leitmotiv der Grundsicherungs- terhalt würde durch Vereinfachungen bei ihrer reform von 2005, nämlich der aktivierenden Ar- Administration profitieren. So könnte etwa die beitsmarktpolitik, verabschieden. Die Befürworter Komplexität des Grundsicherungssystems durch sanktionsfreier Sozialleistungen sehen durch ein stärkere Pauschalisierungen (Kosten für Warm- Laissez-faire im Sozialstaat mehr Chancen, durch wasser und Heizung oder im Bereich von Bil- Freiräume individuelle Kreativität anzuregen. Die dung und Teilhabe) reduziert werden. Pauscha- Protagonisten des Status Quo wollen dagegen lierte Leistungen dürften dabei aber nicht zu durch eine aktive Mitwirkung der Hilfebedürfti- gering angesetzt werden, weil ansonsten mögli- gen an der „fürsorglichen Belagerung“ weniger gut che Öffnungsklauseln bei besonderen Bedarfen situierter Personen festhalten und damit gängige zu häufig in Anspruch genommen werden müss- Arbeits- und Sozialnormen wahren. ten und damit die gewünschten Verwaltungsver- Bei Ansätzen, die auf sanktionsfreie Sozial- einfachungen nicht zu realisieren wären. leistungen abzielen, gingen vermutlich Arbeits- und Bildungsanreize verloren und dies gerade bei

20 Vgl. Kerstin Bruckmeier et al., Arbeit muss sich lohnen – Personen, die sich selbst nur schwer helfen kön- auch im unteren Einkommensbereich! Ein Reformvorschlag, nen. Bei Grundeinkommensansätzen, die ohne 21. 12. 2018, www.iab-forum.de/arbeit-muss-sich-lohnen-auch- Sanktionen auskommen wollen und deutlich hö- im-unteren-einkommensbereich-ein-reformvorschlag. here Leistungen vorsehen, ist mit weiteren nega- 21 Vgl. ebd. tiven Begleiterscheinungen zu rechnen. Sie impli- 22 Vgl. Maximilian Blömer/Clemens Fuest/Andreas Peichl, Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!) Der Ifo-Vorschlag zur Reform zieren ein sehr weitgehendes Staatsverständnis als des Grundsicherungssystems, in: Ifo Schnelldienst 4/2019, „Kümmerer in allen Lebenslagen“, begünstigen S. 34–43. Trittbrettfahrerverhalten und führen damit zu

20 Hartz IV APuZ einer Übernutzung des Sozialsystems mit insge- Teilhabechancengesetz auf diese „Maßnahmen- samt erheblichen fiskalischen Zusatzaufwänden. lücke“ reagiert. Seit Anfang 2019 können nach Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die be- § 16i SGB II Personen, die in den vergangenen stehenden Sanktionsregeln und damit auch das sieben Jahren mindestens sechs Jahre Leistun- Fordern im Status Quo gut justiert wären. Sank- gen nach dem SGB II bezogen haben, durch ei- tionen müssen spürbar und sozial sichtbar sein, nen bis zu fünfjährigen Lohnkostenzuschuss ge- sollten aber nicht zu scharf ausfallen. Weitrei- fördert werden. Hervorzuheben ist, dass durch chende Sanktionen, wie etwa die nach mehreren die angestrebte Ausgestaltung im § 16i SGB II Pflichtverletzungen drohenden „Totalsanktio- den Erkenntnissen der Forschung zur Teilhabe- nen“, beeinträchtigen nicht nur in massiver Wei- förderung Rechnung getragen wurde. So zeigen se die materiellen Lebensbedingungen der Sank- Forschungsergebnisse, dass reguläre Arbeitsver- tionierten, sondern gefährden dadurch auch die hältnisse mit einem angemessenen Lohn, in Voll- Grundlage einer auf Wiedereingliederung zielen- zeit, mit einer längeren Vertragsdauer das Teilha- den Mitwirkung der Hilfebedürftigen. beempfinden der Geförderten stärken können. 24 Neben weniger Sanktionen wird häufig gefor- dert, Fördermaßnahmen für Grundsicherungs- FAZIT empfänger drastisch auszuweiten. Solange damit verbesserte Eingliederungswirkungen auf indi- Der Beitrag hat gezeigt, dass es in der Grundsi- vidueller Ebene zu erzielen sind, kann dies aus cherung unabweisbare Entwicklungsbedarfe gibt. Sicht der Arbeitsmarktforschung nur befürwor- Diese begründen aber nach den Wirkungsbefun- tet werden. Jedoch wird in diesem Zusammen- den der Arbeitsmarktforschung keinen Neustart. hang oftmals einer starken und vergleichswei- Das SGB II steht vor der immer wieder herausfor- se undifferenzierten Ausweitung der öffentlich dernden Aufgabe, einerseits die sozialen Lebens- geförderten Beschäftigung das Wort geredet. bedingungen für Menschen in finanzieller Notsi- Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Einfüh- tuation würdevoll auszugestalten und andererseits rung eines „solidarischen Grundeinkommens“. 23 wirksame Arbeitsanreize zu schaffen. Ein großzü- Die Befürworter streben mit einer solchen Stra- gigeres Schonvermögen, günstigere Anrechnungs- tegie einen substanziellen Ersatz für die aus ih- regelungen für zusätzliche Erwerbseinkommen, rer Sicht fehlende Beschäftigung an. Sie beachten ein stärkerer Einsatz von Transfers an Erwerbstä- aber dabei zu wenig, dass ein nicht zielgerichte- tige, eine erleichterte Administration, eine besse- ter und massiver Einsatz solcher Instrumente we- re soziale Grundversorgung, die Abschaffung von nig zielführend ist. So könnten Personen fälschli- „Totalsanktionen“ und der kluge Aufbau eines so- cherweise zugewiesen werden, die auch ohne eine zialen Arbeitsmarktes würden dazu beitragen, die solche Maßnahme beschäftigt werden könnten. in der Summe positiven Wirkungen der Grundsi- Hierdurch könnte es nicht nur zu unerwünsch- cherung am Arbeitsmarkt aufrechtzuerhalten und ten Einsperreffekten kommen, sondern zudem einen wirksamen Beitrag zum sozialen Zusam- zu Verdrängungseffekten zulasten nicht subven- menhalt der Gesellschaft zu leisten. Mindestens tionierter Beschäftigung. ebenso sehr wird es aber in der absehbaren Zu- Zuletzt zeigte sich immer deutlicher, dass kunft darauf ankommen, die Anstrengungen zur das Maßnahmenspektrum im SGB II nicht der Prävention zu intensivieren und damit die Menge Hetero­genität der Leistungsbezieher Rechnung an Personen mit geringer Beschäftigungsfähigkeit trägt. Es fehlten Maßnahmen zur Stärkung der zu begrenzen. Ansatzpunkte hierfür sind Bildung, sozialen Teilhabe, die sich insbesondere an Per- Aus- und Weiterbildung auf der einen Seite sowie sonen mit den allergeringsten Integrationschan- gesundheitliche Vorsorge auf der anderen Seite. cen richten. Die Bundesregierung hat mit dem

23 Vgl. Joachim Wolff, Das Solidarische Grundeinkommen ULRICH WALWEI wäre der falsche Weg, 13. 6. 2019, www.iab-forum.de/das- ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler, solidarische-grundeinkommen-waere-der-falsche-weg. Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und 24 Vgl. Kerstin Bruckmeier et al., Leistungsempfänger und Bezugsverläufe in der Grundsicherung sind sehr heterogen, Berufsforschung in Nürnberg und Honorarprofessor 23.. 4 2019, www.iab-forum.de/leistungsempfaenger-und- an der Universität Regensburg. bezugsverlaeufe-in-der-grundsicherung-sind-sehr-heterogen. [email protected]

21 APuZ 44–45/2019

HARTZ IV REFORMIEREN? ZWEI PERSPEKTIVEN

vorherigen Beschäftigung gebunden ist, ist sein Fördern und Fordern niedriges Niveau vor allem für ehemals besser- verdienende Langzeitarbeitslose vergleichsweise als erfolgreiches Leitprinzip unattraktiv. Dies war kein Zufall, da man mit die- ser Reform insbesondere diese Gruppe durch ihre Bodo Aretz · Jan Fries · stärkere „Aktivierung“ aus der Beschäftigungslo- Christoph M. Schmidt sigkeit holen wollte. 01

NEUES Zu Beginn des laufenden Jahrhunderts wurden ARBEITSMARKTGLEICHGEWICHT als Reaktion auf eine verfestigte Massenarbeits- losigkeit Reformen der Ordnung des deutschen Dies ist auch durchaus eindrucksvoll gelungen: Arbeitsmarkts umgesetzt. Sie folgten einem be- 2005 waren rund 26 Millionen Personen sozial- währten, aber hierbei neu akzentuierten sozial- versicherungspflichtig beschäftigt. Demgegen­ staatlichen Leitprinzip, der Einheit von „Fördern über standen rund fünf Millionen registrierte und Fordern“. Dieses Prinzip lässt sich gedank- Arbeitslose, davon nahezu zwei Millionen Lang- lich durch einen Dreiklang von Argumenten zeitarbeitslose. Von diesem für den sozialen Zu- ­begründen: sammenhalt der Gesellschaft unverdaulichen Erstens können Phasen der Beschäftigungs- Ausgangszustand kannte die Entwicklung in den losigkeit grundsätzlich überwunden werden; Folgejahren nur eine Richtung: Die Beschäfti- da sie in einem marktwirtschaftlich organisier- gung ist kontinuierlich gestiegen und die Arbeits- ten Arbeitsmarkt nicht zu vermeiden sind, muss losigkeit drastisch zurückgegangen. Im Laufe des der Staat im Sinne des Förderns eine Arbeitsver- Jahrzehnts nach der Umsetzung wurden die An- mittlung bereitstellen, die nach höchstmöglicher zahl der Arbeitslosen und die der Langzeitar- Professionalität strebt. Zweitens kann sich Be- beitslosen jeweils mehr als halbiert, auf 2,3 Mil- schäftigungslosigkeit über die Zeit verfestigen; lionen registrierte Arbeitslose beziehungsweise diese negative Pfadabhängigkeit zu vermeiden, ist 800 000 Langzeitarbeitslose im Jahr 2018. Im sel- wichtiger als die Abfederung der direkten wirt- ben Zeitraum stieg die sozialversicherungspflich- schaftlichen Konsequenzen der Beschäftigungs- tige Beschäftigung auf 33 Millionen Personen. 02 losigkeit, solange die existenzielle Absicherung Typischerweise wechselten Arbeitslose zu- der Betroffenen befriedigend gewährleistet ist. nächst in eine atypische Beschäftigung. 03 Zudem Drittens erfordert die Befreiung aus der Beschäf- stiegen die Anzahl der geringfügig Beschäftig- tigungslosigkeit eigene Anstrengungen; primäres ten, insbesondere im Nebenjob, sowie der Zeit- arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Instrument arbeitnehmer stark an, getragen unter anderem sollte daher im Sinne des Forderns die Hilfe zur von der Reform der Arbeitsmarktordnung. 04 Der Selbsthilfe (die „Aktivierung“) sein, von den Be- Beschäftigungsaufwuchs des vergangenen Jahr- troffenen kann ein gewisses Maß an Eigenverant- zehnts beruhte dennoch keineswegs vor allem auf wortung und Flexibilität erwartet werden. prekärer Beschäftigung, blickt man auf den mas- Der Schlussstein der 2003 bis 2005 in diesem siven Anstieg der Normalarbeitsverhältnisse. Be- Geist umgesetzten Hartz-Reformen war – als sonders bemerkenswert ist der Anstieg der Er- Reformpaket „Hartz IV“ – die ab 2005 gelten- werbsbeteiligung von Frauen und Älteren. de Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslo- Nun ist nach der Reform natürlich nicht we- sen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Da gen der Reform. Der vielfach als „deutsches Be- dieses „ALG II“ nicht an das Einkommen in der schäftigungswunder“ gefeierte – aus Sicht der den

22 Hartz IV APuZ

Hartz-Reformen vorangegangenen Jahrzehn- Arbeitsmarktgleichgewicht ergebende „struktu- te auch schier unglaubliche – Abbau der hohen relle“ Arbeitslosigkeit gefallen. Die Reform hat Sockel­arbeitslosigkeit wurde zweifellos von einer also einen spürbaren Beitrag zum „deutschen Reihe von Faktoren getragen, etwa einer lang an- Arbeitsmarktwunder“ geleistet. Dabei waren haltenden Phase der Lohnmoderation. Eine ein- zwar solche Langzeitarbeitslosen eher Verlie- deutige Zuordnung dieser grandiosen Erfolgsge- rer der Reform, die zuvor einer gut bezahlten schichte zu den Hartz-Reformen wäre genauso Beschäftigung nachgingen. 09 Aus gesamtgesell- naiv, wie es töricht wäre, ihren Beitrag völlig zu schaftlicher Sicht war die Reform jedoch auf- verleugnen. Um hier eine überzeugende Antwort grund ihres Beitrags zum Abbau der Arbeitslo- zu geben, ist empirische Forschung gefordert. 05 sigkeit sehr erfolgreich. Wir wissen inzwischen relativ viel über die Wirksamkeit einzelner Elemente des Pakets RÜCKSCHRITTE VERMEIDEN der Hartz-Reformen, etwa über die Wirksam- keit der Neuausrichtung der Arbeitsvermittlung Wenngleich die zu beobachtende Halbierung oder einzelne Maßnahmen der Arbeitsmarktpo- der Arbeitslosigkeit und der massive Beschäf- litik. 06 Dabei wurden insbesondere Weiterbil- tigungsaufwuchs somit nur zu einem gewissen dungsmaßnahmen für Arbeitslose, Eingliede- Teil – vermutlich etwa einem Viertel – von den rungszuschüsse und Überbrückungsgeld sowie Hartz-Reformen getragen wurden, ist der aktu- die Deregulierung von Zeitarbeit und die Ein- elle Diskurs über deren „Korrektur“ mehr als führung von Mini-Jobs positiv bewertet. 07 Auf leichtfertig. Denn dabei wird offenbar vergessen, Basis verschiedenster empirischer Ansätze zeigt wie sehr man vorher händeringend nach Wegen sich, dass anscheinend die Übergänge aus der gesucht hatte, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Arbeitslosigkeit in Beschäftigung durch die Die auf dem sinnvollen Prinzip des Förderns Hartz-Reformen beflügelt wurden, was vor al- und Forderns aufgebaute Arbeitsmarktordnung lem den Hartz-I- und Hartz-III-Reformen, aber durchaus auch der Hartz-IV-Reform zuge- 06 Vgl. Hugh Mosley et al., Evaluation der Maßnahmen zu Um- rechnet wird. 08 Studien zufolge ist aufgrund der setzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1a: Neu- Hartz-IV-Reform die sich in einem langfristigen ausrichtung der Vermittlungsprozesse, Berlin–Bonn 2005; Hilmar Schneider et al., Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1b: Förderung 01 Vgl. Christoph M. Schmidt, Geht doch: Zur Evaluation beruflicher Weiterbildung und Transferleistungen, Bonn–Berlin großer Reformpakete am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik, in: 2006; Frank Schiemann et al., Evaluation der Maßnahmen Claudia M. Buch/Regina T. Riphahn (Hrsg.), Evaluierung von zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul Finanzmarktreformen – Lehren aus den Politikfeldern Arbeits- 1c: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Berlin u. a. 2006; Frank markt, Gesundheit und Familie, Halle 2019, S. 17–33. Wießner et al., Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der 02 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1e: Existenzgründun- wirtschaftlichen Entwicklung, Vor wichtigen wirtschaftspoliti- gen, Nürnberg u. a. 2006; Thomas Zwick et al., Evaluation der schen Weichenstellungen, Jahresgutachten 2018/19, Wiesbaden Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommis- 2018. sion. Modul 1d: Eingliederungszuschüsse und Entgeltsicherung, 03 Vgl. Thomas Rothe/Klaus Wälde, Where Did All the Unem- Nürnberg u. a. 2006. ployed Go? Non-standard Work in Germany after the Hartz 07 Vgl. Lena Jacobi/Jochen Kluve, Before and After the Hartz Reforms, Nürnberg 2017. Reforms: The Performance of Active Labour Market Policy in 04 Vgl. Sabine Klinger/Enzo Weber, Zweitbeschäftigungen in Germany, Nürnberg 2007. Deutschland: Immer mehr Menschen haben einen Nebenjob, 08 Vgl. Michael Fertig, Evaluation der Umsetzung der Vor- Nürnberg 2017. schläge der Hartz-Kommission. Modul 1f: Verbesserung der 05 Vgl. Michael C. Burda, The German Labor Market Miracle, beschäftigungspolitischen Rahmenbedingungen und Makrowir- 2003–2015: An Assessment, Berlin 2016; ders./Jennifer Hunt, kungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, Essen 2006; René Fahr/ What Explains the German Labor Market Miracle in the Great Uwe Sunde, Did the Hartz Reforms Speed-Up the Matching Recession? The Evaluation of Inflation Dynamics and the Great Process? A Macro-Evaluation Using Empirical Matching Recession, Washington, D. C. 2011; ders./Stefanie Seele, Das Functions, Hoboken 2009; Matthias S. Hertweck/Oliver Sigrist, deutsche Arbeitsmarktwunder: Eine Bilanz, Berlin 2017; Christian The Aggregate Effects of the Hartz Reforms in Germany, Berlin Dustmann et al., From Sick Man of Europe to Economic Super- 2013; Andrey Launov/Klaus Wälde, The Employment Effect of star: Germany’s Resurgent Economy, Nashville 2013; Alexander Reforming a Public Employment Agency, Amsterdam 2016. Herzog-Stein/Fabian Lindner/Simon Sturn, The German Employ- 09 Vgl. Michael U. Krause/Harald Uhlig, Transitions in the ment Miracle in the Great Recession: The Significance and Ins- German Labor Market: Structure and Crisis, Amsterdam 2012; titutional Foundations of Temporary Working-Time Reductions, Tom Krebs/Martin Scheffel, Macroeconomic Evaluation of Labor Oxford 2017. Market Reform in Germany, Heidelberg 2017.

