Jahresbericht 2002 Archiv für Zeitgeschichte

Institut für Geschichte

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Herausgeber: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich 2003.

Redaktion: Klaus Urner

Satz und Gestaltung: Jonas Arnold

Sämtliche Illustrationen aus dem Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, sowie dem VSJF-Archiv.

Gedruckt mit Unterstützung des Freundes- und Fördererkreises des Archivs für Zeitgeschichte sowie der Stiftung Dialogik, Mary und Hermann Levin Goldschmidt-Bollag und der Stiftung Jüdische Zeitgeschcihte an der ETH Zürich.

2 Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit ...... 5 Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte ...... 8 Archiv des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen ...... 8 Archiv des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes ...... 10 Pressedokumentation der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ...... 10 Nachlass Samuel Teitler ...... 10 Verband Jüdischer Lehrer und Kantoren ...... 12 Nachlass Charlotte Weber ...... 12 Forschungsdokumentation Hanna Zweig ...... 13 Kooperationen: Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte der Juden in der Schweiz ...... 14 Dokumentationsstelle Wirtschaft und Zeitgeschichte ...... 16 Archive economiesuisse - Verband der Schweizer Unternehmen ...... 16 Vorort-Archiv: Internationale Handelskammer und deren Schweizer Komitee ...... 17 Vorort-Archiv: Sicherheitsverfilmung der Missiven 1874-1935 ...... 20 wf-Dokumentationsarchiv: Teil I (1943–74): 532’830 Seiten in digitaler Form...... 21 Teil II (1975–93): Erschliessungsprojekt und erste Ergebnisse ...... 21 wf-Sammlung Abstimmungsplakate ...... 22 Nachlass Paul Rudolf Jolles ...... 23 Projekte, Kooperationen ...... 25 Datenbankentwicklung „FondAdmin Data“ für die Kulturstiftung Landis&Gyr in Zug ...... 26 Dokumentationsbereich „Schweiz – Kalter Krieg (1945–1990)“ ...... 27 Nachlass Gustav Däniker jun...... 27 Institut für politologische Zeitfragen ...... 27 Schweizerischer Aufklärungsdienst / Schweizerische Arbeits- gemeinschaft für Demokratie ...... 27 Vorlass Robert Vögeli ...... 28 Einzelne Nachlässe und Bestände ...... 29 Allgemeine schweizerische Zeitgeschichte ...... 31 Nachlass Rudolf Bucher ...... 31 Forschungsdokumentation Reinhold Busch ...... 32 Bestand Elisabeth Kopp ...... 32 Vorlass Willy Sauser ...... 33 Nachlass Benno H. Schaeppi ...... 33 Nachlass Theophil Spoerri...... 34 Diverse Schenkungen ...... 34

3 Sammlungen und Präsenzbibliothek ...... 35 Audiovisuelle Quellen ...... 36 Tondokumente „Zeugen der Zeit“ ...... 36 Bildarchiv ...... 37 IT-Bereich ...... 39 Software-Aktualisierungen, Integration in das ETH-Netz ...... 39 virtual archives: Ausbau des Informationsangebots ...... 40 Programmierungen ...... 40 Veranstaltungen und Präsentationen ...... 42 Schweizerischer Archivtag ...... 42 Oral History: Kolloquien zur Zeitgeschichte ...... 43 Weiterbildungsveranstaltungen und Führungen ...... 44 Externe Präsentationen ...... 44 Benutzung ...... 45 Eingegangene Belegexemplare 2002 ...... 47 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ...... 50 Publikationen ...... 51 Stiftungen und Fonds ...... 52 Stiftung Dialogik, Mary und Hermann Levin Goldschmidt-Bollag...... 52 Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich ...... 52 Simon und Hildegard Rothschild-Stiftung ...... 53 Karl-Schmid-Stiftung ...... 53 Jaeckle-Treadwell-Stiftung ...... 54 Legate und Schenkungen ...... 54 Dank ...... 55 AfZ-Team 2002 ...... 56 Öffnungszeiten ...... 57

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Claudia Hoerschelmann, Daniel Gerson, Regina Gehrig, Ursula Meier, Christiane Uhlig: Das historische Archiv des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF). Zum Abschluss des Erschliessungs- projekts: Flüchtlingsschicksale – was 12’360 Dossiers erzählen ...... 59

4 Zum Geleit

Siebzig Jahre sind vergangen, seit die Nationalsozialisten innerhalb weniger Monate ihr Terrorregime in Deutschland errichteten. Unterdrückt wurden politische Gegner und Andersdenkende. Die Hetze und die einsetzende Ver- folgung galt aber von Anfang an besonders der jüdischen Bevölkerung. Der von Julius Streicher organisierte Boykott vom 1. April 1933, der sich zunächst gegen jüdische Geschäfte, jüdische Rechtsanwälte, Richter und Ärzte richte- te, machte mit den nachfolgenden Diskriminierungsmassnahmen schon da- mals sichtbar, dass die Existenzbasis der Juden und Jüdinnen mit brutaler Gewalt zerstört werden sollte. Der Rückblick auf siebzig Jahre schweizerische jüdische Flüchtlingshilfe führt in jenes verhängnisvolle Frühjahr 1933 zurück. Die jüdischen Gemein- den und ihre Mitglieder sahen sich in der Schweiz mehrfachen Belastungen und Bedrohungen ausgesetzt. Um nicht selbst in die Isolation gedrängt zu werden, mussten sie den Fronten und einem zunehmenden Antisemitismus mit Abwehr und Aufklärung entgegenwirken. Zugleich bedurfte es erhebli- cher finanzieller Mittel, um zahlreichen jüdischen Flüchtlingen aus Deutsch- land eine zunächst mehr improvisierte als organisierte Hilfe zu ermöglichen. Obwohl der Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF) diesen Namen erst 1943 annahm, engagierte er sich seit dem 1. Januar 1935 offiziell für diejenigen Aufgaben, mit deren Wahrnehmung er – seit 1938 noch verstärkt – zur Zentralstelle für das gesamte jüdische Flüchtlingswesen in der Schweiz wurde. Die meisten der 12’360 Dossiers im VSJF-Archiv beziehen sich auf Flücht- lingsschicksale im Zeichen der nationalsozialistischen Verfolgung und der Shoah. Sie dokumentieren aber auch jüdische Flüchtlingsgeschichte von der Nachkriegszeit bis fast zur Gegenwart. Das Archiv für Zeitgeschichte hatte sich schon Mitte der neunziger Jahre für die Sicherung, Erschliessung und Zugänglichmachung dieses bedeutend- sten jüdischen Flüchtingsarchivs in der Schweiz eingesetzt. Nach einer Pro- jektdauer von fast sechs Jahren liegt es jetzt systhematisch geordnet und durch eine Forschungsdatenbank eingehend erschlossen zur Benutzung bereit. Der Abschluss dieses Projekts gehört zu den wichtigsten Zielen, die im Berichtsjahr erreicht wurden.

5 Mein Dank gilt allen, die zur erfolgreichen Realisierung beigetragen haben: Dem Projektteam unter der Leitung von Frau Dr. Claudia Hoerschelmann, das mit grossem Engagement eine immense Arbeit geleistet hat, der Evan- gelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, die mit ihrem Beitrag von 600’000 Franken finanzielle Grundlagen für die Durchführung schuf sowie der ETH Zürich und der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich, die ganz wesentliche Hilfen leisteten. Wer sich für dieses Flüchtlings- archiv interessiert, erhält im Beitrag des VSJF-Teams, der dem Jahresbericht beigefügt wird, näheren Aufschluss über das Projekt, aber auch Anregungen für weiterführende Forschungen. Erfreulich ist, dass auch die Abschlussarbeiten beim SIG-Archiv soweit ge- diehen sind, dass dieses im nächsten Jahr zum hundertjährigen Jubiläum des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds vorgestellt werden kann. Das Archiv für Zeitgeschichte fördert Forschungen zu einem breiten The- menspektrum entsprechend den in seinem Leitbild festgehaltenen Zielset- zungen (http://www.afz.ethz.ch/fsinfos.html). Aus allen Tätigkeitsbereichen finden sich nachfolgend Berichte und Informationen über wertvolle Schen- kungen, laufende Projekte und neue Herausforderungen. So stellt die Dokumentationsstelle Wirtschaft und Zeitgeschichte den nun- mehr erschlossenen Bestand zur Internationalen Handelskammer vor, der als Teil des Vorort-Archivs übernommen worden ist. Die International Cham- ber of Commerce (ICC), die sich seit 1919 mit essentiellen Fragen zu den in- ternationalen Wirtschafts- und Geschäftsbeziehungen befasst, musste ih- ren Sitz 1939 von vorübergehend nach Schweden verlegen. Die Unter- lagen des Schweizerischen Landesausschusses der ICC sind zwar nicht lük- kenlos erhalten; sie weisen jedoch eine Kontinuität auf, die diesem Bestand zusätzliches Gewicht verleiht. Er weist angesichts der internationalen Rele- vanz der Thematik ein erhebliches Forschungspotential auf. Dies gilt auch für den Schwerpunktbereich „Schweiz – Kalter Krieg (1945– 1990)“, der 2002 sowohl bei den Neuzugängen als auch bei der Benutzung Zuwachs verzeichnen kann. Unser Konzept „virtual archives“ lässt sich auf Grund der begrenzten Res- sourcen nur schrittweise umsetzen. Die Digitalisierung des ersten Teils des wf-Archivs (1943–1974) liegt bereits vor. Erfahrungen im audiovisuellen Be- reich liefert das Projekt, mit dem die analogen Tondokumente zu unserer

6 Reihe „Kolloquien mit Zeugen der Zeit“ elektronisch gespeichert und im di- gitalen Format nutzbar gemacht werden. Die vorzügliche Lösung für die Erweiterung unseres Archivlagers in näch- ster Nähe, für die seit Herbst 2002 die Zustimmung der ETH vorliegt, konnte aus Spargründen bisher nicht umgesetzt werden. Auch die Mittelbeschaf- fung erweist sich als zeitintensive Aufgabe. Erschwerend kommt hinzu, dass die mit dem Archiv für Zeitgeschichte verbundenen Förderungswerke die schlechte Wirtschaftsentwicklung empfindlich spüren. Die Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich, die eine unentbehrliche Hilfe leistet, bil- det hier eine Ausnahme, wofür Herrn René Braginsky in besonderer Weise gedankt sei. Durch die Vermittlung von Herrn Walter Gut erhielt das Archiv für Zeitge- schichte eine Schenkung von 100’000 Franken, die es für anderweitig nicht finanzierbare Zwecke verwenden darf. Herr Dr. iur. Veit Wyler (1908–2002) vermachte ihm ein Legat von 10’000 Franken. In diesen angespannten Zei- ten erweisen sich solche Zuwendungen als doppelte Hilfe. Danken möchte ich der ETH Zürich, den Stiftungen, Gönnern und Partnern, die das Archiv für Zeitgeschichte bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben unterstützen, in er- ster Linie aber allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die erneut vollen Einsatz geleistet haben.

Zürich, April 2003 Klaus Urner

7 Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte

Mit der Schaffung einer Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte be- trat das AfZ institutionelles Neuland. Ihre Tätigkeit hat zur Anerkennung und Aufwertung für einen Forschungsbereich beigetragen, der die Opfer und nicht die Verfolger ins Zentrum rückt, für den die Geschichte des Holocausts und nach dem Zweiten Weltkrieg diejenige Israels zwar prägend ist, der aber jüdisches Leben umfassend und in seiner gesamten Vielfalt verstehen will. Das Archiv für Zeitgeschichte hat sich hierfür seit 1990 eingesetzt, zu- nächst mit Unterstützung der Stiftung Dialogik, dann in Verbindung mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich. Mit seiner 1996 errichteten Dokumentati- onsstelle Jüdische Zeitgeschichte wurde es möglich, auch grosse Archivie- rungsprojekte zu realisieren. Hierzu gehören die Erschliessungen der VSJF- und SIG-Archive, die 2002 erfolgreich beendet worden sind. Im Zusammen- hang mit der Datenbanküberarbeitung und Etikettierung waren verschie- dene Kontrolldurchgänge in den Beständen selbst erforderlich. Die Abschluss- arbeiten erforderten mehrere Durchgänge. Dieser Aufwand ist bei einem derart grossen Projekt nicht zu unterschätzen. So summieren sich die Kon- trollen der über 20’000 Datensätze – selbst bei einem Minimum von jeweils nur vier Minuten – zu rund acht Monaten Arbeit. Mit entsprechendem Ein- satz sind die für Ende 2002 gesetzten Planziele bis zum März 2003 erreicht worden. Nachfolgend kann über erfreuliche Neuzugänge berichtet werden. Unter ihnen sei an erster Stelle die Schenkung des Nachlasses von Charlotte Weber (1912–2000) hervorgehoben, die während und nach dem Zweiten Welt- krieg durch ihr Engagement als Flüchtlingsbetreuerin bekannt geworden ist.

Archiv des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen / Fürsorgen (VSJF) Das Archiv des VSJF besteht nach Abschluss der Ordnungsarbeiten aus 12’360 Flüchtlingsdossiers der Zentralstelle Zürich, die in 1244 säurefreien Schach- teln aufbewahrt werden und einen Gesamtumfang von 155,5 Laufmetern aufweisen. Hinzu kommen die unvollständig erhalten gebliebenen Ge- schäftsakten des Verbandes (7 Lfm). Im Jahr 2002 erhielten wir zudem Un-

8 terlagen der Lokalkomitees Vevey-Montreux und Lausanne sowie des Alters- heims Les Berges du Léman, die ebenfalls archiviert worden sind und die über die Betreuungsarbeit dieser Zweigstellen des VSJF Aufschluss geben.

Nachdem im Frühjahr 2002 die Datenerfassung weitgehend abgeschlos- sen war, mussten die Datensätze von 20’460 Flüchtlingen überprüft wer- den. Da die FileMaker-Datenbank, die zu Beginn des Projekts gute Dienste leistete, gewisse Schwächen aufwies und dem erweiterten Nutzungskon- zept nicht mehr genügte, fiel 2002 der Entscheid für deren Ablösung, die in enger Zusammenarbeit zwischen dem VSJF- und IT-Team verwirklicht wor- den ist.

9 Archiv des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) Die letzte Phase der Erschliessungsarbeit am SIG-Archiv stand im Zeichen der Überarbeitung zentraler Archivbereiche. Besonders das Ressort „Flücht- linge und Soziales“ konnte mit Materialien aus den Beständen des JUNA- und des VSJF-Archivs, die ihrer Herkunft nach dem SIG-Archiv zugeordnet werden mussten, komplettiert werden. Das sogenannte „Schächtarchiv“ wurde als letzter Teil des SIG-Archivs von Grund auf neu erschlossen. Die Vereinheitlichung der Einträge in der Zentralen Archivdatenbank DACHS so- wie die Erstellung des Gesamtverzeichnisses erfolgten durch das SIG-Team (Elisabeth Eggimann, Michael Funk, Zsolt Keller). Mit dem Abschluss des SIG-Projekts in diesem Jahr wird einer der wohl bedeutendsten Bestände zur Erforschung der jüdischen wie auch der schwei- zerischen Zeitgeschichte gesichert und interessierten Forscherinnen und Forschern zur Verfügung gestellt. Bereits während der Erschliessungsphase erfreute sich das SIG-Archiv einer regen Benutzung. Es war der mit Abstand am meisten konsultierte Bestand im Archiv für Zeitgeschichte. Pressedokumentation der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) Die Pressedokumentation, welche der Dachverband der Flüchtlingshilfswer- ke seit 1973 zum Thema Flucht und Asyl in der Schweiz angelegt hat, bildet einen interessanten Medienspiegel zur schweizerischen Asylproblematik. Bis Ende 2002 hat Herr Jure Tornic die Jahrgänge 1985–1995 bearbeitet und chro- nologisch geordnet. Eine weitere Zielsetzung ist die Digitalisierung der Pressedokumentation. Für die Erfassung und gezielte Volltextabfrage der chronologisch vorgeord- neten Presseausschnitte ab 1996 wurde ein Pilotprojekt initiiert, das seit Fe- bruar 2003 umgesetzt wird.

Nachlass Samuel Teitler Herr Georges M. Teitler übergab dem AfZ einen Bestand aus der Hinterlas- senschaft seines Vaters Dr. iur. Samuel Teitler (1900–1989). Der Nachlass ent- hält Akten zu Samuel Teitlers Wirken als Jurist sowie Materialien der Zioni- stischen Ortsgruppe seiner Heimatstadt St.Gallen aus den Jahren 1915 bis 1931. Neben den Protokollen der Ortsgruppe finden sich im überlieferten Band auch Mitgliederlisten, die wichtige Hinweise auf die Verbreitung zionistischen

10 Vergangenheitsbewältigung im Boulevardstil: Auszug aus Teil 11 einer Blickserie zur schweize- rischen Flüchtlingspolitik anlässlich der Ausstrahlung der Fernsehfilmreihe „Holocaust“ im Schweizer Fernsehen 1979 (SFH-Pressedokumentation).

11 Gedankengutes bei den Juden St. Gallens liefern. Samuel Teitlers handschrift- liche Zusammenfassungen von Vorträgen über jüdische Themen und zahl- reiche Zeitungsausschnitte zur zionistischen Bewegung vermitteln wertvolle Aufschlüsse zum jüdischen Leben in der Ostschweiz im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Verband Jüdischer Lehrer und Kantoren in der Schweiz (VJLKS) Das Archiv des Verbands jüdischer Lehrer und Kantoren in der Schweiz doku- mentiert die Verbandstätigkeit in Bereichen der jüdischen Bildung und Kul- tur sowie der religiösen Erziehung und Lehrerausbildung. Bereits 1999 hatte der langjährige Präsident Erich A. Hausmann (1973–1992) einen Teilbestand übergeben, der die Verbandsakten seit den 1960er Jahren umfasst. Dank Nachlieferungen von Herrn Hausmann sowie von Benjamin Rothschild kann jetzt die Tätigkeit des VJLKS von seiner Gründung im Jahr 1926 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1999 beinahe lückenlos belegt werden. Der Bestand wurde im Berichtsjahr von Michael Funk geordnet und in der Zentralen Ar- chivdatenbank erfasst. Gründungsdokumente, Statuten und die Protokolle der Verbandsorgane sind ebenso vorhanden wie Handakten der Präsiden- ten und einzelner Vorstandsmitglieder. Die Protokolle der Generalversamm- lung bzw. der Verbandstagungen sind abgesehen von einzelnen Lücken in den 1930er und 1940er Jahren vollständig überliefert, die Vorstandsproto- kolle ab dem Jahr 1943. Von den Handakten der Präsidenten fehlen einzig diejenigen von Kantor Joseph Messinger (1945–1948) sowie von Rabbiner Zwi Engelmayer (1963–1973). Nachlass Charlotte Weber Der umfangreiche Nachlass der bekannten Flüchtlingsbetreuerin und Publi- zistin Charlotte Weber (1912–2000) wurde im Frühjahr 2002 von ihrer Toch- ter, Frau Dr. Gioia Weber übergeben. Ihre Kindheit und Jugendjahre verbrachte Charlotte Weber zumeist in Spa- nien, wo ihr Vater als Ingenieur tätig war. Nach der Rückkehr der Familie liess sie sich zu Beginn der dreissiger Jahre zur Primarlehrerin ausbilden. Anschlies- send studierte sie Musik und arbeitete als Journalistin. Von zentraler Bedeu- tung in ihrem Leben wurde ihr Engagement für die jüdischen Flüchtlinge, die sie während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich betreute.

