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Besprechungen

VORGESCHICHTE

Jean Combier und Anta Montet-White (Hrsg.), durch seine Grabungen in Orgnac, Roanne-Villerest, Solutré 1968–1998. Mémoires de la Société Préhisto- Azé, Vergisson und vielen anderen Fundstellen bekannt. rique Française, Band 30, Paris 2002. 281 Seiten. Anta Montet-White, emeritierte Professorin an der Universität in Kansas, stammt aus einer Familie des Solutré zählt zu den bedeutendsten altsteinzeitlichen Beaujolais und kehrt damit nach diversen Forschungen Fundstellen Europas. Im äußersten südlichen Zipfel zum europäischen Paläolithikum, u. a. im ehemaligen Burgunds an der Grenze zum Beaujolais gelegen wurde Jugoslawien und in Österreich, zum Ort ihrer familiären der seit den 1860er Jahren ergrabene Fundplatz Namen Wurzeln zurück. gebend für eine jungpaläolithische Kultur, das in die Ziel des vorliegenden Buches ist es, die Forschungen Zeit des zweiten Kältemaximums der letzten Eiszeit der jüngeren Grabungsgeschichte Solutrés von 1968 bis datierte Solutréen. Gleichzeitig spielte Solutré zu Beginn 1998 in einer Publikation zusammenzufassen. Während des 20. Jhs. eine wichtige Rolle bei der Gliederung des Jean Combier als aktiver Erforscher der Fundstelle im Jungpaläolithikums. Besondere Bedeutung erlangte der Vordergrund steht, ist es das Verdienst von Anta Mon- Fundplatz weiterhin durch seine in großer Menge über- tet-White, neben unwesentlichen eigenen Forschungen lieferten Knochenreste eiszeitlicher Pferde, die zahlrei- die Arbeiten zahlreicher Bearbeiter der Fundstelle zu - che Informationen zur Jagdweise der jungpaläolithischen sammengetragen und Jean Combier zur Abfassung sei- Menschen ergaben. Die populäre Legende, die steinzeit- ner Beiträge ermutigt zu haben. lichen Menschen hätten die Pferde auf die Spitze des Im ersten Kapitel des Buches beschreibt Jean Com- Felsens von Solutré getrieben, um sie von dort in die bier die enorme forschungsgeschichtliche Bedeutung Tiefe stürzen zu lassen, ist zwar seit Längerem widerlegt, der Fundstelle Solutré mit den ersten Grabungen von erfreut sich aber ungeachtet dessen in der Öffentlichkeit Adrien Arcelin und Henri de Ferry im Jahre 1866 sowie nach wie vor einer großen Beliebtheit. Mir liegt Solutré dem forschungsgeschichtlich folgenden Abbé Antoine aufgrund meiner langjährigen Arbeiten zum Paläolithi- Ducrost. Combier betrachtet dabei die Arbeiten in Solu- kum im südlichen Burgund (Varennes-lès-Mâcon, Azé, tré nicht isoliert, sondern diskutiert ihre Rolle in der Germolles, Solutré) besonders am Herzen. Herausbildungsphase der Urgeschichtsforschung im In der jüngeren Forschungsgeschichte ist die Fund- 19. Jh. Wundervolle Fotografien der frühen Grabungen stelle Solutré vor allem mit dem Namen Jean Combier sowie vom Kongress der Société Préhistorique Française, verknüpft. Als ehemaliger Wissenschaftler des CNRS der im Jahre 1907 nach Solutré kam, illustrieren den und gleichzeitig oberster Denkmalpfleger im östlichen Beitrag. Frankreich gilt Jean Combier als einer der namhaftesten Ab S. 27 fasst Combier in Kapitel 2, ausgehend vom lebenden Vertreter der französischen und auch europäi- Jahre 1968, dem Beginn seiner eigenen Forschungen, die schen Paläolithforschung. In seiner Amtszeit hatte Com- Grabungsergebnisse der frühen Forschungsphasen bier in denkmalpflegerischer Hinsicht ein riesiges Gebiet zusammen und erklärt die spezifische geographische zu betreuen, das vom Rhônetal im Süden bis in das süd- Situation des Grabungsareals, das zwischen den beiden liche Pariser Becken im Norden reichte. Neben seinen keilförmigen Felsen Roche de Solutré und Mont de Forschungen in Solutré ist Combier vor allem für seine Pouilly liegt und in jagdstrategischer Hinsicht für die zusammenfassenden Arbeiten zum Paläolithikum in der paläolithischen Jäger von besonderem Reiz war. Es wird Ardèche, seine Beschäftigung mit paläolithischer Kunst, hier ebenfalls deutlich, wie intensiv die Forschungen das 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 380

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Gelände an der Flanke des Felsen von Solutré seit Beginn Das folgende Kapitel 8 beschäftigt sich ab S. 117 der Forschungen im 19. Jh. ›durchpflügt‹ haben, sodass nicht mehr mit den Funden aus dem zentralen Ausgra- unausgegrabene Teile beinahe bereits den geringeren Teil bungsbereich, sondern mit verschiedenen Hinweisen auf des relevanten Geländes einnehmen. Combier erläutert paläolithische Begehungen aus der Umgebung. Im Mit- hier anhand synthetischer Artefakttafeln die verschiede- telpunkt dieses von Jean Combier, Yves Pautrat und nen Begehungsphasen vom Beginn bis zum Ende des Daniel C. Pugh verfassten Beitrages steht der mittelpa- Jungpaläolithikums und gibt eine idealisierte stratigra- läolithische Fundplatz Solutré, cave Denuziller. Hier phische Abfolge. liegt in denkmalpflegerischer Hinsicht ein Skandal größ- In Kapitel 3 beschäftigt sich derselbe Autor ab S. 43 ten Ausmaßes vor. 1997 hatte man im Zentrum des sodann mit seinen eigenen Grabungen aus den 1960er Dorfes Solutré bei Ausschachtungsarbeiten für einen bis 1980er Jahren sowie mit den kurzen Untersuchun- Weinkeller einen bedeutenden moustérienzeitlichen gen A. Montet-Whites und ihrer Mitarbeiter aus den Fundplatz mit exzellent erhaltener Fauna entdeckt, ohne Jah ren 1997–1998. Da das Grabungsareal in 10 m2 in diesem als archäologisch sensibel ausgewiesenen große Planquadrate eingeteilt wurde mit Buchstaben in Bereich Archäologen hinzuzuziehen. Im Ergebnis fand der X- und Zahlen in der Y-Achse, erhalten die ver- sich dieses außergewöhnliche altsteinzeitliche Inventar schiedenen Grabungsteile Bezeichnungen wie z. B. P 16, auf der örtlichen Mülldeponie wieder. Die Abhandlung M12 oder J10. der Funde im Rahmen des besprochenen Buches kann In Kapitel 4 gibt Combier ab S. 65 einen Überblick damit nur als letzte Rettungsuntersuchung eines wei- über die stratigraphischen Verhältnisse verschiedener testgehend zerstörten Fundplatzes angesehen werden, Sondagen. Die in bis zu 5 m Mächtigkeit aufgeschlosse- für den die in Fig. 8–7 abgebildeten Steingeräte ein- nen Sedimente wiesen zum Teil erhebliche Anteile von drucksvoll die ehemalige Bedeutung beleuchten. Auri- kantigem Hangschutt aus Kalkstein auf. Eine besonders gnacienzeitliche Funde aus einer weiteren Lokalität im eindrucksvolle Abfolge wurde im Rahmen einer 1987 Ortsgebiet von Solutré schließen Kapitel 8 ab. Die in erschlossenen Sondage angetroffen (Fig. 4–9), die diesem Kapitel behandelten Artefakte belegen, dass sich archäologisch vom Gravettien über das Solutréen bis hin die paläolithische Besiedlung in Solutré nicht einzig und zum Magdalénien reicht. Eine sehr große Dichte an allein auf die Flanke des Felsens fokussiert, sondern viel- pleistozäner Fauna liegt im so genannten ›magma de schichtiger ist. Ebenfalls löst sich auf diese Weise der cheval‹ vor, das in das Gravettien zu datieren ist, in den Gegensatz ein wenig auf, nach dem in Solutré einzig neueren Grabungen aber nur noch selten in massiver jungpaläolithische Besiedlungsphasen belegt seien, am Form angetroffen wurde. zwillingsgleichen Nachbarfelsen von Vergisson dagegen Jean Combier und Anta Montet-White beschäftigen ausschließlich mittelpaläolithische Siedlungsreste. sich sodann in Kapitel 5 mit dem ganz im Osten des Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit Grabungsareals gelegenen Sektor L13 und M12, der für Ergebnissen zur Sedimentologie, Umwelt und absoluten das beginnende Jungpaläolithikum (Aurignacien) von Chronologie. Nach einer kurzen Einleitung durch Anta besonderer Bedeutung ist. In rot gefärbten Basisschich- Montet-White handeln Bertrand Kervazo und Stéphane ten gelang es hier zum Beispiel, eine Aschenschicht frei- Konik in ihrem Kapitel 9 die Ergebnisse zur Geologie zulegen, die sich an mindestens einer Stelle zu einer feu- Solutrés ab. Der Beitrag zeigt die Komplexität der sedi- erstellenähnlichen Konzentration verdichtet. mentologischen Verhältnisse des Fundplatzes in Zeit und In Kapitel 6 gehen Jean Combier und ein Mitarbeiter Raum und warnt insofern vor Verallgemeinerungen. Anta Montet-Whites, Jack Hofman, auf das bereits Dennoch werden als ein Ergebnis bedeutende Verlage- erwähnte ›magma de cheval‹ im Rahmen des Gra- rungsvorgänge im lateralen Hangbereich des Felsens von bungsbereiches J 10 ein. Einregelungen des Knochen- Solutré deutlich, die große Auswirkungen auf die Erhal- materials und das Fehlen anthropogener Spuren spre- tung und Lage der archäologischen Hinterlassenschaften chen in diesem Bereich für eine ganz und gar natürliche hatten. Akkumulation im Hangbereich der Fundstelle. In die gleiche Kerbe schlagen die in Kapitel 10 vorge- In chronologischer Reihenfolge zum Jüngeren hin nommenen bodenkundlichen Analysen von Farid Sel- fortschreitend, beschäftigt sich Jean Combier unter Mit- lami. Von besonderer Bedeutung ist hier der Versuch, die arbeit von Anta Montet-White und Elaine Turner im Genese des ›magma de cheval‹ zu erklären. Ein Ergebnis folgenden Kapitel 7 ab S. 99 mit den magdalénienzeitli- liegt in der Beobachtung, dass sich das Knochenmaterial chen Knochenkonzentrationen der Bereiche N 16 und nicht in primärer Fundlage befindet, sondern dass natür- P 16. Zahlreiche bislang unveröffentlichte Farbfotos liche, durch Hangfließen bedingte Akkumulationen illustrieren hier die Fundumstände. Auch wenn dies die einen großen Einfluss auf die Gesamtverteilung der Ausgräber selbst nur zögernd einsehen, belegen die ein- Funde ausüben. geregelte Ausrichtung des Knochenmaterials und zahl- Im folgenden Kapitel 11 beschäftigt sich Jacqueline reiche Brüche hier deutliche Verlagerungen entlang einer Argant mit den Pollenanalysen. An der Kürze des Bei- länglichen Depression. Tierreste in anatomischem trages ist bereits ersichtlich, dass die Pollenerhaltung der Zusammenhang hatten die Ausgräber zunächst dazu Fundstelle nicht sehr gut ist. Die Ergebnisse sprechen bewogen, hier von unverlagerten Hinterlassenschaften wie erwartet für einen in Eiszeiten typischen offenen auszugehen. Landschaftstyp, ohne dass einzelne Besiedlungsphasen 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 381

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mit definierten Klimaschwankungen korreliert werden Auch die Fauna des mittelpaläolithischen Fundplat- könnten. zes Solutré, Ortsmitte wird im folgenden Kapitel 15 von Marcel Jeannet erörtert im folgenden Kapitel 12 die Jeanette M. Blackmar analysiert. Hier überwiegt im Nagerfauna. Unter den nachgewiesenen Arten sprechen Gegensatz zur Hauptfundstelle das Ren, während das mehrere Typen des Lemmings wie die Pollenanalysen Pferd nach der Mindestindividuenzahl an zweiter Stelle für einen weitestgehend offenen Landschaftstyp, wobei rangiert. An Ren- und Pferdeknochen konnten Schnitt- das gravettienzeitliche ›magma de cheval‹ erstaunlicher- spuren ermittelt werden, was für einen mittelpaläolithi- weise so gut wie keine Kleinsäugerreste enthielt. Auf der schen Kontext durchaus erwähnenswert ist. Basis der nachgewiesenen Arten versucht Jeannet eine Anta Montet-White bearbeitet sodann in Kapitel 16 Rekonstruktion der jungpaläolithischen Umwelt. Im die lithischen Gerätschaften Solutrés. Nach einleitenden Aurignacien und Gravettien weist er einen offenen, an und vergleichenden Erörterungen zu Steingerätensem- Sibirien erinnernden Landschaftstyp nach. Für das Mag- bles verschiedener paläolithischer Jagdplätze Europas dalénien kommt er je nach Fundplatzbereich zu unter- und Nordamerikas handelt die Autorin in chronologi- schiedlichen Resultaten. Während in P 16 sehr kalte scher Reihenfolge vom Aurignacien bis zum Magdalé- Konditionen belegt sind, finden sich in J 10 bereits nien die Ergebnisse zu den Steinartefakten der diversen Anzeiger eines gemäßigten Klimas. Besiedlungsphasen ab, wobei sie jeweils zwischen den Kapitel 13 beschäftigt sich ab S. 181 mit den Radio- Funden der Altgrabungen und der neueren Untersu- karbondatierungen. Für jede der großen in Solutré chungen unterscheidet. Dabei fällt die jeweils außeror- belegten Perioden Aurignacien, Gravettien, Solutréen dentlich geringe Fundmenge der einzelnen Phasen auf. und Magdalénien liegen jeweils mehrere, im Allgemei- So beinhalten die Serien des Aurignacien aus den neue- nen relativ kohärente Datenserien vor. Die in Lyon und ren Grabungen nur knapp 100 Stücke, im Gravettien in den USA erstellten konventionellen und AMS-Daten und Solutréen sieht dies nicht sehr viel anders aus. zeigen für das Magdalénien der Fundstelle eine Alters- Lediglich im Magdaléniensektor P 16 beobachten wir einstufung um 13500 BP. Mehrere Daten des Solutréen ein umfangreiches Inventar, in dem Kratzer, Stichel und kreisen in erwarteter Weise um 19 500 BP. Demgegen- Rückenmesser dominieren. Trotz der kleinen Fundmen- über schwanken die Daten für das gravettienzeitliche gen endet die Autorin mit der Schlussfolgerung, die ›magma de cheval‹ zwischen 21600 und 28240 BP. Für beschriebenen Inventare fügten sich ohne Probleme in das Aurignacien möchte ich hier zwei nahezu identi- das Spektrum typischer Gerätassoziationen von paläoli- sche, in zwei unterschiedlichen Laboren erstellte Daten thischen Jagdplätzen. um 34000 BP herausheben, die, verglichen mit den Im folgenden Kapitel 17 beschäftigt sich William Daten zum Châtelperronien im Osten Frankreichs, Banks mit der Mikrogebrauchsspurenanalyse der auri- nahezu dasselbe Alter aufweisen. Demgegenüber erachte gnacienzeitlichen Steingeräte des Sektors M 12. Das ich die Daten zum Moustérien aus der Fundstelle Solu- besondere an der Methode ist das Ausführen der Analy- tré, Ortsmitte, die um 55000 BP angesiedelt sind, aus sen an Abgüssen aus Epoxydharz. Diese Methode wurde methodischen Gründen für problematisch. erwählt, weil die weiß patinierten, stark reflektierenden Im dritten Teil des Buches beschäftigen sich die Originale das Erkennen von Gebrauchsspuren nicht Autoren sodann ab S. 193 mit den archäologischen Hin- zuließen und insbesondere deshalb, weil die Analysen in terlassenschaften. Nach einer kurzen Einführung durch den USA durchgeführt wurden, wohin der Autor keine Anta Montet-White erörtert Elaine Turner in Kapitel 14 Originale ausführen durfte. Die geringe Menge der ihre Ergebnisse zur Archäozoologie des Magdalénien in untersuchten Artefakte – es liegen insgesamt nur 42 Stü- den Sektoren I 11 und P 16. Diese bedeutende, in jün- cke vor – lässt Schlussfolgerungen größeren Ausmaßes gerer Vergangenheit durchgeführte Analyse beinhaltet nicht zu. Ergebnisse zur jahreszeitlichen Begehung der Fundstelle, Jean Combier führt im folgenden Kapitel 18 seine die vornehmlich in den Frühling und in den Herbst Ideen zu den von den Jägern Solutrés begangenen Terri- fällt. Das dominante Jagdtier ist das Pferd, mit Aus- torien aus. Basierend auf theoretischen Gedanken zur nahme des Solutréen, in dem das Ren eine besondere Mobilität von Sammlern und Jägern sowie auf Ergeb- Rolle einnimmt. Aufgrund der großen Menge der den nissen zur Rohmaterialversorgung kommt er zu dem Jägern zur Verfügung stehenden Herdentiere bleibt der Schluss, dass die Träger der Fundstelle Solutré entgegen Ausnutzungsgrad und dementsprechend die Menge an anderer Vermutungen lediglich einen beschränkten entdeckten Schnittspuren überschaubar. Solutré ist eine Aktionsradius im südlichen Burgund aufwiesen. Fundstelle, an der die Tiere unmittelbar getötet und zer- In Kapitel 19 bespricht derselbe Autor schließlich die legt wurden. Dabei scheint die Art der Jagdstrategie über in Solutré gefundenen Kleinkunstwerke und Schmuck- die Jahrzehntausende vom Aurignacien bis zum Magda- objekte. Für einen derart großen und bedeutenden jung- lénien recht einheitlich gewesen zu sein. Vermutlich paläolithischen Fundplatz und das ungeheuer große haben sich die Jäger am Rande der durch den Felsen von Volumen des untersuchten Sedimentkörpers liegen in Solutré und den Mont de Pouilly gebildeten Schlucht Solutré nur relativ wenige und nicht besonders spekta- hinter Versturzblöcken versteckt und konnten von dort kuläre Kunstwerke vor. Dies liegt an der Funktion des aus Tiere aus randlichen Gruppen der durchziehenden Fundplatzes als Jagdstation, in der andere Aktivitäten im Herden mithilfe der Speerschleuder erlegen. Vordergrund standen, als im Rahmen einer längeren 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 382

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Besiedlung großer zentraler Lagerplätze unter Ausfüh- teils den Eindruck, als seien hier unzusammenhängende rung diverser Tätigkeiten. Eine Besonderheit der Klein- Einzelbeiträge ohne wirkliche Klammer kompiliert wor- kunstwerke aus Solutré stellen Skulpturen von Tieren den. Der anmaßend «Les outillages des chasseurs de aus verwitterten Hornsteinknollen dar, die in der Nähe Solutré» genannte Beitrag zu den Steinartefakten von des Felsens von Solutré gefunden werden konnten. Gra- Anta Montet-White leidet unter der nur sehr kleinen vierte Schieferplatten und Knochen sowie auffällig ver- Menge der de facto analysierten Artefakte, die nur einen zierte Lochstäbe und Schmuckstücke aus aufgelesenen verschwindend geringen Anteil der belegten Funde ein- Fossilien ergänzen das belegte Spektrum. nehmen. Bei den Steinartefaktzeichnungen hätte man Die Veröffentlichung wird durch eine von Jean Com- sich durchaus ein bisschen mehr Mühe geben können. bier und Anta Montet-White verfasste Zusammenfas- Zudem kommt sie zu Fehleinschätzungen, weil z. B. auf sung und von einer nach Forschungsphasen unterglie- S. 231 »lames appointées« mit »lames utilisées« ver- derten Bibliographie abgeschlossen. wechselt werden. Mir erscheinen die lithischen Inventare Bei der Gesamtbeurteilung der Veröffentlichung insgesamt zu insignifikant und zufällig zusammenge- möchte ich zunächst konstatieren, dass es gut ist, dass es stellt, um durch sie die zweifellos gegebene Funktion der sie gibt. Anta Montet-White gebührt hier das Verdienst, Fundstelle als Jagdplatz untermauern zu wollen. die Zügel eng gehalten und nach vielen Jahrzehnten Nichtsdestotrotz ist dieses Buch gemeinsam mit der Grabungen und Forschungen die Beiträge zusammenge- 1956 publizierten Zusammenfassung der Grabungen führt zu haben. Ich muss bei der Bewertung zunächst ein aus der Anfangsphase des 20. Jhs. durch Jean Combier gewisses Maß an Befangenheit eingestehen, da Jean die bislang beste und vollständigste Abhandlung, die es Combier, auf den der Großteil der neueren Arbeiten zu nach insgesamt 140 Jahren Forschungsgeschichte zu die- Solutré zurückgeht, eine Art Mentor für meine wissen- ser Fundstelle gibt. Solutré ist ohne Zweifel einer der fas- schaftliche Präsenz in Frankreich darstellt. Er war es, der zinierendsten steinzeitlichen Fundplätze Europas. Trotz mich zu Beginn der 1990er Jahre nach Mâcon berief, um kleinerer Mängel sei das vorliegende Buch jedem am dort Funde seiner Grabungen aus Varennes-lès-Mâcon europäischen Mittel- und vor allem Jungpaläolithikum zu bearbeiten. Andere Aktivitäten, die bis heute andau- Interessierten empfohlen. Es sollte aber auch klar gewor- ern, sollten folgen. Meinen anerkannten Forschungs- den sein, dass die Untersuchungen zu Solutré mit diesem schwerpunkt in Frankreich habe ich somit originär Jean Buch bei weitem noch nicht abgeschlossen sind und Combier zu verdanken, dem ich hiermit ganz herzlich gegenwärtigen und künftigen Forschergenerationen danken möchte. Trotz dieser Nähe zum Hauptautor des noch viel Potential zu weiteren Bearbeitungen verbleibt. Buches will ich mich dennoch bemühen, zu einem gerechten Urteil zu gelangen. Hier muss dann zunächst Tübingen Harald Floss gesagt werden, dass zahlreiche Beiträge des Buches nicht wirklich neu sind, sondern bereits an anderer, zugegebe- nermaßen zum Teil entlegener Stelle publiziert wurden. Dies betrifft zum Beispiel in weiten Teilen die Kapitel eins und zwei, sowie die Kapitel 14, 18 und 19. Ferner ist Colette et Jean-Georges Rozoy, Les camps mésoli- dem Buch an vielen Stellen anzusehen, dass es, formu- thiques du Tillet: Analyses typologique, typométrique, lieren wir es einmal so, mit heißer Nadel gestrickt wurde. structurelle et spatiale. Travaux, Band 2. Société Préhis- So wurden etwa auf S. 212 die Graphiken von Gravet- torique Française, Paris 2002. 144 Seiten, Illustrationen, tien und Aurignacien verwechselt, auf S. 213 oben wird graphische Darstellungen, Karten. die Mindestindividuenzahl des Aurignacien versehent- lich mit 1 und nicht 21 angegeben. Auf den Seiten 234 Jean-Georges Rozoy, einer der wenigen noch unter uns und 235 wurden die Steinartefakte auf den Tafeln abge- weilenden Urväter der französischen Urgeschichtsfor- schnitten. Im Beitrag Blackmar wird auf S. 219 Bos pri- schung, legt mit diesem 2002 erschienenen Buch ge- migenius versehentlich Bison primigenius genannt. Auf meinsam mit seiner Ehefrau Colette die mesolithischen S. 216 wird die berühmte Magdalénienfundstelle Peters- Siedlungsreste der nördlich von Paris in der Gemeinde fels bei Engen im Hegau zu »Petersfeld« und der nicht Cires-les-Mello (Oise) gelegenen Station Le Tillet vor. minder bekannte Vogelherd (Kr. Heidenheim) auf Der 1987 entdeckte in Sanden eingebettete Fundplatz S. 258 zum »Vogelheld«. Auf S. 260 heißt der Fotograf wurde vor allem in den 1990er Jahren im Zuge mehre- einmal richtigerweise Eschmann, einmal Eischmann rer Notgrabungskampagnen erforscht. In taphonomi- und auf S. 254 heißt der ehemalige verdienstvolle Mit- scher Hinsicht müssen wir von einer sehr schwierigen arbeiter Jean Combiers, Pierre Ayroles, plötzlich Situation ausgehen, wie wir sie oft im Sand vorfinden. »Ayrole«. Auf den Seiten 151 und 152 sind die Absatz- Zudem finden sich im Areal der Fundstelle Begehungen und Seitenumbrüche fehlerhaft, sodass der Text völlig aus zahlreichen archäologischen Phasen und Perioden, unverständlich wird. Andere Beispiele könnten folgen. die vom Spätpaläolithikum bis in die Römerzeit reichen. Auch wenn es sich bei den genannten Fehlern meist nur Obwohl somit in hohem Maße von Vermischungen des um Kleinigkeiten handelt, so wird doch deutlich, dass Fundmaterials auszugehen ist, gelang es J.-G. Rozoy die redaktionelle Überarbeitung des Buches zu wün- im Rahmen seiner Untersuchungen, insgesamt elf eigen- schen übrig lässt. In inhaltlicher Hinsicht gewinnt man ständige, in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Sied- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 383

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lungskonzentrationen des Mesolithikums freizulegen, sen Fragestellungen adäquat nachzugehen. So komme die nach einigen Radiokarbondaten in die Zeit des Prä- ich nicht umhin, die vorliegende Arbeit, die zunächst boreals und Boreals zu stellen sein dürften. Die Analysen nicht von ungefähr von namhaften französischen Fach- beziehen sich vor allem auf die vorgefundenen Projektile organen zur Drucklegung abgelehnt worden war, als (Mikrolithen) sowie auf die räumlichen Verteilungen nicht gerade herausragend betrachten zu müssen. Sie ist der diversen lithischen Fundkategorien. Dabei scheinen in methodischer Hinsicht überholt, erörtert nur unzu- sich im Rahmen der Fundstellen unterschiedliche Akti- reichend die taphonomischen Faktoren der Fundstellen- vitätszonen herauszukristallisieren, die sich u. a. durch genese und kommt fast ganz ohne Untersuchungen zur unterschiedlich große Fundmengen und durch verschie- lithischen Technologie aus. Die Steinartefaktzeichnun- den hohe Anteile der lithischen Bewehrungen auszeich- gen sind schlecht, die metrischen Graphiken langatmig nen. Aufgrund eigener Erfahrungen mit der Analyse von und das Literaturverzeichnis sehr übersichtlich. Zudem im Sand eingebetteten und nach Quadratmetern ergra- bleibt es weitgehend unklar, nach welchen Kriterien die benen Inventaren (Varennes-lès-Mâcon, Saône-et-Loire, innere Untergliederung der Fundstelle in Teilbereiche Frankreich) möchte ich die Vorgehensweise Rozoys mit erfolgte. Die Schlussfolgerung des Autors, die mesolithi- Respekt bewerten, da sich auch in einem derart schwie- schen Siedlungsstrukturen unterschieden sich von denen rigen, von anderen Forschern als unbearbeitbar angese- des Magdalénien ist eine Binsenweisheit und nicht wirk- henen Milieu durchaus bedeutende Tendenzen ablesen lich von Relevanz. Abschließend kann dieses Buch somit lassen können. Andererseits warne ich angesichts großer nur denjenigen empfohlen werden, die sich näher mit fundplatzinterner Probleme aber vor einer Überinterpre- mesolithischen Inhalten beschäftigen und hier auch nur tation der erzielten Ergebnisse. Ich maße es mir zwar denjenigen, die für ihre jeweiligen Bearbeitungen Ver- nicht an, in einer mir geographisch nicht unmittelbar gleichsinformationen zur frühen Mittelsteinzeit aus dem vertrauten Region die Einheitlichkeit des Fundmaterials, Norden des Pariser Beckens benötigen. Diese Kritik z. B. im Hinblick auf die vertretenen Mikrolithen in sollte aber nur eingebunden in meiner Hochachtung vor Frage zu stellen, möchte aber Vermischungen dennoch dem Lebenswerk des Autors beurteilt werden. Für einige nicht grundsätzlich ausschließen. Im Gesamteindruck Hinweise zur Vita des Autors danke ich Boris Valentin haben wir es bei den vorgelegten Funden im weitesten (Paris). Sinne mit frühmesolithischen Inventaren zu tun, in denen verschiedene Dreiecksmikrolithen und Segmente Tübingen Harald Floss eine große Rolle spielen. Ob allerdings deren fundplatz- interne Unterschiedlichkeit durch funktionelle oder chronologische Faktoren herzuleiten ist, bleibt offen. J.-G. Rozoy zählt zweifellos zu den großen zeitgenös- sischen Prähistorikern unseres westlichen Nachbarlan- Marylène Patou-Mathis (Hrsg.), Retouchoirs, com- des. Er blickt auf ein abwechslungsreiches Leben und presseurs, percuteurs … Os à impressions et éraillures. eine lange Forscherkarriere zurück. Wenn hier nur am Fiches de la Commission de nomenclature sur l’industrie Rande erwähnt sei, dass er als Mitglied der französi- de l’os préhistorique, Cahier X. Éditions de la Société schen Résistance während des Zweiten Weltkrieges nach Préhistorique Française, Paris 2002, 136 Seiten. Dachau deportiert wurde, sagt dies vielleicht schon genug. In fachlicher Hinsicht liegt uns mit seinem 1978 Mit dem Buch »Retouchoirs, compresseurs, percuteurs« im Selbstverlag erschienenen dreibändigen Werk »Les legen Marylène Patou-Mathis und Mitarbeiter in der derniers chasseurs« bis heute eine der umfassendsten Reihe der »fiches typologiques« prähistorischer Kno- Synthesen zum west- und mitteleuropäischen Spätpaläo- chengeräte den zehnten Band vor. Die vorigen Ausgaben lithikum und Mesolithikum vor. Von Hause aus nicht waren unter Beteiligung von drei verschiedenen Heraus - Archäologe, sondern im sozial schwierigen Charleville- gebern den Geschossspitzen (1988), Speerschleuder- Maizières ansässiger Arbeitsmediziner, hatte es Docteur widerhakenenden (1988), Ahlen und Pfriemen (1990), Rozoy nicht immer leicht, sich in der Welt der Prähisto- Schmuckobjekten (1991), Lochstäben (1992), Behält- riker Anerkennung zu verschaffen. Einen Posten in un- nissen (1993), Widerhakenspitzen (1995), Schneide- serem Fach erhielt er nie. Aufgrund seiner Jahrzehnte werkzeugen (1998) sowie seltenen und verkannten Ge- währenden akribischen Arbeit und seiner Fähigkeit, räten (2001) gewidmet. Wie in allen vorigen Ausgaben auch neu entstehende Methoden immer wieder aufzu- ist es das Ziel der vorliegenden Veröffentlichung, zu einer greifen, gilt er dennoch als anerkannter Fachwissen- Vereinheitlichung der Nomenklatur prähistorischer Ge- schaftler. Er ist gleichermaßen wegen seiner scharfen räte aus Knochen, Geweih und Elfenbein zu kommen, Zunge gefürchtet, wie aufgrund seiner freundlichen, bei- die oft unrichtigerweise unter dem Begriff ›Geräte aus nahe jugendlich schelmischen Ausstrahlung beliebt. organischen Rohmaterialien‹ zusammengefasst werden. Rozoy war und ist immer an großen Fragestellungen pal- Unter »retouchoirs, compresseurs, percuteurs« versteht ethnologischer Natur interessiert gewesen, jedoch bleibt man Geräte, die zur Herstellung bzw. Modifizierung ge- leider festzuhalten, dass viele der von ihm bearbeiteten schlagener Steinartefakte verwendet wurden. All diesen Fundstellen und so auch das hier vorgelegte Le Tillet Objekten sind Eindrücke und Narbenfelder (»impressi- nicht über ein ausreichendes Potential verfügen, um die- ons et éraillures«) gemein, die bei der Verwendung dieser 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 384

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Werkzeuge, genauer gesagt beim Kontakt mit dem har- Anhänger genutzt. Das zweite Artefakt wurde in unmit- ten Werkstoff Stein, entstanden. Ergänzend sei hierbei telbarer Nähe des erstgenannten aufgefunden, weist aber erwähnt, dass solche Geräte bei weitem nicht nur aus keine figürliche Verzierung auf. Das Rohmaterial beider Knochen und ähnlichen Materialien, sondern auch aus Stücke wurde von G. Riek (Die Eiszeitjägerstation am verschiedenen Gesteinen bestehen können. Vogelherd im Lonetal 1. Die Kulturen [Tübingen 1934]), Das Buch beginnt einleitend mit einem »fiche analy- dem Ausgräber des Vogelherds ursprünglich als ›Knie- tique« genannten Vorschlag, nach welchen Kriterien die scheiben‹ angegeben, seither wird neutral von ›Knochen besprochene Gerätgruppe analysiert werden sollte. Da- eines Großsäugers‹ gesprochen, um Geweih dürfte es nach geben M. Patou-Mathis und C. Schwab eine ein- sich aber nicht handeln. Über die basierende Verwen- leitende Darstellung der beschriebenen Geräte unter dungsweise der genannten ovalen Knochen- und Ge- besonderer Berücksichtigung der diversen Bezeich- weihscheiben besteht Unklarheit. Obwohl hier als mög- nungsweisen in der Forschungsgeschichte. Ab S. 21 ff. liche Retoucheure abgehandelt, können diese Stücke folgt ein von G. Giacobini und M. Patou-Mathis verfass- als Glätter oder zum Polieren verwendet worden sein. ter, »Fiche rappels taphonomiques« genannter Beitrag, Die Beispiele des Vogelherds lassen keine Verwendung der sich mit natürlich entstandenen Marken auf Kno- als Retoucheure erkennen, wie es J. Hahn (Kraft und chen beschäftigt, sei es durch geologische Faktoren, Na- Aggression. Die Botschaft der Eiszeitkunst im Aurig- gerverbiss, Wurzelfraß oder menschliche Trampelaktivi- nacien Süddeutschlands? Arch. Venatoria 7 [Tübin gen täten. Dieser Beitrag ist auch insofern von Bedeutung, 1986]) vermutet hatte. Sie bezeugen vielmehr eine da man die besprochene Artefaktgruppe aufgrund ihrer Nutzung als Anhänger. Interessant ist der Umstand, teils nur diskreten Merkmale leicht mit Stücken ver- dass sich in Aurignacien-Fundstellen des Périgord, wie wechseln kann, die durch natürlich entstandene Marken beispielsweise im Abri Cellier und im Abri Blanchard überprägt sind. Bei der Einteilung der besprochenen au- (S. 115), quasi identische Objekte finden. Die Publika- thentischen Geräte in verschiedene Untergruppen haben tion schließt sodann mit zwei Beiträgen zum Thema sich die Autoren entschieden, diese nach den zugrunde Schlägel zur Grundformerzeugung. Zunächst bespre- liegenden Geweih- und Knochenpartien vorzunehmen, chen A. Averbouh und P. Bodu Geweihschlägel. Die da sie die Form der Artefakte entscheidend bestimmen. Autoren offenbaren hier ihre gute Literaturkenntnis So beschreiben G. Malerba und G. Giacobini in ihrem durch die Nennung eines solchen Stückes aus der Mag- »fiche éclats diaphysaires avec marques transversales dalénienstation Andernach am Mittelrhein. Die dar - d’utilisation« genannten Beitrag Diaphysenabschläge mit gestellten Funde beleuchten in eindrucksvoller Weise Narbenfeldern, die nach Ansicht der Autoren als aktiv ihre Verwendung zur Flächenretusche des Solutréen, verwendete Retoucheure genutzt wurden. In der Folge aber auch zur Grundformerzeugung in direkt-weicher analysiert P. Auguste sehr ähnliche Objekte aus mittel- Schlagtechnik, die offensichtlich in weiten Teilen des paläolithischem Kontext, genauer aus Biache-Saint-Vaast Jungpaläolithikums zur Anwendung kam. Abschließend (Pas-de-Calais) und aus der Kulnahöhle in Mähren. In erörtert E. David sodann Schlägel aus Metapodien des dieselbe Artefaktkategorie fällt auch der folgende Beitrag Auerochsen, die ganz im Gegensatz zu den vorgenann- C. Schwabs, die solche Stücke mittel- und jungpaläoli- ten Artefaktkategorien vornehmlich im skandinavischen thischen Alters aus der Höhle Isturitz (Pyrénées-Atlan- Mesolithikum vorkommen. tiques) beschreibt. Gegenüber diesen eher häufig auftre- Das hier besprochene insgesamt 136 Seiten umfas- tenden Artefakttypen sind die in ähnlicher Verwendung sende Buch gefällt. Die hervorragenden Fotografien, genutzten Humerusgelenkenden großer Huftiere eher und hier insbesondere die meist gestochen scharfen Ver- selten. Sie werden im Beitrag von P. Valensi (S. 75 ff.) größerungen der für die Nutzung der Artefakte relevan- näher erläutert. Die gleiche Autorin beschreibt in der ten Arbeitsspuren, machen das Buch allein schon zu Folge als Retuscheure verwendete Phalangen. Eine be- einem Gewinn. Schade nur und auch unverständlich, sonders spektakuläre Artefaktkategorie sind sodann dass sich nicht alle Autoren an die einleitend vorgeschla - Retoucheure an Eckzähnen von Raubtieren, die von gene Analysestruktur gehalten haben. Wie will man Ch. Leroy-Prost analysiert werden. Da ich in Tübingen von Dritten eine Akzeptanz des vorgeschlagenen Auf- lehre, freut es mich hierbei besonders, dass in dieser Ar- nahmesystems erwarten, wenn sich bereits die Autoren tefaktkategorie auch Funde aus der bedeutenden Höh- des Buches selbst nicht daran halten? In inhaltlicher lenstation Vogelherd (Kreis Heidenheim) berücksichtigt Hinsicht hätte man sich vielleicht ein größeres Augen- wurden. Eine weitere sehr interessante Gruppe von Ob- merk auf aktualistische Versuche mit entsprechenden jekten wird schließlich durch ovale diskusförmige Schei- fotografischen Abbildungen der experimentellen Nut- ben aus dem Rosenbereich von großen Geweihstangen zung dieser Artefakte gewünscht. Alternativ hätten auch bzw. auch aus Knochen repräsentiert. Diese ebenfalls Zeichnungen der rekonstruierten bzw. interpretierten von Ch. Leroy-Prost beschriebenen Stücke weisen ein Handhabe der Geräte diese Funktion übernehmen kön- klares chronologisches Schwergewicht im frühen Jung- nen. Auch auf die Gefahr hin, etwas Entscheidendes paläolithikum (Aurignacien) auf. Zwei der beschrie - überlesen zu haben, ist mir zudem nicht klar geworden, benen Artefakte stammen wiederum vom Vogelherd. welchen der im Titel des Buches genannten Werkzeug- Eines der beiden Stücke weist eine in Kameentechnik er- kategorien denn die Artefakte der Einzelbeiträge zuzu- stellte Darstellung eines Mammuts auf und wurde als ordnen sind. Es ist schon auffällig, dass die plakativen 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 385

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Bezeichnungen der Geräteklassen des Buchtitels in den unbestimmten Ausschnitt eines aufwendigeren Totenri- Einzeldarstellungen nicht oder nur an entlegener Stelle tuals bezeichnet, und dass eine Vielzahl von denkbaren wieder zu finden sind. Problematisch bleibt insbesondere Bestattungsformen sich der archäologischen Nachweis- die Abgrenzung zwischen ›retouchoirs‹, denen nach barkeit entziehen. allem eine aktive Handhabe beigemessen wird, und den Am Ende des Kapitels (S. 13) erfährt man dann die ›compresseurs‹, die im Zusammenhang mit der Druck- Zielsetzung der Arbeit, die darin liegt, »die Grab- und retusche stehen sollen. Meiner Auffassung nach handelt Bestattungssitten auf ihre spezifischen Ausprägungen zu es sich aber bei vielen dargestellten Gerätklassen des untersuchen und als Kulturelemente mit gleichzeitigen, Buches entgegen der Auffassung der Autoren nicht um vorangegangenen oder nachfolgenden Sitten zu verglei- aktiv genutzte Retuschiergeräte, sondern um Stücke, chen«. Dies ist dem Autor in einer soliden und beeindru- auf denen in passiver Verwendung Retuschennegative ckenden Weise gelungen, wobei, dort wo die Quellen es ›abgedrückt‹ wurden. Dafür sprechen die gut definier- erlauben, über die komparative Bearbeitung hinaus zu- ten, im Inneren und nicht am Rand der Oberflächen sätzlich sozialgeschichtliche Fragen erörtert werden. gelegenen Narbenfelder. Der den beiden großen Regionalstudien vorange- Ungeachtet dieser kleineren Kritikpunkte liegt uns stellte allgemeine Teil beginnt mit einem prägnanten Ab- im Gesamturteil in der vorliegenden Publikation ein riss der Forschungsgeschichte (S. 15–21) zum neolithi - gutes Buch vor, das einen wichtigen Beitrag zur Kennt- schen Bestattungsbrauchtum in Südosteuropa, die mit nis prähistorischer Artefakte darstellt und das, auch auf- der Aufdeckung der ersten neolithischen Gräber auf grund der ausführlichen Literaturhinweise, jedem an dem westungarischen Fundplatz Lengyel im letzten steinzeitlichen Gerätschaften Interessierten als wichtiges Viertel des 19. Jhs. ihren Anfang nahm. Während sich Nachschlagewerk empfohlen sei. die ältere Forschung vor allem die Vorlage von Gra- bungsergebnissen zur Aufgabe machte, wurden seit den Tübingen Harald Floss achtziger Jahren des 20. Jhs. verstärkt sozialgeschicht - liche und ethnische Fragen an den Gräberbestand heran - getragen. Aus der kritischen Einschätzung des gegen- wärtigen Forschungsstandes heraus entwickelt Lichter den Ansatz seiner eigenen Vorgehensweise, wobei für Clemens Lichter, Untersuchungen zu den Bestat- ihn zwei bisher nur unzureichend thematisierte Fragen tungssitten des südosteuropäischen Neolithikums und im Vordergrund stehen. Zum einen ist dies die relative Chalkolithikums. Monographien/Heidelberger Akade- Seltenheit von Bestattungen im älteren Neolithikum, mie der Wissenschaften, Internationale Interakademi- zum anderen die Entwicklung von der Siedlungsbe- sche Kommission für die Erforschung der Vorgeschichte stattung zum extramuralen Bestattungsbrauchtum in des Balkans. Band 5. Verlag Philipp von Zabern, Mainz Gräberfeldern. 2001. 474 Seiten, 170 Abbildungen. Aus seiner Bilanz der Forschungsgeschichte erwächst unweigerlich die Notwendigkeit einer Auseinanderset- In der Neolithikumforschung Südosteuropas hatte Cle- zung mit quellenkritischen Fragen, die im darauf folgen- mens Lichter sich bereits einen Namen gemacht, als er den Kapitel (S. 21–23) behandelt werden. Hierbei geht das Vorhaben seiner hier zu besprechenden Dissertation es vor allem um die Repräsentanz des greif baren Fund- in Angriff nahm. Die ebenfalls als Monographie veröf- materials. So erlauben die riesige Fundmenge, der oft fentlichte Magisterarbeit zum neolithischen Hausbau in ungenügende Publikationsstand und die Unzugänglich- Südosteuropa (Untersuchungen zu den Bauten des süd- keit von Grabungsdokumentationen keine vollständige osteuropäischen Neolithikums und Chalkolithikums. Berücksichtung des tatsächlich vorhandenen Fundstoffs. Internat. Arch. 18 [Buch am Erlbach 1993]) gab ihm Dennoch dürften nach Lichters Einschätzung die ihm bereits die Möglichkeit, sich in den weit gestreuten und zur Verfügung stehenden Befunde einen mehr oder diffizilen Fundstoff intensiv einzuarbeiten, was ihm weniger repräsentativen Querschnitt des bekannten Ge- offenkundig zugute kam. So beziehen sich beide Arbei- samtmaterials bieten. Eine Aussage, die man angesichts ten nicht von ungefähr auf denselben Raum und Zeit- von 5168 berücksichtigten Einzelbefunden, zuzüglich abschnitt bis hin zur einheitlichen Kartenvorlage. Wie über 2000 weiteren Bestattungen in summarischen Be- spätestens im Verlaufe der Lektüre deutlich wird, sind schreibungen gerne glaubt. Auf einem anderen Blatt Siedlungs- und Bestattungswesen im südosteuropäi- steht dagegen die Frage, in wie weit der archäologische schen Neolithikum eng miteinander verzahnt. Fundbestand überhaupt charakteristisch für das neoli- Das Einleitungskapitel (S. 9–13) nutzt der Autor, um thische Bestattungsbrauchtum ist. So dürften in man- terminologische Fragen zu diskutieren, wobei er allzu in- chen Regionen und Perioden die dokumentierten Bestat- terpretativen Bezeichnungen eine Absage erteilt. Den tungen als Stichprobe entweder nicht repräsentativ oder Begriff ›Sitten‹ umschreibt er mit Normen, Rechtsvor- zahlenmäßig zu gering für zuverlässige Aussagen sein. schriften und Gebräuchen, unter ›Bestattung‹ versteht er Der Autor nennt drei generelle Faktoren für die einge- die dauerhafte Niederlegung von Toten oder deren Res- schränkte Auswertbarkeit eines Fundbestandes (S. 22– ten im Boden. Der Autor ist sich dabei durchaus im Kla- 23), die auch für andere Fundregionen volle Gültigkeit ren darüber, dass die eigentliche Bestattung nur einen besitzen: 1) Widrige Umweltbedingungen in Bezug auf 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 386

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Einlagerung, Überlieferung und Auffindung von Grä- Auf den ersten Blick lässt die eloquent formulierte bern, 2) die selektive Landnutzung des prähistorischen und reich illustrierte Studie nicht die zugrunde liegende bis rezenten Menschen mit der Folge eines einseitigen ar- Arbeitsmethodik erkennen. Wie man von Lichter an chäologischen Fundbestandes sowie 3) methodische versteckter Stelle im Vorwort (S. 8) erfährt, beruht die Einschränkungen der archäologischen Forschung im diffe renzierte Datenerfassung des Quellenmaterials auf Verlaufe ihrer Geschichte, wie etwa die Fixierung der der Verwendung einer Datenbank. Erst die Anwendung Ausgrabungstätigkeit auf bestimmte Denkmalgruppen. einer relationalen Datenbank als Hilfsmittel erlaubt die Während die Wissenschaft auf die ersten beiden Fakto- sichere Verwaltung und vielfältige statistische Auswer- ren kaum Einfluss hat, könnte sie dem dritten mindern- tung eines so komplexen und umfangreichen Datenbe- den Quellenfaktor mit durchdachten Forschungskon- standes. Der methodisch interessierte Leser hätte sich, zepten in Zukunft durchaus entgegentreten. etwa in einem separaten Kapitel, aufschlussreiche Anga- Mehr als akzessorische Bedeutung hat das Kapitel ben zur Datenbankstruktur, Codierung und Erfahrun- »Naturraum« (S. 24–28), in dem Geomorphologie, gen im Umgang mit dem in der Urgeschichtsforschung Klima und Vegetation sowie Verkehrswege in Kürze ab- noch keineswegs selbstverständlichen Instrument ge- gehandelt werden. Zumindest hier hätte man sich an- wünscht. stelle der schematischen und stummen hydrographi- Vor diesem Hintergrund ist auch der griffige Fund- schen Karte (Abb. 1) eine detailliertere Topographie mit platzkatalog im Anhang (S. 391–439) zu verstehen, in Namensangabe der wichtigen Flussläufe und Landschaf- dem die Bestattungen von 347 Fundorten in lesenswer- ten gewünscht. Denn nicht bei jedem potentiellen Leser ter Weise zusammenfassend dargestellt sind. Gerade weil sind weitreichende Detailkenntnisse der Geographie Lichter die vielfältigen Einzelmerkmale der Gräber in Südosteuropas vorauszusetzen. einer Datenbank digital verfügbar hat, kann er auf eine Die substantielle Abhandlung der neolithischen Be- raumgreifende Auflistung der Rohdaten in seinem Kata- stattungssitten gliedert sich in zwei umfangreiche logteil verzichten. Hauptteile, zum einen die Bestattungen im östlichen Zur Veranschaulichung seiner Ausführungen bedient Balkanraum (S. 29–153), zum anderen die Gräber sich der Autor regionaler Verbreitungskarten, verschie- im Karpatenbecken und auf dem westlichen Balkan dener Diagrammarten, exemplarischer Befund- und (S. 155–386). Fundabbildungen und Gräberfeldplänen. Leicht zu Mit konsequenter Systematik werden die beiden Ar- übersehen, da im Inhaltsverzeichnis nicht aufgelistet, ist beitsgebiete in jeweils sechs chronologische Horizonte eine Gesamtverbreitungskarte seiner Fundorte im Über- gegliedert und sodann die Gräber nach Kulturgruppen format am Ende des Buches. Zu Beginn eines jeden getrennt analysiert. Ohne sich zu sehr auf strittige De- Themenabschnitts findet sich eine tabellarische Aufstel- tailfragen der chronologischen Diskussion einzulassen, lung der berücksichtigten Fundplätze, am Ende eine Er- entwirft Lichter ein eigenes Zeitgerüst, das sich vom frü- kenntnissicherung in Tabellenform, die bei längeren Ka- hesten Neolithikum des späten 7. Jts. v. Chr. bis in die piteln durch eine ausführliche Synthese ersetzt sein entwickelte Kupferzeit der ersten Hälfte des 4. Jt. v.Chr. kann. Die 170 Abbildungen und 24 Tabellen, ebenso wie spannt (S. 29–32; 155–160). Die einzelnen Horizonte die konsequent mit Katalogverweisen versehenen Fund- umfassen dabei absolute Zeiträume von 300–500 Jah- platznamen machen das Werk trotz seines Umfangs und ren und verlaufen, wie die schematischen Chronologie- der feinen Gliederung an jeder Stelle transparent. tabellen (Abb. 2; 72; 73) suggerieren, zwischen den bei- Die thematisch abgeschlossenen Kapitel behandeln den Untersuchungsregionen synchron. Der Zeitrahmen die Einzelelemente der Bestattungen, wobei bereits das wurde mit Absicht so weit vereinfacht, dass sich einer- detaillierte Inhaltverzeichnis einen Überblick des ver- seits auch die Vielzahl der nicht präzise datierbaren Grä- wendeten Begriffsapparates liefert. Behandelt werden ber ohne größere Schwierigkeiten einem bestimmten ›Lage‹ (innerhalb oder außerhalb von Siedlungen), ›an- Fundhorizont zuordnen lassen. Andererseits ist das Peri- thropologische Daten‹, ›Grabbau‹, ›Bestattung‹ und odenraster doch so eng gesteckt, dass räumliche Struk- ›Gräberfeldstruktur‹, wobei der Begriff ›Bestattung‹ die turen der Bestattungssitten konkret gefasst und in ihrer Aspekte ›Bestattungsart‹ (Körper- oder Brandbestat- zeitlichen Entwicklung verfolgt werden können. tung), ›Totenhaltung‹ (Strecker oder Hocker, Seitenlage, Da eine nähere Bezeichnung der absoluten Zeitan- Bein- und Armhaltung), ›Orientierung‹ und ›Grabin- sätze in den Chronologietabellen fehlt, sei betont, dass ventar‹ umfasst. Innerhalb der Grabinventare unter- Lichter hierfür ausschließlich kalibrierte Radiokarbon- scheidet Lichter noch einmal zwischen ›Gefäßbeigaben‹, daten hinzugezogen hat; was für Studien zum Neolithi- ›Gerätschaften‹, ›Schmuckausstattung‹ und ›Fleischbei- kum Südosteuropas nicht immer selbstverständlich ist. gaben‹. Die knappe summarische Abhandlung der in mehrfa- Sofern anthropologische Daten vorliegen, werden cher Hinsicht diskussionswürdigen Radiokarbondaten Unterschiede der Bestattungselemente innerhalb einer (S. 32; 160) ist zu entschuldigen, da Lichter sie später in Kultur in ihrem Bezug auf Alter und Geschlecht der Be- seine Befundauswertung und kulturgeschichtliche Syn- statteten diskutiert. Die durch anthropologische Unter- these nicht weiter einbezieht. So verzichtet er beispiels- suchungen gewonnene Datenbasis nutzt Lichter auch weise mit gutem Grund auf zeitbezogene demographi- zur Überprüfung der demographischen Repräsentanz. sche Berechnungen. Hierbei setzt er stillschweigend einen Gradmesser vor - 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 387

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aus, den er allerdings nicht explizit erläutert. So lassen Geschlechtsdimorphismus bezüglich Totenhaltung und sich Sterbepopulationen hinsichtlich ihrer charakteristi- Orientierung im Grab herausarbeiten, welcher im Zeit- schen Altersverteilung statistisch klar von den pyramidal horizont 5 zum festen Bestandteil des regionalen Bestat- aufgebauten Lebendpopulationen absetzen (S. 65–193; tungsbrauchtums wird. vgl. J. Wahl /H. G. König, Anthropologisch-trauma- Ebenfalls erst in der entwickelten Kupferzeit tologische Untersuchung der menschlichen Skelettreste (2. Hälfte 5. Jt. v.Chr.) treten mit regelhaften Teilbe - aus dem bandkeramischen Massengrab bei Talheim, stat tungen als Relikte mehrstufiger Bestattungsrituale in Kreis Heilbronn. Fundber. Baden-Württemberg 12, der Cucuteni-Kultur und Gräbern ohne Skelettreste 1987, 73ff.). Als kennzeichnend für die Sterbehäufigkeit (›Kenotaphe‹) im Kodžadermen-Gumelni a-Karanovo- in vorindustriellen Gesellschaften muss eine hohe Kin- VI-Komplex ganz neue Bestattungsformen auf den dersterblichkeit mit einem Maximum im ersten Lebens- Plan. jahr gelten. Mit zunehmendem Kindesalter nimmt die Die goldreiche Nekropole von Varna am Schwarzen Mortalitätsrate dann kontinuierlich ab, um im Jugend- Meer zählt Dank mehrerer internationaler Ausstellun- alter ein Minimum zu erreichen. Doch schon beim Ein- gen zu den prominentesten urgeschichtlichen Gräberfel- tritt ins Erwachsenenalter steigt die Anzahl der Todes- dern Europas. Leider wurde bis heute nur ein Bruchteil fälle von Frauen und Männern erneut rapide an. Diese der rund 300 erfassten Gräber aus der zweiten Hälfte oszillierende Entwicklung der Mortalitätsrate in ur- und des 5. Jts. v.Chr. katalogmäßig vorgelegt, so dass jeder frühgeschichtlichen Gesellschaften ist für die Überprü- Versuch einer Auswertung zwangsläufig provisorisch fung der Repräsentanz von Altersgruppen in den Be- bleiben muss. Der für das frühe Metallikum beispiellose stattungsgemeinschaften von zentraler Bedeutung und Beigabenreichtum einer Handvoll Gräber hat Autoren wird bei der Untersuchung neolithischen Bestattungs- wie J. Lichardus, I. Marazov und V. Nikolov zu teils weit- brauchtums auch vereinzelt berücksichtigt (S. 59–66; reichenden sozialhistorischen Interpretationen beflügelt. vgl. H. Peter-Röcher, Bestattungssitten oder Opfer- Lichter macht es sich bei der Diskussion um die sozial- brauch tum? Anmerkungen zu menschlichen Skelettres- geschichtliche Wertung von Varna (S. 110–113) dagegen ten des älteren Neolithikums. In: Chronos. Beitr. prä- zu einfach, wenn er die hier besonders goldreichen Ke- hist. Arch. zwischen Nord- u. Südosteuropa. Festschr. no taphe bei seinen Überlegungen ausblendet, während Bernhard Hänsel [Espelkamp 1997] 60 ff.). er sie an anderer Stelle (Devnja, Durankulak) als voll- Als nächstes seien einige wichtige Ergebnisse der Un- wertige Bestattungen in seine Analysen einbezieht. Seine tersuchung herausgestellt. Im ostbalkanischen Raum Deutung der exzeptionellen Ausstattung mancher Grä- stammen alle erfassten Gräber des Frühneolithikums ber als Ausdruck eines ›Imponiergehabes‹ und ›Rangbe- (spätes 7. Jt. bis 1. Hälfte 6. Jt. v.Chr.) aus Siedlungszu- gehrens‹ in einer durch Handel reich gewordenen Gesell - sammenhängen, extramurale Gräberfelder setzen sicher schaft entspricht zwar dem kleinsten gemeinsamen Nen- erst seit dem Spätneolithikum (spätes 6. Jt. v.Chr.) und ner der communis opinio, doch hätte man sich von einem nur in bestimmten Regionen (Dobrudža, Nordostbul- so profunden Kenner des südosteuropäischen Neolithi- gari en und Muntenien) ein. In allen behandelten Zeit- kums die eine oder andere neue Idee zu dem singulären horizonten ist als Strukturmerkmal der Siedlungsbestat- Sozialphänomen gewünscht. So fällt in Varna auf, dass tungen ein gewisses Vorherrschen von Kinder- und Frau- funktionstüchtige Waffen und monumentaler Grabbau engräbern evident. Dieser Umstand darf als Indiz dafür im Vergleich zu Prunkgräbern anderer Epochen auffällig angesehen werden, dass die Sitte der Siedlungsbestat- fehlen, stattdessen wurden die meisten Goldobjekte als tung sich nur auf einen Ausschnitt der jeweiligen Resi- Bestandteile von Funeraltrachten angefertigt. Unbrauch- denzgruppe bezog, wenn nicht gar als eine Form von bare Prunkkeramik, qualitätvolle, aber unbenutzte Sonderbestattung zu verstehen ist. Weitere reguläre Be- Werkzeuge sowie Insignien aus Metall und Stein veran- stattungsformen sind zwingend vorauszusetzen, entzie- schaulichen, dass wir wohl kaum die Widerspiegelung hen sich aber vollständig der archäologischen Erfassung. einer weltlichen Herrschaftsideologie oder persönlichen Die im Quellenbestand des gesamten Untersu- Reichtums vor uns haben. Der kostbare Ornat lässt viel chungszeitraums vorherrschende Bestattungsart ist die eher an die Manifestation von religiös definierten Status- Körperbestattung als Hocker oder Strecker, wobei Ho- positionen denken und war wohl zugleich Kristallisa - cker bestattungen seit Beginn des Frühneolithikums do- tionspunkt der Wirtschaftskraft einer überörtlichen minieren. Ritualgemeinschaft. Im Gegensatz zur Auffassung anderer Autoren ent- Obwohl wir mit dem karpatenländisch-westbalkani- deckt Lichter eine auffällige Koinzidenz zwischen der schen Raum einen eigenen Kulturkreis betreten, fassen Verbreitung von Bestattungen in gestreckter Rückenlage wir doch gleichläufige Entwicklungstendenzen. So lässt und den Regionen, die außerhalb der primären Neoli- sich im Karpatenbecken im 6. und 5 Jt. v.Chr. ein all- thisierungsräume liegen. Folgerichtig vermutet er in den mählicher Wandel von der Siedlungsbestattung zu ex- Rückenstreckern eine Fortführung mesolithischer Kult- tramuralen Gräberfeldern feststellen. Im frühneolithi- traditionen in autochthonen Bevölkerungsgruppen, die schen Starčevo-Körös-Criş-Komplex finden sich Bestat- erst in einem sekundären Schritt durch Akkulturation tungen noch stets vereinzelt im Zusammenhang mit neolithisiert wurden. Siedlungsobjekten. In der Alföld-Liniearbandkeramik Zudem lässt sich die allmähliche Herausbildung eines treten dann erstmals Gräbergruppen im Siedlungsareal 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 388

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auf, gleichzeitig lassen sich die ersten extramuralen Grä- nischen Zentralmuseums, Mainz 2004. In Kommission berfelder in der Linienbandkeramik und Vinča-Kultur bei Dr. Rudolf Habelt GmbH Bonn. 386 Seiten, 46 greifen. Während in der ersten Hälfte des 5. Jts. v.Chr. Tabellen. 1 Falttabelle, 149 Abbildungen, 15 Farbabbil- kleine Gräberfelder innerhalb der Siedlung häufig ange- dungen, 130 Tafeln. troffen werden, herrschen seit den frühkupferzeitlichen Kulturen in der 2. Hälfte des 5. Jts. v.Chr. dann ausge- Hans-Jürgen Hundt († 1991) befasste sich über Jahr- dehnt extramurale Nekropolen vor. zehnte hinweg immer wieder mit den Vollgriffdolchen Von besonderer kulturgeschichtlicher Bedeutung ist der europäischen Frühbronzezeit; er, der sich selbst auch die allmähliche Ausdifferenzierung von Bestat- gerne als »Handlungsreisender in Sachen Vorgeschichte« tungsnormen, die in der ersten Hälfte des 4. Jts. v.Chr. bezeichnete, trug eine beachtliche Materialsammlung sowohl Alter als auch Geschlecht in Grabbau, Toten- zusammen, einschließlich Röntgenuntersuchungen ei - haltung und Beigabenausstattung berücksichtigen. Im niger Stücke. Seine im Römisch-Germanischen Zen- Früh- und Mittelneolithikum ist die ärmliche Beiga- tralmuseum in Mainz verwahrte Dokumentation ist benausstat tung noch uneinheitlich, doch kündigt sich Grundlage der Dissertation von Stefan Schwenzer, in der Mit gabe von Schwergeräten in Männerbestat- ergänzt durch weitere Materialaufnahmen. tungen der Linienbandkeramik erstmals eine exklusive Er befasst sich mit 344 im Katalog aufgeführten Dol- Beigaben sitte an. Spätestens seit der frühkupferzeitli- chen, wovon 320 »mehr oder minder sicher als früh- chen Tiszapolgár-Kultur kristallisieren sich im östlichen bronzezeitliche Vollgriffdolche angesprochen werden Karpatenbecken geschlechtsspezifische Totenhaltungen können« (S. 1). Einige wenige sind im Katalog zwar ent- heraus, ab der mittelkupferzeitlichen Bodrogkeresztúrer halten, sind aber, da Schwenzer erst nach Fertigstellung Kultur treten vereinzelt Prestigewaffen bei Männern des Manuskriptes von ihnen Kenntnis erhielt, nicht oder hinzu, die wohl hervorgehobene, aber nicht erbliche Sta- kaum ausgewertet (S. 13). tuspositionen markieren. Die differenzierte Symbolik Es ist dies seit der grundlegenden Monographie von der Bestattungssitten lässt für das frühe 4. Jt. v.Chr. be- O. Uenze (Die frühbronzezeitlichen triangulären Voll- reits eine komplexe Gesellschaftsideologie erschließen, griffdolche. Vorgesch. Forsch. 11 [Berlin 1938]) das erste nach der Geschlechts- und Altergruppen sowie lokale Mal, dass Vollgriffdolche des kontinentalen Europa in Führungspositionen in einer Ranghierarchie ihren festen ihrer Gesamtheit neu vorgelegt werden, in sehr guten Platz hatten. Zeichnungen und mit Röntgen- und einigen Objekt- Als kulturgeschichtliches Gesamtergebnis zu beiden fotos. Beigefügt ist eine Liste von Stabdolchen und Dol- Untersuchungsregionen stellt Lichter oft eine klare chklingen mit Verzierungen in Art der Vollgriffdolche, räumliche Übereinstimmung zwischen keramischen einige mit Textabbildungen. Mutmaßlich hatten diese Stilgruppen, mineralischen Rohmaterialzonen und verzierten Klingen keine Metallgriffe; dass ein solcher Grabsittenarealen heraus. Das in Zeit und Raum zwar aber nur verschwinden könne, »wenn die Niete zuvor veränderliche, aber innerhalb einer kulturellen Entität entfernt oder verloren gegangen wären« ist angesichts stets normierte Bestattungsbrauchtum darf deshalb als beispielsweise des Dolches von Ingolstadt (Nr. 48, wichtiges Gemeinschaft stiftendes Kulturmerkmal von Taf. 17 und 115) gegenstandslos: Teile des Heftes sind im weitesten Sinne ethnischen Einheiten im Neolithi- abgebrochen, die Niete jedoch noch in situ. kum und Chalkolithikum Südosteuropas gelten. Der Autor geht das komplexe Material systematisch Die gediegene Aufmachung in der Monographien- an, beginnend mit Begriffsdefinitionen. Da er offen- reihe der Balkan-Kommission der Heidelberger Akade- kundig Wert auf eine exakte Terminologie legt (siehe mie der Wissenschaften darf nicht darüber hinwegtäu- S. 8 f.), sei hier angemerkt, dass Niete zum unlösbaren schen, dass das Werk von Clemens Lichter methodisch Verbinden einzelner Teile dienen, was bei den Nieten der als hoch innovativ einzustufen ist. Denn die Arbeits- Dolche nicht unbedingt zutrifft (vgl. G. Gallay, Zu weise der deskriptiven Auswertung wurde hier durch Fragen bronzezeitlicher Nietung in Nordwestfrankreich. eine datenbankgestützte statistische Analyse weitgehend Arch. Korrbl. 13, 1983, 49ff.); tatsächlich benutzt er ein- ersetzt. Hinsichtlich des bewältigten Fundmaterials, der mal die umständlichere aber treffendere Bezeichnung methodischen Verfahrensweise, aber auch der Ergeb- ›Nietstift‹ (S. 175). nisse und ihrer Darstellung hat die Arbeit über die süd- Für oft schwierige und in Einzelfällen kaum durch- osteuropäische Neolithikumforschung hinaus zweifellos führbare Grenzziehung zwischen Langdolch und Kurz- Maßstäbe gesetzt. schwert entscheidet sich Schwenzer für 30 cm als unge- fähr größte Länge für Dolchklingen (S. 3). Hier wie bei Heidelberg Frank Falkenstein andern Autoren werden für die Frage ›Dolch oder Schwert‹ die Länge und die mögliche Funktion herange- zogen, die Stärke der Klinge bzw. die Dicke der Quer- Stefan Schwenzer, Frühbronzezeitliche Vollgriffdol- schnitte bleiben unbeachtet (G. Gallay, PBF VI 7 S. 3); che. Typologische, chronologische und technische Stu- wohl abhängig von den verfügbaren Vorlagen fehlt bei dien auf der Grundlage einer Materialaufnahme von sonstiger Detailgenauigkeit bei zwei Dritteln der Dolche Hans-Jürgen Hundt. Kataloge vor- und frühgeschicht- der Klingenquerschnitt, im Katalog ist jeweils die Form licher Altertümer Band 36, Verlag des Römisch-- angegeben, aber kein Maß. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 389