23 APuZ 44–45/2019 gilt es zu bewahren, um das mittlerweile erreich- te niedrige strukturelle Niveau der Arbeitslo- Unterstützen und vorbeugen: sigkeit zu erhalten. Das kann nicht dadurch gelingen, dass für einzelne Gruppen von Arbeit- Reformansätze für suchenden auf das Fordern weitgehend verzich- ein besseres Sozialsystem tet wird. Dies käme zudem angesichts des demografi- schen Wandels und der umfassenden und rapide Marcel Fratzscher verlaufenden Digitalisierung des Arbeitsmarkts völlig zur Unzeit: In der digitalisierten Arbeits- welt der Zukunft wird es insbesondere für die Äl- Schon der Begriff „Hartz IV“ ist für viele ein Reiz- teren darauf ankommen, bei einem Verlust des wort – für die Betroffenen, weil die Inanspruch- bisherigen Arbeitsplatzes nicht den Anschluss zu nahme dieser Leistung mit einem Stigma verbun- verlieren, sondern rasch eine neue Beschäftigung den ist; für die verantwortlichen PolitikerInnen, aufzunehmen. Wenn die Arbeitsmarktordnung weil sie sich seit der Einführung der Grundsiche- sinnvoll weiter reformiert werden soll, dann muss rung für Arbeitssuchende 2005 dem Vorwurf aus- es um zukunftsgerichtete Aspekte gehen wie die gesetzt sehen, sie hätten mit Hartz IV eine Ar- Überprüfung der Grundsicherung in einer Le- mutsfalle geschaffen. Die Kritik ist bis heute nicht benszyklusperspektive, die Weiterentwicklung verstummt; Rufe nach Reformen sind in jüngster der aktivierenden Instrumente oder die Verzah- Zeit wieder lauter geworden. nung von Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik Etwas wird in der Debatte nur allzu leicht und Einwanderungspolitik. vergessen: Anfang der 2000er Jahre, als die Hartz- Reformen verabschiedet wurden, galt Deutsch- land als der „kranke Mann Europas“. Die Ar- beitslosenquote betrug zu jener Zeit mehr als zehn Prozent. Die Ausgangssituation ist heu- te eine andere. Deutschland hat einen über vie- le Jahre andauernden Wirtschaftsboom erlebt, in dem sich die Arbeitslosenquote im Vergleich zu damals halbiert hat. Vor diesem Hintergrund ist es Zeit, darüber nachdenken, ob das System der Grundsicherung für Arbeitssuchende noch zeit- BODO ARETZ gemäß ist. ist promovierter Volkswirt und war bis Anfang 2019 Referent im wissenschaftlichen Stab des NUR JEDER VIERTE MIT HARTZ IV Sachverständigenrates zur Begutachtung der IST ARBEITSLOS gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Seit 2012 liegt die Zahl der Hartz-IV-Empfänger­ JAN FRIES Innen relativ konstant bei knapp sechs Millio- ist promovierter Volkswirt und Referent für nen. Die arbeitslosen Leistungsberechtigten Arbeitsmarktökonomik im wissenschaftlichen Stab haben daran allerdings nur einen geringen An- des Sachverständigenrates zur Begutachtung der teil. Ihre Zahl ist in den vergangenen zehn Jah- gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. ren deutlich von gut 2,5 auf gut 1,5 Millionen [email protected] gesunken. Einen Zuwachs erlebt dagegen seit einigen Jahren die Gruppe der nicht erwerbs- CHRISTOPH M. SCHMIDT fähigen Leistungsberechtigten, zu der zu fast ist Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirt- hundert Prozent Kinder unter 14 Jahren zählen. schaftsforschung, Professor an der Ruhr-Universität Aber auch die Gruppe der Erwerbsfähigen, die Bochum und Vorsitzender des Sachverständigen- nicht arbeitslos sind, wächst. Sie bildet mit rund rates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen 2,6 Millionen Leistungsberechtigten die mit Ab- Entwicklung. stand größte Gruppe. Darunter fallen zum Bei- [email protected] spiel Alleinerziehende, die wegen unzureichen-

24 Hartz IV APuZ der Betreuungsangebote für die Kinder nicht nur mit der Grundsicherung. Notwendig sind arbeiten können, vor allem aber rund 1,1 Mil- aber mehr Anreize, sich in den Arbeitsmarkt lionen sogenannte AufstockerInnen, die auf einzubringen. Hartz IV angewiesen sind, weil ihr Einkommen Weitere wesentliche Kritikpunkte an Hartz IV aus Erwerbstätigkeit nicht ausreicht. 01 sind die Sanktionen und die Ausstattung der Wer also über Hartz IV redet, muss auch Jobcenter. Selbst Peter Hartz, der das Konzept über die hohe Zahl prekärer Beschäftigungsver- im Auftrag der SPD-geführten Bundesregie- hältnisse in Deutschland sprechen. Die Zahl der rung schrieb, war mit der Umsetzung nicht zu- AufstockerInnen ist trotz der Einführung des frieden. „Herausgekommen ist ein System, mit Mindestlohns 2015 gleichgeblieben. Wie kann es dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft sein, dass in einem Land, das sich seit 2009 in ei- werden“, konstatierte er schon 2007. 05 Unklar nem Aufschwung befindet, fast jeder vierte ab- ist, ob die gegenwärtige Sanktionspraxis über- hängig Beschäftigte einen Niedriglohn verdient haupt verfassungskonform ist. Es wird zwar und die Mehrheit der Geringverdienenden über vergleichsweise selten sanktioniert, aber die die Zeit auch bei niedrigen Löhnen bleibt, es Drohung steht permanent im Raum und führt also offensichtlich zu wenig Aufstiegschancen­ häufig zu kontraproduktiven Reaktionen. Die gibt? 02 Jobcenter müssen personell und finanziell ge- stärkt werden, um Qualifizierungsmaßnahmen REFORMANSÄTZE gezielter anbieten zu können. So könnte sich der Fokus vom Sanktionieren auf das Motivie- So heterogen die Gruppe der Hartz-IV- ren verlagern. Empfänger­Innen ist, so vielseitig und differen- ziert muss auch eine Reform der Grundsicherung VERBESSERUNGEN sein. In der aktuellen Diskussion dreht sich viel DES ARBEITSMARKTES um Regelsätze und Sanktionen, also Ausgestal- tungsdetails. So umfasst das von der SPD vorge- Doch die Wurzeln der Probleme liegen nicht schlagene Konzept durchaus sinnvolle Ansätze in den Regelsätzen, den Sanktionen oder der wie eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosen- schlechten Ausstattung der Jobcenter, sondern im geldes I, zum Beispiel für ältere Menschen oder Arbeitsmarkt selbst. Jedwede Reform der Grund- für Erwerbslose, die sich in Fortbildung und sicherung wird kontraproduktiv sein, wenn sie Qualifizierung befinden. 03 Der Grünen-Vorsit- Arbeit weniger lohnenswert macht. Eine notwen- zende Robert Habeck will Hartz IV überwinden, dige Verbesserung der Hartz-IV-Leistungen muss indem er ein Garantiesystem einführt, mit höhe- zwingend mit einer Verbesserung der Bedingun- ren Hartz-IV-Sätzen und ohne Sanktionen. 04 gen des Arbeitsmarkts und mit höheren Löhnen Neben den Regelsätzen sollten aber vor al- einhergehen. So sollte der Mindestlohn moderat lem die Zuverdienstgrenzen angehoben und die angehoben werden und dessen strikte Einhaltung unterschiedlichen sozialen Leistungen besser stärker kontrolliert werden. Noch immer erhal- aufeinander abgestimmt werden. Derzeit haben ten fast zwei Millionen ArbeitnehmerInnen, die Hartz-IV-EmpfängerInnen, die hinzuarbeiten, Anspruch auf den Mindestlohn haben, eine ge- in manchen Fällen nicht mehr in der Tasche als ringere Bezahlung. 06 Eine drastische Erhöhung des Mindestlohns hingegen, wie sie die SPD for- 01 Vgl. Karl Brenke, Hartz IV: Starker Rückgang der Arbeits­ dert, ist gerade in jetzigen Zeiten, in denen sich losen, aber nicht der Hilfebedürftigen, Deutsches Institut ein Abschwung ankündigt, gefährlich. Sinnvol- für Wirtschaftsforschung, DIW Wochenbericht 34/2018 , ler wäre eine stärkere Tarifbindung, insbesondere S. 717–729. 02 Vgl. Markus M. Grabka/Carsten Schröder, Der Niedrig- im Niedriglohnbereich, die dafür sorgen würde, lohnsektor in Deutschland ist größer als bisher angenommen, DIW Wochenbericht 14/2019, S. 249–257. 03 Vgl. SPD, Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit, 7. 2. 2019, 05 Peter Hartz, Macht und Ohnmacht. Ein Gespräch mit Inge www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Flugblaetter/2019_ Kloepfer, Hamburg 2007, S. 224. Q1/20190207_Sozialstaatsreform.pdf. 06 Vgl. Alexandra Fedorets/Markus Grabka/Carsten Schröder, 04 Vgl. Katharina Schuler, Robert Habeck will Hartz IV erset- Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsbe- zen, 14. 11. 2018, www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/die- rechtigte Beschäftigte nicht, DIW Wochenbericht 28/2019, gruenen-robert-habeck-abschaffung-hartz-iv. S. 483–491.

25 APuZ 44–45/2019 dass die Interessen der Geringverdienenden bes- Entlang dieser Reformansätze – Hartz-IV- ser, aber maßvoll durchgesetzt werden. Ausgestaltung, Ausstattung der Jobcenter, Ar- Doch wird es trotz aller Maßnahmen immer beitsmarktpolitik, sozialer Arbeitsmarkt und noch einen Teil an Hilfebedürftigen geben, die Prävention – könnte die langfristige Integrati- auf dem regulären Arbeitsmarkt trotz Beschäfti- on von Menschen in den Arbeitsmarkt gefördert gungsboom keinen Job finden werden. Der aller- werden, Arbeit wieder lohnenswert werden und größte Teil der Menschen, die Hartz IV beziehen, Abrutschen in Hartz IV verhindert werden. Das tut dies ja nicht aus Faulheit, sondern weil sie aus Prinzip der Unterstützung, nicht mehr das Prin- gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können zip der Bestrafung, muss in den Mittelpunkt der oder ihnen die erforderlichen Qualifikationen Sozialsysteme rücken. fehlen. Nötig wäre neben dem regulären Arbeits- markt ein sozialer Arbeitsmarkt, wie er in Berlin mit dem solidarischen Grundeinkommen zurzeit getestet wird. 07 Das Berliner Konzept sieht vor, dass alle Langzeitarbeitslosen ein Anrecht auf einen Arbeitsplatz haben, zumindest zum Min- destlohn und in Vollzeit, um letztlich wieder den Weg in den sogenannten regulären Arbeitsmarkt MARCEL FRATZSCHER zu finden. ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirt­schafts­ forschung (DIW Berlin) und Professor für Makroöko- PRÄVENTION DURCH nomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. VERBESSERTES BILDUNGSSYSTEM [email protected]

Ein kluges Sozialsystem darf nicht nur fordern, dass Menschen sich durch ihre Arbeit einbrin- gen, es muss ihnen auch die Chancen dazu ge- ben. Der Schlüssel dazu wird in der Qualifikati- on liegen. Unzureichende Qualifikation ist einer der häufigsten Gründe, warum Menschen nicht erwerbstätig sind. Ein sinnvoller Ansatz, dem ei- nen Riegel vorzuschieben, kann nur in der Prä- vention liegen, also in der Verbesserung des Bil- dungssystems. Zu häufig werden Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Fa- milien schon früh abgehängt. Die Qualität der frühkindlichen Bildung ist noch unzureichend, es fehlen Ganztagsschulplätze, und zu viele Ju- gendliche ohne Schulabschluss oder ohne Be- rufsabschluss versuchen, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Eine potenziell wirksame Maß- nahme könnte die Bereitstellung einer ausrei- chenden Anzahl an Kita-Plätzen darstellen, was besonders den vielen Alleinerziehenden unter den Hartz-IV-EmpfängerInnen helfen würde. Fortbildung und lebenslanges Lernen sollten in Deutschland selbstverständlicher verankert und finanziell gefördert werden, und zwar nicht erst im Fall der Arbeitslosigkeit.

07 Vgl. Stefan Bach/Jürgen Schupp, Solidarisches Grundein- kommen: Alternatives Instrument für mehr Teilhabe, DIW aktuell 8/2018.

26 Hartz IV APuZ

GENERATIONEN DER ARMUT? Zur familialen Transmission wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit

Daniela Schiek · Carsten G. Ullrich

Seit der Einführung der Grundsicherung für Ar- bräuchlicher ist der Begriff der intergenerationel- beitssuchende 2005 wächst stetig die Sorge, dass len „Transmission“ von Armut. Dieser betont die mit der zunehmenden Anzahl von Kindern un- Sozialisation in Armut, steht also für die mittel- ter den Leis­tungs­bezieher*­innen ganze Genera- bare Weitergabe von Werthaltungen, Deutungs- tionen heranwachsen, die genau wie ihre Eltern mustern, Handlungsorientierungen, Wahrneh- nie erwerbstätig sein werden und Sozialleistungs- mungs- und Ausdrucksfähigkeiten. Es geht um bezug als „Berufswunsch“ entwickeln. 01 Zwar die Frage nach einer kulturellen Reproduktion ist die Annahme einer sich über Generationen von Lebensweisen. fortsetzenden Fürsorgeabhängigkeit so promi- In den Sozialwissenschaften gibt es dafür im nent wie betagt; sie lässt sich mindestens bis in Prinzip drei theoretische Antworten: Die wahl- die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. theoretische, die psychosoziale und die kultur- Doch wird häufig im Zuge von sozialpolitischen soziologische. Theorien rationaler Wahlen ge- Reformen über die Merkmale von Leis­tungs­ hen dabei von Kosten-Nutzen-Abwägungen der empfän­ger*innen­ und nicht intendierten Wirkun- Leis­tungs­empfän­ger*­innen sowie davon aus, dass gen sozialer Sicherung diskutiert. 02 Vor Hartz IV der Bezug von Sozialleistungen – auch wegen ih- war es zuletzt die Sozialhilfereform in den 1990er rer vermeintlichen Generosität – eine günstige Jahren, die zu einer umfassenden Debatte insbe- oder zumindest nicht abschreckende Lebensop- sondere über alleinerziehende Mütter und ihre tion darstelle (disincentives). Erwachsene würden Kinder als – möglicherweise lebenslange – Leis­ sich beispielsweise leichter für diese Möglichkeit tungs­empfän­ger*­innen führte. 03 entscheiden, wenn sie bereits in ihrer Kindheit Zwar lässt sich eine zwingend höhere Wahr- Erfahrungen im Umgang mit den Leistungen und scheinlichkeit, mit der Kinder, die mithilfe von Ämtern gemacht hätten. 06 Sozialhilfe aufgewachsen sind, als Erwachse- Im psychosozialen Ansatz steht dagegen die ne selbst wiederum dauerhaft von Sozialleistun- Beobachtung im Vordergrund, dass mit zuneh- gen abhängig sind, nicht eindeutig nachweisen. 04 mender Dauer des Leistungsbezugs Selbstver- Die Reproduktion sozialer Lagen ist jedoch in trauen und Selbsthilfefähigkeit schwinden und Deutschland besonders hoch, die soziale Auf- sich Langzeitarbeitslose resignativ in einem Le- wärtsmobilität entsprechend gering, und in den ben mit der Wohlfahrt samt ihren Kontrollen und Sozialwissenschaften besteht hinsichtlich dessen, ihrer Bevormundung einrichten würden (wel- dass ein Aufwachsen in Armut die Chancen und farization). „Erlernte Hilflosigkeit“ ist ein pro- Kompetenzen für eine erfolgreiche Lebensfüh- minentes Stichwort für diese Annahme, bei der rung einschränkt, ungebrochene Einigkeit. sich das „Klima“ der Hoffnungslosigkeit auch Dabei wird nicht (nur) von einer direkten auf die Kinder übertrage. Als prominente Studi- ökonomischen Restriktion ausgegangen, sondern en aus dieser Richtung sind nicht nur die frühe vielmehr davon, dass die hierdurch beeinträch- Marien­thalstudie­ zu nennen, sondern ebenso die tigten Sozialisationsbedingungen in benachteilig- Arbeitslosenstudien der 1990er Jahre sowie auch ten Familien ungünstig für die Entwicklung von neuere Arbeiten nach Hartz IV. 07 Handlungsorientierungen in Richtung Arbeits- Sowohl mit dem Ansatz strategischer Wah- gesellschaft sind. 05 Daher wird selten von einer len als auch mit dem der Resignation vereinbar „Weitergabe“ oder „Vererbung“ gesprochen, ge- ist der kultursoziologische Ansatz. Dabei wird