12 Der Bestand dokumentiert diese dramatische Zeit umfassend und mit teil- weise einmaligen Unterlagen. Zahlreiche Briefe und Fotografien beleuchten das Leben in den von Charlotte Weber betreuten Flüchtlingsheimen „Bie- nenberg“ und „Hilfikon“ sowie ihren unermüdlichen Einsatz für die Verfolg- ten. Eindrücklich belegt wird aber auch ihr Engagement für eine Gruppe Ju- gendlicher, die im Juni 1945 aus dem befreiten KZ Buchenwald in die Schweiz gelangten und auf dem Zugerberg interniert wurden. Lebensläufe, Zeich- nungen und psychologische Gutachten lassen erahnen, welche Unmensch- lichkeiten die jugendlichen Holocaust-Überlebenden durchlitten hatten und welch grosse Sensibilität von Seiten der Betreuerin aufgebracht wurde, um für diese traumatisierten jungen Menschen Zukunftsperspektiven zu schaf- fen. In der langjährigen Korrespondenz zwischen Charlotte Weber und zahl- reichen Mitgliedern der Buchenwaldgruppe, welche die Schweiz wieder ver- lassen mussten und in Israel und Übersee eine neue Existenz gründeten, spiegeln sich vielfältige Migrationsgeschichten. Mit ihrem 1994 publizierten Werk „Gegen den Strom der Finsternis“ hielt sie diesen entscheidenden Abschnitt ihres Lebens für die Nachwelt fest und leistete damit auch einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ihres Buches hat sich im Nachlass erhalten, ebenso wie zahlreiche Spuren ihrer vielfältigen Aktivitä- ten als Journalistin und Kämpferin für die Sa- che der Frau. Forschungsdokumentation Hanna Zweig Frau Hanna Zweig übergab ihre Forschungs- unterlagen, die sie im Verlaufe ihrer Recher- chen zur Biografie von David Farbstein (1868– 1953) in den verschiedensten Archiven und bei Privatpersonen im In- und Ausland zu- sammengetragen hat. Mit ihrem 2002 im Chronos-Verlag Zürich erschienenen Buch David Farbstein (1868-1953) hat sie eine Lücke in der historiografischen Landschaft der schweizerisch- jüdischen Zeitgeschichte geschlossen. Der Einfluss dieses 1868 in Warschau geborenen, im Jahr 1881 in die Schweiz emigrierten polnischen Sozialisten

13 auf die Politik und Geschichte der Juden in der Schweiz zwischen 1890 und 1950 ist kaum zu überschätzen. Als Mitorganisator des ersten Zionistenkon- gresses in Basel, Mitglied der sozialdemokratischen Partei und Anwalt setz- te sich David Farbstein sowohl im Zürcher Gemeinde- und Kantonsrat als auch im Nationalrat für die politisch Benachteiligten ein, sei es für die Arbei- terschaft, die Frauen als soziale Gruppe oder für die ostjüdische Gruppe in- nerhalb der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz. Die Forschungsdokumentation enthält überwiegend kopierte Unterlagen: Neben Materialien zur Biografie mit persönlichen Zeugnissen befinden sich auch aufschlussreiche Korrespondenzen, Zeitungsartikel und eigene Erinne- rungen David Farbsteins im Bestand. Die Forschungsdokumentation wird durch den Fotobestand zur Familie Farbstein ergänzt. Kooperationen: Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte der Juden in der Schweiz Am Sonntag, den 17. Februar 2002 fand die Jahressitzung der „Arbeitsgemein- schaft zur Geschichte der Juden in der Schweiz“ in den Räumen des Archivs für Zeitgeschichte statt. Die Tagung war dem Thema „Zur jüdischen Zeitge- schichte in der Schweiz nach 1945“ gewidmet.

Hanna Zweig und Jacques Picard anlässlich der Tagung vom 17.2.2002.

14 Nach der Begrüssung durch Uriel Gast sprach Hanna Zweig über einige Aspekte ihrer Forschungen zum jüdischen Sozialisten und Nationalrat Da- vid Farbstein. Der Beitrag von Stefan Mächler, der an einem Projekt über die Geschichte des SIG und der Flüchtlingspolitik in den Jahren 1933 – 1950 ar- beitet, bezog sich auf die innerjüdische Flüchtlingsbetreuung und die Ab- grenzung der Flüchtlingsarbeit zwischen dem SIG und dem VSJF. Mario Kö- nig, ehemaliger Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission Schweiz–Zweiter Weltkrieg (UEK), ging anhand einiger Beispiele auf Positio- nen und Perspektiven der Forschung zum Thema „Wiedergutmachung“ ein. Von Seiten des AfZ referierte Michael Funk über „Die Öffentlichkeitsarbeit des SIG und seiner Pressestelle JUNA 1933–1945“ und stellte einige Thesen seiner Lizentiatsarbeit vor. Barbara Bonhage schloss die gut besuchte Tagung mit einem Beitrag über „Schweizer Banken und NS-Opfer; Restitutionsbe- mühungen und Kundenbeziehungen nach 1945“ ab.

15 Dokumentationsstelle Wirtschaft und Zeitgeschichte

Die Dokumentationsstelle Wirtschaft und Zeitgeschichte macht zentrale Quellenbestände der Privatwirtschaft zur schweizerischen Wirtschafts- und Aussenwirtschaftspolitik für die Forschung zugänglich. Sie entwickelte sich im vergangenen Jahrzehnt zum bedeutendsten öffentlichen Wirtschaftsar- chiv im Raum Zürich. Ihre archivischen Dienstleistungen umfassen informa- tion research im klassischen Sinn bei der Unterstützung von Forschungs- projekten. Daneben engagiert sie sich in der Entwicklung und Anwendung modernster Informationstechnologien und übernimmt Betreuungsmanda- te in Archivierungsfragen. Sie erschliesst und betreut seit 1991 die Archive von economiesuisse, des Spitzenverbands der Schweizer Wirtschaft. 2002 war geprägt von technologischen Fortschritten, die unter anderem die benutzernahe Präsentation des umfangreichen Dokumentationsarchivs der ehemaligen wf, Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirt- schaft, oder auch die digitale Speicherung von Plakaten im Weltformat mög- lich machen. Mit dem zweiten Teil der wf-Sammlung und dem Nachlass von alt Staatssekretär Paul Rudolf Jolles wurden gleichzeitig zwei grosse Erschlies- sungsprojekte in Angriff genommen, die als Kernbestände unserer Doku- mentationsstelle wirtschaftliches Handeln an der Schnittstelle von Privat- wirtschaft, Bundesstellen und Öffentlichkeit beleuchten.

Archive economiesuisse – Verband der Schweizer Unternehmen Die 1991 begonnene Partnerschaft im Archivierungsbereich zwischen eco- nomiesuisse und Archiv für Zeitgeschichte wurde durch eine Vereinbarung zur „Sicherung, Erschliessung und Nutzbarmachung der Archive und Doku- mentationen von economiesuisse“ bekräftigt. Sie enthält auch eine Absichts- erklärung, wonach die Vertragsparteien zusätzlich zur Archivierung von Schriftgut vorsorgliche Massnahmen für die Sicherung elektronischer Da- ten treffen. Damit wird vom führenden Wirtschaftsverband der Wille unter- strichen, den Herausforderungen der elektronischen Archivierung zu begeg- nen. Mit ihnen ist er als Aktenproduzent und -ablieferer ebenso wie auf der anderen Seite das Archiv für Zeitgeschichte als aufnehmende Institution konfrontiert.

16 Vorort-Archiv: Internationale Handelskammer (ICC) und deren Schweizer Komitee (CNS) Die Internationale Handelskammer (ICC) entstand 1919/20 als weltweites, branchenübergreifendes Forum privatwirtschaftlicher Unternehmen mit Sitz in Paris. Zentrales, nach föderalistischen Kriterien zusammengesetztes Or- gan ist der ICC-Rat, der zweimal jährlich tagt und dem Delegierte nationaler Komitees sowie Vertreter von bis zu zehn Direktmitgliedern angehören. Der Rat wählt Präsident und Vizepräsident für jeweils eine zweijährige Amts- zeit. Ebenso bestimmt er die Geschäftsleitung mit fünfzehn bis dreissig Mit- gliedern, welche für die Implementierung der ICC-Politik verantwortlich zeich- net. Dieser stehen das Generalsekretariat und technische Ausschüsse mit heute weltweit rund 500 Experten als eigentliche Kompetenzzentren zur Seite. Die Erleichterung der Handelsbeziehungen unter besonderer Beachtung von Warenproduktion und -verteilung, Finanz- und Patentfragen, Transport- und Verkehrswesen bildete stets das oberste Anliegen der ICC. Im Kontakt mit den jeweiligen staatlichen Stellen und später in multilateralen Organi- sationen galt es, die Position der Privatwirtschaft zum Ausdruck zu bringen. Seit ihrer Gründung organisierte die ICC in Ergänzung zu den ersten Welt- wirtschaftskonferenzen im Zweijahresrhythmus eigene Kongresse. Die Be- strebungen zur Schaffung einer schiedsgerichtlichen Basis für den interna- tionalen Handelsverkehr waren bereits 1922 in die Gründung des internatio- nalen Schiedsgerichtshofs gemündet, dem gegenwärtig in der Person Ro- bert Briners von der Anwaltskanzlei Lenz und Staehelin ein Schweizer als Präsident vorsteht. Hatte die ICC in ihren Anfangsjahren grosses Gewicht insbesondere in der Frage der Kriegsreparationen, wurde dieser Einfluss durch die protektionisti- schen Strömungen der 1930er Jahre deutlich zurückgebunden. Im Zweiten Weltkrieg musste der Sitz der ICC von Paris zuerst nach Amsterdam und dann nach Stockholm verlegt werden. Die Tätigkeit war stark eingeschränkt und diente neutralen Staaten wie der Schweiz und Schweden als Mittel der Ver- ständigung zwischen Achsenmächten und Alliierten. Nach dem Krieg wur- de Paris wieder Hauptsitz und in New York eine Zweigstelle zur besseren Zusammenarbeit mit dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (ECOSOC) er-

17 Auszug aus dem Gründungsprotokoll des Schweizer Komitees der ICC vom 7. Juli 1922.

18 öffnet. Erneut wurde alle zwei Jahre ein grosser Kongress organisiert, der gewissermassen als Vorläufer des in den siebziger Jahren geschaffenen World Economic Forum (WEF) von Davos betrachtet werden kann. Ab 1976 wurden die Kongresse in jährliche Konferenzen umgewandelt und durch Treffen in Paris im gleichen Rhythmus ergänzt. 2002 bestand die ICC aus 60 nationa- len Komitees und insgesamt 7000 Organisationen – davon 1500 Verbände und Handelskammern – aus 140 Staaten. (Vgl. auch: www.iccwbo.org) 1922 ist die Schweiz mit dem Comité National Suisse (CNS) der ICC beige- treten. Geleitet wird das CNS, in dessen Vorstand Vertreter von economiesuisse, der Bankierver- einigung und der Schweizeri- schen Handelskammer in Frank- reich einsitzen, seit seiner Grün- dung von einem Vorstands- oder Geschäftsleitungsmitglied des Vororts beziehungsweise von economiesuisse. Ein Sekre- tär von economiesuisse führt auch das Generalsekretariat des CNS. Der Ausschuss erhebt Um- fragen unter seinen Mitglie- dern, versorgt sie mit Informa- tionen der ICC und alimentiert deren Kommissionen, Arbeits- Programmheft des ersten Nachkriegskongresses in Montreux. gruppen und Komitees mit Schweizer Experten. Bereits 1925 hatte das CNS an die 70 Mitglieder. Lange war der Anteil Westschweizer Firmen hoch, da sie stärker in Wirtschaftsbe- ziehungen mit Frankreich eingebunden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Mitgliederzahl noch einmal sprunghaft zu. 2002 zählte ICC- Schweiz, die heute auch eine schweizerische Kommission für den Schieds- gerichtshof stellt, rund 40 Kollektiv- und 160 individuelle Mitglieder. (Vgl. auch: www.icc-schweiz.ch) Die Überlieferung wichtigster Unterlagen aus der Frühzeit von ICC und CNS ist dem Umstand zu verdanken, dass sie durch die frühe institutionelle Verknüpfung von CNS und Vorort in dessen historisches Archiv Eingang fan-

19 den und dort erhalten blieben. Ganz im Gegensatz zur ICC, welche im Zwei- ten Weltkrieg mehreren erzwungenen Ortswechseln ausgesetzt war, über- standen das CNS und seine Akten in der Schweiz diese Turbulenzen unbe- schadet. Während für die Forschung bislang aufgrund der Quellenlage meist die Frage nach der Entwicklung der eidgenössischen Integrationspolitik im Vor- dergrund stand, können nun anhand der Handelskammerdokumente im Ar- chiv für Zeitgeschichte globale Kontakte in der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts auch auf privatwirtschaftlicher Ebene untersucht werden. Aus dem Bestandesreichtum seien etwa die erfreulicherweise wiederaufgefundenen Gründungsunterlagen des CNS herausgehoben oder die Mitgliedskarteien, welche teilweise mit Fotos erhalten sind. Die Gesamtorganisation des er- sten Nachkriegskongresses von 1947 in Montreux, für den das CNS verant- wortlich zeichnete, ist zudem mit ausführlichen Korrespondenzen, Pro- gramm- und Presseunterlagen breit dokumentiert. Einen Wermutstropfen bedeutet dagegen die Tatsache, dass die Ausschuss-Protokolle aus der Zeit- spanne 1930 bis 1944 fehlen. Die Erschliessung der insgesamt rund 10 Laufmeter Materialien aus dem Zeitraum 1921 bis Mitte der achtziger Jahre zu ICC und CNS durch Philipp Hofstetter bildete einen Arbeitsschwerpunkt während des Berichtsjahrs. Geordnet wurden dabei Unterlagen zu praktisch sämtlichen Kongressen und Konferenzen der ICC zwischen 1921 und 1979. Arbeitsintensiv war die chro- nologische Rekonstruktion der ausgehenden CNS-Korrespondenz, die zwi- schen 1922 und 1975 rund 23’000 Einzeldokumente umfasst. Deren Absen- der waren meist die Präsidenten des CNS wie John Syz, Hans Sulzer, Guido Petitpierre, Etienne Junod oder Gérard Bauer, die alle in doppelter Funktion auch im Vorort entscheidende Positionen besetzten. Vorort-Archiv: Sicherheitsverfilmung der Missiven 1874–1935 Mikroverfilmungen gehören zu den wichtigsten, leider auch teuersten Auf- gaben eines Archivs. Zur Rettung der gefährdetsten historischen Vorort-Be- stände konnte ein 1996 begonnenes und seither unterbrochenes grösseres konservatorisches Projekt weitergeführt werden. Im MediaCenter des Bun- des in wurden 50 Briefkopienbücher mit ausgehender Korrespondenz – sogenannten Missiven – aus den Jahren 1928 bis 1935 im hybriden Verfah- ren mikroverfilmt und anschliessend digitalisiert. Dank dieser Schutzmass-

20 nahme stehen die Korrespondenzen des Vororts zwischen 1874 und 1935 nun im Lesesaal auf 16mm-Filmen und ab 1928 auch in elektronischer Form zur Verfügung. Kann ein weiteres Ausbleichen der Schreibmaschinentinte auf den Originalen zwar nicht gestoppt werden, wurden zumindest die noch lesbaren Textinformationen für die Forschung gesichert. Zudem sind künf- tig die hauchdünnen Originale vor potentiellen Schäden durch die Benut- zung geschützt, da sie nur noch in Ausnahmefällen konsultiert werden dür- fen. wf-Dokumentationsarchiv, Teil I (1943–74): 532’830 Seiten in digita- ler Form Die Zeitungsausschnittsammlung der Zürcher Hauptgeschäftsstelle der wf ist eine der grössten und wichtigsten historischen Dokumentationen zu Po- litik und Wirtschaft in der Schweiz. Sie beruht auf der Auswertung von ver- schiedenen Pressediensten, bis zu 100 Tages- und Wochenblättern, von Fach- publikationen und wirtschaftspolitischen Informationen und wird durch weitere, insbesondere wf-eigene Materialien ergänzt. Der erste Teil der Sammlung aus den Jahren 1943 bis 1974 mit einem Umfang von rund einer halben Million Seiten ist nun integral in digitaler Form auf CD-ROM für die wirtschaftshistorisch interessierte Öffentlichkeit im Lesesaal zugänglich. Um diesen vielfältigen Bestand auch ausserhalb unseres Hauses allen In- teressierten in möglichst benutzerfreundlicher Form öffnen zu können, wur- de ein Pilotprojekt vorangetrieben, das die Recherche und Ergebnisdarstel- lung im Internet unterstützt. Entwickelt wurde in einem ersten Schritt eine sogenannte php-Applikation, welche die digitalisierten Dokumente mit den Metadaten der Zentralen Archivdatenbank DACHS verknüpft, so dass sie über die EUROSPIDER-Absuche abgerufen werden können. wf-Dokumentationsarchiv, Teil II (1975–93): Erschliessungsprojekt und erste Ergebnisse Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist das gesellschaftliche Interesse an wirtschaftspolitischen Fragen enorm gewachsen. Dies widerspiegelt sich in Umfang und Struktur des zweiten Teils der wf-Dokumentation aus den Jah- ren 1975 bis 1993, dessen Bearbeitung im Vorjahr in Angriff genommen wur- de. Mit insgesamt 2594 Archivschachteln ist er rund zweieinhalb mal so gross wie der erste Teil und weist einen bereits bestehenden, vergleichsweise fei-

21 nen Klassifikationsschlüssel auf, welcher den Dokumentalisten der wf eine Zuordnung in neun thematische Hauptgruppen ermöglichte: 1. Volkswirt- schaft, 2. Bevölkerung/Sozialpolitik, 3. Finanzen/Geld/Währung, 4. Landwirt- schaft, 5. Industrie, 6. Dienstleistungen, 7. Institutionen, 8. Gesellschaft und Politik, 9. Rahmenbedingungen. Dass die Artikel gegenüber dem ersten Teil besser systematisiert und vor- geordnet sind, ist ganz wesentlich dem langjährigen Leiter der wf-Dokumen- tation, Herrn György Csernyik zu verdanken. Dessen unermüdlicher und kon- tinuierlicher Einsatz für die langfristige Sicherung des Bestandes im Archiv für Zeitgeschichte von August 1997 bis zu seiner Pensionierung im April des Berichtsjahrs sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben. Seine Nachfol- ge übernahmen Hubert Vilimek, Sabina Bellofatto und Elsbeth Dubach, die rund 300 Schachteln zu Themen der globalen Wirtschaft und der schweize- rischen Volkswirtschaft bearbeiteten. Da für historische Studien der thema- tisch-chronologische Kontext im Vordergrund steht, mussten die Dossiers zu den globalen Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz aus verschiedenen ursprünglichen Gruppen zusammengezogen und teilweise neu geordnet werden. Die Anlage der entsprechenden Dossiers war im Rahmen der frühe- ren wf-Dokumentation in erster Linie auf die politische Geschäftstätigkeit des Wirtschaftsverbandes ausgerichtet und die Artikel deshalb in verschie- denen der neun Gruppen abgelegt. Inhaltlich ist neben den wichtigsten internationalen Wirtschaftsorgani- sationen insbesondere die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und deren Verhältnis zur Schweiz in den siebziger und achtziger Jahren ausführ- lich dokumentiert. Im volkswirtschaftlichen Bereich stehen neu neben kon- junkturpolitischen Dossiers insbesondere solche zu den sich abzeichnenden Unternehmensfusionen der achtziger Jahre, zu Einkommensfragen oder der stark an Gewicht gewinnenden Konsum- und Konsumentenpolitik zur Ver- fügung. wf-Sammlung Abstimmungsplakate Die dem Archiv für Zeitgeschichte im Jahr 1999 von der wf geschenkten Ab- stimmungsplakate aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fungierten in der Zeitspanne ihres Aushangs in erster Linie als wirtschaftspolitische Wer- beträger. Dadurch, dass ihre Botschaft in einer Bildsprache abgefasst sein musste, die allgemein verständlich war und auf Sehgewohnheiten basierte,