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Dolche gelten allgemein als Stichwaffe, Schwerter als auf lokale Werkstattkreise. Die Angaben zur Herstel- Hiebwaffe. Schwenzer erwägt den Einsatz selbst kurzer lung von Dolchklingen sind sehr knapp gefasst (»auf Klingen als Hiebwaffe, »wenn man nur nah genug an einfachste Weise im offenen Herdguss«). Hinweise den Gegner herankommt« (S. 3), oder auch als Messer auf Gussformen finden sich nicht hier, sondern auf S. 5 (S. 11 und 19); hier fehlen praktische Versuche. Als Anm. 10. Wenn »Röntgenbilder belegen, dass Kanne- Funktionsräume nennt er soziale, profane und religiöse luren z. T. erst nach dem Guss der Klinge angebracht Bereiche, letztere auf Grund von Abbildungen auf Ste- wurden«, wäre ein Verweis auf ein entsprechendes Bild len und Felsbildern. angebracht ebenso wie eine Erklärung, auf welche Art Die Forschungsgeschichte listet alle wichtigen Arbei- und Weise dies geschah. Dies gilt auch für die Bemer- ten und Vorarbeiten zu Vollgriffdolchen auf, natürlich kung, dass »die restliche Verzierung nach dem Guss unter Hervorhebung von Uenze. Dessen typologische erfolgte« (S. 172). Bei den Ausführungen »zu Grund- Ordnung dient Schwenzer als zu modifizierende und lagen des Bronzegusses« fehlt ein Hinweis auf K. Gold- zu ergänzende Arbeitsbasis; der Fundbestand hat seit manns Überlegungen zum Guss in verlorener Sandform 1938 ja zugenommen. Er stellt neun Typen heraus, vom (Guss in verlorener Sandform, das Hauptverfahren alt- ›Malchiner Typ‹ bis zum ›Italischen Typ‹ (mit Unter- europäischer Bronzegießer? Arch. Korrbl. 11, 1981, 109– gruppen), hinzukommen Kleingruppen und Einzelfor- 116), wonach Modelle nicht »eventuell aus Holz« (Farb - men (S. 86 ff.). Der ›Sächsische Typ‹ Uenzes erfährt abb. 8), sondern eher aus Blei oder Zinn angefertigt wa - eine Umbenennung in ›Baltisch-Böhmischer Typ‹, der ren (a. a. O. 112 und Anm. 17). Anhand des Dolches von ›Aunjetitzer Typ‹ in ›Baltisch-Pandanischer Typ‹. Ange- Sigriswil mit abgebrochener Griffhälfte stellt Schwenzer schlossen ist ein Exkurs zu ›Atlantischen Vollgriffdol- fest, dass die Verzierung nicht am Heftausschnitt endet chen‹ (S. 94). Hier finden ganz kurz die bretonischen (Nr. 296, auf der Abb. nicht zu sehen). Auch bei intak- Dolche mit ihren reichlich verzierten Griffen aus orga- ten Heften fällt vor allem bei Rhône-Dolchen und sol- nischem Material Erwähnung. Leider verzichtet der chen des ›Alpinen Typs‹, aber auch bei einigen anderen Autor auf eine Überlegung, ob man diese Dolche von auf, dass die Heftverzierung offenbar keinen Bezug zu den Vollgriffdolchen abgrenzen sollte bzw. inwieweit dem dazugehörenden Heftausschnitt hat, sondern weit dies sinnvoll oder möglich ist. Dies zu überlegen ist vor darunter reicht; auch dies ein Hinweis, dass Griff und allem vor dem Hintergrund der Gesamtverbreitung der Klinge nicht immer als Gesamtheit konzipiert wurden. Dolche mit Metallgriff sinnvoll (Abb. 4), die von der Insgesamt aber ergibt sich in den meisten Fällen »eine Ostsee bis zum Mittelmeer vorkommen, deren Verbrei- gute Korrelation zwischen formalem Typ und Gusstech- tungsareale weder in Einklang mit den klassischen Früh- nik« (S. 176); sicher spricht gerade bei Vollgriffdolchen bronzezeitprovinzen noch mit den vertrauten Naturräu- nichts gegen Beziehungen über eine große Distanz hin- men zu bringen sind und bei deren Verbreitung vor weg (S. 175). allem auch die Regionen auffallen, in denen Vollgriff- Aus der SAM-Datenbank stehen 118 Metallanalysen dolche weitgehend fehlen. von Vollgriffdolchen zur Verfügung, neun hat der Autor Die typologische Ordnung des Fundmaterials ist beigetragen, einige weitere stammen aus verschiedenen ausführlich erläutert, mit detaillierter Ansprache und Quellen. Auffallend ist vor allem die Einheitlichkeit der Auflistung aller Einzelmerkmale, mit Listen, Tabellen, Oder-Elbe-Dolche und die Verwendung höher legierter Verbreitungskarten (ohne Fundnummern) und graphi- Bronzen bei den Dolchen des Südens (siehe hierzu scher Darstellung der jeweiligen formalen Beziehungen T. L . K ie nl e in, Frühbronzezeitliche Vollgriffdolche und zu andern Typen. Die Verzierungselemente werden Randleistenbeile: Zur Herstellungstechnik, Zusammen- getrennt nach Griffen (Knauf – Griffsäule – Heftbogen) setzung und Materialwahrnehmung. Arch. Korrbl. 35, und Klingen (Heftausschnitt – Klingenfläche – Mittel- 2005, 175 ff.). Dolche des ›Alpinen Typs‹, die – weit von rippe) behandelt. Dies ist sinnvoll und notwendig, da die ihrem Verbreitungszentrum etwa in Mitteldeutschland Verzierungen von Griff und Klinge nicht unbedingt gefunden – dort als Import gelten müssen, scheinen kohärent sind, als wären sie nicht jeweils aufeinander merkwürdigerweise aus lokalem Material gefertigt zu abgestimmt (S. 13). Auf der Suche nach einer Herkunft sein (S. 197). oder dem Ursprung der Verzierungsarten, einschließlich jener der Schwerter vom ›Typ Boiu-Sauerbrunn‹, stellt Die »Vergesellschaftung und Chronologie« (S. 210 ff.) Schwenzer einen nordöstlichen ›Aunjetitzer Zierstil‹ verlangt eine Zusammenschau frühbronzezeitlicher heraus, in dem er Affinitäten zu Verzierungen der Regionalchronologien quer durch Europa. Der Verfas- Schnurkeramik sieht, und einen südwestlichen Zierstil ser handelt die Fundprovinzen im Einzelnen nacheinan- mit Glockenbecher-Tradition; hinzu kommen Ziermo- der ab und fasst sie, gestützt auch auf 14C-Daten in einer tive verschiedener Herkunft. Übersicht zusammen (Tab. 42), wobei sicher viele Auf Grund von Röntgenaufnahmen können zur Her- Detailfragen vernachlässigt werden (müssen). In das stellungstechnik der Vollgriffdolche einige Aussagen konventionelle, dem derzeitigen Publikationsstandard gemacht werden, die über das äußere Erscheinungsbild entsprechende Gerüst passt Schwenzer die Vollgriffdol- hinausgehen. Schwenzer teilt die Dolche in sieben Guss- che ein, angesichts wenig zahlreicher Fundvergesellschaf- technik-Gruppen ein, zuzüglich Sonderarten (Gruppe tungen ein schwieriges Unterfangen. Einzelne Datie- VIII) und Untergruppen; es finden sich jeweils Hinweise rungsversuche mit Hilfe von Neyruzbeilen u. a. können 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 390

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sicher noch variiert werden, Einzelheiten kommen oft Jahr 1977 und wurden mit Abständen bis 1999 fortge- wohl auf Grund der vielfältigen Kulturprovinzen nicht setzt; Schuhmacher bearbeitet also nicht die gesamten ausreichend zur Sprache. Beispielsweise wird die ›Hork- Keramikfunde der Ausgrabungen, sondern nur einen heimer Nadel‹ nicht formdifferenziert (S. 213 und 221), Teil des Bestandes. Im Vorwort erläutert Schubart die die Frühbronzezeit der Bretagne als chronologisch un- Gründe für diese Beschränkung, wobei deutlich wird, empfindliche Gesamtheit nur kurz abgehandelt, auch wie schwierig es ist, bei einer derartigen Ausgrabungs- auf Grund von 14C-Daten, die Schwenzer zu jung oder unternehmung während und nach den Geländearbeiten zu alt erscheinen (S. 226 f. mit Anm. 521). die Publikation der Befunde und Funde durchzuführen Schließlich datiert Schwenzer die Vollgriffdolche in und nach Möglichkeit auch abzuschließen. einer Kombination von relativer und absoluter Chrono- Es steht aber trotz Einschränkung genügend Fund- logie an den Übergang von der älteren zur entwickelten material zur Verfügung: abzüglich der Streufunde sind es Frühbronzezeit (S. 235) und vermutet das Entstehen 39 524 Keramikfragmente. Nach einer Einleitung zur des Typus Vollgriffdolch im 20. vorchristlichen Jh. in der Station folgen die Forschungsgeschichte, die Erläuterung Westschweiz bzw. Italien, vielleicht auch deshalb, weil es einzelner Grabungsabschnitte und eine Zusammenfas- hier einige chronologisch verwertbare Fundvergesell- sung der absoluten Chronologie von Fuente Álamo schaftungen gibt. sowie der El Argar-Kultur. Sicher findet sich hier man- Die straff gegliederte Monographie lässt zwar viele ches aus anderen Publikationen bereits Bekannte wieder. Fragen offen oder neue entstehen, erlaubt aber eine gute Es sind dies eigentlich Wiederholungen, die aber im Übersicht über die derzeit bekannten Vollgriffdolche. Rahmen einer Dissertation angebracht erscheinen, um Interessante Beiträge sind leider oft nicht in den Text die Arbeit als Ganzes verständlich und kohärent zu integriert, sondern finden sich in den Anmerkungen – machen. beginnend mit Anmerkung 1 und endend mit Anm. Schuhmacher untersucht die fast 40 000 Scherben 571. Die Durchnummerierung der Dolche im knapp nach allen zur Verfügung stehenden Kriterien in der gehaltenen Katalog und ein Fundortverzeichnis erleich- Ausführlichkeit, die einer Vorlage als Dissertation wohl tern die Arbeit mit dem Band. Bei der Fülle der Infor- zukommt. Für die Veröffentlichung hätte man das eine mationen vermisst man etwas ein Sachregister. oder andre vielleicht dennoch etwas straffen oder kürzen können, so z. B. die Beschreibung der Ränder-Vermes- Nidderau Gretel Gallay sungsmethode oder jene der Umbrüche (S. 71ff ), eben- so das wiederholte Abbilden derselben Gefäße bei der Aufgliederung der Verzierungen in Elemente, Typen und Motive (nach Johannes Müller, S. 73 ff.). Eine Beschrei- bung der Tonqualität (Magerung, Oberflächenbehand- Thomas X. Schuhmacher und Hermanfried Schu- lung) findet sich sowohl unter dem Gesamtkapitel »All- bart, Fuente Álamo. Die Siedlungskeramik der Gra- gemeine Kennzeichen der Keramik« (S. 87 f.) als auch im bungen 1985–1991. Untersuchungen zur Chronologie Zusammenhang der »Funktionalen Deutung« (S. 176 f.). und zum Siedlungsschema der El Argar-Kultur. Stra- Das Fundmaterial wird zwei unterschiedlichen Form- tigraphisch geordnete Keramik der El Argar-Zeit aus klassifikationsmethoden unterzogen, und zwar einer so den Grabungen 1977–1982. Iberia Archaeologica Band genannten automatischen Klassifikation mittels Clus- 4. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2003. 378 Seiten teranalyse der an den Gefäßrändern abgenommenen einschließlich 75 Tafeln, 135 Abbildungen, 1 CD-ROM. Maße, sowie einer ›impressionistischen‹ Klassifikation nach dem Formgefühl des Betrachters. Obwohl die Mit der »Siedlungskeramik der Grabungen 1985–1991« impressionistische Klassifikation unwissenschaftlicher und der »Stratigraphisch geordneten Keramik der El und wesentlich subjektiver erscheinen mag als die auto- Argar-Zeit« liegt die dritte Monographie zur südost- matische, ist sie ganz offensichtlich jener überlegen spanischen Bronzezeit-Station Fuente Álamo vor (zur (zusammenfassend S. 236). Insgesamt nennt Schuhma- speziellen Bibliographie siehe. S. 11 Anm. 1–10). Der in cher entsprechend der Typeneinteilung nach Arteaga/ zwei ungleiche Teile aufgegliederte Band hat fast aus- Schubart einen Formenbestand von zehn Gefäßtypen schließlich Keramikfunde zum Inhalt: einmal die ge- mit Variationen (Abb. 45a. b), zusätzlich Gefäßböden samte Siedlungskeramik aus den Kampagnen 1985– und Sonderformen. Der Typ Nr. 8 ist unter seinem 1991 (Thomas X. Schuhmacher, S. 21–247, einschließ- Material nicht vertreten, ansonsten ist das Fundgut lich Abbildungstafeln bis S. 295), zum andern chronologisch aussagefähig. stratigraphisch verwertbare Keramik der El Argar-Zeit Zusätzlich unternimmt Schuhmacher eine Zuord- aus den Grabungen 1977–1982 (Hermanfried Schubart, nung der Gefäßtypen zu Funktionstypen A–I (S. 149 S. 299–366). Verzeichnisse und die ausführliche Biblio- Abb. 82), allerdings in geänderter Reihenfolge (1+ 2 =A, graphie (S. 367–378) gehören gemeinsam zu beiden 3 nicht vertreten, 4 =E, 5 =B, 6 =G, 7 =H, 8 nicht ver- Teilen, ebenso eine beigefügte CD-ROM mit Abkür- treten, 9 =D, 10 =F, Sonstige =I). Eine Eingrenzung zungen, Anhängen, Diagrammen und Katalogen. des jeweiligen Typs auf eine ganz bestimmte Funktion Bei Teil 1 handelt es sich um die Dissertation des Ver- scheint aber nicht möglich, auch nicht mit Hilfe eth- fassers. Die Grabungen auf Fuente Álamo begannen im noarchäologischer Beobachtungen aus Marokko und 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 391

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Mexiko, auch in Hinblick auf Bio- bzw. Thanatozönose Jutta Klug-Treppe, Hallstattzeitliche Höhensiedlun- (S. 175 f., siehe auch S. 191). Dies scheint merkwürdig gen im Breisgau. Landesamt Baden-Württemberg, For- im Rahmen einer Kultur, die fast sechs Jahrhunderte schungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in lang an den gleichen zehn Grundtypen ihrer Gefäße Baden-Württemberg, Band 73. Konrad Theiss Verlag, festhält. Die Kartierung der Funktionstypen innerhalb Stuttgart 2003. 233 Seiten, 99 Tafeln, 77 Abbildungen. der Station zusammen mit der Verteilung anderer Klein- funde und botanischer Reste erlaubt es aber, über die Die in den 1960er und 1970er Jahren durchgeführten Funktion einiger Bereiche der Siedlung zumindest nach- großflächigen und im wahrsten Sinne tief greifenden zudenken (z. B. S. 197). Flurbereinigungen im Kaiserstuhl und im Markgräf- Der Vergleich mit ausgewählten El Argar-zeitlichen lerland zwangen die archäologische Denkmalpflege in Stationen im Südosten der Iberischen Halbinsel macht Freiburg zu umfangreichen Rettungsgrabungen und es möglich, die Keramik von Fuente Álamo in größerem Prospektionen. Dabei wurden unter mächtigen Löss- Zusammenhang einer eher siedlungsgeschichtlichen Sedimenten u. a. hallstattzeitliche Siedlungen entdeckt, Betrachtungsweise zu sehen. Am Beispiel der Getreide- die die Verfasserin 1985 (Hallstattzeitliche Höhensied- verarbeitung (Mahlsteine) kann Schuhmacher eine Art lungen im Breisgau. Denkmalpfl. Baden-Württemberg regionaler Arbeitsteilung wahrscheinlich machen. Ein 14, 188 ff.) und 1995 (Das hallstattzeitliche Siedlungs- großzügig angelegter Tafelanhang mit ausgewählten bild im Breisgau. Arch. Inf. Baden-Württemberg 28, Keramikbeispielen und einigen Photos von Fuente 57 ff.) kurz beschrieben hat. Nun liegt eine umfassende Álamo schließt den ersten Teil der Monographie ab. Bearbeitung vor, wobei das Manuskript bereits 1994 abgeschlossen war, neue Literatur aber bis 1999 berück- Schubarts Untersuchung der stratigraphisch geordneten sichtigt ist. So existiert eine nahezu aktuelle Publikation, Keramik der El Argar-Zeit aus den Grabungen 1977– die sich ohnehin in thematisch engerem Sinne mit 1982 auf Fuente Álamo basiert auf Beobachtungen in wenigen anderen Arbeiten auseinander zu setzen hat den Längs- und Querprofilen des Hauptschnittes und (H. G. H. Härke, Höhensiedlungen im Westhallstatt- dem entsprechenden keramischen Fundgut vor dem kreis. Arch. Korrbl. 13, 1983, 461 ff.; J. Biel, Vorge- Hintergrund der bereits erwähnten Typeneinteilung. Sie schichtliche Höhensiedlungen in Südwürttemberg-Ho- basieren auf der Einteilung von Siret und wurden von henzollern 24 [Stuttgart 1987]; H. Bender /L. Pauli / Arteaga und Schubart ergänzt und differenziert (Abb. 1 I. Stork, Der Münsterberg in Breisach II. Veröff. u. 2, Schuhmacher Abb. 45a. b). Die Funde sind nach Komm. Arch. Erforsch. Spätröm. Raetien, Bayer. Akad. Typ und Schichten geordnet auf den Tafeln 46–75 Wiss. [München 1993]). Von diesen ist die überregional abgebildet. Zum besseren Verständnis des Kontextes ist konzipierte Arbeit von Härke kaum, die generelle Arbeit die interne Chronologie der Station nochmals als Tabelle von Biel eher, der Breisacher Münsterberg wegen länge- abgebildet (Abb. 3, Schuhmacher Abb. 8). rer Laufdauer nur bedingt verwend- bzw. vergleichbar. Schubart bespricht Typ für Typ die jeweilige stratigra- Klug-Treppe legt die Befunde und Funde und ihre phische Situation, einschließlich der Tatsache, wie viele Auswertung im Textteil in einer gut formulierten, knap- Scherben gefunden wurden oder ob sie ganz fehlen. So pen Diktion vor. Sie verfährt quellenkritisch und ver- kann er Entwicklungslinien beobachten und zwar als all- siert, wobei vor allem in den auswertenden Passagen gemeine Tendenz, die durch die Schichten und somit manche Wiederholung in Kauf genommen wird. Kata- auch die Zeitphasen oder -abschnitte hindurch spürbar log- und Tafelteil mit vorzüglichen Abbildungen sind ist; eine Einteilung in streng getrennte Phasen wird die- aufeinander abgestimmt und folgen wie im beschreiben- sem Prozess nicht unbedingt gerecht, da es sich um flie- den Teil (ab S. 25 ff.) der alphabetischen Fundortfolge. ßende Vorgänge, nicht um Zäsuren handelt (S. 327). Hier fehlen bei den Abb. 18–20, 27, 29, 32–35, 41 und Die jeweils neuesten Gefäßvarianten finden dann auch 44–45 in den Übersichts- und Detailplänen genaue sofort Eingang in die Grabbräuche. Bei der Keramik- Lageangaben. Uneinheitlich sind auch die Tafelunter- entwicklung zeigen auch einfachere Formen eine relativ schriften, denn bei den Taf. 1–15, 58–89 und 94 wird geringe Neigung zur Veränderung, die gesamte Keramik nur die Befundbezeichnung, bei den Taf. 16–57 und durchläuft aber eine generelle Stilentwicklung (S. 328 90–93 werden die im Fundkatalog S.192 ff. angegebe- und Abb. 8): Die Formen werden höher und schlanker. nen Befundkategorien vermerkt. Auch die Beobachtung dieser »Stilentfaltung« (S. 328) In der üblichen Reihenfolge wird zunächst eine geo - ermöglicht einen Zugang zur El Argar-Kultur und ist grafische und naturräumliche Gliederung des Arbeits- eine nicht zu unterschätzende Hilfe bei dem Versuch, gebiets ›Breisgau‹ vorgenommen, wird die nach wie vor die Bronzezeit im Südosten der Iberischen Halbinsel zu ungleich gewichtige Kenntnis hallstattzeitlicher Höhen - definieren und gegenüber anderen Bronzezeitgruppen siedlungen dargestellt. Trotz der durch die Flurbereini- abzugrenzen. Schubarts relativ knapp gehaltene Studie gungen vorgegebenen Geländeausschnitte und dem Feh- erlaubt so auch eine direkte Annäherung an die Kera- len von zusammenhängenden Siedlungsarealen ist nun miktradition der El Argar-Kultur. ein erheblicher Erkenntniszuwachs möglich, der u. a. die bislang fast ausschließlich durch die Grabfunde be- Nidderau Gretel Gallay stimmte Typen- und Chronologiediskussion erweitert. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 392

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Nach einer klaren Begriffsdefinition der Höhensied- mer-Dehn (Die Urnenfelderkultur im südöstlichen lungen, die im Breisgau mit Ausnahme des Münsterber- Oberrheingraben. Materialh. Vor- u. Frühgesch. Ba- ges ab der späten Urnenfelderzeit keine Platzkontinuität den-Württemberg 15 [Stuttgart 1991]) mit Stufe III aufweisen, werden die im Umfeld gelegenen »Offensied- (Ha B oder Ha B/C) aufgegebenen urnenfelderzeitlichen lungen« des flachen Geländes wie die bekannten Gräber- Höhen siedlungen teils ganz oder vorübergehend aufge- felder einbezogen (S. 25 ff.). Hierbei ist es wenig benut- lassen (Endingen, Jechtingen, Mauchen) werden, teils zerfreundlich, dass die Fundstellen Abb. 4 und 5 keine weiterlaufen (Ihringen, Schlatt) oder erst mit Ha C identische Nummerierung aufweisen und bei den Abb. (Hochdorf ) einsetzen, hier aber auch bis Ha D2 laufen 6, 11 und 13 keine Signaturerklärungen existieren. In (hierzu auch S. 186!). Richtig ist, diese relativchronolo- aller Ausführlichkeit folgt eine Beschreibung der Gru- gische Abfolge an den durch Grabkeramik belegbaren ben und Gräben und deren Funktionen, was hier hilf- Verzierungselementen (Bemalung, Stempelung) festzu- reich ist, aber auch schon öfter in anderem Zusammen- ma chen (S. 162 f. mit Abb. 76). Damit ist auch eine hang dargestellt worden ist. Im Hinblick auf die vorlie- Parallelität zu Umlandsiedlungen und Grabfunden ge- genden Höhensiedlungen ist relevant, dass die Masse des währleistet (S.164 ff.). Fundmaterials aus den Grabenverfüllungen stammt, was Das folgende Kapitel zu siedlungsarchäologischen aufgrund ihrer Deponierung chronologische Fixpunkte Aspekten wiederholt bereits Gesagtes S. 170 ff. und ist relativiert (S. 45) und die genaue Befundbeschreibung ebenso entbehrlich wie die Aussagen zum hallstattzeit- auf 28 Seiten erklärt (S. 47 ff.). lichen Siedlungsbild S. 183 ff. Fragen zu Siedlungsgröße Ebenso akribisch geht die Verfasserin bei der Klassi- und Hausbau lassen sich mit Hilfe der Befunde ohnehin fizierung der Gefäßformen vor, obwohl zu ihrer Gliede- kaum klären, wohingegen einige wirtschaftliche Aspekte rung hauptsächlich nur Randstücke überliefert sind. Da S. 175 ff. beizusteuern sind. es sich um die erstmalige Vorlage von Siedlungsmaterial Als Fazit ist zu konstatieren, dass im Breisgau und im in größerem Umfang und ohne Auswahlkriterien im Markgräflerland in der Hallstattzeit ein Nebeneinander Breisgau handelt, ist dieses Vorgehen legitim, und es ist von Höhen- und Talsiedlungen mit zugehörigen Grä- ebenso gerechtfertigt, wenn die Keramikgefäße nur berfeldern bestand. Es herrschte eine regionalspezifische »aus sich heraus gegliedert« werden (S. 80). Außer Sas- Prägung vor, und es existierten, was nahe liegend ist, zu bach und Munzingen mit zu geringer Fundbasis eignet Nachbargebieten wie Hegau und Elsass kulturelle Ver- sich das Gefäßmaterial von Endingen, Hochdorf, Ihrin- bindungen. Dass die Höhensiedlungen der Region zu- gen, Mauchen und Schlatt durchaus hierzu, und es ist dem aber keineswegs einheitlich sind, hat die Arbeit von schon kurios, dass zur eigentlichen Gefäßansprache das Klug-Treppe deutlich herausgestellt, was vor generellen niederrheinische Schema von A. Simons beigezogen wird Aussagen warnt. (Bronze- und eisenzeitliche Besiedlung in den Rhei - nischen Lößbörden. BAR Internat. Ser. 467 [Oxford Bonn Hans-Eckart Joachim 1989]). Erst mit Vorliegen weiterer umfangreicher Sied- lungskeramik wird sich erweisen, ob die sehr detail- lierte Klassifizierung der Kegelhals-, Trichterrand- und Schrägrandgefäße, der Becher, Schalen und Miniaturge- fäße S. 84 ff. Bestand haben wird. Das Gleiche gilt für Manuela Wagner, Tierdarstellungen der prähistori- die Verzierungen und Applikationen (S. 110 ff.), die sich schen Metallzeiten in Bayern. BAR International Se- für Vergleichsstudien vorzüglich eignen. Alle sonstigen ries, Band 846. Archaeopress, Oxford 2000. 124, [74] Funde wie Spinnwirtel, Tonspulen und -scheiben, die Seiten, Abbildungen und graphische Illustrationen. Gegenstände aus Metall, Knochen und Stein sind sehr sachkundig beschrieben, aber zu vernachlässigen. Bei dem anzuzeigenden Buch über Tierdarstellungen Zwangsläufig münden die vorhergehenden Beschrei- handelt es sich um eine bemerkenswerte Magisterarbeit bungen in Fragen der chronologischen Einordnung der der Münchner Universität. Eingegangen wird auf die Funde wie der Höhensiedlungen überhaupt. Unter der vorrömischen Metallzeiten, wobei nur vereinzelt ein- Prämisse, dass sich anhand des Siedlungsmaterials eine schlägige Motive in die Bronzezeit zurückverfolgbar an den Grabfunden ablesbare Abgrenzung zwischen sind; d. h. es geht um die Urnenfelderperiode, um die Ha C und Ha D nicht deutlich nachvollziehen lässt und Hallstatt- und um die Latènezeit. Das begrenzte Reper- sich hierfür noch eher die Keramik aus den Gruben toire der Tiersymbole der Urnenfelder- und Hallstattzeit (z. B. die Kegelhalsgefäße) als aus den Gräben eignet, wurde bereits wiederholt behandelt. Ebenso sind aus den untersucht Klug-Treppe die jeweiligen Grubeninhalte entsprechenden Zeiträumen die Szenen, die in Tonge- S. 152 ff. sehr ausführlich. In sich teils wiederholenden fäße geritzt sind, durch Publikationen gut überschaubar, und ergänzenden Erörterungen S. 160 ff. kommt sie zu gleichfalls Tonstatuetten und -appliken und schließlich dem richtigen Ergebnis, dass die Höhensiedlungsfunde die Stempel von Gürtelblechen. Dagegen sind die vari- von einer Spätphase in Ha B bis zu einer Frühphase in ierenden Darstellungen der Latèneperiode weit weniger Ha D existieren. Ausgenommen ist der Breisacher Mün- bekannt. Wie es sich bei einer in der Vorbereitungszeit sterberg, der über HaD3 hinaus bewohnt ist (S. 164). beschränkten Magisterarbeit ergibt, konnte in dem sorg- Dabei ist nicht genau definiert, wie die nach B. Grim- fältigen Katalog nur das Fundgut aus Bayern systema- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 393

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tisch erfasst werden, also aus einem nur teilweise natür- cher Position und wohl entsprechender Sinngebung, auf lich begrenzten Raum. Doch bietet die Autorin zahlrei- der einen ein Pferd, auf der zweiten ein Pferd mit Men- che und z. T. auch notwendige Hinweise, die über das schenkopf und auf der dritten ein Fabeltier, das wohl als Gebiet hinausführen. Sicherlich stellt der große Freistaat geflügeltes Pferd anzusprechen ist. Weitere Motive der vor anderen modernen Ländern für die Arbeit eine Kannen verdeutlichen eine ähnliche Austauschbarkeit glückliche Wahl dar. Wird doch dadurch die Kulturent- real wirkender und phantastischer Wesen, die demnach wicklung nördlich der Donau in ihren lokalen Varianten alle der religiösen Vorstellungswelt angehören dürften. mit derjenigen südlich des Flusses, die wieder in vielem Damit sind wir bereits zur Frage der Auswertung anders ist, zusammen vorgestellt, so dass sich für die übergegangen, die trotz der Belesenheit der Autorin und Auswertung eine abwechslungsreiche Grundlage ergibt. Zusammenfassung vieler weiterführender Gedanken Die (gewählte?) Themenstellung will nicht so sehr die knapp gehalten ist. Für die Urnenfelder- und Hallstatt- Tierbilder selbst analysieren. Vielmehr geht sie immer zeit wird besonders auf G. Kossacks Studien zum Sym- wieder von Fragen aus, wie weit sich in den Darstellun- bolgut Bezug genommen. Darüber hinaus werden die gen die Tiere aus der realen Umwelt des Menschen spie- Ritzungen und Stempel auf Tongefäßen und ebenso geln, seien es Wild- oder Haustiere, besondere Jagd- zugehörige Tonplastiken besonders untersucht und, wie beuten oder solche, die als Grabbeigabe, als besonderes es vor allem A. Reichenberger vorzeichnet, an das rei- Opfer oder sonst im Kult Verwendung fanden. Konse- chere figürliche Repertoire weiter im Osten angeschlos- quenterweise werden deshalb in dem nach den einzelnen sen. Zeitlich überschneiden sich damit kaum die be - Spezies gegliederten Katalog die Tiere zunächst in ihren kannten Bilder von Gürtelblechen/Blechgürteln. Jedoch: natürlichen Lebensbereichen vorgestellt. Darauf werden »In der Latènezeit erleben wir offenbar unter ganz unter- nicht nur die Darstellungen selbst vorgeführt und ver- schiedlichen sozialen Bedingungen eine schlagartige Er - glichen, sondern es wird gleichfalls – das Thema er- weiterung des Spektrums« der Tierdarstellungen (S. 49). wei ternd und anders gewichtend – auf den Tier kno- Bei einigen ganzen Figuren der Oppida-Zeit denkt dabei chen bestand aus Siedlungen, auf Zeugnisse von Opfer- die Autorin, in Anlehnung an Gedanken von W. Krä- handlungen und dergleichen eingegangen. Bei dieser mer, der mehrere Möglichkeiten beschreibt, an kleine Vorgehensweise treten Kontinuitäten in der Tierhaltung Kultfiguren verschiedener Sinngebung. Es wäre hier also und überhaupt in der Nutzung von Tieren durch die weniger eine Spiegelung realer Tiere im Umkreis des Menschen, ebenso in den zugehörigen Symbolen stärker Menschen, sondern eher eine seiner religiösen Vorstel- hervor als der zu erklärende Wandel im Bildrepertoire. lungen anzunehmen. Dabei verändert sich – im Buch Letzterer wird jedoch in dem auswertenden Teil auch nur wenig bemerkt – im Laufe der ganzen Latèneperiode bemerkt. die Auswahl der wiedergegebenen Tiere. Das ergäbe An - Behandelt werden Darstellungen von ganzen Tieren sätze, um an der Wandlung der Tierbilder allgemeinen oder auch Tierprotomen. Bei letzteren gibt es kaum Wandlungen im religiösen Denken der Menschen nach- noch kenntliche, zu Symbolen erstarrte Wiedergaben. zuspüren. Doch überstiege diese Aufgabe sicherlich den Das trifft beispielsweise auf manche ›Hallstattvögel‹ zu, Rahmen, den sich die Schrift gesetzt hat. ebenso auf Frühlatènefibeln, deren Füße in an ›Vogel- Insgesamt wird man die Tierdarstellungen aus Bayern köpfe‹ erinnernde Bildungen auslaufen. Auch wären mit vielen darüber hinaus reichenden Verweisen dank- Vogel köpfe an Schwertortbändern zu nennen, die nur bar zur Kenntnis nehmen. Wir haben mit der Publika- selten, wie bei der verzierten Schwertscheide aus dem tion ein gut aufgearbeitetes Material zur Verfügung. einen ›Fürstengrab‹ von Weiskirchen in der Pfalz, deut- Auch durch einige einschränkende Bemerkungen wird lich als Wasservögel charakterisiert sind. Dagegen wer- der besondere Wert der Untersuchung keineswegs beein- den Mischwesen generell ausgeklammert. Beiläufig trächtigt. werden z. B. nur die Kreuzungen von Vogel, Pferd und Stier aus der Hallstattzeit erwähnt, ebenso die jüngeren Marburg/Lahn Otto-Herman Frey Mischwesen, die wir vor allem in großer Zahl aus dem Frühlatènezusammenhang kennen, geflügelt oder mit menschlichem Kopf oder aus weiteren, oft ineinander übergehenden, unterschiedlichen Geschöpfen kombi- niert. Richtig sieht die Autorin, dass deren eingehendere Kurt Tomaschitz, Die Wanderungen der Kelten in Besprechung ihre Arbeit gesprengt hätte, wobei sie eben- der antiken literarischen Überlieferung. Mitteilungen falls betont, dass sie sich mit dahingehenden Überlegun - der Prähistorischen Kommission der Österreichischen gen keinesfalls in Spekulationen verlieren wolle. Gerade Akademie der Wissenschaften, Band 47. Verlag der diese latènezeitlichen Mischwesen hätten aber mehr über Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien den Sinn auch von vielen einfachen Tierdarstellungen 2002. 254 Seiten. ausgesagt. Finden wir doch – um hier wieder ein aller- dings räumlich entferntes Beispiel zu benutzen – auf den Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich nach Aus- drei einander sehr ähnlichen, ganz erhaltenen und reich kunft des Verfassers (Vorwort, S. 9) um die grundlegend verzierten Röhrenkannen von Waldalgesheim, von Rein- überarbeitete, aktualisierte und wesentlich erweiterte heim und vom Glauberg als Deckelfiguren, also in glei- Fassung seiner von Gerhard Dobesch betreuten althisto - 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 394

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rischen Dissertation aus dem Jahr 1994. Ihr Ziel besteht der archäologischen Forschung sowie eine interdis zi- seinen Worten zufolge darin, »jene literarischen Zeug- plinäre Gesamtdarstellung der Geschichte keltischspra- nisse, in denen keltische Wanderungen expressis verbis chiger Völker in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtau- oder implizit thematisiert werden, gesammelt in ihrem sends v.Chr. bleiben Aufgaben für die Zukunft. Wortlaut vorzuführen, um so den gesamten Bestand der literarischen Überlieferung zu diesem Thema in seinem Aberdeen Bernhard Maier Umfang deutlich zu machen und die einzelnen Teile zueinander in Beziehung zu setzen« (Einleitung, S. 11). ›Wanderungen‹ versteht der Verfasser dabei als kollektive Migrationsbewegungen, weshalb individuelle Ortsver- änderungen etwa im Zusammenhang mit dem Söldner- Jan Klápste (Hrsg.), The rural house from the migra- wesen (wie man sie etwa anhand der keltischen Perso- tion period to the oldest still standing buildings. nennamen auf Inschriften im mediterranen Raum zwar Ruralia IV. 8.–13. September 2001, Bad Bederkesa. nicht beweisen, aber doch vermuten kann) außer Be- Památky Archeologické, Supplementum 15. Institute tracht bleiben. Der behandelte Zeitraum erstreckt sich of Archaeology, Academy of Sciences of the Czech vom Einsetzen der schriftlichen Nachrichten im 6. Jh. Republic 2002. 362 Seiten, zahlreiche Abbildungen. v.Chr. bis zur Integration der festlandkeltischen Völker ins Römische Reich im 1. Jh. v.Chr. In seiner Bestim- Seit einigen Jahren finden in zweijährigem Turnus die mung dessen, was keltisch sei, folgt der Verfasser im We- sog. Ruralia – Konferenzen zur ländlichen Mittelalterar- sentlichen dem antiken Sprachgebrauch, modifiziert ihn chäologie statt, die von einem internationalen Zusam- aber unter Rückgriff auf den modernen sprachwissen- menschluss von Fachkollegen organisiert werden. Die schaftlichen Keltenbegriff. Dementsprechend sind »die Tagung des Jahres 2001 – die bereits im Folgejahr als Wanderungen der von ihren Zeitgenossen als Kelten an- Supplementum der Památky Archeologické publiziert gesprochenen, nach heutigem Kenntnisstand aber ger- werden konnte – stand unter dem diachron angelegten manischen Stämme der Bastarner, Skiren, Kimbern, Thema »Das ländliche Haus von der Völkerwanderungs - Teutonen und Ambronen nicht in die Untersuchung ein- zeit bis zu den ältesten, noch stehenden Gebäuden«. Die bezogen worden« (Einleitung, S. 12). langfristige Perspektive der vergleichenden Betrachtung Da ein Großteil des archäologischen und linguisti- ergab sich aus der Überzeugung, dass – so W.H. Zim- schen Materials außerhalb des Gesichtskreises der vorlie- mer mann in seinem Vorwort – »besonders für die genden Studie liegt, wurde eine synthetische Darstellung Archäologie gilt, dass erst das Studium von der Ent- der Wanderungen keltischsprachiger Völker gar nicht wicklung über einen längeren Zeitraum hinweg Grund- erst angestrebt. Im Mittelpunkt des Werkes stehen fol- sätzliches verstehen hilft« (S. 1). Interessant und diszip- gerichtig die (zweisprachige) Präsentation, quellenkri- linenübergreifend war dabei der Ansatz, die nach wie vor tische Erörterung und historische Kommentierung der schwierig zu füllende Lücke zwischen den jüngsten nur griechischen und lateinischen Texte. Sie erfolgt im we- archäologisch erschließbaren Baubefunden und den sentlichen nach historischen und geographischen Ge- ältesten noch stehenden Gebäuden zu thematisieren. sichtspunkten, indem – nach zwei recht kurzen Kapiteln Die insgesamt 38 Beiträge des ansprechend gestalte- über die Kelten in den Quellen des 6.–4. Jhs. v.Chr. und ten und dreisprachig (deutsch, englisch, französisch) an- bei Avienus und Ammianus Marcellinus – die sehr viel gelegten Bandes liefern dabei eine Fülle von Material, ausführlicheren Kapitel 3–7 der Reihe nach die Wande- das neben dem erwähnten zeitlichen Rahmen auch rungen nach und in Spanien, in Italien, auf dem Balkan, einen breiten geographischen Raum von Ungarn bis in Kleinasien und im Barbaricum behandeln. Die An- Skandinavien und von den Britischen Inseln bis Spanien ordnung der Texte innerhalb der einzelnen Kapitel folgt umfasst, wobei der deutliche Schwerpunkt in Mittel- pragmatischen Gesichtspunkten, indem – nach einer europa liegt. Die Reihenfolge der Beiträge erscheint al- Einführung mit Angaben zu Leben und Werk des be- lerdings etwas beliebig, folgt jedoch in etwa regionalen treffenden Autors – die inhaltlich ergiebigsten Zeugnisse Aspekten. Der Einstieg in den Band hätte sicherlich er- jeweils als erste besprochen werden. Eine abschließende leichtert werden können, wenn hier eine deutlichere the- Zusammenfassung (S. 208–213) betont die Lücken- matische Gliederung vorgenommen worden wäre. haftigkeit und den sekundären Charakter der Überliefe- Es ist im Folgenden nicht möglich, auf alle diese Bei- rung, unterstreicht aber auch die Notwendigkeit einer träge angemessen einzugehen, so dass einige Aspekte differenzierten Beurteilung jedes einzelnen Autors, die herausgegriffen werden sollen. Langfristige Entwick- »Topos und Realität nicht als unversöhnliche Gegen- lungen werden von verschiedenen Autoren aufgezeigt, sätze« versteht. wobei die durchgängig eingehaltene Kürze der Aufsätze Die Studie bietet einen nützlichen und gut lesbaren von in der Regel fünf bis zehn Seiten es nur gestattet, die Überblick über den Umfang, die quellenkritische Pro- wichtigsten Aspekte zu skizzieren. W. H. Zimmermann blematik und den vergleichsweise geringen historischen (S. 164–168) beschreibt die Hausentwicklung im Raum Quellenwert der darin behandelten Quellen. Eine Zu- südlich und östlich der Nordsee seit dem Neolithikum: sammenschau ihrer Einsichten mit den Erkenntnissen Die ab der Bronzezeit für lange Zeit gängigen dreischif- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 395

Vorgeschichte 395

figen Gebäude werden zunächst von einer einschiffigen Übergangs zur heutigen Dorfform im 13./14. Jh. besser Konstruktion abgelöst, die dann ab dem 9. Jh. durch die greifen zu können. Dabei betont K. Bedal (S. 240– Anfügung von schmalen Seitenschiffen zögernd wieder 256), dass es eine enge Beziehung zwischen der frühen zu einer dreischiffigen Bauweise führt. In Südskandina- dörflich-ländlichen und städtischen Bauweise gegeben vien hingegen (H. Skov, S. 30–33) erlebt die dreischif- hat. Bemerkenswert und nachdenkenswert ist seine fige Konstruktion keine ernsthafte Renaissance – hier Feststellung, dass ein Nebeneinander unterschiedlicher überwiegen ab dem 10. Jh. eindeutig ein- und zweischif- Formen in den frühen erhaltenen Gebäuden die Regel fige Gebäude. ist – eine Standardisierung der Formen ist ein Produkt Kontinuitätsfragen stehen im Mittelpunkt einiger jüngerer Zeiten. Beiträge. Anhand von Getreidespeichern auf Stützen Mit den Gründen für den einschneidenden Wandel führt M. Schmaedecke (S. 134–142) Beispiele vom beschäftigt sich u. a. St. Wrathmell (S. 175–186), der Neolithikum bis in die Neuzeit an, die eine kontinuier- die Veränderungen in der englischen Bautradition von liche Errichtung dieser speziellen Speicherform nahe nicht dauerhaften Ständerbauten hin zu dauerhaften legen. Hier ist die Reihe der Überlieferungsmöglichkei- und Bauholz sparenden Gebäuden mit Steinsockeln ab ten vollständig: von archäologischen Mineralbodenbe- dem 12. Jh. mit dem Aufkommen des Lehnswesens und funden – bei denen streng genommen die Ansprache als dem Interesse der Gutsleute an dauerhaften und preis- ›gestelzter Speicher‹ eine Interpretation ist – über prähis- werten Gebäuden in Verbindung bringt. torische Feuchtbodenbefunde, bildliche Darstellungen Die Frage nach den Gründen für die dargestellten seit der römischen Kaiserzeit bis hin zu noch stehenden Entwicklungen greift auch H. Steuer (S. 357–360) in Beispielen. Um Kontinuität geht es auch etwa in dem seinem lesenswerten Schlusswort auf. »Warum wandelt Beitrag zu den Grubenhäusern des Karpathenbeckens, sich bei gleich bleibender Landschaft und gleich bleiben- deren Verwendung vom 2. bis zum 13. Jh. von M.Takács dem Klima – damit werden zwei Argumentationsberei- (S. 272–290) vorgeführt wird. Interessant erscheinen che ausgeschlossen – trotzdem die Bauweise der ländli- dabei zwei Aspekte: Zum einen erlauben formale Krite- chen Häuser?« (S. 357). Und warum halten sich manche rien innerhalb dieses langen Zeitraumes keine eindeu- Haustypen in manchen Landschaften verblüffend lange, tige chronologische Ansprache, und zum anderen kann während andernorts ein relativ rascher Wandel zu ver- – und dies ist gerade für das Frühmittelalter des Kar- zeichnen ist? Wann erfolgt die Veränderung vom ge- pathenbeckens eine bemerkenswerte Feststellung – die meinsamen Bau in jeweiliger Nachbarschaftshilfe zum Benutzung von Grubenhaustypen nicht mit einer ein- Einsatz von Zimmerleuten? Er beschreibt eine tradi tio- zelnen ethnischen Gruppe erklärt werden. nelle Bauausführung mit den Kategorien des Habitus- Das Spektrum der Beiträge zu konkreten archäolo- Konzepts nach Bourdieu und betont, dass es gerade an gischen Siedlungsuntersuchungen im ländlichen Raum den Bruchstellen, den Phasen der Veränderung, gilt, reicht von flächendeckenden Prospektionen mit geziel- nach den Gründen zu suchen. ten Grabungen wie im ungarischen Decs-Ete (Zs. Mik- Auch auf ein akademisches Problem weist Steuer hin, lós/M. Vizi, S. 291–307) über größere Wüstungsgra- das nicht unerheblich die Hausforschung beeinflusst. bungen wie in der österreichischen Wüstung Hard Der tief greifende Wandel der traditionellen Volks- (S. Felgenhauer-Schmiedt, S. 257–263) bis zu dem Son- kunde – über lange Zeit die akademische Heimat der derfall des sächsischen Dorfes Breunsdorf, das vor seiner Hausforschung – hin zur Europäischen Ethnologie oder Vernichtung durch den Braunkohleabbau sowohl von Empirischen Kulturforschung mit gewandelten Interes- Seiten der Bauforschung, als auch – nach dem Abriss – sensfeldern hat die wissenschaftliche Weiterentwicklung durch die Archäologie vollständig untersucht wurde. der Bauforschung im Rahmen der universitären Lehre Hier konnten anhand der flächigen Dokumentation und Forschung durchaus behindert, so dass heute neue klare Kriterien für die Unterscheidung von Grubenbau- Bezugsfelder gesucht und organisiert werden müssen. ten und Kellern entwickelt werden, die zwar die gleiche Der vorliegende Band liefert eine Fülle an Beispielen Lage, aber eine deutlich unterschiedliche Tiefe und Kon- zum Hausbau seit der Völkerwanderungszeit, und es struktion aufweisen. würde den Rahmen auch einer wesentlich ausführliche- Die einschneidende Veränderung der Bauweise – die ren Besprechung sprengen, auf all diese wichtigen Bei- gleichzeitig auch in der Regel die Grenze zwischen rein träge gleichermaßen einzugehen. Der Forschungsstand archäologisch erschlossenen Gebäudeformen und den ist mittlerweile vielerorts beachtlich, auch wenn interes- frühesten noch erhaltenen Gebäuden darstellt – ist die santerweise die älteren Befunde in der Zahl überwie- Umstellung auf Schwellbauten mit Steinsockeln. Inte- gen. Jeder an der Hausforschung Interessierte wird das ressant sind die von R. Schreg (S. 111–122) für Süd- Buch mit großem Gewinn nutzen können. Die ab- westdeutschland vorgelegten Statistiken, die zeigen, dass schließenden Bemerkungen Steuers verdeutlichen da- die ältesten noch vorhandenen Baubestände in Städten bei, dass in Zukunft die Fragen nach den Gründen für in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. einsetzen, während aus die vielfältigen Entwicklungen noch stärker in den Vor- Dörfern erst nach 1400 erste Belege vorhanden sind. dergrund rücken werden. Diese Lücke muss eine wesentlich stärker durchgeführte Dorfkernarchäologie schließen, um den Prozess des Wünsdorf Michael Meyer 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 396

396 Besprechungen

ALTE GESCHICHTE UND EPIGRAPHIK

Lukas Thommen, Sparta. Verfassungs- und Sozialge- auf den neuesten Stand gebrachte Bibliographie ermög- schichte einer griechischen Polis. Metzler, Stuttgart/ licht die Vertiefung des Themas. Sowohl in der Ge- Weimar 2003. 244 Seiten, 10 Abbildungen, 2 Karten. samtkonzeption wie in den Einzelanalysen, von denen besonders diejenige der Großen Rhetra überzeugt, er- Auf den Schlachtfeldern gewann Sparta den Kampf mit füllt das Buch alles, was von einer Einführung verlangt Athen, in den Geschichtsbüchern verlor es ihn. Die werden kann. Geschichte des antiken Hellas ist heute nahezu iden- tisch mit derjenigen Athens. Das ›dritte Griechenland‹ Bonn Wolfgang Will und Sparta spielen nur eine untergeordnete Rolle. Trotz Xenophon gibt es nur wenige literarische Quellen, die über die spartanische Gesellschaft unterrichten, die epi- gra phischen und archäologischen sind noch rarer. »An- genommen, die Stadt der Spartaner verödete, übrig blie- Karl Christ, Hannibal. Reihe: Gestalten der Antike. ben aber die Heiligtümer und von den anderen Bauten Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003. die Grundmauern, so würde, glaube ich, nach Verlauf 252 Seiten, 34 Abbildungen. langer Zeit den späteren Menschen starker Zweifel an ihrer tatsächlichen Macht im Verhältnis zu ihrem Ruhm Ziel der wissenschaftlichen Reihe, in die sich die Bio- kommen«, schrieb Thukydides (1,10,2) bereits zu einem graphie Hannibals von Karl Christ einordnet, ist es, Zeitpunkt, als Sparta noch im Zenit seiner Geschichte nach den Worten ihres Herausgebers Manfred Clauss, stand. »spannend, klar und informativ ein allgemein verständ- Die Zahl der in den letzten Jahren in Deutschland liches Bild der jeweiligen ›Titelfigur‹ zu geben« (S. 7). publizierten Bücher über Sparta (Manfred Clauss, Ste- Diesen Anspruch erfüllt die vorliegende Biographie mit fan Link, Ernst Baltrusch, Karl-Wilhelm Welwei) res- Sicherheit in durchaus befriedigender Weise. pektive Sparta und Athen (Martin Dreher, Charlotte Das erste Kapitel (S. 13–44) befasst sich mit den Schubert, Raimund Schulz) suggeriert ein neu erwach- allgemeinen Voraussetzungen der behandelten Epoche tes Interesse am lakedaimonischen Staat. Mit Ausnahme und umreißt den Handlungsrahmen der Vita des gro- der Monographie von Welwei handelt es sich aber in ßen Feldherrn. Der Verfasser schildert hier knapp, aber jedem Fall um sogenannte Studienbücher. Es scheint: kenntnisreich und informativ die Geschichte Karthagos Sparta ist vornehmlich als Prüfungsgegenstand von Inte- und seiner phönizischen Traditionen, seine Beziehungen resse. Auch das vorliegende Buch von Lukas Thommen zu Rom in den Jahrhunderten vor dem Jahr 264 v.Chr., gehört in die Sparte der Einführungen. Der Verfasser ist den generellen Verlauf des Ersten Punischen Krieges durch seine Habilitation über die Entstehung der spar- und schließlich dessen Folgen. tanischen Verfassung als Kenner ausgewiesen. Tatsäch- Im zweiten Kapitel (S. 45–62) skizziert der Autor die lich hält das Buch auch mehr, als der Untertitel ver- Jugendzeit Hannibals und die Tätigkeiten der Barkiden spricht. Thommen beschränkt sich keineswegs auf Ver- in Iberien, wobei er die karthagische Machtausweitung fassungs- und Sozialgeschichtliches, sondern bietet eine auf der Halbinsel durch Hamilkar, Hasdrubal und den umfassende Politik- und Militärgeschichte inklusive der jungen Hannibal nicht nur auf ihren politischen Hinter- Kurzbiographien der bedeutendsten Spartaner. Der grund hin analysiert, sondern durch die Einbeziehung dabei gewählte chronologische Auf bau ist problema- numismatischer Zeugnisse auch ausführlich die wirt- tisch, doch letztlich mehr als eine Notlösung. Er zwingt schaftlichen Aspekte dieser Ausdehnung untersucht. zwar zu Vorgriffen und Rückblenden, macht aber in Zudem liefert er eine Diskussion der umstrittenen Frage einem geglückten Wechsel von historischen und syste- nach den Gründen des Zweiten Punischen Krieges; matischen Teilen politische und soziale Entwicklungen diese fällt m. E. aber leider etwas spärlich aus: Wenn der deutlich, die ansonsten meist ausgeblendet werden. So Verfasser auch die besondere Sensibilität der modernen gelingt es dem Verfasser auch, sich seinem Ziel zumin- Geschichtsforschung für Kriegsschuldfragen anspricht dest zu nähern: die Vorstellung von Sparta als einem und erklärt, dass »sich die Geschichtswissenschaft selten monolithischen Gebilde aufzubrechen und die Verän- so intensiv und so lange mit einem Fragekomplex befasst derungen zu verdeutlichen, die der Staat im Laufe seiner [hat] wie mit jenem der Vorgeschichte und des Aus- Geschichte durchlief. Die weitverzweigte Gliederung, bruchs des 2. Punischen Krieges« (S. 51), liefert er doch beginnend bei der Landnahme und den Messenischen in der Folge – sieht man von der Schilderung des Vorfalls Kriegen über die Perserkriege, die Pentekontaetie, den um Sagunt etc. ab – nur eine eher gedrängte Liste ver- Peloponnesischen Krieg, die Jahrzehnte der Hegemonie schiedenster Kriegsmotive, ohne auf die eigentliche Dis- bis in die hellenistische und römische Zeit, unterbrochen kussion ihrer Validität einzugehen. durch Kapitel über Verfassung, Gesellschaft und Armee, Weiterhin berichtet Christ sehr ausführlich von den erscheint zunächst unharmonisch, erleichtert aber durch Kriegsvorbereitungen Hannibals, den verschiedenen die weitere Verästelung in viele Unterkapitel jedem Be- strategischen Maßnahmen bei der Besetzung des Ge- nutzer die Orientierung. Eine sorgfältig gegliederte und biets zwischen Ebro und Pyrenäen, der völligen takti- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 397

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schen Fehleinschätzung der Lage durch die Römer und Jahren in der Alten Geschichte der antiken Militärge- schließlich vom Rhôneübergang des punischen Heeres, schichte oft zu Unrecht nur noch ein sekundärer Platz den der Verfasser als »eine von Hannibals glänzendsten zugewiesen. Christ schildert dann zunächst Werdegang militärischen Aktionen« (S. 59) zu würdigen weiß. und Persönlichkeit des C. Flaminius, wobei er leider des- Leider wirkt sich hier das weitgehende Ausblenden sen gespanntem Verhältnis zur römischen Staatsreligion, der religionsgeschichtlichen Komponente des Zweiten welches in der späteren römischen Geschichtsschreibung Punischen Krieges etwas bedauerlich aus. Vor allem der einen so essentiellen Topos der Darstellung des Zweiten in der Sekundärliteratur doch so oft besprochene ›Traum Punischen Krieges und wichtigen Kontrastpunkt zu Fa- des Hannibal‹ vor dem Ebroübergang – wohl ein zen - bius Maximus darstellen sollte, wenig Aufmerksamkeit trales Element punischer Kriegspropaganda und -recht- widmet (S. 82). Hierauf folgt die umfassende Darstel- fertigung – wird völlig ausgelassen, desgleichen die von lung der römischen Niederlage am Trasimenischen See anderen Historikern des Zweiten Punischen Krieges und die Bestimmung des Fabius Maximus zum Dictator so hervorgehobene Selbstidentifikation Hannibals mit in Rom, dem es nach der rituellen Versöhnung der Göt- Herakles/Melqart, die nur mit einigen allgemeinen Be- ter und einer Neuordnung der militärischen Kräfte merkungen anlässlich des Besuchs Hannibals im Hei- Roms gelingen sollte, Hannibal durch seine Hinhalte- ligtum dieses Gottes in Gades abgetan wird (S. 54), und taktik in ernste Bedrängnis zu bringen. Die massiven schließlich die verschiedenen Elemente der religiösen karthagischen Verwüstungen weiter Landstriche brach- Propaganda Hannibals gegenüber den unteritalischen ten allerdings einen breiten Konsens zustande, die offene Griechenstädten und den mittelitalischen römischen Feldschlacht zu wagen, so dass Hannibal dann aufgrund Verbündeten – ein diplomatischer Zug, welcher in der seines überlegenen Feldherrntalents die römischen Ver- Folge ebenfalls völlig übergangen wird, aber gerade von bände unter den miteinander ob der anzuwendenden zentraler Wichtigkeit für die Kriegszielfrage und auch Taktik uneinigen Consuln Paullus und Varro bei Cannae die Selbstdarstellung Hannibals ist. vernichtend schlagen konnte. Der Verfasser schildert die Das dritte Kapitel (S. 63–76) behandelt im Wesent- Operationen der beiden Seiten und die Gründe des pu- lichen in engster Anlehnung an Polybios und Livius, die nischen Siegs auch kriegsgeschichtlich überaus detail- der Autor über einen Großteil des Kapitels paraphrasiert, und kenntnisreich und lässt seiner Beschreibung auch den berühmten Alpenübergang und die ersten Kämpfe einen interessanten militärhistorischen Ausblick auf das in Norditalien. Als wohltuend erweist sich hier, dass Fortleben der an Hannibals Cannae orientierten Kessel- der – häufig detailliert geschilderten, für Ortsfremde schlachten über Helmuth von Moltke bis in den Zwei- aber schwer verständlichen – Diskussion um die ver- ten Weltkrieg folgen. schiedenen möglichen Strecken des Alpenübergangs Christ fasst sodann im 5. Kapitel (S. 96–128) die kein übermäßiger Raum gewidmet ist. Christ streicht nächsten zwölf Kriegsjahre bis zum Beginn der römi- besonders heraus, dass es durchaus im Interesse der pro- schen Operationen in Africa 204 zusammen. Den Ver- römischen Geschichtsschreibung war, diesen Übergang zicht Hannibals auf einen sofortigen Zug gegen Rom als so beschwerlich wie möglich zu stilisieren, um Han- rechtfertigt er dadurch, »dass sein Kriegsziel primär nibal als »bedenkenlosen, unverantwortlichen und in- nicht die Vernichtung Roms, sondern die Dekomposi- humanen ›Bluthund‹« (S. 67) darzustellen, der aufgrund tion, die Auflösung des römischen Imperiums, insbe- seines Hasses auf die Römer selbst die eigenen Truppen sondere der römisch-italischen Bundesgenossenschaft, nicht schont, um seine Ziele zu erreichen. Der Verfasser gewesen ist« (S. 96), doch kann diese recht allgemeine geht anschließend auf die Operationen eines römischen und in Anbetracht der völligen Auflösung der römischen Expeditionskorps in Nordiberien ein und schildert dann Truppen nicht gerade eingängige Erklärung letztlich ausführlich die zeitgleichen ersten Taten Hannibals auf nicht zum vollen Verständnis der Motive Hannibals füh- norditalischem Boden wie das Gefecht am Ticinus, das ren, welche allerdings aufgrund der Quellenlage wohl Taktieren beider Heere bei Placentia und schließlich die nie ganz einsichtig sein werden. Nach Darstellung der Schlacht an der Trebia, wobei Christ vor allem die Ziel- politischen wie religiösen Maßnahmen der Römer (dem setzung Hannibals betont, nicht etwa die römische berühmt-berüchtigten Menschenopfer eines gallischen Herrschaft in Italien durch eine karthagische zu erset- und eines griechischen Paares) widmet sich der Autor zen, sondern vielmehr die Auflösung der römisch-ita - dann dem Übertritt Capuas und dem Wechsel anderer lischen Bundesgenossenschaft und damit der Basis der süditalischer Städte auf die Seite der Punier im Jahr 216, römischen Macht zu betreiben. konstatiert aber, dass Hannibal »die Behauptungskraft Kapitel 4 (S. 77–94) ist ganz auf die beiden großen Roms als auch die innere Festigkeit der römisch-itali- Schlachten vom Trasimenischen See und bei Cannae in schen Bundesgenossenschaft völlig unterschätzt« (S. 101) den Jahren 217 und 216 zugeschnitten. Der Autor stellt habe. Schade ist hier – wie auch in den anderen Kapiteln hier, wie übrigens überall in seiner Biographie, eine ein- seines Werkes –, dass Christ den diplomatischen Schach- gehende Kenntnis der militärhistorischen Aspekte unter zügen des Puniers im italischen Raum nur wenig Platz Beweis, was in Anbetracht der Tatsache, dass Hanni- einräumt, deren Darstellung viel zum Verständnis der bal ja gerade durch sein strategisches Genie in die Ge- taktischen Schwierigkeiten wie auch des Verhandlungs- schichte einging, sehr themengerecht, aber keineswegs geschicks Hannibals hätte beitragen können. Der Ver- selbstverständlich ist, wird doch gerade seit den 1950er fasser beschreibt anschließend kenntnisreich den letzt- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:07 Uhr Seite 398