27 APuZ 44–45/2019 fast ausnahmslos die Habitustheorie des Soziolo- empirische Rekonstruktionen. 09 Bereits Bourdieu gen Pierre Bourdieu herangezogen, wenn es um setzte in seinen Arbeiten die interaktiven Prozesse die familiale Reproduktion sozialer Ungleichheit wie auch die Symbole voraus, in beziehungsweise geht. 08 mit denen der Habitus dargestellt, die Überzeu- Gemeinsam sind diesen Ansätzen im Wesent- gungsarbeit an den Wahrnehmungs- und Bewer- lichen zwei Annahmen, die sozialpolitisch rele- tungsschemata geleistet und milieuhafte Zusam- vant sind: Zum einen wird davon ausgegangen, mengehörigkeit hergestellt werden muss. Folgt dass Personen durch die in ihrer Kindheit erleb- man dem Soziologen Karl Mannheim, beeinflus- ten Lebensbedingungen und Lebensweisen ein sen sich Generationen permanent wechselseitig Leben lang unwiderruflich geprägt würden. Zum und kommen nicht ohne kommunikative „Ar- zweiten werden die Wirkungen des Sozialhilfebe- beit“ in der jeweiligen Gruppe zustande. 10 In Fa- zugs ausnahmslos negativ beschrieben: Der Be- milien bestehen aufgrund der unterschiedlichen zug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen scheint die – familialen wie auch gesellschaftlichen – Gene- Handlungs- und Integrationsperspektiven von rationen auch unterschiedliche Perspektiven: Fa- Menschen in jedem Fall einzuschränken und sie milienmitglieder kommen zu verschiedenen Zeit- vom Wunsch und der Fähigkeit abzubringen, zu punkten in die Familie, was ihre Sichtweisen arbeiten und ihr Leben entsprechend zu planen. bestimmt. Ebenso gibt es beispielsweise voneinan- Dabei wird die Transmission wohlfahrtsstaat- der abweichendes Arbeitsmarktwissen und unter- licher Abhängigkeit auch immer schon vorausge- schiedliche Sozialstaatserfahrungen. Also müssen setzt und nicht direkt empirisch untersucht. Be- Familien kontinuierlich zusammen eine gemeinsa- sonders die Argumentation eines „Habitus“, mit me Perspektive aushandeln, und sie tun dies – ihr dem Kinder aus benachteiligten Familien stets er- Leben lang – in Interaktionen. kannt werden und sich ihrem sozialen Aufstieg Weil es sich hierbei um kommunikative Pro- selbst im Weg stehen, ersetzt inzwischen auch in zesse handelt, lassen sie sich mithilfe qualitativer der qualitativen Forschung mehr und mehr offene Verfahren, deren zentrales methodisches Prinzip die Kommunikation ist, rekonstruieren und müs- 01 Vgl. Anja Schröder, „Ich werd Hartz IV“ – Für Hauptschü- sen nicht theoretisch gesetzt werden. Denn um ler ist die Lage am Arbeitsmarkt oft aussichtslos, die Wirkungen zu studieren, die Sozialpolitik ge- 30.. 6 2011, www.derwesten.de/staedte/dortmund/ich-werd- rade dann entfaltet, wenn Privilegien „von Haus hartz-iv-fuer-hauptschueler-ist-lage-am-arbeitsmarkt-dortmund- oft-aussichtslos-id4822567.html; Peter Hampl, In meiner Familie aus“ fehlen, bedarf es eines offenen Zugangs, der arbeitet niemand! – Zweite Generation Hartz IV, Stern-TV- Möglichkeiten kultureller „Erbschaften“ eben- Reportage, VOX, 4. 5. 2010. so nachvollziehen kann wie kulturelle Disso- 02 Vgl. Carsten G. Ullrich, Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaa- nanzen und Brüche innerhalb von benachteilig- tes. Präferenzen, Konflikte, Deutungsmuster, Wiesbaden 2008. ten Familien. Wie also werden Deutungsmuster 03 Vgl. Stephan Leibfried et al. (Hrsg.), Zeit der Armut. Lebens- läufe im Sozialstaat, Frank­furt/M. 1995. und Handlungsorientierungen im Generationen- 04 Vgl. für einen Überblick Stephen P. Jenkins/Thomas Siedler, verbund wohlfahrtsstaatlich abhängiger Familien The Intergenerational Transmission of Poverty in Industrialized durch kommunikative „Gruppenarbeit“ mitei- Countries, Chronic Poverty Research Centre, Working Paper nander geteilt oder aber zurückgewiesen? 75/20 07, www.chronicpoverty.org/uploads/publication_files/ Um diese Frage zu beantworten, haben wir fa- WP75_Jenkins_Siedler.pdf. 05 Vgl. für einen Überblick Daniela Schiek/Carsten G. Ullrich/ miliengeschichtliche Mehrgenerationeninterviews Frerk Blome, Generationen der Armut. Zur familialen Transmissi- mit alleinerziehenden und (ehemals) dauerhaft So- on wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit, Wiesbaden 2019. zialleistungen beziehenden Eltern (im Alter von 06 Vgl. Jenkins/Siedler (Anm. 4). 50 bis 65 Jahren) und deren heute erwachsenen 07 Vgl. Marie Jahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Frank­furt/M. 09 Vgl. zuletzt etwa Stephanie Knuth, Der Umgang von Sozio­ 1975 (1933); Martin Kronauer/Berthold Vogel/Frank Gerlach, logie-Professor_­innen mit Habitus-Struktur-Konflikten. Eine Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dyna- empirisch-praxeologische Rekonstruktion, in: Soziologie 2/2019, mik sozialer Ausgrenzung, Frank­furt/M.–New York 1993; Peter S. 317–355. Bescherer/Silke Röbenack/Karen Schierhorn, Nach Hartz IV: 10 Vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Erwerbsorientierung von Arbeitslosen, in: APuZ 33–34/2008, Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7/1928, S. 157–330; S. 19–24. ­Gabriele Rosenthal, Historische und familiale Generationen- 08 Vgl. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des abfolge, in: Martin Kohli/Marc Szydlik (Hrsg.), Generationen in Handelns, Frank­furt/M. 1998. Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 162–178.

28 Hartz IV APuZ

Abbildung: Kulturelle Dynamik von „Hartz IV-Generationen“

Kindern (im Alter von 25 bis 30 Jahren) geführt, überschreiten damit bewusst die Perspektiven, die entweder ebenfalls fortdauernd Sozialleistun- die wir im Feld erfahren oder eingenommen ha- gen beziehen oder (in unterschiedlicher Reichwei- ben und buchstabieren so den Möglichkeitsraum te) aufgestiegen sind. 11 Die Interviews fanden mit zur Forschungsfrage möglichst breit aus. maximal dreiköpfigen Familien statt: Auf der Sei- te der Eltern nahmen stets die (alleinerziehende) TEILEN VON LEBENSWEISEN Mutter, auf der Seite der Kinder maximal zwei Ge- IM HARTZ-IV-GENERATIONEN­ schwister teil. 12 Oft konnten nicht alle Familien- VERBUND: EINE TYPOLOGIE mitglieder an dem Gespräch teilnehmen, worauf wir noch einmal zurückkommen werden. Um die Modi zu verstehen, anhand derer sich Das Datenmaterial wurde sequenzanalytisch benachteiligte Generationenverbünde als solche ausgewertet, bevor Fälle und Typen vergleichend kulturell reproduzieren, transformieren oder aber herausgebildet und überprüft wurden. 13 Auf die- auflösen, haben wir auf der Grundlage der famili- se Weise konnte ein Kontinuum der intergene- engeschichtlichen Gespräche und ihrer sequenz­ rationellen Reproduktion, Transformation und analytischen Rekonstruktion drei Grundmuster Auflösung wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit herausgearbeitet (Abbildung). gezeigt werden. Die Typen, die im Folgenden Im ersten Muster („kulturelle Reproduktion“) vorgestellt werden, sind sogenannte Idealtypen: zeigt sich eine klare „Vererbung“ des Lebensstils, Es handelt sich um systematische Abstraktionen wobei sich Eltern und ihre Kinder nicht einfach von den Einzelfällen, mit denen theoretisch fort- in einer ähnlichen Situation befinden. Vielmehr geschrieben und geklärt wurde, was sich empi- teilen Eltern und Kinder ihr Leben direkt mitei- risch nur „diffus“ oder „diskret“ andeutet. 14 Wir nander und binden sich „schicksalhaft“ aneinan- der. Es handelt sich somit um eine sowohl kultu- 11 Es handelt sich um eine Studie von 2016 bis 2018, die von relle wie auch materielle Lebensgemeinschaft. der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde Beide Generationen zeichnen sich durch ei- (SCHI 1184/41 und UL 186/8-1). nen langfristigen Bezug von Sozialleistungen 12 Dass wir auf der Seite der Eltern ausschließlich alleinerziehen- und beinahe lebenslange Arbeitslosigkeit aus, de Mütter interviewten, geschah zwar nicht absichtlich – wir hatten alle möglichen Familienkonstellationen adressiert. Es erscheint aber ebenso sind schulische und berufliche Qualifika- angesichts dessen, dass sie im Vordergrund des Diskurses um die tionen kaum vorhanden. Darüber hinaus lassen intergenerationelle Transmission von Sozialhilfekarrieren stehen, sich keine generationsspezifischen (jeweils eige- sinnvoll. Aus forschungspragmatischen Gründen wurden nur nen) Erfahrungen finden – aus generationssozio- Familien ohne (direkten) Migrationshintergrund einbezogen. logischer Sicht ist eine Revision der elterlichen 13 Vgl. ausführlich Schiek/Ullrich/Blome (Anm. 5), S. 39 ff. 14 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Lebensweise erforderlich, damit eine neue kultu- Erkenntnis. in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik relle Generation aufgebaut werden kann. Doch 19/1904, S. 65 f. dies unterbleibt bei diesem Muster. Stattdessen

29 APuZ 44–45/2019 kommt es zu einer fast bewundernden Über- So zeigen sich auch im zweiten Typus, der nahme der Geschichte des anderen. In der Regel „kulturellen Transformation“, Versuche von Fa- handelt es sich um die Übertragung eines bio- milienmitgliedern, bei den anderen Bewunderung grafischen Traumas (etwa sexuelle Missbrauchs- und Solidarisierung für eigentlich schockierende oder Erfahrungen anderer extremer Gewalt), oder zumindest wenig amüsierende Episoden zu dessen Verbindungskraft auch durch eine gewis- wecken. Im Unterschied zum ersten Typus der se „Verzauberung“ zustande kommt: Die Fami- Reproduktion erfolgt hier jedoch ein systemati- lie wird zu einer Schicksalsgemeinschaft, indem sches Entzaubern der Geschichten durch die an- schreckliche Geschichten „gefeiert“ und zu ei- deren Familienmitglieder, infolge derer es zu Ver- nem „Spektakel“ gemacht werden, als handle es änderungen der biografischen Sicht- wie auch sich um helden- oder märchenhafte Geschichten. der tatsächlichen Lebensweisen in der Familie Dies kann als Ritual verstanden werden, der den kommt. In diesem Typus sind die Kinder (in un- Zusammenhalt von Gemeinschaften stärkt und terschiedlichen Reichweiten) erfolgreich aufge- bestehende Ordnungen transzendiert. 15 Sofern stiegen und distanzieren sich (allerdings ebenfalls aber die zelebrierten Geschichten, trotzdem sie in unterschiedlichen Graden) deutlich von den feierlich vorgetragen werden, buchstäblich scho- Handlungs- und Sichtweisen ihrer Eltern und ckieren, werden durch diese Praxis gleichzeitig Geschwister. Handlungen und Lebensperspektiven immer Dabei kommt es jedoch nicht zu einem Ab- wieder gelähmt. rücken der Generationen voneinander, sondern Dieses Ineinanderrücken und Zelebrieren zu einer wechselseitigen intergenerationel- traumatisierender Lebensgeschichten wird noch len Angleichung. So lösen sich die Kinder hier zusätzlich durch das Zusammenleben der Gene- nicht vehement von ihrer Mutter, um allein den rationen in einer symbiotischen Gemeinschaft eigenen Weg zu gehen und aufzusteigen, son- intensiviert. So werden, obwohl teilweise eige- dern sie nehmen ihre Eltern mit: Wir finden ne Wohnungen vorhanden sind, kaum getrenn- hier Töchter, die ihren Müttern Arbeitsstellen te Haushalte geführt und nicht nur die Tage, vermitteln, weil sie aus der Sozialhilfe ausstei- sondern auch die Nächte weitgehend gemein- gen wollen und ihre Mütter aktiver sehen wol- sam miteinander verbracht. Ebenso ist ein ge- len, oder Kinder, die die biografischen Sicht- wisses „Einschwören“ aufeinander zu beobach- weisen ihrer Mutter durch Ergänzungen und ten: „Wir haben ja uns“, „uns bringt niemand Korrekturen erfolgreich verändern, aber auch auseinander“. Mütter oder Schwestern, die ihre Kinder oder Die Tatsache, dass eine biografische Version Geschwister daran erinnern, dass sie Optionen der einen Generation von der anderen übernom- auf dem Arbeitsmarkt haben und ihre Leben im men wird und eine symbiotische Gemeinschaft Hartz-IV-Bezug daher kein Schicksal ist. Ob- existiert, bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht wohl also auch hier die Mütter zunächst sich mühsam in Kommunikationen ausgehandelt wer- selbstrechtfertigend das Gespräch dominieren, den muss und dass das Einschwören der Gene- wird ihnen im familiären Kontext erfolgreich rationen aufeinander nicht zu Konflikten führt. widersprochen; ihre Versionen haben keine be- Denn gerade auf diese kommunikative Aushand- ständige Geltungskraft. lung kommt es bei der „Übertragung“ der Sicht- Neben diesen kulturellen Abgrenzungen und Lebensweisen zwischen den Generationen und tatsächlichen Veränderungen der gemein- an. So sind es auch nicht Traumata und Belastun- samen Lebensweisen gibt es auch klare räum- gen als solche, die zur Lähmung der Perspektiven liche Distanzierungsbemühungen, wie den führen, sondern es hängt davon ab, ob sich einzel- Wunsch nach einer eigenen Wohnung, einem ne biografische Versionen bei anderen Familien- separaten Raum und nach unbedingter finan- mitgliedern nachhaltig durchsetzen können und zieller Unabhängigkeit von der familiären Un- die Familiengeschichte sowie die sich um sie ver- terhalts- beziehungsweise Bedarfsgemeinschaft. sammelnde Gemeinschaft anerkannt, wenn nicht Entscheidend ist hier, dass es wohlfahrtstaatli- sogar verehrt werden. che Leistungen wie Wohngeld, Bafög wie auch die Sozialhilfe beziehungsweise das Arbeitslo- 15 Vgl. Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur sengeld II selbst und Stipendien sind, die die Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017. Individualisierungsbestrebungen und Verände-