22 machen sie zum einen politische Wahrnehmungs- und Denkmuster der Ge- sellschaft ihrer jeweiligen Entstehungszeit sichtbar. Andererseits sind sie auch unersetzliche Zeugen der Ge- samtentwicklung von Plakatkunst und -graphik in der Schweiz. Nach intensiven technischen Abklärungen und Tests konnte die lange geplante digitale Aufberei- tung aller 168 Plakate mittels der Hybridlösung Mikrosave der Firma Gubler AG in Märstetten erfolgen. In diesem Verfahren wurden die Plakate auf Kleinbilder mikrover- filmt und diese anschliessend ge- scannt. Während die Dias als Si- cherheitskopien für die Langzeitar- chivierung erstellt wurden, sind die Plakate nun jederzeit digital repro- duzierbar und multimedial verfüg- bar. Der kleine, aber ergiebige Bild- Vor 50 Jahren: Die Axt am Lebensnerv des Bun- des (Plakat gegen die von der PdA lancierte quellenbestand zur wirtschaftspo- Volksinitiative zur Abschaffung der Umsatzsteu- litischen PR steht nach der nun fol- er, eidgenössische Abstimmung vom 20. April 1952). genden Datenbankerschliessung für die Illustration von Publikationen sowie für Ausstellungen zur Verfügung. Einen Eindruck der diesen Plakaten eigenen Kraft, politische und wirtschaft- liche Postulate zu visualisieren, erhalten die Besucherinnen und Besucher des Archivs für Zeitgeschichte durch die kleine Ausstellung, die im Treppen- haus eine Auswahl zeigt. Nachlass Paul Rudolf Jolles Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften und ersten Tätig- keiten in Washington, Bern und Wien leitete Paul Rudolf Jolles als Direktor der Handelsabteilung unter anderem 1970 bis 1972 die Verhandlungen zum grundlegenden sogenannten Freihandelsabkommen mit der EG. Als Staats- sekretär und Direktor des Bundesamtes für Aussenwirtschaft BAWI und zwischen 1984 und 1990 als Verwaltungsratspräsident der Nestlé AG beklei-

23 Unterzeichnung des Freihandelsabkommens am 22. Juli 1972 (Paul R. Jolles und Bundesrat Ernst Brugger, 1. u. 2. v. l.). dete er Spitzenpositionen in Bund und Privatwirtschaft und gehörte zu den führenden Persönlichkeiten der Aussenwirtschaftspolitik. Wie im Vertrag mit dem Archiv für Zeitgeschichte von 1992 vorgesehen, erfolgte in den beiden Jahren nach dem Tod Jolles’ am 11. März 2000 in acht Ablieferungen schrittweise die Übergabe des Nachlasses durch Frau Erna Jolles-Ryffel. Der Bestand war bei seinem Eingang auf rund 300 Archivschach- teln verteilt und umfasste knapp 40 Laufmeter. Nach der letzten kleinen Nachlieferung im Juni konnten in der zweiten Jahreshälfte erste Sicherungs- massnahmen am Bestand erfolgen, der grossteils neu verpackt werden musste. Danach begannen die Verzeichnungsarbeiten an Materialien aus dem Zeitraum 1940 bis 1974 im Umfang von 8.5 Laufmetern. Unter den erfassten Dossiers aus den ersten wichtigen beruflichen Statio- nen des Nachlassers finden sich einige wenige Unterlagen zum Aufenthalt in Washington zwischen 1940 und 1949, den Jolles als Student antrat und als Mitarbeiter bei der Schweizer Botschaft abschloss. 1946 nahm er als jun- ger Sekretär an der Aushandlung des Washingtoner Abkommens teil, das für das Nachkriegsverhältnis der Schweiz zu den USA zum Prüfstein wurde.

24 Dokumente aus dem Jahrzehnt zwischen 1945 und 1954, während welchem Jolles bis 1951 im EPD und danach im EVD arbeitete, betreffen in erster Linie die Gründung wichtiger handelspolitischer Organisationen wie der OECE. Zur Tätigkeit in der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), in welcher Jolles zwischen 1957 und 1961 als stellvertretender Generaldirektor wirkte, sind Referate und Interviews erhalten. Einen inhaltlichen Hauptschwerpunkt des Bestandes bilden Unterlagen zur Integrationsthematik. Jolles’ Engage- ment in den sechziger Jahren als Delegierter des Bundesrates für Handels- verträge und erster Chef des neugegründeten Integrationsbüros war ganz entscheidend von Bestrebungen zum Brückenschlag zwischen EFTA und EWG geprägt. Der Abschluss des Freihandelsabkommens von 1972 als Höhepunkt dieser Phase ist aus der Sicht des leitenden Schweizer Unterhändlers durch ausführliche Protokoll- und Sitzungsnotizen dokumentiert. In der Folge von Yom Kippur Krieg und Erdölkrise entstanden und festigten sich nach 1974 auch in der Schweiz neue Felder der Wirtschaftspolitik, wofür Umwelt- und Energiefragen die wohl bekanntesten Beispiele sind. Entspre- chend hat sich auch das Themenspektrum erweitert, zu dem zahlreiche zu- sätzliche Dossiers angelegt wurden. Die anstehenden Erschliessungsarbei- ten an diesem Teil des Nachlasses werden nach der bereits laufenden Be- standsverzeichnung ein zeitintensives Engagement erfordern. Projekte, Kooperationen Die Arbeitsgruppe „Archive der privaten Wirtschaft“ des Vereins Schweizeri- scher Archivarinnen und Archivare (VSA) ist unter anderem im Rahmen des Projekts „arCHeco“ mit der Internet-Publikation von Eckdaten zu Wirtschafts- beständen in Archiven der Schweiz und Liechtensteins betraut (http:// www.ub.unibas.ch/wwz/vsa/vsa-arc.htm). Weitergeführt wurden die Er- hebungen zu Archiven von KMU und die Vorbereitung von Informationsma- terialien zum Projekt, mit denen diese Unternehmen für die Teilnahme an „arCHeco“ gewonnen werden sollen. Neben der langfristigen Mitarbeit unseres Dokumentationsstellenleiters Daniel Nerlich in diesem nationalen Gremium wurde durch seine Teilnahme als Referent an einem Ausbildungslehrgang in Heidelberg im Oktober auch der internationale Informationsaustausch mit der Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare (VdW) erneuert.

25 Datenbankentwicklung „FondAdmin Data“ für die Kulturstiftung Landis&Gyr in Zug Die Kulturstiftung Landis&Gyr evaluierte mit dem Ziel der Informatisierung ihrer Gesuchsverwaltung verschiedene Software von Stiftungen und öffent- lichen Institutionen. Sie beauftragte das Archiv für Zeitgeschichte, ein auf ihre spezifischen Bedürfnisse zugeschnittenes Produkt zu entwickeln. Mit der fertigerstellten relationalen Access-Datenbank „FondAdmin Data“ kön- nen die sogenannten Stammdaten von Personen und Institutionen, die sich für Unterstützungsbeiträge der Stiftung bewerben, in übersichtlichen Mas- ken elektronisch erfasst werden. Die Benutzeroberfläche besteht im wesent- lichen aus hintereinander liegenden Fenstern, welche über Reiter angewählt werden, die klassischen Karteikarten nachempfunden sind. Jedes Fenster stellt jeweils zusammengehörende Daten auf übersichtliche Weise dar. Über Schaltknöpfe können unter anderem Zusagen und Abweisungen von Gesu- chen automatisch generiert und gespeichert werden. Atelierwohnungen, welche die Stiftung in verschiedenen europäischen Städten zur Verfügung stellt, werden auf übersichtliche Weise verwaltet. Die erfassten Daten kön- nen schliesslich in Form von Berichten ausgegeben werden, was der Auf- traggeberin die gewünschten statistischen Auswertungen ermöglicht. Für unser IT-Team war dieses Projekt auch ein Test, wobei sich zeigte, dass die Erfüllung von Wünschen, die über unser Dienstleistungsangebot im Ar- chivierungsbereich hinausgehen, viel Aufwand verursacht, auch wenn sie kostendeckend erfolgt.

26 Dokumentationsbereich „Schweiz – Kalter Krieg (1945–1990)“

Die Ende der 1990er Jahre in einem eigenen thematischen Dokumentati- onsbereich zusammengefassten Bestände zur Schweiz im Kalten Krieg (1945– 1990) haben im Berichtsjahr einen markanten Zuwachs erfahren. Nachlass Gustav Däniker jun. Im vergangenen Jahr übergab Frau lic. phil. Catherine Däniker Furtwängler ergänzende Unterlagen zum Nachlass von Divisionär Dr. Gustav Däniker. Damit liegt der wohl bedeutendste Privatbestand zur schweizerischen Si- cherheitspolitik weitgehend vollständig im Archiv für Zeitgeschichte zur Bearbeitung vor. Die Nachlieferung beinhaltet vornehmlich Materialien zu den sicherheitspolitischen Berichten der Jahre 1995 und 2000, Korrespon- denzen sowie eine umfangreiche Sammlung relevanter Publikationen zur Thematik aus dem In- und Ausland. Institut für politologische Zeitfragen (IPZ) Bei der Auflösung des Instituts für politologische Zeitfragen hatte das AfZ bereits 1992 einen Teil des Geschäftsarchivs sowie der Sammlung politischer Zeitungen und Zeitschriften übernommen. 1999 kamen durch Vermittlung der Militärischen Führungsschule weitere Unterlagen aus der ehemaligen IPZ-Dokumentation hinzu, insbesondere zur Spionage in der Schweiz und zur Agitation in der Armee. Im Berichtsjahr wurde der Bestand IPZ-Archiv durch weitere Schenkungen des ehemaligen IPZ-Leiters Dr. Robert Vögeli ergänzt. Die Unterlagen decken den Zeitraum von 1966 bis 1992 ab und schliessen die nach der Übernahme des ersten Teiles vorhandenen Lücken weitgehend. Schweizerischer Aufklärungsdienst / Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Demokratie (SAD) Dank der finanziellen Unterstützung durch die Schweizerische Arbeitsge- meinschaft für Demokratie können die historischen SAD-Archivbestände im Rahmen eines mehrjährigen Projekts unter der Leitung von Werner Hagmann im Archiv für Zeitgeschichte gesichert und für die Forschung zugänglich gemacht werden. Die vierte Beitragstranche von Fr. 20’000.–, für die das AfZ dem Präsidenten des SAD, Herrn Nationalrat Dr. Ulrich Siegrist, und dem Lei-

27 tenden Ausschuss dankt, ermöglichte es, dass Frau Claudia Klinkmann zahl- reiche weitere Bereiche ordnen konnte. Neu erschlossen wurden insbeson- dere die Bereiche Beziehungen zu verwandten Institutionen und Vereinigun- gen im Inland (darunter Forum Helveticum, Redressement National, Ren- contres Suisses, Schweizerisches Ost-Institut, Schweizerische Staatsbürger- liche Gesellschaft), Internationale Kontakte (Internationaler Kontaktkreis „Volk und Verteidigung“), Finanzen, Politische Aktionen (Zivildienst, Volksin- itiative „Schweiz ohne Armee“), Öffentlichkeitsarbeit und Presseecho sowie Teile der Geschäftsakten im engeren Sinn (Statuten, Leitbild und Planung, Mitarbeiter/innen, Geschichte des/der SAD). Bereits vorgeordnete Bereiche sind inzwischen auch in der Zentralen Archivdatenbank erfasst worden (SAD- Bulletins und -Publikationen, NIZ/NDB-Bulletins, Präsidialakten Hans W. Kopp). Im Laufe der Ordnungsarbeiten tauchten immer wieder Unterlagen auf, die in bereits erschlossene Bereiche eingearbeitet werden mussten. Durch Zugänge von SAD-Unterlagen aus anderer Provenienz (Max Maurer, Dr. Georg Theodor Schwarz, Dr. Robert Vögeli) konnten Lücken in verschiede- nen Bereichen mindestens teilweise ge- schlossen werden. Vorlass Robert Vögeli Neben den Ergänzungen zum Geschäftsar- chiv des Instituts für politologische Zeitfra- gen schenkte Dr. Robert Vögeli seinen Vor- lass mit umfangreichen Unterlagen zu wei- teren Bereichen seiner beruflichen und mi- litärischen Tätigkeit. Ein Grossteil des Bestandes bezieht sich auf Vögelis Tätigkeit für die Sektion Heer und Dr. Robert Vögeli Haus des Armeekommandos. Nachdem die- se bei Kriegsende demobilisiert worden war, wurde sie 1956 unter dem Ein- druck des sich verschärfenden Kalten Krieges zu neuem Leben erweckt. Vö- geli wurde zum ersten Leiter der Dienststelle bestimmt. 1962/63 führten Divergenzen zwischen Befürwortern und Gegnern der Geistigen Landesver- teidigung in Armee und EMD zu einer Krise bei Heer und Haus. Diese Span- nungen entluden sich zwischen Brigadier Jean Schindler, Chef des Personel- len der Armee, dem die Sektion Heer und Haus unterstellt war, und Robert

28 Vögeli. Am 12. Juni 1962 erfolgte die sofortige Beurlaubung und Anfang Ja- nuar 1963 die Absetzung Vögelis als Chef von Heer und Haus. Die von Vögeli übergebenen Unterlagen reichen bis in die Zeit des Zwei- ten Weltkrieges zurück und dokumentieren vor allem seine Zeit als Leiter von Heer und Haus sowie die Umstände seiner Absetzung und die Bestre- bungen für seine Rehabilitation („Fall Vögeli“). Hinzu kommen Akten aus den 1960er bis in die 1980er Jahre. Als Milizoffizier, zuletzt im Range eines Oberst, hatte er die Funktion des Dienstchefs Heer und Haus (ab 1977 Truppeninfor- mationsdienst TID) der Felddivision 6 bzw. des Gebirgsarmeekorps 3 inne. Umfangreiche Unterlagen betreffen die psychologische Kriegsführung, zu welchem Thema Vögeli bereits 1959 eine Studie verfasst hat. Einzelne Dossiers beinhalten die Kontakte zu verschiedenen anderen Or- ganisationen im Umfeld der Geistigen Landesverteidigung. Dazu gehören die Arbeitsgemeinschaft für Geistige Landesverteidigung (AGLV), die Cam- pagne Européenne de la Jeunesse (CEJ) bzw. der Ständige Rat der Schweizer Jugend für Europäische Fragen, das Nationale Informationszentrum (NIZ) und der Schweizerische Aufklärungsdienst (SAD). Dokumentiert ist überdies der Fall Jeanmaire, insbesondere die durch eine in diesem Zusammenhang eingesetzte parlamentarische Arbeitsgruppe veranstalteten Hearings, zu denen auch Vögeli als Spionageexperte eingeladen wurde. Im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit im Dienste der Geistigen Lan- desverteidigung hat Vögeli eine reichhaltige Vortragstätigkeit entfaltet – ab 1957 bis 1990 liegen dazu Manuskripte und weitere Unterlagen vor. Seine Kenntnisse vermittelte er auch im Rahmen von Kursen und Studienreisen der Volkshochschule Bern. Einzelne Nachlässe und Bestände Als Präsident des Solothurner Lehrerbundes (1961–1979) hat sich Dr. Karl Frey (geb. 1916) gegen die Unterwanderung der Lehrerschaft durch linksextreme Organisationen gewandt. Seine aus eigenen Presseartikeln, Leserbriefen und Tagebuchnotizen zusammengestellte Dokumentation thematisiert neben der Auseinandersetzung mit der Linken unter anderem auch die Aktivdienst- zeit bis hin zur Diskussion der letzten Jahre über die Kriegsvergangenheit der Schweiz. Hans U. Steger, ehemaliger Karikaturist des Tages-Anzeigers, hat dem Ar- chiv für Zeitgeschichte Unterlagen zum von der Schweiz aus geführten poli-

29 tischen Kampf gegen die Obristen-Diktatur und für die Wiederherstellung der Demokratie in Griechenland übergeben. Darunter befindet sich ein fast vollständiger Satz des Informationsbulletins des „Comité Suisse pour le Ré- tablissement de la Démocratie en Grèce“/„Schweizerisches Komitee für De- mokratie in Griechenland“ aus den Jahren 1967–1974. Überdies enthält der Bestand einzelne Sachdossiers zu einer Pressedebatte im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg, zum Chile-Komitee Winterthur, zu Bestrebungen für ein Waffenausfuhrverbot und zum Nebelspalter. Die von Herrn Steger ge- schenkte Sammlung von Fotos zum Ersten Weltkrieg wurde als separater Bildbestand dem Fotoarchiv des AfZ beigefügt (siehe S. 37). Der Nachlass von Roland Hofmann (1939–1987) gelangte mit den Unterla- gen von Divisionär Gustav Däniker ins AfZ. Seine Geschichte ist äusserst span- nend. Roland Hofmann verbrach- te 1955 als Schüler ein Austausch- jahr in den USA. Dort liess er sich für die US Army begeistern, in die er eintrat. Nach der Ausbildung zum Fallschirmspringer besuchte er die Offiziersschule. 1961 erwarb er die amerikanische Staatsbür- gerschaft, wurde zum Leutnant befördert und in die Green Beret Special Forces eingeteilt. Es folg- ten mehrere Einsätze als Fall- schirmjäger u.a. in Taiwan, Korea und Vietnam. 1985 verliess Hof- mann im Grad eines Full Colonel die Armee und kehrte in die Schweiz zurück, wo er als Projekt- Roland Hofmann (links): Der gebürtige Schwei- leiter bei der Oerlikon-Bührle AG zer kämpfte als Offizier der Green Beret Special arbeitete. Zwei Jahre später ver- Forces der US Army im Vietnamkrieg. starb er unter nie geklärten Um- ständen in Costa Rica. Der Nachlass enthält die von seinem Vater Jakob Hof- mann gesammelte Korrespondenz, wenige Zeitungsartikel und Photogra- phien sowie vereinzelt militärische Papiere.

30 Allgemeine schweizerische Zeitgeschichte

Um das vernetzte Forschen zu einem breiten Fragenspektrum für möglichst viele Forschende zu ermöglichen, übernimmt das AfZ unter Beachtung stren- ger Auswahlkriterien auch substanzielles Quellenmaterial zur allgemeinen schweizerischen Zeitgeschichte. Im Berichtsjahr verzeichnete der Bereich folgende Neuzugänge, Nachlieferungen und Erschliessungen.