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lich nur wenig folgenreichen Vertrag Hannibals mit Phi l- Sufet und seine Flucht nach dem Auslieferungsgesuch ipp V. von Makedonien und den ungleich wichtigeren der Römer. Seitenwechsel der Syrakusaner, der zur Belagerung und Im 7. Kapitel (S. 145–152) umreißt der Autor dann Zerstörung der Stadt durch die Römer führte, wobei auf fünfeinhalb Seiten Hannibals Flucht aus Karthago Christ besonders die brutale Kriegsführung der Römer im Jahr 195, seine weitere Karriere im hellenistischen unterstreicht: »Mit Syrakus beginnt die Geschichte des Osten und sein Ende. Der Verfasser diskutiert zunächst römischen Vandalismus« (S. 111). Der Verfasser arbeitet Hannibals Ratgebertätigkeit am Hofe Antiochos’ III. hier überzeugend heraus, dass der neue Kriegsschauplatz und seine Ansichten zur Vernichtung Roms, seine eher auf Sizilien letztlich zur Marginalisierung der südita- untergeordnete Rolle in den römisch-seleukidischen lischen Heerzüge Hannibals führte, dem Karthago Auseinandersetzungen 193–189 und schließlich seine wichtige Hilfen entzog, welche es dann zur Unterstüt- Flucht über Kreta und Armenien nach Bithynien zwi- zung inkompetenter Feldherrn nach Sizilien schickte. schen 189 und 187, wo er 183 einer römischen Ausliefe- Der (erneute) Verlust Siziliens wie wenig später auch das rungsforderung durch Selbstmord entging. Scheitern eines Expeditionskorps auf Sardinien leiteten Das 8. Kapitel (S. 153–186) zählt zu den interessan- dann eine neue Phase der Kriegsführung ein: »Die Stär- testen der ganzen Biographie: Christ liefert hier einen kung des römischen Potentials für die übrigen Kriegs- umfassenden und fundierten Überblick über antike und schauplätze wie für die Versorgung Italiens war evident, moderne Hannibalbilder. Polybios schätzte Hannibal ein die karthagischen Verluste gravierend und kaum zu er- als eine »der wenigen historischen Persönlichkeiten, wel- setzen« (S. 113). Der Autor widmet sich dann dem spa- che die früher gegebenen Geschichtskreise zu jener um- nischen Kriegsschauplatz und der großen Gestalt des fassenden organischen Einheit der mediterranen Ge- Scipio Africanus, der besonders nach der Einnahme schichte zusammenführten, die dann Rom ausgefüllt Neukarthagos 209 und den Operationen des nächsten und beherrscht hat« (S. 154), wobei er dessen besondere Jahres die mangelhaft koordinierten karthagischen Brutalität und Habgier konzedierte. Dem stellt der Ver- Truppen 207 aus Iberien vertreiben konnte. fasser quellenkritisch die Verformung des eigentlichen Das Kapitel wird durch einen ausführlichen Über- Charakters Hannibals durch die römische Kriegspropa- blick über die Situation Hannibals und der Römer auf ganda von punischer Treulosigkeit und Grausamkeit dem italischen Kriegsschauplatz abgeschlossen. Christ gegenüber. Diese Sicht habe sich u. a. bei Fabius Pictor, skizziert zunächst eindringlich die wirtschaftlichen Pro- Coelius Antipater und Valerius Antias und letztlich auch bleme, denen Rom sich angesichts des völligen Staats- bei Livius niedergeschlagen, der neben einigen positiven bankrotts ausgeliefert sah und die nur durch Verpach- Charakterzügen vor allem den Mangel an Wahrhaftig- tung der Finanzen an Gesellschaften von publicani über- keit, Religiosität und Gottesfurcht bei Hannibal heraus- wunden werden konnten. Die nächsten Kriegsjahre 215 arbeitete, während später Cornelius Nepos’ kurze, aber bis 204 werden nur auf wenigen Seiten umrissen; trotz ausdifferenziertere Würdigung bis ins Mittelalter die der Auseinandersetzungen um Tarent, Capua und Han- Basis des abendländischen Hannibalbilds darstellen nibals erfolglosem Marsch auf Rom stabilisierte sich die sollte. Wenn auch hier nicht weiter auf die Charakte- römische Kriegsführung und engte den Wirkungskreis risierung aller besprochenen Quellen eingegangen wer- des Puniers wirkungsvoll ein, bis nur noch Bruttium von den soll (Diodor, Pompeius Trogus, Valerius Maximus, den Puniern gehalten wurde. Hasdrubals Nachschub- Plinius d. Ä., Silius Italicus, Iuvenal, Lukian, Florus, heer konnte 207 am Metaurus vernichtend geschlagen Plutarch, Appian, Cassius Dio), mag doch wenigstens werden, und auch Magos Entsatzheer in Ligurien wurde Christs Grundtenor wiedergegeben werden, wonach bald nach Africa zurückbeordert. Die verhältnismäßige trotz vereinzelter Versuche ausgleichender oder gar lo- Kürze der Darstellung erklärt sich aus der Verlagerung bender Darstellungen das Klischee von Betrug, List und unserer Quellen auf den außeritalischen Raum: »Im Grausamkeit als Hauptzüge Hannibals dominierte. Rahmen einer Hannibal-Biographie ist dabei zu konsta- Hierauf folgt eine kurze Übersicht über die verschiede- tieren, dass dessen Persönlichkeit in jenen Jahren hinter nen Abbildungen Hannibals in der Kunst und schließ- den Ereignissen völlig zurücktritt. In der Regel sind lich eine vollständige Übersicht über die Entwicklung Hannibals Verhalten, seine Gedanken und Entschei- der deutschen und internationalen Hannibal-Forschung dungen wie die Ziele seines Handelns nicht bekannt« im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte, welche auch (S. 123). dem Fachmann eine interessante und geistig glänzend Der Verfasser schildert dann im 6. Kapitel (S. 129– durchdrungene Darstellung eines Stücks ›Geschichte der 144) zunächst anschaulich die Schwierigkeit Scipios, an- Alten Geschichte‹ bietet. gesichts des Zögerns des Senats in seiner Provinz Sizilien In Kapitel 9 (S. 187–196) liefert der Verfasser einen ein Heer für die Invasion Africas zusammenzustellen, abschließenden, wenn auch etwas unstrukturierten die Landung und die ersten Operationen um Utica und Überblick über Hannibals Persönlichkeit, in dem er Tunis und schließlich, gewohnt detailreich und kundig, nachträglich einige Themenfelder bespricht, die inhalt- den Verlauf der Schlacht bei Zama und die Friedensver- lich eher in früheren Kapiteln zu erwarten gewesen handlungen mit Karthago. Christ beendet schließlich wären (Jugendjahre, Sagunt, etc.), und vor allem das das Kapitel mit einem Ausblick auf die weitere Karriere Problem unterstreicht, in weitgehender Ermangelung des Scipio Africanus, die kurze Tätigkeit Hannibals als punischer oder pro-karthagischer Quellen angesichts des 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 399

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allein überbleibenden Geschichtsbilds der römischen Hannibals Krieg gegen Rom letztlich dessen definitiven Ge genseite der Persönlichkeit des Heerführers gerecht zu Aufstieg mit sich führte und die punische Niederlage die werden. Selbst griechische Quellen bleiben geprägt von mittelmeerische Entwicklung der nächsten Jahrhunderte römischem Pathos: »Die rationale Würdigung des gro- entscheidend bedingte: »Und doch war es seine Saat, die ßen Feldherrn, die Berücksichtigung von Charakter und hier aufging und am Ende wesentlich zur Krise der spä- Erziehung, seine Verflechtung in einen umfassenden his - ten Römischen Republik wie zur Paralysierung der hel- torischen Prozess bei den griechischen Historikern ver- lenistischen Staatenwelt beitragen sollte« (S. 215). mochten sich gegen die grellen Töne des römischen Abschließend sei hier noch auf zwei Überlegungen Hasses nicht durchzusetzen.« (S. 187) Spätere positive eher grundsätzlicher Art hingewiesen: Darstellungen wurden dann durch die Schematisierung Der Spezialist mag eine eingehendere Behandlung des Lobs des ›idealen‹ Kriegsherrn überformt, unter der gerade der kontroversesten Fragen der Hannibalischen die genuinen Charakteristika des Menschen verschwan- Zeit vermissen (Kriegsschuldfrage, Ebroübergang, Al- den, was den modernen Forscher dazu zwingt, Hanni- pen überquerung, Religionspropaganda, Kriegsziele, Di- bals Persönlichkeit aus seinen Taten zu rekonstruieren. plomatie, etc.). Dieser Vorwurf ist aber m. E. ungerecht - Christ schließt seine Würdigung mit der interessanten fertigt, hätte doch eine ausführliche Diskussion all dieser Feststellung, dass »Hannibals historische Rolle und wissenschaftlichen Probleme den Rahmen eines Einfüh- Funktion von modernen Universalhistorikern und Ge- rungsbuches gesprengt, so dass die etwas lapidare Kürze schichtsphilosophen oft richtiger gesehen wird als von bei der Vertiefung dieser oben aufgezählten Aspekte ver- den akribischen Erforschern der Ereignisgeschichte. ständlich ist und in der Zielsetzung der Reihe wurzelt, Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass ›Hanni- eher einen allgemeinen Überblick zu geben als eine bal’s legacy‹ mindestens ebenso bedeutend gewesen ist detailliert diskutierte Aneinanderreihung umstrittener wie sein Handeln in seiner Gegenwart« (S. 194). Roms Randaspekte, worauf auch der Verfasser selbst am An- Imperialismus und das Zerbrechen der Solidarität der fang seines Werks eingeht und in diesem Sinne auf die römischen Führungsschicht an der Gestalt Scipios sind monumentalen Arbeiten von Huß und Seibert verweist. aus dieser Perspektive ohne Hannibal nicht denkbar. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass diese Das 10. Kapitel (S. 197–208) führt den bei Hanni- verständliche Selbstbeschränkung teils stark mit der de- bals Tod verlassenen Strang der Erzählung bis zur Ver- tailreichen Ausführlichkeit, mit der etwa Heeresstärken, nichtung Karthagos 146 und seiner Neugründung 29 Gefangenenzahlen und strategische Manöver beschrie- v.Chr. als römische Kolonie fort und weitet den engeren ben werden, kontrastiert, so dass dem Buch zwar eine Rahmen einer Biographie hierdurch faktisch zu einer große Anschaulichkeit innewohnt, diese Gewichtung Gesamtdarstellung der Geschichte Karthagos aus. Den vom Spezialisten aber als eine ungleiche Prioritätenset- beständigen Gebietsstreitigkeiten mit Massinissa, die in zung angemerkt, wenn auch nicht kritisiert werden Rom regelmäßig zugunsten des letzteren entschieden kann. wurden, folgten ein Anwachsen karthagischen Unmuts Ferner ist darauf aufmerksam zu machen, dass und schließlich militärische Unternehmungen gegen den Christs Blick auf die karthagische Mentalität gleichsam Numiderfürsten, welche in Rom als Bedrohung aufge- eher von außen als von innen erfolgt und letztlich eher fasst wurden und schließlich, angereichert von alten der ›klassische‹ Historiker der Antike spricht als der Ori- Ängsten, die ungebrochene wirtschaftliche Macht Kar- entalist. Dies ist selbstverständlich bis zu einem gewissen thagos, das Ende der Kriegsschulden und den bald zu Grad die unausweichliche Folge unserer Quellenlage, erwartenden Tod des 90jährigen Massinissa, zur Ent- die uns eben über Karthago nur aus dem Blickwinkel scheidung der Kriegserklärung führten. Der Verfasser der Griechen und Römer, also der beiden ›Erzfeinde‹ der schildert dann detailreich den Untergang der Stadt und Karthager informiert, doch geben uns archäologische, unterstreicht besonders die Brutalität und Bestialität der kunsthistorische und vor allem (leider größtenteils auf römischen Kriegsführung. Weihinschriften reduzierte) epigraphische und andere Der Epilog (S. 209–216) stellt in Fortsetzung des philologische Zeugnisse doch ein besseres Bild der pu- neunten Kapitels eine Art zusammenfassender Wertung nischen Gesellschaft als das im Laufe der Biographie der Persönlichkeit und der Taten des großen Feldherrn dargestellte, und vieles kann aus dem vorsichtigen Ver- dar. Christ fasst die wichtigsten Motivationen beider gleich mit den phönizischen Mutterstädten rekonstruiert Antagonisten der Punischen Kriege zusammen, ver- werden. gleicht ihre Machtbasis, würdigt Hannibals Kriegsfüh- All dies soll allerdings keinesfalls das Verdienst des rung während der eher stationären Jahre nach Cannae – Verfassers mindern, mit seiner Hannibal-Biographie eine »Diese Phase des Kampfes ohne den Enthusiasmus der aktuelle, informative, exzellent geschriebene, übersicht- großen Siege und ohne den Gewinn immenser Beute lich gegliederte, chronologisch weit gespannte, reich be- durchzustehen, war wohl noch schwieriger, als die Tri- bilderte und vor allem gut lesbare Einführung in das umphe des Anfangs zu erringen« (S. 211) –, skizziert die Thema geliefert zu haben, welche daher den Zielsetzun- innen- und außenpolitischen Folgen der Kriege für Rom gen der Reihe ›Gestalten der Antike‹ mit Sicherheit glän- (z.B. den Beginn der Latifundienwirtschaft und den in zend gerecht wird. vieler Hinsicht problematischen Gewinn Iberiens) und den gesamten Mittelmeerraum und unterstreicht, dass Aachen David Engels 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 400

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Norbert Ehrhardt und Linda-Marie Günther sehr prorömische Darstellung der Zerstörung von Kar- (Hrsg.), Widerstand – Anpassung – Integration. Die thago und Korinth durch den bereits zuvor zum Ruhm griechische Staatenwelt und Rom. Festschrift für Jürgen des Scipio Aemilianus verfassten ›Bellum Numantinum‹ Deininger zum 65. Geburtstag. Franz Steiner Verlag, determiniert war: Wenn die schwer zu rechtfertigenden Stuttgart 2002. X, 303 Seiten. Kriege in Spanien berechtigt erscheinen sollten, muss- ten auch die beiden parallel geführten Kriege der 140er Den Beziehungen der Griechen zu den Römern hat ein Jahre ›notwendig erscheinen‹, zumal Aemilianus hier großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit Jürgen Deinin- ebenfalls beteiligt war (S. 102). gers gegolten. So war es folgerichtig, dass die Festschrift Den Spuren des römischen Ausgreifens in den Osten zu seinem 65. Geburtstag ihren Schwerpunkt ebenfalls gelten noch drei weitere Artikel: Ch. Habicht beschäftigt in diesem Bereich setzte. sich mit zwei inschriftlichen Zeugnissen aus Kos, die aus Einige Beiträge blicken freilich zunächst weiter zu- der Phase der römischen Expansion in den griechischen rück: K. A. Raaflaub versucht, anhand eines Vergleichs Osten stammen. Bei dem einen (W. Pa ton / E . Hic k s , der von Herodot überlieferten Debatte im Kronrat des The Inscriptions of Cos [Oxford 1891] Nr. 128) handelt Xerxes über den Angriff auf Griechenland mit den aus es sich um eine Statuenbasis für T. Quinctius Flami- Thukydides bekannten Diskussionen um das athenische ninus. Habicht identifiziert den in Z. 7 vermutlich ge - Ausgreifen nach Sizilien herauszuarbeiten, dass die Ana- nannten Bildhauer mit dem für das Ende des 3. Jahr- lyse des Imperialismus im Werk beider Autoren von der hundert v.Chr. belegten koischen Bürger Nikomachos, zeitgenössischen Erfahrung des athenischen Imperialis- Sohn des Parmeniskos. Bei dem zweiten handelt es sich mus geprägt ist. Die von Herodot den persischen Dis- um die Weihung einer rhodischen Schiffsbesatzung in kutanten in den Mund gelegten Argumente seien dabei Kos. Das bisher mit den Mithradatischen Kriegen ver- von den athenischen Diskussionen um das Ausgreifen bundene Monument kann Habicht, ebenfalls über die nach Sizilien geprägt gewesen, wohlgemerkt des ersten Prosopographie, nun dem Zweiten Kretischen Krieg athenischen Ausgreifens nach Sizilien am Anfang des (155–153 v.Chr.) zuweisen (»Beiträge zu koischen In- Peloponnesischen Krieges (»Herodot und Thukydides: schriften des 2. Jahrhunderts v.Chr.«, S. 103–107). Persischer Imperialismus im Lichte der athenischen Sizi- N. Ehrhardt widmet sich den römischen Zollpäch- lienpolitik«, S. 11–40). tern, die an einer konfliktreichen Schnittstelle zwischen W. Schuller prüft die Folgen der Neudatierung des römischen Herrschern und Untertanen tätig waren. Er Egesta-Dekrets für die Entwicklung des attischen See- betont zu Recht, dass es in der Römischen Republik bunds und kommt zu dem Schluss, dass sich keine keine Alternative zu diesem System gab. Seiner Ansicht wesentlichen Änderungen ergeben (»Folgen einer Um- nach resultierten die meisten Konflikte um die Publicani datierung des Egesta-Dekrets [IG I³ 11]«, S. 41–47). aus Situationen, in denen die Veränderung des Rechts- J. Wiesehöfer untersucht die Politik Antiochos’ IV. in status von Land die Einnahmen der Pächter schmälerte. der Elymais. Er widerlegt dabei die Theorie, dieser habe Diese hätten dann – um den kalkulierten Gewinn doch eine ›heilige Hochzeit‹ mit der Göttin Nanaia angestrebt, noch zu erreichen – versucht, rechtswidrig so lange wie um an die Besitztümer der Tempel zu gelangen, und möglich die alten Steuern zu erheben (»Strategien römi- führt das aggressive Vorgehen des Seleukiden neben scher Publicani gegenüber griechischen Städten in der anderen Faktoren auf die Erwartung demonstrativer Zeit der Republik«, S. 135–153). Loyalitätsbekundungen durch die Untertanen zurück F. Kolb analysiert das Hineinwachsen einer Region (»Suno∂khsij und ¢por∂a crhm£twn. Antiochos IV. in das Römische Reich, die im Windschatten des Taurus und die Heiligtümer der Elymais«, S. 109–120). das römische Vordringen lange eher als Zuschauer ver- W. Eder arbeitet funktionelle Parallelen zwischen den folgte, ehe sie dann im 1. Jh. n. Chr. Teil des Imperiums Ephoren Spartas und den Volkstribunen Roms (in ihrer wurde (»Lykiens Weg in die römische Provinzordnung«, Frühphase) heraus: Beide erwuchsen aus politischen Kri- S. 207–221). sen und erwarben durch ihre Verbindung zum Volk ein P. Herrmann untersucht die Strukturen des Ionischen erhebliches Machtpotential, das sie durchaus produktiv Bundes in der Kaiserzeit (Beschlüsse, Feste, Funktio- zum Nutzen des Staates einsetzten (»Schlummernde Po- näre) und fragt dabei besonders nach den Verbindungen tentiale: Die Rolle von Volkstribunen und Ephoren in zum parallelen Provinziallandtag. Dessen Ausgestaltung Verfassungskrisen«, S. 49–60). versetzte seines Erachtens dem Ionischen Bund einen Einer der am besten zum Jubilar passenden Beiträge Schub, der zu einer Neubelebung der Bundesaktivität – (vom Titel her gesehen nahezu der ›Leitartikel‹ der Fest- unter der Einbeziehung des Kaiserkultes – geführt habe schrift) stammt von M. Zahrnt (»Anpassung – Wider- (»Das koinÕn tîn 'Iènwn unter römischer Herrschaft«, stand – Integration: Polybios und die römische Politik«, S. 223–240). S. 77–102). Sein Ziel ist es, Polybios’ unterschiedliche P. Weiß weist unter Bezugnahme auf die Dissertation Urteile mit den verschiedenen Phasen seines Lebens zu Deiningers den Versuch S. J. Friesens zurück, Asiarch verbinden und zu zeigen, dass drei Phasen (Anpassung, und provinzialen Archiereus zu unterschiedlichen Äm- Widerstand, Integration) zu unterscheiden sind. Gerade tern zu erklären (»Asiarchen sind Archiereis Asias. Eine für die letzte Phase kann Zahrnt plausibel machen, dass Antwort auf S. J. Friesen«, S. 241–254). die vermutlich erst in den 120er Jahren v.Chr. verfasste, J. Molthagen beschäftigt sich mit einem lange Zeit 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 401

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vor allem im griechischen Osten verbreiteten Personen- H.-J. Drexhage/H. Konen/K. Ruffing, Die Wirt- kreis, der Rom eher ablehnend gegenüberstand: Die schaft des Römischen Reiches (1.–3. Jahrhundert). Johannes-Apokalypse erscheint in seiner schlüssigen Eine Einführung. Studienbücher. Geschichte und Kul- Interpretation als Appell, sich – vor allem wegen des tur der Alten Welt, hrsg. von Karl Strobel. Aka demie- Kaiserkults – eben nicht zu integrieren (»Warnung vor Verlag, Berlin 2002. 400 pp., 12 Abb. und Tafeln. Integration. Die Christen und Rom im Spiegel der Johannes-Apokalypse«, S. 265–280). For more than two decades Hans-Joachim Drexhage has Dem vielleicht ›griechischsten‹ aller Kaiser gilt K. Tel- kept the small journal “Münstersche Beiträge zur An- schows Untersuchung der Selbstdarstellung Julians tiken Handelsgeschichte” alive with admirable energy. (»Drei literarische Selbstzeugnisse des Kaisers Julian«, The Journal has published a wealth of articles on almost S. 281–291). every aspect of trade in the Graeco-Roman world. It has Einen Perspektivwechsel leitet der Beitrag von made a significant contribution to the study of the an- L.-M. Günther ein, die nach den Auswirkungen des cient economy and a lively research environment has römischen Ausgreifens in den griechischen Osten in sprung up around it. Together with two of his younger Rom selbst fragt. Am Beispiel der Siegesspiele des colleagues, Heinrich Konen and Kai Ruffing, Drexhage L. Anicius analysiert sie die Aneignung griechischer Kul- is now presenting a broad textbook synthesis of the tur durch römische Feldherren und deren Rückwirkung economy of the Roman empire. The book is intended to auf die griechischen Untertanen und das römische Pub- offer students an introduction to the area, but is also likum (»Griechische Bühnenkunst bei den römischen written as a comment on current debates. There is much Siegesspielen des L. Anicius [166 v.Chr.] – Klamauk in it to interest the more experienced, student as well as oder Parodie?«, S. 121–133). scholar. V. Fadinger verfolgt die Wurzeln der Selbstdarstel- The book falls into two main parts. The first half lung Sullas in den hellenistischen Osten und weiter in contains a survey of the Roman economy, the second a den Iran (»Sulla als Imperator Felix und ›Epaphroditos‹ broad and interesting selection of sources in German (= ›Liebling der Aphrodite‹)«, S. 155–188). translation to illustrate the themes presented in the syn- In einem diachronen Ansatz widmet sich K. Sion-Jen- thesis. The decision to include original evidence, in kis schließlich der Rezeption griechischen Gedankenguts translation, improves the value of the work as a teaching bei einem (griechischen) Autor der römischen Kaiserzeit tool considerably. So does the inclusion of a substantial (»Griechisches Denken im römischen Gewand: Über - number of papyri in the selection. Papyri contain some legungen zu Ciceros Amnestie-Rede nach Caesars Er- of the most detailed evidence extant for ancient eco- mordung bei Cassius Dio [44,23–33]«, S. 189–206). nomic activity and ought not to be neglected by ancient Zwei weitere Beiträge nehmen mehr das Gesamtreich historians. Indeed, Drexhage has done much to improve in den Blick: H. Halfmann deutet Tacitus‘ ›Agricola‹ als our awareness of the value of papyri for the study of Dokument der Vergangenheitsbewältigung für die Zeit Greco-Roman economic activity. It is, for instance, only Domitians und Analyse des Verfalls der römischen Herr- from Egyptian papyri that some kind of study of prices schaft (»Zu Tacitus‘ ›Agricola‹ als Dokument römi- in the Greek and Roman world is possible, as Drexhage scher Herrschaftsauffassung«, S.255–263). A. Demandt has reminded us in his “Preise, Mieten/Pachten, Kosten sucht hingegen nach Kulturkonflikten (im Sinne von und Löhne im römischen Ägypten bis zum Regie rungs - S. Huntingtons »clash of civilizations«) im Römischen antritt Diokletians” (St. Katharinen 1991). Reich und gelangt zu dem Schluss, dass es dort keine “Münstersche Beiträge” has been characterised more gab (»Kulturenkonflikt im Römischen Reich? Eine zeit- by detailed empirical studies than attempts at conceptu- gemäße Betrachtung«, S. 61–75; ebenfalls abgedruckt alisation and theorising. This has both been the strength in: A. Ackermann/K. E. Müller (Hrsg.), Patchwork: and weakness of the Journal. The same goes for the Dimensionen multikultureller Gesellschaften [Bielefeld book which explicitly proceeds from an anti-theoretical 2002] S. 65–82). position. The authors programmatically declare that In einer Festschrift für J. Deininger, der zusammen “Dem möglichen Vorwurf, eine positivistische Arbeit mit W. Nippel die ›Weberologie‹ in der deutschen Alt- geleistet zu haben, sehen wir gelassen entgegen, weil ger- historie begründet hat, darf ein Beitrag zu Max Weber ade in der Auseinandersetzung mit der antiken Wirt - nicht fehlen. H. Kloft hat diesen Part durch seine Wür- schaft Theorien und Theoreme mit vielen Quellen kol- digung von Webers Aufsatz ›Die sozialen Gründe des lidieren” (p. 11). And, they continue, “Das Ziel dieser Untergangs der antiken Kultur‹ übernommen (»Unter- Darstellung soll nicht sein, einen neuen theoretischen gang und Übergang. Max Webers Deutung des Unter- Entwurf zum Charakter der kaiserzeitlichen Wirtschaft gangs der antiken Welt«, S. 293–303). vorzulegen. Vielmehr haben wir uns darum bemüht, Alles in allem ein bunter Strauß von meist interes- auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Quel- santen Geburtstagsgrüßen, die zwar nicht alle zum Titel lengruppen Aussagen zu liefern, ohne diese einem der Festschrift passen, aber das breite Interesse des Ge- Modell zuzuordnen” (p. 21). Such caution and distrust ehrten vortrefflich widerspiegeln. of generalised statements on the nature of the Roman imperial economy is more easily explained than justified. Bonn Jens Bartels The recent very heated debates on the competing models 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 402

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of Roman economic history makes it understandable economy. In many respects, they conclude following why one should like to plead despair and seek refuge in Pleket, the Roman economy bares comparison with the comforting, but illusory, safety of the ancient evi- medieval and early modern European societies (p. 20). dence. Historical sources are not self-explanatory; they This observation is undoubtedly true and would not, must be interpreted. This is particularly difficult in the in broad terms, have been denied by Finley, nor by Jones. ancient case where the evidence is so much more frag- Indeed, their project should be seen as an attempt to mented and haphazardly preserved than for later peri- bring the study of the ancient economy into line with ods. “Without a theoretically grounded conceptual the experience of other pre-industrial societies (cf. scheme”, as Finley once remarked, “the thin and unreli- M. I. Finley, The use and abuse of history [London able evidence lends itself to manipulation in all direc- 1986] chapter 6). This meant to place agriculture, rather tions, without any controls” (Ancient History. Evidence than trade, at the centre of any understanding of the and models [London 1985] p. 18). The alternative to economy, caution against the frivolous use of labels such models and systematical discussion of concepts is not as capitalism and bourgeois entrepreneurs and a warning empirically certified truth, it is commonsensical preju- against seeing modern economic policies and phenom- dice and half-digested a priori theories. This is a crucial ena lurking behind every sort of economic activity in the lesson which students in particular should not be denied. ancient world. Strangely, this is frequently, also by the At any rate, ancient economic history is not short of em- current authors, seen as a purely theoretical venture. pirical studies; they abound. What it does lack, are more But, surely, none was ever more empiricist in his ap- attempts to develop our conceptual and interpretative proach than A. H. M. Jones. His magnum opus, The framework to keep our steadily expanding store of data Later Roman Empire, 284–602 (Oxford 1964), is still together. unsurpassed in the breadth and scope of the mastery of Fortunately, the book makes a greater contribution the ancient evidence, so copiously cited in footnotes. It towards the latter project than the authors promise or are was intelligent questioning of the ancient material which willing to admit. The reader is not treated to a discussion led him to doubt the modernising constructions of great of the Roman economy in out-dated antiquarian and predecessors such as Rostovtzeff. Furthermore, it was the philological fashion. Drexhage and his collaborators are very theoretically minded pupil of Jones and Finley, the recently deceased Keith Hopkins who produced one of well informed of the ways economic history is practised the strongest and most influential alternatives to the in other fields. This has, for instance, brought them to “primitivist” understanding of the Roman economy. dedicate a whole chapter to the question of “Lebensstan - In the article “Taxes and trade in the Roman Empire” dard”, an interest which they incidentally share with the (Journal Roman Stud. 70, 1980, 101–25), Hopkins sug- pioneering work of Cambridge historians such as Peter gested that the empire experienced a phase of moderate Garnsey (Food and Society in Classical Antiquity [Cam- growth and developing markets. Ironically, it is precisely bridge 1994]), and a chapter on “Dienstleistungen”, this position which Drexhage, Konen and Ruffing come where subjects such as prostitution, education and enter- closest to while the other pupil of Jones, Richard Dun- tainments are included. The solid base in economic his- can-Jones has challenged Hopkins’ assertions vigorously, rd tory also enables the authors to treat the 3 century crisis insisting on the low level of activity from an empiricist with greater precision than is often done. The crisis is position (e.g. Structure and scale in the Roman economy shown to be more political and fiscal than economic [Cambridge 1990]). in nature. Many parts of the empire prospered or ex- All this serves to remind us that the discussion on perienced stable conditions for much of the “dark” cen- the character of the Roman economy is not a question tury. In total, the synthesis has been composed from 8 of theorisers against empirically working scholars. This chapters: “Einführung”, “Staat und Wirtschaft”, “Die leaves the question of the scale of economic activity in Landwirtschaft”, “Handwerk”, “Handel”, “Banken und the Roman empire. But that is, unfortunately, a dead sons tige Dienstleistungen”, “Lebensstandard”, “Das end. In the absence of even the most basic and rudimen- drit te Jahrhundert”. They are all characterised by a rich tary statistics, discussions about the exact level of trade and thorough coverage of conditions around the empire. or production are bound to go on endlessly without Much information has been successfully joined in these resolution. A glass, half empty to some, will appear half chapters. The result is much more than a simple text- full to others. At all events, excessive focus on the scale book, it is a very able and competent economic history of activities is likely to divert attention from the key issue survey, sometimes even with a refreshing choice of sub- which from the very beginning was a question of the jects. particular nature of the Roman economy within the It is the aim of the authors to challenge the view of broadly comparable field of pre-industrial societies. Fin- the Roman economy developed by A. H. M. Jones and ley argued that ideology, social structure and the form of M. I. Finley, among others, as too negative. Drexhage et the state all combined to shape ancient economic activity al. consistently attempt to show that there was more eco- in very different patterns than those produced by the nomic activity in the Roman world than allowed by the incipient capitalism of some early modern European so- “primitivist” school. Not least on the basis of a thorough cieties. This argument is still essentially unshaken and knowledge of archaeological data, the authors are able to one wishes that the authors would have kept this more present an image of a steadily expanding agricultural in mind when constructing their presentation. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 403

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A good example is the chapter on the state and the prov inces, it was to control local commutation and economy where the constant inclination of the authors remuneration rates for taxes and requisitions (cf. E. to make “more” of the economic experience of Rome Lo Cascio in Atti dell’Accademia Romanistica Costan- occasionally misleads. The chapter is formed as a discus - tiniana. XII Convegno Internazionale [Perugia-Spello sion seeking to detect, at least, the rudiments of imperial 1998] pp. 121–136). The practice, in other words, was economic policies. It is an informative survey of diverse grounded in the concrete needs of the Roman treasury. phenomena such as road-building, market interventions, Rather than speculating about abstract policies, designed servicing of trade, coinage and the state budget. It was a to shape the Roman economy at large, the explanation key contention of Finley that economic thought in the should attempt to locate the interprovincial similarities ancient world was conducted within a household frame- in the coin population firmly within the practical con- work. The Oikonomikos of Xenophon was typical in cerns and objectives of the Roman state. The one this respect. Good husbandry, a that aimed at overriding item of expenditure in the provinces was the preservation of the household rather than economic the army. The similarities in the composition of pro- efficiency pure and simple, was the standard on which vincial coin populations can, above everything else, people acted. The economy was not perceived as an in- be explained as a reflection of military expenditure dependent subsystem whose individual components the (R. P. Duncan-Jones, Money and government in the state should monitor, manipulate and regulate in detail Roman Empire [Cambridge 1994] 178–79). It was, as in order to increase national wealth. The latter approach the authors also agree, the maintenance of the army, only developed as a result of mercantilist doctrine and Rome and the provincial administration that preoccu- classical political economy. The ancient state, therefore, pied the imperial state. did not have economic policies in our sense of the term Policies of the imperial state should be explained by (M. I. Finley, The ancient economy² [London 1985] its concrete interests and concerns rather than by ab- chaps. 1 and 6). This is important to keep in mind when stract economic goals which had not even been formu- interpreting the ancient experience. While conceding lated in antiquity. Good husbandry included taking care that caution is needed, the authors nonetheless insist: that estate lands were cultivated. This was a concern of “Man sollte sich aber nicht scheuen, die Eingriffe man - the emperor, too. Agricultural production supplied the cher Kaiser als Elemente einer von dem Streben nach bulk of imperial taxes. Emperors, therefore, had an in- Prosperität geleiteten ‘Wirtschaftspolitik’ zu cha rak te - terest in seing the agricultural potential of his realm risieren” (p. 33). being utilised. This did not usher in elaborate policies to The effects of this conviction may be glanced from develop agriculture across the empire. That was beyond the analysis of the Roman imperial coinage offered by the capacity of the very restricted state apparatus. But Drexhage, Konen and Ruffing. The composition of coin emperors did adopt a number of limited strategies, populations shows great similarities across the various Drexhage, Konen and Ruffing are right to insist.Tax con- provinces. Issues of individual emperors appear to have cessions were offered, at least in some areas, to people been present in comparable quantities all over the em- who brought new land under cultivation during the pire. start-up period. During years of famine, the imperial au- How is this uniformity to be explained? The authors thorities sometimes reduced or remitted tax demands to conclude that: “Die Schwankungen im Geldangebot prevent producers becoming impoverished and marginal waren demnach nicht ein lokales Phänomen, sondern lands from falling out of cultivation. This is all well de- monetäre Entscheidungen in der Zentrale Rom hatten scribed in the book. But again, the authors attempt to eine reichsweite Wirkung. Ob man deshalb von einer push further and detect more elaborate economic poli- echten ‘Geldpolitik’ sprechen kann, müssen die For- cies adopted by the emperors to shape economic produc - schun gen der nächsten Jahre ergeben. Wir sind aber tion within the empire in greater detail. nach dem derzeitigen Stand geneigt, den Verant- Characteristic is the interpretation of Domitian’s un- wortlichen in Rom aufgrund von praktischen Erfahrun- successful attempt to restrict the cultivation of wine as gen zumindest Kenntnisse über die Zusammenhänge aiming to solve “eine Überproduktionskrise” and pro- zwischen Geldmenge und Preisniveau zu unterstellen” tecting Italian wine-growers against increasing provin- (p. 40). cial competition (p. 71–72). But this is not quite what The image which the authors conjure up of a Roman Suetonius reports about the incident (Dom. 7,2). In re- state trying to control price developments empire-wide action to a year of abundance of wine and shortage of by manipulating the coin supply is not only purely hy- grain, Domitian decided to curtail the cultivation of pothetical, it is also unlikely. For a start, it would require wine in order to enable more lands to come under grain the Roman government to have monitored prices across in the future. The problem was not too much wine, but the provinces in considerable detail and furthermore too little grain. Domitian’s measure was, effectively, in- collected this information in a centralised ‘statistical’ tended to ensure crucial food-supplies for the cities of bureau with a view to form decisions of withholding or the empire and thus protect the “moral economy” of his releasing coin in any given area. None of this ever hap- realm (on the ‘moral economy’ of urban food-supplies pened. In late antiquity when the Roman state did begin in antiquity, cf. most recently P. M. Erdkamp in L. de to collect detailed information on prices, at least in some Blois /J. Rich [eds.], The transformation of economic 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 404

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life under the Roman Empire [Amsterdam 2002] 93– East (p. 191). Higher population densities made agricul- 115, inspired by the model study of E. P. Thompson, tural land a much scarcer resource in the latter part of Customs in Common [London 1993] chap. 4). The fact the empire. Peasants, therefore, had to work harder, had that nothing was done to implement the measure after- less access to more expensive products such as meat and wards, is a sure indication of the relatively limited under- could probably be pressed harder for rent by their land- standing, within governmental circles, of the empire as lords. A more consistent attention to theory and concep- an economic system. Emperors might act in omnipotent tualisation would have enabled the authors to present a fashion and decree how things ought to be in a kind of more rounded and integrated image of the agricultural grand symbolic gesture, probably provoked by the situ- economy in the Roman world; it would have provided ation in Rome or Italy at most. But, in practice, they the student readership with a clearer understanding of often had very little notion of the practicallity of such the pressures, limitations and mechanisms governing decissions within the economy at large or their necessity pre-industrial agricultural production. for that matter. There is no reason to labour the point further. Similar Careful attention to concepts is not an enemy of em- sorts of considerations apply to the other chapters of the pirical observation; it is a precondition, which puts a book. But this should not be allowed to detract from the check on our interpretative imagination. Thus it helps to fact that there is much of value in the analyses of the in- place phenomena within their proper historical context dividual chapters. Chapter 4 presents an interesting sur- and frame our discussions with greater precision. The vey of manufacturing industries in the empire. Emphasis book, in spite of the authors’ assertions to the contrary, is placed on the small scale of most operations and the does in fact perform such operations occasionally. For household organisation of production (p. 103). The instance, at the beginning of chapter 3, dealing with question of the possible existence of putting-out system agriculture where it is stated that it was the most impor- is also brought up on the basis of Egyptian evidence tant sector in the economy, that most people were em- (p. 111). Chapter 5 deals with trade and constitutes the ployed here and that it provided the surplus on which most successful part of the book. The chapter proceeds the rest of the economy existed (p. 59). What follows is from the theoretical observation that “an dieser Stelle a very useful and informed survey of much recent re- muss nochmals hervorgehoben werden, dass die Land- search, not least archaeological, documenting a steady wirtschaft die Grundlage der kaiserzeitlichen Wirtschaft expansion of the cultivated area during the first few cen- darstellte. Es ist daher unstrittig, in der Distribution turies of the imperial monarchy. Again, the authors are landwirtschaftlicher Produkte die wichtigste Funktion most interested in ‘developed’ economic phenomena. It des Handels zu sehen” (p. 119). This reveals a rare and is the larger estates and commercialisation that attracts very sharp understanding of the position of trade in the their attention; and they take a very, probably unduly, Roman world which many have failed to reflect on. optimistic view of grain yields. Most trade, as the authors remind us, took place within On the other hand, phenomena such as subsistence the local or nearer regional area, such as the village or production are only mentioned very briefly and in pass- closest market-town. It was only a relatively limited, but ing. This is a choice which it is difficult to understand. far from insignificant part as the authors are right to in- The chapter concludes with a section on the endemic sist, which entered wider distribution networks. These risk of failed harvests and famines. These would not more wide-ranging networks are then treated subse- have been substantially worse than in later historical pe- quently, including trade with the Germanic north. In riods, as the authors correctly argue. But they would still their discussion of trade the authors also include themes have been important phenomena that no peasant could such as monopolies, social organisations, customs duties afford to ignore. This makes it indispensable to include and transport costs. One does not have to agree with the functioning of the subsistence sector within the gen- every conclusion the authors reach to recognise the so- eral portrait of the agricultural economy. Various strate- phistication of this chapter. gies of subsistence production served to cushion the Chapter 6 then presents a brief survey of the service peasant majority against the shocks of unpredictable cli- sector in the economy, rightly admonishing the reader to matic variations, but also limited the extent of the mar- remember that its size would have been very limited ketable surplus substantially. One would also have compared with today’s world. Chapter 7, as treated thought that demographic questions had deserved more above, then discusses the problem of living standards, consideration than the few scattered, cursory remarks before chapter 8, presenting a revisionist picture of the they receive. The size and composition of the population 3rd century crisis, concludes the survey. has been of crucial importance in every agricultural It is time to sum up. The book contains much expert economy. It is, for instance, probably in demography we discussion of Roman economic phenomena. It is a valu- should seek an explanation for the difference in standard able economic history of the Roman empire. But its of living which the authors identify between east and strengths lies more in surveying the results of a vast west in the penultimate chapter of the book. Though amount of recent research and in presenting central de- appearing less affluent (fewer and smaller cities), the bates in the field than in the work of synthesis. The pres- North Western part of the empire probably enjoyed entation of the Roman economy would have gained in higher average living standards than the richer looking strength had more attention been paid to the theoretical 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 405

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aspects of “the historian’s craft”. Conceptualisation is a schwachen Gratian und den Kinderkaiser Valentinian II. precondition of all synthesis. It is unfortunate that Drex- gehabt habe. Man denkt an Max Webers Definition von hage, Konen and Ruffing have shied away from this part Politik, die auch für Ambrosius’ Kirchenpolitik gilt: »Ein of their task. Undoubtedly the claim to present the an- starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Lei- cient evidence “wie es eigentlich gewesen”, as opposed to denschaft und Augenmaß zugleich«. empty theoretical speculation, will appeal to many his- Fälschlich habe man dem Bischof jegliche politische torians. But one does not reach historical truth, free of Ambition abgesprochen, meint die Verfasserin (S. 26). anachronism, simply by sticking to the sources. One Das klingt, als sei Politik für ihn ein autonomes Geschäft must also impose controls on the interpretation of the gewesen. Aber wenn sie in chronologischer Folge seine evidence. Here the authors have frequently substituted großen Auseinandersetzungen mit Valentinian II. und a one-sided determination to take a more “optimistic” Theodosius I. verfolgt: den Streit um den Victoriaaltar, view of the Roman economy for the necessary theoret- um die Kirche in Mailand, um die Synagoge in Callini- ical analysis. This sometimes produces misleading judg- cum und schließlich um das Massaker in Thessaloniki, ments and omissions, as argued above. Theoretical re- wird immer wieder deutlich, dass es Ambrosius in erster flection does not obstruct historical truth, it enables us Linie um seine Religion ging. Mit Recht sagt sie später to establish the limits of the probable and identify with einmal, dass er »in der Lage war, alles zu einer Frage der greater clarity the context of interpretation. History stu- Religion zu machen« (S. 206). Dem dreieinigen Gott dents, therefore, ought not continue to be taught to see waren der Bischof wie der Kaiser verantwortlich, und theory and evidence as irreconciable opposites; the two wenn dieser seine Verantwortung vergaß oder sie politi- are inextricably linked. schen Zwängen opferte, hatte jener die Pflicht, ihn daran This review has focused attention on arguing such zu erinnern. Zwingen konnte er ihn nicht, deswegen questions of principle, but only because Drexhage, musste er sich bisweilen taktischer Mittel bedienen und Konen and Ruffing’s book deserves a serious response. It Rücksicht auf die jeweiligen Umstände nehmen. Aber represents an important and welcome new contribution Ambrosius verbog sich nicht. Gerade das Schreiben an to the study of the Roman economy. I have no doubt Eugenius ist dafür ein Beleg. Es »strotzt geradezu vor that their book will constitute a useful teaching tool, but Ehrerbietigkeit«, tadelt K. Groß-Albenhausen (S. 122). due to the language mainly for German students. The Ein Jahr zuvor hatte Jörg Ernesti einen ganz anderen accompanying selection of translated sources is excel- Eindruck gewonnen und von einem »im Ton äußerst lent; the survey is informative and digests a wealth of re- reservierten Brief« gesprochen (Princeps christianissimus sults and will certainly stimulate discussion. und Kaiser aller Römer. Theodosius der Große im Lichte zeitgenössischer Quellen [Paderborn u. a. 1998] 195). Kopenhagen Peter Fibiger Bang Dass der Briefschreiber den Adressaten als imperator anredete, war keine Schmeichelei. Der Westen des Rei- ches mit dem römischen Senat an der Spitze tat dasselbe, und noch war offen, wie sich Theodosius entscheiden werde, um dessen Anerkennung Eugenius rang. Kirsten Gross-Albenhausen, Imperator christianis- Ambrosius verband Leidenschaft und Augenmaß. simus. Der christliche Kaiser bei Ambrosius und Bei Johannes Chrysostomus überwog die Leidenschaft. Johannes Chrysostomus. Buchverlag Marthe Clauss, Dies ist eine der Folgerungen, wenn man mit der Verfas- Frankfurt am Main 1999. 223 Seiten. serin im zweiten Teil ihres Buches die einzelnen Lebens- stationen des unermüdlichen Redners und Schriftstellers »Denn ich tue niemandem Unrecht, wenn ich Gott durchmustert. Der temperamentvolle Johannes macht es allem vorziehe, und im Vertrauen auf ihn scheue ich dem Leser auch schwerer als der nüchterne Ambrosius, mich nicht, euch Kaisern zu sagen, was ich nach meinem die Frage zu beantworten, ob seine Einzelaussagen über Dafürhalten meine«. Gleich zu Beginn des Briefes, den das Kaisertum im allgemeinen und über die Kaiser Ambrosius 393 dem Usurpator Eugenius schrieb, Theodosius und Arcadius im besonderen einer einheit- nannte er das Grundmotiv, das ihn bisher im Verkehr lichen Theorie entsprangen. Zu stark ließ er sich bei sei- mit den Kaisern geleitet hatte (Brief 10 extra collectionem nen Predigten von den jeweiligen Umständen bestim- [57] 1). Was er den Machthabern, unabhängig vom men. Dazu kam die Prägung, die er als junger Mann Streit um ihre Legitimität, sagen zu müssen glaubte, sechs Jahre lang unter den syrischen Mönchen und Ein- fasste er an anderer Stelle in die berühmte Formel: »Der siedlern erfahren hatte. Priester geworden, las er ent- Kaiser steht in der Kirche, nicht über ihr« (Brief 75a sprechend kräftig im Statuenskandal 387 seiner leicht- [21a] 36). Welche Forderungen der Bischof im Einzel- lebigen und leichtsinnigen Heimatstadt Antiochia die fall daraus ableitete und wie die Kaiser darauf reagier- Leviten. Hatte er zuvor in einem Traktat dem Leben des ten, untersucht Frau Groß-Albenhausen im ersten Teil Mönchs den Vorzug vor der mühseligen Existenz des ihres Buches, einer Dissertation, mit der sie an der Uni- Kaisers gegeben, so lobte er jetzt beschwörend Theodo- versität Frankfurt am Main promoviert wurde. Mit gu - sius’ Milde. Eine unerwartete späte Folge seines Lobs war ten Gründen revidiert sie die verbreitete Auffassung von 398 die Berufung auf den Bischofsstuhl von Konstanti- dem großen Einfluss, den der mächtige Bischof auf den nopel. Die anfängliche breite Zustimmung, die er dort 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 406

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fand, begann jedoch bald zu bröckeln. Treu blieb ihm Frau Groß-Albenhausen breit ausgeführt. Dass trotz- das einfache Volk und dankte ihm seine Fürsorge. Da- dem noch nicht alles über die beiden Bischöfe geschrie- gegen stießen sich das Kaiserhaus und die Hofgesell- ben ist, wird man getrost sagen dürfen, wenn man einen schaft, der Klerus und die Mönche in der Stadt je länger, Blick auf die 18 Bände Johannes Chrysostomus in Mi- desto mehr an seinen asketischen Ansprüchen. Ambro- gnes Patrologia Graeca wirft und auf die über 20 Bände sius’ diplomatisches Geschick ging Johannes Chrysos to - Ambrosius in der jüngsten italienischen Gesamtausgabe. mus ab. Mit Recht verweist Frau Groß-Albenhausen im Wer das Thema der Verfasserin aufnimmt und fortführt, abschließenden Vergleich auf die unterschiedlichen Per- sollte zu seinem Nutzen zunächst ihr Buch studieren. sönlichkeiten und sieht hier den eigentlichen Grund, warum Johannes scheiterte. Er ist stärker zu gewichten Bonn Klaus Rosen als das unterschiedliche Verhältnis zwischen Staat und Kirche, das sich im Osten auf den ›Caesaropapismus‹, im Westen auf einen von ihr so genannten ›Episkocaesa - rismus‹ hinentwickelte. Man sollte allerdings auch nicht übersehen, dass die religiöse und politische Gemengelage Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Auf dem in der östlichen Hauptstadt schwieriger und verworrener Wege zum christlichen Imperium. Wiss. Buchgesell- war als in der zeitweiligen Residenzstadt Mailand. schaft, Darmstadt 2003. 280 Seiten. Da Ambrosius und Johannes Chrysostomus zu oft unkritische Verehrer gefunden haben, gibt sich Frau Das Buch gehört in die verdienstvollen Reihen, mit Groß-Albenhausen alle Mühe, deren Zahl nicht zu ver- denen – hier unter dem Sammeltitel »Gestalten der – größern. Dabei mag sie offensichtlich den Bischof aus Antike« (S. 7) – die Wissenschaftliche Buchgesellschaft dem Osten weniger als den aus dem Westen. Dem sich den Bemühungen anderer entsprechender Unter- ›Goldmund‹ bescheinigt sie einmal, dass er »kein einfa- nehmungen zugesellt, um die Antike gleichsam aufzuar- cher Zeitgenosse war« und dass sein Verhalten »Züge von beiten und so gut es geht in einer publikumswirksamen Fanatismus« trug (S. 154). Öfter sieht sie bei ihm Eifer- Weise einem allgemeinen Interessenverfall zu begegnen, sucht am Werk, und im Konflikt mit der Kaiserin Eu- der sich längst nicht mehr übersehen lässt. Nach den doxia, der zu seiner Verbannung führte, ging es ihm Gründen dieses Verfalls zu fragen ist hier nicht der Platz. »schlicht und ergreifend um verletzte Eitelkeit« (S. 195; Die Marktlücke indes, in die diese Reihen stoßen, er- 197). Danach wundert man sich, wieso ein Kenner wie weist sich um so gravierender, als Curricula und ein- Hans Lietzmann, dem man schwerlich Kritiklosigkeit schlägige Studienprogramme an Schulen wie Hochschu- nachsagen kann, zu einem ganz anderen Urteil kommen len die Antike zunehmend ausklammern, so dass der konnte: »J. ist gerade für modernes Empfinden wohl die wichtigste Abschnitt in der Genese des Abendlandes und erfreulichste Persönlichkeit unter allen griechischen Kir- alles, was zu diesem oder gar dem Europagedanken ge- chenvätern« (RE IX 1825 s.v. Ioannes). Für antikes hört, allzu schnell jetzt in Vergessenheit zu geraten droht. Empfinden hätte sich Lietzmann auf Theodosius II. be- Mit bloßen Lamentationen in der Tat ist es nicht mehr rufen können: 428 ließ der Kaiser den Leichnam des in getan. der Verbannung Gestorbenen nach Konstantinopel Dabei mag in diesem Falle die zwangsläufig verfolgte überführen, wo er von einer begeisterten Menge emp- populärwissenschaftliche Absicht von vornherein das fangen wurde. Öffentlich bat Theodosius den Toten um Biographische als ein ebenso plausibles wie wirksames Verzeihung für das, was ihm seine Eltern Arcadius und Medium bevorzugen: Die Gefahr wiederum besteht, Eudoxia angetan hatten (Theodoret, Historia ecclesias- dass gerade damit unvermeidliche Einbußen im Sachli- tica 5,36,1–2). chen, an Information zum allgemeinen Umfeld (rich- Gleichzeitig mit dem Buch von Frau Groß-Alben- tungweisend m.E. dafür nach wie vor die Monographie hausen erschien von Oliver O’Donovan und Joan Lock- von A. Lippold, Theodosius der Große und seine Zeit wood O’Donovan das umfangreiche Werk »From Ire- [München 1980]), an Hintergründen und den weiteren naeus to Grotius. A sourcebook in christian political Kriterien für ein wirkliches Gesamtbild leicht zu Simpli- thought 100–1625« (Grand Rapids, Michigan/Cam- fikation und Verharmlosung führen und so den ange- bridge, U.K. 1999). Den Abschnitt über Johannes Chry- deuteten Intentionen entgegenarbeiten. Der Verzicht auf sostomus leiteten die Herausgeber mit der Bemerkung vieles, was man gerne noch hätte oder für notwendig ein: »Es ist verlockend, Johannes Chrysostomus und hielte, um ein mehr als komplexes Spektrum von Tat - Ambrosius zu vergleichen, die östliche und die westliche sachen und Folgerungen noch besser zu verstehen, aber Gestalt eines Großen der Kirche in einer kaiserlichen ist unvermeidlich. In der vorliegenden Biographie nun Metropole, der nicht nur mit weltlichen, sondern auch suchen ein Anmerkungsteil, Glossar und ein umfangrei- mit rivalisierenden kirchlichen Kräften zu kämpfen ches Literaturverzeichnis solchen natürlichen Defiziten hatte, der zu kühner Konfrontation entschlossen war, abzuhelfen und zu verhindern, dass als eine Folge von all ohne jedoch über die Willfährigkeit erhaben zu sein, wie dem die Erkenntnisse zu sehr der Oberfläche verhaftet sie zum Hofleben gehört. Als große Redner mobilisier- bleiben. Leppin freilich ist sich sehr wohl bewusst, dass ten beide ihre Anhänger von der Kanzel ihrer Kirche mehr als ein Provisorium sein Buch nicht sein kann, und aus« (S. 89). Was hier kurz zusammengefasst wird, hat dies trotz der immanenten Argumentation, einer konse- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 407

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quenten Gedankenführung und einer Sprache, die in deshalb mit einer möglichen Rückkehr zum Ursprung ihrer Lebendigkeit der Darstellung die Lektüre zum Ver- 325 die besten Ansätze für einen Ausgleich bieten. So gnügen macht, sei es, dass es um die Schilderung von Er- wird die Verlautbarung des Theodosius bereits im Feb- eignissen oder Tatsachen geht oder um Reflexionen, die ruar 380 zur Präponderanz des niceanischen Glaubens, sich aus diesen ergeben. Das für Leppin Wesentliche ist fast ein Jahr noch vor der eigenen Taufe, als ein Pro- nicht zu verfehlen, die Konzeption klar und einleuch- gramm zu verstehen sein, dessen Verkündigung man tend und die Akzentuierung derart, dass selbst aus dem erwartete: Die Wiederholung 381 und danach das scheinbar sattsam Bekannten neue Perspektiven mühe- 2. Ökumenische Konzil bedeuten demgegenüber wohl los zu entwickeln wären. nur noch die gesetzliche Verankerung und zugleich die Das an sich Historische ist bekannt. Für den Kaiser, notwendige pragmatische Vertiefung. Von einer rigoro- der nach der Katastrophe von Adrianopel 378 zuerst sen Hektik des Kaisers in diesen Dingen lässt sich von da zum Magister Militum und bald nach ersten Siegen an nicht mehr reden. noch im gleichen Jahre im Januar 379 zum Augustus er- Leppin arbeitet dabei eindrucksvoll die Kriterien nannt (A. H. M. Jones/J. R. Martindale/J. Morris einer Integrationspolitik heraus, deren Details einander [Hrsg.], The prosopography of the later Roman Em- ergänzen, d. h. die einer allmählichen Homogenisierung, pire I [Cambridge 1971] 903 f.) und durch Gratian zum die sich verschiedener Ebenen bedient und zweifellos Herrscher über die östliche Imperiumshälfte bestimmt alle Schichten der Imperiumsbevölkerung – dies beson- wurde, zeichnet sich als die vordringliche Aufgabe die ders im Osten – betraf. Bewältigung der gotischen Frage ab. Innenpolitisch geht Zur viel erwähnten Stelle bei Gregor von siehe es um die Lösung der religiösen und kirchenpolitischen S. 67: Sie wird besonders für den Osten zutreffen, ob für und des Homoierproblems, d.h. um die Beendigung von das ganze Imperium, ist zu bezweifeln. Zwischen dem Gegensätzen durch eine Wiedervereinigung von immer Interesse aller Schichten an der christologischen Ausei- mehr divergierenden Haeresien. Beides gehört innerlich nandersetzung und der Aufhetzung zu Gewaltaktionen, mehr zusammen als auf den ersten Blick scheint. die geeignet waren, alle theologischen Diskussionen aus Die Chronologie der Ereignisse ist in der Überliefe- dem Ruder laufen zu lassen, besteht kein Widerspruch, rung allzu gedrängt. Nach Adrianopel (8. August 378) wie die Ereignisse in Ägypten 391 beweisen, und dies aus Spanien geholt und angereist, muss die Zeit militä- gilt auch noch für das 5. Jh. Auch die von ihm selbst rischer Bewährung für Theodosius zwangsläufig kurz gerühmten Erfolge eines Ambrosius sind weitgehend das gewesen sein. Ich halte eine Verwischung mit den Erfol- Ergebnis entsprechender Menschenführung. gen als dux Moesiae Primae 373 für denkbar. Für mög- Es bleibt zu fragen, wie weit einen Mann wie Theo- lich halte ich indes nach Pacatus, Paneg. 12,9,1, Th e o - dosius, den Sohn eines kurz zuvor hingerichteten ange- doret. 5,9,1–2 und Zonar. 13,17,5 ff. auch, dass Theo- sehenen Magister Militum, der in seiner Loyalität schon dosius sich nach der Hinrichtung seines Vaters schon aus deshalb naturgemäß kaum als vertrauenswürdig anzuse- Überwachungsgründen am Hofe aufhielt, was zu einer hen war, neben einem aktuellen allgemeinen Mangel an besseren Kenntnis innerhalb des Consistoriums führen militärischen Führungskräften für die Erledigung der er- und die Zeit des militärischen Einsatzes nach der Kata- wähnten, jetzt dringend anstehenden Aufgaben ein ge- strophe verlängern konnte. eignetes, sattsam bekanntes Naturell dem kaiserlichen Doch mit dem bloßen Kompromiss, wie immer man Consistorium empfahl. Auch möchte ich annehmen, die sich diesen vorstellt, war es nicht getan: Es bedurfte in vordringliche Konzentration auf das Grundsätzliche er- jedem Falle eines langen, behutsam begonnenen und kläre es nicht zuletzt auch, wenn sich unter ihm an der entsprechend fortgeführten Prozesses des Ausgleichs und innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Struktur allgemeiner Stabilisierung, um in einer Verbindung bei- des Imperiums wenig ändert, Anordnungen und erlas- der Bereiche miteinander die Ordnung eines neuen, sene Gesetze Neuerungen nur in Nuancen zu erbringen christlichen Imperiums zu schaffen, die gewachsen und scheinen. Dabei weist eine besonders auffallende Zahl nicht, wie unter Constantin, überstürzt zu errichten ver- von Wiederholungen und Modifikationen eher auf sucht, allein in eine gedeihliche Zukunft wies. Man Schwierigkeiten in der Ausführung hin, denen mit ver- mochte Kausalitäten deuten wie man wollte: Nachdem stärkter Energie nachzugehen angesichts anderer, wich- am Ende der constantinischen Ära das innere Gleichge- tigerer Aufgaben einfach die Intensität fehlte, was nicht wicht verloren gegangen war und hier die nachfolgende allein den Kaiser sondern die ganze Regierung betraf: Dynastie versagt hatte, durfte es, das lehrte die Erfah- Mit dem Erreichten ließ sich innerhalb der gegebenen rung, bloße Gewaltaktionen und allzu vordergründige Strukturen vorerst weiter leben. Für die Kirchenpolitik Simplizität des offiziellen Vorgehens nicht mehr geben. galt ähnliches, Gründe hierfür gab es viele, und hier wie Im übrigen hatte mit den christologischen Auseinander- dort scheint der wichtigste, rigorose Entscheidungen und setzungen des Jahrhunderts zugleich auch ein Zerfall Gewaltmaßnahmen zu vermeiden. Mit bloßem Lavieren zwischen Ost und West Gestalt gewonnen und dienten hat dies nichts zu tun: Eine nicht zu übersehende Härte unverkennbar bereits die einschlägigen Glaubensbe- etwa gegen Manichäer wie gegen Apostaten erklärt sich kenntnisse, besonders im Osten, nicht zuletzt der Arti- dabei wiederum als ein Politicum, die Behandlung der kulation einer sich vertiefenden Imperiumsaversion. Das Juden hingegen scheint bei aller traditionellen Aversion niceanische Bekenntnis des neuen Kaisers mochte schon gegen deren Lebensformen als wirklich feindselig nicht 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 408