30 Hartz IV APuZ rungen innerhalb der Familie antreiben. Gleich- einer „Gegenkultur“ zusammen. Ebenso beglei- zeitig sind die darin verankerten Unterhalts- ten Aufenthalte in Kinderheimen, häufiges Aus- und Bedarfsgemeinschaftsbestimmungen für reißen von zu Hause und Selbstmordversuche die die Kinder Hemmschuhe, die sie am Sinn des Kindheit und Jugend, bis die Volljährigkeit die Generationenverbunds beziehungsweise star- Möglichkeit zu einem (wenn auch zunächst so- ker familialer Beziehungen zweifeln und ihren zialarbeiterisch betreuten) selbstständigen Leben Wunsch wachsen lassen, diese aufzulösen. Zum bringt und sogar zu äußerst erfolgreichen Karri- Beispiel schildert eine Tochter, wie verzweifelt eren führt. sie gewesen sei, als zunächst nicht klar war, ob Folgt man der Literatur, sind es genau die sie – aufgrund ihrer Eltern – vom Hartz-IV- frühen Fluchten aus dem Familienklima, die zu Bezug in den Status einer Bafög-Empfängerin den außergewöhnlichen Erfolgen dieser Kinder wechseln und ihr eigenes Leben in die Hand führen. 16 Ihr Gespür, sich bedrohlichen Situati- nehmen könne. Auch wurden uns in den Inter- onen rechtzeitig zu entziehen, sorgten für den views Diskussionen über Individualisierungs- nötigen Antrieb und die ständige Bewegung ih- bestrebungen einzelner Kinder beziehungswei- res Karriereweges; sie ließen sich nicht blockie- se Geschwister gezeigt, die als „wunde Punkte“ ren. Und sofern es sich bei den Gefahren in der innerhalb der Familie gelten können. Und so Familie teilweise um echte Lebensbedrohungen ist schließlich zu beachten, dass sich die Trans- handelt (Vernachlässigung, Gewalt und sogar formationsprozesse und insbesondere die Dis- auf ihre Kinder erweiterte Suizidversuche der tanzierungsbestrebungen der Kinder in diesem Eltern), wird genau dies es sein, was die Ent- Typus in unterschiedlichem Ausmaß vollzie- wicklung des Neuen bei den Kindern so mas- hen können, was bedeutet, dass es neben relativ siv befördert: Das Erleben von körperlicher Ge- starken Verbindungen zum elterlichen Milieu walt ist ein starkes Motiv für die Konstitution und absolut friedlichen Diskussionen auch „lo- neuer Generationen. Nichts führt stärker zu ei- dernde“ Probleme und unerfüllte Forderungen nem Vertrauensverlust in den Schutz und die nach mehr Autonomie seitens der Kinder gibt, Überlegenheit der Erfahrungen der Älteren als sodass sich hier die Möglichkeit einer vollstän- die Erkenntnis, dass sie grundlegende physische digen Trennung von den Eltern und das Ende Bedrohungen zulassen oder sogar daran teil- der gemeinsamen Kompromisse zeigt. nehmen. 17 Und so werden diese erfolgreichen Ein solcher „Bruch“ zeigt sich in unse- Aus ­steiger*­innen in der Literatur auch „Über- rer Untersuchung naturgemäß nur theoretisch: lebende“ genannt. 18 Durch die Methode des familiengeschichtlichen Während also im ersten Typus die Familien- Interviews konnten wir keine Familienmitglie- geschichte und -gemeinschaft „verehrt“ wird, der einbeziehen, die an einer solchen Diskus- wird sie im zweiten Modell systematisch, aber sion mit ihrer Familie nicht mehr teilnehmen kooperativ „desillusioniert“, wobei unklar ist, wollen oder können. Die Deutungs- und Hand- wie weit die Kooperationen gehen und sich nicht lungsalternativen eines vollständigen Bruchs doch ein Bruch beziehungsweise Ausstieg sei- mit dem Herkunftsmilieu haben sich uns je- tens der Kinder ankündigt. So ist im dritten Ty- doch nicht nur in den oben erwähnten Konflik- pus eine gemeinsame Aushandlung offensichtlich ten ungewissen Ausgangs gezeigt. Auch haben nicht mehr möglich, und es verbleibt nur der voll- oftmals einzelne Geschwister explizit die Teil- ständige, aber ausgesprochen erfolgreiche Aus- nahme am Gespräch verweigert oder haben gar stieg aus dem Generationenverbund. keinen Kontakt mehr zu denjenigen Familien- mitgliedern, die mit uns gesprochen und darü- 16 Vgl. Martin Schmeiser, Deutsche Universitätsprofessoren mit ber berichtet haben. Mit diesem dritten Modus bildungsferner Herkunft, in: Jahrbuch für historische Bildungs- der „kulturellen Ausstiege“ beschreiben wir also forschung, Heilbrunn 1996, S. 135–183; Sybil Wolin/Steven die in den Interviews wie auch in der Familie ab- Wolin, The Resilient Self. How Survivors of Troubled Families Rise wesenden Kinder. Above Adversity, New York 1993. In der Regel beginnt das (freiwillige) Verlas- 17 Vgl. Bernhard Giesen, Generation und Trauma, in: Jürgen Reulecke/Elisabeth Müller-Luckner/Heinz Bude (Hrsg.), Genera- sen der Mütter durch die Aussteiger*­ innen­ rela- tionalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München tiv früh. Sie ziehen aus und/oder leben mit dem 2003, S. 59–71. Vater oder den Großeltern als Ver­treter*innen­ 18 Vgl. Wolin/Wolin (Anm. 16).

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SOZIALPOLITISCHE lich, wie stark sich Kinder mit ihren Eltern an ih- SCHLUSSFOLGERUNGEN rer gemeinsamen ökonomischen Verbundenheit reiben und der Sozialstaat ihr verlässlicher Part- Mit der Typologie lässt sich zeigen, dass das di- ner bei der sozialen Platzierung ist, wenn Privi- rekte Miteinanderteilen wohlfahrtsstaatlicher legien und Kompromisse „von Haus aus“ fehlen. Abhängigkeit zwischen den Generationen be- Dabei kann die Energie, die diese Kinder ohnehin stimmten Bedingungen unterliegt und nur einen schon deutlich mehr aufbringen müssen als Kin- Modus des Umgangs von Familien mit ihrer der aus gut situierten Familien, jederzeit kippen; Hartz-IV- oder Sozialhilfegeschichte darstellt. wie sich in unseren Interviews zeigt, ist zwischen Die Armutskarrieren der Familien werden Durchhalten und erfolgreichem Aufstieg auf der ebenso auch transformiert oder unter- bezie- einen und der Kapitulation auf der anderen Seite hungsweise abgebrochen. Entscheidend scheint nur ein schmaler Grat, und es lässt sich erahnen, dabei die Stärke der familialen Gemeinschaft zu dass die Aufsteiger*­ innen­ in ihrer Verzweiflung sein. Man kann sagen: Je fragiler der Genera- nicht immer rechtzeitig abgeholt werden. tionenverbund zwischen den Eltern und ihren Für benachteiligte Familien stellt sich das Kindern, desto erfolgreicher wird die „Sozial- enge Binden von ökonomischen Chancen und hilfekarriere“ gemeinsam oder aber durch die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen an die Fami- Kinder überwunden – gerade auch durch wohl- lie, wie sie im Zuge der Hartz-IV-Gesetzgebung fahrtsstaatliche Unterstützung. noch einmal verstärkt worden ist, also als Pa- Tatsächlich sind familiale Generationenbe- radoxie, wenn nicht sogar als Perfidie dar. Um ziehungen und individuelle Lebenswege auf das ihre Aufstiegs- und Integrationswirkung zu er- Engste miteinander verwoben, auch wenn Fami- höhen, müssten Sozialleistungen demnach so lie und soziale Ungleichheit häufig wie zwei un- ausfallen, dass sich unterprivilegierte Einzelne glücklicherweise wie zufällig miteinander Ver- aus unzumutbaren Abhängigkeiten ohne Sank- wandte behandelt werden. So hat (nicht erst) tionen und Abstiegsrisiken lösen können. Dies Bourdieu die Familie als zentralen Schlüssel der setzt nicht nur eine deutlich umfassendere, son- Klassen- beziehungsweise Kapitalreproduktion dern auch eine entsprechend defamilialisierte beschrieben, weshalb sie allein für Privilegierte Sozialpolitik voraus. Sinn ergebe. 19 Daher profitieren ökonomisch „ge- spannte“ Familienbeziehungen, wenn sie durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen vom Druck der finanziellen Abhängigkeit weitgehend entlastet werden. 20 Zwar können sich, wie in unseren Ty- pen, die Kinder mit wohlfahrtsstaatlicher Unter- stützung erfolgreich von ihrem Herkunftsmilieu lösen. Sie müssen dies aber auch, weil sie hinsicht- lich ihrer Lebensoptionen durch die familienori- entierte Sozialpolitik und das Unterhaltsrecht immer wieder an sie verwiesen werden und die Sozialleistung sonst nicht für sich beziehungs- weise das Ingangsetzen ausgesprochen erfolgrei- cher Karrieren nutzen können. Sie kämen sonst DANIELA SCHIEK buchstäblich nicht von ihrem Herkunftsmilieu ist habilitierte Soziologin und wissenschaftliche los. Besonders unser zweiter Typ zeigt sehr deut- Mitarbeiterin am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. 19 Vgl. Bourdieu (Anm. 8), S. 132. [email protected] 20 Vgl. Claudine Attias-Donfut, Familialer Austausch und sozia- le Sicherung, in: Martin Kohli/Martin Szydlik (Hrsg.), Generati- CARSTEN G. ULLRICH onen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 222–237; ist Professor für Methoden der qualitativen Harald Künemund/Matthias Rein, There is More to Receiving than Needing: Theoretical Arguments and Empirical Explora- Sozialforschung am Institut für Soziale Arbeit und tions of Crowding in and Crowding Out, in: Ageing and Society Sozialpolitik der Universität -Essen. 19/1999, S. 93–121. [email protected]

32 Hartz IV APuZ

GRENZEN DER RESPEKTABILITÄT Zur Geschichte einer Unterscheidung Jens Wietschorke

So kann es mit dem Sozialstaat nicht weiterge- sich die Einzelnen einrichten müssen. Sie ist im hen. Das war der Tenor eines Expertengremiums, Kern eine moralische Unterscheidung. Ob man das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schrö- in die Armutszone abrutscht oder nicht, ist dem- der 2002 einberufen und das in den darauf folgen- nach eine Frage von Ehrlichkeit oder Unehrlich- den Jahren unter der Leitung des VW-Personal- keit, von Fleiß oder Faulheit, von Disziplin oder chefs Peter Hartz grundlegende Reformen des Sichgehenlassen. In einem zweiten Schritt werden Arbeitsmarkts erarbeitet hatte. Die unter dem den undeserving poor dann bestimmte kulturel- Stichwort „Hartz IV“ bekannt gewordene Um- le Dispositionen unterstellt: der Hang zur Wider- strukturierung der sozialstaatlichen Unterstüt- setzlichkeit und zur Verwahrlosung, zur Ver- zungsleistungen in Deutschland ist eine der neu- schwendung und zum sinnlosen Konsum, zum esten Episoden einer langen Geschichte, die sich schlechten Essen und zum schlechten Fernsehen. um die Frage dreht, wie mit Armut und materi- Im Zuge der deutschen „Unterschichtdebatten“ eller Bedürftigkeit gesellschaftlich umgegangen der 2000er Jahre wurden solche Zuschreibungen werden soll – und wer dafür in welcher Weise teils heftig diskutiert; darauf wird noch zurück- verantwortlich ist. Wer sich in diese Geschich- zukommen sein. Zunächst aber werden einige te vertieft, stößt auf eine immer wiederkehrende Schlaglichter auf die Wahrnehmungsgeschichte Grenzziehung, die geradezu als Leitmotiv staat- der Unterklassen geworfen, auf die Moralisierung licher Sozialpolitik, aber auch gesellschaftlicher und Ausgrenzung von Armut und Arbeitslosig- Debatten über Armut und „Unterschicht“ seit keit, wie sie bei Autoren der deutschen Spätauf- dem 18. Jahrhundert bezeichnet werden kann: die klärung ebenso zu finden ist wie bei Karl Marx, in Unterscheidung zwischen „verschuldeter“ und der britischen Sozialforschung des 19. Jahrhun- „unverschuldeter“ Armut und die davon abgelei- derts ebenso wie in deutschen Sozialreformbewe- tete Unterscheidung zwischen „unterstützungs- gungen um 1900. würdigen“ und „unwürdigen“ Armen, den deser- ving poor und den undeserving poor. 01 In diesem DAS VOLK Beitrag werden die Funktionsprinzipien dieses UND DER PÖBEL dichotomischen Blicks auf Armut anhand eini- ger ausgewählter historischer Stationen bis in die Um die Unterscheidung einer „guten“ und einer Zeit der Spätaufklärung zurückverfolgt und ver- „schlechten“ Unterklasse historisch zu verfol- sucht, in aller Kürze zu rekonstruieren, wie er gen, kann man bis ins Mittelalter oder sogar in die den Diskurs über untere soziale Klassen zu ver- Antike zurückgehen. Zumindest aber sollte man schiedenen Zeiten geprägt hat. 02 Die Überlegun- im 18. Jahrhundert ansetzen, in dem eine „Ent- gen beziehen sich in erster Linie auf Deutschland, deckung des Volkes“ in Philosophie und Litera- streifen aber immer wieder auch internationale tur zu beobachten ist. 03 Autoren wie Jean-Jacques Entwicklungen. Rousseau und Johann Gottfried Herder feierten Der historische Rückblick macht deutlich: damals die Natürlichkeit und Unverbildetheit des Die Differenzierung der sozial schwachen Be- „einfachen Volks“. Sie meinten damit nicht etwa völkerung in solche, die eine Unterstützung der die Gesamtheit der unterbürgerlichen Schichten, öffentlichen Hand verdient, und solche, die sie sondern ein idealisiertes Kollektiv, das für ihre nicht verdient haben, hat mit sozialstrukturel- Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Tradi- len Merkmalen ebenso wenig zu tun wie mit ei- tion anschlussfähig war. „Volkspoesie“ wurde zu ner Analyse der Kontextbedingungen, in denen einem Schlüsselkonzept der deutschen Spätauf-

33 APuZ 44–45/2019 klärung und dann der Romantik. Nach Herders eignisse deutlich, dass die staatsphilosophischen Idee spiegelte das Volkslied sehr wohl die Nöte und legislatorischen Bemühungen des 18. Jahr- und Bedürfnisse der einfachen Leute wider, aller- hunderts, welche die Bevölkerung an Formen dings nur bis zu einer bestimmten Grenze: „Volk der Machtausübung beteiligen wollte[n], eine dis- heißt nicht der Pöbel aus den Gassen: der singt kursive Spaltung der Bevölkerung implizierte[n]: und dichtet niemals, sondern schreit und ver- Es musste ein Stimm- und Wahlvolk konzipiert stümmelt.“ 04 Aus der elitären Distanz des Intel- werden, dessen politische Legitimierung aber lektuellen heraus bestimmten also Volksfreunde die Ausscheidung der unzuverlässigen Elemen- wie Herder, wer zum Volk gehörte und wer nicht. te, des ‚Pöbels‘ etc. nach sich zog. ‚Gutes Volk‘ Dieses „Volk“ wurde auf dem Feld der Literatur vs. ‚schlechter Pöbel‘ wurde zu einem grundle- und der Poetik konstruiert, es umfasste die Bau- genden Dualismus der Revolutions-Berichter- ernfamilien und vielleicht noch die Tagelöhner, stattung, der eine immanente Problematik der die – etwa in den Sammlungen der Brüder Jacob aufklärerischen Staatstheorie drastisch vor Au- und Wilhelm Grimm – als Authentizitätsgaran- gen führte.“ 05 Hier wird klar, dass die Definition ten alter Erzählungen und Märchen dienten, aber des „Volkes“ immer auch demokratietheoretische nicht die verelendeten Heimarbeiter, die umher- Implikationen hatte. Und so ist die Geschich- ziehenden Wanderhändler und die Insassen der te der Demokratie bis zur Einführung eines all- Armenhäuser. Das Volkspoesie-Konzept leistete gemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer somit seinen eigenen Beitrag zur Moralisierung und Frauen zugleich eine Geschichte verschie- der Unterklassen, indem er einen „reinen“ und dener Varianten der Inklusion und Exklusion: „echten“ Teil der von Armut bedrohten Bevöl- Wer bleibt aus dem Konzept des „Volkes“ ausge- kerung von einem anderen unterschied, der nicht schlossen – und mit welcher Begründung? kulturfähig war, der nicht singt und dichtet, son- Das „Volk“ und der „Pöbel“: Dieser Gegen- dern eben „schreit und verstümmelt“. Pointiert satz beherrschte den öffentlichen Diskurs über gesagt: Die romantisch-nostalgische Begeisterung die Unterklassen im 18. und frühen 19. Jahrhun- für das einfache Volk konnte nur um den Preis dert. Dabei wirkten alte Muster nach: Obwohl der Disqualifizierung des „Pöbels“ und seiner ro- die kirchlich geprägte Armenfürsorge die Armen hen Ausdrucksformen etabliert werden. grundsätzlich als natürlichen Teil einer gottge- Wie der Literaturwissenschaftler Michael gebenen ständischen Gesellschaftsordnung an- Gamper ausgeführt hat, diente der dichotomi- sah, unterschied sie seit dem Spätmittelalter de- sche Blick auf die Unterklassen auch während zidiert zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ der Französischen Revolution dazu, ein demo- Armen. 06 Im Verlauf der Industrialisierung über- kratisches Kollektiv zu konstituieren, ohne gleich nahm die staatliche Sozialpolitik diese Differen- die Armutsbevölkerung an der politischen Mei- zierung und trennte „unverschuldete“ von „ver- nungsbildung beteiligen zu müssen: „Im Beson- schuldeter“ Armut. Zentrales Kriterium dieser deren wurde an den Kommentaren der Pariser Er- Differenzierung war die Lohnarbeit, die das Be- zugssystem der Armenpolitik bildete. 07 Teilwei- se nach dem Vorbild des 1834 in England verab- 01 Zur Diskursgeschichte der undeserving poor in den USA schiedeten Poor Law Amendment Act, auf den vgl. Michael B. Katz, The Undeserving Poor. America’s Enduring Confrontation with Poverty, New York 20132. Die dort ange- die Kategorien deserving poor und undeserving stellten konzeptionellen Überlegungen zur Logik der Deserving/ poor zurückgehen, wurden in fast allen deutschen undeserving-Unterscheidung sind auch für den deutschen Fall Staaten neue Fürsorge- und Wohlfahrtssysteme höchst relevant. installiert, Versorgungsleistungen für „verschul- 02 Bei der Verwendung der Termini „Unterschicht“, „Unter- klasse“ und „untere soziale Klassen“ folge ich Klaus Dörre, der vorgeschlagen hat, „den Begriff der Unterklasse analytisch zu 05 Michael Gamper, Masse schreiben, Masse lesen. Eine nutzen. Dazu ist es sinnvoll, kollektive Abwertungen selbst als Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge Kräfte von Klassenbildung zu begreifen“. Klaus Dörre, Unterklas- 1765–1930, München 2007, S. 126. sen. Plädoyer für die analytische Verwendung eines zwiespälti- 06 Vgl. Bernhard Schneider, Christliche Armenfürsorge von gen Begriffs, in: APuZ 10/2015, S. 3–10, hier S. 3 f. den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Freiburg/Br. 2017, 03 Vgl. Werner Michler, Kulturen der Gattung. Poetik im Kon- S. 308–373. text 1750–1950, Göttingen 2015, S. 161. 07 Vgl. Florian Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik 04 Johann Gottfried Herder, Werke in zwei Bänden. Erster in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Band, München 1953, S. 229. Göttingen 1981, S. 87 ff.