Nachlass Rudolf Bucher Dr. med. Rudolf Bucher (1899–1971), Privatdozent an der Universität Basel und damals Leiter des Blutspendedienstes der Armee im Range eines Leutnant, nahm zwischen dem 15.10.1941 und dem 29.1.1942 an der ersten Ärztemissi- on des Schweizerischen Roten Kreuzes an die Ostfront unter der Leitung von Oberstdivisionär Eugen Bircher teil. Dort wurde er Augenzeuge der Erschies- sung von sowjetischen Geiseln durch die Deutschen und erhielt Kenntnis von der Massenvernichtung der Juden sowie den grauenvollen Zuständen in den Konzentrationslagern. Die schweizerischen Behörden behinderten in der Folge seine Bemühungen, die Öffentlichkeit über die Vorgänge an der Ostfront aufzuklären. Die Schenkung des Nachlasses Dr. Rudolf Bucher verdankt das Archiv für Zeitgeschichte dessen Enkelin, Frau Françoise Blancpain. Zeitgeschichtlich am interessantesten sind die Unterlagen zur Ostfrontmission, unter ande- rem die Vereinbarung zwischen dem Oberkommando des deutschen Hee- res und dem Komitee für Hilfsaktionen unter dem Patronat des SRK, ein von Bucher verfasster Tätigkeits- und Erfahrungsbericht, Korrespondenz im Zu- sammenhang mit seiner Vortragstätigkeit oder der von der Wehrmacht aus- gestellte Personalausweis Buchers. Hinzu kommen Fotos, Dias sowie Korre- spondenzen und Rezensionen zu seinem 1967 publizierten Buch „Zwischen Verrat und Menschlichkeit“, das seine Erlebnisse an der deutsch-russischen Front im Winter 1941/42 schildert. Dokumentiert ist auch die berufliche Tätigkeit (Vorträge, Manuskripte, Pres- seartikel, Publikationen, Korrespondenz), insbesondere sein Engagement für die Schweizerische Lebensrettungs-Gesellschaft (SLRG). Als deren Leiter wurde Bucher auch zum geistigen Vater der 1952 gegründeten Schweizeri- schen Rettungsflugwacht (SRFW), der er als erster Präsident vorstand. Auch

31 Personalausweis Rudolf Buchers für seinen Einsatz im Rahmen der ersten Ostfrontmission 1941/42. zu seiner politischen Tätigkeit als Kantons- und Nationalrat des Landesrings der Unabhängigen (1947–1950) sind einige Unterlagen vorhanden. Forschungsdokumentation Reinhold Busch Dr. Reinhold Busch, der sich seit mehreren Jahren mit dem Thema Sanitäts- wesen im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt, hatte 2001 eine Forschungs- dokumentation zu den Ärztemissionen des Schweizerischen Roten Kreuzes im russisch-finnischen Winterkrieg (1939/40) sowie an der deutschen Ost- front (1941/1942) übergeben. Die Forschungsdokumentation enthält kopier- te Unterlagen namentlich von Prof. Ernst Baumann, Ernst Gerber, Dr. Robert Nicole sowie Elsi Trösch-Eichenberger. Der Bestand wurde 2002 geordnet und in der Zentralen Archivdatenbank erfasst. Bestand Elisabeth Kopp Zur Ergänzung ihrer im Freundes- und Fördererkreis des AfZ gehaltenen Rück- blicke vom 31. Oktober 2001 und 6. November 2002 überliess Frau a. Bundes- rätin Elisabeth Kopp diverse Unterlagen in Kopie zu ihrer Tätigkeit als Natio-

32 nalrätin und als erste schweizerische Bundesrätin. Diese umfassen insbe- sondere Unterlagen zur Strafrechtsreform (Stichwort: Insiderstrafnorm) so- wie zur Umweltgesetzgebung. Weitere Materialien beziehen sich auf das strafrechtliche Verfahren betreffend die Verletzung eines Amtsgeheimnis- ses, das am 23. Februar 1990 zum Freispruch durch das Bundesgericht führ- te. Vorlass Willy Sauser Die politische Laufbahn von alt Nationalrat dipl. Ing. Willy Sauser, des ehe- maligen Zentralpräsidenten der Evangelischen Volkspartei und langjähri- gen Nationalrats, ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass auch ein Vertre- ter einer kleinen Partei Einfluss nehmen kann. Seinem schon seit einigen Jahren hier befindlichen Vorlass konnten weitere Ergänzungen hinzugefügt werden. Darunter befinden sich neben biographischen Materialien (u.a. Fotos zum ETH-Studium, zum Aktivdienst und zur politischen Tätigkeit) zahl- reiche Artikel und Referate aus sechs Jahrzehnten (1933–1994), Unterlagen zu politischen Vorstössen für die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes sowie eine bebilderte Dokumentation zur Geschichte der Maschinenfabrik Oerlikon, für die Willy Sauser während vielen Jahren als Personalchef tätig war. Herrn Prof. Martin Sauser und Herrn Rudolf Sauser, den Söhnen des Donators, dankt das Archiv für Zeitgeschichte für die Vermittlung der Un- terlagen.

Nachlass Benno H. Schaeppi Benno H. Schaeppi gehörte zu jenen Schweizer Frontisten, die sich aufgrund ihrer politischen Überzeugung dazu verleiten liessen, sich als Kriegsfreiwilli- ge in den Dienst der Waffen-SS zu stellen. Seine Witwe Barbara Schaeppi hat den schon früher übergebenen Nachlass durch eine Schenkung ergänzt. Neu hinzu gekommen sind insbesondere Tonband- und Videoaufzeichnungen von Radio- und Fernsehsendungen, in welchen Schaeppi sich zu seiner Mitglied- schaft in der Waffen-SS äussert, sowie eine fast lückenlose Serie der Zeit- schrift „Die Wildente“, Organ ehemaliger Angehöriger deutscher Propagan- dakompanien. Für den Transfer der Unterlagen von Eckernförde in die Schweiz sei Herrn Rupert Lindenberg gedankt.

33 Nachlass Theophil Spoerri Herr Pierre Spoerri hatte 2001 Ergänzungen zum Nachlass seines Vaters Prof. Theophil Spoerri als Schenkung übergeben. Die Nachlieferung enthält vor allem wertvolle Korrespondenzen. Diese wurden nun erfasst und weisen neu u.a. folgende bekannte Korrespondenzpartner auf: Karl Barth, Marguerite von Bismarck, Daniel Bodmer, Ernest Bovet, Erich Brock, Elisabeth Brock-Sulzer, Emil Brunner, Martin Buber, Philipp Etter, Eduard Burnier, Walter Robert Corti, , Christian Gasser, Ernst Howald, Max Huber, Iwan Iljin, Rudolf Kassner, Philipp Muller, Max Petitpierre, Max Picard, Joseph Ratzinger, Denis de Rougement, Jean Rodolphe von Salis, Emil Staiger, Karl Vossler und Fried- rich T. Wahlen. Ebenfalls dem Nachlass beigefügt wurde die von Pierre Spoerri verfassten und 2002 im Th. Gut Verlag erschienenen Aufzeichnungen „Mein Vater und sein Jüngster – Theophil Spoerri in seiner Zeit“. Diverse Schenkungen Für kleinere Schenkungen dankt das Archiv für Zeitgeschichte allen Donato- rinnen und Donatoren, insbesondere: Dr. Tino Arnold, Prof. Dr. Jean-François Bergier, Monika Bucheli, Renato Esseiva, der ETH-Bibliothek, Dr. Robert Hän- ni, Erich A. Hausmann, Liselotte Hilb, Jüdische Rundschau / tachles, Prof. Dr. med. Huldrych M. Koelbing, Krebs-Druckerei AG, Prof. Dr. Georg Kreis, Geor- ges Levy, Dr. Rudolf Maurer, Andreas Petersen, Prof. Dr. Jacques Picard, Fritz Rigendinger, Benjamin Rothschild, Reine Seidlitz, Dr. Gregor Spuhler, German Vogt, Dr. Francis Weill, Dr. Stephan Winkler.

34 Sammlungen und Präsenzbibliothek

Für die eigenen Presseausschnittdokumentationen werden laufend verschie- dene schweizerische Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet, für deren kostenlose Zustellung wir den Verlagen herzlich danken. Ein Dank geht auch an Herrn Dr. Robert Imholz für die Auswertung der „Basler Zeitung“, welche er seit Jahren für das AfZ vornimmt. Im Berichtsjahr wurden die einzelnen Dossiertitel der Sammlung Geschichte durch Herrn Michael Schaer elektro- nisch erfasst, ebenso ein erster Teil der gegen zehntausend Personendos- siers der Biographischen Sammlung. Dadurch sind wir dem Ziel, auch unse- re gedruckten Dokumentationen über die zentrale Datenbank abfragbar zu machen, einen wesentlichen Schritt näher gekommen. Unter den Neuzugängen in diesem Bereich steht an erster Stelle die „Sammlung Ignatius Karl Schiele“. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Werbeleiter des Warenhauses Globus und geistiger Vater der „Globi“-Figur begann Schiele in den 1930er Jahren, das Zeitgeschehen mit ganzseitigen Ausschnitten (teilweise auch vollständigen Ausgaben) in- und ausländischer Zeitungen und Zeitschriften zu dokumentieren. Der Schwerpunkt der bis 1946 weitergeführten Sammlung liegt bei den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Die Vielfalt der oft bebilderten Presseberichte erlaubt einen illustrativen Quer- schnitt zu den wichtigsten Ereignissen jener bewegenden Jahre. Die Schen- kung verdanken wir Herrn Dr. Robert Vögeli, welcher die Sammlung ursprüng- lich von Emma Schiele, der Witwe von I. K. Schiele, erhalten hat. Durch Vermittlung von Herrn Dr. Bernhard Degen, Historisches Institut der Universität Bern, hat das Archiv für Zeitgeschichte Teile einer Sammlung übernommen, welche von Dr. Georg Theodor Schwarz (1930–2002), dem ehe- maligen Chef Informations- und Dokumentationsdienst des Stabes der Grup- pe für Ausbildung, später Informationschef der Zentralstelle für Gesamtver- teidigung ZGV, im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit ange- legt worden ist. Schwarz hat vor allem die Aktivitäten einer breiten Palette von gesellschafts- und militärkritischen Bewegungen und Vereinigungen dokumentiert. Das umfangreiche Konvolut von Flugblättern, Flugschriften, Broschüren und Periodika aus der Zeit des Kalten Krieges ergänzt unsere bestehenden Sammlungen in vielfältiger Weise. Die Präsenzbibliothek wurde durch den Erwerb von Neuerscheinungen zu Themenbereichen vorwiegend der schweizerischen Zeitgeschichte laufend

35 ergänzt. Dank diverser Schenkungen von Werken sowohl zur allgemeinen als auch zur jüdischen Zeitgeschichte konnten die Bibliotheksbestände trotz eines zunehmend begrenzten Budgets sinnvoll weiter ausgebaut werden. Herrn Dr. Robert Vögeli sind mehrere, zum Teil kaum auffindbare Publika- tionen vorwiegend aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie Schallplat- ten mit Tonaufnahmen zum Dritten Reich und zum Zweiten Weltkrieg zu verdanken, die unsere audiovisuelle Sammlung ergänzen. Durch die Vermittlung unserer ehemaligen Mitarbeiterin Esther Flury hat das Archiv für Zeitgeschichte eine komplette Serie 1982 bis 2002 der FRAZ („Frauezitig“ / „Frauenzeitung“) erhalten. Wir danken der FRAZ-Redaktion für diese Schenkung, ebenso für das laufende Gratisabonnement der Zeitschrift.

Audiovisuelle Quellen

Die audiovisuellen Quellen des Archivs für Zeitgeschichte bilden zum schrift- lichen Archivgut eine wichtige, immer häufiger genutzte Ergänzung. 2002 wurden sie vermehrt für Ausstellungen beigezogen, so für diejenige des Po- lit-Forums Käfigturm und der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK), die zeitgleich mit der Veröffentlichung des Ber- gier-Berichts am 22. März 2002 eröffnet wurde und seither in verschiedenen Schweizer Städten gezeigt wird. Tondokumente „Zeugen der Zeit“ Prominent an dieser Ausstellung vertreten waren Hörproben der vom Ar- chiv für Zeitgeschichte seit 1973 in regelmässigen Abständen durchgeführ- ten Kolloquien der Reihe „Zeugen der Zeit“, die heute 131 Tonbänder umfasst. Diese weisen zwar erfahrungsgemäss eine gute Haltbarkeit von mehreren Jahrzehnten auf. Hingegen entspricht die Aufnahme- und Wiedergabetech- nik nicht mehr den heutigen Standards. Für die mittelfristige Sicherung die- ser einmaligen Sammlung von Tondokumenten wurden deshalb im Berichts- jahr die notwendigen technischen Grundlagen geschaffen, welche in Zukunft auch eine schnellere Verfügbarkeit und gezielte elektronische Recherche er- möglichen sollen. Zu diesem Zweck müssen die gegenwärtig analogen Ton- dokumente in einem digitalen Format vorliegen. Seit August 2002 werden die Originalbänder auf Digital Audio Tape (DAT) überspielt und die Tonsigna- le gleichzeitig als wav-Audiodatei auf Festplatte gespeichert. Von dieser di-

36 gitalen Kopie werden im Interesse des beschleunigten Datenaustauschs komprimierte mp3-Kopien erstellt, die fortan den Benutzerinnen und Benut- zern der Kolloquien zur Verfügung stehen. Mit den Kurzprotokollen und di- versen Transskripten stehen auch Rohdaten zur Verfügung, um dereinst über eine Verknüpfung zwischen Text und Ton bzw. über ein voice retrieval sy- stem eine gezielte Absuche in den Tondokumenten vorzubereiten. Vorrang haben gegenwärtig jedoch die Sicherungsmassnahmen unserer Tondoku- mente, von denen auch am Schweizerischen Archivtag einige Auszüge den Besuchern vorgestellt wurden. Bildarchiv Das Bildarchiv verzeichnet zwei umfangreiche Neuzugänge: Von Herrn Hans U. Steger erhielten wir eine umfangreiche Sammlung von Fotografien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die über Bildagenturen verbreiteten und oft propagandistischen Zwecken dienenden Aufnahmen bieten neben Porträts

Kaiser Wilhelm II. mit Generalfeldmarschall von Hindenburg u. Generalquartiermeister von Ludendorff (Fotosammlung H. U. Steger).

37 von Kriegsführern beider Seiten zahlreiche Eindrücke von den verschiede- nen Kriegsschauplätzen und der diversen Waffengattungen, welche diesen ersten globalen Konflikt in so tragischer Weise prägten. Die thematisch ge- gliederten Fotodossiers wurden nach ihrer Verpackung in fotogerechte Be- hältnisse in der zentralen Datenbank erfasst. Von Prof. Dr. Andreas Pospischil erhielten wir rund 1500 Aufnahmen, die sein Vater Gustav Pospischil im Zweiten Weltkrieg an der deutschen Ostfront gemacht hat. Der 1914 in Wien geborene und dort aufgewachsene passio- nierte Fotograf wurde bald nach dem „Anschluss” Österreichs in die deut- sche Wehrmacht eingezogen und einer Propagandakompagnie zugeteilt, die für die Bildberichterstattung von der Kriegsfront Filmer, Frontzeichner und Fotografen einsetzte und ihr Hauptquartier in Potsdam hatte. Von dort aus leistete Gustav Pospischil verschiedene Einsätze als Kriegsfotograf, u.a. an der Ostfront. Nach dem Krieg blieb Pospischil als freier Fotograf in München tätig. Dank der praktisch durchgehenden Nummerierung der Abzüge und der mitgelieferten Legenden lassen sich zahlreiche Aufnahmen gemäss der Reihenfolge ihrer Entstehung datieren und die Motive sowie Schauplätze näher bestimmen. Die Feinordnung und Erschliessung ist für 2003 geplant.

38 IT-Bereich

Die IT-Abteilung nimmt innerhalb des Archivbetriebs eine immer bedeuten- dere Schlüsselstellung ein. Es gibt kaum einen Arbeitsbereich, der von den rapiden Entwicklungen der Informationstechnologie unberührt bleibt. Ne- ben dem Support gehört es zu den Hauptaufgaben des Teams, für die spezi- ellen Bedürfnisse des AfZ adäquate IT-Lösungen zu finden und das vernetz- te historische Forschen auch im Internetzeitalter wirksam zu unterstützen. Software-Aktualisierungen, Integration in das ETH-Netz Bis ins Jahr 2001 musste das dem Archiv für Zeitgeschichte zugewiesene Budget für Informatikmittel jeweils im laufenden Rechnungsjahr aufge- braucht werden. Demzufolge wurde jedes Jahr ein Teil der Hardware ersetzt. Mit der neuen Regelung, nicht verwendete Gelder für Investitionen ins neue Budgetjahr überführen zu können, ist es im Ansatz möglich geworden, eine Flottenpolitik zu betreiben. Dies ist wichtig, weil dadurch die Voraussetzung gegeben ist, einen möglichst einheitlichen Hardware-Standard zu gewähr- leisten und Softwareaktualisierungen an allen Arbeitsplätzen gleichzeitig vornehmen zu können. So wurden im Jahr 2002 jene Computer, welche die Voraussetzungen für die nötige Erneuerung des Softwarepaketes nicht mehr erfüllten, durch neue Maschinen ersetzt. Auf den Arbeitsstationen wurde das bewährte, aber in die Jahre gekom- mene Betriebssystem Windows NT 4.0 durch den Nachfolger Windows 2000 professional abgelöst. Corel Office 7 wurde durch MS-Office 2000 ersetzt. Auch alle andern Programme, welche zu einem zeitgemässen Computer- Arbeitsplatz gehören, mussten auf den neusten Stand gebracht werden. Als aufwändig erweist sich der Schutz vor Viren und Hackerangriffen, denen Computernetze in zunehmendem Masse ausgesetzt sind. Die Nutzung von Informationen in digitaler Form erfordert zuverlässige und schnelle Übertragungswege. Mit Unterstützung der Netzwerkdienste der ETH Zürich wurde die Übertragungsgeschwindigkeit innerhalb des Hau- ses von 10Mbit/s auf 100Mbit/s erhöht. Dies ermöglicht den vernetzten Zu- griff auf Multimedia-Daten wie z.B. Tondokumente, Bilder und Filmsequen- zen.