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zu deuten, lag hier doch die Taufe als Alternative stets jedem Falle zugleich ein Politicum, so lässt sich eine In- im Bereich des Möglichen (siehe dazu jetzt besonders stitutionalisierung des Verhältnisses zwischen Staat und E. Dassmann, Ambrosius von Mailand. Leben und Kirche bzw. deren Vertretern wie auch der Umfang der Werk [Stuttgart 2004]186). Von hier aus wird es zu ver- Einwirkung aufeinander dennoch nicht eindeutig be- stehen sein, wenn die Behandlung von Heiden mehr an stimmen, sieht man von Synoden und Konzilien ab. In- Zeichen von Toleranz und Großzügigkeit an sich hat als tensität, Milde wie die Zurücknahme von Anordnungen die von Haeretikern und eher wohl ein Abwarten an- als Zeichen einer bewusst geübten Toleranz sind im ein- deutet: Der Mangel an qualifiziertem Personal bis in die zelnen schwer zu begründen, doch was sich dabei als obersten Spitzen von Heeresleitung und Staatsverwal- Schwäche zu erweisen scheint, muss hier wie dort einem tung kommt hinzu. Bei all dem mag die erzwungene Prinzip und pragmatischen Erwägungen dazu entspre- Buße des Kaisers in den Affären von Callinicum und chen, wobei man hinnahm, dass vieles an offiziellen Ver- danach von Thessaloniki diesen als ein Mitglied der lautbarungen dann den Charakter eines bloßen Pronun- christlichen Kirche betreffen. An seiner Stellung oder ciamentos gewann. Anderseits zeigen einzelne Gesetze, den politischen Konsequenzen änderst sich dadurch dass die allzu leicht ausartende Teilnahme unterer Schich- nichts: Dass er dem Bischof im Osten die Wiederher- ten der Bevölkerung wie der Mönche, dabei einer rigo- stellung einer Synagoge erließ, entsprach seinem persön- rosen Kontrolle unterlag. Zeugnisse über die kaiserliche lichen Willen, die Rolle eines Ambrosius bestand letzt- Reaktion zu den unkontrollierten Aktionen des Theo- lich doch nur in der Anregung. So ist von einer Reaktion philos in Alexandria nach 391 analog etwa zu den ersten des Theodosius auf die Exzesse in Alexandria nach 391 Anordnungen des Theodosius in Thessaloniki fehlen. nichts Erschöpfendes bekannt: Aber trotz dieses schein- Sie wären auf jeden Fall zu spät gekommen und hätten baren Triumphs des Theophilos mit Hilfe eines Massen- neue Schwierigkeiten erbracht. Was bei all dem freilich aufstandes gegen das Heidentum, an einer Ausrottung, in der Missionierungspolitik noch zu tun übrig blieb, ja übermäßigen Repressalien oder selbst einer endgülti- vorerst aber offenkundig vermieden wurde, zeigen noch gen Lösung der christologischen Fragen durch Theodo- im 6. Jh. in der Nähe der Hauptstadt die Nachrichten sius dort lassen die Ereignisse danach im 5. Jh. zweifeln, über die Tätigkeit des Johannes von . auch wenn sich die Auseinandersetzungen auf eine an- Allzu wenig auch wissen wir vom Umfang des noch dere Ebene verlagerten. vorhandenen heidnischen Substrates und dessen Anteil Unverkennbar war ein solches Programm allmähli- an der Imperiumsbevölkerung dieser Zeit. Doch auch cher und damit sicherer Integration auf ein Kalkül mit dies ist bezeichnend. In den höchsten Stellen des Impe- der Länge der Zeit und einen Gewöhnungsfaktor hin an- riums spielte die Frage nach dem Heidentum unter den gelegt: In seinen Rahmen gehörten eine Toleranz allen Amtsinhabern eine geringe Rolle, was sich mit Konzes- Verhaltens, Gewährenlassen einschließlich von Milde in sionen an deren barbarische Herkunft erklärte, die eine der Durchführung aller Anordnungen wie der Men- allmähliche Christianisierung mit der Zeit nicht aus- schenbehandlung im einzelnen, die Praxis von Ausnah- schloss: Bezüglich der Imperiumsbevölkerung ließ man men wie Modifikationen und die Anpassung an Gege- sich, wie angedeutet, Zeit bis zur Aufhebung von Hei- benheiten. Ich halte für denkbar, dass von hier aus auch ligtümern und entsprechenden Institutionen. Am Ende gelegentliche Gegensätze und Kontroversen mit Am bro- steht das Verbot von Kulten auch im privaten Bereich. Es sius resultierten (dazu Dassmann a. a. O. 59) und dass scheint, dass man allzu rigoroses Vorgehen für überflüs- dieser in der Perspektive nächster persönlicher Nähe ge- sig erachtete, erwies sich der Heidenbegriff doch als zu rade hier Gefahren, zumindest unnötige Verzögerungen vielschichtig und gerade in solcher Schwäche nicht zu- sah, die im Weltlichen wie im Religiösen die erhoffte letzt deshalb wohl als dankbares Objekt für die Missio- Entwicklung allzu leicht wieder durcheinander bringen nierung. Ein wirklich dezidiertes, konsequentes Anti- und insbesondere den Christianisierungsprozess über heidentum vermag ich über verbale Artikulation hinaus Gebühr aufhalten, zumindest beeinträchtigen konnten. denn auch nicht einmal bei Ambrosius zu erkennen. Zweifel bezüglich der Postulate der Herrschertradition, Die Außenpolitik des Theodosius wird aus einem der der Kaiser, obzwar Mitglied der christlichen Kirche, analogen Zusammenhang zu verstehen sein, mochten verpflichtet war, kann es für den Bischof freilich den- sich auch gerade zu dieser Vorbilder und Modelle aus noch gegeben haben, der Zwiespalt, der für ihn daraus früherer Zeit aufdrängen. Sie ist indes von einer zentra- erwuchs, beschäftigte ihn, den eigenen Zeugnissen be- len Bedeutung. Zwar gibt es für die Demographie des sonders in den Trauerreden auf Theodosius nach, sein Imperiums für diese Zeit ein erschöpfendes Bild nicht Leben lang. (eindrucksvoll dazu S. 45 ff.). Doch scheint ein Jahr- Die religiöse Integration betraf alle Teile der Imperi- hunderte hindurch anhaltender Entvölkerungsprozess umsbevölkerung. Die eigentlichen Kontrahenten und in beiden Imperiumshälften unverkennbar, der weder Gesprächspartner des Kaisers freilich waren, analog den durch die bekannten Sicherungsmethoden zur Ernäh- Verwaltungsbeamten und militärischen Befehlshabern, rung im Agrarischen noch durch den Ausbau sozialer eindeutig die Bischöfe, deren Funktionen überdies seit Hilfsmöglichkeiten etwa der christlichen Kirche seit Constantin ja eine für alle Ebenen gültige Verwicklung spätestens Constantin aufzuhalten war. So kam an der in die öffentlichen Angelegenheiten nicht ausschlossen. Intensivierung einer seit Augustus zur Tradition gewor- Sind die die Kirche betreffenden Gesetze demnach in denen Barbarenaufnahme als conditio sine qua non in 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 409

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entvölkerten Gebieten nach 378 Theodosius kaum vor- Min. 2,261); ConsConst. 386 (Chron. Min 1,243). Zur bei: Dass er dabei 382 die bekannten, längst entwickel- Barbareneingliederung siehe immer noch J. Straub, zu- ten Modalitäten benutzte, war selbstverständlich, die letzt in: Regeneratio Imperii I (Darmstadt 1972) 213ff., Quellen bieten an Zeugnissen gerade genug. Die Über- der den polyethnischen Charakter der Masse Aufge- lieferung freilich bedient sich zur Darstellung dieser Er- nommener betont. Zu deren Zerfall siehe besonders eignisse einer irreführenden Terminologie: Kann es sich Ambr.10,9; 20,12; Zos. hist. 4,25,2; Greg. Naz. epist. im vorliegenden Falle keineswegs mehr um Verträge 136 (PG 137,322); Chron. Min. 3,526; Joh. Ant. fr. (foedera) analog etwa zu dem Gotenvertrag von 332 ge- 190M; Eun. fr. 80M (dessen Verwendung des Foedera- handelt haben, zu denen die in einzelne Haufen ausei- ten begriffs besagt wenig fr. 47; 52, gleiches wird gelten nander fallende Gotenmasse ohne offensichtlich eigene für Hydatius ad 382 [Chron. Min. 2,15: ... pace se Führung als Kontrahent gar nicht mehr in der Lage war, tradent ...], Th e m . or. 16,199C: ... par◊dwke ...). Der so kommt für diese wohl nur die Dedition in Frage. mehrfach verwendete sÚmmacoj-Begriff bezieht sich Zur Geschichte des foederati-Begriffes siehe jetzt nicht auf den Rechtsstatus. Zur theodosianischen Zu- R. Scharf, Foederati. Von der völkerrechtlichen Kate- kunftsweisung siehe Liban. or. 30,5; Th e m . or. 16,211C; gorie zur byzantinischen Truppengattung (Wien 2001) 34,24; Synes. epist. 21; 25; Zos. hist. 4,20,5. – Zur bes. 21ff. Muss die deditio für alle in welcher Zahl und gotischen Sozialstruktur s. bes. E. A. Thompson, The unter welchen Umständen immer ins Imperium Auf- Visigoths in the time of Ulfila (Oxford 1966) passim, genommenen gegolten haben, so waren von vornherein bes. 43 ff. Unklar sind die Hintergründe für die Rolle des Absprachen und Bedingungen im einzelnen denkbar Alarich, von dem Balthengeschlecht ist mehr als der (dies möglicherweise nach dem traditionellen Rechts- Name kaum bekannt. Doch wäre möglich, dass er be- prinzip der deditio in fidem). An Modifikationen, für reits vor 394 unter den Angesiedelten von 382 unter beide Seiten günstig, müsste das Imperium denn beson- römischer Aufsicht eine herausgehobene Rolle spielte. ders 382 interessiert gewesen sein. Zur Begriffsverschie- An der Inszenierung von Aufständen indes zweifle ich, bung freilich danach siehe Jord. Get. 28,145. Zos. hist. 4,48 erwähnt ihn nicht, Claudians Andeu- Auch diese Begriffsverschiebung ist nicht neu: Sie tungen ergeben nichts an konkreten Nachrichten, vgl. müsste auf die Gewährung eines laetenartigen Status ab- Prosopography a. a. O. I 43 f. gezielt haben mit unterstützter Ansiedlung, geförderter Die Gewinnung eines neuen Bevölkerungssubstrates Bodenbebauung, möglicherweise unter Erbzwang, mit im Balkangebiet und an gefährdeter Grenze führte, Frei- weiterer Förderung, doch militärischem Einsatz nach willige ausgenommen, offensichtlich 386 dann zur Bedarf und, bei aller Abgrenzung von der Imperiums- Schonung des schwer dezimierten westgotischen Ele- bevölkerung, den Aussichten auf Integration für Ein- mentes. An seinem 394 am Frigidus praktizierten Ge- zelne und ihre Familien. Bereits früher, zwischen 332 nozid zweifle ich. Die unter dem Gotennamen von da und 376, übergetretene Elemente unter ähnlichen Be- an wieder aufgebrochene Masse ehemaliger Dediticier dingungen, als Einzelne oder ganze Gruppen, mochten verschiedenster Herkunft, Hunnen eingeschlossen, be- zum Teil zumindest ihre Karriere hinter sich haben und gegnet in der pseudostaatlichen Organisation eines Bar- stellten jetzt geeignetes Führungsmaterial bis in höchste barenstaates nun erstmals auf römischem Boden als Ränge, was neben Abbau von Restriktionen und Hei- neuartiger Kontrahent und Vertragspartner des Imperi- ratsverbot auch die Gewinnung von Bürgerrecht invol- ums, besonders nachdem Stilicho in schwer zu verste- vierte. Besondere Bedingungen mochten jetzt für die hender Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus, aber den- Mitglieder der Schicht der westgotischen log£dej gel- noch gemäß einer Vormundschaftsrolle, die ganz im ten, denen man schon aus personellen Gründen eine Sinne der theodosischen Maxime die bereits vorhande- Sonderrolle analog ihrem früheren sozialen Rang zuge- nen Gegensätze auszugleichen suchte, auf die Vernich- stand. tung Alarichs verzichtet hatte. Ein besonders drastisches Beispiel für entsprechende Als einen Grund für die weitere Entwicklung und zu- Möglichkeiten etwa wäre Magnentius mit seiner Kar- letzt die Gotenansiedlung im Westen nehme ich nicht riere (Prosopography a. a. O. I 532). Zu Promotus siehe zuletzt das Trauma von 376 und die bereits drohende all- S. 146, vgl. auch S. 158 zu Butherich und seinem goti- mähliche Herausbildung einer mehr und mehr sich zen- schen Verband. In entsprechenden Rahmen gehörten tralisierenden hunnischen Macht an der nördlichen wohl Gainas, Eriulf, Fravitta und auf der anderen Seite Grenze an. Das überlieferte ständige Hin und Her an die Familie von Bauto und Arbogast., siehe dazu bes. dieser Grenze und die allgemeine Labilität, die nach 382 Joh. Ant. fr. 137M, wonach selbst auf die Möglichkei- blieb, erkläre ich mir aus den nach wie vor anhaltenden ten entsprechender Dynastiebildung unter solchen Ele- bevölkerungspolitischen Absichten des Kaisers: Den zu- menten zu schließen wäre: Zu Eudoxia, der späteren kunftsweisenden Aspekt und das gewollt Modellhafte in Kaiserin, siehe Philostorg. 11, 6 ; Zos. hist. 5,3,2 und der Behandlung der Gotenfrage zeigt nicht zuletzt die allgemein Prosopography a. a. O. I 159 f. Zur deditio Consulatserhebung des Saturninus 383 (siehe dazu bes. 382 siehe Oros. hist. 7,34,7; Liban. or. 19,16: ... Dassmann a. a. O. 266 ff.). War es bei all dem mit despÒthn ... doÚlwn eÜnwn ...; Th e m . or. 16,209A: einem Barbarenhass im Sinne Ammians nicht mehr .... e∑ponto ... ¢nq' ≤kethr∂aj; Pacatus, Paneg. getan, so mochte wohl die erwähnte Barbarenaversion 12,22,7 ... servitum . . .; Marc. Com. ad 382 (Chron. auch eines Ambrosius nicht zuletzt auf dem Haeretiker- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 410

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tum dieser Neuankömmlinge beruhen. Demgegenüber wie einleuchtend in ihrer dynastischen Programmatik ließe sich die Heranziehung eines Ulfila (zu Palladius interpretiert) ließen sich dafür als Bestätigung verstehen, 380 siehe Dassmann a. a. O. 80) durch Theodosius ab für das Forum selbst gilt das gleiche. Die persönlichen 383 als erster Schritt für eine Gewinnung zum Nicea- Eigenheiten erscheinen bei all dem wohl als eine Voraus - num und demnach als ein Integrationsversuch verste- setzung für seine Art des Herrschens und bereits auch hen, der nicht zuletzt auch einem Abbruch der ambro- für seine Erhebung. Sie werden überdies in den Gesetzen sianischen Vorbehalte diente: Fanatisches Festhalten am und deren Formulierung im einzelnen indirekt noch bes- arianischen Glauben unter den neuen Dediticiern war ser sichtbar als in der historischen oder kirchenhistori- zweifellos nicht zu erwarten und intensive Missionierung schen Überlieferung, die naturgemäß einseitig bleibt, aussichtsreich. dies auch bei Ambrosius, oder aber in den erhaltenen Auch hier machte der vorzeitige Tod des Theodosius Reden eines Libanios oder Themistios: In ihnen allen viele Hoffnungen zunichte. Alles in allem wohl war in freilich verbindet sich das Postulat der filanqrwp∂a als den neunziger Jahren mit der erreichten dynastischen die persönliche Voraussetzung wie zugleich die Rechtfer- Geschlossenheit wenn nicht die Vollendung so doch eine t igung der christlichen Herrschaft mit einer römischen erfolgreiche Annäherung an die ins Auge gefassten Ziele Tradition, auch wenn es bei Lebzeiten nicht mehr dazu und eine bessere Effektivität der Imperiumspolitik in kam, dieser, wie von den Autoren erwartet, nunmehr den Bereichen zu erwarten, um die es bei der Ernennung angesichts veränderter Umstände wirklich bereits einen 379 gegangen war, und bestand die Hoffnung, von dem neuen Sinn zu geben. Die Verbindung von Hoffnungen Erreichten aus auch anderes in den Gesichtskreis seines und Realität gerade für Theodosius in solcher zeitgenös- verwirklichten Programmes einzubeziehen. Ungeklärte sischer Darstellung wäre ein dankbares Objekt für künf- Fragen in den Randzonen ließen sich als unwichtig tige Forschung (siehe dazu immer noch Straub a.a.O. sehen und auch von einem antiniceanischen Haeretiker- 195 ff.; 201 [bes. zu Th e m . or. 19,229B). Zu Variationen tum war großer Widerstand nicht mehr zu erwarten, der des Gedankens schon zuvor siehe S. 205). gefährliche politische Folgen nach sich zog. Die Dokumentation im Anmerkungsteil ist erschöp- So kann von einem stets einsatzbereiten, dem König fend. Sie mag, wie angedeutet, zu weiterer Beschäftigung loyalen Heer in Persien angesichts der dort herrschenden anregen. Ein Siglenverzeichnis wäre angesichts des zu feudalen Staatsstruktur keine Rede sein, wobei gerade erwartenden Leserkreises wohl angebracht, und gleiches um diese Zeit die Bedrohung des Reiches an anderer gilt für einen in sich geschlossenen Überblick über die Stelle eine Rolle spielte. Zudem hatten die anhaltenden benutzten zeitgenössischen Quellen. Kriege eines Sapor II. zweifellos zu einer Schwächung Bezüglich des Glossars gesteht Leppin kaum zu lö- geführt, die erst in den nächsten Generationen sich sende Aporien zu Interpretation und Übersetzung der aufholen ließ. Die Angriffe des folgenden Jahrhunderts Termini in andere Sprachen ein. Dies gilt insbesondere erklären sich demgegenüber eher aus der Schwäche für die christologische Auseinandersetzung bestimmen- Ostroms. der Gottesbegriffe und deren Inhalt. Zu lösen freilich ist Die Gegensätze im 5. Jh. haben andere Grundlagen. das Problem für Spätere erschöpfend kaum mehr: Ergab Es ist zu vermuten, dass, von hier aus gesehen, Theodo- doch überdies ein Mangel an Sprachkenntnissen bereits sius selbst in der Ausschaltung Valentinians II. eine Er- im 4. Jh. Fehldeutungen und damit eine Verständnis- leichterung empfand. Zu fragen, ob er nach 395 zu der losigkeit, die sich mit der Zeit vertiefte und schließlich notwendig gewordenen Rigorosität imstande gewesen zur Trennung zwischen dem Osten und dem Westen wäre, um die beiden Imperiumshälften zusammenzu- führten. Verwirrend indes scheint der Versuch einer halten, ist müßig, die neue, das Erreichte schnell zerstö- Scheidung zwischen Ómoioj und ÐmooÚsioj, (»ähnlich«, rende Kräftekonstellation ist erst die Folge seines allzu »wesensähnlich«, siehe dazu jetzt Dassmann a.a.O. frühen Todes. 61ff.): Eine Definition des homoiusianischen Glaubens Verstehen lassen sich solche Erwägungen freilich nur fehlt leider. Im Literaturverzeichnis hätte man sich noch unter Verzicht auf Spekulationen lediglich zu Mentalität gewünscht J. R. Palanque, Saint Ambroise et l’Empire und charakterlichen Eigenschaften des Kaisers als allein romain (Paris 1933); A. H. M. Jones, The decline of the bewegendem Faktor (siehe bes. S. 231ff.). Beides kann ancient world (London 1966) (in vielem dessen großes zu einer Erklärung nicht ausreichen. Es war genau ge- Werk ergänzend); R. Wenskus, Stammesbildung und nommen doch die pragmatische Anpassung an die Um- Verfassung² (Köln 1977) (auch wenn dort der Name stände, die bei Lebzeiten für ihn und für die Zeitgenos- Theodosius nicht aufscheint). Allgemein zur Barbaren- sen gezählt haben kann, von den Lehren abgesehen, die integration siehe jetzt den von W. Pohl besorgten Sam- sich aus den Erfahrungen der unmittelbaren Vorgänger melband »Kingdoms of the Empire« (Leiden 1997). ziehen ließen. Mit dem generellen Kultverbot (siehe Auch auf W. H a rt k e , Die Kinderkaiser (Berlin 1951), dazu Dassmann a. a. O. 239) von 392 und danach den lässt sich kaum verzichten. Wesentliches an behandelten Ergebnissen der Schlacht am Frigidus war eine Etappe Gedanken findet sich auch bereits bei Gibbon. erreicht, die dem Kaiser am Ende seines Lebens zu Zu- Bei der S. 65 erwähnten muss es sich um kunftshoffnungen Anlass bot. Die Zeugnisse von Selbst- Constantia II. (Tochter Constantius’ II., Gattin des darstellung (Münzen, Missorium S. 107 ff., Obelisk auf Gratian, gest. um 380, Prosopography a. a. O. I 221) dem Theodosiusforum, von Leppin ebenso sorgfältig handeln, nicht um die 354 in Bithynien verstorbene 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 411

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Tochter Constantins und Gattin des Gallus (zum Na - Römerstraßen-Kolloquium Bonn. Mat. Bodendenk- men freilich ebd. I 222), nach Amm. 21,1,5 bei Rom malpfl. Rheinland 16 (Pulheim Brauweiler o. J. [2005]) begraben: Von ihr verlautet danach nichts mehr. In Be- 215–224, kurz zusammen. gleitung des Honorius (S. 222) kann nicht mehr dessen Charakteristisch für die Walsersche Editionstätigkeit Mutter Aelia Flaccilla (gest. 386) gewesen sein. Der war das Abpausen der kaiserlichen Formulare auf trans- Rombesuch des Theodosius fällt in das Jahr 389 parente Folie, ein Verfahren, das sich für den späteren (S. 144), die Zahl 388 (S. 222) wäre danach zu korri- Druck als Vorlage bestens eignete (hierzu G. Walser, gieren. Die Reproduktion von Meilenstein-Inschriften. In: Acta fifth Internat. Congress Greek and Latin Epigraphy Bonn Gerhard Wirth Cambridge 1967 [Oxford 1971] 437–442). Mittels die- ses Verfahrens kann man den Inschriftentext von seinem runden Untergrund anschaulich in das CIL transferie- ren. Obwohl diese Kopiertechnik stark von der ›interpre- tierenden‹ Abzeichnung des jeweiligen Epigraphikers ab- Corpus Inscriptionum Latinarum XVII pars 4 fascicu- hängig ist, hat sie sich als Dokumentationsverfahren lus 1: Miliaria provinciarum Raetiae et Norici, edide- durchgesetzt und ist heute in allen gängigen Abhand- runt Anne Kolb, Gerold Walser †, Gerhard Wink- lungen über Meilensteine gebräuchlich. Auch der neue ler, edenda curaverunt Manfred G. Schmidt, CIL-Band XVII 4 Fasc. 1, der die Miliarien der Provin- Ulrike Jansen. Verlag Walter de Gruyter Berlin, 2005, zen Raetien und Noricum beinhaltet, baut auf dieser 122 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 2 Karten. Abzeichnungstechnik auf. Hatte Walser in CIL XVII 2 seinen Inschriftenlesungen lediglich eine Folienabzeich- Der hier anzuzeigende erste Faszikel von CIL XVII 4 nung oder bei verlorenen Exemplaren die ältere Dar- markiert die erfolgreiche Wiederaufnahme eines Editi- stellung aus CIL XII/XIII beigefügt, so ist der neue onsvorhabens, das in den ausgehenden fünfziger Jahren CIL-Faszikel hinsichtlich der Inschriftendokumentation von Gerold Walser ins Leben gerufen wurde. Geplant geradezu opulent ausgestattet: Neben zahlreichen Folien- war, unter der neu geschaffenen Reihenzählung XVII abzeichnungen bietet er eine Fülle von Fotografien, die alle Miliarien des Römischen Reiches zu sammeln, einer zur Verifizierung der jeweiligen Lesung gewinnbringend konkreten Reichsstraße zuzuordnen sowie unter Heran- herangezogen werden können. Die Nutzung dieser deut- ziehung der Informationen aus der Tabula Peutingeriana lich verbesserten Abbildungsmöglichkeiten stellt den und dem Itinerarium Antonini zu edieren. Personelle größtenqualitativenGewinn vonCILXVII4Fasc.1 Verstärkung erhielt Walser vor allem durch Thomas Pe- gegenüber XVII2 dar. Natürlich schlägt sich diese bild- káry, René Thomann, Ingemar König und Heinz technische Ausstattung auch im Umfang nieder. Benö- E. Herzig. Die meisten dieser Namen sind heute fest mit tigte Walser in CIL XVII2 für seine 676 Nummern 261 der Erforschung römischer Straßen unter epigraphisch- Seiten, so sind es in XVII 4 Fasc. 1 stattliche 120 Seiten althistorischen Gesichtspunkten verbunden. Neben dem bei 229 Meilensteinnummern. Die Behandlung eines engeren Mitarbeiterstab konnte Walser auch internatio- Steines umfasst bisweilen eine ganze Seite, da teilweise nal Epigraphiker wie beispielsweise Pierre Salama für zwei Fotos einer Inschrift mit der Folienabzeichnung, Nordafrika oder David F. French für Kleinasien gewin- einer umfassenden Kommentierung und reichhaltigen nen. Der solide Grundstein war gelegt. Literaturangaben kombiniert werden. Eher beiläufig Im Jahr 1986 erschien dann der von Walser maßgeb- dokumentieren die zahlreichen Abbildungen, inwieweit lich mit bearbeitete und redaktionell betreute erste Band in späterer Zeit Miliarien sekundär verwendet wurden der neuen CIL-Reihe: XVII 2. Dieser umfasste die (kannelierte Säulen, Heiligenhäuschen) oder ob die Miliarien der gallischen und der germanischen Provin- Steinsäule mit einem quaderförmigen Sockel bzw. einem zen, der Narbonensis sowie der angrenzenden kleineren angespitzten unteren Ende ausgestattet ist. Provinzen der Westalpen. Danach geriet das Editions- Der Auf bau des neuen Editionsbandes orientiert sich vorhaben ins Stocken. 1994 übernahm Anne Kolb in an der Struktur von CIL XVII 2. Einleitend findet sich Zusammenarbeit mit Walser die Koordination des Ge- ein conspectus miliariorum (S. IX–XVI; ältere Edition, samtprojekts, das sie seit 2000 als alleinige Kuratorin Fundort, Aufstellungsort, Kaiser, Zählpunkt usw.) sowie weiterführt. In ihrem Kolloquiumsbeitrag »Römische eine beachtliche Bibliographie (S. XVII–XXVII). Auch Meilensteine: Stand der Forschung und Probleme«. In: die Zusammenstellung des epigraphischen Materials er- R. Frei-Stolba (Hrsg.), Siedlung und Verkehr im Rö- folgt nach der aus CIL XVII 2 bekannten Struktur. mischen Reich. Römerstraßen zwischen Herrschafts- Nach Straßen geordnet leitet eine kurze Beschreibung in sicherung und Landschaftsprägung. Akten Koll. Bern die jeweilige Trasse ein, falls vorhanden werden die ent- 2001 (Bern u. a. 2004) 135–155, legte sie erstmalig sprechenden Angaben aus der Tabula Peutingeriana und einen Überblick über den Stand des Projekts sowie den dem Itinerarium Antonini herangezogen. Abgerundet Umfang des Materials vor. Einzelaspekte speziell zu CIL wird die Darstellung durch eine streckenspezifische XVII4 fasste sie in »Raetia, Noricum und Dalmatia: Bibliographie sowie eine Karte, die den jeweiligen Stre- Forschungen zu den römischen Straßen und Meilen- ckenverlauf veranschaulicht. Bei der Kommentierung steinen«. In: »Alle Wege führen nach Rom …«. Internat. der einzelnen Miliarien ist es äußerst hilfreich, dass kon- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 412

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sequent die Angaben aus L’Année Épigraphique zitiert direkten Bezug zur Straße haben, hätten ein Mehr an werden. Informationen in der Streckenbeschreibung bedeutet. Der erste Abschnitt mit den raetischen Meilensteinen Generell ist es positiv, dass Winkler in seinem Editions- basiert auf den Vorarbeiten Walsers, die dieser bereits in teil im Zuge jeder dieser Straßenbeschreibungen eine zwei vorangegangen kürzeren Arbeiten publiziert hatte: Übersicht der Miliarien nach Kaisern geordnet beigibt. Die römischen Straßen in der Schweiz 1. Die Meilen- Einen Abschluss findet der Band in zwei farbigen steine. Itinera Romana 1 (Bern 1967); Die römischen Karten, die jeweils das raetische und norische Straßen- Straßen und Meilensteine in Raetien. Kleine Schr. Kennt- netz anhand der Miliarien, der Tabula Peutingeriana und nis röm. Besetzungsgesch. Südwestdeutschlands 29 = Iti- des Itinerarium Antonini wiedergeben. Ein Desiderat ist nera Romana 4 (Stuttgart 1983). Unterstützt wurde das Register, welches wohl erst im letzten Faszikel von Walser bei diesen Arbeiten durch Max Imhof, auf den CIL XVII 4 zu erwarten ist. So wird man sich bis zum unter anderem zahlreiche Inschriftenabzeichnungen zu- Abschluss des CIL XVII 4 mit den Angaben aus dem rückgehen. Hierauf auf bauend hat Kolb seit der Mitte conspectus miliariorum und den Konkordanzen auf der neunziger Jahre die Miliarien Raetiens nochmals ein- S. 121 f. (CIL III – XVII; AE – CIL XVII; ILS – CIL gehend aufgearbeitet und um die Neufunde ergänzt. XVII; ILLPRON – CIL XVII) begnügen müssen. Insgesamt umfasst dieser erste Abschnitt 73 Nummern. Insgesamt zeigt dieser gelungene Faszikel, dass das Ein Vergleich der Lesungen bei Walser in seiner Publi- von Gerold Walser einmal mit großem Elan begonnene kation von 1983 mit der Version im CIL belegt an- Editionsprojekt nicht wie viele andere internationale schaulich, wie intensiv Kolb sich des Materials ange- Vorhaben gleichen Umfangs nach einigen Jahrzehnten nommen hat. Exemplarisch sei nur auf die Nr. 16 in der eingeschlafen ist, sondern unter der Leitung von Anne Walserausgabe von 1983 im Vergleich zu CIL XVII4, 7 Kolb erfolgreich reaktiviert werden konnte. Erfreulich ist oder auf Walser-Nr. 47 und CIL XVII 4, 54 verwiesen. auch, dass sich trotz der guten Ausstattung der Preis – Gerade im zweiten Fall zeigt sich, wie hilfreich eine für CIL-Verhältnisse – auf einem angenehmen Niveau zusätzliche Fotografie ist. Erfreulich ist in diesem Zu- befindet. Die Renaissance des CIL-XVII-Projekts ist sammenhang, dass die Überarbeitungsschritte in den geglückt! Folienabzeichnungen auch mit Namen dokumentiert sind. Etwas eingehender soll hier der berühmte Claudi- Bonn Michael Rathmann usstein von Rabland (CIL XVII4, 1 = V 8003) kom- mentiert werden. Kolb weist dieses Exemplar in Über- einstimmung mit der Forschung der Provinz Raetien zu. Diese Ansicht scheint mir mittlerweile keineswegs mehr völlig sicher. Die Textaussage der Inschrift (vgl. auch Yann Le Bohec, Inscriptions de la cité des Lingons. CIL V 8002 = ILS 208) ist aufgrund ihrer politischen Inscriptions sur pierre, Inscriptiones Latinae Galliae Botschaft klar auf die oberitalischen Zeitgenossen des Belgicae: 1. Lingones. Comité des travaux historique et Jahres 46 ausgerichtet. Diese Annahme wird auch durch scientifique: Mémoire de la section d’archéologie et de Strab. 4,6,6 p. 204 gestützt. Demnach spricht einiges l’histoire de l’art 17, Paris 2003, 368 Seiten, 297 Abbil- dafür, dass der Fundort, der vermutlich dem Aufstel- dungen. lungsort in etwa entsprochen haben wird, den Grenz- punkt der italischen Regio X zum benachbarten Raetien Seit der Publikation des Corpus Inscriptionum Latinarum markierte. vor einhundert Jahren gibt es nicht nur zahllose Neu- Der umfangreichere zweite Abschnitt des CIL-Ban- funde, sondern auch eine fortdauernde Neuinterpre- des mit 156 Steinen wurde von Gerhard Winkler bear- tation des epigraphischen Befundes. Yann Le Bohec beitet. Dieser hat seit Anfang der siebziger Jahre die schließt mit seiner Inschriftensammlung eine wichtige Meilensteine in Noricum aufgenommen und sich seit- Lücke in der Neuedition lateinischer Inschriften aus Gal- dem in zahlreichen kleineren Studien zu einzelnen ein- lien, die bereits durch die Inscriptions latines de Narbon- schlägigen Problemen geäußert. Wie Walser legte auch naise (ILN) und Inscriptions latines d’Aquitaine (ILA) in er die Miliarien seines Untersuchungsraumes bereits in den letzten Jahren sehr weit vorangeschritten ist. Dieser einer kleineren Arbeit vor: Die römischen Straßen in Band über die Lingonen soll den Auftakt bilden, die la- Noricum – Österreich. Schr. Limesmus. Aalen 35 = Iti- teinischen Inschriften der Provinz Belgica, dem Beispiel nera Romana 6 (Stuttgart 1985). Jedoch fehlten hier vor von ILA und ILN folgend, civitas für civitas zu publizie- allem die einzelnen Meilensteininschriften. Speziell bei ren, obwohl gerade die Zuordnung der Lingonen zur seiner Einleitung zur Route XV Via ab Aquileia Agun- Belgica nicht unumstritten ist, denn sie gehörten lange tum et in Raetiam, die über den Plöckenpass führt, wäre Zeit zur Germania Superior, während Strabo sie sogar in es wünschenswert gewesen, wenn Winkler aus seiner die Lugdunensis verpflanzt. Aus dieser Region um Dijon 1985-Publikation die Detailkarte des Passes (ebd. S. 41) und das caput civitatis Langres stellt Le Bohec mehr als der Übersichtskarte der Reichsstraße im CIL-Band auf 600 Inschriften in diesem 368 Seiten starken Band vor; S. 86 hinzugefügt hätte. Auch die Texte der Inschriften die bisher letzte, sehr komprimierte Zusammenstellung, (CIL V 1862 = ILS 5885; CIL V 1863 = ILS 5886; CIL ist das Werk von P. Drioux, Les Lingons, aus dem Jahr V 1864), die sich an diesem Pass befinden und einen 1934. Welch enorme Arbeit in der Realisierung dieser 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 413

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Neuedition steckt, zeigt sich allein schon daran, dass Le wenig zu erkennen ist: Oft ist die besprochene Inschrift Bohec persönlich weit über 300 Inschriften vor Ort stu- sehr klein im Hintergrund abgebildet (z.B. auf den Ab- diert und viele davon auch fotografiert hat. Lesung und bildungen zu Nr. 48, 73, 89, 134 usw.). Doch wenn Interpretation der vielen fragmentierten und kaum ent- auf einem Photo nichts erkennbar ist, wie auf dem von zifferbaren Inschriften stellt jeden Epigraphiker vor eine Inschrift Nr. 144, hätte eine aktuelle Zeichnung oder ein ganz besondere Herausforderung. Abklatsch Abhilfe geleistet. Viele Abbildungen sind Um ein Gesamtbild über eine römische civitas zu unterhalb des Inschriftenfeldes abgeschnitten, so dass erhalten, wäre es ein Desiderat einer Inschriftensamm- man die von Le Bohec beschriebenen Darstellungen lung, alle lateinischen Inschriften, auch jene auf anderen nicht sehen kann (z. B. Nr. 2; 5; 18; 82; 83; 147). Einige Materialien (Keramik, Bronze usw.), aufzunehmen, auch Photos sind undeutlich (z. B. Nr. 6; 74; 110; 153), andere wenn sie das Thema von Spezialcorpora sind (z. B. Mei- überbelichtet (z. B. Nr. 55; 112; 134). Teilweise werden lensteine in CIL XVII). Da sich Le Bohec ausschließlich auch Zeichnungen aus alten Manuskripten abgebildet – auf die lateinischen Steininschriften der Prinzipatszeit oft unsere einzige Quelle bei verschollenen und zerstör- (1.–3. Jh.) beschränkt, fehlen selbst die Inschrif ten aus ten Inschriften. Aber warum wird eine überholte Zeich- der Zeit ab Diokletian bzw. frühchristliche Inschriften. nung abgedruckt, wenn der Autor den Stein selbst gese- Eine Auswahl einiger dieser für die Geschichte der Lin- hen und die Lesung erheblich korrigiert hat (Nr. 556)? gonen wichtigen Inschriften wird dem Leser im Anhang Die Karten sind nützlich, aber zu schematisch, und es immerhin in Kurzform zur Verfügung gestellt, doch gibt mangelt ihnen an Qualität (Abb. 3–4; 19 bis; 90; 104; es meist außer dem Inschriftentext und einem Hinweis 120; 148). auf Standardliteratur keine weiteren Informationen. Die In den 626 Einträgen finden sich eine Reihe von Un- Anhänge behandeln die Falsae (F1–F10), die Inschriften genauigkeiten, die den Benutzer dieses Bandes irritieren. auf Metall (M1–M26), eine unkommentierte Auswahl So nennt Le Bohec nur unregelmäßig den Fundort, die an Graffiti auf Ziegeln aus dem militärischen Kontext Fundumstände, das Jahr der Auffindung oder den aktu- (D1–D15) und Meilensteine (B1–B9). Anhang V gibt ellen Aufbewahrungsort (z.B. Nr. 10; 25; 26; 28f.). Da das »Testament du Lingon« im Originaltext mit franzö- es in diesen Fällen auch keinen Hinweis »perdue« gibt, sischer Übersetzung wieder, wobei auf eine Würdigung kann man nur vermuten, dass die Inschriften nicht mehr des Textes und einen kritischen Kommentar zugunsten existieren; laut CIL waren einige wohl schon vor 100 eines Hinweises auf Le Bohecs Konferenzakten von Jahren verschollen. Ebenso unregelmäßig sind Angaben 1990 zum gleichen Thema verzichtet wird (neuere Pub- zur Größe der Inschrift bzw. des Inschriftenfeldes. Dazu likation von U. Egelhaaf-Gaiser, Tr ä g e r u n d Tr a n s - kommen fehlerhafte Maßangaben, wie im Fall der In- portwege von Religion am Beispiel des Totenkultes. In: schrift Nr. 78 mit 0,4 cm großen Buchstaben auf einer W. Spickermann (Hrsg.), Religion in den germani- 40 cm hohen Inschrift. Auch der Satz ist unsauber gear- schen Provinzen Roms [Tübingen 2001] 225–257). beitet, insbesondere bei den Minuskeltranskriptionen Das Buch beginnt mit einer relativ knappen Einlei- (z.B. Nr. 33; 34; 36; 67; 72; 73; 154). Unkonventionell tung (9–30), in welcher der Autor über die Geschichte erscheint die Übersetzung von libens merito als »de bon der Lingonen und der Provinzgrenzen ebenso berichtet gré, de bon cœur« statt dem üblichen »de bon gré et à wie über die Datierungskriterien von Inschriften (s. u.) juste titre« bzw. »volontiers et à juste titre«. Auch der Er- und die Formen der Grabdenkmäler (20–23), gefolgt haltungszustand der Inschriften wird nicht immer be- von einer knappen Auswertung der Inschriften und ihrer schrieben und lässt sich in den Fällen ohne dazugehörige Aussagefähigkeit über die civitas der Lingonen (25–27). Abbildung auch anhand der Transkriptionen nicht ein- Auf den folgenden 300 Seiten finden wir den eigent- deutig erkennen. So ist z. B. die rechte Hälfte der In- lichen Inschriften-Katalog. Die einzelnen Einträge beste - schrift Nr. 211 nicht erhalten, wie schon dem CIL deut- hen sowohl aus einer (ungewohnten) Majuskel- als auch lich zu entnehmen ist, während die Majuskelumschrift der üblichen Minuskeltranskription, gefolgt von einer Le Bohecs eine vollständig erhaltene Inschrift vermuten französischen Übersetzung, Foto, Fundumständen, Auf- lässt; ebenso verhält es sich bei Inschrift Nr. 300. bewahrungsorten, Dimensionen, Publikationsorten und Die Majuskeltranskriptionen sollen gemeinhin die einem größtenteils onomastische Probleme behandeln- Lesung einer Inschrift wiedergeben. In unserem Fall fol- den Kommentar sowie einem Hinweis auf die Datie- gen sie nicht den gewohnten Schemata (wie kürzlich in rung. Nicht nur, dass die Anordnung ungewohnt ist, es ILN 5, Vienne, angewandt): Man hätte eine Darstellung werden auch grundsätzliche Informationen nur unregel- von Interpunktionen, hederae, ungewöhnlichen Buchsta- mäßig gegeben, was den Leser dazu zwingt zu recher- ben und Ligaturen erwartet (Ligaturen werden zumin- chieren, ob z. B. ein Stein verschollen oder zerstört ist, dest im Kommentar vermerkt). Unterpunktete Buchsta- wenn die betreffende Information fehlt. ben zur Markierung von schlecht entzifferbaren Lettern Der relativ günstige Preis von 3 39 hat sich wohl in bzw. Kreuze für nicht lesbare Buchstaben gehören zur der Qualität der Präsentation niedergeschlagen, woran bekannten Konvention und hätten in diesem Band ei- der Verlag sicherlich eine Teilschuld hat. Am deutlichs- nige Unklarheiten vermeiden können. Bruchstellen wer- ten merkt man das bei den Abbildungen. Da es nur für den in der Majuskeltranskription nur ungenau markiert. die Hälfte aller Inschriften eine Abbildung gibt, ist es Ihre Länge ist nicht erkennbar, da prinzipiell drei Punkte um so bedauernswerter, dass auf vielen Photos nur für jede Lücke benutzt werden, in der mehr als ein Buch- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 414

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stabe ausgefallen ist. Manchmal fehlt jeder Hinweis auf Opimi(an)us (man hätte dann Opim(ian)us erwartet), eine Bruchstelle im Text. Folglich lassen sich auch die Er- während durchaus überzeugende alternative Auflösun- gänzungen des Autors nur schlecht überprüfen. Wieder- gen, wie [Tr]op(h)imus, nur am Rande erwähnt werden holt finden sich Leerzeichen zwischen den Buchstaben – (Nr. 131 Z. 2). manchmal abweichend von der CIL-Lesung und alten Bruchstellen werden in den Umschriften nur sehr un- Manuskripten, doch es ist nicht eindeutig, ob es sich hier genau wiedergegeben und manchmal überhaupt nicht um leere Stellen auf dem Stein handelt, wozu die Be- (z.B. nur auf der Minuskelumschrift von Nr. 284). Es zeichnung vacat in einigen Fällen für das Verständnis der gibt Fälle, in denen die Bruchstellen in der Minuskelin- anschließenden Auflösung nützlich gewesen wäre. schrift verschwunden sind: So wird aus [.]ASC[…]- Die Funktion der Majuskelumschrift wird nicht klar. CELL ein [M]asc(ellio) Cell(i filius), statt wie erwartet Nehmen wir z.B. Inschrift Nr. 77: Le Bohec hat die In- [M]asc[ellio] Cell(i filius) (Nr. 122). Auf der anderen schrift gesehen und bietet uns ein Foto. Man würde er- Seite finden sich Ergänzungen, obwohl in der Majuskel- warten, dass die Majuskelumschrift seine Lesung wieder- version keine Lücke erkennbar ist, wie im Fall von gibt. In Z. 4 lesen wir VLLI, welches in der Minuskel- MATRA, das nicht zu Matra(bus) wird, wie im CIL, umschrift überraschenderweise zu [I]uliae wird, was sondern zu M(a)tra[bus], obwohl das erste A deutlich eine Lesung [-]VLLIAE voraussetzen würde. Dagegen auf Zeichnung und Majuskelumschrift erkennbar ist zeigt das Foto, dass VLIAE zu lesen ist (also [I]uliae in (Nr. 341). der Minuskel). Wie soll sich der Leser die Majuskelum- Wegen der Abweichungen in den Umschriften hat schrift erklären? Die bekannten diakritischen Zeichen der Benutzer dieses Inschriftenbandes keine Gewähr für des Leidener Klammersystem werden auch bei den die angegebenen Lesungen. In der Inschrift Nr. 210, Minus keltranskriptionen nicht konsequent angewandt, Z. 2 GRATEO ist auf einmal ein e mehr vorhanden: vor allem die konventionellen Klammern, um das Ein- Grat(a)e e[t]. Und die Lesung von Nr. 382, Z. 2 CLMES fügen, Auslassen bzw. Korrigieren einzelner Buchstaben wird nicht zu Cl(e)me(n)s, sondern zu Cleme(n)s ergänzt, zu markieren. was nicht auf der angegebenen Majuskelumschrift des Man erwartet, dass Majuskel- und Minuskeltran- Autors basiert, sondern eher auf der alten CIL-Lesung skriptionen auf der gleichen Lesung beruhen. Statt CLEME[NS]. dessen finden sich völlig unterschiedliche Lesungen mit Viele der vorgeschlagenen Änderungen sind nicht neuen Buchstaben, während andere Buchstaben und ganz unbedenklich und lassen sich nicht immer nach- Textstellen kommentarlos verschwinden. Der Leser vollziehen. So werden die beiden Buchstaben RO von Le kann mit drei verschiedenen Versionen konfrontiert wer- Bohec als Fehler des Steinmetzen angesehen, der den. In Nr. 387 wird z.B. in den Zeilen 3–4 aus einem RO GABA|LVS zu Gaba]|lus macht, also einem IIII MV | MVILVRO der Zeichnung ein IIIIMV | Personennamen Gabalus, obwohl der Verfasser Lam- MAIL VRO in der Majuskeltranskription, und schließ- berts Vorschlag eines keltischen Personennamens, Roca- lich werden in der Minuskelversion zehn der Buchsta- balus, zwar zitiert, aber nicht berücksichtigt (Nr. 211 ben, die man nicht auflösen konnte, einfach unterschla- Z. 2–3). Ebenso scheint es gewagt anzunehmen, dass gen: […] | Uro (während auf die Lesung von Drioux, MILE als Abkürzung für den relativ seltenen Personen- V[e]ro, nicht eingegangen wird). So wie in diesem Fall namen Mile(uitana) steht (Nr. 408 Z. 2). In Nr. 163 kommt es auch immer wieder vor, dass nicht erklärbare Z. 4 wird aus dem FRVV der Majuskelversion ein Buchstaben ausgelassen werden (z. B. Nr. 358). [se]ruu(s?); die ältere Lesung TRVV findet aber Unter- Einige Diskrepanzen lassen sich dadurch erklären, stützung von Lambert, der in Tr u u eine Spätform von dass die Lesung auf der Majuskelumschrift korrigiert Tro u go s sieht; TRVV könnte man natürlich auch zu wurde. So wird FIAE zu [p]iae. Erwartet hätte man ein pa]truu(s) ergänzen. unterpunktetes P in der Majuskelumschrift bzw. falls der Wie schon erwähnt, werden alternative Lesungen nur Steinmetz wirklich ein F geschrieben hat, hätte man ziemlich sporadisch und nicht Zeile für Zeile angegeben. diese Korrektur mit den üblichen halben eckigen Klam- Man kann schlecht nachvollziehen, wie der Verfasser zu mern markieren sollen. Ähnlich z. B. die Inschrift Nr. seiner Lesung, Umschrift und Interpretation kommt. 276, die Le Bohec selbst gesehen und fotografiert hat: In Wichtige Parallelen aus anderen lateinischen Inschriften Z. 5 liest er IVNA, was in seiner Minuskeltranskription aus dem Römischen Reich werden nur selten zitiert. Der zu Luna(ris) wird, womit er der alten CIL Lesung LVNA Kommentar beschränkt sich meist auf Hinweise zu Göt- folgt, also müsste sein I wohl ein (unterpunktetes) L sein ter- und Personennamen, allerdings mehr in Form eines (Nr. 276). relativ unkritischen Aufzählens von Sekundärliteratur. Neben diesen Beispielen, in denen es wohl um Interessanterweise werden lateinische Formen von Perso- schlecht lesbare Buchstaben geht, finden sich aber auch nennamen bevorzugt, auch wenn es überzeugendere kel- andere Fälle, in denen die Minuskelinschrift Änderun- tische Personennamen gibt. Ein großes Lob gebührt an gen aufweist. Zum Beispiel hätte ein m(o)n(u)m(en)- dieser Stelle P.-Y. Lambert, der sich wohl den gesamten t(um?) die Lesung MNMT vorausgesetzt, nicht die an- Befund angeschaut hat und dessen Kommentare von Le gegebene Lesung MAINT (Nr. 64 Z. 1). Und auch im Bohec zu vielen Inschriften wörtlich zitiert werden. Da- folgenden Fall werden, wie so oft, die Klammern falsch raus entstehen wichtige Hinweise, die die Interpretation gesetzt: So wird OPIMVS zu dem seltenen cognomen dieser Inschriften nachhaltig verbessern könnten, aber 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 415

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leider nur selten aufgegriffen wurden, wie z. B. Mo(nu- fast nie erwähnt, statt dessen beschränkt sich der Autor mentum) Rimanus, während Lamberts Personenname größtenteils auf das Vorhandensein von formulae, wie Morimanus überzeugender erscheint (Nr. 141 Z. 1–4). Dis Manibus, memoriae, Augustus, usw. (17–18). Doch Einige mögliche keltischen Personennamen werden selbst die zu diesem Zweck von ihm oft zitierte Marie- sogar latinisiert, während auf die für die Region typi- Thérèse Raepsaet-Charlier ist überrascht zu lesen, dass schen lateinischen Namen bzw. die noms d’assonance das Epitheton Augustus/a als Datierungskriterium die- nicht eingegangen wird. nen kann (z. B. Nr. 62) oder das VSLM nur im 2. Jh. Erklärungen zum Inhalt einer Inschrift, wenn vor- n. Chr. (evtl. frühes 3. Jh.) benutzt werde (18) (siehe handen, sind meist oberflächlich. Auch die interne Logik dazu ihre Rezension in L’Antiquité Classique 73, 2004, ist nicht immer verständlich: So wird Mercurius einmal 500–503). Es ist nicht weniger problematisch, wenn als keltisch beschrieben, da er zusammen mit Rosmerta völlig rekonstruierte Textstellen, wie z. B. ein [D(iis) verehrt wird (S. 178 Nr. 299), während in einem ana- M(anibus) et mem(oriae)] in Nr. 64, als Datierungskrite- logen Fall nur von »la tradition romaine« die Rede ist, rium benutzt werden. obwohl auch dort Mercurius zusammen mit Rosmerta verehrt wird (Nr. 345). Interessant auch der Absatz über Zusammenfassend muss man die große Arbeit, die Mercurius als Erklärung zu einer Grabinschrift, in wel- hinter dieser Inschriftensammlung steht, anerkennen. cher der Gott überhaupt nicht erwähnt wird (S. 211 Nr. Wie die kleine Auswahl an Unstimmigkeiten zeigt, wäre 368). Die kategorischen Einteilungen des Verfassers in eine überarbeitete Neuedition dieses Bandes wünschens- ›römisch‹ und ›keltisch‹ sind ebenso problematisch wie wert – oder wir müssen hoffen, dass die lange erwartete Aussagen, beispielsweise » ›le syncrétisme d’accumula- Neuauflage des CIL-XIII-Bandes für die Germania tion‹, qui mêle le culte impérial, Epona, les Mairae et le Superior, in dem die Inschriften der Lingonen behandelt Génie du lieu« (S. 151 Nr. 240). werden, endlich erscheint! Sehr zweifelhaft sind die Datierungskriterien: Stil, Buchstabenform oder archäologische Kriterien werden Osnabrück Ralph Häußler

KLASSISCHE ARCHÄOLOGIE

Jakob Munk Højte (Hrsg.), Images of Ancestors. sind und welche Merkmale ihn als Ahnen charakteri- Aarhus Studies in Mediterranean Antiquity 5. Aarhus sieren sowie welche Definition dann dieser Rolle von University Press, Gylling 2002. 255 S., ca. 124 Textab- den Hinterbliebenen zugewiesen wird, kommen die Au- bildungen, 2 Tabellen. toren zu deutlich verschiedenen Ergebnissen. Doch sei zunächst einiges referiert: Der vorzulegende Band enthält elf Beiträge, die anläss- In Fortführung der Argumentation ihrer 1995 er- lich des fünfzigsten Jahrestages des Archäologischen In- schienenen Dissertation weist C. Antonaccio anhand stituts der Universität Aarhus im August 1999 auf einem von bereits zum Zeitpunkt der Niederlegung altertüm- dreitägigen Kongress von Altertumswissenschaftlern lichen Objekten in den eisenzeitlichen Gräbern von Lef- verschiedener Disziplinen zum Thema vorgetragen wor- kandi an der Gemarkung Toumba ein Bewusstsein für den sind. Wie der Herausgeber in seiner kurzen Einlei- Zeit und Raum nach, das offenbar seit der frühen Bron- tung darstellt, wurde weder eine engere Definition des zezeit bestand. Indem sie dem konkreten Befund die Ge- Begriffs ›Ahnenbilder‹ noch eine zeitliche oder regionale pflogenheiten des zeitgleichen Warenaustausches gegen- Eingrenzung des Phänomens vorweg bestimmt. Das Er- überstellt, der ausschließlich aktuellen Produkten gilt, gebnis ist folgerichtig ein vielschichtiger Band, der die zeigt sie auf, dass der vorgestellte Befund der bewussten bildliche Überlieferung sehr unterschiedlicher Aspekte Rekonstruktion einer scheinbaren kulturellen Kontinui- von Darstellungen Verstorbener anhand von chronolo- tät seit der Bronzezeit dient. Gesteuert wird dieser Pro- gisch aufgeführten Beispielen seit der frühen Eisenzeit zess ihrer Meinung nach von den sog. ›warrior-tradern‹ Griechenlands über das vorrömische Etrurien bis hin die damit zunächst als Grabherren bewusst an ältere zur römischen Ehrenstatue vereint. Traditionen anknüpfen. In der Folgezeit dienen die von Die Tatsache, dass neun der elf Beiträge sich auf Bei- Antonaccio aufgeführten Kontexte als Ort für Feste der spiele der Grabkunst beziehen, zeigt, dass es in diesem lokalen Gemeinschaft, die an den Gräbern der nun als funktionalen Kontext am ehesten gelingt, ein Bild als Heroen gefeierten Verstorbenen die eigene Identität als Darstellung eines Verstorbenen oder Handlungen zu sei- Gruppe definiert und festigt. nen Ehren zu erkennen. In der Beurteilung jedoch, wel- Der Beitrag K. Jeppesens legt in Verkürzung seiner che Qualitäten des Verstorbenen dabei von Bedeutung bereits anderswo publizierten Argumentation nahe, dass 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 416

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die Statuen der Kolonnadenzone am Grabmahl des ka- ihres Münzporträts sensibel auf Veränderungen der ak- rischen Fürsten Maussollos auf der Nordseite dessen tuellen politischen Situation reagieren. Anhand dessen, Vorfahren von Seiten der Hekatomniden darstellen, im welche physiognomischen Motive welcher Vorgänger die Süden hingegen dessen Verwandtschaft von Seiten der Herrscher sich selbst im Porträt zeitweise aneignen oder Lygdamiden zeigen. Demzufolge würde diese ideale eben nicht für ihre eigene Münzprägung übernehmen, Ahnengalerie der genealogischen Legitimation des Dy- zeigt Fleischer die bewusste politische Anknüpfung an nasten dienen, wäre somit eine programmatische Ins- bestimmte politische Traditionen auf. Ob zur Erstellung zenierung spätklassischen Herrschaftsanspruches. dieser manipulierten Porträts auf tatsächliche oder fik- In eine ähnliche Richtung weist der Artikel von B. Ja- tive Ahnen zurückgegriffen wird, ist viel mehr Frage der cobs, der eine vergleichbare Ahnengalerie für das Grab- unmittelbaren politischen Aussageabsicht als der tat- mal des Antiochos I. von Kommagene auf dem Nemrud sächlichen Verwandtschaftsbeziehungen, so dass ebenso Dağı vorstellt: Als größte in sich geschlossene Gruppe auf mythische Vorbilder zurückgegriffen werden kann. der Skulpturenausstattung des Monumentes reihen sich Diesen Beispielen aus dem griechischen Kulturraum entlang der Außenränder der Terrassen Stelen, die Ver- schließen sich zwei Beiträge an, die den etruskischen wandte des Königs väterlicher- und mütterlicherseits Traditionen gelten: Der Artikel von M. Nielsen konzen- darstellen. Vor den Reliefs der zum Zeitpunkt der Auf- triert sich dabei auf die Frage, welche Rolle genealogi- stellung bereits verstorbenen Vorfahren befinden sich sche Erinnerung für die Etrusker einnahm und welche einheitlich gestaltete kleine Altäre, die auf eine kultische Bedeutung den Familiengrabstätten innerhalb dieser Er- Verehrung dieser Ahnen hinweisen; die Altäre fehlen vor innerungskultur zufiel. Da die Außengestaltung der den Darstellungen der noch lebenden Familienmitglie- meisten der von ihr untersuchten Grabbauten, die in der der. Damit wird auch hier ein genealogisches Programm Wende des 4. zum 3. Jh. v. Chr. einsetzen, weitgehend bildlich umgesetzt, das die Abstammung des König ei- zerstört ist, dient als Grundlage ihrer Untersuchung der nerseits von den Achämeniden aufzeigt und andererseits ›private‹ Bereich des Grabbaues, die Gestaltung des In- auf Alexander den Großen und die Seleukiden zurück- neren und der Urnen, während St. Steingräber in seinem führt. Aufgrund fehlender räumlicher Bezüge zwischen Beitrag die Wandmalereien der Grabbauten als Aus- den Stelenreihen und den vollplastischen Götterfiguren gangspunkt wählt. Generell zeigt sich für den von Niel- auf der Nord- und Südterrasse vermutet Jacobs als Mo- sen untersuchten Zeitraum vom ausgehenden 4. bis zum tivation für die Rückführung von Antiochos’ Abstam- 2. Jh. v. Chr., dass trotz des innerhalb der Region allge- mungslinien auf die beiden Herrscherhäuser als Ziel genwärtigen Bewusstseins für den sepulkralen Bereich nicht nur die Legitimation seines herrschaftspolitischen und den mit ihm verbundenen hohen Aufwand die Be- Anspruchs (wie zuvor für Maussollos von Jeppesen be- funde derart lokalen Traditionen verhaftet sind, dass ein obachtet) sondern ebenso jene der religionspolitischen einheitlicher etruskischer Umgang mit dem Ahnen- bzw. Stellung des Theos Antiochos. Familiengedenken nicht zu rekonstruieren ist: So han- Zwischen die Beiträge von Jeppesen und Jacobs, die delt es sich bei Phänomenen, die lokal übergreifend im möglicherweise gerade in einer gemeinsamen Betrach- Befund festzustellen sind, in der Regel um neue Ein- tung fruchtbare Ansätze zum Verständnis spätklassischer flüsse von außen, nicht um Prozesse hin zu einer gene- bzw. hellenistischer kleinasiatischer Ahnengalerien ge- rellen Vereinheitlichung der etruskischen Traditionen. bracht hätten, schieben sich in dem Band die Überle- Steingräber gelingt in seinem Beitrag anhand einiger gungen von B. Schmaltz und R. Fleischer, denen jeweils Beispiele aus archaischer Zeit eine Differenzierung zwi- ein völlig anderes Verständnis von Ahnen zugrunde schen den Bildern der Verstorbenen und ihrer Ahnen liegt: nachzuweisen, eine Trennung, die für die folgenden In der Fortführung seiner bereits an anderer Stelle pu- Epochen deutlich schwerer fällt. Wie zuvor von Nielsen blizierten Feststellung, dass die Grabreliefs klassischer für die Volterraner Urnen formuliert, erkennt Steingrä- Zeit nicht individuelle Verstorbene sondern standardi- ber auch in den Grabmalereien keine unmittelbaren Be- sierte Typen im Rahmen des Verhaltenskanons der atti- züge zu einem Kult individueller Ahnen der Familie, schen Bürgerschaft darstellen, weist Schmaltz nach, sondern die Darstellungen beschränken sich auf allge- dass die bereits zu Lebzeiten in Auftrag gegebenen Grab- meine Konnotationen. So bleibt die von ihm untersuchte reliefs insofern Bilder von Ahnen sind, als sie − ohne nicht öffentliche Grabmalerei trotz stärkerer Variation physiognomische Ähnlichkeiten mit dem Toten zu besit - der Bilder im 3. und 2. Jh. v. Chr. weiterhin Darstel- zen − stellvertretend für alle Verstorbenen der entspre- lungstypen verhaftet und zeigt keinesfalls individuelle chenden attischen Familie stehen können. Alle diese Porträts. Nicht einzelnen Familienmitgliedern, sondern Ahnen werden somit als vorbildliche Bürger charakte- den Leistungen und dem Alter der gens gelten somit risiert, die Familie selbst kann mit diesen Bildern ihrer diese Bilder, innerhalb derer die Ahnen als pars pro toto Ahnen auf eine lange Tradition als Teil der attischen gezeigt werden. Bürgerschaft zurückblicken und weist sich entlang der Die anschließenden vier Beiträge gelten jeweils unter- attischen Gräberstraßen mit diesem Merkmal gegenüber schiedlichen Aspekten der Bilder von Ahnen im repu- fremden Betrachtern aus. blikanischen und kaiserzeitlichen Rom: Fleischer zeigt hingegen auf, wie die hellenistischen H. Flower wählt als Ausgangspunkt ihrer Überlegun - Herrscher in der Gestaltung und steten Veränderung gen die Frage, inwieweit Frauen als Ahnen überhaupt 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 417