34 Hartz IV APuZ det“ in Not Geratene an harte Arbeit in Arbeits- Paradoxerweise übernahmen auch die The- häusern gekoppelt. Hauptziel dieser Reformen oretiker der deutschen Arbeiterbewegung, allen war die Senkung der explodierenden Kosten öf- voran Karl Marx und Friedrich Engels, die Dif- fentlicher Armenfürsorge – vor allem aber produ- ferenzierung zwischen „guten“ und „verwahrlos- zierte sie ein Bild vom Armen, der für seine Lage ten“ Unterklassen – wenn auch in einer anderen selbst verantwortlich war. Armut war nun zu- Terminologie und mit anderen Implikationen als nehmend das Ergebnis persönlichen Fehlverhal- bei dem Unternehmer Harkort. Marx versuch- tens. Arm zu sein, bedeutete dabei im Wesentli- te mit Nachdruck, den abwertenden Begriff des chen, keiner Lohnarbeit nachzugehen, womit die Proletariats ins Positive zu wenden, indem er ihn Zuschreibung sozialer und moralischer Defizi- mit dem historischen Prozess der Arbeiterbewe- te einherging. Mitten durch die unteren sozialen gung verknüpfte. Die „Proletarier aller Länder“, Klassen verlief eine Grenzlinie, die „respektable“ das waren für Marx nicht die Armen und Abge- und „nicht respektable“ Existenzen voneinander hängten, sondern die klassenbewussten Arbeiter, unterschied. So schrieb der Historiker Geoffrey die in der Lage waren, die sozialistische Revolu- Best in Bezug auf die englische Armenfürsor- tion zu tragen. Für den Rest, das Residuum, die ge des 19. Jahrhunderts: „Here was the shar- absolute Unterschicht, musste Marx daher einen pest of all lines of social division, between those neuen Begriff einführen. Im Anschluss an älte- who were and those who were not respectable; re Bezeichnungen konstruierte er den Terminus a sharper line by far than that between rich and „Lumpenproletariat“. 10 Lumpenproletariat – das poor, employer and employee, or capitalist and bezeichnete die unorganisierten Unterschichten: ­proletarian.“ 08 „neben verkommenden und abenteuernden Ab- legern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene PROLETARIAT UND Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, ent- LUMPENPROLETARIAT laufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Laz- zaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, (…) Bor- Von der nicht respektablen Arbeiterschaft zum dellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, delinquenten Gesindel war es nur ein kleiner Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Schritt. So sah der liberale Unternehmer und So- Bettler“ und einige mehr. Für Marx sind diese zialpolitiker Friedrich Harkort, der für seine Ar- Lumpenproletarier die „passive Verfaulung der beiter wichtige Verbesserungen im Bereich der untersten Schichten der alten Gesellschaft“ und Krankenversorgung, der Schulbildung und des für die Revolution nicht zu gebrauchen: „Dies Arbeitsschutzes einführte, in Teilen der Arbeiter- Gesindel ist absolut käuflich.“ 11 schaft nur „Zuchthauskandidaten“. Sein nach der Überhaupt war es ein Grundzug der deut- Revolution 1849 publizierter, paternalistischer schen Sozialdemokratie, sich demonstrativ von „Brief an die Arbeiter“ verurteilte alle, die „Brod den untersten Schichten abzugrenzen. Der So- ohne Arbeit verlangen“, und er unterschied kate- zialismus, so die Argumentation, war schließ- gorisch die „braven Arbeiter“ von den „Proleta- lich kein Sammelbecken für gescheiterte Existen- riern“. „Einen Proletarier nenne ich den, welchen zen, sondern eine Kulturbewegung. 12 Wenn das seine Eltern in der Jugend verwahrlost, nicht ge- klassenbewusste Proletariat aber der „Eckstein waschen, nicht gestriegelt, weder zum Guten er- der modernen Kulturentwicklung war“, 13 wie es zogen noch zur Kirche und Schule angehalten ha- ben. Er hat sein Handwerk nicht erlernt, heiratet ohne Brod und setzt seines Gleichen in die Welt, 10 Vgl. dazu ausführlich Michael Schwartz, „Proletarier“ und welche stets bereit sind, über anderer Leute Gut „Lumpen“. Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4/1994, S. 537–570; Peter herzufallen, und den Krebsschaden der Kommu- Bescherer, Vom Lumpenproletariat zur Unterschicht. Produkti- 09 nen bilden.“ vistische Theorie und politische Praxis, Frank­furt/M. 2013; sowie die originelle Abhandlung von Patrick Eiden-Offe, Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des 08 George Best, Mid-Victorian Britain, 1851–1875, London Proletariats, Berlin 2017. 1971, S. 260. 11 Zit. nach Schwartz (Anm. 10), S. 545 f. 09 Friedrich Harkort, Brief an die Arbeiter, in: Gerd Stein 12 Vgl. Brigitte Emig, Die Veredelung des Arbeiters. Sozialde- (Hrsg.), Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit. Verrat mokratie als Kulturbewegung, Frank­furt/M. 1980. und Solidarität, Frank­furt/M. 1985, S. 40–44, hier S. 43. 13 Zit. nach ebd., S. 9.

35 APuZ 44–45/2019 der marxistische Publizist Franz Mehring postu- deren Ergebnisse schließlich 1902 bis 1903 in 17 lierte, dann musste es sich das Subproletariat real Bänden im Druck erschienen. 17 Zusammen mit und im symbolpolitischen Sinne vom Leib hal- seinen Mitarbeitern versuchte Booth, den An- ten. Auf dem Gothaer Parteitag 1896 entbrannte teil der in Armut lebenden Familien an der Lon- erstaunlicherweise eine heftige Diskussion über doner Bevölkerung festzustellen. Dabei führte Literatur – genauer: über die Frage, wie Unter- er ein Klassifikationsschema ein, das die Bevöl- schichten dort nicht dargestellt werden sollten. 14 kerung in acht Klassen – von A bis H – einteil- Die „Neue Welt“, eine Unterhaltungsbeilage zur te. Die Kategorien A und B bezeichneten nach sozialdemokratischen Presse, hatte die Romane Booth die unterste Schicht derer, die keiner ir- „Der neue Gott“ von Hans Land und „Mutter gendwie geregelten Arbeit nachgingen, von den Bertha“ von Wilhelm Hegeler abgedruckt – und „Halbkriminellen“ und „Faulenzern“ der Klasse damit zwei Texte, die realistische Darstellungen A bis zu den „sehr armen“ Gelegenheitsarbeitern von Arbeiterelend boten, inklusive drastischen der Klasse B. Damit war sozialstatistisch festge- Schilderungen aus dem Alkoholiker- und Pro- schrieben, dass es so etwas wie eine „nutzlose“ stituiertenmilieu. Solche Darstellungen, so der Unterschicht gab. Insbesondere Klasse A wur- führende Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht de als „Residuum“ und „Abschaum“ abgestem- in Gotha, würden „Körper und Geist der Kin- pelt, diese „Barbaren“, so Booth, „leisten keinen der des Proletariats“ ruinieren. Stattdessen solle nützlichen Dienst, schaffen keinerlei Reichtum, die Assoziation von Arbeiterschaft und Schmutz eher vernichten sie ihn“. 18 Booths Unterneh- peinlich vermieden werden, um die Kulturmis- men war teilweise verknüpft mit den Aktivitä- sion der Sozialdemokratie nicht zu gefährden. 15 ten der 1869 gegründeten Charity Organization Noch lange blieb der deutsche Sozialismus in Society (COS), die weniger eine Wohltätigkeits- diesem Sinne auf die Figur des respektablen und organisation war als vielmehr ein Versuch, das disziplinierten sozialdemokratischen Arbeiters unterschiedslose Almosengeben zu bekämpfen, fixiert und konnte mit den „Asozialen“ nichts das – so die Argumentation – den „Bodensatz“ anfangen. Damit bestätigte auch die politische der Gesellschaft am Leben hielt. Damit, so bilan- Linke die alte Unterscheidung zwischen de- ziert der Soziologe Rolf Lindner, ging es Booth serving und undeserving auf ihre eigene Weise. wie der COS vor allem darum, „jene gesellschaft- „Die klassische Arbeiterbewegung“, so der His- lichen Elemente ausfindig zu machen, die nicht toriker Michael Schwartz, „hat diese ursprüng- bereit (oder in der Lage) sind, sich der Disziplin liche traditional-moralische Abgrenzung gegen- der industriekapitalistischen Lohnarbeit zu un- über den als asozial stigmatisierten Schichten nie terwerfen“. 19 Diese Denkweise beherrschte viele überwunden.“ 16 Sozialreformunternehmungen, die sich um Hilfe Die Frage nach der Stratifikation und Klas- am unteren Rand der Gesellschaft bemühten. Wo sifikation der Gesellschaft beschäftigte schon es um die „Rettung“ der Arbeiterschaft vor den die Sozialforscher des 19. Jahrhunderts. 1886 Gefahren von Armut, Elend und Sozialismus ge- startete in England eines der größten Sozialfor- hen sollte, blieben häufig die außen vor, die be- schungsunternehmen der Zeit, nämlich die von reits im Elend lebten. 20 dem Geschäftsmann Charles Booth initiierte Stu- Aus den diffamierenden Diskursen über die die „Life and Labour of the People in London“, „residualen“ und „nutzlosen“ Elemente der Ge- sellschaft schälte sich im weiteren Verlauf des 14 Rebekka Habermas, Wie Unterschichten nicht dargestellt 20. Jahrhunderts die Figur des „Asozialen“ he- werden sollen: Debatten um 1890 oder „Cacatum non est raus. Damit war ein zunehmend biologistisches pictum!“, in: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hrsg.), Unterschicht. Verständnis von sozialer Marginalität und sozia- Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart, Freiburg/Br. 2008, S. 97–122. 15 Vgl. Habermas (Anm. 14), Zitat S. 120. Für eine weiter- 17 Vgl. dazu und zum Folgenden Rolf Lindner, Walks on the führende Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frank­furt/M. Literaturpolitik im Kontext der Debatten um „Schmutz und 2004, S. 71–95. Schund“ vgl. Jens Wietschorke, Schundkampf von links. Eine 18 Zit. nach ebd., S. 81. Skizze zur sozialdemokratischen Jugendschriftenkritik vor 1914, 19 Ebd., S. 84. in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen 20 Für eine Fallstudie zu diesem Thema vgl. Jens Wietschorke, Literatur 2/2010, S. 157–175. Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin 1911–1933, 16 Schwartz (Anm. 10), S. 542. Frank ­furt/M. 2013, S. 114–120.

36 Hartz IV APuZ ler Devianz verbunden: Wer in „verschuldete Ar- miertes „Unten“ abgrenzte. 24 Im Osten dagegen mut“ geriet oder durch unangepasstes Verhalten produzierte der „Aufbau des Sozialismus“ eige- auffiel, wurde mittels sozialrassistischer Klassi- ne Grenzziehungen gegenüber „Dissozialität“ fikationsmuster als notorisch „gemeinschafts- und „Asozialität“ – wobei der 1968 eingeführte fremd“ ausgegrenzt. 21 Dieser Diskurs gewann Paragraf 249 die „Gefährdung der öffentlichen während der Krisenjahre der Weimarer Republik Ordnung durch asoziales Verhalten“ sogar straf- an Boden und rückte nach 1933 ins Zentrum der rechtlich relevant machte. 25 „Unwürdige“ Armut staatlichen Politik in Deutschland im Umgang bildete so gleichsam „das Fremde im Innern der mit den „nicht respektablen“ Unterklassen. Im DDR“. 26 Auf diese Weise blieb die Respektabi- Rahmen der nationalsozialistischen „Volks- und litätsgrenze als Klassifikationskriterium in bei- Erbgesundheitspflege“ wurden zahllose „Asozi- den deutschen Staaten erstaunlich intakt, was ale“ und „Gemeinschaftsfremde“ sanktioniert, in – in neuer Weise – auch für das wiedervereinig- Konzentrationslager eingewiesen und ermordet. te Deutschland gilt. Durch eine Reihe von dis- Grundsätzlich fungierte der Begriff des „Aso- kursiven Verschiebungen der 1990er und 2000er zialen“ als eines der konstitutiven Gegenstücke Jahre erfuhr der dichotomische, moralisierende zur Konstruktion des „Volkes“ und der „Volks- Blick auf Armut und Arbeitslosigkeit sogar einen gemeinschaft“; in der Praxis blieb seine Verwen- neuen Schub: Ausgerechnet die sozialpolitischen dung aber stets schwammig und willkürlich, so- Reformpakete führender sozialdemokratischer dass fallweise auch Juden, Homosexuelle, Sinti Parteien in Europa sorgten dafür, dass nochmals und Roma oder politische Oppositionelle mit verstärkt in den Kategorien von deserving und dieser Zuschreibung belegt wurden. 22 undeserving gedacht wurde. Eine Unterschichtdebatte wurde in den USA DIE GEWASCHENEN UND schon in den 1980er Jahren geführt, als der Jour- DIE UNGEWASCHENEN nalist Ken Auletta und der Politikwissenschaftler Charles Murray in ihren Büchern die Existenz ei- In beiden deutschen Staaten etablierten sich nach ner underclass behaupteten, die Drogenabhängige 1945 Diskurse sozialer Deklassierung, die in ih- und entlassene Strafgefangene ebenso umfassen ren Grundzügen das alte Muster von deserving sollte wie Obdachlose, notorische Wohlfahrts- und undeserving aufgriffen, in denen aber auch bezieher und illegale Einwanderer. 27 Kernpunkt immer wieder der Begriff des „Asozialen“ vor- ihrer Argumentationen war die Unterstellung ei- kam. Der Historiker Christoph Lorke hat ge- nes devianten kulturellen Musters von bad valu- zeigt, dass es sowohl im Rahmen der Sozialen es, das sich vom Wertehorizont der bürgerlichen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik als auch Gesellschaft kategorisch unterschied. Die Zuge- im entwickelten DDR-Sozialismus zu spezifi- hörigkeit zur underclass wurde hier also dezi- schen De- und Rethematisierungen von „unwür- 23 diger“ Armut kam. Im Westen überdeckten die 24 Zur „Mitte“ als neuer Leitidee der bundesrepublikanischen soziologischen Behauptungen einer „Klassenge- Gesellschaftsanalyse in den 1950er und 1960er Jahren vgl. sellschaft im Schmelztiegel“ (Theodor Geiger) ausführlich Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. und einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 318–351. (Helmut Schelsky) die Tatsache, dass sich die- 25 Vgl. Lorke (Anm. 23), S. 200–221; Sven Korzilius, „Asoziale“ se „Mitte“ nach wie vor gegen ein vielfach diffa- und „Parasiten“ im Recht der DDR. Randgruppen im Sozialis- mus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005; sowie detailliert zum § 249 Matthias Zeng, „Asoziale“ in der DDR. 21 Zum nicht unproblematischen Begriff des „Sozialrassismus“ Transformationen einer moralischen Kategorie, Münster 2000, in diesem Zusammenhang vgl. Julia Hörath, „Asoziale“ und S. 36–39. „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, 26 Thomas Lindenberger, „Asoziale Lebensweise“. Herrschafts- Göttingen 2017, S. 24 f. legitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines 22 Für einen Überblick vgl. Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im „negativen Milieus“ in der SED-Diktatur, in: Geschichte und Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Dietmar Sedlaczek (Hrsg.), Gesellschaft 31/2005, S. 227–254, hier S. 233. „minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesell- 27 Ken Auletta, The Underclass, New York 1982; Charles schaftlicher Außenseiter, Zürich 2005; Hörath (Anm. 21). Murray, Losing Ground. American Social Policy 1950–1980, 23 Christoph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die New York 1984. Vgl. dazu Karl August Chassé, Unterschichten in Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Wiesba- der DDR, Frank­furt/M. 2015. den 2010, S. 161 f.