39 Die zunehmende Verlagerung der Informationsflüsse auf digitale Technolo- gien verlangt auch leistungsfähigere und zuverlässigere zentrale Rechner, deren Einsatz eine sorgfältige Planung erfordert. Im Berichtsjahr musste abgeklärt werden, in welcher Form die Integration in das ETH-Netz möglich und sinnvoll ist. Die diesbezüglichen Evaluationen und Planungen sind weit- gehend abgeschlossen und werden im Jahr 2003 umgesetzt werden. virtual archives: Ausbau des Informationsangebots Die Website des AfZ hat sich zur unentbehrlichen Informationsplattform für unsere Benutzerinnen und Benutzer entwickelt. Neben der periodischen Aktualisierung der bestehenden Informationen wird an der Erweiterung des Informationsangebots gearbeitet. Für die Absuche des Bestände-Index wur- de im Januar 2003 ein Update des Xylix-Retrieval Systems installiert, das eine weitere Verbesserung der Performance brachte. Da viele Zugriffe auf die AfZ- Website aus Übersee erfolgen, hatte im Berichtsjahr die Übersetzung der Website auf Englisch Priorität, die Herr Marc Wirzer anfangs November 2002 in Angriff nahm. Für die Volltextrecherche wurde 2001 die EUROSPIDER-Suche in der Zen- tralen Datenbank entwickelt. Seit der Migration auf einen neuen Server (Ok- tober/November 2002) bewährt sich dieses System im internen Benutzungs- dienst. Für die hierarchische Absuche der Findmittel werden gegenwärtig verschiedene Optionen getestet. Zur Schonung der Originale sowie um effiziente Recherchen und eine ra- sche Bereitstellung von digitalisierten Unterlagen im Lesesaal ermöglichen zu können, verfolgt das Archiv für Zeitgeschichte verschiedene Strategien. Die entsprechenden Evaluationen bezogen sich 2002 auf die technische Machbarkeit und zeitigten – insbesondere bezüglich des Arbeitsschritts der Digitalisierung heterogenen Massenguts – noch keine Resultate, die unse- ren Anforderungen für eine Gesamtlösung entsprechen. Programmierungen Zur Unterstützung verschiedener Zwischenschritte des Gesamtprozesses von der Originalakte zum digitalen Dossier wurde ein Tool entwickelt, mit dem spezielle interne Abfragen und Auswertungen aus der Zentralen Archivda- tenbank „DACHS“ durchgeführt werden können. Erleichtert wurden z.B. die

40 Generierung von Etiketten und Deckblättern für die Mikroverfilmung/Digi- talisierung. Auch können nun Digitalisate in einem weitgehend automati- sierten Verfahren an die Datenbank angebunden werden. Die Neubearbeitung der VSJF-Datenbank beanspruchte unseren IT-Spezia- listen intensiv. Für die Erfassung der 12’360 Personendossiers des Archivs des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen / Fürsorgen (VSJF, sie- he S. 9) hatte das ursprüngliche Filemaker-Format der VSJF-Datenbank nütz- liche Dienste geleistet. Um komplexere Abfragen und statistische Auswer- tungen zu realisieren sowie um Recherchen in begrenztem Rahmen auf dem Internet zu ermöglichen, musste die Datenbank in eine modernere Umge- bung migriert werden. Ende 2002 konnte Felix Reichlin die Erstversion einer MS-SQL-Datenbank mit einer ODBC-Verbindung zu MS Access für einen er- sten Testlauf freigeben. Dieser zeigte, dass sich die Abfragemöglichkeiten und -kombinationen in den über 20’000 Datensätzen mit jeweils über 100 Datenfeldern wesentlich erweitern lassen. Parallel zur Etikettierung der Per- sonendossiers erfolgte eine Nachkontrolle der Konsistenz der Daten, eine notwendige Anpassung des Datenmodells und eine Optimierung der Be- nutzeroberflächen. Damit sind wesentliche Grundlagen für die weitere Aus- wertung und externe Nutzung der Datenbank geschaffen worden.

41 Veranstaltungen und Präsentationen

Schweizerischer Archivtag Im Vordergrund der Öffentlichkeitsarbeit des Archivs für Zeitgeschichte ste- hen fachspezifische Bildungs- und Schulungsanlässe sowie thematisch kon- zipierte Präsentationen und Führungen für interessierte Gruppen. Durch die Beteiligung am Schweizerischen Archivtag vom 16. November bot sich erst- mals die Gelegenheit, Kerntätigkeiten, Sammelschwerpunkte und aktuelle Projekte auch einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Rund 40 private und öffentliche Archive öffneten unter dem Patronat des Berufsverbands, des Vereins der Schweizer Archivarinnen und Archivare (VSA), ihre Türen für die Bevölkerung. Unter dem Motto „’Brennpunkt Zeitgeschich-

Die Zeitgeschichte im Original(ton) zieht am Schweizerischen Archivtag vom 16. November Alt und Jung in ihren Bann. te’ – Quellensicherung für die Forschung“ nahm auch das Archiv für Zeitge- schichte an diesem Anlass teil und präsentierte sich rund 100 interessierten Besucherinnen und Besuchern. Auf einem Rundgang und mit einer Ausstel- lung im Lesesaal gab es dabei Einblick in die Arbeitsabläufe eines Archivs und in seine aktuellen Informationsvermittlungs- und Erschliessungsprojek- te. Neben der Demonstration archivischer Hauptaufgaben wie dem Sichern von Originaldokumenten durch fachgerechte Verpackung, Ordnung und Ver- zeichnung konnte man sich über die vielfältigen Recherchemöglichkeiten in unseren Beständen orientieren lassen und den Forschungsdrang gleich selbst

42 am Computer befriedigen. Experten durften ausführlich über Vor- und Nach- teile des hybriden Dokumentenmanagements fachsimpeln, während sich interessierte Laien die Arbeitsschritte von Mikroverfilmung und Digitalisie- rung am konkreten Beispiel zeigen liessen. Wer weniger an technischen Fra- gen interessiert war, liess sich über unser Projekt zu den sogenannten „Beu- teakten“ aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau orientie- ren, besuchte die Ausstellung von politischen Abstimmungsplakaten im Trep- penhaus oder liess sich von Trouvaillen unter den Archivalien im Lesesaal faszinieren. Die Begegnung mit dem Original – worin ja das Hauptkapital eines jeden Archivs besteht – ermöglichten auch die Bild- und Tondokumen- te. Die Vorführung politischer Propagandafilme aus den fünfziger Jahren oder das Anhören von Ausschnitten aus den Kolloquien des AfZ an Tonsäulen im ganzen Haus fanden eine erfreuliche Resonanz. Dass es dabei zu spontanen und lebhaften Äusserungen über das Gehörte oder Gesehene und zu ange- regten Diskussionen unter den Anwesenden kam, zeigte, wie spannend und kontrovers die Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte sein kann und war ein schöner Lohn für die Arbeit des ganzen AfZ-Teams.

Oral History: Kolloquien zur Zeitgeschichte Seit 1973 veranstaltet der Freundes- und Fördererkreis des Archivs für Zeit- geschichte Kolloquien mit Zeugen der Zeit, deren Erinnerungen als Tondo- kument ad personam festgehalten werden. Diese Reihe wurde 2002 mit Rückblicken folgender Persönlichkeiten fortgesetzt:

20. 3. 2002: a. Regierungsrat Prof. Dr. Hans Künzi: Engagiert für Wissenschaft und Politik – persönlicher Rückblick 1955–2001. 9.6.2002: a. Nationalrat Prof. Dr. Walther Hofer: Für Zeitgeschichtsfor- schung und Politik: Vier bewegte Jahrzehnte im Rückblick (2. Teil: 1960–2001). 6.11.2002: a. Bundesrätin Elisabeth Kopp: „Von der Einsamkeit der Exeku- tiv-Position in die Einsamkeit der Exekutierten” - Rückblick Teil 2: 1988–2002. 18.12.2002: Prof. Dr. Werner Weber: Erfahrungen eines Literaturkritikers - Rückblick als NZZ-Feuilletonchef und Hochschullehrer 1946– 1987.

43 Weiterbildungsveranstaltungen und Führungen

10.1.2002: Proseminar des Historischen Seminars der Universität Zürich (Dr. Luis Calvo Salgado): Präsentation des Gesamtarchivs und von Quellen zum Thema „Ausländerpolitik in der Nachkriegs- zeit“ 8.2.2002: Proseminar des Historischen Seminars der Universität Basel (Dr. Eric Petry): Präsentation des Gesamtarchivs und zum Thema „Jü- dische Zeitgeschichte“ 17.2.2002: Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Jüdische Zeitgeschichte: Vortrag zum Thema „Die Öffentlichkeitsarbeit des SIG und sei- ner Pressestelle JUNA 1933–1945“ 6.3.2002 Ausbildung von Informations&Dokumentations-Assistenten der Berufsschule Zürich im AfZ (Dr. Peter Scheck): Präsentation des Gesamtarchivs 22.3.2002: Direktion Kulturstiftung Landis&Gyr: Gesamtpräsentation AfZ 24.4.2002: Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Uni- versität Zürich (Dr. Patrick Kury): Präsentation des Gesamtarchivs und von Quellen zum Thema „Antisemitismus in der Schweiz“ 11.11.2002: Proseminar des Historischen Seminars der Universität Zürich (Dr. Luis Calvo Salgado): Gesamtpräsentation des Archivs sowie von Quellen zum Thema „Ausländerpolitik in der Nachkriegs- zeit“ 26.11.2002: Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Uni- versität Zürich (Dr. Patrick Kury): Präsentation des Gesamtarchivs sowie von Quellen zum Thema „Antisemitismus in der Schweiz“

Externe Präsentationen 24.1.2002: DACHS-user group Schweiz (Liestal): Präsentation des Informa- tion Retrieval System EUROSPIDER für DACHS (Jonas Arnold) 4.6.2002: Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Bern: Präsentation des SFH-Archivs im AfZ (Jonas Arnold) 8.10.2002: „Wirtschaftsarchive und WirtschaftsarchivarInnen in der Schweiz“. Vortrag im Rahmen des 49. VdW-Lehrgangs „Einfüh- rung in das Wirtschaftsarchivwesen“ der Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare e.V. in Heidelberg (Daniel Nerlich)

44 Benutzung

Im Berichtsjahr verzeichnete das AfZ insgesamt 505 Benutzungen im Lese- saal. Dank vorgängiger Konsultation der AfZ-Website sind die Benutzenden schon bei ihrer Anmeldung oft erstaunlich gut über die hier vorhandenen Archivbestände informiert. Die Homepage des AfZ wurde monatlich im Durchschnitt 1460 mal aus 920 Domains angesteuert (gegenüber 1340 mal aus 500 Domains im Jahr 2001). Die Zahl der Zugriffe auf die gesamte Web- site (inklusive Unterseiten) stieg von 38’500 auf 47’980 pro Monat.

Die wachsenden Benutzerzahlen der Website unterstreichen auch die Wichtigkeit der Inter- netprojekte des AfZ.

Als Belastung erwiesen sich die mehrmonatigen Umbauarbeiten im Zusam- menhang mit der Erneuerung der Klimaanlage. Der Lesesaal blieb zwischen dem 20. September und dem 11. Oktober 2002 während mehr als drei Wo- chen gänzlich geschlossen. Auch in den Wochen danach erlaubten die fort- dauernden Bauarbeiten und die damit verbundenen Beeinträchtigungen nur einen reduzierten Benutzungsbetrieb. Am meisten benutzt wurden die grossen institutionellen Bestände zur jüdischen Zeitgeschichte, insbesondere das SIG- und das VSJF-Archiv, deren Erschliessung im Berichtsjahr weitgehend fertiggestellt werden konnte. Re-

45 ger Nachfrage erfreute sich auch das Vorort-Archiv. Neben den institutionel- len Beständen am häufigsten beigezogen wurden die für einen Einstieg in verschiedenste Themenbereiche wertvollen gedruckten Dokumentationen, insbesondere die vom AfZ selbst angelegten Sammlungen, die Presseaus- schnittdokumentationen der Wirtschaftsförderung und der NZZ sowie die Handbibliothek. Aus 55 verschiedenen Nachlässen und Einzelbeständen wurden Dossiers verlangt: Angeführt wird die Rangliste durch die Nachlässe Paul Vogt, Moses Silberroth, Hermann Levin Goldschmidt und Hans Bernd Gisevius – Bestände mit Bezug zur jüdischen Zeitgeschichte und zum Zwei- ten Weltkrieg. Wiederholt gefragt waren schliesslich Tonbandaufzeichnun- gen von Kolloquien mit Zeitzeugen, kleinere institutionelle Bestände, ver- filmte und kopierte Aktenbestände aus ausländischen Archiven sowie For- schungsdokumentationen. Jede zweite Benutzung bezog sich auf ein breites Spektrum von Themen zur allgemeinen schweizerischen Zeitgeschichte. Hierzu gehören vermehrt auch Fragestellungen zum Kalten Krieg. Zahlreiche Recherchen galten der Zwischenkriegszeit und den Kriegsjahren, unter anderem deutschfreundli- chen Bewegungen, Widerstandsbestrebungen und deren Exponenten in der Schweiz und in Deutschland, Nachrichtendienst und Spionage, den diplo- matischen Beziehungen der Schweiz zum Dritten Reich (Herbert Blanken- horn, Ernst von Weizsäcker) und dem humanitären Engagement (IKRK). Bei den Themen aus der Nachkriegszeit standen die Flüchtlings- und Auslän- derpolitik sowie die Aussenpolitik (bilaterale Beziehungen, internationale Organisationen) im Vordergrund. Zahlreiche Recherchen galten Persönlich- keiten der Zeitgeschichte. Mit 38 Prozent betraf mehr als jede dritte Benutzung inhaltlich die jüdi- sche Zeitgeschichte. Der zeitliche Schwerpunkt lag dabei wiederum bei der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg. Der Grossteil befasste sich mit Themen rund um die Flüchtlingspolitik der Schweiz während der NS- Zeit; mehrere Recherchen galten dabei den im VSJF-Archiv dokumentierten Einzelschicksalen von Flüchtlingen, teils zu wissenschaftlichen Zwecken, oft aber auch aus persönlichem Interesse durch die Betroffenen selbst oder durch deren Nachkommen und Angehörige. Der Antisemitismus in der Schweiz und verschiedene jüdische Persönlichkeiten waren Gegenstand weiterer Forschungen.

46 11 Prozent der Benutzungen lassen sich dem Bereich Wirtschaft und Zeitge- schichte zuordnen. Forschungen unter Beizug des Vorort-Archivs fanden er- neut hauptsächlich im Rahmen grösserer wissenschaftlicher Studien statt, also für Lizentiatsarbeiten und Dissertationen und insbesondere im Zusam- menhang mit dem Nationalen Forschungsprogramm 42+, das den Beziehun- gen zwischen der Schweiz und Südafrika gewidmet ist. Zu den im Berichts- jahr neu begonnenen Studien gehören solche zur Schweizer Beteiligung an der Weltraumforschung, zur Entstehung der privaten Altersvorsorge, zur Frau- enarbeit in der Industrie während des Zweiten Weltkriegs, zur Exportrisiko- garantie als Instrument der Exportförderung oder auch zu den bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA in den fünfziger Jahren. Weitere Benutzungen galten insbesondere der Fiskal- und der Währungs- politik. Im Vordergrund standen die Benutzungen zu wissenschaftlichen Zwek- ken (49 Prozent), meist für eine Arbeit im Rahmen eines Hochschulstudi- ums. Jeder vierte Archivbesuch (24 Prozent) diente journalistischen oder publizistischen Vorhaben. Knapp 14 Prozent der Besucher und Besucherin- nen kamen in amtlichem bzw. beruflichem Auftrag, während rund 9 Prozent ein privates Interesse geltend machten. 4 Prozent der Benutzenden schliess- lich kamen aus Berufs- und Mittelschulen. Fast ein Viertel stammte aus dem Ausland, vorwiegend aus Deutschland (rund 13 Prozent), aus Frankreich, Israel, Kanada und USA, je eine Person aus Australien, Belgien, Luxemburg, Österreich, Rumänien und Schweden.

Eingegangene Belegexemplare 2002 • August R. Lindt. Patriot und Weltbürger. Hg. von Rolf Wilhelm, Pierre Gygi, David Vogelsanger und Esther Iseli, Bern / Stuttgart / Wien 2002. • Bosshard, Hans: Die Kilchberger „Sportschule Maag“. Ein illegales Unternehmen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg, Kilchberg 2002 (44. Neujahrsblatt der Gemeinde Kilchberg). • Breitenmoser, Christoph: Strategie ohne Aussenpolitik. Zur Entwicklung der schweizerischen Sicherheitspolitik im Kalten Krieg, Diss. Zürich, Bern 2002 (Stu- dien zu Zeitgeschichte und Sicherheitspolitik, hg. v. Kurt R. Spillmann u. Andreas Wenger, Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse, ETH Zürich, Bd. 10). • Busch, Reinhold: Die Schweiz, die Nazis und die erste Ärztemission an die Ost- front, Berlin 2002 (Geschichte(n) der Medizin. Hg.: Reinhold Busch, Bd.7).

47 • Frech, Stefan / Gees, Thomas / Kropf, Blaise / Meier, Martin: Bilaterale Arrange- ments und korporatistischer Entscheidungsprozess. Schweizerische Aussenwirt- schaftspolitik und europäische Integrationskonzepte 1930–1960. Separatdruck aus: Europäische Integration. Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeu- ropa 1920–1960, Göttingen 2002, S.223–251 (Beiträge zur Geschichte des Natio- nalsozialismus Bd.18). • Friedli, Marcel: „Die letzte Chance“. Die kontroverse Zensurgeschichte des Flücht- lingsfilms der Zürcher Praesens Film vom August 1944 bis Mai 1945, Lizentiatsar- beit Freiburg i. Ue. 2001. • Gerosa, Tobias: „Die Schweiz den Schweizern“. Überfremdungsbewegungen 1960 bis 1980. Die „Nationale Aktion für Volk und Heimat“, Lizentiatsarbeit Zürich 2001. • Giossi, Bertilla / Bruderer, Ruedi: Curaschi Civil. Reto Caratsch – Gaudenz Canova – Anton Bühler. Fernsehfilm Televisiun Rumantscha, Chur 2002. • Heller, Daniel: Zwischen Unternehmertum, Politik und Überleben. Emil G. Bühr- le und die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon Bührle & Co. 1924–1945, Frauen- feld 2002. • Hirt, Pascal: Das bundesrätliche Neutralitätskonzept und seine Implementation 1919–1937. Eine Studie am Beispiel der schweizerisch-italienischen Beziehungen, Lizentiatsarbeit Zürich 1999. • Kamber, Martin: Die neutrale „Basler Hilfsstelle für Flüchtlinge“ am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Lizentiatsarbeit Basel 2001. • Kleinewefers, Marc: Les bouillons de la culture du consensus politique suisse. Le Forum Helveticum, organisme fédérateur des associations civiques suisses (1968– cont.), Seminararbeit, Fribourg 2002. • Kuder, Martin: Italia e Svizzera nella seconda guerra mondiale. Rapporti econo- mici e antecedenti storici, Carocci editore, Roma 2002, 188 S. (Italia contempora- nea 3). • Lüthi, Thomas: Die BGB und der Faschismus. Das Verhältnis der Bauern-, Gewer- be- und Bürgerpartei zum Rechtsextremismus 1933–1935 am Beispiel der Kanto- nalparteien Bern und Zürich, Lizentiatsarbeit Basel 2001. • Müller, Beat: „Prüfstein“ Weltkrieg – „...und dass wir nicht geschwiegen haben wie ein stummer Hund...“. Die Evangelische Kirche des Kantons Thurgau zwi- schen Anpassung und Widerstand im 2. Weltkrieg, Lizentiatsarbeit Freiburg i. Ue. 2001. • Obrist, Urs: Die heimliche Anerkennung Südvietnams durch die Schweiz. Die Beziehung der Schweiz zum geteilten Vietnam (1954–1963), Frauenfeld / Stutt- gart / Wien 2001 (Studien zur Zeitgeschichte, hg. v. Urs Altermatt, Bd. 2). • Ochsner, Simone: Reaktionen der Deutschschweizer Bevölkerung auf den Sechs- Tage-Krieg 1967. Eine Untersuchung anhand von Beiträgen in der National-Zei- tung und der Neuen Zürcher Zeitung, Seminararbeit, Zürich 2002. • Richardot, Jean-Pierre: Une autre Suisse, 1940–1944, Paris 2002. • Schmahl, Johanna: Therese Giehse im Schweizer Exil – Politische Wirkung und Selbstverständnis, Magisterarbeit, Bochum 2002.