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eine Rolle spielten. Obwohl für Frauen keine imagines bündelt das reich bebilderte Buch zahlreiche Ansätze aufgestellt wurden, zeigt sie, dass, während im 3. und zum weit gefassten Themenkreis und bietet dadurch 2. Jh. v. Chr. auch außerhalb der Grabkunst mythische einen guten Einblick in das Material. Dass politische Frauengestalten als Rollenvorbilder dienten, am Beispiel Amtsträger stärker den von Ahnen vermittelten genea - der Quinta Claudia und der Cornelia, der Mutter der logischen Aspekt zur Legitimierung der eigenen Position Gracchen, im ausgehenden 2. Jh. v. Chr. nun auch indi- nutzen, im privaten Bereich hingegen Vorfahren eher viduelle weibliche Mitglieder der Familie als exempla als Handlungsvorbilder und Träger allgemeiner Verhal- fungierten. Darüber hinaus weist sie anhand der posthu- tensideale gezeigt werden, mögen zwei Motive für die men Aufstellung der Sitzstatue der Cornelia im öffent- Aufstellung von Ahnenbildern sein. Die Chance über lichen Raum, in der Porticus Metelli, deren erweiterte diese vordergründigen Ergebnisse hinaus in der Zusam- Bedeutung als Ahnin für die politische Legitimierung menführung zahlreicher ausgewiesener Fachleute durch der Gracchen nach. eine Konfrontation ihrer in unterschiedlichen Kultur- P. Kragelunds Überlegungen gehen in eine ähnliche kreisen gewonnenen Beobachtungen miteinander zu Richtung: Indem er den Fundumständen des berühm- einer stärkeren Differenzierung des Phänomens der Bil- ten Pompeius-Porträts nachgeht, weist er nach, dass es der von Verstorbenen/von Ahnen beizutragen, ergreift Bestandteil der Ahnengalerie im Vorraum des Grabmals auch nicht das Vorwort des Herausgebers, und der Leser der Licinii Crassi vor der Porta Salaria war. Die gewählte bleibt somit auf dieser neuen Grundlage sich selbst über- Zusammenstellung dieser Reihe individueller Porträts lassen. führt er auf die spezifische politische Situation der Fami- lie in den letzten Jahren der claudischen Regierungszeit Frankfurt am Main Eva Winter zurück. Die Ableitung einer hohen gesellschaftlichen Stellung der Licinier und der politischen Legitimation aufgrund der individuellen Leistungen ihrer Ahnen wird in Kragelunds Beitrag unmittelbar deutlich. Inwieweit auch niedere soziale Schichten Roms sich Andreas Gutsfeld und Winfried Schmitz (Hrsg.), vergleichbarer Mechanismen in ihrer Grabkunst bedie- Am schlimmen Rand des Lebens? Altersbilder in der nen fragt E. d’Ambra und kommt zu einem negativen Antike. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2003. 233 Ergebnis: Zwar kann sie eine Übernahme bestimmter Seiten. Motive der zeitgleichen aristokratischen Bildsprache auf den Grabreliefs römischer Freigelassener nachweisen, Warum beschäftigen wir uns mit dem ›Altsein‹ in ver- doch ihrer Meinung nach wird offenbar nicht versucht gangenen Epochen? Der demographische Wandel seit den individuellen Verstorbenen als Ahnen zu definieren. der ersten Hälfte des 20. Jhs. führt vor allem in den In- Den Band beschließt der Beitrag J. Fejfers, die den dustriestaaten zu einem rasant steigenden Anteil älterer Ahnenaspekt von römischen Ehrenstatuen analysiert. und alter Menschen. Zwar ist für diese relative Zunahme Obwohl Ehrenstatuen für verdienstvolle Bürger in der der Alten weniger die stark angestiegene Lebenserwar- Provinz auch nach 158 v. Chr. im öffentlichen Raum auf- tung verantwortlich als vielmehr der krasse Rückgang gestellt wurden, bleibt bei diesen Ehrungen häufig un- der Geburtenraten. Für die Gesellschaft aber wie für das klar, ob es sich um posthume Stiftungen der Hinter- einzelne Individuum bedeutet dieser Wandel einschnei- bliebenen handelt, die damit zumindest potentiell einem dende Veränderungen: im volkswirtschaftlichen Bereich Verstorbenen in seiner Rolle als Ahnen gelten würden müssen Lösungen für eine Finanzierung des Ungleichge- oder um Aufstellungen verdienstvoller Mitglieder einer wichts zwischen immer weniger Arbeitenden und immer städtischen Gemeinschaft zu deren Lebzeiten. Dass in mehr Rentenempfängern gefunden werden, im privaten der Folgezeit die Familienmitglieder vor diesen Ehrensta- Bereich sieht sich das Individuum im Alter mit einer zu- tuen Feste und Feiern veranstalteten, ist ein gutes Argu- nehmend unsicheren Zukunft konfrontiert. Auf der an- ment dafür, dass in der Provinz zumindest ein Aspekt deren Seite ist der für viele Menschen fast zwei oder gar dieser Denkmäler für die Nachfahren darin bestand, an drei Jahrzehnte währende Ruhestand zu einer regelrech- dieser Stelle familiären Stolz öffentlich zu zelebrieren. ten dritten Lebensphase geworden, die eines Lebens in - Dass dieser Aspekt aber tatsächlich auch die ursprüng- halts und einer Sinnerfüllung bedarf. Im Konfliktfeld liche Motivation des Auftraggebers für die Errichtung dieser Entwicklungen suchen die Gesellschaften der In- einer solchen Statue war, ist zumindest nicht eindeutig dustrienationen heute nach einem neuen Altersbild für nachweisbar. Neben Fleischers Untersuchung zu den Gegenwart und Zukunft. Porträttypen hellenistischer Herrscher auf Münzbildern Das bedeutende Verdienst der Herausgeber des hier ist dies der zweite Beitrag des Bandes, der keine Beispiele vorgestellten Bandes liegt darin, dass sie diesen aktuellen der Grabkunst behandelt; und vielleicht zeigt sich gerade Informationsbedarf der Gesellschaft aufgreifen und die dann, wie schwierig es ist, überhaupt Bilder von Verstor- Ergebnisse der historischen Wissenschaften als Potential benen außerhalb des sepulkralen Bereichs zu erkennen für den aktuellen Diskurs verstehen. »Der Rückblick auf und schlüssige Interpretationen vorzustellen. historische Alterskonzepte soll helfen, die eigene Zeit als Obwohl die Mehrheit der im vorliegenden Band for- veränderbar zu begreifen und vorgegebene Sinnkonzepte mulierten Thesen bereits anderswo geäußert wurde, zu hinterfragen … Der Blick auf die so unterschiedliche 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 418

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Ausgestaltung von Alterskonzepten in historischen Ge- chem Grade diese verschiedenen Altersrollen im priva- sellschaften und das Erkennen von Abhängigkeiten und ten, öffentlichen und politischen Bereich sich deckten Voraussetzungen sollen die Möglichkeit bieten, den oder unterschieden. Je drei Aufsätze sind zu einem Ab- Wan del von Alterskonzepten in der eigenen Gesellschaft schnitt gruppiert, der zum einen Altersbilder im antiken auch als Chance zu nutzen« (Schmitz, S. 26). Ein solches Griechenland, zum anderen solche im antiken Rom be- Geschichtsverständnis macht den Sinn historischer Wis- handelt; innerhalb dieser Blöcke wurden die Beiträge senschaft greif bar. chronologisch geordnet. Mit jeweils 20–30 Seiten sind Das Buch entstand in Zusammenhang mit einem an die Einzelbeiträge in Bezug auf ihre Länge ausgewogen der Universität Bielefeld verankerten Forschungsprojekt und gut lesbar. Vorgeschaltet ist diesen beiden Abschnit - über »Altersgrenzen politischer Partizipation in der An- ten ein Beitrag, der aus ethnologischer Perspektive in die tike«. Die DFG unterstützte dieses Projekt wie auch den Fragestellung einführt. Eine umfangreiche Bibliographie Druck des vorliegenden Bandes im Rahmen ihres Son- (S. 217–230) verschafft einen wohlsortierten Zugang derforschungsbereiches 584. zur aktuellen Literatur des Problemkreises. Ein Register Um insgesamt sieben Einzelbeiträge bilden Einlei- (S. 231–233) erschließt Personen, Orte und Begriffe. tung und Epilog der Herausgeber im besten Sinne eine Unverständlich bleibt allein die Auswahl des Titelbildes: verbindende Klammer: Die Einleitung von Winfried das schwülstige, klassizistische Gemälde sinnender Män- Schmitz (S. 9–26) führt dabei in den aktuellen Bezug, nerakte ist nicht gerade ein Sympathiefaktor. die Zielsetzung des Bandes sowie den gegenwärtigen Besonders zu würdigen ist die Entscheidung der Her - Stand der Diskussion in Ethnologie und Geschichts - ausgeber, einen ethnologischen Beitrag in den Band auf- wissenschaft ein. Hilfreich für das Verständnis der fol- zunehmen und ihm als erstem Aufsatz eine Schlüssel- genden Beiträge ist der von ihm kurz skizzierte aktuelle stellung zuzuweisen. Da sich die Ethnologie seit vielen Wissensstand um den absoluten Anteil alter – meint: Jahrzehnten intensiv mit dem Lebensalter als einem der über sechzigjähriger – Personen in antiken Gesellschaf- wichtigsten Prinzipien gesellschaftlicher Differenzierung ten: unterschiedliche Quellengattungen sprechen für auseinandersetzt, können das Begriffsinstrumentarium, Werte zwischen fünf und zehn Prozent. Seiner Feststel- die Fragestellungen und Herangehensweisen dieses Fa- lung, dass »antike Gesellschaften grundsätzlich junge ches vielfältige Anregungen auch für historische Unter- Gesellschaften« (S. 14) waren, ist daher zwar prinzipiell suchungen liefern. Dieser in ihn gesetzten Hoffnung zuzustimmen. Doch sollte in Betracht gezogen werden, wird der klar strukturierte und anregende Beitrag von dass eine Population kein statisches Gebilde ist. Kriege Andreas Sagner, Alter und Altern in einfachen Gesell- oder Abwanderungen konnten zu bestimmten Zeiten schaften. Ethnologische Perspektiven (S. 31–53), voll- und in bestimmten Räumen durchaus zu einer vorüber- auf gerecht. Er gibt eine ausgezeichnete Einführung in gehend ›überalterten‹ Gesellschaft führen. Themenbereiche und Ergebnisse der ethnologischen Al- Sozialpsychologische, soziologische und ethnologi- tersforschung. Wie wird Alter in so genannten einfachen sche Forschungen haben gezeigt, dass die in einer Ge- Gesellschaften, also in nichtindustriellen Kulturen kon- sellschaft vorhandenen Altersbilder und Altersdiskurse struiert? Anders als in unserer modernen, aber auch vie- nicht primär durch den körperlichen Alterungsprozess, len antiken Gesellschaften werden Lebensalter dort sondern in weit höherem Maße kulturell geprägt sind. nicht durch gezählte Lebenszeit, sondern »durch er- »Alter, das ebenso wie Geschlecht eine Grunddimension reichte soziale Reifezustände, wie Eltern- oder Großel- menschlichen Lebens ist, stellt eine soziale und kulturelle ternschaft, sowie durch physisch-funktionale Kriterien, Kategorie dar, die wesentlich durch Deutungsmuster wie Menstruation, Menopause oder die allgemeine phy- und Rollenzuweisungen bestimmt wird. Die Wahrneh- sische Leistungsfähigkeit gegliedert« (S. 33). Gemäß mung und die Bewertung des Alters unterliegt dabei er- dem Senioritätsprinzip hängen Vorrechte in vielen zen- heblichen Schwankungen, hängt von der Zugehörigkeit tralen Lebensbereichen oftmals von der Positionierung zu einer sozialen Schicht, von der wirtschaftlichen Ab- einer Person im relativen Altersgefüge, also ihrer Stel- hängigkeit oder Unabhängigkeit der Alten ab, von den lung in der Geburts- bzw. Generationenabfolge ab. Diese ihnen zugewiesenen Aufgaben und Rollen …« (S.19). In Seniorität schützt alte Menschen beim Nachlassen ihrer der Antike existierten – wie heute auch – vielfältige, sich körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit vor Ge- teils diametral gegenüberstehende Wertungen des Alters. ring schätzung und kompensiert aus der Sicht der Gesell - Auf der einen Seite Alter als Aufstieg zu gereifter Urteils- schaftsmitglieder altersbedingte Abbauerscheinungen. fähigkeit und damit auch gesellschaftlicher Führung, auf Dennoch wird körperlicher und geistiger Abbau in der der anderen Seite Alter als Inbegriff des körperlichen wie Regel negativ erlebt und bewertet. Auch hier existiert geistigen Verfalls und damit der Hilflosigkeit, ja sogar also ein antinomisches Altersbild. »Die hohe Wertschät- Ver ächtlichkeit. Diese oftmals antinomischen Altersbil- zung körperlicher Leistungsfähigkeit und körperlicher der sowie ihre sozialen und kulturellen Bedingungen Wohlgestalt einerseits und von Alter als einer respekt- sind das eigentliche Thema des Bandes. würdigen Lebensphase andererseits schließen sich« dabei Sechs Einzelbeiträge widmen sich der Frage, welche jedoch keineswegs aus (S. 38). Nicht nur in dieser Hin- Vorstellungen in den antiken Gesellschaften mit Alter sicht öffnet der Aufsatz von Andreas Sagner den Blick verbunden waren, welche sozialen und politischen Auf- für unserer eigenen, modernen Kultur fremde Sicht- gaben alte Menschen übernahmen und ob und in wel- weisen. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 419

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Zum Auftakt des mit der Situation im antiken Grie- betrachtet werden, ein realistisches und facettenreiches chenland befassten Abschnitts beschreibt der Aufsatz Bild von der Lebenssituation alter Menschen zu erlan- von Ernst Baltrusch, An den Rand gedrängt. Altersbil- gen. der im klassischen Athen (S. 57–86), den negativen Bei dem ersten Beitrag des zweiten inhaltlichen Blo- Einfluss der Demokratisierung auf die Situation alter ckes handelt es sich um einen Abschnitt aus einer ein- Menschen. Dynamik und Innovation hatten zur Folge, schlägigen Monographie des Autors [H. Brandt, Wird dass die traditionelle Funktion der Alten – Wissenswei- auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in tergabe und Wertevermittlung – in der athenischen der Antike (München 2002)]. Trotz der nur geringfügi- Gesellschaft des 5. und 4. vorchristlichen Jhs. an Bedeu - gen Änderungen taten die Herausgeber des zu bespre- tung verloren. Politische Usancen und Institutionen, die chenden Bandes richtig daran, den Text hier erneut vor- den Älteren Einflussmöglichkeiten gegeben hatten, wur- zulegen. Bildet er doch zusammen mit den Aufsätzen den mit der radikalen Demokratisierung abgeschafft. von A. Gutsfeld und E. Herrmann-Otto einen chrono- Auch in der Volksversammlung, dem wichtigsten politi- logischen Abriss, der die sich verändernde Situation alter schen Gremium, saßen überwiegend jüngere Männer, Menschen in der römischen Epoche erkennbar macht. wobei jede Stimme gleiches Gewicht besaß. Die aus die- Hartwin Brandt, »Die Krönung des Alters ist das An- ser politischen Marginalisierung resultierende soziale sehen.« Die Alten in der römischen Republik (S. 141– Lage alter Menschen schildern literarische Zeugnisse 160), konstatiert für die frühere Zeit der römischen und Rechtsquellen als prekär. Der Gesetzgeber musste Republik, das 6. bis 4. vorchristliche Jh., ein gerontokra - eingreifen, um die Versorgung der Alten sicherzustellen: tisches Gesellschaftssystem, bestand doch der Senat zu Alte Menschen wurden offenbar so häufig geschlagen, dieser Zeit primär aus den alten Häuptern der führenden nicht versorgt oder aus ihrer Wohnung vertrieben, dass Familien und Geschlechter. Mit dem allmählichen Wan- eigene Gesetze dagegen erlassen werden mussten. del der altrepublikanischen, patrizischen Aristokratie zur Diese athenische Gesellschaft und jene in Sparta Nobilität des 3./2. Jhs. v.Chr. verschob sich dann das kontrastiert Winfried Schmitz, Nicht ›altes Eisen‹, son- politische Gewicht zugunsten jüngerer nobiles. Doch dern Garant der Ordnung. Die Macht der Alten in auch den einschlägigen Aussagen in Ciceros Schriften Sparta (S. 87–112). In Sparta war das Alter ein fun- und den Komödien des Plautus und Terenz entnimmt damentales Strukturprinzip der Gesellschaft. Seinen Brandt noch eine dominante Rolle der Alten. Zu Recht Ansatz, dass es sich bei den in Sparta existierenden Al- bemerkt er, dass es sich bei nahezu allen auswertbaren tersstufen um Altersklassen im ethnologischen Sinn Schriftzeugnissen um »Theorien, Idealvorstellungen, handelt, untermauert Schmitz mit einer wohlfundierten literarische Spiegelungen und historiographische Kon- Argumentation. In dieser Altersklassenordnung sieht er strukte« (S.157) handelt und Daten, denen eine Aussage auch eine wesentliche Stütze der spartanischen Geron- über die ›Realität‹ alter Menschen abzugewinnen wäre, tokratie, denn wenn »jeder mit seiner Altersgruppe die äußerst rar sind. Denn »für die Kehrseite, das verelen- Altersgrade durchlief und damit für jeden offensichtlich dete Alter, hatte die Erinnerungskultur des republikani- war, wem als Älterem Respekt gebührte, wäre erklärbar, schen Rom naturgemäß keinen Platz. Wer nach trost - warum die Macht der Alten in Sparta so unangreifbar losen letzten Lebensjahren eines trostlosen Todes starb, war« (S. 108). Das restriktive Erziehungssystem, das hinterließ in der Regel keine Spuren im Gedächtnisvor- darauf ausgerichtet war, Kritik an der Vorherrschaft der rat der Gesellschaft« (S. 159). Älteren gar nicht erst zu ermöglichen, tat ein Übriges Die sich seit Augustus wandelnde Einstellung zum zum Erhalt ihrer Macht. Alter kommt in den von Andreas Gutsfeld, »Das schwa- Mit einer schwierigen, da durch disparate Quellen- che Lebensalter.« Die Alten in den Rechtsquellen der lage gekennzeichneten Periode sieht sich Gregor Weber, Prinzipatszeit (S. 161–179), analysierten juristischen Zwischen Macht und Ohnmacht. Altersbilder in helle- Texten zum Ausdruck. Insbesondere die normativen nistischer Zeit (S.113–137), konfrontiert. Um eine Ver- Kaisergesetze spiegeln einen politischen Willen, der auf gleichbarkeit zu gewährleisten beschränkt sich der Ver- Kosten des politischen Einflusses der Alten die Innova- fasser daher weitgehend auf normative Quellen, was eine tion und Tatkraft der Jugend in den Vordergrund rückt. Fokussierung auf das durch Papyri gut bezeugte helle- Parallel hierzu wird die väterliche Gewalt in der Familie nistische Ägypten impliziert. Im Hinblick auf die von beschnitten. Durch die in augusteischer Zeit eingeführ- den Herausgebern definierte Zielsetzung des Bandes ten Geburtsregister trat im öffentlichen Denken und dürfte unter den von Weber behandelten Aspekten des Handeln das chronologische Lebensalter einer Person Altseins – Haus und Familie, Herrschaft und Gemein- gegenüber einer physisch funktionalen oder relativen Al- wesen, Bildung und Erfahrung, Physis – der außeror- terszuordnung in den Vordergrund. Zunehmend werden dentliche Einfluss bedeutsam sein, den umfassende Be- nun für Ämter und Funktionen Altershöchstgrenzen völkerungsverschiebungen auf die Zusammensetzung festgelegt, die zusammen mit der Förderung jüngerer der Familie und damit direkt auch auf die Verlässlichkeit Leute dazu führten, »dass sich die im öffentlichen Leben der familiären Altenversorgung haben. Gerade die hel- stehenden alten Menschen faktisch in einer Sonder- lenistische Epoche scheint mir daher für weitere histo - gruppe wiederfanden, die durch reduzierte Aufgaben- rische Analysen prädestiniert. Die Vielfalt der Quellen fülle und geschmälertes Ansehen charakterisiert war« sollte hier nicht als Beschränkung, sondern als Chance (S.170). Immer mehr rücken Gesetzgeber und Hofjuris- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 420

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ten das Alter in die Nähe von Krankheit, Mangel und nologen beschriebene Entwicklungen in von der christ- innerer Schwäche – eine Konnotation, die in der Spätan- lichen Mission beeinflussten afrikanischen Gesellschaf- tike, insbesondere im frühen Christentum noch einmal ten stützen diese Vermutung: Ging doch auch dort die eine Steigerung erfahren sollte. Übernahme des christlichen Altersbildes einher mit Der aufschlussreiche Beitrag von Elisabeth Herr- einem Achtungsverlust alter Menschen (Sagner S. 51). mann-Otto, Die ›armen‹ Alten. Das neue Modell des Den Herausgebern Winfried Schmitz und Andreas Christentums? (S. 181–208), thematisiert den Wandel Gutsfeld verdanken wir mit der Zusammenstellung des des Altersverständnisses unter dem Einfluss christlicher Bandes einen instruktiven und überaus anregenden Wertevorstellungen in der römischen Kaiserzeit und der Überblick über die bisherigen Fragestellungen und Er- Spätantike. Hauptsächliche Quellenbasis bilden die gebnisse der althistorischen Altersforschung. Bedingt Texte des alten und neuen Testaments, die Kirchenväter- durch den auswahlhaften und ungleichgewichtigen literatur sowie christliche Inschriften. Diese werden von Charakter der Schriftquellen mussten dabei die meisten Hermann-Otto unter den Gesichtspunkten ›Alte in der der über antike Altersbilder getroffenen Aussagen auf Familie‹, ›Altersvorschriften in der Kirche‹ sowie ›christ- männliche Angehörige der Oberschicht beschränkt blei- liche Altenfürsorge‹ ausgewertet. Alter ist in diesen Tex- ben. Fehlen doch Schriftzeugnisse, die uns in vergleich- ten »an sich kein Verdienst und nicht ehrenwert. Es ist barer Quantität und Qualität Auskunft über die soziale nur dann verehrungswürdig, wenn der alte Mensch ein Situation von alten Frauen oder Angehörigen der breiten sittlich einwandfreies Leben geführt hat« (S. 185). Ge- Massen geben, fast völlig. Der weitaus größte Teil der rade diese sittliche Ermahnung alter Menschen, wie sie Bevölkerung und damit auch der Alten bleibt in den his- beispielsweise in den im Titusbrief gegebenen Verhal- torischen Quellen also nahezu unsichtbar. Hier könnte tensanweisungen für alte Männer und Frauen zum Aus- eine verstärkte Einbeziehung archäologisch-anthropolo- druck kommt, ist in dieser Ausprägung für die Antike gischer Ergebnisse beispielsweise von Bestattungsplätzen ungewöhnlich und darf daher wohl als eine durch das das quellenbedingt schmale Sichtfenster erweitern und Christentum eingebrachte Wertvorstellung angesehen die am schriftlichen Material gewonnenen Erkenntnisse werden. Im Umkehrschluss galt ein sieches und hinfäl- ergänzen, prononcieren oder relativieren. Auch und ge- liges Alter nach diesem Verständnis als Folge eines sün- rade deswegen möchte ich mich ganz dem von Andreas digen Lebenswandels. Zu Recht stellt daher Winfried Gutsfeld im Epilog (S. 209–215) gefällten Urteil an- Schmitz in seiner dem Band vorangestellten Einleitung schließen: »Der in diesem Sammelband gewählte Ansatz die Frage, ob diese Wertungen nicht »auch zu einer Stig- war und ist fruchtbar.« matisierung der Alten als Hilfsbedürftige [führten], die sie in die Position einer Randgruppe drängte?« Von Eth- Münster Eva Stauch

ROM UND PROVINZEN

Robert Turcan, Études d´Archéologie sépulcrale. Sar- Es werden behandelt: Dionysische Sarkophage in co phages romains et gallo-romains. Diffusion De Boc- Lyon, Lille und im Vatikan (Aufsätze Nr. 1–3); Eck- card, Paris 2003. 342 Seiten, zahlreiche Abbildungen. masken an Deckeln (Nr. 4); Darstellungen der Winde auf Sarkophagen (Nr. 5); ein Kinder-Sarkophag mit Robert Turcan ist durch seine Publikationen, eine be- Achill, der dem Kentauren Chiron übergeben wird achtliche Anzahl an Monographien sowie zahlreiche (Nr. 6); Anmerkungen zum Prometheus-Sarkophag in Aufsätze und Rezensionen, als großer Kenner der kai- Neapel (Nr. 7), den Phaethon-Sarkophagen (Nr. 8) und serzeitlichen Kunst und Religion ausgewiesen. Man mag Fragmenten mit Eroten (Nr. 9–10); Lenoi (Nr. 11); seinen Deutungen von Darstellungen auf Sarkophagen »symbolisme funéraire« (Nr. 12 [aus ANRW] und 13); (zuletzt: Messages d’Outre-Tombe. L’iconographie des ›Typen-Wirtschaft‹ auf Sarkophagen (Nr. 14); das sarcophages romains [Paris 1999]) zustimmen oder auch »Kunstwollen« von A. Riegl (Nr. 15). – mehr oder weniger – nicht, auf alle Fälle wird man Zahlreiche Beobachtungen zu einzelnen Sarkophagen es aber sehr begrüßen, dass im anzuzeigenden Band 16 oder Gruppen finden sich im Kapitel 17, den »Retracta- Aufsätze zu römischen Sarkophagen, in der Regel ausge- tions« (S. 333–338). Kurze »Compléments bibliogra- hend von solchen in Gallien, zusammengefasst werden. phiques« sind angeschlossen (S. 339 f.). Die meisten sind publiziert (14), häufig an nicht leicht Leider ist die Qualität der Abbildungen häufig nicht zugänglichen Stellen; ein Beitrag ist Richard Brilliant ge- sehr gut, da sie (außer im Aufsatz Nr. 16) nach den ur- widmet (Nr. 15; für eine Festschrift, die dann nicht zu- sprünglichen Publikationen und nicht nach Photogra- stande kam?), ein weiterer, sehr gewichtiger war bisher phien reproduziert worden sind. Sehr zu bedauern ist, nicht gedruckt (Nr. 16). dass keine Möglichkeit bestand, ein Register der behan- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 421

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delten Sarkophage, zumindest derjenigen aus Aufsatz fertig ausgearbeiteter Sarkophage aus Kleinasien wäre Nr. 16, zu erstellen; jetzt ist es sehr zeitaufwendig zu möglich, ist bisher jedoch nicht nachzuweisen; es ist in überprüfen, ob der Verfasser ein bestimmtes Stück er- Arles aber eine Ostothek gefunden worden, die zur fasst hat und wie er es beurteilt. pamphylisch-kilikischen Gruppe gehört und sicher in Der Aufsatz Nr. 16, »Les sarcophages en Gaule Ro- der Antike nach Arles gebracht worden ist (C. Sintès/ maine (des Antonins a la tétrachie). Essai de synthèse M. Moutashar, Musée de l’Arles antique [Arles 1996] provisoire«, beruht auf den jahrzehntelangen Forschun- 152 Nr. 148). Lokal wurden vor allem Sarkophage aus gen des Autors zur kaiserzeitlichen Kunst in Gallien und Rom, in geringer Anzahl aus Athen kopiert und nachge- speziell den Sarkophagen. Nur auf ihn soll hier etwas ahmt; bei einigen Exemplaren sind Besonderheiten von näher eingegangen werden. Zunächst werden die impor- kleinasiatischen Sarkophagen übernommen worden. Bei tierten Exemplare aus Rom (I A S. 272–288) und Athen den stadtrömischen Sarkophagen in Gallien kommt als (I B S. 288–290) in Listen vorgelegt und jeweils kurz weiteres Problem hinzu, dass vielfach nicht sicher ist, ob besprochen, einschließlich eines Vorschlages zur zeitli- sie schon in der Antike oder erst in der Neuzeit impor- chen Einordnung. Dann werden die Probleme der »Pro- tiert worden sind (für das Museum in Arles wird nicht duits micrasiatiques?« (IC S. 290–292) und danach die immerhin schon mehrere Jahre geltende ›amtliche‹ diejenigen der »Exemplaires d’origine incertaine« (I D Bezeichnung ›Musée de l’Arles antique‹ benutzt!). S. 292–294) behandelt. Es folgt ein kurzer Überblick Der Verfasser führt in seiner Liste 87 Exemplare als über die Wiederverwendung im Mittelalter (S. 294f.). antike Importe aus Rom auf. Darunter sind sechs Jagd- Anschließend werden die Exemplare besprochen, die Sarkophage (dazu auch Koch/Sichtermann a.a.O. in Gallien in lokalen Werkstätten produziert worden 296 Anm. 4), bei denen ich nach wie vor keine Kriterien sind (II S. 296–318), und zwar die Nachahmungen für eine Entscheidung sehe, ob es Importe aus Rom oder nach stadtrömischen (II A S. 297–299), attischen (II B1 lokale Arbeiten sind (Nr. 9; 20; 24; 31; 61; 62). Mehrere S.299f.) und kleinasiatischen Vorbildern (IIB 2 S.300– Fragmente sind erst 1980 (Nr. 74–78; 80) oder sogar 305), die verschiedenen Deckel (II B 3 S. 305–309) erst 1996 (Nr. 85; 86) erstmals abgebildet. Andere, die und schließlich die »Modèles communs« (IIC S. 310– in der Liste erfasst sind, sind unpubliziert (Nr. 44–47) 314), worunter Turcan Exemplare mit tabula ansata ver- oder verschollen und ohne Abbildung (Nr. 67; 79; 87); steht, sowie die Blei-Sarkophage (III S. 315–318). Ganz bei ihnen ist also überhaupt nicht sicher, ob es sich um kurz ist die Zusammenfassung (S. 318 f.); 24 Abbildun- stadtrömische Stücke handelt. gen geben einige Anschauung; weitere Stücke sind in an- deren Aufsätzen des Bandes abgebildet. Zu einzelnen Exemplaren: Eine Diskussion aller Probleme und aller Sarkophage, Nr. 4: Der Sarkophag soll 1691 zerstört worden sein, die im Aufsatz Nr. 16 behandelt werden, ist nicht mög- es gibt keine Abbildung; da in Gallien Riefel-Sarkophage lich; das würde ausgedehnte Reisen mit einem Studium eindeutig lokaler Produktion nachzuweisen sind, würde der Originale erfordern und einen Band im Rahmen des ich es nicht wagen, das Stück unter die Importe aus Rom Sarkophag-Corpus ergeben. Hier soll nur auf eine Frage aufzunehmen. eingegangen werden, soweit das nach den vorliegenden Nr. 8: Nach der einzigen vorliegenden Abbildung Publikationen möglich ist; sie gibt die Grundlage, die hatte ich das Stück nicht zu den Sarkophag-Fragmenten Situation in Gallien zu beurteilen: Welche Sarkophage gezählt. sind in fertig ausgearbeitetem Zustand importiert wor- Nr. 17: Für Rom völlig untypisch sind die Form eines den, und woher kommen sie? Ich habe in einem ersten Daches, die großen Ziegel und die Akrotere; ich möchte Überblick, bei dem es nicht auf Vollständigkeit ankom- den Deckel zu den Nachahmungen von kleinasiatischen men konnte, 48 Exemplare zusammengestellt, die ich Deckeln zählen (Koch/Sichtermann a.a.O. 299 mit damals für Importe aus Rom hielt (Ein Endymionsar- Anm. 49); es wäre zu überprüfen, ob es sich um ein kophag in Arles. Bonner Jahrb. 177, 1977, 245–270, mit Halbfabrikat aus Prokonnesos handelt, das lokal ausge- einer Liste S. 258–261). Etwas später nahm ich einige arbeitet ist (auch die von Turcan genannten Parallelen in Korrekturen vor, trug wenige Stücke nach und bemühte Rom und Salerno sowie ein weiterer Deckel in Arles sind mich, die schwierige Situation in Gallien zu charakteri- Sonderfälle und stehen nicht in der stadtrömischen Tra- sieren (G. Koch/H. Sichtermann, Römische Sarko- dition; vgl. V. Gaggadis-Robin, Sarcophages d’Arles. phage. Handb. Arch. [München 1982] 296–300; der In: G. Koch [Hrsg.], Akten des Symposiums »125 Jahre S. 296 mit Anm. 3 genannte Riefel-Sarkophag in Arles Sarkophag-Corpus«, Marburg 1995 [Mainz 1998] 276 ist nach der Gestaltung der Nebenseiten nicht stadtrö- Ta f. 10 9,9 ) . misch; der fragmentierte Kasten mit Olivenernte [Bon- Nr. 22: Es dürfte sich um das dionysische Fragment ner Jahrb. a.a.O. 259] ist eine lokale Arbeit, wie ich handeln, das unpubliziert zu sein scheint und von mir a.a.O. [1982] S. 296 in Anm. 7 berichtigt habe). Es gibt genannt worden ist (Koch/Sichtermann a.a.O. 296 Importe von fertig ausgearbeiteten Sarkophagen in gro- Anm. 1; Foto Marburg 52126). ßer Anzahl aus Rom und in einigen Exemplaren aus Nr. 25: Nach der vorliegenden Abbildung halte ich Athen. Halb-Fabrikate für Girlanden-Sarkophage und das Deckel-Fragment wegen der harten Falten und des Deckel sowie vielleicht ›Rohlinge‹ für Sarkophage sind unförmigen Eckkopfes für eine lokale Arbeit (Koch / aus Prokonnesos herbeigeholt worden. Auch der Import Sichtermann a.a.O. 297 Anm. 17). 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 422

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Nr. 29: Das Fragment (mit einem kleinen weiteren Nr. 78: Das Stück liegt zwar nur in einer groben anpassenden) ist jetzt aufgenommen in: B. Christern- Skizze vor; es wird sich aber nicht um einen Deckel- Briesenick, Frankreich, Algerien, Tunesien. Reper - Akroter eines stadtrömischen Sarkophages handeln; es torium christl.-ant. Sarkophage 3 (Mainz 2003) 186 könnte zu der in Gallien verbreiteten Gruppe einzeln Nr. 395 Taf. 97,1 (es gehört allerdings nicht in diesen gearbeiteter Gorgo-Köpfe oder zu einem lokalen Deckel Band, da nichts auf christliche Thematik weist; die Da- (vgl. z.B. R. Guéry u. a, Informations archéologiques. tierung ist viel zu spät). Gallia 44, 1986, 397 Abb. 22; von Turcan S. 275 unter Nr. 35: Der Kasten ist glücklicherweise nicht Nr. 17 als lokal erwähnt) gehören. »dé truite en 1848–1850«, wie bereits in der einen Die Anzahl von 87 Exemplaren, die der Verfasser als vom Verfasser genannten Publikation festgehalten ist Importe aus Rom auflistet, wird also erheblich reduziert. (É. Espéran dieu, Recueil général des bas-reliefs, statues Vielleicht könnte sie aber auch wieder erhöht werden, et bustes de la Gaule romaine 10. Coll. Doc. Inédits Hist. wenn man Fragmente – nach einer Untersuchung der France [Paris 1928] 193f. Nr. 7561); auch im Denk - Originale – einbezieht, die mir nach den vorliegenden mäler-Inventar wird er offensichtlich für verschollen ge- Abbildungen stadtrömisch zu sein scheinen. Es seien halten, ohne Kenntnis des Hinweises von Espérandieu einige Beispiele genannt: (J.-P. Brun, Le Var. Carte Arch. Gaule 83/1 [Paris 1999] Nr. 1–7: Arles: Espérandieu a.a.O. 12 (1947) 473 Abb. 504); er steht in einem Weingut in Bourgneuf- Nr. 7966 –7967; 7970–7974. Va l- d’Or (G. Koch, Sarkophage der römischen Kaiser- Nr. 8: Aix-en-Provence: Koch/Sichtermann a.a.O. zeit [Darmstadt 1993] 225 Anm. 339). Zu dieser 296 Anm. 1 (Foto Marburg 42770): Fragment mit flie- Gruppe auch: G. Koch, Zur Neubearbeitung der my- gendem Eros. tho logischen Sarkophage. Marburger Winckelmann- Nr. 9: Aix-en-Provence: J.-P. Brun, Le Var. Carte Progamm 1984, 31–34. Arch. Gaule 83/2 (Paris 1999) 578 Abb. 672–673: Nr. 50: Den verschollenen Riefel-Sarkophag sehe ich Fragmentierter Riefel-Sarkophag mit Hirt und Orans. nach wie vor als lokale Arbeit an (Koch/Sichtermann Nr. 10: Lyon (Inv. 441?): Koch/Sichtermann a. a. O. 297 mit Anm. 13); dafür sprechen der dachför- a.a.O. 118 mit Anm. 29 (Foto Marburg 43402): Frag- mige Deckel mit den großen Ziegeln und den Löwen- ment einer Wanne mit bukolischer Darstellung. köpfen, die aufrecht stehenden Schuppen auf der Ne- Nr. 11: Verschollen, ehem. Lyon: Espérandieu benseite, die Form der Basis des Tondo, die Füllungen in a. a. O. 3 (1910) Nr. 1776. den Zwickeln neben dem Tondo und anderes. Nr. 12: Nîmes: Espérandieu a.a.O. 1 (1907) Nr. 51: Wegen der übergreifenden Profile unten und Nr. 461; J.-L. Fiches/A. Veyrac (Hrsg.), Nîmes. Carte oben, der geschweiften ansae und auch der Träger der ta- Arch. Gaule 30/1 (Paris 1996) 315 Abb. 275: Fragment bula halte ich diesen Riefel-Sarkophag ebenfalls für eine sehr guter Qualität aus Marmor, das nach der Größe in Gallien gefertigte Kopie eines stadtrömischen Exem- (0,66m×0,40m, Dicke 0,20m) zu einem Sarkophag plars (Koch/Sichtermann a.a.O. 297 mit Anm. 13). gehören könnte. Nr. 55: Bei diesem Fragment ist es für mich wegen Nr. 13–18: Vienne: Espérandieu a.a.O. 1 (1907) der handwerklichen Ausführung nicht sicher, dass es zu Nr. 342; 348; 349; 365; 366; H. Lavagne (Hrsg.), einem Sarkophag gehört. Vienne. Nouvelle Espérandieu 1 (Paris 2003) 109 Nr. 59: Den Riefel-Sarkophag und Deckel in Nar- Nr. 261. bonne hatte ich für stadtrömisch gehalten; beim Kasten bleibe ich bei meiner Meinung (siehe auch Koch / Sich- Bei einer gründlichen Überprüfung der Museen und termann a.a.O. 168 Anm.11); bei genauerer Betrach- Magazine in Frankreich wird sich die Anzahl der Sarko- tung scheint der Deckel kürzer zu sein und damit nicht phage und Fragmente sicher erhöhen lassen, und man ursprünglich zum Kasten gehört zu haben; neben den wird mehr Kriterien erhalten, stadtrömische Importe Eckköpfen führt offensichtlich die vorspringende Leiste von lokalen Kopien und Nachahmungen zu unterschei- seitlich außen herum; das findet sich nicht in Rom, son- den. Auch weitere Fragmente von attischen Sarkophagen dern nur bei lokalen Exemplaren in Gallien; auch die werden sich identifizieren lassen (vgl. G. Koch, Ein En- Blickrichtung der Büsten spricht für eine Entstehung in dymionsarkophag in Arles. Bonner Jahrb. 177, 1977,254 Gallien. mit Anm. 49; Koch/Sichtermann a.a.O. 468; einige Nr. 68: Das Fragment hatte ich unter die attischen Fragmente aus Arles wird V. Gaggadis-Robin in den Eroten-Sarkophage eingeordnet; Näheres lässt sich ohne Akten des Symposiums des Sarkophag-Corpus 2001 [im Überprüfung des Originals nicht sagen (Koch / Sich- Druck] publizieren). Sicher können dann auch die Ein- termann a.a.O. 433 Nr. 73). flüsse aus Kleinasien klarer charakterisiert werden (vgl. Nr. 72: Für mich ein lokaler Deckel; dafür sprechen bei Turcan Abb. 5; 6; St. Böhm, Ein früher Girlanden- die Ausführung, soweit sie zu erkennen ist, und vor sarkophag in Arles. Kleinasiatisches Formengut in der allem die senkrechten Stege zwischen den Büsten und Gallia Narbonensis. Röm. Mitt. 110, 2003, 287–301; den fliegenden Eroten sowie an den Seiten; Parallelen der Kasten Abb. 7 könnte mit der Dreiteilung der Vor- sind in Gallien erhalten (Koch/Sichtermann a.a.O. derseite von Oberitalien abhängen). Die Besonderheiten 297 Anm. 17). der Produktion in Gallien dürften noch deutlicher wer- den; darunter sind einige ungewöhnliche Stücke (z. B. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 423

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Abb. 11–12; 17; 22). Für alle diese Fragen gibt der Ver- Ant. Cristiana 2,18 (Vatikan 2004) 149–153 (mit einer fasser aufgrund seiner jahrzehntelangen Beschäftigung nützlichen Tabelle zur Ikonographie der nichtchristli- mit dem Material in dieser »synthèse provisoire« wert- chen Sarkophage von 270 bis 400). Die so gewonnene volle Anregungen für weitere Überlegungen, die hof- schichten- und ständespezifische Differenzierung weist fentlich einmal zu einer umfassenden Publikation mit auf Unterschiede der mittleren Kaiserzeit und der Spät- guter photographischer Dokumentation führen werden. antike, die »Besonderheiten der spätantiken Situation Für das Problem, wie sich importierte stadtrömische und die tief greifenden Veränderungen seit constantini- Sarkophage von lokalen Arbeiten unterscheiden lassen, scher Zeit« (S. 12). Die Nützlichkeit der etwas eigenwil- sind auch die Exemplare mit christlicher Thematik ligen chronologischen Terminologie kann bezweifelt heranzuziehen: G. Koch, Frühchristliche Sarkophage werden. Synonym behandelt werden hier: a) pagan, (München 2000) 466–501; Briesenick-Christern heidnisch und kaiserzeitlich, sowie b) spätantik und a. a. O. (dazu ausführliche Besprechung: G. Koch, Göt- frühchristlich. Als ›mittelkaiserzeitlich‹ bezeichnet Dres- tingische Gelehrte Anzeigen 256, 2004, 179–199). ken-Weiland (S. 13) die Zeitspanne vom Anfang des 2. Jhs. bis zum späten 3. Jh., vor allem auf die stadt- Marburg Guntram Koch römische pagane Sarkophagproduktion bezogen. Die wichtige Zusammenschau von Bildern und In- schriften erfolgt auf der Grundlage des Materials aus Rom, Concordia und Salona, also auf der Basis der ers- ten beiden Bände des ›Repertorium der christlich-anti- Jutta Dresken-Weiland, Sarkophagbestattungen des ken Sarkophage‹ bearbeitet von H. Brandenburg 4.–6. Jahrhunderts im Westen des römischen Reiches. (Wiesbaden 1967) bzw. J. Dresken-Weiland (Mainz Römische Quartalschrift für Christliche Altertums- 1998). Die Verfasserin konnte noch nicht berücksichti- kunde und Kirchengeschichte 55. Supplementband. gen: III bearb. von B. Christern-Briesenick (Mainz Verlag Herder, Rom, Freiburg, Wien 2003. 455 Seiten, 2003) (neuere Lit.: P. Z a nk e r / B . C . Ewa l d, Mit My- 69 Abbildungen. then leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage [München 2004]; M. Sapelli, La produzione dei sar- Die vorliegende Arbeit stellt das gelungene Ergebnis cofagi in età costantiniana. In: A. Donati/G. Gentili eines Postdoktorandinnenstipendiums aus Regensburg (Hrsg.), Costantino il Grande. La civiltà antica al bivio dar, das zu einer Göttinger Habilitationsschrift geführt tra Occidente e Oriente [Mailand 2005] 166–173). Sie hat. Die Untersuchung geht von der Beobachtung aus, ermöglicht Beobachtungen zu Standard-Dekorationen dass »gerade die nahe liegende und für die historische und lässt die Autorin dann weiter fragen, »ob und in Bedeutung grundlegende Frage nach dem konkreten welchem Ausmaß Käufer von Sarkophagen Einfluss auf historischen Kontext von Sarkophagbestattungen noch die Gestaltung der Bilder nahmen … Die Untersuchung nicht eingehender behandelt worden« ist: »Sowohl epi- der Aufstellungsorte von Marmorsärgen bildet die Vor - graphische als auch archäologische Aspekte von Sarko- aussetzung nicht nur für die Einschätzung von Wertig- phagbestattungen sind bisher nicht gründlich untersucht keit und Bedeutung, die Sarkophagbestattungen im Ver- worden. Dies gilt sowohl für die Kaiserzeit, in der seit ständnis der Zeitgenossen zukamen, sondern auch für dem 1. Jh. n.Chr. die stadtrömische Sarkophagproduk- das Verständnis der auf ihnen angebrachten Bilder« tion einsetzt, welche seit der mittleren Kaiserzeit größere (S. 12 f ). Bedeutung erlangte, als auch für die Spätantike, in der Die Arbeit gliedert sich nach einer kurzen Einleitung wohl im früheren 5. Jh. die Herstellung von Sarkopha- zur Sarkophagbestattung im Kontext der stadtrömischen gen in Rom endete. Die Sarkophaginschriften sind als Bestattungen im 4. Jh. konventionell in einen Untersu- eine sehr wertvolle Quelle anzusehen, da sich zumindest chungsteil und einen Katalog. In Dresken-Weilands die reliefierten Exemplare meist recht gut datieren las- Buch erscheint für das genannte Jahrhundert immer sen« (S. 12). wieder folgende Produktionsfrequenz: 1. Drittel intensiv, Die allein schon dadurch verdienstliche Zusammen- 2. Drittel deutlich fallend, 3. Drittel erneut ansteigend, schau von epigraphischen und archäologischen Daten, wobei aber gefragt werden darf, ob das wirklich zutref- die in bestem Sinne das Konzept der Einheit der Alter- fend ist oder ob wir hier nicht in unsere eigene stil ge- tumswissenschaften von der Archäologie bis zur Alten schichtlich begründete »Chronologiefalle« geraten. Wäh- Geschichte und bis zur Mentalitätsgeschichte einschließ- rend das Faktum hier gar nicht bestritten werden soll, lich jener Disziplinen, die der christlichen Antike gewid - wäre zu prüfen, ob nicht die Begründung vertieft werden met sind, revitalisiert, führt Dresken-Weiland zuerst zu müsste. Die Untersuchungen gehen vom inschriftlichen der Frage nach den Sozialdaten der Bestatteten und Be- Befund aus. Das sind für Rom 485 nichtchristliche und stattenden. Hierzu hatte sich die Autorin schon einmal 310 christliche Sarkophaginschriften (S. 23 u.19). Beide geäußert: J. Dresken-Weiland, Ricerche sui commit- Gruppen werden immer wieder un ter den verschiedenen tenti e destinatari di sarcofagi paleocristiani a Roma, in Fragestellungen miteinander verglichen und inBeziehung dem auch sonst für unsere Thematik wichtigen Sammel- gesetzt. Dabei treten die Fragen nach dem persönli chen band F. Bisconti/H. Brandenburg (Hrsg.), Sarcofagi und sozialen Status und nach dem gender-geschicht- tardoantichi, paleocristiani e altomedievali. Monumenti lichen Aspekt in den Vordergrund. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 424

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So legen sich dem Leser Fragen nach der Bevölke- (vgl. Katalog V: Fundkontexte) ist eines der weiteren rungsstatistik, dem Frauenüberschuss und dem frühen großen Verdienste dieses Buches. Tod der Frauen ebenso nahe wie nach einer sozialge- Aber neben diesen Zusammenstellungen zu Kontext schichtlichen Differenzierung unter den Gesichtspunk- und Material der Funde und zur Grabestopographie bie- ten einer upper middle class der spätkaiserzeitlichen tet dieses Kapitel in seinem 6. Paragraphen unter der fast Gesellschaft [??] und ihrer sozialen Prätentionen, die ja untertrieben reduzierenden Überschrift »Zur oberirdi- im Grabeszusammenhang immer eine Rolle spielen. schen und unterirdischen Aufstellung verzierter und un- Grundsätzlicher ist natürlich die Frage, wieweit geringe verzierter Sarkophage und zur Rolle des Betrachters« Unterschiede statistischer Werte als absolute Unter- wichtige grundsätzliche Ausführungen zur frühchristli- schiede und Veränderungen wahrzunehmen oder Indi- chen Grabesikonographie, speziell zu den Darstellungen kationen für unterschiedliche Tendenzen sind. Solche auf den Sarkophagen. Die Autorin bringt hier einen in- Tendenzen zeigen sich in Übereinstimmung mit unse- novativen Ansatz »zur Rolle des Betrachters bzw. der Be- rem Wissen aus anderen (literarischen) Quellen auch deutung der auf dem Sarkophag angebrachten Bilder« für die Frage nach der Christianisierung von Frauen, im Verhältnis zum Sarkophag selbst. So führt die Beob- Männern und Gesellschaft in Rom und − dazu im Ver- achtung, dass Sarkophage häufig im Boden versenkt gleich − mit Salona und Concordia und in ihren jeweils waren, was vielerorts von Rom bis Trier und Nordafrika unterschiedlichen gesellschaftlichen Gefügen. Aber nachzuweisen ist, neben einer Reihe anderer Beobach- selbst für Rom mit seinem deutlichen und scheinbar ein- tungen (Inschriften oder Bild im Sarkophag) zur These deutigen Ergebnis einer synchronisierten Übersicht über vom »Desinteresse an einem möglichen Betrachter« die Verteilung nichtchristlicher und christlicher Sarko- (S. 189), weiterhin zu der Deutung, dass »keine über den pha ge in drei großen Zeitabschnitten von 270 bis 400 Moment der Beisetzung hinausgehende Außenwirkung n. Chr. (S. 64 f.: 270–300 n. Chr. stehen 788 nicht- beabsichtigt« sei (S. 190) und dass ganz allgemein gelte, christlichen Sarkophagen 71 christliche gegenüber; »dass weniger das Bild als die Tatsache der Sarkophag- 300–330 n. Chr. 317 nichtchristlichen 463 christliche bestattung von Bedeutung war« (S. 194). Darauf weist und 330–400 n. Chr. 12 nichtchristlichen 325 christli- auch die Tendenz zu Wiederverwendung und Mehrfach- che), die innerhalb des 4. Jhs. nicht nur zur Dominanz, bestattung und die Umarbeitung von Architektur- und sondern fast zum Monopol christlicher Sarkophage ge- Sarkophagteilen, die man zu Sarkophagen zusammen- führt haben, fehlen hier die Parameter. Niemand wird setzte. Daraus ergibt sich eine bisher in der Forschung am Ende des 4. Jhs. bei aller Betonung eines Christiani- unbeachtet gebliebene »Gleichbehandlung von unver- sierungsschubes, den die hier untersuchten Quellen mit zierten und reliefierten Exemplaren« (S. 195). 96,5% wohl etwas verzerrt reflektieren, – was seinerseits Das alles hat Auswirkungen für die Interpretation wieder eine für die Mentalität von Sarkophaginhabern des Umgangs der Hinterbliebenen mit Trauer und sehr aufschlussreiche Aussage darstellt –, von einer Schmerz und für das Bedürfnis, die Würde des Verstor- Christianisierung sprechen wollen. Wohl aber ist mit benen und die Repräsentation hervorzuheben. Stärker Dresken-Weiland richtig zu konstatieren, »wie monu- aber vielleicht noch sind die Auswirkungen für die In- mental das Christentum in der Regierungszeit Constan- terpretation der Bilder auf den Sarkophagen. Außer den tins in Erscheinung trat« (S. 66). vielleicht nicht nur primär für die Hinterbliebenen tröst- Die archäologischen Untersuchungen widmen sich lichen Gedanken sieht Dresken-Weiland in ihnen »eine zu nächst den Frauen- und Kinderbildern sowie den in auf die Verstorbenen bezogene Deutung der Darstel- Bosse stehen gebliebenen und den umgearbeiteten lungen« – und sie folgt darin einer Anregung von Josef Porträts. Bei den Kinderbildern muss mit Halbfertig- Engemann (Deutung und Bedeutung frühchristlicher produkten (S. 85) gerechnet werden, die teilweise die Bildkunst [Darmstadt 1999] 107), der im Grabesbereich erhoff te Karriere des Kindes abbilden sollen. Die dex- neben allen anderen Bedeutungen auch eine solche ge- trarum iunctio erscheint auf den frühchristlichen Sarko- fordert hat. Dazu gehört auch eine gewisse magische phagen besonders gerne, wenn die Inschrift einer Frau Schutzfunktion, die die Bilder besessen haben. Die Ent- gewidmet ist, also als Frauenthema: Betonung der Ehe scheidung, ein bestimmtes Bild zu wählen, ist »am ehes- als das Attribut der Frau. Aber muss das eindeutig im ten als persönliche Wahl zu erklären« (S. 192). Neben Sinne einer christlichen Eheethik interpretiert werden? dieser Betonung des Christseins des Verstorbenen wirkt Vielleicht spielt auch hier die frühe Frauensterblichkeit die Wahl der einzelnen Bilder sekundär, da jedes dieser eine Rolle. Bilder eigentlich diese Grundbedeutung enthält. »Insge- Der archäologische Schwerpunkt des Buches liegt im samt entsteht der Eindruck, dass die Menschen der mitt- 3. Kapitel: Aufstellung der Sarkophage. Hier kann nicht leren Kaiserzeit und der Spätantike zu dem auf dem Sarg nur in Rom, Ravenna und Dalmatien eine große Band- angebrachten Bild in vielen Fällen keine exklusive Bezie - breite von Möglichkeiten beobachtet werden: in Grab- hung entwickelt und diesem keine übergroße Wichtig- bauten, sub divo außerhalb von Grabbauten, in Kata- keit beigemessen haben« (S. 193). komben, Kirchen und den römischen Umgangsbasili- Nach der Zusammenfassung auf deutsch, franzö- ken. Dieses Material einmal zusammengestellt und sisch, italienisch und englisch (S. 199–214) folgt der systematisch aufgearbeitet und beschrieben zu haben Katalogteil. Wir finden elf Kataloge: zu Inscriptiones 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 425

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Christianae Urbis Romae 1–10; Repertorium der christ- gem bestehende Forschungslücke. Aufgenommen wur- lich-antiken Sarkophage I–II; Année Épigr. 1973–1987; den von ihm Zeichnungen, die an nicht primär dafür CIL VI; Année Épigr. 1916–1999; Inscriptiones Grae- vorgesehenen Orten, wie z. B. Hauswänden, Säulen- cae Urbis Romae; zu weiteren paganen und zu weiteren schäften, Sitzbänken etc. angebracht wurden. Dabei christlichen Inschriften Roms; zu den Sarkophagin- wird ein Zeitraum von der vorklassischen Zeit bis zur schriften von Concordia und Salona; und schließlich Spätantike abgedeckt, wobei ein Schwerpunkt, nicht den überaus wichtigen Katalog: Fundkontexte kaiser- zuletzt aufgrund der Vesuvstädte, in der frühen und zeitlicher und frühchristlicher Sarkophage. So präzise mittleren Kaiserzeit liegt. Graffitozeichnungen auf be- und materialreich die einzelnen Eintragungen sind, weglichen Trägern sind ausgespart. führt die verwirrende Organisation dieses Kapitels doch Eingangs grenzt der Verfasser das Material ab und auf einige grundsätzliche Fragen. beschreibt die technische Ausführung der Graffiti, die er Darunter scheint mir das am schwersten wiegende durch Fotografien illustriert. Auch zur Datierung der Gravamen zu sein, dass der Leser in einem Werk, das geritzten Zeichen und Motive stellt er Überlegungen an. nicht zuletzt auf der Auswertung epigraphischer Daten Zu Recht weist er auf die Problematik der zeitlichen Ein- basiert, wohl erwarten darf, dass die vollständigen Texte ordnung der Ritzzeichnungen hin. Allerdings muss der der Inschriften wiedergegeben werden. Aus dem Ne- Rezensent anmerken, dass eine Auseinandersetzung mit beneinander der Kataloge hätte sich vielleicht ein großer modernen Fälschungen für den Leser an dieser Stelle Katalog (mit den eingehenden Beschreibungen und den hilfreich gewesen wäre. Immerhin äußert Langner seine Literaturhinweisen) in einer topographischen Ordnung durchaus berechtigten Zweifel an der Authentizität einer nach dem in IV 5 benutzen Schema erstellen lassen. Das Frauenzeichnung vom Magdalensberg (S.44 Anm. 253). hätte zu einer besseren Übersichtlichkeit geführt und In Kapitel II geht der Verfasser zunächst auf die hätte vor allem auch das Miteinander- und Ineinander- Forschungsgeschichte und eine moderne Bewertung verflochtensein von nichtchristlichen und christlichen heutiger Graffiti ein. Dabei formuliert er seine Grund- Sarkophagen und Veränderungen deutlicher machen these: Die antiken Ritzinschriften und -zeichnungen können. Zu einem solchen Generalkatalog hätten dann sind anders als heutige Graffiti nicht als Wandschmiere- einfache Konkordanzen treten können. Er erhielte seine reien oder Sachbeschädigung zu verstehen, sondern ge- Bedeutung auch durch den großen geographischen hörten zur üblichen Praxis, Wände und andere Dinge zu Raum, den Dresken-Weiland dankenswerter Weise ins beschreiben. Dieser Vorstellung darf aus meiner Sicht Auge gefasst hat, nämlich nicht nur die Stadt Rom, die zugestimmt werden. naturgemäß mit ihrem Umland einen Schwerpunkt Im dritten Kapitel (»Zur Funktion verbaler Graffiti«) bildet, sondern auch die ganze westliche Reichshälfte führt der Verfasser diese Überlegungen fort und setzt von Grossbritannien bis nach Spanien, Nordafrika und sich mit dem Zweck verbaler Graffiti auseinander. Dazu Dalmatien. werden die Schriftgraffiti aus Pompeji verschiedenen Im Sinne einer durchsichtigeren Informationsvermitt- Gruppen, wie z. B. Namen, Grüße, Zahlen etc. zugeord - lung, die dann etwa auch erlaubte, z.B. IV1 b Rep. 1, net und ihre Zahl im Hinblick auf drei Anbringungs- 680 und IV5 E 5 an einem Ort zu finden und mit den orte (Außenwände, Innenräume und Säulen der Großen fehlenden Einträgen IV1 a zu ICUR 4164 sowie CIL 6, Palästra) ausgewertet. Kritisch anzumerken bleibt, dass 41341 zu verbinden, wäre dem wichtigen und anregen- eine Sortierung der Ergebnislisten (S. 22–23) nach pro- den Buch für eine zweite Auflage eine Neuorganisation zentualem Anteil hier die Gewichtung hätte deutlicher dieses Teiles zu wünschen. erkennen lassen. Unter den Ritzinschriften bilden die Namen den Wien Wolfgang Wischmeyer größten Anteil. Unterschiedliche Verteilungen lassen sich bei Zahlen und Einzelbuchstaben feststellen. Die Häufung von eingeritzten Zahlen in Innenräumen sieht der Verfasser im Zusammenhang mit einer dortigen Ge- schäftstätigkeit, bei der beispielsweise Rechnungen auf Martin Langner, Antike Graffitizeichnungen. Mo- die Wände geschrieben wurden. Die überdurchschnitt- tive, Gestaltung und Bedeutung. Palilia 11. Dr. Ludwig liche Zahl von Einzelbuchstaben auf den Säulen der Reichert Verlag, Wiesbaden 2001. 352 Seiten, 163 Ta- Großen Palästra wird von ihm allerdings nicht kom- feln, 78 Abbildungen und 1 CD-ROM. mentiert. Sie lässt sich nach meiner Meinung am ehesten als abgekürzte Personennamen zu der ohnehin häufigen Erfolgte eine Edition der Graffiti-Inschriften auf Wän- Gruppe der Namen addieren. den, z. B. aus Pompeji, nur wenig nach ihrer Entdeckung In Kapitel IV (»Motive der Graffitizeichnungen und u.a. im Corpus Inscriptionum Latinarum IV, so wurden ihre Ausführung«) werden die Zeichnungen klassifiziert, die gleichzeitig entdeckten Ritzzeichnungen kaum sys- erläutert und Hauptthemen wie beispielsweise »Orna- tematisch zusammengestellt und ausgewertet. Mit der mente und Symbole« oder weiteren Untergruppen wie Untersuchung antiker Graffitozeichnungen schließt nun z.B. »Buchstabenbilder« zugeordnet. Neben der Be- der Verfasser in seiner Kölner Dissertation diese seit lan- schreibung der einzelnen Motivgruppen weist Langner 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 426

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auch auf die Orte der Anbringung und den Sinnzusam- Die Graffiti sind als Strichzeichnungen auf 163 Ta- menhang durch beigefügte Inschriften hin. feln verteilt. Die Strichzeichnungen sind von guter Qua- Einführend in das fünfte Kapitel (»Spezifische Ei- lität. Die Unterschiede in Strichstärke und Darstellung genheiten der Gattung der Graffitozeichnungen im Ver- sind wohl auf die Übernahme von verschiedenen Vorla- gleich zu anderen Bildgattungen«) werden die Graffito- gen zurückzuführen und können nicht dem Verfasser motive nach ihrer Häufigkeit ausgewertet. So gehören angelastet werden. die Darstellungen von Köpfen, Sportlern, Tieren und Der Katalogteil, weitere Tabellen und Diagramme Schiffen zu den geläufigsten Themen. Ausführlich setzt finden sich auf einer beiliegenden CD. Sie liegen in sich der Verfasser auch mit den Charakteristika von Form einer FileMaker Pro Datenbank vor. Die Daten- Graffitozeichnungen auseinander. Typisch für die einge- bank ist benutzerfreundlich und leicht zu bedienen. Sie ritzten Zeichnungen ist die inhaltliche Verkürzung der darf nach Aussagen des Autors sogar beliebig erweitert Aussage auf ein prägnantes Bild. Drei Möglichkeiten der werden, wofür ihm zu danken ist. Es bleibt nur zu hof- Entstehung von Graffitozeichnungen stellt Langner he- fen, dass die Datenbank auch unter künftigen Wind- raus: Erstens Zeichnungen, die nach einer Vorlage abge- ows-Versionen nutzbar bleibt. Ein Ausdruck des ca. 550 zeichnet wurden, zweitens kreative Umdeutungen eines Seiten umfassenden Kataloges ist bei der rasanten Ent- bekannten Motivs und drittens vollkommene Neu- wicklung in der Computerwelt zumindest anzuraten. schöpfungen durch den antiken Zeichner. Eine Inschrift Alles in allem präsentiert Langner ein sehr nützliches wird vielfach dann angebracht, wenn die Bildsprache für Werk, dessen dokumentarischer Wert bei dem jährlichen den beabsichtigten Zweck nicht mehr ausreichte oder es Verlust von Graffitozeichnungen, sei es durch menschli- gewünscht war, das Motiv zu konkretisieren oder zu per- che Einwirkung oder durch Umwelteinflüsse, nicht hoch sonifizieren. genug einzuschätzen ist. Es bleibt zu hoffen, dass auch Das vorletzte Kapitel ist der Anbringung von Graffiti die Graffitozeichnungen auf beweglichen Trägern bald gewidmet (»Anbringung und Bedeutung der Graffiti- eine ähnliche Bearbeitung erfahren. Ein Vergleich zwi- zeichnungen«). Hier werden die Zeichnungen der un- schen dem Repertoire der hier vorgestellten Zeichnun- terschiedlichen Zeitperioden genauer untersucht. Ein gen und solchen auf Keramik, Bein oder Glas mag zum Schwerpunkt liegt dabei auf den Graffiti aus Pompeji. Verständnis dieser Gattung weiter beitragen. Dort werden beispielhaft Räumlichkeiten mit Graffiti vorgestellt und die Komposition ihrer Motive erläutert. Kleve Stephan Weiß-König Hier manifestiert sich das Bild, dass die eingeritzten Darstellungen besonders dort auftauchen, wo sich viele Menschen versammelt oder oft aufgehalten haben. Im Unterkapitel VI.2.i (S. 121) nimmt Langner auch zu den Urhebern der Graffiti Stellung. Ich bin der Mei- Michel Reddé und Siegmar von Schnurbein nung, dass dieses wichtige Thema durchaus auch in (Hrsg.), Alésia. Fouilles et recherches franco-alleman- einem Hauptkapitel hätte erörtert werden können. Bei- des sur les travaux militaires romains autour du spielsweise hätte hier der Frage nachgegangen werden Mont-Auxois (1991–1997). Mit Beiträgen von Ph. Bar- können, worin sich die Zeichnungen von Frauen im ral, J. Bénard, St. Bender, N. Benecke, H. J. F. Gegensatz zu denen von Männern unterscheiden. Im- Bloemers, Ch. Bourquin-Mignot, V. Brouquier- merhin wird bei einigen Graffiti diskutiert, dass Kinder Reddé, J.-F. Buoncristiani, A. Colin, R. Collot, die Urheber sein könnten (S. 43; 112f.). G. Depierre, A. Deyber, J.-Cl. Druart, B. Fischer, Im letzten Kapitel findet eine abschließende Betrach- A. Ge lot, O. Girardclos, R. Goguey, K. Gruel, tung statt. Die nachfolgenden Zusammenfassungen sind M. Joly, A. Kermorvant, H.-J. Köhler, W. Kuchen- in Englisch und Italienisch geschrieben und nur in eini- brod, J. Monnier, Cl. Mordant, Ch. Petit, L. Popo- gen Passagen mit dem vorangehenden Resümee iden- vitch, H. Richard, M. Reddé, S. von Schnurbein, tisch. Warum dieser Unterschied gemacht wurde, bleibt S. Sievers, C. van Driel-Murray, C. Wenzel. Mé- unklar. moires de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, Der Verfasser hat nach eigenen Angaben die Layout- Band 22. Diffussion De Boccard, Paris 2001. und Satzarbeiten selbst übernommen, wofür ihm Aner- Band 1: XX und 562 Seiten, 298 Abbildungen, 3 Farb- kennung gebührt. Allerdings haben sich einige Fehler tafeln, 1 CD-ROM. – Band 2: 386 Seiten, 25 Abbil- eingeschlichen, die beim Lesen auffallen. So finden sich dungen, 116 Tafeln. – Band 3: 19 Beilagen. einige Fußnoten nicht auf der gleichen Seite des Verwei- ses, sondern stehen auf der nachfolgenden Seite (S. 36 Wie die so genannte Varus-Schlacht im Teutoburger Anm. 203). Der Fußnotentext auf Seite 140 (Anm. 927) Wald als ein Markstein der deutschen Geschichte ange- verteilt sich sogar über drei Spalten bis auf die nächste sehen wird, ist die Belagerung und der Fall des gallischen Textseite, was sicherlich vermeidbar gewesen wäre. Wei- oppidum der Mandubier Alesia im Jahr 52 vor der Zei- terhin anzumerken ist die in der Bildunterschrift von tenwende ein Ereignis von großer Tragweite und ein Abb. 69 angekündigte, aber fehlende Höhenangabe der wichtiger Wendepunkt in der französischen Vergangen- Zeichnung (vgl. dazu Abb. 67). heit. Wegen seiner Bedeutung – die Belagerung ist zu 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 427