37 APuZ 44–45/2019 diert auf soziales Handeln und soziale Wertvor- litik“ der Hartz-Gesetze und der sie begleitenden stellungen bezogen und damit moralisiert. Diese Debatte, „die die Schieflagen, Risiken und For- Debatte liest sich wie ein Vorspann zu dem, was men struktureller Benachteiligung auf dem Ar- der Berliner Historiker Paul Nolte 2004 in sei- beitsmarkt in eine Rhetorik subjektiver Defizite nem Buch „Generation Reform“ schrieb. Auch und individuellen Versagens übersetzt und da- bei Nolte wurde, so der Soziologe Karl August durch entpolitisiert“. 34 Die von Hartz IV vorge- Chassé, soziale Ungleichheit „nicht nur in klas- sehene Prüfung der Hilfebedürftigkeit ist dabei sentheoretischen Begriffen beschrieben“, son- ebenso als Disziplinierungsmaßnahme zu werten dern „auf die Lebensweise und die Mentalitäten wie die strengen Zumutbarkeitsregeln und vor al- der betroffenen Gruppen zurückgeführt und in- lem die Maßnahmen zur Integration in den Ar- sofern kulturalistisch bestimmt“. 28 Nolte forder- beitsmarkt. 35 Diese „aktivierende“ Politik soll te eine „gestärkte Verantwortung für die eigene Erwerbslose dazu verpflichten, ihren Status als Lebensführung“ 29 ein, womit das Problem der deserving poor durch Flexibilität, Aktivität und sozialen Marginalisierung letztlich an die Betrof- Selbstführung unter Beweis zu stellen. Dabei be- fenen zurückgereicht wurde. Er sprach von „Er- deutete Hartz IV de facto die „größte Kürzung ziehungskatastrophen“ und „kultureller Ver- von Sozialleistungen seit 1949“, wie es Rüdiger nachlässigung“ 30 und beschrieb Trash-TV und Soldt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Fast Food als konstituierende Effekte der Un- auf den Punkt brachte. 36 terschicht. Wenn Nolte zu dem Schluss kommt, Geld sei in vielen Fällen keine Lösung der Pro- AUSWEG BEDINGUNGSLOSES bleme, weil es nicht automatisch in Bildung oder GRUNDEINKOMMEN? bessere Ernährung, sondern „tendenziell inner- halb der Grenzen der eigenen Klassenkultur in- Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in vestiert“ 31 werde, dann evoziert er pauschalisie- den 1990er und 2000er Jahren zwei grundlegen- rende Vorstellungen von Menschen, die ihre paar de sozialpolitische Konzepte reaktiviert wurden, Euro in Nordhäuser Doppelkorn, Aldi-Zigaret- die wir aus der Geschichte der Armenfürsorge ten, Big-Macs, Pornos und Bezahlfernsehen ste- bereits kennen: Erstens setzte man auf das Prin- cken – und stellt nebenbei fast schon den Sinn so- zip der Integration durch Arbeit und bestimm- zialstaatlicher Transferleistungen infrage. te so die Armut negativ durch den Bezug auf Mit einer entlarvenden Szene hat dann der Erwerbsarbeit. Zweitens zielten einige der neu- SPD-Vorsitzende Kurt Beck 2006 der kultura- en Ansätze auf die Beeinflussung von Mentalität listischen Deutung von Armut und Arbeitslosig- und Lebensführung – und damit auf Erziehung keit weiteren Stoff geliefert: Etwa zwei Monate, der Unterklassen. Insbesondere mit der Koppe- nachdem er in einem Interview in der „Frankfur- lung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe etablierte ter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erklärt hat- die aktivierende Arbeitsmarktpolitik ein Regime, te, Deutschland habe ein Unterschichtenprob- das Armut an die Normvorstellungen geregelter lem, rief er einem Langzeiterwerbslosen auf dem und „nützlicher“ Arbeit sowie geordneter, dis- Mainzer Weihnachtsmarkt zu: „Wenn Sie sich ziplinierter Lebensführung zurückbindet. Aus waschen und rasieren, dann haben Sie in drei dieser Perspektive reihen sich die Hartz-Gesetze Wochen einen Job.“ 32 Das war eine weitere Va- in eine Geschichte der Moralisierung und Diszi- riation des alten Themas „Jeder, der will, kann arbeiten“, 33 es war aber auch ein sprechender Kommentar zur „aktivierenden Arbeitsmarktpo- 34 Rolf Lindner/Lutz Musner, Vorwort, in: dies. (Anm. 14), S. 7 f., hier S. 8. 35 Für einen knappen Überblick über die Eckpunkte der 28 Ebd., S. 40. Hartz-Gesetze vgl. Klaus Dörre et al., Bewährungsproben für die 29 Paul Nolte, Generation Reform. Jenseits der blockierten Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Republik, München 2004, S. 128. Frank ­furt/M. 2013, S. 24–31. 30 Ebd., S. 99, S. 133. 36 Rüdiger Soldt, Hartz IV – Die größte Kürzung von So- 31 Ebd., S. 65. zialleistungen seit 1949, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 32 Vgl. Chassé (Anm. 27), S. 13. 30.. 6 2004, S. 3. Für eine knappe, aber differenzierte Bestands- 33 Vgl. Johannes Moser, Jeder, der will, kann arbeiten. Die kul- aufnahme der Hartz-Gesetze vgl. auch Irene Dingeldey, Bilanz turelle Bedeutung von Arbeit und Arbeitslosigkeit, Wien–Zürich und Perspektiven des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, in: APuZ 1993. 10/2015, S. 33–40.

38 Hartz IV APuZ plinierung ein, die stets – ob explizit oder impli- perimente dagegen. 40 Er zitiert unter anderem zit – mit den Zuschreibungen von deserving und den Ökonomen Charles Kenny mit dem einpräg- undeserving operiert. In der gleichen dichotomi- samen Satz: „Wenn Menschen arm sind, so liegt schen Logik, in der schon „Volk“ von „Pöbel“ das vor allem daran, dass sie nicht genug Geld ha- und „Proletariat“ von „Lumpenproletariat“ un- ben.“ 41 Vor dem Hintergrund der hier skizzier- terschieden wurden, stehen sich nun tendenziell ten Geschichte moralisierender Diskurse über die wieder ein arbeitendes und ein abgehängtes Pre- Unterklassen wäre die Einführung eines bedin- kariat gegenüber. gungslosen Grundeinkommens ein wahrhaft his- Wer sich dafür interessiert, wie Hartz-IV- torischer Einschnitt. Ein solches Modell würde Empfänger im Zeichen einer „Zweiteilung der die alten Denkmuster von welfare und workfa- Gesellschaft in Beschäftigbare und Nicht-Be- re überwinden und vor allem ein neues Verständ- schäftigbare“ 37 mit den Zumutungen dieser stig- nis von Eigenverantwortung etablieren helfen: matisierenden Situation umgehen, dem seien ak- Eigenverantwortung würde dann nicht mehr be- tuelle ethnografische Arbeiten wie die brillante deuten, im Rahmen staatlicher Disziplinierungs- Studie „Respektabler Alltag“ der Kulturwissen- maßnahmen kooperieren und die eigene Arbeits- schaftlerin Anna Eckert empfohlen, die sichtbar kraft oft weit unter Wert verkaufen zu müssen, macht, wie Hartz IV eine machtvolle „Differenz­ sondern sie wäre eine Chance, das Leben auch ordnung“ 38 produziert hat. Eckert zeigt, wie sich unter schwierigen Umständen mit sanktionsfrei Betroffene in der Grauzone von Respektabilität zur Verfügung stehenden Mitteln – und damit und Nicht-Respektabilität einrichten müssen – in voller Respektabilität – in die Hand nehmen und wie sie das teilweise unter Ausnutzung aller zu können. verfügbaren materiellen und symbolischen Res- sourcen tun. Eine Chance, diesem Dilemma endlich zu entkommen, wäre die Einführung eines bedin- gungslosen Grundeinkommens, wie es seit vielen Jahren – und in vielen verschiedenen Varianten – kontrovers diskutiert wird. In den Debattenbei- trägen zu diesem Thema tauchen Argumente auf, wie sie auch gegen die Unterstützung der undes- erving poor immer wieder vorgebracht wurden: Das Grundeinkommen würde die Universali- sierung der „sozialen Hängematte“ bedeuten; es wäre, so etwa der damalige Generalsekretär der SPD, Hubertus Heil, heute Arbeits- und Sozial- minister, eine „Stillegungsprämie“, die Menschen mit Geld abfinde, anstatt sie zur Arbeit zu mo- tivieren. 39 Der niederländische Historiker Rut- ger Bregman lehnt solche Einwände ab und hält die Ergebnisse zahlreicher Pilotstudien und Ex-

37 Gertraude Mikl-Horke, Industrie- und Arbeitssoziologie, München–Wien 20076, S. 262. 38 Anna Eckert, Respektabler Alltag. Eine Ethnographie von Erwerbslosigkeit, Berlin 2018, S. 29. 39 Zit. nach Michael Opielka/Wolfgang Strengmann-Kuhn, JENS WIETSCHORKE Das Solidarische Bürgergeld – Finanz- und sozialpolitische ist Akademischer Rat am Institut für Empirische Analyse eines Reformkonzepts, in: Michael Borchard (Hrsg.), Das Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Solidarische Bürgergeld – Analysen einer Reformidee, Stuttgart LMU München und arbeitet derzeit als Heisenberg- 2007, S. 13–141, hier S. 44. Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft 40 Rutger Bregman, Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslo- am Institut für Europäische Ethnologie der se Grundeinkommen, Reinbek 2017. Universität Wien. 41 Ebd., S. 38. [email protected]

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HARTZ IV ALS PROBLEMGESCHICHTE DER GEGENWART Ursula Bitzegeio

Arbeitslosigkeit und die soziale Situation von Ar- nach 1989/90. Welche Spezifika wies die deutsche beitslosen sind für westliche Industrie- und Ar- Arbeitslosigkeit im Vorfeld der Hartz-IV-Refor- beitsgesellschaften seit ihren Anfängen immer ein men auf, welche Konfliktkonstellationen und wel- politisches und soziales „Schreckgespenst“ ge- cher Handlungsdruck bestanden? Bezogen auf wesen. 01 Ihre statistische Erfassung, sozialwis- die Arbeitslosigkeit und auch das Armutsrisiko senschaftliche Erforschung und gesellschaftliche in Deutschland bleibt unbestritten, dass nach ei- Bearbeitung waren und sind fester Bestandteil ner kurzen Zeit der Vollbeschäftigung Ende der bei der Indizierung und Erzählung politischer 1940er Jahre und der darauffolgenden konjunktu- (auch ökonomischer) Erfolge und Misserfolge. rellen Boomphase die Arbeitslosenzahlen von den In der neuesten Zeitgeschichte der Bundesrepu- 1970er Jahren bis 2002 kontinuierlich und rasch blik Deutschland werden entlang ihrer Quote so- anstiegen und zu einem gesellschaftlichen Problem gar (Neu-)Periodisierungen vorgenommen und geworden waren, das nicht selten als „massiv“ Strukturbrüche markiert. 02 oder „monströs“ attribuiert wird. 04 In Forschun- So werden die Hartz-Reformen häufig als gen zu Arbeitslosigkeit im Spiegel von Hartz IV struktureller wie auch moralischer Bruch in der wird die Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit Geschichte der deutschen (Sozial-)Politik darge- nach 1970 als „persistente[r] Zustand“ und als eine stellt, verbunden mit sozialen und psychologi- „ungeheure komplexe und zudem gefährliche Er- schen Folgen für die Betroffenen. Der Politikwis- scheinung“ beschrieben, die sowohl auf der „in- senschaftler Matthias Kaufmann etwa zeichnet dividuellen wie gesamtgesellschaftlichen Ebene in seiner kritischen Studie über das Bild von Er- destabilisierende Folgen“ impliziert habe. Als spe- werbslosen in der Debatte um die Hartz-Refor- zifisch bis 2002 wird vor allem die „Sockelarbeits- men ein düsteres Tableau aus Ressentiments, Ste- losigkeit“ genannt, die sich in jeder Rezession er- reotypisierung und Diskriminierung gegenüber höhte und auch in konjunkturellen Hochphasen Arbeitslosen, die sich in Reden und öffentlichen nicht mehr abgebaut werden konnte. Vollbeschäf- Aussagen so gut wie aller politisch Beteiligter an tigung war von einer gesellschaftlichen „Vision“ Hartz IV gezeigt hätten. 03 Die Polemiken gegen zu einer „Illusion“ geworden. 05 Arbeitslose in den Auseinandersetzungen um Dementsprechend werden der Druck auf die die Reform stechen in der Tat vor dem Hinter- politische Führungsmannschaften der 1990er grund der Tradition der SPD als Partei der „so- und beginnenden 2000er Jahre als äußerst hoch zialen Gerechtigkeit“ und traditionelle „Hüterin eingeschätzt, die Reformjahre 1998 bis 2005 als des Sozialstaats“ besonders schmerzhaft hervor. „wichtige Phase der Geschichte“ und die Hartz- Sie können als ein Axthieb in den Spaltungspro- IV-Reformen als größter Modernisierungsschub zessen der 2000er Jahre verstanden werden, der des 21. Jahrhunderts beschrieben. 06 Vor diesem schließlich zur Gründung der Wahlalternative Hintergrund erscheint es fraglich, die Hartz-IV- Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) führ- Reformen zeitgeschichtlich vor allem als morali- te, die 2007 zusammen mit der PDS in der Partei schen Bruch, speziell durch die SPD, im Umgang Die Linke aufging. mit Erwerbs- und Arbeitslosen zu bewerten, Unabdingbar für eine Analyse der Hintergrün- denn die Aufrichtigkeit des Ansinnens aller betei- de, Motivationen und Kontexte ist der Blick auf ligten Sozialreformer, möglichst rasch Massenar- die historischen Entwicklungen nach dem „Struk- beitslosigkeit zu bekämpfen, ist in der Rückschau turbruch“ der 1970er Jahre und den tief greifen- kaum zu bezweifeln. Die Auseinandersetzungen den Transformationen der deutschen Gesellschaft um den „Dritten Weg“ der SPD kreisten um das