48 • Spoerri, Pierre: Mein Vater und sein Jüngster. Theophil Spoerri in seiner Zeit, Stäfa 2002. • Steffen Gerber, Therese: Das Kreuz mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz. Die Bezie- hungen zwischen der Schweiz und der DDR in den Jahren 1949–1972. Diss. Bern, Berlin 2002. • Stamm, Thomas: Der Vorort im Spannungsfeld zwischen Politik und Wirtschaft. Zum Einfluss eines Wirtschaftsspitzenverbandes auf die Schweizerische Wirt- schaftspolitik im Zweiten Weltkrieg (1933–1945), Seminararbeit Zürich 2000. • Trachsler, Daniel: Neutral zwischen Ost und West? Infragestellung und Konsoli- dierung der schweizerischen Neutralitätspolitik durch den Beginn des Kalten Krieges, 1947–1952, Zürich 2002 (Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Kon- fliktforschung Nr.63, Hg.: Kurt R. Spillmann u. Andreas Wenger, Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH Zürich). • Tschirren, Jürg: Negationistische Propaganda in der Schweiz 1946–1964, Lizenti- atsarbeit, Freiburg i. Ue. 1999. • Voigt, Klaus: Villa Emma. Jüdische Kinder auf der Flucht 1940–1945, Berlin 2002 (Reihe „Solidarität und Hilfe. Rettungsversuche für Juden vor der Verfolgung und Vernichtung unter nationalsozialistischer Herrschaft”, hg. im Auftrag des Zen- trums für Antisemitismusforschung von Wolfgang Benz, Bd.6). • Von der katholischen Milieuorganisation zum sozialen Hilfswerk. 100 Jahre Cari- tas Schweiz. Hg.: Caritas Schweiz. Mit Beiträgen von Urs Altermatt, Jonas Ar- nold, Jürg Krummenacher, Stephan Oetterli, Simone Prodolliet, Mathias Schmid- halter, Luzern 2002. • Wegmüller, Stefan: Perception de l’art contemporain dans l’espace public suis- se: les réactions aux oeuvres du sprayer de Zurich, Harald Naegeli (1977–1984), Seminararbeit, Fribourg 2002. • Wende, Frank u.a.: Deutschsprachige Schriftsteller im Schweizer Exil 1933–1950. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Bibliothek, Wiesbaden 2002 (Gesellschaft für das Buch Bd. 8). • Zweig-Strauss, Hanna: David Farbstein (1868–1953), jüdischer Sozialist – soziali- stischer Jude, Zürich 2002.

49 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Zum Team des Archivs für Zeitgeschichte gehörten 2002 zeitweise 22 Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter. Für die Temporäreinsätze erwies sich die Zu- sammenarbeit mit der Stiftung Chance und mit der Dienststelle Ergänzen- der Arbeitsmarkt der Stadt Zürich als ausserordentlich hilfreich und nütz- lich. Mit Frau Elisabeth Eggimann, Herrn György Csernyik und Herrn Ernst Diet- helm verliessen 2002 gleich drei langjährige Mitarbeiter das AfZ-Team. Frau Eggimann arbeitete seit Oktober 1998 an der Ordnung des SIG-Archivs mit und erschloss insbesondere das sogenannte Schächtarchiv sowie die Akten des Ressorts Jugend. Herr Diethelm war seit Mai 2000 Leiter des IT-Bereichs. Als erfahrener Spezialist setzte er die Akzente vor allem auf die technische Modernisierung der IT-Strukturen sowie auf den optimalen Einsatz der ver- fügbaren Ressourcen. Er verstand es, die Anliegen und Projekte der Archivar- Innen kompetent umzusetzen. Ende September 2002 wählte Herr Diethelm eine selbständige Tätigkeit in der Privatwirtschaft, bleibt dem Archiv jedoch weiterhin beratend verbunden. Seine Funktionen übernahm Jonas Arnold, der neben den „Stabsdiensten“ unter entsprechender Beförderung künftig auch den IT-Bereich leitet. Herr György Csernyik trat Ende April 2002 in den Ruhestand; er hat seit August 1997 die Erschliessung des wf-Archivs entscheidend mitgetragen. Nach der Groberfassung des Nachlasses Warda Bleser-Bircher verliess Frau Mirjam Bugmann per Ende Februar 2002 das AfZ, um sich ihrer Lizentiatsar- beit zu widmen. Für die Fortführung dieses Erschliessungsprojekts konnte ab November 2002 Frau Rahel Wöhrle gewonnen werden. Im Rahmen befri- steter Anstellungen wirkten Frau Sabina Bellofatto, Herr Paul Bruder und Frau Elsbeth Dubach bei der wf-Dokumentation sowie Herr Raphael Sauter und Herr Borislav Curic bei der Erschliessung weiterer Bestände mit. Seit Anfang Februar erweitert Herr Felix Reichlin als Informatiker das IT-Team und arbei- tet bei der Programmierung von Eigenentwicklungen. Für die Erfassung der umfangreichen biographischen Sammlung wurde Herr Michael Schaer ge- wonnen. Frau Barbara Meili und Herr Benno Walser unterstützten das VSJF- Team bei den Abschlussarbeiten des Projekts. Herr Marc Wirzer nahm im November 2002 die Übersetzung der Website in Angriff.

50 Publikationen • Arnold, Jonas: Der Schweizerische Caritasverband 1933–1945, in: Caritas Schweiz (Hrsg.): Von der katholischen Milieuorganisation zum sozialen Hilfswerk. 100 Jahre Caritas Schweiz, Luzern 2002, S. 105–160. • Funk, Michael: „Warum sollen wir die Sprache erst wieder finden, wenn wir ge- schlagen werden“. Die Öffentlichkeitsarbeit des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes von 1933 bis 1944, unveröffentlichte Lizentiatsarbeit an der Universität Freiburg i. Ue.., 2002. • Gerson, Daniel: Der Jude als Bolschewist, Die Wiederbelebung eines Stereotyps, in: Wolfgang Benz und Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Para- digma, Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002, S. 106–112. • Gerson, Daniel: Schweiz, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Lexikon des Holocaust, Mün- chen 2002, S. 211–213. • Hagmann, Werner: Eine verloren geglaubte Chronik im Internet entdeckt. Die Aufzeichnungen des Landwirts Christian Hagmann aus Sevelen, in: Werdenber- ger Jahrbuch 16 (2003), Hg.: Historisch- Heimatkundliche Vereinigung des Be- zirks Werdenberg, Buchs SG 2002, S.180–185. • Keller, Zsolt: „Kuonen, Roland: Gott in Leuk. Von der Wiege bis ins Grab – Die kirch- lichen Übergangsrituale im 20. Jahrhundert (Religion – Politik – Gesellschaft in der Schweiz, S. 28), Freiburg/Schweiz 2001“, in: Schweizerische Zeitschrift für Ge- schichte 52 (2002), S. 246–247 (Rezension). • Keller, Zsolt: „Stell dir vor, es ist Krieg und die Schweiz treibt Handel“. Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Ein (Schluss-)Bericht, in: Zwi- schenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstandes, 19 (2002), S. 4–7. • Keller, Zsolt: Die Schweiz und Terrorismus, in: tachles. Das jüdische Wochenma- gazin, Nr. 32 (2002), S. 6–9. • Keller, Zsolt: „L’armée est en dehors de toutes questions de confession!“. Jüdi- sche Soldaten und Offiziere in der Schweizer Armee, in: Bulletin der Schweizeri- schen Gesellschaft für Judaistische Forschung, Nr. 11, 2002. • Meier, Ursula: Datenschutzrechtliche Probleme am Beispiel des Archivs des Ver- bands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH Zürich, unveröffentlichte Semesterarbeit im Rahmen des 7. NDS In- formation und Dokumentation an der HTW Chur, Zürich 2002. • Meier, Ursula: Formen und Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit in Archiven. Eine Erhebung in Archiven in der Stadt Zürich, unveröffentlichte Projektarbeit im Rah- men des 7. NDS Information und Dokumentation an der HTW Chur, Zürich 2002. • Nerlich, Daniel: „Aëtius, Flavius“, „Ammianus Marcellinus“, „Asclepiodotus, Pon- tius“, „Attila“, „Augustus“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, herausgegeben von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Bd. 1, Basel 2002. • Urner, Klaus: „Let’s Swallow ”: Hitler’s Plans against the Swiss Con- federation. Translated by Lotti N. Eichhorn. Foreword by Gen. Alexander M. Haig Jr., Lexington Books, Lanham – Boulder – New York – Oxford 2002.

51 Stiftungen und Fonds

Stiftungen, Fonds und Legate zugunsten des Archivs für Zeitgeschichte tra- gen ganz entscheidend dazu bei, dass es seine Aufgaben wahrnehmen kann. Welche Unterstützung die mit ihm verbundenen Förderungswerke leisten, geht aus den nachfolgenden Berichten hervor. Anderweitige Aktivitäten, die das Archiv für Zeitgeschichte nicht direkt betreffen, werden nur am Rande mit einbezogen. Stiftung Dialogik, Mary und Hermann Levin Goldschmidt-Bollag Die Stiftung Dialogik hatte dem Archiv für Zeitgeschichte für die Planungs- jahre 2002–2004 einen jährlichen Kredit von 100’000 Franken zugesprochen. Aus der ersten Jahrestranche wurden Beiträge an die Finanzierung der Stel- len von Jonas Arnold, Regina Gehrig und Daniel Gerson geleistet. Letzterer führt das Stiftungssekretariat und ist für die Erschliessung und Betreuung der Nachlässe der Stifter besorgt. Zudem konnte zeitweise eine studenti- sche Hilfskraft für die Verfilmung von Quellenbeständen aus ausländischen Archiven mit Bezug zur schweizerischen und jüdischen Zeitgeschichte ein- gesetzt werden. Empfängerin des Doktorandenstipendiums der Stiftung Dialogik für das Jahr 2002 ist Frau Susanne Bennewitz aus Basel. In ihrer Dissertationsarbeit, die sich mit der Entstehung einer städtischen jüdischen Gemeinde in Basel im frühen 19. Jahrhundert (1789–1860) befasst, erforscht Frau Bennewitz den Ablauf der Migration, Akkulturation und Integration dieser ersten, aus dem Elsass stammenden jüdischen Einwanderer, die sich in Basel niederliessen. Am 27. August 2002 fand die Jahressitzung des Stiftungsrates im Archiv für Zeitgeschichte statt. Das Archiv für Zeitgeschichte und seine Dokumen- tationsstelle Jüdische Zeitgeschichte danken dem Stiftungsrat und seinem Präsidenten Prof. Dr. Willi Goetschel für die gewährte Unterstützung.

Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich Die Stiftung Jüdische Zeitgeschichte ermöglichte die Fortführung der Teil- zeitstelle von Ursula Meier, die vorwiegend in den Bereichen Benutzung und Erschliessung tätig ist, und beteiligte sich an den Anstellungen von Regina Gehrig (VSJF-Erschliessung, Benutzung, Bibliothek) , von Daniel Gerson (Be- nutzung, Erschliessung VSJF-Archiv) und Herrn Jure Tornic (Erschliessung der

52 SFH-Dokumentation, Mitarbeit im Bildarchiv) . Die Stiftung förderte mit der Anstellung von Herrn Mark Hochstrasser auch den Ausbau des IT-Bereichs. Die Fortsetzung der Erschliessung des SIG-Archivs wurde aus dem Beitrag des Kantons Zürich (Fonds für gemeinnützige Zwecke) wie auch mit Hilfe der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte finanziert. Das Archiv für Zeitgeschich- te und seine Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte danken dem Stiftungsrat und seinem Präsidenten Dr. Rolf Bloch für die gewährte Unter- stützung. Simon und Hildegard Rothschild-Stiftung Die Simon und Hildegard Rothschild-Stiftung unterstützte wiederum die Erschliessung von Aktenbeständen zur jüdischen und schweizerischen Zeit- geschichte. Frau Christiane Uhlig arbeitete im Rahmen ihrer Halbtagsstelle bis Sommer 2002 am VSJF-Projekt mit und nahm in der Folge die Erschlies- sung der Mikrofilme zu den russischen „Beuteakten“ wieder auf. Das erar- beitete Findmittel ist soweit gediehen, dass es Forschenden einen Überblick über rund 800 Aktendossiers (ca. 65’000 Dokumente) gibt und eine gezielte Nutzung dieser wertvollen Quellen ermöglicht. Das Archiv für Zeitgeschich- te und seine Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte danken der Si- mon und Hildegard Rothschild-Stiftung für die gewährte Unterstützung. Karl-Schmid-Stiftung Die Aktivitäten der Karl-Schmid-Stiftung umfassten im Berichtsjahr im We- sentlichen die Durchführung von zwei Anlässen: Zum einen die Verleihung des Karl-Schmid-Preises im Februar und zum anderen ein Symposium unter dem Titel „Mit Karl Schmid im Kontakt“ im Rahmen der Generalversamm- lung des der Stiftung angegliederten Fördervereins im November. In beiden Fällen wurden Organisation und Vorbereitung zu grossen Teilen über das Sekretariat der Stiftung abgewickelt, das sich im Archiv für Zeitgeschichte befindet. Daneben konnten sowohl der Stiftungsrat als auch der Vorstand des För- dervereins in den Räumlichkeiten des AfZ ihre Jahressitzungen abhalten. Dabei wurde unter anderem innerhalb des Stiftungsvermögens eine zweck- gebundene Rückstellung für die Erschliessung des Nachlasses von Karl Schmid gesprochen. Das Sekretariat der Stiftung wird seit Januar 2002 von Daniel Schmid betreut.

53 Jaeckle-Treadwell-Stiftung Der Stiftungsrat der Jaeckle-Treadwell-Stiftung führte seine Jahressitzung am 23. Mai 2002 im Archiv für Zeitgeschichte durch. Er sprach dem Schwei- zerischen Literaturarchiv und dem Archiv für Zeitgeschichte je 10’000 Fran- ken zu. Beide Vergabungen sind dazu bestimmt, die Erschliessung der in den genannten Institutionen liegenden Nachlassteile von Dr. Erwin Jaeckle wei- ter voranzubringen. Für diese Aufgabe wurde im Archiv für Zeitgeschichte Regina Gehrig gewonnen, die im Frühjahr 2003 mit der Ordnungsarbeit be- ginnt. Dem Stiftungsrat und seinem Präsidenten, Prof. Dr. Eduard Stäuble, danken wir für den zuerkannten Beitrag. Legate und Schenkungen Durch die Vermittlung von Herrn Walter Gut, Stiftungsrat der Stiftung Jüdi- sche Zeitgeschichte an der ETH Zürich, erhielt das Archiv für Zeitgeschichte im Juni 2002 einen Beitrag von 100’000 Franken, den es ausserhalb des Bud- gets der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte für Vorhaben, die sich nicht ander- weitig finanzieren lassen, verwenden darf. Das Archiv für Zeitgeschichte dankt Herrn Walter Gut für die Vermittlung dieses grosszügigen Beitrages ganz herzlich. Die Dr. h. c. Emile Dreyfus-Stiftung hat der Stiftung Jüdische Zeitgeschich- te im Berichtsjahr einen Beitrag von 25’000 Franken zugesprochen. Dank dieser Hilfe kann nun mit der Erschliessung des Vorlasses von Dr. h.c. Alfred A. Häsler begonnen werden. Der Dr. h.c. Emile Dreyfus-Stiftung danken wir für die gewährte Unterstützung. Der verstorbene Rechtsanwalt Dr. Veit Wyler hat dem Archiv für Zeitge- schichte testamentarisch ein Legat von 10’000 Franken vermacht. Es ist ihm dafür sowie auch für die Schenkung seines Nachlasses dankbar, dem für die jüdische Zeitgeschichte hervorragende Bedeutung zukommt. Auch künftig sind das Archiv für Zeitgeschichte und seine Dokumentati- onsstellen zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf die Förderung durch Dritt- mittel angewiesen. Für Spenden, Legate und Stiftungen freuen wir uns auf Ihre Kontaktnahme.

54 Dank

Das Archiv für Zeitgeschichte dankt folgenden Institutionen und Gönnern für ihre Förderung: • Stiftung Dialogik, Mary und Hermann Levin Goldschmidt-Bollag • Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich zur Sicherung und Erschlies- sung historischer Quellen in der Schweiz • Simon und Hildegard Rothschild-Stiftung • Jaeckle-Treadwell-Stiftung • Karl-Schmid-Stiftung • Emil Friedrich Rimensberger-Fonds • Dr. h.c. Emil Dreyfus-Stiftung

Dem AfZ zugesprochene Legate, mit denen das AfZ unterstützt wird: • Legat Dr. Warda Bleser-Bircher • Legat Heinrich Schalcher • Legat Dr. iur. Veit Wyler

Beiträge an die Infrastrukturkosten der Dokumentationsstelle Jüdische Zeit- geschichte leisten: • Georges und Jenny Bloch Stiftung • René und Susanne Braginsky Stiftung • Angela und Peter Guggenheim Ascarelli Stiftung • Willi und Mimi Guggenheim Stiftung • Israelitische Cultusgemeinde Zürich • Kirschner Loeb Stiftung • Saly Mayer Memorial Stiftung, Zürich • Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund • Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus • Ernst und Jacqueline Weil Stiftung • Dr. h. c. mult. Branco Weiss

Beiträge an die Dokumentationsstelle Wirtschaft und Zeitgeschichte leistet: • economiesuisse

Beiträge an den Dokumentationsbereich „Schweiz – Kalter Krieg (1945–1990)“ leistet: • Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Demokratie

55 AfZ-Team 2002

Archivleitung: Prof. Klaus Urner

Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte Leitung: Dr. Uriel Gast MitarbeiterInnen: lic. phil. Elisabeth Eggimann lic. phil. Michael Funk lic. sc. rel. Zsolt Keller lic. phil. Ursi Meier Dr. Christiane Uhlig Projektleiterin VSJF: Dr. Claudia Hoerschelmann MitarbeiterInnen: lic. phil. Regina Gehrig lic. phil. Daniel Gerson

Dokumentationsstelle Wirtschaft und Zeitgeschichte Leitung: Dr. Daniel Nerlich MitarbeiterInnen: Sabina Bellofatto György Csernyik lic. phil. Philipp Hofstetter Hubert Vilimek

Dokumentationsbereich Schweiz – Kalter Krieg Leitung: Dr. Werner Hagmann MitarbeiterInnen: Dr. Claudia Klinkmann

Stabsdienste / Informatik (Leitung): lic. phil. Jonas Arnold Ernst Diethelm Mitarbeiter: Mark Hochstrasser Felix Reichlin

Temporäre Einsätze leisteten 2002: Mirjam Bugmann Borislav Curic Elsbeth Dubach Barbara Meili Rafael Sauter Michael Schaer Jure Tornic Dr. Marc Wirzer Rahel Wöhrle

56 Öffnungszeiten

Das Archiv für Zeitgeschichte ist von Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 17.00 Uhr geöffnet. Die Benutzung erfolgt auf Voranmeldung und gemäss geltendem Archivreglement: Gedruckte Dokumentationen sind frei zugäng- lich, für die Einsichtnahme in ungedruckte Unterlagen ist ein schriftliches Gesuch erforderlich. • Adresse: Hirschengraben 62, 8001 Zürich (Tram 3, 4, 6, 7, 10, 15, Bus 32 bis Central) • Postadresse: Archiv für Zeitgeschichte, ETH-Zentrum, CH-8092 Zürich • Telefon: (0041) 01 632 40 03 (Benutzungsdienst, Voranmeldung) • Fax: (0041) 01 632 13 92 • e-mail: [email protected] • Website: http://www.afz.ethz.ch

57 58 Claudia Hoerschelmann, Daniel Gerson, Regina Gehrig, Ursula Meier, Christiane Uhlig

Das historische Archiv des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF)

Zum Abschluss des Erschliessungsprojekts: Flüchtlingsschicksale – was 12’360 Dossiers erzählen

59 Der VSJF und seine Quellen

Der Verband Schweizerischer Israelitischer Armenhilfen (VSIA), der seit Mit- te der 1920er Jahre als Dachorganisation die Fürsorgetätigkeiten der jüdi- schen Gemeinden koordinierte, übernahm ab 1933 auch die Betreuung der Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Gemäss dem frem- denpolizeilichen Transitgebot gelang es dem Verband, bis Ende 1937 nahezu allen der ca. 5000 betreuten Emigranten die Weiterreise zu ermöglichen. In der Zeit von 1938 bis 1945 hatten die Schweizer Juden im Bereich der Flüchtlingsbetreuung eine enorme Verantwortung und finanzielle Last zu tragen. Unterstützt wurden sie dabei von international tätigen Organisatio- nen, wie z.B. dem American Jewish Joint Distribution Committee (Joint). Ab 1936 engagierte sich der VSIA als Gründungsmitglied innerhalb der Schwei- zerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (SZF), auch in der Hoffnung, die Schweizer Behörden von einer humanitäreren Handhabung der Flüchtlings- politik zu überzeugen. Nach Ausbruch des Krieges im September 1939 waren die Ausreisemög- lichkeiten aus der Schweiz weitgehend blockiert. So musste sich der VSIA, der sich ab 1943 Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen / Flüchtlings- hilfen (VSJF) nannte, auf eine langfristige Unterstützung Tausender Flücht- linge einstellen. Der VSJF war während dieser Jahre für ca. 23’000 Flüchtlinge verantwort- lich. Neben der Zentralstelle in Zürich wurden bis zu 21 Lokalkomitees einge- richtet, welche die Betreuung der Flüchtlinge vor Ort übernahmen. Die Be- schaffung von Kleidern, ärztliche Versorgung, die Zusammenlegungen von Familien, die Unterbringung in Privatunterkünften oder Spitälern, Nachfor- schungen für Familienangehörige, Rechtsberatungen, die Organisation von Weiterwanderungen und vieles mehr bildeten das Tagesgeschäft der Flücht- lingsbetreuer- und betreuerinnen, die oft unter enormem zeitlichem Druck arbeiten mussten. Nach Kriegsende stellten die KZ-Überlebenden in der Schweiz, die Wieder- gutmachungsanträge an die deutschen und österreichischen Behörden, die Anträge auf Dauerasyl sowie erneut das Umsetzen des Transitgebots sei- tens der Schweizer Behörden weiterhin hohe Anforderungen an die Mitar- beiter und Mitarbeiterinnen des VSJF.