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den Höchstleistungen römischer ›Kriegskunst‹ zu zäh- knapp gehaltene Beschreibungen des Gesamtbefundes len – zog das Fundareal beim heutigen Alise-Sainte- aufgerufen werden. Reine immer wieder das Interesse der Altertumsforscher Der zweite Band enthält die Beiträge zu den Funden, auf sich. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht waren die vor allem bei den Ausgrabungen 1991–1997, teils die Unternehmungen, die in den Jahren 1861–1865 auf aber auch bei den Altgrabungen zutage kamen. Den Anordnung Napoleons III. zunächst unter der Leitung Schwerpunkt bilden einerseits die gallischen und römi- von P. Millot, später vor allem unter Aufsicht des schen Münzfunde, andererseits die umfangreichen Waf- Schweizer Offiziers Eugène Stoffel stattfanden, von er- fenfunde. Die nächst größeren Fundgruppen stellen die heblichem Gewicht, da es damals gelang, aus dem Stand meist metallenen Ausrüstungs- und Gebrauchsgegen- ein Gesamtbild der caesarischen Belagerungswerke zu stände dar. Eine Studie widmet sich dem Rest eines Le- entwerfen (vgl. [Napoleon III.,] Histoire de Jules César derzelts der Belagerer. Der letzte Beitrag befasst sich mit [Paris 1865–1866]). In der Zeit Napoleons III. war al- den durch die Ausgrabungen entdeckten Tierknochen. lerdings die (Feld-)Archäologie als Wissenschaftsfach Beim dritten Band handelt es sich um eine Mappe mit eigenen Methoden noch gar nicht entwickelt, und mit 19 Plänen der Befunde der modernen Ausgrabungen die Vorstellungen der Altertumsforscher zur Antike be- sowie mit einem Nachdruck älterer Übersichtspläne vor ruhten überwiegend auf der gründlichen philologisch- allem der napoleonischen Ausgrabungen. Besonders in- historischen Analyse der Schriftquellen. Gleichwohl struktiv ist die große Übersichtskarte 3, die die Befunde haben die Untersuchungen des 19. Jhs. mit ihren ge- der neuen Ausgrabungen – farblich abgesetzt – in den nauen Beobachtungen und der Befunddokumentation Kontext der Altgrabungen von 1861–1865 einbindet. die entscheidenden Grundlagen der heutigen Kenntnisse Der von seiner Beschaffenheit her sehr heterogene des Fundplatzes gelegt. Erst nach 130 Jahren ergab sich und komplexe Fundplatz Alesia war nur in enger Zusam- erneut die Möglichkeit, Ausgrabungen größeren Um- menarbeit der verschiedenen archäologischen Diszipli- fangs am Fundort durchzuführen, deren Ergebnisse nen (Provinzialrömische Archäologie, Ur- und Frühge- recht schnell in der hier anzuzeigenden Publikation ver- schichte, Numismatik) neu zu untersuchen, die ihrerseits öffentlicht wurden. Neben den beiden Hauptautoren durch naturwissenschaftliche Studien (Geologie, Tier- waren 30 weitere Mitarbeiter an der Abfassung des drei- knochenauswertung) und Prospektionsmethoden (Luft- bändigen Werks beteiligt, das – dem Ort und seiner his- bildarchäologie, geophysikalische Prospektion) ergänzt torischen Bedeutung angemessen – einen qualitätvol- wurden. Die Vernetzung der Ergebnisse der verschiede- leren, d. h. stabileren Einband verdient hätte. Im ersten nen Wissenschaftszweige ist weitgehend gelungen. Auf Band sind hauptsächlich die Befunde der sieben Ausgra- den Seiten 55–103 von Band 1 wird die naturräumliche bungskampagnen von 1991–1997 ausgewertet worden. Situation des Fundplatzes Alesia und seiner Umgebung Bei der Größe des Grabungsobjekts mussten sich die Un- analysiert. Die ausführliche Studie befasst sich nicht nur tersuchungen der französisch-niederländisch-deutschen mit den geologischen Gegebenheiten vor Ort, sondern Equipen auf ausgewählte Bereiche des Einschließungs- auch mit den Auswirkungen der Anlage des gewaltigen werks konzentrieren: Neben Sondagen auf der Mon- Zernierungswerks auf die Landschaft. Allein für die Er- tagne de Bussy (Lager C) und der Montagne de Flavigny richtung der Wehrtürme, deren Zahl auf mehr als 6000 (Lager A und B, castellum 11) wurden größere Flächen- geschätzt wird, mussten ungefähr 60 ha Wald abgeholzt ausgrabungen in der Plaine des Laumes und in der Plaine werden. de Grésigny sowie am Ostabhang des Mont Réa vorge- Auf den Seiten1–31 von Band1 wird die Forschungs- nommen. Zu zentralen Themen römischer Belagerungs- geschichte des Fundplatzes Alesia und seiner Belage- technik liegen am Ende des ersten Bandes Beiträge der rungswerke behandelt. Nützlich ist die Übersicht über beiden Herausgeber vor. Das große oppidum, das allein die zahlreichen Ausgrabungen und Sondagen im Gebiet eine Fläche von knapp 100 ha umfasst, konnte im Rah- der caesarischen Anlagen zwischen den Jahren 1905 men dieser Untersuchungen nur am Rande archäolo- und 1990 sowie die Zusammenstellung der mittlerweile gisch erforscht werden: In den Jahren 1991–1996 fan- umfangreichen Bibliographie. Die Grabungsmethoden den hauptsächlich kleinere Sondagen im Bereich der Be- unter Napoleon III. waren durch das Anlegen meist lan- festigungsanlagen an der östlichen, schiff bugartigen ger, schmaler Suchschnitte und durch das Ausheben Hügelspitze bei La Croix-Saint-Charles statt. Eine dem der Grabenverfüllungen der römischen Schanzwerke 1. Band beigelegte CD-Rom zeigt mit 141 Photogra- bestimmt. Diese Vorgehensweise ermöglichte es den phien eine Auswahl der über 4000 Aufnahmen umfas- Ausgräbern, verhältnismäßig schnell ein Gesamtbild des senden Luftbilddokumentation des Belagerungsrings Belagerungssystems zu gewinnen. Gleichwohl war es auf und des oppidum Alesia aus vier Jahrzehnten systemati- diese Weise kaum möglich, Detailfragen wichtiger Sek- scher Befliegungen (1959–1999). Sie werden dem fran- toren zu klären. Das Unternehmen der Jahre 1991–1997 zösischen Luftbildarchäologen R. Goguey verdankt. hatte den Vorteil, auf den Ergebnissen dieser Altgra- Eine Übersichtskarte erlaubt es dem Leser, rasch die bungen auf bauen zu können. Die verfeinerten archäolo- wichtigsten Fundstellen auszusuchen. Neben den reinen gischen Methoden der heutigen Zeit, bei denen vor Luftbildern können mittels Schaltflächen die in den Auf- allem die Luftbildarchäologie mit ihren jahrzehntelan- nahmen gekennzeichneten Bewuchsmerkmale sowie gen Befliegungen eine wichtige Rolle spielte, erlaubten 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 428

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eine differenzierte Erforschung des Belagerungswerks, lassen. Zu Beginn der Belagerung bot in diesem Ab- wobei man sich auf ausgewählte Aspekte des Objektes schnitt der weit vorgeschobene 20-Fuß-Graben am Fuß beschränken musste. des Mont Auxois zwischen den Flüssen Oze und Oze- Bereits bei den Ausgrabungen unter Napoleon III. rain den ersten Schutz bei Anlage der Schanzwerke wurde erkannt, dass das caesarische Zernierungswerk im (Caes. Gall. 7,72,1), wobei allerdings die Entfernungs- wesentlichen aus zwei Linien, einem inneren und einem angabe nicht mit der tatsächlichen Lage übereinstimmt. äußeren Belagerungsring, bestand. Die innere Linie (die Bereits bei den napoleonischen Ausgrabungen lokali- so genannte contrevallation) war gegen das oppidum ge- siert, konnte er bei den jüngsten Kampagnen nur mittels richtet und hatte eine Länge von etwa 15 km. Die äußere einer kleinen Sondage untersucht werden. Linie (die so genannte circonvallation) mit ihrer Ge- Gegenüber der contrevallation hatte das Schanzwerk samtlänge von 20,7 km und – im Gebiet der Ebenen – der circonvallation in der Plaine des Laumes ein abwei- mit einem regelmäßigen Abstand von 100–150 m zur chendes, etwas schwächeres Verteidigungssystem. Vor contrevallation war gegen das gallische Entsatzheer an- einem ersten Graben waren fünf bis sechs Reihen von so gelegt worden, das dem eingeschlossenen oppidum zu genannten Wolfslöchern (liliae: Caes. Gall. 7,73,8–9) Hilfe kam. Im Allgemeinen haben die jüngsten Unter- angelegt; dabei handelt es sich um kegelstumpfförmige nehmungen die Ergebnisse der Altgrabungen Napoleons Vertiefungen. Nach Caesars Beschreibung waren in sie III. bestätigt, insbesondere was die Trassenführung der Rundhölzer mit feuergehärteter Spitze eingelassen, die beiden Linien anbelangt. Im Gegensatz zur detaillierten bei den modernen Ausgrabungen jedoch nicht nachge- Beschreibung durch Caesar (bes. Gall. 7,72–74: Dop- wiesen werden konnten. In einer Zone zwischen dem pelgraben mit dreifachem System von Annäherungshin- vorderen und dem inneren Graben werden vier Reihen dernissen) ergaben die modernen Ausgrabungen, dass stimuli oder liliae angenommen; der archäologische Be- sich das Schema der Belagerungswerke je nach Abschnitt fund ist aber unsicher. Die Distanz der Wehrtürme im änderte; dies betraf sowohl die für die Umwehrungen agger fiel in diesem Abschnitt mit 17 m weiter als auf der verwendeten Materialien (Rasensoden, Steine) als auch gegenüberliegenden Schanzlinie aus. die Anordnung, Anzahl und Machart der Annäherungs - Die in der Plaine des Laumes beobachteten Elemente hindernisse (Gräben, liliae, cippi und stimuli). Neben wiederholen sich in den Abschnitten, die bei den mo- den Unterschieden, die durch das unterschiedliche Bau- dernen Ausgrabungen untersucht wurden, am Fuß des material hervorgerufen wurden, spielte die topographi- Mont Réa, in der Plaine de Grésigny, auf der Montagne sche Lage der Belagerungsabschnitte innerhalb der Ge- de Bussy, in den Flusstälern der Oze und dem Ozerain samtanlage eine maßgebliche Rolle. Der stärkste bislang und auf der Montagne de Flavigny. Allerdings variieren freigelegte Abschnitt des caesarischen Zernierungswerks der Ausbau und die Anordnung der jeweiligen Annähe- war das in der Plaine des Laumes gegen das oppidum rungshindernisse. Die Unterschiede sind in schemati- gerichtete Schanzwerk. Es bestand aus zwei vorderen schen Rekonstruktionszeichnungen (Abb. 296 f.) für Gräben, von denen der äußere wenigstens streckenweise fünf Abschnitte anschaulich dargestellt. Mit weiteren Wasser führte. Dies stimmt mit dem Bericht Caesars Variationen ist zu rechnen, da nur ein Teil des gesamten (Gall. 7,72,3) überein, wonach quarum interiorem cam- Zernierungswerks bis heute aufgedeckt wurde. pestribus ac demissis locis aqua ex flumine derivata com- Von den bekannten Zernierungslagern wurden die plevit. Es schließt sich eine 14–16 m breite Zone von Lager A, B und C sowie das castellum11 verhältnismäßig speziellen Annäherungshindernissen an, die aus sechs kleinflächig untersucht. Das Lager A, auf der Spitze des Reihen versetzt angeordneter Eintiefungen gebildet wer- Mont Mincey gelegen, hat eine Größe von 2,32 ha. Mit den; sie entsprechen den von Caesar (Gall. 7,73,9) als einer Form, die einer Niere gleicht, passt sich die Um- stimuli bezeichneten Fallen: Das sind eingetiefte, oben wehrung dem Gelände an. Im Norden und Süden sind mit eisernen Widerhaken (hami) versehene Holzpfähle; zwei Toranlagen nachgewiesen, wobei das nördliche Tor im Fundmaterial anzutreffende zickzackförmige Eisen- durch eine innere clavicula, das Südtor durch ein mäch- stacheln sind wahrscheinlich mit den erwähnten Wider- tiges titulum geschützt wurde. Im Nordwesten zeichnen haken gleichzusetzen (Bd. 2 S. 239 f. Taf. 85,753–758). sich die Pfosten eines Turms und an der Westseite die Auf die stimuli folgen zwei Reihen von länglichen Gräb- Pfosten der Umwehrung ab. Das Lager B gehört mit chen, die zur Aufnahme von Astverhauen (cippi bei einer Fläche von 7,3 ha zu den größten Lagern des Zer- Caes. Gall. 7,72,2–4) dienten. Vor der eigentlichen nierungswerks. Es hat eine unregelmäßige, etwa ellipti- Umwehrung wurde ein dritter Graben gefunden, der in sche Form. Eine Toranlage ist lediglich an der Nordseite Caesars Bericht nicht erwähnt ist. Der agger wurde aus bekannt. Durch die jüngsten Ausgrabungen wurde vor Rasensoden, wie einige Stücke in der Böschung des drit- allem der Bereich der Südwestecke der Umwehrung ten Grabens bezeugen, und dem Grabenaushub errich- freigelegt, auf die die circonvallation mit einer etwa tet. Recht anschaulich verdeutlichen Skizzen (Bd.1 S. 91 10 m breiten Unterbrechung stößt. Diese Unterbrechung Abb. 24) die Auswirkungen der Arbeiten an den Zer- wurde durch drei Reihen von Annäherungshindernissen nierungswerken auf die Landschaft und den Prozess des (cippi) geschützt. Die Lagerbefestigung – bestückt mit Verfalls der römischen Schanzwerke nach dem Ende der engstehenden Vierpfosten-Türmen – bestand aus Tro- Belagerung. Wehrtürme, bestehend aus vier Pfosten, ckenmauerwerk, das mit einem Balkenwerk durchsetzt waren mit einem Abstand von 15 m in den Wall einge- war. Das castellum 11 (0,9 ha) wurde bei den jüngsten 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 429

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Ausgrabungen nur durch einen langen Suchschnitt er- inzwischen auch für die augustische Zeit gesichert sind fasst und seine Existenz bestätigt. Das Lager C, das sich (Lager von Cildá und El Cantón sowie Ostlager von an die Innenseite der nordöstlichen circonvallation Haltern). Nach älterem Forschungsstand wurde an - lehnt, hat mit einer Fläche von ungefähr 7 ha ähnliche genom men, dass sie frühestens in die flavische Zeit Abmessungen wie das Lager B. Der Verlauf der Um- datieren. wehrung ist teils rechtwinkelig, teils gerundet angelegt. Die in der Plaine des Laumes neuentdeckte Anlage Durch die modernen Grabungen konnten ein Nordost- Épineuse fällt insofern aus dem Schema der übrigen Zer- tor und ein Osttor festgestellt werden; beide Toranlagen nierungslager von Alesia heraus, als der rautenförmige sind durch innere claviculae geschützt. Das Nordosttor Grundriss und die Lage zwischen contrevallation und weist an der Feldseite zwei längliche, parallele Eintiefun - circonvallation bisher singulär sind. Mit S. v. Schnurbein gen auf, bei denen es sich wahrscheinlich um ein Annä- (Bd. 1 S. 387f.) ist dieser Anlage, die vielleicht als ge- herungshindernis (titulum) handelt, das sich allerdings schützter Bereitstellungsraum zu bezeichnen ist, zwei von demjenigen vor dem Südtor des Lagers A unterschei- Aufgaben zuzuweisen: 1. Schutz des Innenraums zwi- det. In den Luftbildern zeichnet sich ein drittes Tor an schen den beiden Schanzlinien bei feindlichen Durch- der Südseite ab. Außer diesen Spuren gibt es nur wenige brüchen und 2. Sammelstelle/Lagerplatz römischer Hinweise auf die eigentliche Lagerumwehrung; vor dem Truppen mit der Möglichkeit für unerwartete Ausfälle. Wehrgraben verlaufen zwei Reihen von cippi. An der Kenntnisse zu den übrigen, als Lager gedeuteten Befun- Stelle, wo die circonvallation auf die Ostecke des Lagers den D, G, H und K liegen bis heute kaum vor. Von den C stößt, kann wie bei Lager B eine Durchfahrt beobach - 23 Forts, die Caesar (Gall. 7,69,7) expressis verbis er- tet werden, die nach Ausweis der Bodenspuren durch wähnt und die in den Übersichtsplänen des 19. Jhs. eine Toranlage gesichert war. Zu diesem Zweck hat man größtenteils interpoliert sind, konnten bislang lediglich den ausgehobenen Lagergraben an dieser Stelle mit einer vier (Nr. 10, 11, 15 und 18) nachgewiesen werden. In den Steinpackung wiederverfüllt, auf der man sich eine Ab- Luftbildern zeichnen sich Merkmale weiterer Forts (z.B. riegelung bis zur Außenkante der Lagerumwehrung zwischen Lager B und castellum11) ab, die aber noch der vorstellen muss. An der Südseite des Lagers konnte eine archäologischen Untersuchung bedürfen. Gabelung der Umwehrung beobachtet werden, bei der Im Unterschied zu den neuen Erkenntnissen zu den ein Graben bogenförmig in das Lagerzentrum abzweigt. Lagerbefestigungen ist die Quellenlage zur Innengliede- Offensichtlich handelt es sich um eine Vergrößerung des rung und -bebauung der Zernierungslager um Alesia Lagers an der Ostseite. Zwei Schleuderbleie mit der ungenügend. Hauptursache ist vor allem der schwierige Nennung des T. Labienus, eines der herausragenden Untergrund, der kaum Spuren der Lagerunterteilung Legaten Caesars, die im Lager C gefunden wurden, spre- oder von Lagerbauten erkennen lässt. Allerdings wurden chen für die Anwesenheit der ihm unterstellten Truppen mit Ausnahme kleiner randlicher Suchschnitte keine in dieser Anlage. Das Lager Caesars wird heute von großflächigen Grabungen im Kern der Lager durchge- M. Reddé (Bd. 1 S. 500) – allerdings ohne endgültigen führt. Beweis – im Lager B vermutet. Neben den freigelegten Befunden bedurfte das um- Die neuen Ausgrabungen haben die Untersuchungen fangreiche Fundmaterial, das im Gebiet der Belage- durch Napoleon III., was die Zahl der Zernierungslager, rungswerke zutage kam, einer sorgfältigen Analyse. Im ihre Lage und ihre Form angeht, weitgehend bestätigt. Münzbestand, der wegen verschiedenartiger Auffin- Es ist lediglich das Lager Épineuse in der Plaine des Lau- dungsumstände sehr heterogen ist (Funde der napoleo- mes hinzugekommen, während das Lager I als caesari- nischen Ausgrabungen, Streufunde und die jüngsten sche Anlage ausscheidet (Bd. 1 S. 402–407). Die For- Prospektionsfunde), überwiegen mit über 700 Exem- men der verhältnismäßig kleinen Zernierungslager sind plaren die keltischen Prägungen, wobei wiederum die sehr unterschiedlich. Die Spielkartenform, die später Gruppe der Arvener-Münzen mit 97 Stücken die Mehr- besonders bei den kaiserzeitlichen Militärlagern vor- heit stellt. Das Münzspektrum zeigt eine große Variati- herrschte, ist nach heutigem Kenntnisstand vor Alesia onsbreite, was die Herkunft der einheimischen Münzen nicht vertreten; vielmehr passt sich die Mehrheit der anbelangt. Erstaunlicherweise wurden die meisten kelti- Lager weitgehend dem Gelände an. Sie greifen Formen schen Prägungen in den römischen Lagern (B und C) auf, die schon etwa 80 Jahre früher bei den Zernierungs - gefunden. Als Erklärungen werden die Aufenthalte der lagern des P. Cornelius Scipio Africanus um Numantia römischen Truppen bei den jeweiligen Stämmen vor der angewendet wurden. Ähnliche Grundrisse begegnen Belagerung oder die Nähe der Stämme zum oppidum einige Jahrzehnte nach dem Fall von Alesia bei den Alesia angeführt. Die einheimischen Bronze- bzw. Potin - augustischen Lagern aus der Zeit der kantabrischen prägungen dienten den in Silber ausgezahlten Legionä- Feldzüge und bei den Lagern in Germanien (Nijmegen ren als Wechselgeld. Römische Münzen sind insgesamt Kops-Plateau, Rödgen, Sasbach, Hofheim/Erdlager nur mit 164 Exemplaren vertreten. Alle republikani- etc.). Mittlerweile ist sowohl durch Luftbildaufnahmen schen Münzprägungen gehören in die Zeit zwischen den als auch durch die jüngsten Ausgrabungen bei Alesia Jahren 212/211 und dem Jahr 54 vor der Zeitenwende. (Lager A, C, Épineuse) erwiesen, dass die so genannten Neunzehn Münzen aus der Zeit von Augustus bis Kaiser clavicula-Toranlagen und die titula übliche Elemente Valens können nicht mit den caesarischen Belagerungs- der spätrepublikanischen Lagerbefestigungen waren, die werken in Verbindung stehen. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 430

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Römische Gefäßkeramik spielt mit weniger als 50 den Kämpfen des Jahres 52 zu erklären ist. Als ein gut Exemplaren eine untergeordnete Rolle im gesamten datiertes Ensemble der caesarischen Zeit bzw. der Spät- Fundspektrum. In der Mehrzahl handelt es sich um latène-Zeit (Stufe D 2) erlauben sie zusammen mit den Weinamphorenfragmente der Form Dressel 1 B. Inwie- Neufunden die Rekonstruktion der zeitgenössischen kel- weit zwei Campana-Scherben mit der Einschließung im tischen Ausrüstung und Bewaffnung, während insbe- Jahr 52 in Zusammenhang gebracht werden können, ist son dere die Schutzwaffen der römischen Truppen bis- unsicher. Bei der einheimischen Spätlatèneware sind lang kaum zu fassen sind. sowohl grobe handgemachte Keramik als auch Dreh- Bei den restlichen Fundmaterialien sind besonders scheibenware vertreten. die Fibeln und zahlreichen Schuhnägel zu erwähnen, die Neben den neuentdeckten Spuren der Belagerungs- Auskunft über die Trachtbestandteile der Legionäre werke selbst ist die Untersuchung von S. Sievers zu den geben. Bereits 1862 wurde ein teilvergoldeter, silberner Waffenfunden, die bei der Belagerung Alesias in den Skyphos mit griechischen Graffiti in einer Grabenfül- Boden gelangten, ein Schlüsselkapitel der Publikation. lung in der Plaine des Laumes entdeckt, der wahrschein- In diesem Rahmen wurden akribisch sowohl die Funde lich aus Süditalien stammt. Der Rest einer Ziegenhaut, aus den aktuellen Ausgrabungen und Prospektionen als die im titulum vor dem Lager A gefunden wurde, gibt auch die Altfunde behandelt, so dass der Leser den Ein- eine Vorstellung von der Unterbringung der Legionäre in druck hat, einen Gesamtüberblick über die von Belage- Lederzelten; das erhaltene Randstück war wahrschein- rern und Belagerten eingesetzten Waffen gewinnen zu lich wegen seiner Beschädigung fortgeworfen worden. können. Trotz der Fülle des Materials zeigt sich aller- Unter den etwa 3500 Tierknochen fielen in zwei Gra- dings, dass eine Selektion durch die Sieger stattfand, da bungsarealen die Überreste von Pferden auf, die zwei- römische Waffen- und Ausrüstungsgegenstände weniger felsfrei mit der caesarischen Belagerung in Verbindung häufig zutage kamen. Für die gallische Seite sind Helm- gebracht werden können. Es handelt sich um 5–10 Jahre teile (vor allem Wangenklappen), Schildbuckel und -be- alte, hauptsächlich männliche Tiere mit einer Widerrist- schläge, Schwerter und Schwertscheiden, eiserne Lan- höhe von 1,15–1,60 m. Hengste waren für den Krieg am zenspitzen und -schuhe bezeugt. Auch wenn bei einigen besten geeignet; als Vergleich werden die Pferdeskelette keltischen Waffen wie Lanzenspitzen und Schildbuckeln vom Schlachtfeld des Bataveraufstands bei Krefeld-Gel- Gemeinsamkeiten mit der zeitgenössischen germani- lep herangezogen. Die Jagd spielte nach den Funden vor schen Bewaffnung bestehen, ist es nicht möglich, auf Alesia keine Rolle; unter den Haustieren dominieren diese Weise die überlieferten germanischen Hilfstruppen Knochenfunde von Rindern und Ziegen. Caesars zu belegen, wie dies früher angenommen wurde. Irrtümer sind mir in dieser Publikation nur selten Als römische Waffen können Pilumteile, gladii, ein aufgefallen. Im Bd. 1 S. 511f. Abb. 281–282 müssen die pugio, die gelegentlich mit Inschriften versehenen Bleige- Abbildungsnachweise »nach A. Schulten, Die Lager bei schosse sowie die Fußfallen (hami) der stimuli und Fuß- Renieblas. Numantia IV (München 1929) Beil. 31– angeln (tribuli) identifiziert werden. Auf Seiten der 33,2.« lauten. Die Buchstaben auf einem der Schleuder- Belagerer überwiegen offenkundig die Fernwaffen, die bleie sind wahrscheinlich zu HAL aufzulösen, wie auch nach Abschluss der Kämpfe leicht übersehen werden im Bd. 2 S. 238 Nr. 724 erwähnt. Die Auflösung zu konnten oder wegen ihrer Beschädigungen nutzlos Hatria – wie im Bd. 2 S. 173 vorgeschlagen – ist damit waren. Bei einigen Waffenresten wie z. B. Lanzen- und hinfällig. Pfeilspitzen ist eine Zuschreibung an die Belagerer oder Vor dem Hintergrund der neuen archäologischen Un- die Belagerten nicht möglich bzw. umstritten. tersuchungen stellt sich die Frage nach dem Wahrheits- Ausführlich werden verschiedene Interpretationsmo- gehalt der überlieferten Berichte Caesars (M. Reddé, delle für die Häufung von Waffen in den Gräben unter- Bd. 1 S. 489–506). Nach unserem heutigen Wissen halb des Mont Réa diskutiert, die bei den Ausgrabungen sind die Angaben Caesars zu den römischen Zernie- im Jahr 1863 zutage kamen. Neben der Deutung als rungswerken vor Alesia im Kern stimmig; im Detail zei- Reste von Bestattungen (Massengräber ohne Waffen am gen sich im archäologischen Befund zahlreiche Abwei- Fluss Rabutin) wird aufgrund ineinander gestapelter chungen zu den Berichten. Von dieser Seite sollte und Schildbuckel und zusammengebundener Schwerter ein kann die Glaubwürdigkeit Caesars nicht in Frage gestellt Zusammenhang mit kultischen Deponierungen für werden, da seine commentarii keine poliorketischen Ab- möglich gehalten. Gegen die Überlegung, dass die Waf- handlungen waren, die eine detailgetreue Beschreibung fen zu tropaia gehören könnten, die von den Römern dieses heterogenen und in seiner Gesamtheit damals nach gewonnenen Schlachten errichtet wurden, spricht kaum zu überschauenden Belagerungswerk erfordert das Fehlen charakteristischer Feldzeichen und Kriegsin- hätten. strumente der Gallier. Vor dem Hintergrund, dass die Betrachtet man die bisherigen Untersuchungen im Dokumentation dieser Befunde im 19. Jahrhundert un- Überblick, so können die ausgedehnten Bodenspuren in zureichend war und die jüngeren Ausgrabungen keine der Gegend um den Mont Auxois nicht oder nur be- vergleichbaren Ansammlungen an Waffen erbracht dingt als ein geschlossenes Fundensemble im eigentli- haben, zeichnet sich kein befriedigendes Erklärungsmo- chen archäologischen Sinn bezeichnet werden. Dies ist dell ab. Der Bearbeiterin S. Sievers ist beizupflichten, schon wegen der riesigen Ausdehnung der Belagerungs- dass die Konzentration dieser Waffenfunde nur mit werke ausgeschlossen. Wie bereits bei früheren Ausgra- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 431

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bungen kamen auch bei den Kampagnen der Jahre Abbildungen, die an passenden Stellen den Text illus- 1991–1997 Funde zutage, die aus der Zeit vor der galli- trieren und ergänzen. schen Besiedlung stammen (kleine Nekropole der mitt- Wenn Ecks Werk alle früheren Darstellungen des rö- leren Bronzezeit mit Brand- und Körperbestattungen, mischen Köln an Umfang weit übertrifft, so nicht des- Bd. 1 S. 105–122). Auch mit der Möglichkeit der Ver- wegen, weil sich der Bestand an literarischen Quellen mengung von Funden jüngerer Zeitstellung muss hin vermehrt hat, der im übrigen für die Geschichte der und wieder gerechnet werden, da das oppidum Alesia antiken Stadt bescheiden ist. Vielmehr denkt man zu- offensichtlich nach Ausweis allein der Sigillatafunde spä- nächst an den in Köln nicht abreißenden Zustrom von testens ab augustischer Zeit wiederbesiedelt war (siehe archäologischen, epigraphischen und numismatischen A.Oxé/H.Comfort/P.M.Kenrick,Corpus Vasorum Zeugnissen, der in letzter Zeit noch beträchtlich ange- Arretinorum. A catalogue of the signatures, shapes and schwollen ist. Doch nicht die Fülle dieser Überreste, chronology of Italian sigillata. Antiquitas R. 3,41 [Bonn die bis zu jüngsten Funden durchaus berücksichtigt wer- 2000] CD-ROM s.v. Alesia mit 9 Einträgen; zu kaiser- den, haben das Buch so dick werden lassen. Eck selbst zeitlichen Befunden und Funden vgl. das kleine gallo- nennt mit dem Untertitel den eigentlichen Grund: Im römische Gräberfeld im Lager C, Reste einer römischen römischen Reich ist die Geschichte der einzelnen Stadt villa rustica in Fläche XVI und weitere Einzelfunde: immer zugleich Kaiser- und Reichsgeschichte. Mit Bd. 1 S. 147–151; 153 –163 sowie die kaiserzeitlichen »Geschichte einer Stadt«, nicht »Geschichte der Stadt« Münzen von Augustus bis Valens). Vor diesem Hinter- deutet der Verfasser diese Tatsache an. Der Redner grund bedarf jeder Fund aus der Umgebung Alesias Aelius Aristides umriss sie in seiner dem Kaiser Antoni- einer kritischen Überprüfung, die im Regelfall nur nus Pius gewidmeten Romrede so: »Euch entwischt durch systematische und kontrollierte Ausgrabungen ge- nichts, keine Stadt und kein Stamm« (§ 28). währleistet ist, die die Funde in ihrem Befundkontext Ecks Geschichte des römischen Köln ist also eine dokumentieren. Dies ist mit der vorliegenden Veröffent- Doppelgeschichte, die der Reichspolitik, soweit sie sich lichung in überzeugender Weise gelungen: Grundle- der Region am Niederrhein gewidmet hat, und die der gende Zweifel, wonach die enormen archäologischen Stadt selbst. Erst diese Zweigleisigkeit ermöglicht ihm, Überreste beim heutigen Alise-Sainte-Reine nicht mit eine kontinuierliche Darstellung zu schreiben, von der dem caesarischen Belagerungswerk bei Alesia zu identi- Gründung des oppidum Ubiorum unter Augustus bis zur fizieren seien, konnte es schon nach den Untersuchun- Mitte des 5. Jhs., als sich die Franken endgültig der Stadt gen unter Napoleon III. nicht geben. Die Veröffentli- bemächtigen. Durch die Verbindung von Lokalge- chung der jüngsten Ausgrabungen hat einen weiteren, schichte und Reichsgeschichte kann der Verfasser immer wichtigen Grundstein geliefert, diese letzten Zweifel ein wieder größere und kleinere Lücken schließen. Auch an für allemal auszuräumen. den nicht wenigen Stellen, wo er sich mit einem »wahr- Zusammenfassend betrachtet liegt mit der Publika- scheinlich« begnügt, steht er meistens auf einem recht tion der Ausgrabungen des caesarischen Zernierungs- festen Fundament, an dem zu rütteln schwer fallen werks um Alesia ein wichtiger Forschungsbeitrag zur dürfte. Hier kommt ihm zugute, dass er ein ausgezeich- römischer Poliorketik der späten Republik vor, der als neter Kenner der römischen Kaiserzeit ist, nicht nur Ausgangspunkt für die Untersuchung ähnlicher Anlagen der politischen Geschichte, sondern vor allem auch der dienen kann. Reichsverwaltung und ihrer wichtigsten Quellengat- tung, der Epigraphik. Fast zu bescheiden spricht er ein- Köln Norbert Hanel mal von seinen Ergebnissen für die Zeit von 98 bis 260, wo die direkte literarische Überlieferung zu Köln schweigt: »Es bleibt deshalb kein anderer Weg, als mit einer an den bekannten Ereignissen und Strukturen aus- gerichteten Imagination zu versuchen, die Wirkungen Werner Eck, Köln in römischer Zeit. Geschichte der Reichspolitik auf die Stadt tastend zu beschreiben« einer Stadt im Rahmen des Imperium Romanum. Ge- (S. 516). Ein früher Vorgänger, L. Ennen, den H. Steh- schichte der Stadt Köln Band 1. Mit einer Einführung in kämper in seiner Einleitung würdigt, hatte 1863 im das Gesamtwerk von Hugo Stehkämper. Greven Verlag ersten Band seiner »Geschichte der Stadt Köln« diese Köln, Köln 2004. XLVI, 862 Seiten, 301 Abbildungen, Epoche einfach übersprungen. In Ecks Buch bildet sie 4 Karten. den großen Mittelteil von über 300 Seiten. Kölns Gründung war ein politischer Akt Roms, wes- Der erste von 13 Bänden »Geschichte der Stadt Köln« ist wegen die Stadt auch ein Geburtsjahr hat, was bei ge- ein gewichtiges Werk in des Wortes doppelter Bedeu- wachsenen Städten trotz anders lautender Jubiläen und tung. Ein beeindruckendes Tor zur Gesamtreihe, ist man Festreden so gut wie nie der Fall ist. Dank der numisma - versucht zu sagen, da von den Toren der römischen Stadt tischen Forschungen von Ecks Kölner Kollegen J. Hein- öfter die Rede ist. Und es ist ein schöner Band – wie richs ist das Gründungsdatum nun endgültig gesichert: ja auch Kölns Haupttore prächtig geschmückt waren: Augustus’ Statthalter Agrippa hat die Ubier nicht wäh- Ein großzügiger Satzspiegel auf gutem Papier, ein leser- rend seiner ersten Statthalterschaft in den Jahren 39–37 freundlicher Druck und scharf gestochene, meist farbige über den Rhein geführt, sondern erst 20–19, als er zum 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 432

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zweiten Mal in Gallien war und an den Rhein kam. aus dem 11. Jahrhundert, überliefert diese Form, die die Auch die Vorgeschichte, Iulius Caesars blutige Ausein - Herausgeber stets zu Agrippinenses ›verbessert‹ haben. andersetzung mit den linksrheinischen Eburonen, hat Zu Unrecht. Denn nach Agrippinas Tod strichen die Heinrichs anhand der Münzen geklärt. Gegen die gän- schlauen Kölner einfach das erste n in ihrem Namen und gige Auffassung resümiert Eck, den Kölnern zum Trost: nannten sich nach ihrem Stammvater Agrippa, Neros »Vernichtung der Eburonen und Ansiedlung der Ubier Urgroßvater. Dagegen konnte der Muttermörder nichts auf dem linken Rheinufer stehen jedenfalls nicht in sagen. In den Historien 1,57,1 überliefert Codex M das einem sich gegenseitig bedingenden Abhängigkeitsver- hybride Agrippiniensem, das offensichtlich aus dem un- hältnis. Das ubische Köln ist nicht wegen eines Genozids ge wohnten Agrippiensem verschrieben ist. Diese Form an den Eburonen möglich geworden« (S. 45). Eck ver- sollte auch bei der erstmaligen Erwähnung 1,56,2 her- mutet, Agrippa habe mit den Ubiern noch in ihrer alten gestellt werden. Dass in dem von Agrippa abgeleiteten Heimat ein foedus geschlossen (S. 55). Dagegen steht Ta- denominativen Adjektiv das Suffix -ensis zu -iensis erwei- citus’ Bemerkung: … eam gentem Rhenum transgressam tert wurde, war nicht ungewöhnlich (vgl. F. Buecheler, … Agrippa in fidem acciperet (ann. 12,27,1). Petronii Saturae8 [Berlin 1963] 55; M. Leumann, Latei- Diesen politischen Ereignissen, die in Kapitel 2 und nische Laut- und Formenlehre5 [München 1977] 352). 3 ausführlich behandelt werden, stellt Eck ein Kapitel Auf diese Weise konnte man sich mit dem Streichen »Der Raum und seine natürlichen Voraussetzungen« eines einzigen Buchstabens aus der Affäre ziehen. Später voran. Dessen erste Hälfte »Das Territorium der ubi- kehrten die Kölner wieder zu ihrem gewohnten Namen schen Civitas und der CCAA« wird manchen Nicht- Agrippinenses zurück, und so erscheinen sie dann noch fachmann überraschen: Köln – das war in der Antike etwa zehnmal in Tacitus’ viertem Historienbuch. nicht das von einer Mauer umschlossene städtische Areal Aus einer vereinzelten Bemerkung, die sich bei dem von ca. 96 Hektar, sondern ein Gebiet, das sich vom spätantiken Historiker Eutropius findet, erfahren wir, Vinxtbach im Süden bis über Krefeld-Gellep hinaus dass Köln der Ort war, wo Trajan im Jahr 98 Kaiser nach Norden und vom Rhein nach Westen bis kurz vor wurde (Breviarium 8,2,1; die genannten anderen Zeug- Aachen erstreckte, bis dorthin, wo der Bach Wurm im nisse sind alle von Eutropius abhängig). Unter Ecks Mittelalter die Grenze der Kölner Erzdiözese bildete. Händen weitet sich der dürre Satz zu einem Jahresbe- Weder geographisch noch ökonomisch war das Areal richt von 19 Seiten aus (S. 223–241), die dem Leser eine Einheit, auch nicht demographisch, obwohl die einen vorzüglichen Einblick in das Funktionieren des Ubier von Anfang an in der Mehrzahl gewesen sein römischen Machtapparates geben. Sie sind zugleich er- dürften. Die gut 5000 Quadratkilometer waren eine zähltes Staatsrecht, da Köln für kurze Zeit gleichsam politische Einheit mit der civitas Ubiorum am Rhein als Reichshauptstadt wurde, getreu dem Satz Herodians, Verwaltungsmittelpunkt. Ein weiterer einseitiger Akt dass »Rom dort ist, wo der Kaiser ist« (1,6,5). Ergänzend Roms gab diesem politischen Gebilde im Jahr 50 n.Chr. kann man noch auf Plinius d. J. verweisen, der im 9. Ka- ein zukunftsträchtiges neues Gesicht: Die ›Ubierstadt‹ pitel seines Panegyricus den gewaltfreien und zivilen wurde zur Colonia Claudia Ara Agrippinensium erhoben. Übergang der Herrschaft bejubelte, ablesbar auch daran, Einen Begriff für die einzelnen Kölner Regionen nennt dass der Adoptivvater Nerva seinen Siegestitel Germani- Eck nicht. Vielleicht hießen sie regiones. Denn dieses cus an den Adoptivsohn weitergab. Nach den Jahren Wort benutzt eine – allerdings spätantike – Quelle für 13–16 n. Chr. residierte zum zweiten Mal ein Germani- die Einzelgebiete der gallischen civitas Augustodunum/ cus in Kölns Mauern. Die friedliche Nachfolgeregelung Autun, deren Gesamtterritorium man auf eine mit verdrängte zugleich die Erinnerung an den 2. Januar 69, der CCAA vergleichbare Größe berechnet hat (Paneg.5 als Soldaten der Bonner legio I Minervia in Köln Vitellius (8),7,1. 4). zum Kaiser ausriefen und damit dem Bürgerkrieg neue Eine treffende Vermutung Ecks zum Jahr 59 zeigt, Nahrung gaben. Dass der vorsichtige Plinius das voraus- wie stark Köln an der römischen Nabelschnur hing. Als gegangene, von Eck erschlossene Machtspiel hinter den die Nachricht eintraf, Nero habe seine Mutter Agrip- Kulissen verschwieg, ist nicht verwunderlich. Solche pina, die Stamm-Mutter und Namengeberin der neuen Dinge waren kein Thema für einen Panegyricus. colonia, ermorden lassen, beschlossen die römischen Der schon genannte große Mittelteil des Buches un- Bürger, also Veteranen, Beamte und diejenigen Ubier, terbricht zunächst die chronologische Darstellung und die inzwischen das römische Bürgerrecht erworben hat- bietet eine umfassende Strukturgeschichte des kaiser- ten, sich nicht zu kompromittieren, sondern dem Kaiser zeitlichen Köln, seiner Regionen und darüber hinaus der gefällig zu sein: »Man könnte überlegen, ob man nicht Provinz Germania inferior. Aus einer Vielzahl von vor- in der Kolonie zunächst offiziell auf den Namen (sc. nehmlich epigraphischen und archäologischen Details Agrippinenses) verzichtet hat, um ihn dann nach nur erstellt Eck ein Gesamtbild, untergliedert in die staat- neun Jahren, die bis zum Selbstmord Neros vergangen lichen und städtischen Träger des öffentlichen Lebens, waren, wieder anzunehmen. Ein zeitgenössisches Zeug- die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, das Finanz- nis für den Stadtnamen in diesen Jahren ist nicht erhal- wesen, das öffentliche und private Stadtbild Kölns, die ten« (S. 759,5). Doch: Tacitus spricht in den Historien Verkehrsstruktur, die Landwirtschaft, das Handwerk 1,57,2 zum Jahr 69 von den Agrippienses. Die älteste und schließlich das religiöse Leben mit seinem römischen und beste Handschrift, der Codex Laurentianus 68,2 M und vorrömischen Götterhimmel. Zu fast jedem Thema, 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 433

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das er in den Kapiteln 8–13 erörtert, kann der Verfasser weil die Germanen wieder unruhig geworden waren. auf eigene Arbeiten zurückgreifen. Hier vor allem fährt Als Gallienus’ Vater ebenfalls eintraf, durfte sich die er die Ernte seiner langjährigen Forschungen ein, von Stadt Valeriana Gallieniana nennen. Mit dieser Aus- denen mittlerweile ein Teil in den zwei Sammelbänden zeichnung war es vorbei, nachdem sich 260 Postumus, »Die Verwaltung des römischen Reiches in der Hohen der Statthalter Niedergermaniens, von seinen Soldaten Kaiserzeit« 1995 und 1997 vereinigt sind. Aber er betont zum Kaiser hatte ausrufen lassen und Köln 14 Jahre lang auch immer wieder dankbar, was und wie viel er den Ar- das Zentrum des so genannten Gallischen Sonderreichs beiten seiner Kölner Schüler und vor allem den Kölner war. Postumus’ Handstreich war nur eine von vielen Archäologen verdankt. Natürlich kann man das eine Usurpationen, die damals das Reich von innen gefähr- oder andere ergänzen. Hier nur eine parvula res: Plinius deten, während gleichzeitig der äußere Druck zunahm. d. Ä. berichtet, Kaiser Tiberius habe die Frucht siser Diocletians tetrarchisches System, die Antwort auf die geadelt, weil er sie sich jährlich vom Kastell Gelduba/ doppelte Bedrohung, kam auch Köln zugute. Constan- Gellep am Rhein, wo sie wegen des kalten Klimas am tin, der sich mehrmals in der Stadt aufhielt, demons- üppigsten wuchs, nach Rom kommen ließ (nat. 19,90). trierte mit dem Bau der Rheinbrücke und des Kastells Ist der siser die Rapunzelrübe oder die Zuckerwurzel Divitia/Deutz in den Jahren 308–315, dass er nicht (S. 792,90)? Seit über 150 Jahren rätseln Historiker und gewillt war, die Einfälle rechtsrheinischer Germanen Philologen. Tatsächlich handelt es sich um den Dolden- hinzunehmen. Ein Kranz kleinerer Befestigungen ent- blütler Pastinake. In Mitteleuropa diente die Pastinake lang des Rheins diente der lokalen Grenzsicherung. als Nahrungsmittel für Mensch und Vieh, bis sie von der Doch dieser Cordon sanitaire half wenig, wenn Trup- Kartoffel verdrängt wurde. Erst die moderne Bioküche pen zu Thronkämpfen abgezogen wurden wie 340, als hat sie rehabilitiert. Plinius selbst gibt einen Hinweis zu Constantin II. seinem Bruder Constans den Meister zei- ihrer Identifizierung. Den siser erwähnt er nämlich, gen wollte, oder wie 351, als der Usurpator Magnentius nachdem er vier andere genera pastinacae aufgezählt hat gegen Constantius II. zog. Die Franken und die südlich (19,88–89). Sein Inneres gleiche der pastinaca maior, anschließenden Alamannen warteten nur auf solche Ge- ergänzt er. Zusammenfassend unterscheidet er dann legenheiten, um den Rhein zu überschreiten und Gallien »diese«, i. e. die insgesamt fünf Arten der Pastinake, von weiträumig auszuplündern. Mittlerweile hatten sie sogar der inula, dem Alant (19,91). R. Syme hat dem siser gelernt, wie man Mauern bezwang. Sie profitierten von eine humorige Miniatur gewidmet (Roman Papers VI den Söldnerdiensten, die Stammesgenossen in römi- [Oxford 1991] 411–413). schen Diensten geleistet hatten. Zu den 45 Städten, die Mit Kapitel 14 nimmt Eck die historische Erzählung damals den Germanen zum Opfer fielen, gehörten Bonn wieder auf, die er nach Trajans Herrschaftsantritt in und Neuss. Die Schlinge um Köln zog sich zu, und eine Köln unterbrochen hatte. Dem Schweigen der literari- Usurpation, die kurzlebige des Silvanus im August 355, schen Überlieferung zu den folgenden eineinhalb Jahr- trug noch zum Verhängnis bei: Im November 355 fiel hunderten begegnet er mit der Frage, wie man in der die Stadt dem Ansturm der Franken zum Opfer. Der Hauptstadt der Provinz Germania inferior die großen Schock, den die Nachricht am Hof des Kaisers Con- Ereignisse der Reichspolitik aufgenommen hat. Ein Ver- stantius II. in Mailand auslöste, war der traurige, aber bindungsglied und Nachrichtenträger war die legio I nachdrückliche Beweis, welche Bedeutung Köln in den Minervia in Bonn, deren Angehörige im benachbarten Augen der Reichsspitze immer noch hatte. Entsprechend Köln zahlreiche inschriftliche Zeugnisse hinterlassen groß war die Erleichterung, als es Constantius’ Vetter haben. Die Legion nahm an Trajans zwei Dakerkriegen Julian im Spätsommer 356 gelang, die Stadt zurückzu- 101–107 und an Marc Aurels Partherkrieg 162–166 teil, erobern. In den folgenden vier Jahren zeigte der junge und Septimius Severus setzte sie 197 gegen den Usurpa- Caesar, was energisches militärisches Vorgehen für Gal- tor Clodius Albinus ein. Dass aus den in Köln residie- lien und die germanischen Provinzen erreichen konnte. renden Statthaltern Niedergermaniens die Kaiser Didius Auch sein übernächster Nachfolger Valentinian lehrte Iulianus und Decius hervorgingen und dass der spätere durch seinen persönlichen Einsatz die Germanen das Kaiser Helvius Pertinax die in Köln-Marienburg statio- Fürchten. Erst neuerliche Usurpationen und Macht- nierte classis Germanica kommandiert hatte, sagt auch kämpfe kamen dem äußeren Feind wieder zugute. etwas über den Rang, den die CCAA unter den Städten Noch war man in Köln zuversichtlich, man werde die des Reiches einnahm. Was die Hygiene betraf, konnten Krise bewältigen. Der Bauherr, der den momumentalen sowieso nur wenige Großstädte mit der Provinzmetro- Zentralbau errichten ließ, aus dem später St. Gereon her- pole am Rhein konkurrieren, in die ein Aquädukt täglich vorging, muss optimistisch in die Zukunft geblickt 20 000 Kubikmeter bestes Eifelwasser lieferte. haben (S. 669–670). Glück hatte man beim großen Je mehr Rom in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhun- Germaneneinfall in der Neujahrsnacht 406/7. Er ging derts seine Bedeutung als machtpolitisches Zentrum des südlich an Köln vorbei. Auch für die folgenden Jahre Reiches verlor, desto stärker wurde die Rolle einzelner spricht keine zeitgenössischen Quelle von einer Erobe- Provinzstädte, an erster Stelle derjenigen, in denen sich rung der Stadt, die mit dem Rückzug der Reichsver - die Kaiser längere Zeit aufhielten. Strategische Gründe waltung mehr und mehr auf sich gestellt war. Allerdings bestimmten die Wahl der Residenzen. Das war auch bei bemerkte Salvian von Marseille im zweiten Drittel des Köln der Fall, wo sich Kaiser Gallienus 256 niederließ, 5. Jhs., Köln sei »voll von Feinden« (gub. 6,39). Eine 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 434

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Eroberung müsse nicht notwendig vorausgegangen sein, Für ein Werk dieses Umfangs ist die Zahl der Druck- meint Eck (S. 690). Seine Vermutung lässt sich durch fehler und Versehen erfreulich gering. Man schmunzelt, den Kontext des Satzes stützen. Der gallische Presbyter wenn die Provinz-ara zur Provin-zara wird (S. 178) und stellte zuvor nämlich fest, Mainz sei zerstört und Trier das collegium pisstricorum zum collegium pistricorum sogar viermal niedergeworfen worden. Köln war es also (S. 377; vgl. B. u. H. Galsterer, Die römischen Stein- weniger schlimm ergangen. Salvian liefert dafür an spä- inschriften aus Köln. Wiss. Kat. Röm.-Germ. Mus. Köln terer Stelle noch einen weiteren Beleg. Entkleidet man 2 [Köln 1975] Nr. 155). ihn seiner moralisierenden Tendenz, so deutet er auf Ecks Buch sind viele Leser zu wünschen, nicht nur in eine vertragliche Regelung zwischen den prinicipes urbis Köln, sondern weit um Köln herum, nicht nur unter den und den Franken, wieder im Gegensatz zu Trier. Denn Freunden der Kölner Geschichte, sondern auch unter nachdem Salvian das Trierer Lasterleben für die vier ma- denen der römischen Geschichte. Daher zum Schluss lige Eroberung verantwortlich gemacht hat, fährt er mit mein Vorschlag: Sobald der 13. und letzte Band der der Frage fort: Quid in alia non longe, sed prope eiusdem »Geschichte der Stadt Köln« erschienen ist, mögen sich magnificentiae civitate? Damit kann er nur Köln gemeint Verlag, Herausgeber und Autoren entschließen, neben haben. Und wie erging es dieser Stadt? In ihr hätten sich der Leinen- und der Vorzugsausgabe eine Studienaus- die trinkfreudigen Stadtoberen nicht einmal von ihren gabe herauszubringen, wie sie bei Reihen dieser Art und Gastmählern erhoben, cum iam urbem hostis intraret bei mehrbändigen Lexika mittlerweile üblich ist. Die (ebd. 6,77). Mit anderen Worten: Die Ankunft der Fran- Studienausgabe wird der »Geschichte der Stadt Köln« ken hat zu keinem völligen Bruch im bisherigen Leben neue Liebhaber unter denen gewinnen, die an ihren geführt. Der Prediger Salvian wusste allerdings sehr Geldbeutel oder an den beschränkten Platz im Bücher- wohl, dass das nicht die ganze Wahrheit war. In einem schrank denken. Die Neuausgabe böte auch Gelegen- Brief berichtete er von einer verarmten Witwe aus der heit, auf der Karte S. 20/21 Eschweiler an seinen ge- Kölner Oberschicht, die kein Geld hatte, um aus der wohnten Platz zu versetzen. Denn nach den Erwähnun- Stadt zu fliehen, und die sich, um zu überleben, als gen im Text zu schließen ist nicht das Dorf Eschweiler Magd bei vornehmen Barbarenfrauen verdingte. We- über Feld gemeint, sondern die Stadt westlich von Maria- nigstens sei ihr die Sklaverei erspart geblieben. Ihrem weiler. Und Neuwied an der Ahr sollte auf der Karte Sohn war dagegen die Flucht gelungen, und Salvian ver- wieder zu Bad Neuenahr werden. wandte sich nun bei dem Empfänger des Briefes für den mittellosen Kölner (epist. 1,5–6; Eck S. 689–690). Bonn Klaus Rosen Die Franken waren also Kölns neue Herren gewor- den, und ein Teil der Bewohner suchte sich mit ihnen zu arrangieren. Archäologische Zeugnisse deuten in die- selbe Richtung. Vermuten lässt sich nach Parallelen in anderen gallischen Städten, dass der Ortsbischof und Michel Tarpin, Vici et pagi dans l’Occident romain. seine Priester zwischen Einheimischen und Fremden École Française de Rome, Rom 2002. 485 Seiten, zahlr. vermittelten. Dafür spricht auch die Kontinuität der Abbildungen, graphische Darstellungen, Karten. Bischofskirche an der Stelle des heutigen Doms und die mehrerer anderer Kirchen. Einzelheiten im Prozess der Cet ouvrage a pour origine une thèse de doctorat d’his- Akkulturation, bei der schließlich das Fränkische über- toire soutenue en 1989 qui a été amendée: le livre em- wog, lassen sich nicht mehr fassen. Denn Köln versinkt brasse désormais un champ plus vaste et intègre de nou- »für mehr als ein Jahrhundert in fast völliges Dunkel. Als veaux documents. Il comporte un premier ensemble de es langsam wieder in der Überlieferung erscheint und 246 pages qui constituent la synthèse de la réflexion et Kontur gewinnt, ist es das fränkische Colonia«. Ecks de l’analyse. Il est suivi de cinq annexes où l’auteur exa- Schluss-Satz schlägt die Brücke zum zweiten Band der mine des points particuliers et donne une bibliographie neuen Stadtgeschichte: »Köln im Frühmittelalter Mitte (p. 247–306). Vient ensuite le catalogue des inscriptions 5. Jh.–1074/75«. des vici (p. 307–380) et celui des inscriptions des pagi Drei Anhänge demonstrieren noch einmal auf ihre (p. 381–419). Enfin, tables des correspondances, index Weise, welche Rolle Köln im Römischen Reich gespielt divers, cartes, graphiques, tableaux et photographies hat. Der erste zählt die Herrscher auf, die für Köln und complètent et illustrent le propos et permettent de se re- das Rheinland von Bedeutung waren. Es fehlt fast keiner pérer aisément dans l’ensemble de l’ouvrage. in der langen Reihe der Kaiser, die während eines halben Le livre proprement dit est divisé en trois parties. Jahrtausends den Thron bestiegen haben. Der zweite Dans la première (p. 7–49), l’auteur cherche à définir Anhang ist eine Liste der niedergermanischen Heeres- l’origine et le sens de chacun des mots, étymologique- kommandeure und Statthalter, die in Köln residiert ha - ment, en s’appuyant sur les sources littéraires et épi - ben. Der dritte Anhang verzeichnet alle Soldaten, Vete- graphiques, riches chacune d’environ 450 textes. Vicus ranen und Zivilpersonen, die nicht aus Köln stammten, évoque une unité plurifamiliale. A partir du IIe siècle aber dort einmal bezeugt sind, die meisten durch Grab- av. J.-C., le mot ne varie plus morphologiquement. Pagus inschriften. Den Anhängen folgt ein Glossar, das der évoque l’idée de planter, de fixer et s’enracine donc à un Fachfremde begrüßen wird. territoire. S’ils ne sont pas fréquents, les deux mots ont 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 435

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été utilisés dans la langue latine à toutes les époques. être une relation entre leur nomination et de grands évé- M. Tarpin conclut des différentes mentions chez les au- nements dans la famille impériale. teurs latins que pagus ne définit pas a priori un groupe La troisième partie est consacrée aux pagi et pagani. tribal et que la notion de pagus celtique ne se rencontre Le sens topographique et territorial est évident jusqu’aux que chez César et les auteurs qui remontent à lui ou à une textes les plus tardifs. Les pagi ont été créés dans un but source antérieure. La différence apparente entre l’utilisa- administratif: faciliter le contrôle des populations rurales tion du terme pour la Gaule jusqu’au Ier siècle et son par l’Etat. Leur fonction censitaire est attestée par l’épi- inexistence pour l’Italie s’explique probablement par la graphie, comme on le voit dans les «tables alimentaires», progression de l’attraction urbaine dans une Italie mu- mais également par les sources littéraires. Or cette fonc- nicipalisée. Les pagi sont fondamentalement des unités tion ne peut être sérieusement et efficacement assurée territoriales et non tribales. Quant aux vici, ils sont des qu’à la condition que soient délimités les territoires agglomérations complémentaires des oppida et ont un concernés. En partant des textes juridiques et épigra- caractère institutionnel. phiques, M. Tarpin montre la différence de fonction Dans une deuxième partie (p. 53–174), M. Tarpin entre pagi et cadastres. Les pagi sont des territoires pé- s’attache à préciser la nature et le rôle des vici en com- rennes, aux limites naturelles, de tailles variées qui peu- mençant par les vici ruraux. Il combat l’hypothétique vent contenir des fundi (ces domaines étaient localisés, origine italique: il ne semble pas y avoir de preuve de lors de leur enregistrement, dans les pagi). Il examine l’existence d’agglomérations qui auraient servi de modèle aussi le rapport entre pagi et limites des cités, notamment à l’Italie de la fin de la République. En revanche, les en Narbonnaise, et la question de leur administration, en textes littéraires qui désignent des vici laissent deviner la particulier en cas de changement de statut de la cité et plupart du temps qu’il s’agit de bourgs routiers. L’examen par conséquent de la communauté. Dans ce cas, le pagus des textes épigraphiques, notamment la lex agraria de 111 paraît être le territoire qui correspond à une commu- qui mentionne des vicani, probablement établis le long nauté marginale. Cette situation ressort aussi de l’usage des routes, permet de penser que les vici étaient des re- du terme paganus – campagnard plutôt que paysan – et groupements de citoyens, sans fondation donc non auto- civil, par opposition à urbanus ou oppidanus et à miles. nomes, établis par un magistrat dans l’ager publicus, en Cette opposition est topographique et culturelle. Les relation avec l’entretien de la voirie. Ils étaient membres pagi sont extérieurs à quelque chose alors que les vici sont d’une communauté urbaine qui pouvait être située un à l’intérieur d’une ville ou compris comme une partie in- peu à l’écart. L’étude des vici de Rome complète la tégrante. Pour M. Tarpin, les uns et les autres montrent connaissance de la notion. En effet, dans l’Vrbs, ils appa - «la volonté impérieuse de marquer la domination de raissent comme des quartiers délimités par des rues et Rome sur les terres et les hommes à travers leur inscrip- comportant des insulae. C’est ainsi qu’il faut comprendre tion dans un système formel prédéfini» (p. 245). Peut- les descriptions des auteurs qui indiquent que les com- être faut-il être plus réservé: au moins montrent-ils la merçants ont leur boutique dans le vicus ou que les col- capacité qu’a eue Rome d’organiser communautés et lèges sont installés dans tel vicus. Il s’agit d’un bâtiment territoires provinciaux selon ses cadres. dans un quartier. Comme subdivision topographique de Dans la première des annexes qui suivent, l’auteur la ville, les vici sont devenus, au début de l’Empire, le présente (p. 247–260) les vici des provinces d’Occident cadre du contrôle de la plèbe, notamment pour les dis- connus par l’épigraphie comme une illustration de la tributions frumentaires. Ils ont aussi servi de cadre à la volonté consciente de marquer la conquête et l’autorité distribution d’eau. Ils présentent en effet un avantage: romaines. Dans la deuxième (p. 261–290), il étudie les leur faible taille. Ils sont donc un lieu aisé à contrôler. La vici dans la cité. Les exemples épigraphiques montrent la réorganisation augustéenne de Rome s’inscrit dans la diversité des cas (vicus chef-lieu, vicus ou vici sans statut continuité des distributions frumentaires de la fin de la particulier hors du chef-lieu, que celui-ci soit ou non un République et notamment de l’action de César. Comme vicus, etc.) et que les vici peuvent être intégrés ou dispo- lui, Auguste a recensé la population vicatim. Il a fait ser d’une autonomie. Ils ont leur administration interne, finalement du vicus un cadre institutionnel. Les compita - leurs magistrats, voire leurs patrons. La définition du lia ont à nouveau eu lieu. Les magistri vici, qui existaient terme vicani n’est cependant pas aisée. La tentative de probablement déjà à la fin de la République – et ont dû distinction entre les vicani et la plebs urbana, dont ils ne subir comme les autres collèges les interdictions des an- seraient qu’une partie, fondée sur les textes qui mention- nées 64, 56, de la dictature de César et sous Auguste – nent les sommes accordées lors de distributions ou dans ont été rétablis entre 12 et 7 av. J.-C. avec des tâches de les cas de fondations attestées par les inscriptions ita- surveillance – les vigiles – sous la responsabilité des ma- liennes, peut-elle être étendue aux provinces? Il n’est pas gistrats chargés des regiones. On ne sait pas grand-chose certain qu’on doive généraliser. Il nous semble qu’il fau- des magistri vici après Auguste. Ils existent encore sous drait ici aussi concevoir ou accepter une certaine sou- les Sévères comme l’indique une restauration d’édicule plesse: dans quelques cas des provinces gallo-germa- datée de 235. Les compitales tout comme les vici propre - niques, le terme vicani suivi d’une épithète ethnique ou ment dits existent sans doute après. Le rôle des magistri topographique ne peut pas être traduit autrement que vici est difficile à saisir sous le Haut-Empire en raison des par «les habitants du vicus de …», surtout lorsque les in- lacunes des fastes. Sous les Julio-Claudiens il y a peut- dices textuels ou archéologiques ne laissent pas entrevoir 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 436