40 Hartz IV APuZ

„Wie“, nicht um die Kernanliegen selbst. 07 Der eine Rolle gespielt haben. Auch lohnt es sich, die Politikwissenschaftler Josef Schmid bemerkt, dass Geschichte der Hartz-IV-Reformen nicht nur aus eine „starke Evidenzbasierung“ des Reformeifers der makroökonomischen und „Standort“-Pers- in der Arbeitsmarktpolitik hinzukam, verbunden pektive zu erzählen, sondern die Rolle und Be- mit der Evaluierung von Programmen und Maß- deutung der Arbeitslosen als Akteure im Reform- nahmen aus mikroökonomischen und psycholo- prozess hervorzuheben. gischen Perspektiven. Viele Instrumente wurden Im Folgenden versuche ich einzuschätzen, von der Wissenschaft als „relativ unwirksam“ be- ob Hartz IV beziehungsweise dem gesamten Re- schrieben und so „der Reformdruck“ erhöht. 08 formpaket „epochale“ Brüche und Paradigmen- Dennoch haben die Maßnahmen der Sozial- wechsel tatsächlich zugeschrieben werden kön- staatsreform unter dem Label „Hartz IV“ zu öf- nen und welche Bedeutung der Reform in einer fentlichen Debatten und zu Protesten der Betrof- Problemgeschichte der Gegenwart zukommt, da fenen geführt. Es herrschte die Befürchtung, bei weder die Bekämpfung der manifesten Arbeits- längerer Arbeitslosigkeit den erarbeiteten Le- losigkeit noch der Reformprozess und schon gar bensstandard nicht halten zu können, und oft nicht der politische Streit um Arbeitslosen- und wurde der „Mangel an Fördern im Verhältnis zum Grundsicherung abgeschlossen sind. Auch stellt Fordern“ kritisiert. Positive Elemente der Refor- sich heute die Frage, inwieweit die Langzeit- men, wie der Zugang zu Leistungen und Förde- wirkungen von Hartz IV für den Aufstieg des rungen bislang nicht versicherter, aber arbeitssu- Rechtspopulismus mitverantwortlich sind. chender Menschen, wurden nicht oder schlecht kommuniziert und kaum wahrgenommen. 09 AKTIVIERENDE SOZIALPOLITIK – Diskutiert werden kann aber sehr wohl, ob EIN HISTORISCHER nicht in Bezug auf die Sorgfalt und Qualität der PARADIGMENWECHSEL? Planung und Umsetzung der Arbeitsmarktpolitik und der Sozialstaatsreformen grundlegende poli- Den Hartz-Reformen der rot-grünen Regierung tische Konflikte, die Besonderheit medialer Aus- (1998–2005) lagen Ideen zugrunde, den fürsorgen- einandersetzungen, wahltaktische Überlegungen den in einen aktivierenden Sozial- beziehungswei- und Machtkonstellationen innerhalb der SPD se Wohlfahrtsstaat (auch „Gewährleistungsstaat“) umzuwandeln. Kernelemente bildeten Maßnah-

01 Vgl. Tobias Müller, Was haben die Hartz-IV-Reformen men der Flexibilisierung, Deregulierung und Pri- bewirkt? Zu Ausmaß, Ursachen und Folgen der Arbeitslosigkeit vatisierung, Beschäftigungsimpulse und Aktivie- in Deutschland, Berlin 2009, S. 16. rung und Befähigung der Arbeitnehmerschaft im 02 Vgl. ebd. S. 15 ff.; Ulrich Walwei, Agenda 2010 und Ar- Sinne einer „optimalen Anpassung an die Bedürf- beitsmarkt. Eine Bilanz, in: APuZ 26/2017, S. 25–33, hier S. 31; nisse“ des Arbeitsmarktes. 10 Vorbereitet wurde Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; die Einführung „moderner Dienstleistungen am Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschafts- Arbeitsmarkt“ durch die Hartz-Kommission, die geschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019. 13 Innovationsmodule erarbeitete, mit denen in- 03 Vgl. Matthias Kaufmann, Kein Recht auf Faulheit. Das nerhalb weniger Jahre die Arbeitslosigkeit deut- Bild von Erwerbslosen in der Debatte um die Hartz-Reformen, lich minimiert werden sollte. Die Kommission Wiesbaden 2013, S. 297–315. Siehe für eine breitere historische Einordnung den Beitrag von Jens Wietschorke in dieser Ausgabe wies in ihrer Berichterstattung darauf hin, dass die (Anm. d. Red.). Arbeitslosigkeit nicht nur unmittelbar Betroffene 04 Vgl. Müller (Anm. 1), S. 48–53, S. 89–100. schwer belaste, sondern auch weitreichende ge- 05 Ebd., S. 48 ff., S. 101. samtgesellschaftliche Folgen habe. Wichtige Res- 06 Christian Lahusen/Britta Baumgarten, Das Ende des sozia- sourcen heutiger und zukünftiger Generationen len Friedens? Politik und Protest in Zeiten der Hartz-Reformen, Frank ­furt/M.–New York 2010, S. 10 ff. würden „vernichtet“ oder blieben „ungenutzt“. 07 Vgl. Sebastian Nawrat, Agenda 2010 – ein Überraschungs- Der Arbeitsmarkt wurde als zu wenig dynamisch, coup? Kontinuität und Wandel in den wirtschafts- und sozial- politischen Programmdebatten der SPD seit 1982, Bonn 2012, S. 229. ff 10 Vgl. Lahusen/Baumgarten (Anm. 6), S. 47; Anke Hassel/ 08 Josef Schmid, Der Arbeitsmarkt als Problem und Politikum. Christof Schiller, Der Fall Hartz VI. Wie es zur Agenda 2010 kam Entwicklungslinien und aktuelle Tendenzen, in: APuZ 26/2017, und wie es weiter geht, Frank­furt/M.–New York 2010, S. 47; S. 11–17, hier S. 13. Irene Dingeldey, Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpoliti- 09 Vgl. ebd. sche Steuerung, in: APuZ 8–9/2006, S. 3–9.

41 APuZ 44–45/2019 die gängige Arbeitsvermittlung als umständlich delt werden konnte. Massenarbeitslosigkeit habe und schleppend und die Trennung von Arbeits- sich jedoch längst zum Strukturproblem ausge- losengeld und Sozialhilfe als enormer finanzieller weitet und eine harte Belastung für den bis dahin Aufwand für den Staat charakterisiert. Nicht zu- bestehenden Konsens in der Sozialpolitik dar- letzt hatte der Vermittlungsskandal in der Bundes- gestellt. 13 Die Hartz-Reformen seien in diesem anstalt für Arbeit von 2002 zutage gefördert, dass Sinne kein historischer Bruch, sondern vielmehr nur ein geringfügiger Teil der ausgewiesenen Ver- eine Neupriorisierung: „In ihrer Summe bekräf- mittlungen tatsächlich stattgefunden hatte. 11 tigen diese Reformen eine moralische Pflicht des Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienst- Einzelnen zur Erwerbsarbeit und eine politische leistungen am Arbeitsmarkt erfolgte zum 1. Januar Pflicht der Allgemeinheit zur erwerbsmäßigen 2005 die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Befähigung des Einzelnen (…), in diesem Sinne Sozialhilfe. Im Sozialgesetzgesetzbuch wurde der werden Rechtsansprüche auf die Solidarität der Grundsatz des „Fördern und Fordern“ verankert Gemeinschaft durch das Aktivierungsparadigma und die Zumutbarkeit für Arbeitssuchende ver- stärker relativiert, jedoch nicht ausgesetzt“. 14 schärft. Bei den Kritikern und auch in Teilen der Die PolitikwissenschaftlerInnen Anke Hassel Politik- und Sozialforschung wurden bereits kurze und Christof Schiller stellen allerdings fest, dass Zeit später die Maßnahmen als Teil eines „neoklas- die zeitliche Dimension des Aktivierungsprofils sischen Projekts“ beschrieben: Das „Humanka- der Hartz-IV-Reformen im europäischen Ver- pital der Arbeitslosen“ solle ausgebaut und die gleich eine Ausnahme ist. Wie in keinem anderen „Vermittlungsgeschwindigkeit“ erhöht werden, europäischen Staat wurden schlagartig die Ar- die Stärkung des Niedriglohnbereichs ziele auf die beitslosenversicherung und gleichzeitig die Or- Dynamisierung und Flexibilisierung des Arbeits- ganisation der Arbeitsvermittlung umgebaut, aus marktes. Durch die Umsetzung dieses Projekts historischer Perspektive sei eine so „umfassen- ziehe sich der Staat zeitgleich zurück und delegiere de“ Arbeitsmarktreform „beispiellos“. So ähn- seine „ehemalige Verantwortung sukzessive an die lich oder unterschiedlich die sozial- und arbeits- Arbeitslosen“. 12 marktpolitischen Aktivierungsprofile anderer Diesen Rückzug aus der Fürsorge als eine europäischer Staaten zu diesem Zeitpunkt auch plötzliche Hinwendung zum „Aktivierungspara- waren, sie verband, dass die Aktivierungsmaß- digma“ oder gar als „Bruch mit der Geschichte“ nahmen „schrittweise“ und mit langer Anlaufzeit zu werten, greift meiner Meinung nach jenseits eingeführt wurden. Sie hatten oft eher „Experi- der neuen Bundesländer zu kurz: Auf der Suche mentcharakter, der später zu Modifizierungen“ nach den Pfaden hin zu Hartz IV sind durchaus führte. 15 Vielleicht hätte eine längere Modellie- arbeitsmarktpolitische und sozialpolitische Kon- rungsphase Konzeptionsmängel, Unklarheiten tinuitäten zu erkennen. Die SoziologInnen Chris- und auch Ungerechtigkeiten sowie die folgen- tian Lahusen und Britta Baumgarten bemerken, den politischen Konflikte und Proteste abschwä- dass die Aktivierungsidee schon vorher zu einem chen können. Eine tiefer gehende europäische Wesensmerkmal des deutschen Wohlfahrtsstaats Vergleichsgeschichte, die dies aufzeigen könnte, gehört habe. Es stimme zwar, dass der Staat das muss noch geschrieben werden. „Primat der Erwerbsarbeit“ durch den kontinu- ierlichen Ausbau sozialer Rechte im Sinne der HARTZ IV ALS PROGRAMM- Dekommodifizierung „gemindert“ habe. Dies UND KONFLIKTGESCHICHTE habe aber nur so lange gegolten, wie die Arbeits- DER SOZIALDEMOKRATIE losigkeit als „gesellschaftlicher Ausnahmezu- stand“ und als Thema von Randgruppen behan- Ein Blick auf die Programmdebatten der SPD in den 1980er und beginnenden 1990er Jahren zeigt, 11 Abschlussbericht der Kommission Moderne Dienstleistungen dass in den langen Jahren der Opposition der am Arbeitsmarkt, 16. 8. 2002, S. 12–37; zur Einführung Jovan Wohlfahrtsstaat und die sozialen Sicherungssyste- Zdjelar, Hartz IV – Eine kritische Bestandsaufnahme. Ein Über- blick über die Arbeitsmarktreform und die kritische Auseinan- dersetzung von Verbänden und Gewerkschaften mit den neuen 13 Lahusen/Baumgarten (Anm. 6), S. 47 f.; Schmid (Anm. 8), Gesetzen, München 2006; Einführung zur Hartz-Reform, hrsg. S. 15. f von Brigitte Steck/Michael Kossens, München 2003. 14 Ebd., S. 48. 12 Müller (Anm. 1), S. 245 f. 15 Hassel/Schiller (Anm. 10), S. 29.

42 Hartz IV APuZ me als ausbaufähig und stabil wahrgenommen und immer wieder in Flügelkämpfen ausgetragen wird. nicht auf den Prüfstand gestellt worden sind. In- Auch war die Neuorientierung der Partei durch novativer wurde dagegen mit Blick auf das grüne Machtkämpfe zwischen den sogenannten Enkeln Wählerklientel eine ökologische Transformation Willy Brandts (Oskar Lafontaine, Björn Engholm, der Wirtschaftspolitik („grüner Keynes“) auf der Gerhard Schröder und Rudolf Scharping) stark Grundlage staatlicher Steuerungsansprüche disku- beeinträchtigt. Ebenso galt es, die wahlstrategi- tiert. In den 1990er Jahren sollte sich dies ändern. schen Konsequenzen einer Hinwendung zur Mit- Die anhaltende Krise auf dem Arbeitsmarkt und te mit Blick auf linkslibertäre Konkurrenz ernst zu die weiterhin steigende Arbeitslosigkeit drohte zu- nehmen. Die „Zwangslage“ der SPD bestand da- nehmend die sozialen Sicherungssysteme zu unter- rin, dass sie entweder in die Mitte rücken und mit- minieren. Gleichzeitig wurde die öffentliche und regieren konnte, dann aber linke Wählerstimmen politische Rezeption der Globalisierung und der riskierte. Oder sie maximierte ihr Wählerpoten- internationalen Standortdebatte sowie der Auswir- zial innerhalb des Lagers links der Mitte, könnte kungen der Wiedervereinigung und von Privatisie- so aber ihre Mehrheitsfähigkeit preisgeben. Has- rungen von einer marktliberalen Grundstimmung sel und Schiller bemerken, dass diese Zwangslage getragen. Die „historische“ SPD, deren Hauptan- von den neuen Anwärtern auf das Amt des Vor- liegen es war, die arbeitende Bevölkerung ökono- sitzes oder der Kanzlerkandidatur genutzt wor- misch, politisch und sozial zu schützen, sah sich den sei, um Rivalen aus dem Feld zu schlagen. Sie zunehmend der Frage ausgesetzt, wie sie dieses kommen zu dem Schluss, dass vor dieser Folie der Ziel im 21. Jahrhundert noch erreichen wollte. 16 „Neue-Mitte-Wahlkampf 1998, die Agenda 2010 Der Historiker Sebastian Nawrat bewertet den und die Hartz IV-Reformen ein Versuch Gerhard Prozess der Agendapolitik seit den 1990er Jahren Schröders“ waren, „die Ausrichtung der SPD als wie folgt: „Die geräuschlose Adaption marktlibe- eine dynamische Reformpartei in der Mitte des raler Programmaussagen in den wirtschafts- und Parteienspektrums zu verankern“. 19 sozialpolitischen Programmdebatten verlief ohne Nicht nur der innerparteiliche Konfliktherd eine konsistente Strategie, aber im akkumulier- auf dem Weg zur Mitte rahmte die Hartz-IV-Re- ten Effekt mit strukturverändernder Tiefenwir- formen, sondern auch ein schleichender Abschied kung“. 17 Die SPD wandte sich in diesem Prozess von der traditionellen Arbeitnehmerpolitik und schrittweise einer angebotsorientierten Wirt- damit ein Verzicht der SPD auf organisatorische schaftspolitik zu. Dies offenbart sich beispielswei- und milieugebundene Querverbindungen zu den se im Plädoyer für Haushaltskonsolidierungen, Gewerkschaften. Dazu trug eine wechselseiti- Steuer- und Abgabensenkungen, eine Rückfüh- ge Distanzierung von SPD und Gewerkschaften rung des öffentlichen Beschäftigungssektors, eine bei, die sich weit vor der faktischen Aufkündi- stabilitätsorientierte Geldpolitik und schließlich gung des Kooperationsprojekts Bündnis für Ar- für eine kontrollierte Deregulierung des Arbeits- beit 2001 und den Debatten um die Agenda 2010 marktes. Für Nawrat sind Agenda 2010 und die abzuzeichnen begann. In den 1980er und 1990er Hartz-Reformen insofern kein „Überraschungs- Jahren war den Gewerkschaften im Deutschen coup“ , sondern die Spitze einer programma- Gewerkschaftsbund (DGB) nach wie vor auf ide- tischen Transformation seit den frühen 1990er eller Ebene an einer „politischen Einheit der Ar- Jahren, die erst „im Nachhinein eine immense per- beiterbewegung“ und damit an sehr guten Be- formative Qualität“ entwickelt habe. 18 ziehungen zur Sozialdemokratie gelegen. Noch In den 1990er Jahren sah die SPD-Führung bestanden zahlreiche personelle und parlamen- ihre einzige Chance, Wahlen für sich zu entschei- tarische Querverbindungen. Zeitgleich emanzi- den, in einer programmatischen Annährung an pierten sie sich vom gesamten politischen Partei- die gesellschaftliche Mitte – eine strategische Ent- enspektrum, um ihre tarifpolitischen Interessen scheidung, die bis heute unter den FunktionärIn- autonom zu vermitteln. Sie verstärkten auch al- nen und in der Mitgliedschaft umstritten ist und ternative Bündnisse, wie zur Friedensbewegung,

16 Vgl. ebd., S. 143 ff.; Nawrat (Anm. 7), S. 298 ff.; Lahusen/ 19 Hassel/Schiller (Anm. 10), S. 147. Siehe auch Thomas Baumgarten (Anm. 6), S. 47. Meyer, From Godesberg to the Neue Mitte. 17 Nawrat (Anm. 7), S. 299 f. in Germany, in: Anthony Giddens (Hrsg.), The Global Third Way 18 Ebd. Debate, Cambridge 2001, S. 74–85, hier S. 78 ff.