60 In der Nachkriegszeit setzte der VSJF neben seinen fürsorgerischen Tätigkei- ten auch die Flüchtlingsbetreuung fort, so auch für die jüdischen Flüchtlin- ge aus Ungarn, Ägypten, der Tschechoslowakei, aus Shanghai, Bosnien und der ehemaligen Sowjetunion sowie für die nicht jüdischen Flüchtlinge aus Vietnam, Chile, Ruanda und China. Im Archiv für Zeitgeschichte befindet sich der Bestand der Zentralstelle Zürich mit seinen 12’360 Flüchtlingsdossiers aus den Jahren 1938–1990 so- wie Restakten zur Verbandstätigkeit. Darin werden auch folgende Unterla- gen aus der Zentralstelle Zürich (1944–1979) überliefert: Protokolle, Statu- ten, Reglemente und Jahresberichte, sowie Verwaltungs- und Personalakten. Über die Hilfstätigkeit in der Westschweiz geben Archivalien der Lokalkomi- tees Vevey-Montreux und Lausanne Aufschluss. Sie enthalten Korresponden- zen dieser Comités mit Westschweizer Lagern über Flüchtlinge, zu admini- strativen und finanziellen Angelegenheiten, zu Urlaubsgesuchen, aber auch Flüchtlingslisten sowie einzelne Flüchtlingsdossiers aus Lausanne und dem Altersheim Les Berges du Léman. Materialien der Lokalkomitees Bern und Basel, die zum Teil in den jüdischen Gemeindearchiven aufbewahrt wurden, sind in den Staatsarchiven Basel und Bern zu finden, die auch Dokumente zur Vorkriegszeit beinhalten. Unterla- gen anderer Lokalkomitees, wie diejenigen von Davos und Locarno gelten bisher als verschollen. Tiefere Einblicke in die Geschichte des Verbands und seine Struktur erhält man durch die Materialien im Archiv des Schweizeri- schen Israelitischen Gemeindebunds, das im nächsten Jahresbericht vorge- stellt wird. In den Sitzungsprotokollen des Centralcomités und der General- versammlung des SIG sind ebenfalls wichtige Hinweise zur Organisation und Finanzierung des VSJF enthalten. Das Erschliessungsprojekt Schon seit den 80er Jahren bestand seitens der Forschung das Desiderat, das Archiv des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen mit sei- nen zahlreichen, damals noch ungeordneten und nicht erfassten Dossiers zugänglich zu machen. Diese dokumentieren in einzigartiger Weise Flücht- lingsschicksale von 1938 bis in die Gegenwart. Durch ungeeignete Lagerbe- dingungen in Kellerräumlichkeiten war der Bestand in seiner Substanz stark gefährdet. Der Umzug des Verbands bot 1997 schliesslich den Anlass, den

61 damals noch über 170 Laufmeter umfassenden Bestand in das Archiv für Zeitgeschichte zu überführen. Das Erschliessungsprojekt konnte mit einem namhaften Beitrag von 600’000 Franken seitens der Evangelisch-reformier- ten Landeskirche des Kantons Zürich gestartet werden. Mit dieser Geste setz- te der Kirchenrat ein Zeichen zu Gunsten der Erinnerungsarbeit und für den christlich-jüdischen Dialog. Zugleich würdigte er die während des Zweiten Weltkrieges unter grossen Opfern erbrachten Leistungen der Schweizer Ju-

In der „Hemdenklinik“ des VSJF am Neumarkt 11, Zürich, ca. 1941 (Foto: VSJF-Archiv). den für die Flüchtlingshilfe. Auch die ETH Zürich sowie die Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich unterstützten das aufwändige Projekt bis zu seiner Fertigstellung im Jahr 2003. Zwischen 2 bis 8 Mitarbeiter und Mit- arbeiterinnen beteiligten sich an der Realisierung, die mehrere Phasen durch- lief. Zu den konservatorischen Massnahmen gehörten unter anderem die Befreiung der Dokumente von allen Klammern, die chemische Behandlung von Dossiers, die mit Pilz befallen waren und die Verpackung in säurefreie Behältnisse. Die Korrespondenzen mussten chronologisch und die Dossiers

62 alphabetisch geordnet werden. Die Erfassung der Daten von 20’400 Flücht- lingen in der rund 100 Felder umfassenden Datenbank erwies sich als an- spruchsvoll und zeitintensiv. Während über fünf Jahren musste trotz der Wechsel im Projektteam die Kontinuität und Qualität der Datenerfassung gewährleistet werden. Die Forschungsdatenbank gibt Auskunft zu den Per- sonalien der Flüchtlinge, zur Ein- und Ausreise, zum Aufenthalt und zum Sta- tus in der Schweiz, zu Verwandten und zu den Inhalten der Dossiers, wie z.B. zu Unterstützungen, Krankheiten, Ausbildungen, Berufen, Vermögensverlu- sten und Wiedergutmachungsfällen. Diese komplexe Struktur erlaubt diffe- renzierte thematische Recherchen und somit auch einen gezielten Zugang zu der Fülle an Materialien. Nun steht das Archiv des VSJF allen ehemals Be- treuten und ihren Angehörigen sowie Forschern und Forscherinnen gemäss den datenschutzrechtlichen Regelungen zur Verfügung. Die Personendossiers beinhalten Korrespondenzen der Flüchtlingshilfe mit den Behörden, den Flüchtlingen und anderen Hilfsorganisationen aus den Jahren 1938–1990. Sie geben vielseitige Einblicke in das Flüchtlingsdasein in der Schweiz und zeigen zudem die umfassende Hilfstätigkeit des VSJF über all die Jahrzehnte. Themenübergreifend können die Dossiers beispielsweise für das Nachzeichnen von Fluchtwegen, für das Verfahren der Zusammen- führung bei getrennten Familien, für die damalige Handhabung des Transit- gebots oder die Betreuung bei Krankheit und psychischen Problemen beige- zogen werden. Sie geben Aufschluss über die Unterbringung an „Freiplät- zen“, über den oft langwierigen Prozess bis zum Dauerasyl und enthalten Quellenmaterialien zur Betreuung von Flüchtlingen aus den KZs (Theresien- stadt, Bergen-Belsen und rund 300 Kinder und Jugendliche aus Buchenwald) sowie zu Fragen der Wiedergutmachung. Im politischen Kontext des Kalten Krieges wurde für die Flüchtlinge der Nachkriegszeit – mehrheitlich aus Un- garn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) – die Integration durch die Ge- währung der Arbeitsbewilligung sowie die Vergabe von Existenzgründungs- darlehen erleichtert. Anders verhielt es sich bei den jüdischen Flüchtlingen aus Ägypten, die 1956/1957 in die Schweiz kamen und für die restriktivere Aufnahmeregelun- gen geltend gemacht wurden, wie der im Folgenden beschriebene Fall zeigt. Hardcore-Fälle aus Shanghai und Osteuropa sowie aus Bosnien und der ehe- maligen Sowjetunion sind ebenso im VSJF-Archiv dokumentiert wie die nicht- jüdischen Flüchtlingskontingente aus Vietnam, Uganda und Chile.

63 Neben der thematischen Auswertung des Bestandes bieten auch viele Dos- siers die Möglichkeit zur biographischen Forschung. So geben die Unterla- gen von Persönlichkeiten aus der Wissenschaft (u.a. Hans Erwin Deuel, Fabi- an Gerson, Michael Graetz, Heinz Herzka, Georg Moschytz, Mieczislaw Tau- be) und Kunst (u.a. Hermann Adler, Lajser Ajchenrand, Max Ettinger, Rudolf Frank, Efraim Frisch, Abraham Halbert, Fritz Hochwälder, Hans Josephsohn, Hans Mayer, Gertrud Isolani-Sternberg, Joseph Schmidt, Armin Weltner, Hil- de Wenzel) Einblick in die oft schwierigen Lebenssituationen in der Schweiz. Fallbeispiele aus den Personendossiers des VSJF Im Folgenden möchten wir am Beispiel von Einzelfällen auf verschiedene der genannten Themen und Problembereiche eingehen und Forschende dazu anregen, sich mit dem Bestand und seinen aussagekräftigen Dossiers aus- einander zu setzen. Trotz reger Benutzung sind die Flüchtlingsgeschichten, die aus diesem Bestand herauszulesen sind, noch lange nicht ausgeschöpft. Nach geglückter Flucht zwangsweise Trennung der Familien Im Gegensatz zu anderen Ländern folgte die Schweiz in ihrer Flüchtlingsbe- treuung dem Prinzip der getrennten Unterbringung von Familien. Es gab während der Kriegsjahre nur wenige Heime, die ganze Familien oder Mütter mit ihren Kindern aufnahmen. Für Flüchtlingsfamilien stellte die getrennte Unterbringung von Vater, Mutter und Kindern eine schwere psychische Be- lastung dar, die oft auch gravierende physische Erkrankungen zur Folge hat- ten. Dies dokumentieren zahllose Flüchtlingsdossiers in eindrücklicher Wei- se. Aus ihnen werden bewegende und menschlich tragische Schicksale er- sichtlich, in der Schweiz noch erschwert durch bürokratische Hindernisse, gegen die Eltern oft vergeblich ankämpften, um die Familien wieder verei- nen zu können. Ein Beispiel dafür ist der Leidensweg der fünfköpfigen Familie P. Ihr gelang im Jahr 1942 die Flucht in die Schweiz. Bei ihrer Ankunft war der Ehemann bereits schwer krank. Gemäss ärztlichem Gutachten sollte er deshalb nicht interniert, sondern von seiner Frau privat gepflegt werden. Die ganze Fami- lie hätte eine Privatunterkunft beziehen sollen. Statt dessen verfügten die Behörden die Einweisung des Vaters ins Lager Girenbad. Nachdem die dorti- ge Lagerleitung den schlechten Gesundheitszustand von Herrn P. erkannt hatte, veranlasste sie seine Privatinternierung, ohne mit dem VSJF Rückspra-

64 che zu nehmen. Dieser war auf Grund unvollständiger Informationen erst nach der Vorlage weiterer ärztlicher Atteste mit der Privatinternierung ein- verstanden, da die erforderliche Kostengutsprache, die er für vorerst 6 Mo- nate gewährte, mehr Mittel beanspruchte als eine Internierung im Lager. Gleichzeitig verlangte der VSJF, dass statt dessen Frau P. interniert werde, ohne zu realisieren, dass sie nicht nur mittlerweile im 8. Monat schwanger war und ihren kranken Mann pflegte, sondern auch noch die drei Kinder zu versorgen hatte. Das Büro der Jüdischen Gemeinde Genf protestierte sofort beim VSJF gegen diese vorgesehene Internierung. Erst dadurch erfuhr der VSJF, dass Frau P. ihre drei Kinder noch bei sich hatte und diese nicht – wie sonst üblich – durch das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) in Pflegefamilien untergebracht worden waren. Auf Grund dieses neuen Kenntnisstandes schloss sich der VSJF dem Wunsch der Jüdischen Gemeinde Genf nach Privatinternierung der ganzen Familie an. Der verzweifelte Kampf um jüdische „Kinderseelen“ Während des Krieges wurde das Angebot der Unterbringung jüdischer Kin- der bei nichtjüdischen Familien aus Mangel an jüdischen Pflegefamilien gerne angenommen. Während diese Unterstützung von einem grossen Teil der Schweizer Juden als Zeichen der Solidarität mit den Verfolgten angese- hen wurde, stiessen derartige Platzierungen bei religiösen Kreisen von An- fang an auf Unbehagen. Es wurde nicht zu Unrecht befürchtet, dass die Ju- gendlichen durch ein Leben in einem nichtjüdischen Milieu dem Judentum entfremdet würden. Nach Ende des Krieges führte die Erziehung jüdischer Waisenkinder bei christlichen Familien zu einer emotional stark aufgeladenen Kontroverse. Angesichts des Völkermordes an den Juden erschien es vielen Mitarbeitern jüdischer Organisationen unerträglich und unverantwortlich, dass überle- bende Kinder durch die im Krieg erfolgte Unterbringung bei Christen der jüdischen Gemeinschaft verloren gehen könnten. Dieser Forderung nach Rückgabe der Kinder stand nicht selten ein Anspruch der Pflegefamilien ge- genüber, welche die jüdischen Waisen, sofern sie diese aufgenommen hat- ten, als ihre eigenen reklamierten. In der Schweiz kam es im Fall des Waisenkindes Henri Z. zu einer erbitter- ten Auseinandersetzung, die auch innerhalb des VSJF kontrovers diskutiert wurde. Henri und seine ältere Schwester, die erst ein Jahr später unter ähnli-

65 chen Umständen in die Schweiz gelangte, hatten bereits in Frankreich ihre Eltern verloren. Der zweijährige Henri war von der ebenfalls flüchtenden Mala M. bei ihrem Grenzübertritt in die Schweiz als ihr eigenes Kind ausgegeben worden. Er wurde in der Folge von einer nichtjüdischen Pflegefamilie aufge- nommen. 1946 entführte ihn ein zionistischer Funktionär in das Jugendali- jahheim in Engelberg. Dieser Vorgang erregte grosses Aufsehen und löste jahrelange Auseinandersetzungen zwischen dem VSJF, dem SHEK und dem Roten Kreuz aus. Dabei ging es nicht nur um die bestmögliche Unterbrin- gung von Henri, sondern auch um die grundsätzliche Frage, ob ein jüdisches Kind in einer nichtjüdischen Familie belassen werden soll oder ob es unbe- dingt in ein jüdisches Milieu zurückgeführt werden muss , um für die jüdi- sche Glaubensgemeinschaft nicht verloren zu gehen. Der Grossonkel in Pa- ris wollte Henri und seine Schwester Anna nicht aufnehmen. Schliesslich konnte Henri aber bei seiner Gastfamilie verbleiben. Mit Unterstützung der jüdischen Gemeinde blieb ihm der Bezug zu seiner jüdischen Identität er- halten.

Vom KZ-Häftling zum preisgekrönten Wissenschafter Im befreiten KZ Buchenwald warteten im Mai 1945 mehrere hundert Jugend- liche auf eine baldige Evakuierung aus dem zerstörten Deutschland. Es ge- lang dem SIG, in Kooperation mit dem VSJF und dem Joint, den Bundesrat davon zu überzeugen, über 350 jungen Männern und Frauen den vorüberge- henden Aufenthalt in der Schweiz zu gestatten. Die Dossiers zu diesen be- wegenden Lebensgeschichten haben sich im VSJF-Archiv erhalten. Eines von ihnen belegt das Schicksal von David M., der 1923 in Lodz gebo- ren wurde. Seinen Kampf ums Überleben während des Krieges hat er selbst in einem kurzen Bericht festgehalten: „Im Jahre 1941 wurde ich ins berüch- tigte KL Majdanek gebracht. Im August 1942 gelang es mir, aus dem Trans- port von einigen hundert unserer Häftlinge, der nach Auschwitz fuhr, zu flüch- ten (....). Es gelang mir im November mit arischen Dokumenten, in den deut- schen Fremdarbeitereinsatz als polnischer Arbeiter eingereiht zu werden. Im Januar 1945 wurde ich denunziert und nach Buchenwald gebracht, wo ich unter furchtbarsten Bedingungen lebte.“ Nach seiner Einreise in die Schweiz am 23. Juni 1945 wurde es ihm ermög- licht, die Matura abzulegen und 1946 ein Studium als Elektro-Ingenieur an der ETH-Zürich zu beginnen, das er 1950 erfolgreich abschloss. David M. hei-

66 Zeugnis einer Erfolgsgeschichte: Die Familie M., porträtiert im Ottawa Journal, ca. 1962. ratete 1947 eine Holocaust-Überlebende, die – wie ihr VSJF-Dossier belegt – ebenfalls 1945 in die Schweiz gelangt war. 1949 wurde ihr erster Sohn gebo- ren. Da die Schweizer Behörden jüdischen Flüchtlingen nur in Ausnahmefäl- len den dauernden Verbleib in der Schweiz gestatteten, musste auch die jun- ge Familie M., wie rund 90% der „Buchenwald“-Gruppe, die Schweiz verlas- sen. 1951 emigrierte die junge Familie nach Kanada. Dass die Existenzgrün- dung der Familie M. in Kanada erfolgreich gewesen sein muss, belegt als jüngstes Dokument im VSJF-Dossier ein Artikel mit Foto aus dem „Ottawa Journal“ von 1962, in dem die nun fünfköpfige Familie porträtiert und David

67 M. als Träger des „Brabazon award“ für seine Innovationen im Bereich der Flugsicherheit gewürdigt wurde. Sein VSJF-Dossier dokumentiert damit ein vorläufiges „Happy-End“ für einen Mann, der in der Schweiz die Grundlage für eine neue Existenz in Übersee hatte schaffen können. Vom unerbittlichen Zwang zur Weiterwanderung In den Betreuungsakten des VSJF sind heute noch 2963 Personen eruierbar, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz gekommen sind. Von diesen haben 69 das Land vor Kriegsende wieder verlassen. Bei 425 Per- sonen ist in den Dossiers keine Auskunft über deren Verbleib zu erhalten. Einer der 1459 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder aus der Schweiz ausgereisten jüdischen Vorkriegsflüchtlinge war H. Als Kind musste H. bereits im Ersten Weltkrieg zusammen mit seinen El- tern aus seiner angestammten Heimat Polen in die Niederlande flüchten. Seit 1920 lebte er als Arzt in Wien, wo er 1938 als Verfolgter und aufgrund des Berufsverbots für Juden zur Flucht in die Schweiz gezwungen wurde. Von den Behörden dazu gedrängt, bemühte er sich um eine Weiterreise in die USA. Nachdem sich 1941 der Erhalt eines Visums trotz vorhandenen Affida- vits eines einflussreichen Verwandten verzögerte und die Beschaffung ei- nes Schifftickets scheiterte, folgte die Einweisung ins Arbeitslager. Während es H. im Krieg einige Male möglich war, eine vorübergehende Arbeitsbewilli- gung als Arzt zu erhalten, war es für ihn nach dem Krieg aufgrund der Ar- beitsmarktlage in der Schweiz unmöglich, eine Anstellung zu finden. Er stürz- te in tiefe materielle Not, und dies in einer Zeit, in der sich der VSJF auf die finanzielle Unterstützung der weiterwandernden Flüchtlinge konzentrieren musste. Diese Perspektivenlosigkeit verbunden mit dem ständigen Drängen der Behörden auf eine Ausreise verursachten bei H. psychische Probleme. Ein Dauerasylantrag wurde 1947 von den Behörden mit dem Hinweis auf sein Alter und auf seine Arbeitsfähigkeit abgelehnt. In zahlreichen eindring- lichen Briefen an den VSJF und an die Eidgenössische Fremdenpolizei schil- dert H. seine aussichtslose Lage und bittet um behördliches Entgegenkom- men und materielle Unterstützung. Für die Berücksichtigung individueller Nöte und Bedürfnisse eines Emigranten war aber damals weder bei den Be- hörden noch beim VSJF genügend Spielraum vorhanden. Nach sechzehn Jah- ren Aufenthalt in der Schweiz war H. 1954 daher gezwungen, in die USA wei- terzuwandern, um dort noch einmal einen Neuanfang zu versuchen.