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une communauté abondante à partir de laquelle les vi- sei besonders betont –, sondern die Praxis amtlicher cani n’auraient été qu’un corps réduit – mais défini com- Boden denkmalpflege, nicht nur in Baden-Württemberg, ment? – des habitants. Est-il, par exemple, concevable berührt. que les actores vicanorum Portensium (CIL XIII 3106, Die archäologischen Untersuchungen in der Villa Nantes) n’aient agi que pour une partie des habitants du rustica von Großsachsen wurden durch landwirtschaft- vicus? Deux courtes pages (283–284) examinent le vicus liche Zerstörungen infolge einer Flurbereinigungsmaß- comme bâtiment et non comme quartier et une qua- nahme ausgelöst. Man entschied sich – wie so oft –, die trième annexe présente (p. 285–290) les magistrats et les am leichtesten fassbaren Steinbaustrukturen, das Haupt- notables des pagi: 36 magistri pagi sont attestés par 25 gebäude, die Thermen sowie diverse umliegende Bau- inscriptions. On connaît aussi 10 noms de préfets attestés werke, auszugraben. Am Ende gelang es, den größten par 10 inscriptions. Affranchis ou hommes libres de - Teil der ergrabenen Fläche aus der künftigen landwirt- sance, pas toujours d’origine locale, les magistri pagi schaftlichen Nutzung herauszunehmen, in den Grund- apparaissent la plupart du temps comme d’importants mauern zu konservieren und der Öffentlichkeit zugäng- personnages, notables eux-mêmes ou dans l’orbite des lich zu machen. Dieses zweifellos begrüßenswerte Er- grandes familles locales selon un système clientélaire qui gebnis ist auch in Großsachsen als Schlusspunkt eines peut rappeler le cas des sévirs augustaux. im Verlaufe der Grabung gereiften Prozesses zu sehen, On doit savoir gré à M. Tarpin de rendre aisément et dessen Zusammenspiel von wissenschaftlicher Arbeit, agréablement accessibles cette documentation et sa ré- begeisterter Öffentlichkeit und lokalpolitischem Inter- flexion sur les pagi et les vici dans la péninsule italienne esse beinahe jedem Ausgräber römischer Ruinen wohl- et les provinces occidentales septentrionales de l’empire. bekannt sein dürfte. Aufgrund des sich zumeist erst mit De ce point de vue, le titre de l’ouvrage est un peu trom- Fortgang der Ausgrabung allmählich entwickelnden peur puisqu’il n’y est pas question du tout de l’Afrique au Gedankens einer dauerhaften Konservierung ist es ver- sens géographique. C’est un regret. La dizaine d’années ständlich und nachvollziehbar, wenn die Erforschung entre la soutenance de sa thèse et ce livre font que, eines Objektes zunächst unter dem Vorzeichen einer comme il arrive souvent, des articles divers ont été pu- ›Not- oder Rettungsgrabung‹ mit allen daraus resultie- bliés sur le même sujet dans l’intervalle ou en même renden Abstrichen an die wissenschaftliche Fragestel- temps. M. Tarpin en a écrit plusieurs (voir dans Année lung begonnen werden muss. Spätestens in der Phase Épigr. 2001, 37 et Année Épigr. 2002, 910 et 926); aber, in der sich die Konservierung einer Anlage abzu- M. Dondin-Payre aussi qui avait pu avoir connaissance zeichnen beginnt, erscheint es nicht mehr verantwortbar, de la recherche de M. Tarpin. Ils sont autant d’études dé- den bis dahin herrschenden Grabungsstil beizubehalten taillées et fouillées qui annonçaient ce livre ou qui le und gravierende Mängel in der Grabungsdokumenta- complètent. On tirera également profit de leur lecture. tion hinzunehmen. Die Villa rustica von Großsachsen ist ein prägnantes Negativbeispiel dieser Art. Zwar ist es Rennes Nicolas Mathieu dem Leser nicht in jedem Fall möglich festzustellen, in welchem Stadium der Grabungsarbeiten die Entschei- dung zu der einen oder anderen grabungsmethodischen Unzulänglichkeit gefällt wurde. Es gibt aber Beispiele, die eindeutig in die Schlussphase der Untersuchung fal- Andrea Hagendorn, Die Villa rustica von Groß- len und von daher unverständlich bleiben. Finanzielle sachsen, Gem. Hirschberg, Rhein-Neckar-Kreis. Ein Gründe und großer Termindruck können ab dem Mo- römischer Gutshof im Spiegel seiner zentralen Gebäude. ment, von dem an die Zerstörung des Befundes durch Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg, äußere Einflüsse abgewendet ist, nicht mehr als Argu- Heft 45. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1999. 245 Sei- ment für mangelnde Grabungsqualität dienen, wenn ten, 9 Tabellen, 79 Abbildungen, 68 Tafeln, 1 Beilage. unser Fach seine Glaubwürdigkeit bewahren will. Die Einmaligkeit des archäologischen Befundes und die hin- Zwölf Jahre nach Abschluss der Ausgrabungsarbeiten in länglich bekannte Tatsache, dass auch eine archäologi- der Villa rustica von Großsachsen, 15 km nördlich von sche Ausgrabung die endgültige Zerstörung eines Befun - Heidelberg, legt die Verfasserin, die idealerweise selbst des bedeutet, muss in solchen Situationen das Vorgehen Grabungsmitarbeiterin und in der letzten Kampagne bestimmen. Vor diesem Hintergrund wird das Gra- Grabungsleiterin war, die Ergebnisse ihrer detaillierten bungsvorgehen in Großsachsen in manchen Punkten Befund- und Fundanalyse vor. Die Arbeit ist am Freibur- nur schwer nachvollziehbar. Dazu gehört das Abräumen ger Institut für Provinzialrömische Archäologie entstan- des Mauerversturzes innerhalb der Gebäude und auch den und vereinigt in der vorliegenden Druckfassung im Kellerinnenraum (!) mittels Bagger, dem die finale (?) Magisterarbeit und Dissertation der Verfasserin. Brandschicht der Anlage zum Opfer fiel (S. 20; 51). Bevor ich auf den Inhalt des Werkes im Einzelnen Flächenprofile wurden nur zum Teil gezeichnet, in den eingehe, erscheint es mir angebracht, in aller Kürze auf anderen Fällen lediglich fotografiert, aber nicht be- einen Problemkreis einzugehen, mit dem sich der Leser schrieben. Viele Befunde wurden nicht geschnitten. Das dieser Arbeit immer wieder konfrontiert sieht. Eine Pro- trifft für die Pfostengruben zu und wirkt sich besonders blematik, die nicht zu Lasten der Verfasserin geht – das negativ bei den Gräbchensystemen der Wasserver- und 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 437

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-entsorgung aus, deren Gefällerichtungen vielfach unge- dass jeder Hinweis auf eine germanische Vorbesiedlung klärt bleiben. Besonders schmerzliche Lücken ergeben des Platzes fehlt. Das Formengut ist über die ganze Be- sich bei der völlig ungenügenden Untersuchung der stehenszeit der Anlage allein ›römisch‹ geprägt (S. 125; Holzbaustrukturen unter dem Hauptgebäude der Villa. zur ›nachrömischen‹ germanischen Besiedlung s. u.). In Dort hätten angesichts der mächtigen Pfostengruben der Mitte des 2. Jhs. erfolgte der erste Ausbau in Stein – und erhaltener zugehöriger Stampflehmböden beste parallel zum Beginn des Steinausbaus im nahegelegenen Bedingungen bestanden, detaillierten Aufschluss zu ge- Lopodunum –, und erst zu diesem Zeitpunkt kam als winnen und die noch immer sehr geringe Zahl beurteil- bedeutendes zivilisatorisches Element ein Badegebäude barer Strukturen aus der Gründungszeit rechtsrheini- hinzu. Nach Meinung der Verfasserin spiegeln sich in scher villae rusticae um einen gut erhaltenen und aussa- der späten Errichtung der Thermen in erster Linie die gekräftigen Befund zu vermehren. verbesserten ökonomischen Verhältnisse und das ge- Nach diesen kritischen Vorbemerkungen zur Gra- wachsene Prestigebewusstsein der Hofbesitzer wider. bungs methodik, die den Erkenntnisgewinn leider in Mir erscheint allerdings die Frage des ›Romanisierungs- vielen Punkten einschränkt, ist im Folgenden auf die grades‹ der siedelnden Bevölkerung nicht ausreichend Publikation selbst einzugehen. berücksichtigt. Mit Blick auf jene Provinzgebiete, die Ein gut aufgeschlüsseltes Inhaltsverzeichnis erschließt erst sehr spät oder überhaupt keine Bäder in den auto- das durchdacht aufgebaute und gegliederte Werk, das chthon geprägten Siedlungen kennen (z. B. das Rhein- eine ganze Reihe interessanter Themen zu behandeln mündungsgebiet) und im krassen Gegensatz dazu dem verspricht. römischen Militär, das an neuen Standorten sofort mit Der Fundplatz Großsachsen, inmitten der frucht- dem Bau von Bädern begann, könnte durchaus das un- baren Rheinebene gelegen, ist eingebettet in eine dichte terschiedliche Bedürfnis nach ›römischer‹ Lebensweise römische Siedlungslandschaft, deren Erforschung aller- eine wesentliche Rolle gespielt haben. dings noch in den Anfängen steckt (zu dieser Thema- Die zweite Steinbauperiode gegen Ende des 2. Jhs. ist tik mittlerweile erschienen ist die Arbeit von G. Lenz- von dem Verlangen nach architektonischer Aufwertung Bernhard, Lopodunum III. Die neckarswebische Sied- geprägt: Risalite und Portiken werden dem Hauptge- lung und Villa rustica im Gewann »Ziegelscheuer«. Eine bäude vorgeblendet und vor der Gebäudefront ein über Untersuchung zur Besiedlungsgeschichte der Ober- 30 m × 7 m großes Wasserbecken angelegt. Dessen Kon- rheingermanen. Forschungen und Berichte zur Vor- und struktion, Verfüllung, Vorbild und mögliche Funktion Frühgeschichte in Baden-Württemberg 77 [Stuttgart wird aufgrund der bisherigen Seltenheit vergleichbarer 2002]). Von Bedeutung ist die Nähe zum Civitashaupt- Befunde von Hagendorn intensiv behandelt (S.139 ff.). ort Lopodunum/Ladenburg und einem weiteren größe- Unter den verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten präfe- ren Absatzgebiet um das heutige Heidelberg. riert sie für Großsachsen die Funktion als Fischzucht- Die sorgfältige Analyse des Baubefundes (S. 24 ff.; becken. 128 ff.) hat einige bemerkenswerte Ergebnisse erbracht, Steinbauperiode 3 folgte Ende des 2./Anfang des die die Villa rustica von Großsachsen in den Rang eines 3. Jhs. (S. 129: »um 210«) nach einem Brandschaden. überregionalen Referenzobjekts der Forschung erheben. Der Wiederaufbau war zugleich mit Erweiterungen und Wie nur an wenigen Orten in dieser Deutlichkeit, lässt ›Verschönerungen‹ verbunden, darunter die Schaffung sich die Entwicklungsgeschichte des Hauptgebäudes eines Verbindungsganges mit Apsiden zwischen Haupt- über zwei Holz- und drei Steinbauphasen nachvollzie- haus und dahinter liegendem, als Tempel gedeutetem hen. Damit vermag der Befund einen wesentlichen Bei- massivem Viereckbau. Dem Badegebäude wurde eine trag zur Frage der Entwicklung des Risalitbaus und dem wassergespülte Latrine angefügt. kontrovers diskutierten Problem ›offene Halle oder In- Die Auflassung der Großsachsener Anlage ist – zu- nenhof‹ im Zentrum dieses Hauptgebäudetyps zu leis- mindest im ergrabenen Bereich – nicht deutlich zu fas- ten. Schon erwähnt wurde die leider vergebene Chance, sen. Nur wenige Fundstücke gehen nach Meinung der die Grundrissform der Holzvorläufer zu ermitteln. In Verfasserin über das erste Viertel des 3. Jhs. hinaus den nachfolgenden Steinbauperioden entwickelt sich (S.126 f.), weshalb sie sich für ein Ende 233 n. Chr. oder das Haupthaus aus einem Rechteckbau mit vorgeblen- um die Mitte des 3. Jhs. ausspricht. Auf die Beurteilung detem Korridor (oder Portikus?), Halle, unterkellertem des Endes der Anlage wirkt sich die praktizierte Gra- Eckraum und durch Fachwerkwände abgetrennten seit- bungsmethode mit dem maschinellen Abtrag der obers- lichen Räumen zu einem immer ausgreifenderen ›klassi- ten Schichten negativ aus. Das gilt in gleicher Weise für schen‹ Risalitgebäude. Den chronologischen Rahmen die jüngsten Siedlungsspuren am Ort, die sich dem ger- dieses Prozesses behandelt die Verfasserin in Kapitel 3.3 manischen Kulturmilieu zuweisen lassen und die von der (S. 122 ff.). Demnach ist von einem Beginn der Holz - Verfasserin in die Zeit nach der Auflassung der Steinbau- bauphase frühestens um 120 n. Chr. auszugehen und ten gesetzt werden (S. 92 f.; 174f.). Nachdem die beiden deshalb ein Zusammenhang mit der Civitasgründung markantesten Fundstücke – ein beinerner Dreilagen- unter Traian im ersten oder beginnenden zweiten Jahr- kamm mit halbrunder Griffplatte und eine Armbrust- zehnt des 2. Jhs. zu sehen (S. 124). Für das Gebiet der fibel mit dreieckigem Fußzuschnitt und Nadelscheide – Neckarsueben (civitas Sueborum Nicrensium), in dem nicht in ihrem Fundkontext beobachtet wurden und für die Villa liegt, ist es nicht unwichtig hervorzuheben, den wichtigen Befund einer Feuerstelle im Präfurnium- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 438

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bereich des Sudatoriums der Thermen offenbar keine zentralen Halle im Hauptgebäude von Großsachsen Beobachtungen zum Schichtenverhältnis vorliegen, trotz wachsendem Wohlstand und gehobeneren Raum- bleibt diese Frage aber letztlich offen. Die datierbaren ansprüchen über alle (Stein-)Bauperioden hinweg auf germanischen Funde gehören noch in das 3. Jh. Eine die auch weiterhin zentrale Bedeutung der darin ausge- Datierung bereits um die Jahrhundertmitte ist möglich. übten hauswirtschaftlichen Tätigkeit zu schließen. Das Zusammen mit einem Antoninian des Gallienus könn- wiederum lässt nach Meinung der Autorin den Fortbe- ten sie durchaus den jüngsten Siedlungshorizont der stand des sozialen Gefüges der Hausgemeinschaft ver- Villa rustica bilden, der sich unter Aufnahme von Ange- muten. Dies, so wird man einwenden, setzt jedoch vor - hörigen germanischen Ethnikums ohne Bruch aus der aus, dass die Gutsbesitzerfamilie (wie für die Frühzeit ›römischen‹ Spätphase herausentwickelt haben könnte. angenommen) auch weiterhin in der Anlage wohnen Um in derartigen, für die Siedlungsgeschichte bedeu- blieb und sich durch gewachsenen Wohlstand oder tenden Fragen zukünftig Antworten geben zu können, Besitzkonzentration nicht so weit separierte, dass sie die ist unbedingt die Verfeinerung der Grabungsmethoden Bewirtschaftung der Villa einer Verwalterfamilie über- notwendig. Nur eine speziell darauf abgestimmte Vor- ließ. Derartiges lässt sich archäologisch selbstverständ- gehensweise wird es ermöglichen, auch die meist nur lich nicht nachweisen. sehr schütter überlieferten Schlusshorizonte römischer Wenig ertragreich erscheint die weit ausgreifende Siedlungsplätze herauszuarbeiten und beurteilbar zu Dis kussion um die Deutung quadratischer Gebäude wie machen. des Baus III im Rücken des Hauptgebäudes als Turm- In Kapitel 4 »Zusammenfassende Beurteilung der speicher oder Tempel (S. 132 ff.). Hier sollte vielmehr der Gebäude und der Anlage« (S. 128ff.) diskutiert und ver- Großsachsener Befund selbst durch den in Periode 3 als tieft die Verfasserin die in der Befunddarstellung ge- Verbindung zwischen Hauptgebäude und Viereckbau wonnenen Ergebnisse und stellt sie in den überregiona- errichteten Gang mit Apsiden als Fingerzeig für eine In- len Zusammenhang. Einiges davon ist im Vorangegan- terpretation als Tempel gewertet werden. Auch die an- genen bereits aufgegriffen worden. Die eine oder andere schließend behandelte Frage nach der Herleitung der Bemerkung ist aber an dieser Stelle noch anzufügen. Be- Cella- und Umgangstempel wirkt im gegebenen Zu- gonnen sei mit dem Fragenkomplex um die Herleitung sammenhang überzogen. Die Ausführungen sind zwi- der Mittelhalle, wie sie in Großsachsen und zahllosen schenzeitlich u. a. durch die bedeutenden Entdeckungen anderen Hauptgebäuden von villae rusticae im Nordwes- auf dem Martberg bei Pommern (M. Thoma, Der gallo- ten des Imperiums vorliegt. Die Verfasserin greift erneut römische Kultbezirk auf dem Martberg bei Pommern auf den alten Gedanken einer Ableitung vom mediter- an der Mosel, Kr. Cochem-Zell. In: Haffner und ranen Atriumhaus zurück, den bereits F. Oelmann, v. Schnurbein a. a. O. 447 ff.) ohnehin bereits überholt. Bonner Jahrb. 133, 1928, 118 ff., (ablehnend) diskutiert Nachdem die Erörterung ergebnislos bleibt und der hat. Zweifel sind nicht nur hinsichtlich einer vollständig Befund von Großsachsen keinerlei neue Informationen anderen Gestaltung der Dachlandschaft angebracht. zur Diskussion beiträgt, kann auch das angestrebte Ziel, Entscheidender noch ist – und das zeigt gerade der Be- Hinweise auf die kulturelle Verwurzelung bzw. Her- fund von Großsachsen mit Deutlichkeit –, dass wir ge- kunft der Gutshof bewohner zu erhalten, nicht erreicht wöhnlich mit einer lokal unterschiedlichen Anzahl an werden. Hier wie auch sonst verschiedentlich in dieser hölzernen Vorgängerbauphasen zu rechnen haben, deren Arbeit hätte man sich entschließen sollen, ergebnislos Grundrissform jedoch nur selten einigermaßen fassbar verlaufende Diskussionen gänzlich herauszunehmen ist. Wenn nicht alles täuscht, sind die Entwicklungs- oder wenigstens stark zu straffen. stränge für die kaiserzeitliche Villenarchitektur im Der Fundstoff aus der Villa rustica wird in drei Ab- Nordwesten mittlerweile auch deutlicher in das spät - schnitten getrennt voneinander und unter jeweils an- keltische Milieu (Ost-)Galliens zurückzuverfolgen, als deren Gesichtspunkten behandelt. In Kapitel 3 werden in das Mediterraneum (M. Frey, Die villa von Borg. chronologisch aussagekräftige Funde und Fundkom- Ein reiches Landgut mit vorrömischer Tradition. In: plexe im Hinblick auf die Datierung der Villa und ihrer A. Haffner /S. v. Schnurbein (Hrsg.), Kelten, Germa- Bauphasen analysiert. Kapitel 6 ist dem großen Fund- nen, Römer im Mittelgebirgsraum zwischen Luxemburg komplex aus dem Wasserbecken gewidmet. Schließlich und Thüringen. Akten des Internationalen Kolloquiums werden in den Kapiteln 5, 7 und 8 ausgewählte Einzel- zum DFG-Schwerpunktprogramm »Romanisierung« funde diskutiert, die besondere Einblicke in die Bereiche in Trier vom 28. bis 30. September 1998. Kolloquium Religion und Kult, Handwerk und Bewohnerschaft zur Vor- und Frühgeschichte 5 [Bonn 2000] 41 ff.; geben. Insgesamt ist die Fundbehandlung erfreulich K. H. Lenz, Villae rusticae: Zur Entstehung dieser Sied- knapp gehalten. Kulturgeschichtliche Fragestellungen lungsform in den Nordwestprovinzen des römischen bezogen auf den Fundplatz selbst stehen im Vorder- Reiches. Kölner Jahrb. für Vor- u. Frühgesch. 31, 1998, grund. Hier wird realisiert, was heute allzu oft in den 49 ff.). Auch scheint die Idee eines großen Zentralraums Hintergrund zu geraten droht: Die Analyse des Fund- mit Feuerstelle nicht außergewöhnlich genug, um nicht stoffes eines Siedlungsplatzes sollte Aufschluss über die in verschiedenen Regionen der Alten Welt unabhängig Siedlungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, kulturelle voneinander entstanden sein zu können. Interessant ist Ausrichtung und Lebensverhältnisse der Bewohner- der Gedanke der Verfasserin, aus der Beibehaltung der schaft geben und nicht zum Selbstzweck typologisch- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 439

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chronologischer Diskussionen von Formen und Materi- hältnis beider Formen zueinander aus. Niederbieber 1c algruppen werden. Letzteres sollte im Rahmen von Spe- schließlich steht als Großform unabhängig neben den zialuntersuchungen geschehen, die – ausgehend von beiden Tellertypen. Sie wurde bereits in Ostgallien her- Schlüsselbefunden – die Fragestellung auf der Grund- gestellt und in Trier – evtl. auch in Rheinzabern – zu- lage einer ausreichenden Materialbasis behandeln. mindest bis an die Wende vom ersten zum zweiten Drit- Zur souveränen Auf bereitung des Fundmaterials ist tel des 3. Jhs. gefertigt. Statistische Auswertungen der nur wenig anzumerken. Gewisse Unsicherheiten von Verhältniszahlen von Tellertypen müssen also sowohl chronologischer Relevanz sind bei der Behandlung eini- die Herkunft der Produkte wie auch deren typologische ger weißtoniger Gefäßformen des rauwandigen Ge- Feingliederung berücksichtigen, wenn sie chronologisch brauchsgeschirrs festzustellen (S. 14 f.). Die Verfasserin zu verwertbaren Ergebnissen führen sollen. scheut mangels mineralogischer Analysen die eindeutige Ausführlich wird der Fundkomplex aus dem Wasser- Klassifikation einiger Bruchstücke als Urmitzer Ware becken behandelt, der als weitgehend geschlossenes, sehr und wählt stattdessen die scheinbar unverfänglichere, umfangreiches Ensemble diese intensive Beschäftigung aber letztlich aussagelose Bezeichnung »in der Art der verdient (S. 159 ff.). Seine Entstehung kann an das Ende Urmitzer Ware«. Nach meiner Meinung ist es aber auch des 2./Anfang des 3. Jhs. datiert werden. Das Zustande- ohne naturwissenschaftliche Untersuchungen allein kommen geht auf ein Schadenfeuer zurück, dem offen- durch den Vergleich mit Referenzmaterial möglich, bar ein ganzes Kücheninventar zum Opfer gefallen ist. ›echte‹ Urmitzer Ware makroskopisch nach Warenart Es konnte ein Mindestindividuenzahl von 823 Kera- und Formenspektrum auszusondern. Von chronologi- mikgefäßen ermittelt werden. Über die Analyse der Ge- scher Bedeutung ist diese Warenart, weil sie in ihrem schirrzusammensetzung ist die Verfasserin bemüht, sich südöstlichen Verbreitungsgebiet in nennenswerter verschiedenen wesentlichen Fragen des Gutshof betriebs Men ge erst ab dem zweiten Drittel des 3. Jhs. auftritt, anzunähern. Der Versuch, über den Geschirrbestand worauf die Verfasserin auch hinweist. Mit dem Nach- Aufschluss über die Personenzahl auf dem Hof zu erhal- weis Urmitzer Ware ist ein wichtiges Indiz für die Be- ten, ist ein interessanter und naheliegender Ansatz. Das siedlungsdauer der Großsachsener Anlage bis weit in das Experiment scheitert letztlich an den vielen ungeklärten 3. Jh. hinein gewonnen. Prämissen: Welchen Umfang besaß ein Tischgedeck? Von terminologischer Verwirrung zeugt die für die Wie viele Gedecke wurden pro Person und Gelegenheit Urmitzer Ware synonym benutzte Bezeichnung ›Eifel- benutzt? Inwieweit ist mit der Verköstigung von Saison- ware‹ (S. 115 Anm. 436). Nach allgemeinem Gebrauch kräften zu rechnen? Hat das zum Zeitpunkt der Zer- umschreibt letztere die erst ab dem frühen 4. Jh. auftre- störung z. T. bereits ziemlich alte Geschirr zuletzt noch tende rauwandige Keramik aus dem Raum Mayen. vollumfänglich in Benutzung gestanden? Der von der Diese ist von der Urmitzer Ware aus dem Neuwieder Be- Verfasserin gewonnene Annäherungswert von 60–70 cken deutlich zu trennen. Personen erscheint jedenfalls deutlich überhöht und be- Eine weitere Unschärfe ist bei der Formenunter- rechtigt zu einigen Zweifeln. Erfolgversprechender ist gliederung der Terra-sigillata-Teller zu verzeichnen dagegen die Untersuchung der erstaunlich zahlreich auf- (S. 120f.). Das ist von Bedeutung, weil die Teller neben tretenden Graffiti, die – wie üblich – mehrheitlich auf anderen Kriterien zur chronologischen Einordnung von Terra sigillata-Gefäßen auftreten. Von insgesamt 29 Rit- Fundkomplexen (Keller II, Wasserbeckenverfüllung) he- zungen aus dem Wasserbecken weisen die Buchstaben- rangezogen werden. Nach meiner Überzeugung ist es graffiti auf mindestens 13 verschiedene Personen. Frei- unumgänglich, die Teller mit Wandknick – von der Ver- lich ist auch dieser Befund letztlich nicht eindeutig zu fasserin insgesamt als Drag. 18/31 bezeichnet – in min- interpretieren. Erfasst man mit den Gefäßkennzeich- destens drei Typen zu unterteilen: Drag. 18/31 (Wand- nungen allein das Gesinde bzw. die Arbeitskräfte oder knick weit von Standringansatz entfernt), Drag. 31 auch die Besitzerfamilie? Haben alle kennzeichnenden (Wandknick nahe am Standringansatz) und Nieder - Personen gleichzeitig auf dem Hof gelebt oder gearbei- bieber 1c (großer Teller [›Platte‹] mit Strichelkranz). Es tet? Vielleicht weist ja die heterogene Zusammensetzung geht hierbei nicht um typologische Spielerei, sondern gerade des Terra-sigillata-Geschirrbestandes auf einen um deutliche Unterschiede in der Chronologie und Her- langen Zeitraum hin, innerhalb dessen die Graffiti ent- kunft. Während Drag. 18/31 von mittel- und ostgalli- standen sind. Die Gefäße könnten in einem ›Gesinde- schen Manufakturen gefertigt wurde, bestimmt Drag. schrank‹ verwahrt worden sein – evtl. sogar nur für den 31 von Anfang an das Produktionsspektrum in Rhein- saisonalen Gebrauch. Es könnte sich aber auch um aus- zabern. Die Form wurde an diesem Ort bis tief in das gemustertes Geschirr gehandelt haben, das irgendwo ge- 3. Jh. hinein hergestellt und konnte sich hier gegenüber lagert worden ist, so, wie bis in jüngste Zeit hinein auf den Tellern mit gerundeter Wand Drag. 32 behaupten. Bauernhöfen kaum etwas weggeworfen, sondern auf In Trier hingegen scheint im 3. Jh. die Form Drag. 31 Dachböden, in Scheunen oder sonst wo auf bewahrt zugunsten von Drag. 32 gänzlich aus dem Sortiment wurde. verschwunden zu sein. Im Schnittbereich des Rhein - Die wenigen Funde von Schmiedeschlacken sowie zaberner und Trierer Absatzgebietes wirkt sich dieser die Hinweise auf Bein- und Geweihverarbeitung Sachverhalt auf das von der Verfasserin und vielen an- (S. 170) fügen sich in den üblichen Rahmen handwerk- deren Autoren chronologisch ausgewertete Mengenver- licher Tätigkeit in villae rusticae ein. Interessant ist eine 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 440

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Verhüttungsschlacke, doch reicht das Einzelstück kei- Hier sind der Ausdeutung von Befunden und Funden nesfalls aus, um auf römerzeitliche Eisenerzeugung an sehr enge Grenzen gesetzt. diesem Ort zu schließen. Die vorliegende Arbeit stellt eine solide Bearbeitung Diskutiert wird von der Verfasserin abschließend der in vielerlei Hinsicht aufschlussreichen Grabungsbe- auch die Frage nach den Besitzern der Anlage. Insbe- funde und Funde der Villa rustica von Großsachsen dar. sondere geht sie anderweitig geäußerten Vermutungen Der von der Verfasserin aufgestellte und behandelte Fra- nach, wonach ein Angehöriger des Dekurionenstandes genkatalog verrät Weitblick und den Wunsch, die Vil- der civitas Sueborum Nicrensium als Hofherr in Betracht lenforschung mit neuen Impulsen zu bereichern. Man- zu ziehen sein könnte. Belege hierfür fehlen jedoch voll- che Diskussion allerdings bleibt im Ergebnis mager, was ständig. Gewisse Hinweise auf eine gehobene Ausstat- in erster Linie seine Ursache im Forschungsstand hat. tung, die sich in den Kleinfunden niederschlägt, sollten Zuweilen verlieren sich die Ausführungen etwas im Aka- keinesfalls überbewertet werden. Die Frage beantworten demisch-Theoretischen und immer wieder spürt man könnten letztlich nur Inschriften. Aber selbst dann die Angst der Autorin, nicht jeden denkbaren Ansatz wären mehr als schlaglichtartige Momentaufnahmen wenigstens angesprochen zu haben. Dessen ungeachtet nicht möglich. Besitzerwechsel oder späteres ›Hinein- wird man das Buch nicht nur aufgrund des darin sauber wachsen‹ der Besitzerfamilie in den Dekurionenstand dokumentierten, wichtigen Befundes, sondern auch blieben u. U. ebenso wenig fassbar, wie etwa die Zuge- wegen seiner anregenden und weiterführenden Bearbei- hörigkeit der Anlage zum Streubesitz eines Dekurios tung gerne zur Hand nehmen. Die Fachwelt verdankt oder Großgrundbesitzers, der sie gar nicht selbst oder der Autorin einen wichtigen Beitrag zur Villenforschung, bestenfalls saisonal nutzte. Gerade das Erfassen von Ent- dessen Bedeutung weit über das rechtsrheinische Ober- wicklungen und Prozessen, die auch in der über 150 jäh- germanien hinausreicht. rigen Besiedlungsgeschichte des Limesgebietes voraus- zusetzen sind, bleibt der Archäologie zumeist verwehrt. München Bernd Steidl

SPÄTANTIKE UND FRÜHES MITTELALTER

Ernst Pitz, Die griechisch-römische Ökumene und Die Beschäftigung mit den Fakten freilich ist die unver- die drei Kulturen des Mittelalters. Geschichte des meidliche Voraussetzung, doch solche zählt in dem ein- mediterranen Weltteils zwischen Atlantik und Indi- schlägigen Interessenkreis seit einigen Jahrzehnten nur schem Ozean 270–812. Europa im Mittelalter – Ab- noch wenig mehr. Indes, eine Darstellung wie sie hier handlungen und Beiträge zur historischen Komparatis- geliefert wird, wäre geeignet, diese Lücke zu schließen. tik 3. Akademie Verlag, Berlin 2001. 571 Seiten. Denn es handelt sich um den Raum der Mittelmeer- welt mit ihren Eigenheiten in einer Epoche des Übergan- Das Buch, Bd. 3 der ›Abhandlungen und Beiträge zur ges, mit seinen Ursprüngen und einer Verwandlung von historischen Komparatistik‹, veranstaltet vom Berliner Lebensformen wie der Verwirklichung von Akkulturie- Akademieverlag (hrsg. von M. Borgolte), behandelt ein rungsmöglichkeiten, für die es zu einer zusammenfas- Thema von unverkennbarer, nunmehr gleichsam fast senden Erklärung trotz jahrhundertelanger Forschungen unentrinnbar gewordener Aktualität mit einer Proble- bisher noch nicht gekommen zu sein scheint. Für diesen matik, die in den letzten Jahren eine Renaissance erfah- Raum eine Einheit zu gestalten, die Kultur und Zivilisa- ren hat, wie sie zuvor auch für die historische Forschung tion miteinander wirklich verbände, ist der Antike nicht kaum vorzustellen gewesen war. Das Komparatistische gelungen, mögen Zeugnisse scheinbar erfolgreicher Ver- als ein Suchen nach Gemeinsamkeit oder Vergleichba- bindung sich auch immer weiter in die Randzonen aus- rem und damit weiterführenden, fruchtbaren Gegensät- gedehnt haben. Es mag dies zum Teil mit dem Proviso- zen findet an Anhaltspunkten genug, und dies in den riumscharakter des Imperiums zusammenhängen, der Fakten selbst wie den aus ihnen zu folgernden Kausali- sich seit dessen Anfängen auch noch in der Kaiserzeit nie täten, wobei denn positive wie negative Ergebnisse wei- ganz verloren hat: Geht es aber um Ansätze und An- ter helfen. Im Vorliegenden gilt dies für die großen Di- fänge, so bleibt zu fragen, wie weit dieses Imperium in mensionen der Weltreiche wie für die kleinen, regional seiner räumlichen Einschränkung seit einem Pompeius begrenzten, und selbst zeitliche Differenzen tun wenig und der augusteischen Wende danach zugleich bewusst zur Sache, wenn es um entsprechende Erkenntnisse geht. auf entsprechende Möglichkeiten einer Vollendung ver- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 441

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zichtete. Spekulationen mit Weltherrschaftsvorstellun- ein Jahrtausend für den Verfasser wohl aus den äußeren gen im Sinne eines Alexander und der Verwirklichung Bedingungen vorwiegend in einer veränderten Zielset- einer Menschheitsidee wie zugleich die realistische Beur - zung innerhalb des Islam, die mit einer Aufhebung der teilung der vorhandenen eigenen Kräfte bilden ein un- Schwächen der früheren Epochen Hand in Hand ging. lösbares Dilemma. Dabei mag die in der Einschränkung Im übrigen sind im Westen die Voraussetzungen wie die erreichte Stabilisierung in der Kaiserzeit eine Art Ersatz Vorgänge selbst wohl eher zu begreifen gewesen und darstellen, der dennoch nicht ohne Wirkung blieb: Es fanden die Kriterien der Ablösung besseres Verständnis sind Kräfte mit ihrem Ursprung jenseits der selbstgezo- als im Osten, wo Theokratie und eine bisher weder genen Grenzen, die nach einem halben Jahrtausend die vorstellbare noch erwartete Mutation aller Denk- wie Zerstörung des errichteten Ordnungsgefüges herbeifüh- Lebensformen im 7. Jh. in Genese wie Ausbreitung des ren, und dies gerade in der Absicht, dieses Gefüge zu er- Islam wohl Fassungslosigkeit bei den Betroffenen auslös - halten, um an ihm teilzuhaben. ten, dann freilich schnell mit einer Zivilisation konfron- Der damit verbundene Prozess aber scheint von vorn- tiert wurden, die nach ersten Katastrophen sich gleich- herein vorgezeichnet. Pitz sieht die Oikumene für die sam einigelnd eine Abwehr zu mobilisieren vermochte Zeit, um die es ihm geht, aus drei Elementen bestehend und die schnell die begonnene Expansion zum Halten bzw. in drei Kulturräume gegliedert, den griechisch- brachte. Der davon mit ausgelöste politische Zerfall des römischen, verkörpert durch das Imperium Romanum Islam wiederum verhinderte, dass die Kämpfe mit By- der Kaiserzeit, den westlich-völkerwanderungszeitlichen zanz die Formen eines Religionskrieges annahmen. in seiner Genese von frühester barbarischer Kontakt- Pitz hat, nach der Inhaltsübersicht S. 9 ff., seine Dar- nahme bis zur Vollendung unter Karl dem Großen, und stellung in elf große Kapitel gegliedert, von denen die dem östlichen, zu dem das persische Reich und dann der ersten vier als ein Überblick über das römische Impe- Islam gehören. Alle drei entwickeln sich unterschiedlich, rium gleichsam die Grundlage schaffen. Die folgenden ihren Voraussetzungen entsprechend, in einer Über- schildern zusammen mit der Auflösung der Einheit den nahme von Randzonen der antiken Welt, für die der Prozess der Übernahme der westlichen Gebiete durch Einfluss des Imperiums in frühen wie späten Phasen be- die Barbaren mit Ansiedlung, Verarbeitung des Vorhan- stimmend gewesen war. Direkte wie indirekte Wechsel- denen, Abwandlung überkommener Strukturen und beziehungen bedeuten Stabilisierung und Etablierung Herausbildung eigener, nunmehr stabiler Staatsformen nach einer Epoche von Wanderung und Landnahme als eine Synthese. Der Prozess zieht sich bis zum Ende Jahrhunderte hindurch aus verschiedenen Motiven, und der westlichen Reichshälfte im 6. Jh. mit folgenden va- dies im einzelnen auch unter verschiedenen Formen, in ri ierenden Provisorien bis zu Karl dem Großen und des- jedem Fall aber mittels Anlehnung, Übernahme und sen Kaisertum ab 800 hin. Auf der anderen Seite steht Beeinflussung. Sie führen zugleich freilich zur Auflösung die innere Entwicklung des Christentums mit schweren der westlichen Imperiumshälfte, für die ein Kräfteman- dogmatischen Auseinandersetzungen, die sich nach der gel und als Ergebnis davon die Entwicklung zu einem Legalisierung durch Constantin vor allem im Osten in Zwangsstaat, genau genommen wohl einer Zwangsge- einer Weise steigern, die fast die Zerstörung des Imperi- sellschaft, charakteristisch sind. Der von germanischer ums involviert, am Ende dann notgedrungen aber zum Seite (Athaulf, Eurich) artikulierte Gedanke einer Ablö- Provisorium eines Nebeneinanders verschiedener, mitei- sung des Imperiums erweckt in einem solchen Zusam- nander kaum zu vereinbarender Glaubensrichtungen menhang zwar einen Eindruck von Naivität, braucht führt. Den Auseinandersetzungen erweist sich die west- aber angesichts der Entwicklung bis zum 5. Jh. als die liche Kirche als kaum gewachsen und scheidet früh aus Andeutung einer gleichsam immanenten Programmatik der Diskussion aus. Doch geht sie den Weg einer inne- nicht ganz utopisch zu sein. Das Ende des allgemeinen, ren Verfestigung durch eine ständige Missionierung differenzierten Prozesses unter Karl dem Großen freilich etwa der arianischen Nachfolger, während unter anderen hatte mit solchen Gedanken nichts zu tun, sie ging von Bedingungen als im Osten das Papsttum als koordinie- längst herausgestalteten anderen Voraussetzungen aus, rende Macht zugleich die politische Festigung über- ist bezeichnenderweise aber das Ergebnis der Interpre- nimmt, um nach dem Ende des westlichen Reiches 476 tation von byzantinischer Seite. Es sind zugleich aber das im 6. Jh. damit wenngleich auf anderer Ebene zu dessen Übernommene und die langsame Anpassung an die zumindest provisorischer Fortsetzung zu werden. Die vorgefundenen Verhältnisse, wie sie das Imperium in Verbindung mit der seit Justinian ganz anders gefestig- seinen westlichen Teilen zuvor erst geschaffen hatte, ten östlichen Reichskirche kann seitdem nur noch eine die den Nachfolgern ein eigenes Fortleben auf dem lockere, äußere sein. Wege jenes Stabilisierungsprozesses ermöglichten: Ex- Justinians vergeblicher Versuch einer Wiedergewin- zesse oder Übereiltheit in der Forcierung eines solchen nung der westlichen Imperiumshälfte, der Aufstieg des Prozesses blieben im allgemeinen stets ohne Wirkung. Merowingerreiches und dessen Expansion in Räume, Sind es damit im Grunde die Flügelmächte (so der die von den Interessen des Imperiums nie berührt ge- Terminus, den Pitz prägt), die mittels einer durch sie her- wesen waren, vervollständigen das Bild gleichsam von vorgerufenen, im Grunde gar nicht beabsichtigten Ver- der anderen Seite her. Die sich herausbildenden neuen änderung das westliche wie später das östliche Imperium wirtschaftlichen, aber auch sozialen, politischen, religiö- ablösen, so erklärt sich die Zeitverschiebung um fast sen und nicht zuletzt bis zu gewissem Grade geistigen 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 442

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(S. 251ff.) Strukturen bestimmen für den Westen auch sengemeinschaft, die sich weiter entwickeln konnte. Ver- noch das folgende Kapitel. Zwar ist bei all dem das rö- suche etwa, Byzanz als die geographisch mittlere der mische Erbe nicht zu übersehen, wenngleich die Akkul- Mächte mit der zweifellos höchsten Zivilisation zu schä- turierung der Germanen in deren Reichen sich nach digen und sich an dessen Mitteln schadlos zu halten, anderen, unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten vollzieht. sind von keiner Seite her wahrzunehmen, die Notwen- Wichtig für deren Stabilisierung indes, das wird in digkeit einer stabilen Mitte scheint von niemand bezwei - seinen verschiedenen Stufen überzeugend deutlich, ist felt, die Kriege des Islam gehören eher in die Frühstufe zumindest für die ersten Jahrhunderte der Einbau der dieses Prozesses. Auch sind Verschiebungen innerhalb römischen bzw. romanisierten Elemente, insbesondere des Kräfteverhältnisses für diese Zeit gering und führen der oberen Schichten, und der nach römischer Tradition wie in Spanien eher zu neuen Kontakten, und nach von diesen gehandhabten Institutionen, die sich zwangs- Rückschlägen beginnt sich als Folge wohl von dynasti- läufig freilich mehr und mehr verselbständigen oder aber schen Gegensätzen nach innen und Katastrophen im im Sinne der neuen Herrschaften instrumentalisieren. In Mittelmeer wie in Nordafrika wenigstens seinen Absich- einer zweiten Stufe von Landnahme und Völkerwan- ten nach selbst Bagdad als ein Partner am Mittelmeer derung seit Mitte des 5. Jhs. beziehen die sich weiter zu etablieren. Die eigentliche Zeitenwende, mit der das herausbildenden westlichen Flügelmächte mit den Ost- Buch schließt, die von diesem selbst mit Recht unwillig goten und danach den Langobarden nunmehr Italien in wahrgenommene Kaiserkrönung Karls, freilich führt ihren Interessenbereich mit ein, während in einer äußer- zugleich weiter: Denn mit der vielleicht unbeabsichtig- lich gesehen parallelen, fast zeitgleichen Herausbildung ten Rolle des Papstes als Coronator scheinen die mit der der östlichen Flügelmacht sich vorerst der umgekehrte Krönung verbundenen Hoffnungen auf beiden Seiten Prozess vollzieht. paralysiert und werden neue Schwierigkeiten gleichsam Denn bei schneller Expansion und der Zerstörung zum Programm: Die Möglichkeiten einer päpstlichen des Sassanidenreiches, des eigenen Vorläufers, durch den Rolle im Politischen und über dieses hinaus bereits zuvor Islam kommt es für diesen trotz vorhandener reicher zeichnet Pitz am Beispiel Gregors des Großen ein- Mittel zu einer alle Teile umfassenden, selbst politischen drucksvoll. Päpstliches Ausgreifen von nun an in die in- Gemeinschaft nicht, sondern driften zwischen der indi- ternationale Realpolitik schafft einen Zustand, der die schen Grenze und Spanien als Folge wechselnder oder besten Absichten von Kaiser und Kaiserin auf eine neue divergierender, kontroverser Selbstdeutung die Teile der Solidarität der Mächte relativiert. Mit dem römischen islamischen Gemeinschaft politisch auseinander und Erbe hatte diese Rolle an sich nur noch wenig zu tun, das bleibt für lange Zeit das Kalifat in Damaskus und dann Beispiel Gregors und seiner Art neuer Glaubensfesti- in Bagdad machtlos. Byzanz freilich, wenngleich schein- gung freilich weist bereits in eine Zukunft, die von da an bar im Detail der Sieger, erleidet mit entscheidenden ter- die Problematik des europäischen Mittelalters bestimmt. ritorialen Verlusten im Vorderen Orient dennoch einen Es ist dem Verfasser gelungen, das Gefüge von recht- Schlag, von dem er es sich trotz großer innerer Flexibili- lichen, wirtschaftlichen und sozialen Kausalitäten auch tät nicht mehr erholt. in ihrer Verwobenheit sichtbar zu machen und zusam- Wie natürlich behandelt der Autor die Anfänge und men mit den Kriterien für eine sukzessive Veränderung die Voraussetzungen eines sich nicht nur im Politischen als ein komplexes, in seinen Einzelheiten aber logisches abspielenden Prozesses. Die inneren Zusammenhänge Gefüge darzustellen. So setzt sich die römische Kaiser- darüber hinaus könnten nicht eindringlicher dargestellt zeit mit ihrem scheinbaren Pragmatismus in der Behand - sein. Sie sind es, die dem Buche als Anregung zum Su- lung anfallender Probleme gleichsam variierend in der chen nach Interdependenzen zweifellos seine große Wir- um Ausgleich bemühten barbarischen Welt fort, sobald kung verschaffen werden. So ist nach der Konsolidie- die Etablierung zur Notwendigkeit wird. Dass diese Bar- rung des Westens bis zu den britischen Inseln (S. 353 ff.) baren das Überkommene einschließlich des damit be- und einer geographischen Gewichtsverlagerung die trauten Personenkreises übernehmen und nur langsam Dreiteilung für die Welt um das Mittelmeer verändert wirklich integrieren, liegt in der Natur der Sache, das und verfestigt zugleich, und zwar in die islamische von Auseinanderklaffen von Ost und West erklärt sich nicht Indien bis nach Spanien und Südfrankreich, in den Wes- zuletzt daraus, dass dort ein entsprechendes Pendant ten und in Byzanz: Eine Beruhigung seit Ende des 7.Jhs. zum Kaisertum fehlt und demnach auch die inneren an allen Stellen ist unverkennbar. Dabei fördert eine Schwierigkeiten neu etablierter Reiche auf einem Wege langsame aber stetige Etablierung im Westen die natür- der Integration nicht eigentlich zu bewältigen sind. liche Genese neuer Staatsformen. Ein weiterer Prozess Führt denn im Westen die Angleichung zu einer Syn- von Stabilisierung in Gallien wie selbst in Spanien ent- these mit den römischen oder romanisierten Substraten wickelt Wechselbeziehungen über weite Räume, und so lange, bis diese aufgezehrt sind, im Osten entwickeln nach einer sich vertiefenden Wahrnehmung der Mög- sich eigene Mittel, um sich mithilfe besserer Möglichkei- lichkeiten von Ausgleich und Austausch verkörpert das ten einer Kräftekonzentration das Überleben zu sichern. Kaisertum Karls des Großen wohl den Beginn eines Die sich herausbildende germanische Ständegesellschaft neuen Zeitabschnittes von reichen Aussichten, von wei- mit ihren traditionellen Einschränkungen des Herr- terer Konsolidation auch innerhalb dieser Räume mit schers verbindet genuin römische Traditionen mit denen wenigstens der Illusion nunmehr in der Tat einer Interes - der barbarischen Genossenschaft, jetzt freilich in an- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 443

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derer Weise und mit anderen Ergebnissen als dies legierung und Zunahme von privatem Reichtum er- früher für die barbarische Oberschicht der Fall sein scheint früh in Zusammenhang mit einer solchen Rolle konnte. Die Art, wie ein Orosius diese Verbindung vorgesehen gewesen zu sein. Die legalisierte, caritative billigt (siehe S. 174), lässt eine unabdingbare Notwen- Aufgabe der Kirche seit der constantinischen Wende digkeit erkennen. wiederum mit nunmehr bischöflichen Funktionen weit Bei all dem hat die Religion die Funktion eines Kata- über die bloße Seelsorge hinaus, nicht zuletzt, um Kor- lysators. Die christologischen Auseinandersetzungen seit ruption und Unterschleifen vorzubeugen, ist ein natür- dem 4. Jh. sind mit Recht als die Auswirkung philoso- liches Pendant, wobei der Einbau in die Staatshierarchie phischer Prämissen und der offenkundig sich mit der sich mit der Zeit zwangsläufig intensivierte, nicht zuletzt, Zeit weiter entwickelnden Debattierfreudigkeit eines da die politischen Gemeinden zu einer Erfüllung ihrer kleinen Kreises von Spezialisten verstanden, wie immer Pflichten immer weniger in der Lage waren. Die germa- man die vielzitierte Stelle Gregors von Nyssa über die nischen Nachfolgestaaten übernahmen dies zu Recht Intensität der Diskussion auch unter theologisch keines- und übertrugen es auf andere Ebenen. Die Rolle gerade wegs Vorgebildeten auslegen will. Zündstoff bedeutete von Bischöfen dort als Territorialherren erklärt sich sie allemal. Wie weit danach denn seit dem 5. Jh. Chal- neben ihrer Herkunft nicht zuletzt aus ihren persön- kedon und die Zunahme monophysitischer Glaubens- lichen Voraussetzungen zur Wahrnehmung von juris- anhänger im byzantinischen Reiche als Emotionalität tischen oder diplomatischen Funktionen und ihrem im Sinne einer Imperiumsaversion oder aber als wirklich Überblick über die gängigen Verwaltungsmodalitäten. religiöses Anliegen in der Bewältigung des für einen ein- Den Einbau mehr und mehr in die Verwaltung dieser fachen Verstand nicht zu lösenden Logosproblems zu Staaten setzt dies voraus. An anderer Stelle wiederum sehen ist, bleibt unklar. Auf jeden Fall bedingen sie hatte auch der kirchliche Grundbesitz, wie er für Gregor christologische Antinomien (Alexandria, Antiochia) in den Großen bekannt ist, in solchen Dimensionen seine der Auseinandersetzung mit der offiziellen Kirche und Aufgabe. Die römische Senatorenschicht insbesondere in fördern am Ende das Eindringen des Islam in die östli- den Nachfolgestaaten war damit in der Lage, den Über- chen Provinzen wie in Ägypten. Weite Kreise von Zeit- gang zu erleichtern. Und es ist interessant: Hatte dort genossen könnten diesen Islam vorerst sehr wohl als eine überall die christliche Lehre ihre Zeit gebraucht, um Spielart des Monophysitismus gedeutet und als eine re- zum selbstverständlichen Gemeingut zu werden, so ligiöse Umwälzung am Anfang gar nicht empfunden weist Pitz mit Recht auf die Rolle der Angelsachsen hin, haben (siehe dazu u. a. besonders G. Lüling, Die Wie- deren Missionare gleichsam von unverfälschten Voraus- derentdeckung des Propheten Muhammed [Erlangen setzungen aus das Ihre taten, in einer Ausrichtung auf 1981]). Die christologischen Auseinandersetzungen zwi- Rom die Herstellung einer kirchlichen Ordnung nach- schen Byzanz und dem Westen hörten nach Justinian so zuholen, die durch die Umstände und andere Aufgaben gut wie auf: Dass dort die offiziellen Vertreter für ent- mit Bezug auf den Episkopat in den neuen Reichen sprechende Spekulationen zu wenig vorgebildet waren zweifelhaft geworden war und einer eindeutigen Klä- und bereits Sprachschwierigkeiten das Verstehen behin- rung bedurfte. Das Recht als die überkommene, früh derten, tat das Seine, das Christentum zu spalten und fixierte Normierung der Rolle des Einzelnen in dem so- zugleich eine gegenseitige Unduldsamkeit zu fördern, zialen Gefüge des Staates gehört hierher. Seine Über- die sich ihrerseits dann wiederum vielfältig auswirkte. nahme durch die Nachfolgereiche im Westen hat sich Im übrigen bleibt für die späte Antike und deren den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, wobei Varia- Nachfolge in den barbarisch besetzten Ländern die Fülle tionsformen die Möglichkeit boten, den Stabilitätspro- des Materials dank des Autors überschaubar, wobei es zess zu fördern, auch wenn es zu einer vollständigen die Art der Kapiteleinteilung ermöglicht, für die einzel- Übernahme des römischen Rechtes nie kam und etwa nen Phänomene zugleich auch die Vielfalt der Deu- um die Zeit Justinians die Synthese dort weitgehend tungsperspektiven sichtbar zu machen. So gelingt es bereits beendet war. ohne viele Worte und eher in der Andeutung, den tradi- Besonders instruktiv scheint mir hier immer noch tionellen Verfallsgedanken mittels dem von Fortschritt der vergleichende, zusammenfassende Überblick von und Fortentwicklung im Sinne einer Anpassung zu er- W. Se l b , Antike Rechte im Mittelmeerraum (Köln setzen, die sich von selbst ergibt. Für die Antike etwa ge- 1993). Fraglich bleibt mir, ob das iugum mit seiner hört die sich entwickelnde soziale Schichtung (honestio- Beziehung auf das Ochsengespann noch einen Sinn res, humiliores, dies neben den herkömmlichen Organen für die diocletianischen Reformen besaß, für die es al- lokaler Selbstverwaltung) mit den an die Mitglieder lein um Flächenmaße ging, siehe dazu nunmehr noch überwiesenen Aufgaben in den Rahmen früh einsetzen- A. Délèage, La capitation du Bas-empire (Paris 1945) der notwendiger Stabilisierungsabsichten ähnlich wie passim. Im hier zu besprechenden Buch lies S. 476 Va- die an sich unabdingbare staatliche Hilfsfunktion der lentinian I. statt III. Das Literaturverzeichnis (S. 513 ff.) Grundbesitzer etwa zur Sicherung des Colonats, die kann nur Auswahl sein. Gerne nachgetragen hätte man sich, äußerlich gedeutet, früh bereits denn in den Zu- an dieser Stelle noch H. Grahn-Hoek, Die fränkische sammenhang einer auch komparatistisch zu erklärenden Oberschicht im 6. Jahrhundert. Studien zu ihrer recht- Phänomenologie von Adel und Aristokratie in den lichen und politischen Stellung (Sigmaringen 1976); Nachfolgereichen bringen lässt. Eine neue Art von Privi- R. Kaiser, Das römische Erbe und das Merowinger- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 444

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reich (München 1993); K. P. Christou, Byzanz und die macht, damit eine spätestens seit Mark Aurel sich gleich- Langobarden. Von der Ansiedlung in Pannonien bis zur sam intensivierende Tradition fortgeführt und danach endgültigen Anerkennung (Athen 1991). Die Catalau- bes. unter Alarich 395 eine neue Phase von Zwischen- nischen Felder verlegt V. Friedrich (Irgendwo in Gallien staatlichkeit eingeleitet haben, die mit der Sammlung [Gräfelfing 2004]) neuerdings nach Osten in die Ge- bes. der 382 dedierten Westgoten und anderer Volksteile gend von Mettlach zwischen Saar und Mosel. Zu Justi- begann. Der Ansiedlungsvertrag von 418 analog auch nian siehe bes. H. Krumpholz, Über sozialstaatliche dem der Burgunden bald danach, mit der Institution des Aspekte in der Novellengesetzgebung Justinians (Diss. hospitium in Verbindung gebracht, hatte auf Dauer wohl Bonn 1992) passim. nur Sinn in der Schaffung geschlossener Siedlungs- Schwierigkeiten bereiten mir gelegentlich die Über- räume, wollte man nicht die bisher geltenden agrari- setzungsversuche römischer Termini, vgl. S. 86: »Ehr- schen und sozialen Zustände zerstören, damit die eige- bare« für honestiores mag angehen (vgl. S. 93), »Ernied- nen Kräfte funktionsunfähig machen und zugleich selbst rigte« für humiliores scheint mir den Komparativ zu in einen neuen Auflösungsprozess geraten. So scheinen ignorieren und überdies auch sachlich unzutreffend. Mit die Thesen Goffarts, möglicherweise mit Modifikatio- comes als »Hofrat« gerät man bei der Vielfalt in der Ver- nen, nach wie vor am meisten einzuleuchten: Entspre- wendung des Terminus sehr leicht in andere Verwirrung. chende Erwägungen wären es denn wohl auch früh, die Wie weit sich eine solche Genese von eigenen Rechts- die Verwendung einheimischer Elemente insbesondere vorstellungen etwa von den römischen Ursprüngen un- der großgrundbesitzenden Aristokratie und Senatoren- terscheidet, bleibt eine Frage. Ihre Beantwortung lässt schaft nahe legten und die notwendig die beste Garan- Pitz mit Recht offen: Die hier behandelte Zeit kennt eine tie innerer Stabilität waren: Die Frage wiederum nach lange Tradition von Jurisprudenz mit diffizilen Kombi- der auffallenden ostgotischen Konservativität unter nationsmöglichkeiten zwischen regionalem und allge- Theoderich mit ihrer Vermeidung jeder Verbindung zur meinem Recht in allen Bereichen. Dabei bedeuten im italischen Bevölkerung ist schwer zu beantworten. Sie Osten die entstehenden Rechtsschulen eine neue Verfes- betrifft wohl nur die ostgotische Unterschicht als ein tigung und die Genese eines juristisch orientierten Ver- Programm zur Wahrung der eigenen, bes. militärischen waltungsapparates, wie ihn der Westen nicht mehr Funktionsfähigkeit und damit einer Sicherung der be- kennt. Anderseits freilich erschienen die Codifizierungs- stehenden Verhältnisse auch im Sinne der byzantini- versuche des 5. und 6. Jhs. schon als die Folge bereits schen Reichskonzeption. Das Fernziel einer Integration einer Unsicherheit und die notwendige Wiederholung unter besseren Bedingungen halte ich für selbstverständ- durch Justinian zugleich die bereits eines Kommunika- lich; ein solches erklärt das Wachsen einer nationalen tionsmangels, wobei freilich zu fragen ist, wie einem Opposition nach 526, als man nach anderen Bedingun- solchen überhaupt abzuhelfen war. Die angedeutete mo- gen zu suchen hatte. Das fränkische Vordringen in fast difizierte Übernahme in den verschiedenen Nachfolge- leere Räume seit dem 4. Jh. bedeutet im Gegensatz dazu staaten mag eine Vulgarisierung bedeuten, von der selbst einen anhaltenden Prozess der Herausbildung monar- bereits die byzantinischen Corpora nicht ganz frei sind. chischer Strukturen mit Etablierung auch der Gefolg- Sie kann sich aber nicht allein auf die Garantie eines schaften, zugleich freilich unter sukzessivem Abbau des Zusammenlebens zwischen Germanen und Römern be- Gefolgschaftswesens, dafür aber zugleich die Herausbil- zogen haben, sondern ist eher ein Faktor zugleich der dung eines neuen Adels aus germanischen, römischen notwendigen Stabilisierung zu einer Zeit, da das Gefolg - und bald auch kirchlichen Elementen, wobei gerade schaftswesen der Wanderungszeit nicht mehr ausreichte, diese Kombination einen ständigen Wechsel mit ange- anderseits aber der Monarch um die Möglichkeiten einer ordneten Änderungen besonders leicht ertrug. Die ein- festen Kontrolle heterogener Untertanenschaft bemüht schlägige Terminologie in den Quellen ist einigermaßen sein musste und dazu eindeutige Handhaben brauchte, klar, auch bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen die bei notwendig sich ergebendem Strukturwandel in- Funktionen im einzelnen. Dass Hofchargen mit subal- nerhalb seines Reiches ihm diese garantierten. Der Lite- ternen Anfängen, aber als Funktionsträger unabdingbar ratenton der großen Codifizierungen in Byzanz mit zum Bestandteil eines sich damit natürlich ergänzenden einer nicht immer leicht zu durchdringenden Sprache, Adels wurden, ließe sich als Reminiszenz an das späte nicht eindeutig verwendeter Terminologie und einer Fülle römische Imperium verstehen. Hand in Hand damit von Metaphern lässt sich nicht zuletzt wiederum aus freilich ging wohl auch die Entwicklung mythischer, zu- einem Bemühen um Flexibilität erklären angesichts einer mindest sakraler Assoziationen und Deutungskriterien Entwicklung, bei der eine einheitliche, rigorose Rechts- für die Dynastie. Die Verwendung römischer Termino- auslegung von Fall zu Fall in räumlich weit auseinander logie in der Definition überkommener eigener Rechts- liegenden Imperiumsteilen gar nicht mehr möglich war. vorstellungen war überdies angetan, zugleich die durch Gründe für die Entwicklung zu einem Vulgärrecht gibt die Gefolgschaftstradition bedingten Beschränkungen es genug. Sie liegen in den allgemeine Bedingungen. des Königs abzubauen, wobei etwa Anekdoten, auf Im übrigen müssen Bevölkerungsschwund, Boden- Chlodwig bezogen, zugleich die ebenso rechtsbedingten verhältnisse und das mehr und mehr verfügbare Land Möglichkeiten eigenwilliger Auslegung des Rechtszu- seit dem 4. Jh. die Aufnahme und schließlich die Aner- standes durch diesen andeuten. Ist Nobilitierung stets kennung ganzer Stämme auf Imperiumsboden leicht ge- ein Zeichen auch von zumindest versuchter allgemeiner 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 445