43 APuZ 44–45/2019 zu außerparlamentarischen Gruppen und zu neu- ins Rollen gebracht. Vielmehr organisierten sich en internationalen Bewegungen wie Attac. 20 Die die Betroffenengruppen zunächst selbst, dann zunehmenden Spannungen und Konflikte der mit zunehmender Unterstützung einzelner Poli- „ungleichen Schwestern“ eskalierten schließlich tiker, wie Oskar Lafontaine, von Kirchenvertre- in den Protesten gegen die Hartz-IV-Reform, tern, von lokalen und regionalen Gewerkschafts- mit Folgen, die noch heute im Verhältnis von Ge- gliederungen, anderen sozialen Bewegungen und werkschaften und SPD wahrnehmbar sind. der PDS. Während der DGB sich zunehmend zu- rückhaltend zu den „Weg mit Hartz IV!“-Protes- HARTZ IV ALS EUROPÄISCHE ten äußerte, ohne jedoch seine Bezirke und Regi- PROTESTGESCHICHTE onen von einer Teilnahme abzuhalten, begrüßte der Ver.di-Bundesvorstand die Demonstrationen Anlässlich der bevorstehenden Verabschiedung gegen die „sozialen Zumutungen von Hartz IV“ des Hartz-IV-Gesetzes durch den Bundesrat rie- ausdrücklich. 24 fen am 3. April 2004 die Gewerkschaften zu einem An jedem Montag demonstrierten mehr und europaweiten „Aktionstag gegen den Sozialab- mehr Menschen in den (meist ostdeutschen) Städ- bau“ auf. Damit gingen sie erneut auf Konfron- ten und stellten sich in die Tradition der „Mon- tationskurs mit der rot-grünen Bundesregierung tagsdemonstrationen“ in der DDR – in den Augen wegen der Hartz-IV-Reform. Bereits im Novem- Gerhard Schröders eine „dreiste Vereinnahmung“ ber 2003 hatten mehr als 100 000 Menschen an ei- der friedlichen Revolution, denn „1989 ging es um ner Kundgebung in Berlin teilgenommen, die von Freiheit und Demokratie, 2004 dagegen um ma- linken Gruppen und Arbeitslosenverbänden ini- terielle Forderungen“. 25 Prominente DDR-Bür- tiiert worden war und an der sich auch einzelne gerrechtler nannten es „geschichtsvergessen“. 26 Gewerkschaftsgliederungen sowie die globalisie- Doch das Gefühl vieler von den Hartz-, Ren- rungskritische Attac beteiligten. Am 3. April ka- ten- und Gesundheitsreformen betroffenen be- men bundesweit bereits mehr als 500 000 Men- ziehungsweise bedrohten Menschen entsprang schen zusammen. 21 Der neue Generalsekretär der einer politischen Unzufriedenheit bis hin zu ei- SPD, Klaus Uwe Benneter, reagierte in einer Mit- nem tiefen Misstrauen gegenüber der demokra- teilung an die Presse zwar mit Verständnis für die tisch legitimierten Macht. Dies mag in den neu- Motive des Massenprotests („Diese Sorge nehmen en Bundesländern mitunter durch die enttäuschte wir sehr ernst“), signalisierte aber auch deutlich, Erwartungshaltung an eine besondere staatliche dass die „Politik der Erneuerung Deutschlands“ „Fürsorge“ genährt worden sein, wie sie in der fortgesetzt werden sollte. 22 Die Gewerkschaften DDR gegeben war. 27 Neben der Beseitigung so- verstärkten nach deutschlandweiten Mobilisie- zialer Ungerechtigkeiten wurde bereits hier ein rungserfolgen den Konfliktkurs gegenüber der grundlegendes, empathisches Verständnis der Po- Regierung, unter anderem startete die IG Metall litikerInnen gegenüber Betroffenen eingefordert, am 1. Juni 2004 ein Arbeitnehmerbegehren für das auch in den aktuellen Diskursen um die Ursa- „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“. 23 chen des Rechtspopulismus formuliert wird. Die Protestwelle gegen Hartz IV, die ab Mitte Die Proteste im Rahmen der „Montagsde- des Jahres 2004 vor allem in Ostdeutschland ein- mos“ ebbten bereits Ende September 2004 wieder setzte, wurde aber nicht von den Gewerkschaften ab, waren sie doch tagespolitisch erfolglos geblie- ben. Die Bundesregierung nahm nur minimale 20 Hassel/Schiller (Anm. 10), S. 149; Wolfgang Schroeder, Die Änderungen beim erstmaligen Auszahlungster- SPD und die Gewerkschaften. Vom Wandel einer privilegierten min des Arbeitslosengeldes II sowie bei der An- Partnerschaft, in: WSI-Mitteilungen 5/2008, S. 231–237; Anne rechnung von Ausbildungsversicherungen für Seibring, Tiefgreifender Konflikt? Das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften in der Regierungszeit Gerhard Schröders Kinder vor. Weit deutlicher zeigen sich ihre Wir- (1998–2005), Magisterarbeit, Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn 2009, S. 78 ff. http://library.fes.de/pdf-files/bi- 24 Vgl. Pressemitteilung des Ver.di-Bundesvorstandes, 23. 8. 2004. bliothek/bestand/7862435/spd_gewerkschaften_1998_2005_ 25 Gerhard Schröder, Entscheidungen. Mein Leben in der magisterarbeit_seibring.pdf. Politik, Berlin 2007, S. 417. 21 Vgl. Lahusen/Baumgarten (Anm. 6), S. 59–70; Seibring 26 Greta Hartmann/Alexander Leistner, Umkämpftes Erbe. (Anm. 20), S. 90 f. Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung, in: APuZ 22 Vgl. Pressemitteilung des SPD-Parteivorstandes, 3. 4. 2004. 35–37/2019, S. 18–24, hier S. 21. 23 Vgl. Pressemitteilung der IG-Metall, 25. 11. 2004. 27 Vgl. ebd.

44 Hartz IV APuZ kungen in der zeitgeschichtlichen Rückschau und Die neue Qualität der Protestwellen im „hei- bezogen auf den Wandel der politischen (Protest-) ßen Sommer 2004“ zeigte sich vor allem in der Zu- Kultur des 21. Jahrhunderts – ein dankbares Feld sammensetzung der Demonstrierenden. Hier fan- für die Protest- und Partizipationsforschung. 28 den sich RentnerInnen, Erwerbslose und prekär Wenngleich die Protestwellen der Hartz-IV-Geg- Beschäftigte mit ihren Familien zusammen, die ge- ner zwischen 2003 und 2004 ihren Höhepunkt er- meinhin als „politikverdrossen“ und schwer mobi- reicht hatten, werden sie mitunter vor dem Hin- lisierbar galten. Unter anderem führten ihre Pro- tergrund der Wirtschafts- und Bankenkrise seit teste zu einer verstärkten gesellschaftlichen und 2008 und vor der Folie europäischer Massenpro- medialen Politisierung von Arbeitslosigkeit, sie teste der Jahre 2008 bis 2010 gegen Reformen und sind somit mitverantwortlich für „das Aufbrechen Sparmaßnahmen zur Senkung der Sozialausgaben des reformpolitischen Grundkonsenses zwischen gedeutet. 29 Diesen politischen Protesten und den etablierten Parteien und Verbänden“. Bis heute „Montagsdemonstrationen“ gemein ist ihre Ein- ringt die Pro-und-Contra-Debatte um Hartz IV al- bettung in eine emotional geführte Debatte um len politischen Akteuren deutliche Stellungnahmen die Folgen eines ungebremsten Finanzmarktka- ab, oft indiziert mit einer „neuen Sensibilität“ ge- pitalismus und um das „Ende des sozialen Frie- genüber dem Themenfeld „Arbeitslosigkeit“. Dies dens“. Die europaweite Protestwelle wurde in kann durchaus als eine wichtige historische Errun- der deutschen medialen Öffentlichkeit als „Zorn genschaft der Hartz-IV-Proteste gewertet ­werden. 31 der Straße“ und als Vorbote „sozialer Unruhen“ gedeutet, die den Untergang der Solidargemein- HARTZ IV UND SOZIALE schaften nach sich ziehen würden. Diese drama- UNGLEICHHEIT IM DISKURS tische Bewertung zeugte von wenig „Vertrauen“ UM RECHTSPOPULISMUS in die „demokratischen Tugenden“ der Bevölke- rungen und verlor sich in diffuser Apokalyptik. Die Hartz-Reformen haben auch – wenngleich Lahusen und Baumgarten deuten die Pro- nicht nur – positive Wirkungen gehabt, wie Stu- teste deshalb nicht als „Ursache“ des vermeint- dien belegen. Der soziale Unmut in Teilen der lichen „Endes des sozialen Friedens“, sondern als Bevölkerung hat sich dennoch hartnäckig ge- „Symptom“:­ Für die AutorInnen sind vor allem halten, ungeachtet auch progressiver Nachbes- schnell wachsende Ungleichheit oder Verteilungs- serungen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. 32 und Ressourcenfragen bezogen auf Arbeit, Ein- Jüngste politische Entwicklungen in Deutschland kommen und Ähnliches ursächlich für scharfe so- zeigen deutlich, dass weder die Einführung eines ziale Konflikte in modernen Gesellschaften, nicht Mindestlohns und eine im Vergleich zu den ver- Proteste dagegen. Öffentliche Unmutsbekundun- gangenen zwei Dekaden rückläufige Zahl an Ar- gen seien für demokratischen Strukturen nur dann beitslosen noch Maßnahmen zur Vereinbarkeit gefährlich, wenn sie „die verfassungsrechtlichen von Familie und Beruf oder erfolgreiche Tarifab- Grundlagen des Gemeinwesens“ verlassen. Für die schlüsse in Leih- und Zeitarbeit die „Wutbürger“ europäischen Sozialproteste, auch um Hartz IV, besänftigt haben. Von der Politik „enttäuschte“ gelte dies jedoch nicht – im Gegenteil: „Die in ih- BürgerInnen konnten von einer Wahlentschei- nen enthaltene Unruhe ist vielmehr ein Wesens- dung zugunsten der AfD nicht abgehalten wer- merkmal einer lebendigen Demokratie und einer den. Mit Blick auf die soziale Situation der AfD- umfassenden politischen Teilhabe auch nichtprivi- WählerInnen, die keinesfalls als vornehmlich legierter Gruppen der Bevölkerung“. 30 unsicher bezeichnet werden kann, 33 wird eher deutlich, dass heute weniger ein Sozial- und Ver- teilungskampf, vielmehr ein Kulturkampf des 28 Vgl. Hassel/Schiller (Anm. 10), S. 27–29; Müller (Anm. 1), S. 105–108; Schmid (Anm. 8), S. 15 f.; Lahusen/Baumgarten (Anm. 6), S. 8–10. Siehe auch Dieter Rucht/Mundo Yang, Wer 31 Ebd., S. 9 f. demonstrierte gegen Hartz IV?, in: Forschungsjournal Neue So- 32 Vgl. Werner Eichhorst, Arbeitsmarktpolitik und Existenzsi- ziale Bewegungen 4/2004, S. 21–27; Dieter Rink, Die Montags- cherung, in: Judith Aust et al. (Hrsg.), Über Hartz hinaus. Stimmt demonstration als Protestparadigma. Ihre Entwicklung von 1991 die Richtung in der Arbeitsmarktpolitik?, Düsseldorf 2008, bis 2016 untersucht am Beispiel der Leipziger Protestzyklen, in: S. 98–112, hier S. 100. Leviathan 33/2017 (Sonderband), S. 282–305, hier S. 286. 33 Vgl. u. a. Holger Lengfeld, Der „Kleine Mann“ und die AfD: 29 Vgl. Lahusen/Baumgarten (Anm. 6), S. 8 ff. Was steckt dahinter?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und 30 Ebd. Sozialpsychologie 2/2018, S. 295–310; Oskar Niedermayer/

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„Volkes“ gegen das „Establishment“ von zentra- lishment mit Widerstand die Stirn zu bieten, um ler Bedeutung ist. 34 Hier geht es im Wesentlichen eine „Wende 2.0“ herbeizuführen beziehungs- um die (kollektive) Konstruktion einer verloren weise die „Wende zu vollenden“: „Dies ist mehr geglaubten Identität, die Ablehnung alles Frem- als bloß eine wahltaktische Instrumentalisierung. den und die Enttäuschung über unerfüllte Erwar- Im aktualisierten Widerstandsnarrativ verlängert tungen an Staat, Wohlfahrt, Gesellschaft und De- sich jenes Misstrauen zwischen Regierten und mokratie, aber auch um Abstiegsängste und ein Regierenden, das auch für die DDR prägend war; gestörtes Gerechtigkeitsempfinden. 35 Jüngste po- es bedient eine historisch tradierte Distanz und litische Beobachtungen in den ostdeutschen Bun- innere Abwehr gegenüber den sogenannten herr- desländern gehen davon aus, dass sich „zu der schenden Eliten.“ 37 Angst vor Globalisierung und all ihren Folgen“ Soziokulturelle Begründungen für den Erfolg vor dem Hintergrund kollektiver „Transformati- von Parteien am rechten Rand sollten die For- onserfahrung“ noch eine „spezifische Angst vor schung jedoch nicht davon abhalten, Fragen nach weiteren Umbrüchen“ hinzugesellt. Aber auch sozialer Ungleichheit bei der Analyse (post-)in- hier können Studien zeigen, dass es sich „keines- dustrieller Gesellschaften und ihrer „wohlfahrts- wegs nur um sozioökonomische Sorgen, sondern staatlichen Arrangements“ immer als „Leitkate- auch um Verluste von Vertrauen, von Sicherhei- gorie“ mitzudenken und in die Erzählungen mit ten, von sozialem Status, der sich an der Berufstä- aufzunehmen. Der Historiker Winfried Süß kriti- tigkeit, aber damit verbunden auch am Ansehen“ siert, dass im deutschen sozialhistorischen Narra- festmachen lässt, handelt. 36 Diese „neue“ Unsi- tiv eine (Über-)Betonung wohlfahrtsstaatlicher Er- cherheit wird vor allem von der AfD semantisch rungenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg gängig mit dem Streben nach geschichtspolitischer Deu- ist. Dabei plädiert er nicht für eine „neue Defizitge- tungshoheit der „Wende“-Erzählung verbunden. schichte“, bei der „krächzende Historiker-Möwen Greta Hartmann und Alexander Leistner zeigen das bejahrte, aber immer noch seegängige Dick- dies entlang der AfD-Wahlkämpfe in Thüringen schiff des westdeutschen Wohlfahrtsstaats durch und Brandenburg. Die Umdeutung der 1989er schwere Wetter begleiten“. Vielmehr helfe ein his- Revolution mündet in dem Aufruf, dem Estab- torischer Blick auf die Armut des 19. und die Ar- mutsentwicklung des 20. Jahrhunderts, den Wohl- fahrtsstaat als ein wesentliches Element moderner Jürgen Hofrichter, Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie?, in: Zeitschrift für Parla- Gesellschaftsstrukturen zu würdigen, gleichzeitig mentsfragen 2/2016, S. 267–285. aber „Veränderungen in der sozialen Stratifizie- 34 Kritik an der Kulturalisierungsthese übt u. a. Philip Manow, rung von ihren besonders dynamischen Randzo- Politischer Populismus als Ausdruck von Identitätspolitik? Über nen“ her zu denken. 38 Eine solche armutssensible einen ökonomischen Ursachenkomplex, in: APuZ 9–11/2019, Erzählung und Problematisierung wohlfahrtsstaat- S. 33–40. 35 Vgl. Ursula Bitzegeio, „Arbeitswelten 4.0“ im Spiegel licher Aufgaben wäre sicherlich bereits im Vor- euphorischer und skeptischer Implikationen. Überlegungen über feld einer möglichen inhaltlichen Revision von die Konflikträume digitaler Kapitalismus und Postdemokratie, in: Hartz IV empfehlenswert, um diffuse Ängste des SPW 5/2017, S. 34–41, hier S. 40 f.; Beate Küpper/Franziska „Abgehängtwerdens“ und des Statusverlusts in der Schröter/Andreas Zick, Alles nur ein Problem der Ostdeutschen Bevölkerung zu schmälern und um Ernsthaftigkeit oder Einheit in Wut und Hass? Rechtsextreme und menschen- feindliche Einstellungen in Ost- und Westdeutschland, in: bei der politischen Bearbeitung tatsächlicher Glo- Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan (Hrsg.), Verlorene balisierungsfolgen zu bekunden. Dies könnte ein Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in kleiner, aber wirksamer kultureller Beitrag sein, um Deutschland 2018/19, Bonn 2019, S. 243–278, hier S. 267 ff.; Rechtspopulismus einzudämmen. Klaus Dörre, Hartz-Kapitalismus. Vom erfolgreichen Scheitern der jüngsten Arbeitsmarktreformen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 9, Berlin 2010, S. 294–305, hier S. 303. URSULA BITZEGEIO 36 Küpper/Schröter/Zick (Anm. 35), S. 266 f. ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Histo- 37 Hartmann/Leistner (Anm. 26), S. 24 f. rikerin, Lehrbeauftragte am Institut für Politikwis- 38 Winfried Süß, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft? senschaft und Soziologie der Universität Bonn und Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961–1989, in: Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Leiterin des Referats Public History im Archiv der Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. 2010, S. 123–139, hier S. 139. [email protected]

46 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

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