68 Dauerasyl für Alte und Kranke bricht 1947 den Zwang zur Weiterreise Im Jahre 1947 wurde in der Schweiz das Dauerasyl für Flüchtlinge geschaf- fen, denen man die Weiterwanderung nicht zumuten konnte. Vor allem äl- tere oder sehr junge, kranke und gebrechliche Personen fielen unter die Be- stimmungen des Dauerasylbeschlusses. Der VSJF betreute 905 Personen, denen das Dauerasyl bewilligt wurde. In 101 dokumentierten Fällen wurde der Antrag auf Dauerasyl abgelehnt. Wäh- rend ein Teil der Betreuten ohne grössere Schwierigkeiten das Dauerasyl er- hielt, führten bei anderen erst intensive Bemühungen des Verbandes zum Erfolg. Folgendes eindrücklich dokumentiertes Beispiel zeichnet den schwie- rigen Weg bis zur Gewährung des Dauerasyls nach. L.K., geboren 1870 in Sarvar (Ungarn), flüchtete 1938 zusammen mit seiner Ehefrau von Berlin in die Schweiz. Bis 1944 hatte er keinen Kontakt zum VSJF. Er und seine Frau wurden von ihrer Tochter, die in einer Firma in der Schweiz arbeitete, unterstützt. Der in Budapest als Arzt tätige Sohn trug ebenfalls zum Lebensunterhalt der Eltern bei. 1944 wurde er deportiert. Die Tochter reiste 1945 nach Übersee aus, wo sie die Möglichkeit hatte, eine neue Exi- stenz aufzubauen. 1947 erhielt das Ehepaar von der Polizeiabteilung des EJPD die Aufforde- rung, die Schweiz zu verlassen. Begründet wurde dies mit der in La-Chaux- de-Fonds herrschenden Wohnungsnot. Es müsse seine Wohnung aufgeben und einer „Schweizer Familie Platz machen“. Um dieser Argumentation die Grundlage zu entziehen, nahm es zwei Untermieter auf und bewohnte nur noch ein Zimmer. Zwei Monate später reichte das Ehepaar den Antrag auf Dauerasyl ein. Die Ablehnung erfolgte mit der Begründung, dass es zu ihrer Tochter in die USA ausreisen könnte. Diese kämpfte in New York um ihre eigene Existenzgrund- lage und konnte ihre Eltern nicht bei sich aufnehmen. Nachdem sich sowohl die lokalen Behörden als auch die Eidgenössische Fremdenpolizei gegen den weiteren Verbleib des Ehepaars in der Schweiz ausgesprochen hatten, er- klärten sich Herr und Frau K. bereit, in die USA zu übersiedeln und auf das Dauerasyl zu verzichten. Dies hatte zur Folge, dass die Ausreisefrist um ein Jahr verlängert wurde. Die Formalitäten zur Ausreise in die USA gestalteten sich als langwierig, da das Ehepaar unter die bereits ausgeschöpfte ungarische Quote fiel. In

69 dieser Zeit starb die Ehefrau von L.K. Darauf verzichtete er auf die Ausreise- bemühungen und nahm den Antrag auf Dauerasyl wieder auf. Am 7.3.1950 wurde es ihm schliesslich zugesprochen. Der Kanton Neuenburg hatte die Zustimmung allerdings nur gegeben, falls ihm keine finanziellen Kosten er- wachsen. Den sonst üblichen kantonalen Beitrag übernahm die Jüdische Ge- meinde La-Chaux-de-Fonds. Noch im gleichen Jahr übersiedelte L.K. ins Al- tersheim Les Berges du Léman in Vevey, wo er seine letzten Jahre einsam verbrachte.

Vom steinigen Weg zur materiellen Wiedergutmachung Eine der wichtigsten Aufgaben des VSJF im Rahmen der Nachkriegsbetreu- ung der in der Schweiz verbliebenen Flüchtlinge war die Bearbeitung von Wiedergutmachungsanträgen. In über 1600 Fällen betreute der VSJF seine Schützlinge im Zusammenhang mit Entschädigungsverfahren, die sich auf die Verfolgung, aber auch auf Vermögensverluste bezogen. Am Beispiel von Frau R. lässt sich die Rolle des VSJF im Verlaufe eines An- tragsverfahrens veranschaulichen. Kernstück des Dossiers ist ihr Lebenslauf, der auf eindrückliche Weise Verfolgung, Flucht und Leben in der Illegalität schildert. Im Herbst 1956 stellte sie auf der Grundlage des Bundesergän- zungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Ver- folgung (BEG) vom 18.9.1953 via VSJF Wiedergutmachungsanträge an die Entschädigungsbehörde Köln. Aufgrund der erlittenen Schäden und auf Empfehlung eines wohl durch den VSJF eingeschalteten Münchner Rechts- anwalts verlangte R. eine Witwenrente für den Schaden am Leben des auf- grund der Verfolgungen 1948 verstorbenen ersten Ehemanns. Sie forderte Entschädigung für den eigenen erlittenen Freiheitsschaden sowie als Erbin für denjenigen des Ehemannes und eine Gesundheitsrente für die durch die erlittene Verfolgung entstandenen gesundheitlichen Schäden. Die nachfol- genden Korrespondenzen zur Weiterbearbeitung der Anträge durch die zu- ständigen Ämter liefen ausnahmslos über den VSJF. So sorgte dieser dafür, dass die amtlichen Bestätigungen, ärztlichen Atteste und eidesstattlichen Erklärungen, die zum Nachweis der Anspruchsberechtigung R.’s notwendig waren, zur Verfügung standen. Ebenso führte er rechtliche Abklärungen mit dem United Restitution Office in London und dem Rechtsberater der Zen- tralstelle für Flüchtlingshilfen durch. Die Bearbeitung von Wiedergutma- chungsanträgen zog sich meistens über Jahre hin. Auch im Fall R. waren im

70 Essensausgabe des VSJF an der Lavaterstrasse, Zürich, ca. 1941 (Foto: VSJF-Archiv). Sommer 1960 einige Ansprüche noch pendent, nachdem sie im April dessel- ben Jahres die Gesundheitsrente zugesprochen erhalten hatte. Der weitere Ausgang des Verfahrens ist den Unterlagen im Dossier R.’s nicht zu entneh- men.

Juden aus Ägypten: eine unerwünschte Gruppe in der Nachkriegszeit Als Ende Oktober 1956 israelische Truppen, unterstützt von englischen und französischen Einheiten, die Suezkanalzone unter ihre Kontrolle brachten, spitzte sich die Situation für die jüdische Gemeinschaft Ägyptens drama- tisch zu. Es kam zu Massenverhaftungen und Enteignungen. Zehntausende Juden und Jüdinnen mussten das Land mittellos verlassen und sich eine neue Heimat suchen. Im Gegensatz zu den jüdischen Flüchtlingen, die ebenfalls Ende 1956 vor den sowjetischen Panzern aus Ungarn in die Schweiz geflohen waren, konn- ten die rund 150 Juden aus Ägypten, die in der Datenbank verzeichnet sind, nicht mit wohlwollender Aufnahme von Seiten der Schweizer Behörden rech- nen. Ihnen wurde meist nur ein kurzer Aufenthalt zur Vorbereitung ihrer Weiterwanderung zugestanden.

71 Zu ihnen zählte auch die Familie von Moise H., der am 6. Dezember 1956 mit seiner Frau und vier Kindern in die Schweiz einreiste. Die Familie wurde zu- nächst in Zürich untergebracht und sollte bis Ende 1957 das Land wieder ver- lassen haben. Moise H. kämpfte jedoch, wie sein VSJF-Dossier belegt, um die Anerkennung als politischer Flüchtling. Der Präsident des VSJF, Otto Heim, stellte den Kontakt zum bekannten Anwalt Veit Wyler her, der sich in einem Schreiben vom 28. September 1957 bei der kantonalen Fremdenpolizei des Kantons Zürich für seinen Klienten verwendete: „Im übrigen sei erwähnt, dass Herr H. zu einer Gruppe von 40 Personen gehört, die buchstäblich formell aus Ägypten ausgewiesen wurden. Das ist aus einem Stempel in seinem Pass ersichtlich. Er ist daher in der Tat ein poli- tischer Flüchtling.“ Von Seiten der Schweizer Behörden wurde dies jedoch anders bewertet. Der VSJF musste sich bis Ende 1959 durch alle Instanzen hindurch für die Familie H. einsetzen, damit diese in der Schweiz bleiben durfte. Im Frühjahr 1959 wurde der Fall H. sogar vom Bundesrat behandelt. Veit Wyler schrieb am 30. Januar einen ausführlichen Brief an Bundesrat Friedrich T. Wahlen, in dem er ihn um Verständnis im Fall H. bat und eine judenfreundlichere Flücht- lingspolitik einforderte: „An ihre Amtsübernahme, sehr geehrter Herr Bundesrat, knüpfen weite Kreise des Schweizer Volkes grosse Hoffnungen. Eine dieser Hoffnungen ist, dass Sie in der schweizerischen Flüchtlingspolitik, die im bundesrätlichen Bericht vom 1.2.1957 niedergelegten Grundsätze der Menschlichkeit für alle Flüchtlinge (unabhängig von deren religiösen und nationalen Zugehörigkeit) Wirklichkeit werden lassen, wobei der fremdenpolizeiliche Gesichtspunkt der sogenannten ‚Überfremdung’ etwas zurücktreten sollte. Eine Wendung im Fall H. zum menschlich Guten wäre ein überzeugender Ausdruck dieser ‚neu- en Flüchtlingspolitik’“. Die Wende im Fall H. wurde Wirklichkeit und der jüdischen Familie aus Ägypten gewährte die Eidgenössische Fremdenpolizei die Niederlassung in Genf.

Gute Rahmenbedingungen ermöglichen eine rasche Integration tsche- chischer Flüchtlinge Jüdische Flüchtlinge, die vor kommunistischen Diktaturen flohen, durften auf grösseres Entgegenkommen von Seiten der Schweizer Behörden zählen

72 als die Juden aus Ägypten, die allein auf Grund ihres Judentums verfolgt wurden. So fanden bereits die rund 500 Ungarn jüdischer Konfession, die 1956/57 in die Schweiz einreisten, rechtlich und gesellschaftlich günstige Auf- nahmebedingungen vor. Für die rund 450 Menschen jüdischer Herkunft aus der Tschechoslowakei, die nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauerpaktes im August 1968 in die Schweiz flohen, ergaben sich noch bessere Rahmenbedingungen für ihre Eingliederung. Eine moderne Asylgesetzgebung und eine gute wirt- schaftliche Lage ermöglichten den raschen Übergang vom betreuten, mit- tellosen Flüchtung zum autonomen Bürger. Ein Beispiel für eine weitgehend reibungslose Integration tschechisch-jü- discher Flüchtlinge findet sich im dünnen VSJF-Dossier der Familie S.. Die junge Familie war mit ihren beiden Söhnen im Herbst 1968 aus Bratislava nach Zürich geflohen. Zunächst wurde sie im Schulhaus Schwandenholz un- tergebracht. Dank den intensiven Bemühungen des VSJF unter der Ägide von Edith Zweig, der leitenden Fürsorgerin, konnte der Familie bald ein Auskom- men und ein neues Heim verschafft werden. Auch eine Aktennotiz von Edith Zweig im Dossier vom 26.11.1968 lässt er- kennen, dass die äusseren Umstände für jüdische Flüchtlinge 1968 günstig waren: „Die Familie S. war gestern hier. Ich habe ihn (Herrn S.) Freitag zu den Albis- werken geschickt, es scheint, dass man ihn gerne anstellen möchte und er wird Mittwoch endgültigen Bescheid bekommen. Von der Firma Wild hat er noch keine Antwort, dagegen war er gestern Nachmittag auch bei der Firma Standard vorgeladen, sodass er dann die Möglichkeit hat, sich für die besse- re Stelle zu entscheiden. Wir können die Wohnung erst suchen, wenn wir wissen, was er verdient bzw. wie viel er für die Wohnung ausgeben kann.“ Am 27. 11. hatte der als Ingenieur ausgebildete E. S. eine Stelle, und am 3.12. war eine Wohnung gefunden. Auch die gesellschaftliche Integration vollzog sich rasch. Im November 1969 wurden die beiden Söhne nachträglich be- schnitten und die Familie partizipierte am jüdischen Gemeindeleben der Stadt Zürich. Der rechtliche Integrationsprozess war mit der Einbürgerung der Söhne, 1982, und derjenigen der Eltern, 1984, abgeschlossen. Nun konnten sie auch formell aus der Betreuung des VSJF entlassen werden und als Schweizer Bürger das Schicksal ihres Landes mitgestalten.

73 Vom gelben Meer an den Genfer See: Hardcore-Fälle aus China Der VSJF-Bestand dokumentiert 188 Fälle von Schutzsuchenden, die durch besondere Hilfsaktionen für sogenannte Härtefälle in der Nachkriegszeit entsprechend dem Appell des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge Auf- nahme in der Schweiz gefunden haben. Den grössten Anteil machen davon die 60 Hardcore-Flüchtlinge aus Ägypten aus; von Rumänien kamen 34. Aus China reisten dank solcher Aktionen zwischen 1951 und 1979 32 Flüchtlinge ein, die vom VSJF unterstützt wurden. Der Verband verpflichtete sich dabei nicht in finanzieller Hinsicht, sondern er war nur für die Unterbringung und Betreuung verantwortlich. Die Finanzierung übernahm der Bund. Die beiden Schwestern B. und F. M., geboren 1895 und 1910 in Rogachev (Russland) emigrierten 1912 nach Harbin (China). 1966 gehörten sie zu den letzten verbliebenen Mitgliedern der dortigen ehemals grossen jüdischen Gemeinde. Sie lebten in prekären Verhältnissen und äusserten den Wunsch, in ein Heim in die Schweiz zu kommen. Gemäss der international tätigen Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) war der Handlungsbedarf dringend. Die Schwestern unterstanden dem Mandat des Hochkommissariats der UNO und erhielten dadurch die Möglichkeit, im Rahmen einer Sonderaktion für Hardcore-Flüchtlinge zum dauernden Verbleib in die Schweiz aufgenommen zu werden. So stand von Seiten der Schweiz der Einreise der zwei Schwe- stern aus China nichts mehr im Wege. Das Fortkommen aus Harbin dage- gen war problematischer. Über Jahre setzte sich der VSJF in Zusammenar- beit mit der HIAS dafür ein, eine Ausreisebewilligung von den chinesischen Behörden zu erhalten. Dies erwies sich als äusserst schwierig, wie die im Dossier vorliegenden Schreiben zwischen dem Schweizer Botschafter in Pe- king, dem VSJF und dem Hochkommissariat für Flüchtlinge zeigen. Als die beiden älteren und gesundheitlich angeschlagenen Schwestern sechs Jahre später endlich im Besitz von Transitvisen nach Hongkong waren, war das Einreisevisum in die Schweiz nicht mehr gültig. Doch die Polizeiab- teilung erklärte sich noch immer bereit, die beiden im Rahmen dieser Son- deraktion aufzunehmen. Vom VSJF wurde als zuständigem Hilfswerk die Be- stätigung für die Betreuung eingeholt. Nach 11 Jahren Korrespondenz um die Ausreise erhielt der VSJF im August 1979 die Mitteilung, dass die Geschwi- ster endlich in Hongkong eingetroffen waren. Dort angekommen war es für beide auf Grund ihres Gesundheitszustandes unmöglich, die Weiterreise in

74 die Schweiz anzutreten. Erst anfangs November trafen sie dann in Genf ein und wurden mit der Ambulanz ins Heim Les Berges du Léman in Vevey ge- fahren. Nach sofortiger ärztlicher Untersuchung musste die jüngere Schwe- ster noch am selben Tag ins Spital gebracht werden, wo sie drei Tage später ihrer Krankheit erlag. B. M. verbrachte noch 3 Jahre bis zu ihrem Tod in Vevey.

Fazit Diese exemplarischen Schicksale zeigen, dass sich auf Grund der Dossiers des VSJF zentrale Fragestellungen zur jüdischen Flüchtlings- und Migrati- onsgeschichte des 20. Jahrhunderts vertiefen und ein vielfältiges Themen- spektrum aus der Perspektive der Betroffenen und ihrer Hilfsorganisation erschliessen lassen. Die Unterlagen im VSJF-Archiv reflektieren auch den Wandel der Schweizer Asylpolitik – von der Abwehr bis zur Integration. Zu- dem gibt dieser Bestand tiefe Einblicke in den Flüchtlingsalltag mit all sei- nen existentiellen Facetten. Ersichtlich werden aber auch die unter schwie- rigsten Bedingungen erbrachten Leistungen des Verbands und seiner Mitar- beiter und Mitarbeiterinnen. Das VSJF-Archiv enthält als Gegenpart zu den amtlichen Akten eine ein- zigartige Dokumentation, die über die Schweiz hinaus Grundlagen bereit stellt, damit Opfer und ihre Nachkommen sich über einen ansonsten kaum zugänglichen Bereich der Verfolgungsgeschichte ihrer Familie nachträglich informieren können. Ob Flüchtlingsschicksale nachgezeichnet oder Themen zur jüdischen Zeitgeschichte im schweizerischen und europäischen Kontext bearbeitet werden, ein immenses Quellenmaterial lädt heute und künftig zu vertiefenden Forschungen ins Archiv für Zeitgeschichte ein.

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