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Stabilisierung, so wird die Aristokratisierung des Haus- weitung der eigenen Dimensionen ins eigentlich Weltpo- meierwesens in diesen Zusammenhang gehören und litische nicht hin. Und selbst die Verbindungen mit den als ein unvermeidbarer, keineswegs als ungeheuerlicher östlichen Reichen sind sporadisch. Schritt empfunden worden sein. Das Bild der Verhältnisse am östlichen Rande, so wie Die Fernziele, die die germanische Etablierung in der es Pitz aufzeigt, unterscheidet sich davon. So erscheint Westhälfte des Imperiums seit dem 4. Jh. bestimmten, das Sassanidenreich als der bewusst gewollte Gegen- freilich sind unklar, gesetzt, es gab solche wie sie über satz zur vorausgehenden parthischen Reichsbildung, zu den Zwang zur Flucht, Suchen nach Etablierung auf Im- verstehen zugleich als ein Neuanfang und als die Inten- periumsboden oder die Verlockung durch längst in den sivie rung nunmehr vor allem einer orthodoxen, vom Heimatgebieten bekannte Formen der römischen Zivili- Mythischen befreiten Lehre des Zarathustra wie dessen sation hinaus gingen. Sie setzen aber, wie angedeutet, in- Missionierung zumindest innerhalb des Reiches. Dazu nerhalb der neuen Staaten die Harmonisierung voraus. freilich gehört der Versuch der Könige, die Macht eines Mit Recht hält sich der Verfasser vor ausufernden, wie starken, lange etablierten Magnatentums zu unterwan- üblich ins Fragwürdige führenden Spekulationen zu- dern: Die Verbindung des Königs sogar mit dem Maz- rück. So bleiben mit Variationen für die neuen Unterta- dakitenaufstand ist kaum zu übersehen, wenngleich die nen die Formen der Bodennutzung, der Landverteilung Wirkung ausbleibt. Folge ist indes auch die Reformie- und der materiellen Zustände erhalten, lediglich, dass rung des Steuerwesens unter Chosroes I. nach byzanti- die Rolle der Kirche als Großgrundbesitzer wie als Man- nischem Vorbild, die die Kriege gegen Justinian weitge- datar des Staates sich intensiviert, zugleich aber mehr hend wohl erst ermöglichte. Dazu freilich kommt die und mehr in das Strukturgefüge der Reiche eingliedert. Belastung an anderen Grenzen. Angriffe auf das Impe- Das vandalische Gegenbeispiel wiederum erklärt sich rium seit Beginn des Reiches 226 dienen kaum einem aus der Isolation des Volkes unter naturgemäß fremden dauernden Territorialgewinn, sondern eher dem Ein- Lebensbedingungen als eine Form von Hilflosigkeit. Im bringen von Beute einschließlich qualifizierter Gefange- Gegensatz zu all dem wohl stehen Auftreten und Reichs- ner zur Verstärkung des königlichen Machtpotentials. bildung der Hunnen unter Attila als die Zäsur innerhalb Für das Verhältnis des Königs zu einer jüdischen Min- des Völkerwanderungskomplexes, mit anderen ethni- derheit gilt ähnliches. Mit der Zeit freilich werden die schen Voraussetzungen, aber zugleich dem Zwang, ein Kriege gegen Rom zu einer Schwächung: Die Hilfe, die Nomadendasein abzulegen, das sich von den Lebensfor- dieses am Ende des 6. Jhs. dem Großkönig gewähren men der anderen Zuwanderer grundlegend unterschied, muss, könnte auf die Vorstellung einer Interessenge- sesshaft zu werden und sich dazu einer erzwungenen meinschaft trotz allem hinweisen, die seit je bestand und Entwicklungshilfe zu bedienen. vielleicht den Vertrag Jovians mit Shapur II. 363 be- Attilas Zug nach Westen 451 müsste als Ziel eine stimmt hatte. Sie zeigt aber jetzt bereits das Ende an, die neue Reichsbildung unter verbesserten Bedingungen Unterwerfung durch den Islam unmittelbar nach der zugrunde gelegen haben, die im Räumlichen die beiden Niederringung durch Herakleios verläuft schnell und vorhandenen Reiche ergänzen konnte. Die beabsichtigte ohne Widerstand (siehe dazu immer noch A. N. Stra- eheliche Verbindung mit dem Kaiserhaus mochte eine tos, Byzantinum in the seventh century 1–2 [Amster- Illusion sein, sie passte dazu. Eine Anregung wiederum dam 1968]). mochte Attila kurz danach wiederum für Geiserich bie- Der Islam wiederum als gleichsam die Folge von öst- ten. Zu einer wirklichen awarischen Landnahme auf lichem Zerfall in allen Bereichen, von nie ganz geklärten Dauer hingegen kam es bezeichnenderweise nicht. Die dogmatischen Streitigkeiten innerhalb des Christentums seit dem 6. Jh. mit dem Auftreten der Awaren (dazu er- und von Gegensätzen zwischen Staatskirche und einzel- schöpfend W. Pohl , Die Awaren2 [München 2000]) nen Glaubensrichtungen gewinnt seine Stärke gerade verbundene slawische verselbständigte sich schnell und von Anfang an durch den Mangel an theologischen wurde zu einem lang anhaltenden Prozess. Kontroversen, so dass die Lehre sich auch unter den dy- Für den Westen entsteht, wie angedeutet, das Bild nastischen Streitigkeiten um das Kalifat zu bewahren von Kontinuität und modifiziertem Fortleben der römi- vermag. Das Fehlen auch einer islamischen Reichsvor- schen Tradition auch in Brechung, Variation oder Abän- stellung im traditionellen Sinne fällt demgegenüber derung im Sinne einer Anpassung, anfangs überdies wenig ins Gewicht. Die Welt Mohammeds als die von auch im Personellen fixiert, dann fortgeführt, als dies Fern- und Karawanenhandel (im Gegensatz zu anderen sich ins Institutionelle gewandelt hatte. Die Vasallität im Kulturkriterien wie Ackerbau, Nomadismus oder städti- Frankenreich als eine Art letzter Intensivierung von bis- scher Zivilisation) vermag es, entsprechende Grundten- her rechtlichen wie sozialen Zuständen erklärt sich als denzen des Zusammenlebens als Bestand der Lehre auch die natürliche Fortsetzung dieses Prozesses, der den auf andere Völker und das Zusammenleben mit diesen König und dann den Kaiser über bisher noch gültige Be- zu übertragen, Toleranz im Religiösen, Hilfsbereitschaft ziehungen des Personalverbandes hinausgelangen ließ. und großzügig gehandhabte Steuereintreibung, und Militärische Umstrukturierung geht Hand in Hand dazu anderseits eine große Mobilität über weite Räume damit als weitere Möglichkeit von Stabilisierung. Die hin. Rezeption oder Fortentwicklung der antiken Tradi- geopolitischen Hintergründe des Frankenreiches unter tion gibt es nicht, die Kulturdifferenzen auch zu dem Karl dem Großen aber weisen auf die Absicht einer Aus- benachbarten Byzanz vertiefen sich mit der Zeit trotz 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 446

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diplomatischer Beziehungen, und das gleiche gilt wohl (S. 407ff.), Literaturverzeichnis und Index sind eine für die zu Karl dem Großen. Zwar verhindern die inne- wichtige Hilfe. Man möchte zu einem besonderen Ver- ren Gegensätze früh eine weitere zügige Expansion gegen ständnis dem Leser vor der Lektüre die Beschäftigung Konstantinopel. Maritime Unternehmungen im Mittel- mit dem Nachwort mit seinem persönlichen Bekenntis alter bleiben vorerst ohne großen Erfolg: Die Ausdeh- des Verfassers anraten (S. 521 ff.). Denn dieses ordnet nung nach Nordafrika und nach Spanien, ja bis ins süd- sein Anliegen eigentlich erst in den Zusammenhang sei- liche Gallien indes wird durch solche Gegensätze nicht ner historischen Deutung ein. Es macht denn auch auf beeinträchtigt. die Zeitlosigkeit nicht nur von Problemen sondern von So ist es die Angliederung der Flügelkulturen, die es Tatsachen aufmerksam, um die es im Grunde geht. Rom und seinem Imperium jahrhundertelang erlaubten, seine Perspektiven zu erweitern, auf der anderen Seite Bonn Gerhard Wirth aber nun dieses Rom als ein Phänomen der Antike, ja diese selbst, verblassen lassen. In Byzanz hat sich die An- tike selbst im Politischen als Gestaltungskraft immer mehr vertieft und zugleich in einer eigenen Weise fort- entwickelt. Parallelen und Analogien, dies von Fall zu Hans-Georg Severin und Peter Grossmann, Früh- Fall selbst in einer Gegenläufigkeit der Prozesse, sind christliche und byzantinische Bauten im südöstlichen durch äußere Bedingungen bestimmt, passen aber zu- Lykien, Ergebnisse zweier Surveys. Istanbuler For- einander. Dabei mag das Auseinanderdriften der west- schungen, Band 46. Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen lichen und der östlichen Imperiumshälfte seine äußer- 2003. 180 Seiten, 36 Tafeln, 37 Abbildungen (Grund - lichen, formal erklärbaren Gründe haben. Über das risse und Aufrisse). Politische hinaus, das bis auf Constans II. noch ein Pos- tulat bleibt, kann der Verlust des Westens und danach Dans cet ouvrage sont publiés les monuments (essentiel- selbst Italiens kaum als ein Gesundschrumpfen gedeutet lement des églises) et leur environnement architectural worden sein, mochte in Byzanz die Notwendigkeit einer (maisons) étudiés et relevés au cours de prospections Einigelung aus vielen Gründen um der Kräftekonzen- faites en 1976 et 1977 en Lycie centrale, entre Kekova et tration willen auch immer mehr zur unvermeidlichen (carte p. 2, fig. 1). L’étude se divise en deux cha- Devise werden. Die Themenverfassung ist ein Beispiel pitres. Le premier est le corpus des sites (p. 3–118) où von solcher Anpassung an die Umstände zu deren Be- sont examinés successivement les églises, leur environne- wältigung von einmaliger Grandiosität. Sie bedeutet an- ment bâti, s’il est conservé et accessible, et la sculpture tike Tradition selbst noch in deren Umwandlung und architecturale. Un second chapitre (p.119–176) présente der Anpassung, geht zugleich aber von den Erkenntnis- un examen d’ensemble de l’architecture et du décor de la sen aus, die die germanische Landnahme im Westen Lycie. eingebrachte hatte. Und sie berührt sich innerlich mit Les auteurs commencent par décrire les monuments der Kaiseridee, in deren Verwirklichung das Volk eine de la côte et de la vallée du Myros. Les cinq églises d’An- Rolle spielte – das von Byzanz hatte demgegenüber stets driaké, le port de , et de présentent une abside nur eine repräsentative Funktion. So ist denn wohl auch circulaire. Le narthex ne semble pas de règle dans ces ba- die Initiative der Kaiserin Irene zur Schaffung eines siliques urbaines: à l’exception des basilique C et E, où il neuen westlichen Pendants mit Pitz als ein Durchbruch est rajouté, et de celle du port de Sura, où il est primitif, zu verstehen, der, behutsam ausgenutzt, mit der Zeit il n’existe pas dans les autres, y compris dans la basilique unter anderen Voraussetzungen zu einer Neuordnung D, pourvue d’un atrium. On peut regretter que les au- führen konnte. Zu einer Erörterung von Details kam es teurs n’aient pas tenté de redonner un plan de l’église du nicht, und es bleibt zu fragen, ob Irene über eine Illusion haut de Sura, qui pose des problèmes sur les relevés de bei all dem hinauskam. Wie weit Karls geopolitisches R. M. Harrison (Churches and chapels of central . Weltbild entsprechende Folgerungen erlaubte, ist frag- Anatolian Stud. 13 [1963] 143 n° 34) et d’O. Feld (dans lich, die gemeinsame Front gegen den Islam begründet J. Borchardt / O. Feld / G. Neumann, Myra [Berlin nicht alles. Dass Karl Aachen in einer Weise ausbaute, 1975] fig. 66). Les basiliques examinées ont souvent des die den Eindruck einer Konkurrenz erwecken konnte, annexes à l’Est, dont la plupart ont un but liturgique besagt bei all dem nicht viel, der Ausbau von Metropo- (elles sont terminées par une abside ou peuvent être tri- len gehört zu den notwendigen Anliegen monarchischer conques). Les synthrona, arrondis, ont plusieurs gradins Selbstdarstellung seit der römischen Kaiserzeit. Mittel- d’accès. La séparation entre les nefs est assurée par un punkt in einer nunmehr dreigeteilten Welt ist Byzanz chancel. La clôture du sanctuaire, dont la tracé est en- geblieben. core visible dans la basilique A, repose au Nord et au Sud An Details findet man in dem Buche viel, die Spra- sur les stylobates et ne présente à l’Ouest aucune avan- che in ihrer Eindringlichkeit macht die Lektüre zum cée (ou «solea») vers la nef centrale. Des tribunes ont été Ver-gnügen, man glaubt in Stil und Stoffgestaltung die rajoutées dans la basilique de Sura. Les auteurs les consi- Vorlesungspraxis des Verfassers zu spüren. Die Lektüre dèrent comme médiévales mais elles me semblent proto- erbringt nicht zuletzt deshalb besonders reichen Ge- byzantines comme la première phase de l’église. Le site winn an Durchblick wie Anregung. Quellenhinweise de Danabaªın Zeytinlik Mevkii, dans les gorges du 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 447

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Myros, est considéré par les auteurs comme un couvent A Karabel (selon Hellenkemper /Hild op. cit. 798, le médiéval. L’église a ses nefs séparées par des piliers et a site est celui de Pharroa), les auteurs n’ont pas retrouvé la reçu au nord-est, après coup, une annexe allongée termi- basilique mentionnée par Harrison (op. cit. 131 n° 9) née par une abside: une date à l’époque protobyzantine mais publient une petite chapelle du VIe siècle et un frag- me semble plus appropriée que la date médiévale propo- ment de corniche, peut-être remployé. A. proximité, ils sée. Dernier site côtier examiné, «le petit village de pê- ont trouvé une contrepoids de pressoir à vis qu’ils attri- cheurs» (p. 20), d’époque protobyzantine, non fortifié, buent avec raison à un pressoir à huile. de Kök Burunu (Kabo tou Phoinika d’après un portulan Les bâtiments les plus importants se trouvent à proxi- médiéval tardif: H. Hellenkemper /F. Hild, TIB 8/2, mité de Karabel. Il s’agit de deux ensembles révélés par 577), dont les maisons simples, évoquent celles d’Alaki- Harrison, le premier sous l’appellation «monastère près lise (R. M. Harrison, Upland Settlements in Early de Karabel» (op. cit. 131–135 n° 10) que les auteurs ap- Medieval Lycia. Actes Coll. Lycie Antique [Paris 1980] pellent Asarcık West et le second sous celui de «Karabel 109–118), de Gemiler Ada et de Karacaören. L’église a Acropolis» (op. cit. 136 n°11) réétudié sous le nom été complètement relevée (comparer avec Harrison op. d’Asarcık Ost. Ces deux ensembles représentés fig. 33 cit. n° 23; p. 139 fig. 15) et notamment son chevet, plat, sont enclos et comprennent chacun une église entourée avec une annexe carrée au Nord-Est et une courette de bâtiments d’habitations et de dépendances (un pres- rajoutée à l’Ouest. soir dans chaque ensemble). Les auteurs y voient deux Les autres sites sont dans les massifs de l’lacadağ et monastères. Pour Asarcık West, la présence d’une annexe l’Ernezdağ. Pour l’église de Muskar (site identifié avec avec trois sarcophages et d’un tombeau collectif excentré vraisemblance par H. Hellenkemper /F. Hild op. cit. peut correspondre à des inhumations monastiques. 890 – 892 avec Tragalassos, et mentionné dans la «Vie de L’église elle-même se développe à partir d’un triconque Saint Nicolas», dont seule l’abside à trois pans est bien auquel vient s’ajouter, toujours à l’époque protobyzan- conservée, il est tentant d’admettre le plan des deux au- tine, une église à trois nefs, un baptistère au Nord avec teurs et de supposer une église à transept aux extrémités une cuve baptismale offerte par Nicolas, capitaine «inter- terminées par des conques. Des tribunes peuvent être médiaire» (mesatos), et, au Sud, une chapelle avec re- restituées en raison de la présence de colonnes de petit liques dans l’abside, sarcophages sur les côtés nord et sud, module. La sculpture conservée de cette église est impor- couverte d’une coupole. Toutes les absides sont carrées à tante, même si elle se réduit à peu de pièces (pl.11 et 12). l’extérieur. D’autre annexes s’ajoutent au Nord et au Sud Le monastère d’Alakilisse (vraisemblablement le site de ainsi qu’une sorte d’atrium qui bute à l’Ouest sur une Karkabo: Hellenkemper /Hild op. cit. 607– 610) avec double tour, ancienne, contemporaine du triconque. Le sa très grande église et son annexe Sud-Est de plan cru- décor, encore en place dans le triconque, le baptistère et ciforme a été restauré en 812, comme l’avait déjà signalé la chapelle aux reliques est remarquable (notamment les H. Rott. Il est alors dédié à Saint-Gabriel, ce qui corres- corniches et les portes) et présenté de manière plus dé- pond à l’ancienne dédicace, donnée dans la «Vie de Ni- taillée que dans Harrison op. cit. L’église est réaména- colas de Sion», et indique un culte rendu aux anges (voir, gée au Moyen-Age, une abside s’installant dans l’ouver- par exemple, au monastère du Letoon, la mention d’un ture ouest du triconque. Le second ensemble, Arsacık «diacre des anges»). Les deux phases, protobyzantine et Ost est construit autour d’une basilique à abside carrée à médiobyzantine, sont bien mises en évidence. Le narthex l’extérieur, avec synthronon, trois nefs, suivie à l’Ouest sud est une addition survenue encore à l’époque protoby - d’une vaste cour dont l’organisation est peu claire. Le zantine. La partie sud du narthex permet de restituer un décor, qui n’est pas en place, est intéressant (encadre- étage au-dessus des compartiments latéraux du narthex, ments de porte, plaques, piliers, chapiteaux à triple regis - mais bien des obscurités demeurent en raison des rema- tre. Harrison avait supposé qu’Arsacık West pouvait être niements successifs. Il paraît toutefois acquis que des tri- le fameux monastère de Sion, décrit dans la «Vie de Ni- bunes aient existé au-dessus de la nef nord, peut-être colas de Sion» et dont les objets liturgiques en argent ont sans connection avec les pavillons du narthex. La porte été découverts à Kumluca, en Lycie orientale, soit à une de la nef centrale a conservé son montant nord, une par- certaine distance d’Arsacık. Les auteurs invitent donc à tie du montant sud et une extrémité du linteau. D’autres la prudence, tout en considérant que ce site peut être un fragments d’architrave ont été remployés à l’époque candidat possible pour le monastère de Sion. H. Hellen- byzantine. Plusieurs chapiteaux (corinthiens, ioniques, à kemper et F. Hild (op. cit. 422–425) proposent d’y voir trois zones et de pilastres) complètent le décor. L’église de le site d’Akalissos et identifient le monastère à celui de Devekuyusu a été complètement relevée (Harrison op. Saint-Jean-Prodrome-et-Baptiste, d’où partit saint Ni- cit. fig. 10 s’était limité à l’abside triconque). On note colas pour fonder le monastère de Sainte-Sion. Enfin, à l’existence d’un second triconque accolé au Nord du pre- 5 km au Sud-Ouest de Karabel, une église faite d’un tri- mier et perpendiculairement à lui et, en sculpture, celle conque, qui est la réplique, taillée dans le rocher, de celui d’un fragment d’arc de ciborium. L’église de Yilanbaªı d’Arsacık West et de trois nefs. On retrouve au Nord une offre un chevet plat avec deux annexes entourant l’abside grande chapelle avec abside, également taillée dans le ro- et un synthronon. Un fragment de ciborium, une plaque cher, qui rappelle étrangement par sa position et sa com- et un pilier de chancel, fragmentaires, et deux chapiteaux munication avec le triconque le baptistère d’Asarcık à deux et trois registres constituent le décor retrouvé. West. A l’Ouest de la basilique, une cour lui fait suite, 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 448

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décentrée comme la porte centrale de l’église. Montants Ohne Zweifel gehören die Grabungen im Bereich des de porte, corniches esquissées à même le rocher et les Kölner Domes zu den wichtigsten Kirchengrabungen in quatre arcs d’un ciborium témoignent d’une grande Deutschland, die nach den Zerstörungen des Zweiten proximité avec Arsacık. Ce site est indubitablement le Weltkrieges auch an anderen Stellen wesentliche neue fameux monastère de Sainte-Sion, si on le confronte Ergebnisse zur Geschichte des Kirchenbaues erbrachten. aux données de la «Vie de Nicolas de Sion» (mentions de In Köln beschloss das Kölner Domkapitel am 22. Okto- la hauteur du site, du creusement du triconque dans le ber 1945, archäologische Untersuchungen im Dom rocher: TIB 8/2, 852–856). Dernier monument de durchzuführen, deren Ziel es sein sollte, die Lage des so l’Alacada décrit, l’église de Güceymen Tepesi: l’église à genannten Alten Domes festzustellen und zu prüfen, ob abside arrondie, trois nefs et cour (ou atrium) posté- dies ein römischer oder ein Neubau des 9. Jhs. sei und ob rieure est en relation, à l’Est, avec une annexe triconque. darüber hinaus irgendwelche Informationen über eine Dans l’Ernez Dağ, les auteurs ajoutent aux églises A vorkarolingische Bebauung gewonnen werden können. et B d’Arneai relevées par Harrison (op. cit. A et B, 138 Mit den Grabungen begann Otto Doppelfeld als wissen - n°s 17 et 18), une église hors les murs, la basilique C. Son schaftlicher Leiter am 21. Mai 1946, unterstützt durch chevet est presque plat: l’abside est légèrement arrondie Dombaumeister Willy Weyres. Spektakulär war 1959 à l’extérieur et l’annexe sud, la seule conservée, fait une der Fund der beiden fränkischen Fürstengräber unter légère saillie. Une autre église, à Çamarkası, est à trois dem Domchor, die als Beweis dafür angesehen wurden, absides (trois pans externes pour l’abside centrale, deux dass spätestens seit dem 6. Jh. an diesem Ort eine Kirche pans pour les absides latérales); à juste titre, la présence, bestanden habe. 1962 übernahm Willi Weyres die örtli- comme à Muskar, de conques latérales au Nord et au Sud che Grabungsleitung, während Otto Doppelfeld wissen- invite les auteurs à restaurer un transept. schaftlicher Leiter blieb. Ab 1970 war Arnold Wolff Le second chapitre est intéressant car il offre la pre- neuer Dombaumeister und damit auch verantwortlich mière approche de l’étude systématique des églises ly- für die Domgrabung. Kurz nach dem Tode Otto Dop- ciennes. Les auteurs commencent par les appareils des pelfelds (1979) erschien 1980 in der Reihe der Kölner murs, puis par les ouvertures (portes, arcs). Ils examinent Forschungen ein Sammelband mit den wichtigsten Gra- ensuite les caractéristiques des basiliques lyciennes (pro- bungsberichten, die Doppelfeld und Weyres regelmäßig portions du naos, narthex et atrium, le sanctuaire, les tri- in dem 1948 neu erschienenen Kölner Domblatt und an- conques). Suit un excursus sur les triconques de Trans- dernorts vorgelegt hatten. Im Gegensatz zu vielen ande- jordanie (Mont Nebo) et de Palestine (Deir Dúsi, la cha- ren Grabungen dieser Art, die oft genug jahrzehntelang pelle de Théodose près de Jerusalem; al- unaina, près de oder gar bis heute unpubliziert blieben, hatte man sich Bethanie, atÿ-Tayyiba; église de Jean-Baptiste à Jérusa- in Köln bewusst dazu entschlossen, regelmäßig Bericht lem). Ils abordent ensuite la sculpture architecturale: les zu geben und damit Diskussionsgrundlagen zu bieten. chapiteaux (ils complètent par d’autres exemples lyciens Kritisiert wurde indessen, dass allzu oft eine exakte Be- les trente chapiteaux recensés dans le corpus et donnent fundvorlage fehlte, die es erlaubt hätte, die vorgeschla- une première typologie), les montants de porte, les cor- genen Interpretationen und Datierungen der einzelnen niches et les architraves, les ciboires. Ils sélectionnent en- Bauphasen auch zu überprüfen. Doppelfeld hatte insge- suite un certain nombre de détails plus purement «ly- samt 14 mit römischen Ziffern bezeichnete Bauphasen ciens». Ils donnent enfin une chronologie de ces décors. mit zahlreichen Untergliederungen vorgeschlagen, die Ce livre, sobre et précis, marque donc une étape dans sich in den folgenden Jahrzehnten in der wissenschaft - notre connaissance de l’architecture religieuse de la lichen Diskussion einbürgerten. Eine vollständige Fund- Lycie. Bien que limité à la Lycie centrale, il offre un und Befundvorlage wurde seit langem gefordert, um solide appui aux fouilles de Lycie occidentale (Karacaö- damit gerade auch die Fragen der frühen Bauphasen auf ren, Gemiler Adası, et le Letoon, , Kas- eine sicherere Grundlage zu stellen. tabara …), centrale (Limyra, Myra, Trysa, Aperlai …) Zusammenfassend finden sich die Ergebnisse der et orientale (, Olympos …). Son apport à l’étude Kölner Domgrabung aus den Jahren 1946–1983 und de l’habitat villageois est également à signaler. die daraus abgeleiteten Interpretationen dargestellt im Band 1 der Studien zum Kölner Dom: W. Wey r e s , Die Paris Jean-Pierre Sodini vorgotischen Bischofskirchen in Köln (Köln 1987), und fanden z. T. auch noch Eingang in den 1991 erschiene- nen Nachtragsband der »Vorromanischen Kirchenbau- ten«, obwohl schon das vom 14.–17. März 1984 in Köln veranstaltete Kolloquium zur Baugeschichte und Ar- Sebastian Ristow, Die frühen Kirchen unter dem chäologie (Beiträge veröffentlicht in: W. Wol f f [Hrsg.], Kölner Dom. Befunde und Funde vom 4. Jahrhundert Die Domgrabung Köln. Altertum – Frühmittelalter – bis zur Bauzeit des Alten Domes. Mit Beiträgen von Mittelalter. Stud. Kölner Dom 2 [Köln 1996]) erhebliche Lothar Bakker und Dorothea Hochkirchen. Stu- Vorbehalte zu den Interpretationen der spätantiken und dien zum Kölner Dom Band 9. Verlag Kölner Dom, frühmittelalterlichen Phasen offenbart hatte. Umso Köln 2002. 626 Seiten, 83 Abbildungen, 29 Tafeln und dringender wurde erneut die Forderung nach einer exak- 11 Beila gen ten Baubefund- und Fundvorlage erhoben, um endlich 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 449

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Hypothesen und Fakten voneinander unterscheiden zu gewesen sei, »einen Überblick über die bisher weitge- können. So hielt nach 50 Jahren archäologischer Gra- hend unbearbeiteten Funde zu gewinnen« (S. 15). Dies bungen unter dem Kölner Dom auch das Ministerium bedeutete ein Aussortieren der Keramikfunde des 4. bis für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes 8. Jhs. aus der Masse der römischen, spätkarolingischen Nordrhein-Westfalen, das seit 40 Jahren die Grabung bis hochmittelalterlichen und neuzeitlichen Keramik- und deren Aufarbeitung fördert, eine zusammenfas- mengen. Dabei seien aber nur diejenigen Funde behan- sende und auswertende Darstellung der bisherigen Gra- delt worden, die »aus stratigraphisch relevanten und bungsergebnisse für unbedingt notwendig, ehe weitere nicht mit jüngerem Material durchmischten Fundkom- Untersuchungen durchgeführt werden. Wenn nunmehr plexen« stammen. Dies berge jedoch die Gefahr einer ge- mit der Vorlage des zu besprechenden Buches diese Auf- wissen Fehlerquote in sich, und es sei bedauerlich, dass gabe, zumindest was die frühen Bauphasen für »die Zeit die Bearbeitung der römischen ebenso wie der Funde ab vom Beginn der kirchlichen Nutzung dieses Platzes bis dem 9. Jh. erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden zum Bau des Alten Domes« angeht, erfüllt ist, so gilt werde. Ebenso konnten auch die etwa 4000 Kleinfunde allen daran Beteiligten zunächst einmal Dank und An- nur exemplarisch gesichtet werden, so dass auch hier der erkennung für diese außerordentlich mühevolle Arbeit, Anteil fehlerhafter Zuweisungen ungewiss sei. Es wird die nur der richtig abzuschätzen vermag, der selbst ein- jedoch dem Leser zur Beruhigung versichert, dass es mal einen solchen Grabungskomplex zu bearbeiten hatte »wegen des insgesamt relativ geringen Anteils stratigra- oder hat. phisch auswertbarer Fundkomplexe« kaum zu befürch- Mit dem Archäologen Sebastian Ristow, der sich ten sei, »dass gravierende Änderungen der in der vorlie- schon in seiner Arbeit über die frühchristlichen Baptis- genden Untersuchung erarbeiteten Befundchronologie terien und in anderen Studien mit den Kölner Befunden auftreten werden« (S.15). befasst hatte, war ein Bearbeiter für diesen Bereich ge- Auch zu den beigegebenen Planbeilagen, die für den funden, der auch durch seine langjährige Tätigkeit im Bauforscher, den Kunsthistoriker und Archäologen in Team der Kölner Domgrabung entsprechende Erfah- einer solchen Publikation einen wesentlichen Teil dar- rungen hat sammeln können. Ergänzend lieferte Lothar stellen, bemerkt Ristow, dass sie »nur die für die Inter- Bakker einen Beitrag zu der in den Grabungen aufge- pretation wichtigsten Befunde des Untersuchungszeit- fun denen sog. Argonnensigillata, während Dorothea raumes« zeigten – was heißt hier, »die wichtigsten Be- Hochkirchen den Katalog ausgewählter Steinfunde vor- funde«? Für die Pläne 1–6 und 10 ist der Maßstab 1:100 legte. So nimmt der Leser mit Freude diesen ersten Band gewählt; Grabungsgrenzen sind nicht eingetragen. Auch der Grabungspublikation in die Hand, die jedoch durch im Text finden sich zahlreiche Befundzeichnungen; es die einleitende Bemerkung (S.11) sogleich getrübt wird, sind vornehmlich Profile in dem höchst ungewöhnlichen dass nämlich für die Erarbeitung dieses Bandes nur eine Maßstab 1: 60! Ganz unverständlich ist jedoch das Feh- sehr knapp bemessene Zeit – die Rede ist von nur einem len eines Schnitt- oder Profilplanes, zumal die Profile Jahr – zur Verfügung stand, weswegen eine Vorlage auch nicht mit Hilfe der vorliegenden Grundrisse zu lo- sämtlicher Funde des Bearbeitungszeitraumes nicht zu ka lisieren sind. Da nutzen auch nicht die in den Profil- leisten gewesen sei; dies sei demnach nach wie vor zu zeichnungen notierten Planquadratnummern, weil eben- wünschen! falls versäumt wurde, dem Leser einen Übersichtsplan Das 626 Seiten umfassende Buch beginnt nach Ge- mit dem von Doppelfeld eingeführten Planquadratsys- leitwort, Vorwort und Danksagung mit der von S. Ris- tem an die Hand zu geben. tow verfassten Einleitung (S. 15–26), der sich Bemer- Die Profile selbst sind eher skizzenhaft und geben tat- kungen zu den Befunden (S. 27–31) anschließen. Da- sächlich nur ausgewählte Informationen, denn selten nach folgt der erste Hauptteil der Arbeit (S. 33–82), sind Schichten mit Befundnummern versehen, wobei eine Darstellung der Abfolge der Bauten bis zur Karo- zur Befundansprache sowohl Ziffern als auch Buchsta- lingerzeit, an die sich mit den Zusammenfassungen und ben (so z.B. Textabb. 8) vorkommen. Während sich die einem Nachwort die Deutung der Baubefunde (S. 83– Ziffern als Befundnummern im Befundkatalog wieder- 106) anschließen. Der zweite Hauptteil enthält die Bei- finden, fehlen die Befundbeschreibungen für die mit träge von L. Bakker über die rädchenverzierte Argon- den Buchstaben benannten Schichten. Das in der Text- nen-Terra-sigillata (S. 109–123; Katalog S. 535–550), abbildung 14 wiedergegebene Ostprofil Z826 ist ausei- von D. Hochkirchen die Bearbeitung ausgewählter nander gerissen und mit einem willkürlichen Zwischen- Steinfunde (S. 125–149; Katalog S. 551–592) sowie die raum auf zwei Seiten (46/47) abgebildet. Auch der wieder von S. Ristow vorgelegten Kataloge der Befunde Versuch, das Profil im Planum (Beil. 6) wiederzufinden, (S. 155–349) und der Funde (S. 351–533). Ein Tafel- ist nicht einfach, zumal im Planum Befunde fehlen, die teil (Taf. 1–29) schließt das Buch ab, dem zusätzlich elf im Profil angegeben sind – dies nur als ein Beispiel der Planbeilagen beigefügt sind. zuweilen äußerst schwierigen Befunddokumentation. In seiner Einleitung weist Ristow darauf hin, dass es Fragt sich der Leser, aus welchem Grund ihm die in den angesichts der »Interpretation der Bauphasen aus spät- Profilen dokumentierten Schichten nur auswahlweise antiker und frühmittelalterlicher Zeit, die in gut fünfzig näher erläutert werden, so findet er dazu die leicht kryp- Jahren Ausgrabungszeit unter und um den Kölner Dom tische Bemerkung: »Die Zeichnungen der Befunde … dokumentiert werden konnten,« zunächst erforderlich schließen auch im Rahmen dieses Überblicks nicht iden- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 450

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tifizierbare Befunde sowie Schichten ein, die bisher nicht Provinzen ab, nämlich diejenige der Romanen im 4. Jh. identifiziert werden konnten. Die Erfassung und Vorlage und die der zunächst von der Oberschicht der Franken aller Befunde, die vermutlich aus der Zeit des 4.–9. Jhs. getragene des 6./7.Jhs. Weiterhin kann – bei vorsichtiger stammen, wird in einem nächsten Arbeitsschritt zu er- Beurteilung der Möglichkeiten zur funktionalen Ein- bringen sein« (S. 15). Wenig später heißt es, es seien ord nung von Architekturbefunden – ein Aufkommen »lediglich spätantike und frühmittelalterliche Befunde von eindeutig als Kirche erkennbaren Bauten erst ab sowie einige römische wiedergegeben und beziffert« dem 6. Jh. konstatiert werden. Schließlich ist grundsätz- (S. 16). Dementsprechend finden sich denn auch im lich eine durch das 5. Jh. reichende Kontinuität an den Befundkatalog die in den Profilen wiedergegebenen Be- Zentren römischer Siedlungstätigkeit anzunehmen« fundnummern nicht, wenn es sich beispielsweise um (S. 18–19), und so reihe sich »die vorliegende Arbeit … mittelalterliche oder neuzeitliche Mauern handelt! Spä- in die neuen Untersuchungen zu den genannten The- testens hier stellt sich die Frage, wie die vorliegende Ar- menkreisen ein« (S. 19). beit eigentlich zu charakterisieren ist, denn an eine Gra- Mehr als 550 Fundkomplexe, etwa ein Sechstel des bungspublikation müsste schon die Forderung gestellt Gesamtbestandes, gehören in den behandelten Zeit- werden, Befunde und Funde komplett vorzulegen und raum; dabei handelt es sich überwiegend um Keramik. nicht nur in Auswahl. Das Argument, dies sei aus Grün- Nach Aussage des Verfassers gäbe es nur vier mehr oder den der Übersichtlichkeit geschehen, kann den das Buch weniger vollständig rekonstruierbare Gefäße; mehr als hauptsächlich benutzenden Fachmann nicht überzeu- zwei Dritttel des Materials seien durchmischt oder nicht gen. Auch der Hinweis auf S. 155, dass »die Gesamtbe- aussagefähig. So ließen sich in befundrelevantem Zu- arbeitung aller Befunde der Kölner Domgrabung … in sammenhang weniger als 100 aussagefähige Randfrag- den nächsten Jahren durch Ulrich Back erfolgen« wird, mente von Gefäßen des 4.–8. Jhs. sowie einige typische erzeugt Ratlosigkeit angesichts der Ankündigung einer Wandfragmente auswerten. Der überwiegende Teil der Publikation der Fundkataloge und Befunde in drei Tei- Keramik gehöre zur sogen. Mayener Ware, die haupt- len: 1. Die frühchristlichen Kirchen; 2. Der alte Dom; sächlich dem 4. Jh., seltener der 1. Hälfte des 5. Jhs. an- 3. die gotische Bauzeit (Kölner Dombl. 64, 1999, 44). Ist gehöre. So erlaube dieses »Fundspektrum … die Aussage das vorliegende Buch jetzt diese Publikation des ersten einer mehr oder weniger kontinuierlichen Nutzung des Teils oder erst jene noch vorzulegende ›Gesamtbearbei- Domgeländes zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert«, tung‹? Misslich ist auch, dass in den gelegentlich beige- ähnlich anderen Fundplätzen in Köln sowie aus dem gebenen Farbfotos keine Befundnummern eingetragen östlichen Frankenreich. »Der relativ hohe Anfall kerami- sind (im Zeitalter der computergestützten Bildbearbei- scher Funde des 4. und der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts tung doch eigentlich problemlos zu bewerkstelligen!), weist für den Bereich des heutigen Kölner Domes auch auch fehlen immer ein Maßstab sowie der Nordpfeil. auf eine Nutzung weiter Teile des Grundstücks durch (Es sind dies übrigens keine Grabungsaufnahmen des eine ebenso im Befundbild nachweisbare kleinteilige freige legten Befundes, sondern Aufnahmen des heute Wohn- und Gewerbebebauung hin, also eine normale konservierten Grabungsbereiches.) städtische Siedlungstätigkeit« (S. 19 f.). Aufgrund des Zu den Einschränkungen gehört auch, dass auf das Fundanfalls können größere bauliche Veränderungen Münzmaterial »nur in eingeschränktem Maße zurück- im 5. Jh. angenommen werden, während wegen der »ni- gegriffen werden« (S. 16) konnte, da der größte Teil der vellierenden Schichtpakete und ausgedehnten Estrich- spätantiken Münzen erst nach Bearbeitungsende restau- flächen« die Funde des ausgehenden 5. und 6. Jhs. zah- riert war; ebenso wird als Problem auch das Fehlen lenmäßig abnehmen, wie dies auch an anderen Orten »eines verlässlichen Gesamtplanes für die Domgrabung feststellbar sei. Vermutlich sei die Abnahme der kerami- Köln« genannt; er wird erst später zur Verfügung stehen! schen Gefäße wohl auch durch die zunehmende Ver- Noch ehe also der Leser sich mit dem eigentlichen wendung anderer Materialen, z. B. Holz, verursacht. Es Thema befassen kann, sind seine hohen Erwartungen, könne also »aus der geringeren Anzahl der gefundenen endlich eine umfassende Publikation der Grabungen mit Scherben jedenfalls nicht auf eine aussetzende Bau- oder einer verlässlichen Dokumentation der spätrömischen Siedlungstätigkeit geschlossen werden« (S. 20). bis frühkarolingischen Funde und Befunde vorliegen zu Sonstige gut datierbare spätantike und frühmittel- haben, erheblich gedämpft. alterliche Funde stammen fast ausschließlich aus der Einleitend betont Ristow unter Hinweis auf die »fränkischen Oberschichtgrablege«; nur wenige Einzel- neueren Aufarbeitungen von Kirchengrabungen (z. B. stücke sind außerdem erwähnenswert; gleiches gilt für St. Viktor zu Xanten, in Köln St. Severin, St. Gereon die Reste nachantik bearbeiteter Steine. Die Fundmün- und St. Ursula sowie die Grabungen im Bonner Müns- zen beschränken sich mit Ausnahme der in den Franken- ter), dass sich mittlerweile »die Herangehensweise im be- gräbern gefundenen späteren Exemplare auf Prägungen sonderen an die Befunde aus Kirchengrabungen wie des 4. Jhs., die »noch mindestens das gesamte folgende auch an die Fragen der Kontinuität zwischen Römer- Jahrhundert« kursieren und »sich dementsprechend auch und Frankenzeit sowie der Christianisierung … in den noch in den nachrömischen Fundkomplexen der Dom- letzten Jahren stark gewandelt« habe. Als Ergebnis dieser grabung« finden. Ansonsten wird, was die noch unbe- Arbeiten zeichneten »sich mindestens zwei Phasen einer arbeiteten Münzen betrifft, auf den noch ausstehenden länger andauernden Christianisierung der germanischen Band des Fundmünzen-Projektes (FMRD) verwiesen. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 451

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Bei den Kleinfunden handelt es sich um Objekte (Fibeln, sächlich nachweisbaren Befunden zu orientieren. Diese Nadel u. a.) aus dem ausgehenden 4. und frühen 5. Jh.; kritische und verdienstvolle Sichtung des Baubestandes außerhalb der fränkischen Gräber sei kein differenzier- führt denn auch zu folgenreichen Korrekturen der bis- bares spätantikes oder merowingisches Glas geborgen herigen Vorstellungen. Man denke nur an die phanta- worden, ebenso wenig nachantike Edelmetallfunde. sievolle und heftige Diskussionen auslösende Rekon- Neben den von L. Bakker gesondert behandelten struktion des Merkur-Tempels! Doch ist gleichwohl zu spät antiken Sigillaten gibt es an luxuriösem Gebrauchs- prüfen, ob die daraus resultierenden Schlussfolgerungen geschirr einige wenige Fragmente bleiglasierter Keramik. eher haltbar und die neu vorgelegten Rekonstruktionen Die Oberfläche der »meist aus dem 4. und auch noch nun begründeter sind. So werden denn in einem ersten dem frühen 5. Jahrhundert stammenden spätrömischen Abschnitt die verschiedenen, im Zentrum der heutigen bleiglasierten Gefäße war meist eher gelblich bis olivfar- Kathedrale aufgedeckten römischen Baubefunde samt ben« (S. 24); deswegen sollte man von der Bezeichnung dem hypokaustierten Raum untersucht (S. 33–51) und ›grünglasierte Keramik‹ absehen. Trotz der gut aufgear- mit gebotener Vorsicht festgestellt, dass diese Befunde beiteten Bestände aus den Grabungen in Krefeld-Gellep auf dem Gelände des heutigen Domes »eine überwie- sei die Kenntnis der bleiglasierten spätrömischen Kera- gende Nutzung durch städtische Wohn- und Gewerbe- mik für das Rheinland noch »vergleichsweise gering« bebauung« erkennen lassen; die bislang freigelegten (S. 25). Auch bei den Trierer Domgrabungen kamen üb- Mauerreste ließen aber keine nähere Bestimmung zu. rigens ähnliche Keramikfunde zutage und werden inte- Dies gelte »insbesondere für die Rekonstruktion der ressante Vergleichsbeispiele liefern. Mauern B395 ff. als Tempel oder auch als Horreum, Ristow weist darauf hin, dass nur in wenigen Fällen zumal besonders für die letztere Interpretation weitere eine aussagefähige Dokumentation schichtgebundener Baureste in umliegenden Grabungsarealen hätten er- Keramikfunde vorliegt. Am Beispiel der Keramikfunde wartet werden können« (S. 35). Um hier zu gesicherte- aus dem Brunnen B921 mit den Fundnummern F70 ff. ren Erkenntnissen zu gelangen, seien aber erst weitere wird dem Leser die Problematik der offensichtlich nicht Grabungen nötig. immer sorgfältig genug geborgenen Funde deutlich vor Besondere Beachtung verdienen jene Baureste, die in Augen geführt, ein Versäumnis, welches den heutigen der Vergangenheit in Zusammenhang mit den fränki- Bearbeitern nicht anzulasten ist! So muss Ristow fest- schen Gräbern zur Rekonstruktion einer Kapelle, dem stellen, dass letztlich »weniger als fünfzig durch schicht- sog. Oratorium, in Anspruch genommen wurden. Wenn gebundene Funde datierbare Befunde bzw. Befundgrup- ich dies richtig verstanden habe, dann kann nunmehr als pen vorliegen. Alle übrigen Datierungen sind relativ er- sicher gelten, dass der ›Apsidenbau‹ und die fränkischen brachte Zeitansätze« (S. 26). Aus diesem Grunde habe Gräber nicht zusammengehören, wodurch die ältere An- man auch keinen Bezug mehr auf das ältere Periodisie- nahme eines ›Oratoriums‹ und einer ›Grabkapelle‹ obso- rungssystem zur Einteilung der Befunde versucht, »da let geworden ist, ein außerordentlich wichtiges Ergebnis! dies dem Stand der Neubearbeitung nicht entsprochen Stattdessen glaubt Ristow aus den Mauern B1150, B805 bzw. zu mehr Verwirrung als Klärung beigetragen und B210 zusammen mit dem stellenweise nachweis- hätte«. So entsprechen die von Ristow herausgearbei - baren Estrich B224 einen gemeinsamen Bauzusammen- teten Phasen 1–3d der von Doppelfeld zu Beginn der hang »aus dem späten 4. oder dem 5. Jahrhundert« er- Domgrabung formulierten Einteilung in die Perioden schließen zu können (Bau 1). Doch ist es dem Leser IV–VI. meist unmöglich, die entsprechenden Befundzusam- Ehe die Darstellung der »Abfolge der Bauten bis zur menhänge und ihre Interpretationen anhand der Baube- Karolingerzeit« beginnt, werden noch Bemerkungen zu schreibungen, der beigegebenen Profile und Grundrisse Höhenlagen, Baumaterialien, Bautechniken sowie zur nachzuvollziehen, sei es, dass die im Text genannten Be- Orientierung und zu den Mauerfluchten vorausgeschickt fundnummern in den Zeichnungen nicht aufzufinden (S. 27–31). So handle es sich bei den Baumaterialien sind, oder sei es, dass die Beschreibungen selbst unklar meist um wiederverwendetes Material. Ähnlich wie in sind, wie z.B. im Falle des Estrichs B224, wo es heißt: Trier ist auch in Köln festzustellen, dass die Estriche und »Wenn es sich um ehemals zusammengehörige Estrich- Verputze der spätantiken und frühmittelalterlichen Bau- flächen handelt, hätte der Boden B224 im Westen bis ten weitgehend gleich geblieben sind und »von einer zur Mauer B1150 gereicht und wäre dort durch B821 bemerkenswerten Tradition römischer Fertigungstech- überbaut worden« (S. 195). Irritiert fragt sich der Leser, niken« zeugen. Bezüglich der Mauerfluchten und Bau- was denn nun ist. Wie wichtig eine verbindliche Aus- orientierungen ergaben die Untersuchungen, dass »spä- kunft gewesen wäre, zeigen die nun im Folgenden vor- testens im 7. Jahrhundert die durch römische Bau- und geschlagenen Rekonstruktionen zu Bau 1. Es wird näm- Straßenfluchten vorgegebene Ausrichtung der Bebauung lich aus diesen Angaben und spärlichen Baubefunden zumindest in diesem Areal nicht mehr wirksam gewe- ein dreischiffiger Apsidenbau mit seitlichen Pastophorien sen« ist (S. 30). und einem östlich anschließenden »gedeckten oder un- Der wichtigste Teil des Buches gilt der auf knapp 50 gedeckten Hof« (vgl. Abb. 22–24) rekonstruiert, ein äu- Seiten dargestellten Analyse und Deutung der einzelnen ßerst wagemutiges Unternehmen, denn es ist eigentlich, Bauphasen (S. 33–82). Grundsätzlich ist hier das Be- wenn überhaupt, nur ein kleiner Apsidensaal zu belegen! mühen Ristows hervorzuheben, sich streng an den tat- Geradezu ärgerlich sind die in den Abb. 22–23 rot mar- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 452

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kierten, doch wohl den ergrabenen Befund bezeichnen- finden, die überwiegend in die 2. Hälfte des 6. Jhs. zu den Eintragungen, denn beim Vergleich mit dem in Bei- datieren seien. Zu dieser Bauphase 3a gehören auch die lage 2 dokumentierten Grabungsbefund ergeben sich »ohne konstruktiven oder stratigraphischen Zusammen- Widersprüche: wo ist z.B. das in Abb. 22 eingetragene hang zu den Befunden im Innern des gotischen Domes Stützenfundament? Wo ist die in Abb. 23 markierte … östlich des mittelalterlichen Chores [freigelegten] westliche Mauer? Was ist eigentlich mit der Mauer Teile des frühchristlichen Bischofskirchenkomplexes aus B806, die erst für Bau 2 als Südwand angenommen dem 6. Jahrhundert« (S. 63) mit dem »Baptisterium mit wird? Zugleich zeigen diese Zeichnungen aber auch, seiner markant geformten Taufpiscina B564«. Bei der auf welchem Fundament der in Abb. 24 vorgelegte Re- Behandlung des Baptisteriums kann Ristow auf seine konstruktionsvorschlag für Bau 1 beruht! Ristow hätte früheren Arbeiten zurückgreifen und eine plausible Bau- es besser bei seiner Feststellung, dass »eine zuverlässige abfolge aufzeigen. Was allerdings den Kirchenbau (Bau Darstellung dieses Apsidenbaues … z. Zt. mangels aus- 3a) betrifft, so ergeben sich unter Berücksichtigung der reichender Daten bzw. erhaltener Befunde eigentlich tatsächlich nachgewiesenen und für diese Bauphase in nicht möglich« ist (S. 53), belassen sollen. Demnach Anspruch genommenen Baureste (Beilage 8 A) im Hin- muss auch die Frage, »ob es sich um eine Kirche gehan- blick auf die vorgeschlagene Grundrissgestalt und den delt hat«, zu recht offen bleiben (S. 84). Baukörper erhebliche Zweifel. Von den Stützenreihen ist Ebenso unsicher ist die Rekonstruktion der nächsten nichts belegt, ebenso wenig von der angenommenen Bauphase (Bau 2). Nach Ristow lässt sich »wahrschein- Chorapsis. Dies muss bedacht werden, wenn man die lich noch für das 5. Jahrhundert … eine umfassende Ver- von Z. Vasáros angefertigten farbigen Rekonstruktionen änderung der spätantiken Bebauung in diesem Bereich dieses Baues beurteilen will: Kaum etwas davon ist be- der Domgrabung feststellen« (S. 53). Als wichtigstes gründet; ganz abwegig ist die Vorstellung, über den Säu- Indiz dient der Estrichbefund B214, der »ebenso wenig lenreihen hätte es einen Architrav gegeben! wie die zugehörigen Mauern funddatiert« sei und »zwi- Aufgrund der Befundanalyse sind an dem Bau 3a im schen dem älteren Boden B224 des ausgehenden 4. oder Laufe des 6. und 7. Jhs. mehrere Umbauten vorgenom- 5. Jahrhunderts und den Frankengräbern B808, B809 men worden (Bau 3b/3c), über die aber im Einzelnen des mittleren Drittels des 6. Jahrhunderts eingeordnet manche Unklarheiten bestehen. So könne beispielsweise werden« müsse (S. 53). Bau 2 habe »ähnliche Ausmaße »über die Nord- und Süderstreckung von Bau 3b …, wie der beschriebene Apsidenbau 1 besessen« (S. 54), ebenso wie bei den Vorgängerphasen, keine Aussage ge- doch sei im Einzelnen unklar, ob die Apsis B210 »noch troffen werden« (S. 71). Dies gilt im Wesentlichen auch im aufgehenden Teil bestand und in irgendeiner Weise in für die »Umbauphasen der merowingischen Kirche im die Architektur zu Boden B214 integriert worden ist« 7./8. Jahrhundert (Bau 3c)«; so könne zwar durch (S. 54). Deswegen sei auch der Ostabschluss von Bau 2 Estrichreste B1104 als »eine einschneidende Verände- nicht sicher festzulegen. In dem in Abb. 26 vorgelegten rung … die großflächige Erweiterung der Kirchenfläche Rekonstruktionsvorschlag geht man offensichtlich da - nach Westen« festgestellt werden (S. 72), doch könne von aus, dass der kleine Apsidensaal samt Apsis und »keine weitere Aussage zur inneren oder äußeren Ge- Nordwand (B805) mit neuer Südwand B806 weiterbe- stalt dieses Teils von Kirchenbau 3c getroffen werden« nutzt worden ist. Dabei ist aber im Ostprofil Z634–635 (S. 73). Problematisch ist vor allem die Befundinterpre- (Abb. 28) deutlich erkennbar, dass die Estrichausfli- tation »der vermutlichen Nordwestecke dieses Kirchen- ckung B214a nach Einbringung des fränkischen Grabes baus« (S. 73). Der hier konstatierte »Rest eines Ein- B808 deutlich die Oberkante der Mauer B805 über- gangsbereiches von Norden (B1021)« ist beim besten deckt! Demnach kann diese Mauer zu diesem Zeitpunkt Willen auf dem in Beilage 3 dokumentierten Befund in diesem Bereich nicht mehr in Bau 2 sichtbar gewesen nicht zu erkennen. Auf Beilage 8 gelten offenbar diese sein. Von einer älteren Südwand unter B806, die auch Mauerreste als zum Bau 3d gehörig, ebenso die den an dieser Stelle gelegen haben müsste, ist nichts zu er- Ambo ersetzende schola cantorum (B207), von der es auf kennen! Sicher scheint nur, dass die fränkischen Gräber S. 73 f. heißt: »Zwischen dem Ende der Nutzungszeit der B808, B809 und wohl auch B838 und B865 im mitt- mindestens einmal umgebauten schlüssellochförmigen leren Drittel des 6. Jhs. in den wie auch immer gestalte- Amboanlage B208a–c von Bau 3a/b und der letzten ten Bau 2 eingebracht wurden, den man somit »jeden- Nutzungsphase des Kirchenbaus 3d wurde anstelle des falls in seiner letzten Nutzungsphase – als größeren schlüssellochförmigen Ambo die rechteckige, gut 4 m Grab- bzw. Memorialsaal ansprechen« könne (S. 83). breite und ursprünglich etwas mehr als 8 m lange Kon- Den in Abb. 26 vorgelegten Rekonstruktionsvorschlag struktion einer schola cantorum (B207) westlich an das muss man hingegen als nicht begründet ablehnen. Presbyterium angefügt«. Die Baubefunde zur »Kirche aus der 2. Hälfte des Die letzte, in dem hier vorliegenden Band behandelte 6. Jahrhunderts (Bau 3a)« liefern nach Ristow »eindeu- Bauphase wird als »karolingische Bauphase mit dem tigere Hinweise« (S. 60). Hier sind es vor allem die auf ›St. Galler Ringatrium‹ aus dem 8./9. Jahrhundert (Bau dem Boden B214 des Baues 2 errichteten liturgischen 3d)« bezeichnet (S. 76–82), wobei von Bau 3d »ledig- Einbauten, wie die Reste einer »schlüssellochförmigen lich Teile vom Ost- und Westabschluß erhalten« seien. Amboanlage B208a–c«, zu der sich Vergleiche in Köln, (S. 76) Ferner heißt es: »Eine verlässliche Angabe für den St. Ursula, Trier, Boppard, Lavant, Genf und Vienne Verlauf der nördlichen und südlichen Außenmauern 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 453

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von Bau 3d scheint nach den z. Zt. bekannten Gra- men! Übereinstimmen kann man jedoch mit der Fest- bungsbefunden nicht möglich zu sein« (S. 78). Deswe- stellung, es könne »erst mit der Errichtung liturgischer gen fragt man sich auch, womit z. B. das Querschiff be- Einbauten wie Ambo, Presbyteriumsschranken, Altar gründet wird. Irritierend ist wiederum der in Beilage 8B oder Tauf becken usw. … eine überwiegende und sogar wiedergegebene Grundriss bezüglich der Nordwestecke. rein kirchliche Nutzung postuliert werden« (S. 86). Hier wird als Befund das Fundament der westlichen Diese »nachträgliche Zufügung solcher Ausstattungsbe- Stütze der nördlichen Stützenreihe angegeben; das standteile in spätantike, während der Merowingerzeit zu gemäß Beilage 3 wohl gemeinte Mauerstück B162a wird Bestattungszwecken genutzte Architektur im 6./7. Jahr- aber im Befundkatalog als »spätrömisch« klassifiziert, hundert« sei keine Seltenheit (S. 87), wie zahlreiche Bei- ebenso wie der »Trachytquader« B162, der möglicher- spiele im östlichen und südlichen Teil des Frankenrei- weise im rekonstruierten Grundriss als südliche Tür- ches zeigten. Doch bliebe jeweils zu klären, »wann sich wange herhalten muss. Oder sollten diese Angaben im der Wandel vom Grab- bzw. Memorialbau zur ›Grab- Grundriss sich auf andere Mauern beziehen, die aber im kirche‹ bzw. einer Kirche mit ihren verschiedenen Auf- Befundplan (Beil. 3) gar nicht angegeben sind? Besser gaben als Bischofs-, Pfarr- oder Klosterkirche usw. voll- durch Befund belegt ist das so genannte westliche Ring - zieht« (S. 87 f.). Seine vorsichtige Position bezüglich der atrium, wenn auch für den rekonstruierten, äußerst Funktionsbestimmung des Baues 1 unverständlicher- schmalen »Westchor« wieder jegliche Anhaltspunkte weise wieder verlassend formuliert Ristow wenig später: fehlen. Bezüglich der Datierung dieses Baues 3d stellt »Denkbar wäre für den Apsidenbau 1 dementsprechend Ristow fest, dass »eine genauere Festlegung der Datie- eine Funktion mit Memorialcharakter am Stadtrand des rung der hier unter Bau 3d zusammengefassten Baupha- spätantiken Köln oder auch als Kirche, sogar als bischöf- sen … mit den Mitteln der Archäologie z. Zt. nicht mög- liche Kirche. Bau 2 wird durch die eingebrachten reichen lich« sei (S. 79). Dennoch meint er unter Verweis auf die Bestattungen von zu dieser Zeit sehr wahrscheinlich Schriftquellen, die eine für die Zeit zwischen 787 und bereits christianisierten Angehörigen der fränkischen 800 getätigte Stiftung von zwei Altarantependien durch Oberschicht als Grab- und Memorialbau oder als Karl den Großen und Erzbischof Hildebald von Köln ›Grabkirche‹ zu werten sein. Hier ist also ein möglicher überliefern, dass dies »im ausgehenden 8. Jahrhundert Schwerpunktwandel in Bezug auf die Nutzung von Bau die Rekonstruktion von zwei Hauptaltären in einer Ost- 2 denkbar« (S. 88). Sichereren Boden betritt man ei- und Westapsis des Domes wahrscheinlich macht«; dem- gentlich erst mit Bau 3a, denn es ist Ristow wieder zu- gemäß »würde die Bauphase 3d … am ehesten mit der zustimmen wenn er ausführt: »Mit den Umänderungen Nennung Bischof Hildebalds als Bauherrn für ein mo- zu Bau 3a vollzieht sich bei den Bauten unter dem Köl- nasterium novum sancti Petri am Dom in späteren Quel- ner Dom der Entwicklungsschritt zum in der primären len korrespondieren« (S. 80). Bei der Betrachtung der Funktion festgelegten Kirchenbau … In dem Bau ist Beilage 8A mit den Bauphasen 3a/b und 3d (Beil. 8 B) wahrscheinlich die Kölner Bischofskirche dieser Zeit zu muss man eigentlich zwei völlig verschiedene Bauten sehen. Dies legt schon allein die repräsentative Größe feststellen, die nur wenig gemeinsam haben. Ist es des- der Amboanlage B208a–c und der Taufpiscina B564 halb wirklich gerechtfertigt, beide Bauten zu einer Bau- nahe.« (S. 89). Doch müssen auch hier, um dies noch- phase 3 zusammenzufassen? mals zu betonen, bezüglich der Rekonstruktion des Bau- Im Kapitel über die Deutung der Baubefunde (S. 83– körpers erhebliche Vorbehalte geltend gemacht werden. 97) resümiert Ristow seine Ergebnisse, wobei er hier er- Es muss bei der Vorlage solcher Rekonstruktionen im - freulicherweise zunächst wieder zu einer kritischen Dis- mer bedacht werden, wie schnell solche schön ›gemalten tanz zurückfindet. So heißt es über die beiden Baupha- Bilder‹ sich im Bild der Allgemeinheit festsetzen, die sich sen 1 und 2: »Festzuhalten ist, daß für den Kölner Apsi- nicht der Prüfung ihrer Plausibilität unterziehen will denbau 1 keine Angaben zu seiner möglichen Funktion oder kann. Hier ist die Verantwortung des Archäologen gemacht werden können. Ob es sich um eine Kirche ge- gefragt! handelt hat, muß also offen bleiben. Anzeichen für eine Vor der Zusammenfassung und einem Nachwort mit kirchliche Nutzung von Bau 2 aus der Kölner Domgra- der Forderung nach neuen Grabungen werden noch bung sind bisher aus dem sehr fragmentarischen Befund kurz die literarischen Schriftquellen »als historischer ebenfalls nicht herauszulesen. Eine solche kann einstwei- Hintergrund für die archäologischen Befunde« resü- len nur vermutet werden« (S. 84). Doch müssen diese miert, ohne über das bisher Bekannte neue Aspekte bei- Feststellungen nicht auch für die bauliche Gestalt gelten? zubringen (S. 94–97). Mit den fränkischen Bestattungen im mittleren Drit- Es folgen zwei Beiträge, in denen sich Lothar Bakker tel des 6. Jhs. sei erst eine Funktionsbestimmung von mit der rädchenverzierten Argonnen-Terra-sigillata be- Bau 2 möglich; es handle sich nunmehr um einen Bau, fasst (S. 109–123) und Dorothea Hochkirchen ausge- der mit anderen Grab- und Memorialsälen »an anderen wählte Steinfunde aus der Kölner Domgrabung vorlegt Orten des Frankenreiches für die Zeit des 6./7.Jahrhun- (S. 125–149). Ungünstig ist, dass die jeweils zugehöri- derts« vergleichbar sei (S. 84). Dabei ist jedoch bemer- gen Katalogteile zur Keramik (S. 535–550 und Taf. 17– kenswert, dass es sich bei den genannten Vergleichsbei- 29) und zu den Steinfunden (S. 551–592) von den Auf- spielen in der Regel um einschiffige Saalbauten handelt, sätzen getrennt abgedruckt sind, was ein häufiges He- nicht um dreischiffige Anlagen, wie in Köln angenom- rumblättern zur Folge hat, zumal wenn die jeweiligen 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 454

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Katalognummern mit den Fundnummern im Gesamt- zu haben; es wurden nicht nur bisherige Vorstellungen katalog, den wieder S. Ristow bearbeitet hat, verglichen korrigiert, sondern es wurde auch für die weiteren For- werden sollen. Was den Beitrag von L. Bakker, der als schungen eine neue Basis geschaffen. Lobenswert ist es Spezialist für die Bearbeitung der Argonnensigillata ge- auch, dass die Forderung nach einem »lesbaren Fließ- wonnen wurde, angeht, so liefert er vor allem mit den text« (Kölner Dombl. 65, 2000, 31) erfüllt wurde, denn abgedruckten Tabellen wertvolle Hinweise zur Klassi - die Herausgeber wollten allen »an der Vorgeschichte des fizierung und Datierung der rädchenverzierten Terra Domes Interessierten ein Buch, das ihnen in verständ- sigillata, die als »Leitfossil spätrömischer Fundplätze des licher Weise zu den frühchristlichen Bauten Auskunft 4. bis 6. Jahrhunderts im Nordwesten des Imperium gibt«, an die Hand geben. Ob allerdings die Beauftra- Romanum« bezeichnet wird. (S. 109) Die Auswertung gung eines ›Fachzeichners‹, »die Ergebnisse auch in für des Fundmaterials aus der Kölner Domgrabung zeigt den Laien überschaubaren Rekonstruktionszeichnungen »beispielhaft einen Ausschnitt aus den bisher für Köln darzustellen« (ebd.), eine gute Idee gewesen ist, ist nach insgesamt zusammengestellten Funden dieser spätanti- Vorlage des Ergebnisses in höchstem Maße zu bezwei- ken Keramiksorte … Dabei wird deutlich, dass dieses feln. Auch stellt sich die Frage, was der ›interessierte Leitfossil spätrömischer Fundplätze bis in die dreißiger Laie‹ mit den Fund- und Befundkatalogen anfangen soll, und vierziger Jahre des 5. Jahrhunderts n. Chr. in die die doch wohl eher für die Fachwissenschaftler bestimmt Wohnbauten und ersten Kirchenanlagen in der Nord- sind. In diesem Falle aber ist festzustellen, dass der vor- ostecke der römischen Stadt, dem Areal des sich entwi- liegende Band die Vorstellungen einer nach heutigen ckelnden Domes, gelangte. Datierungsmäßig liegt der Maßstäben zu gestaltenden Grabungspublikation in Schwerpunkt der verzierten Argonnen-TS im letzten wesentlichen Punkten nicht erfüllt! Dennoch schaut Viertel des 4. und in den ersten Jahrzehnten des 5. Jahr- man mit großen Erwartungen den folgenden Bänden hunderts« (S. 118). entgegen, denn aus Fehlern kann man bekanntlich auch Ebenso sorgfältig ist der Beitrag von D. Hochkirchen lernen. bearbeitet. Sie versucht, einige charakteristische Stein- funde in ihren ursprünglichen Bauzusammenhang ein- Trier Winfried Weber zuordnen, wobei besonders die Rekonstruktion der Säulenstellung, die im Bereich unter dem südlichen Querhaus des Domes gestanden hat, von Interesse ist. Hieran zeigt sich, wie bei genauer Beobachtung auch aus kleinen Resten erfolgreich architektonische Gliede- Stefan Eismann, Frühe Kirchen über römischen rungselemente rekonstruiert oder Aussagen über Innen- Grundmauern. Untersuchungen zu ihren Erscheinungs- ausstattungen gewonnen werden können. formen in Südwestdeutschland, Südbayern und der Die von S. Ristow vorgelegten Kataloge über die Be- Schweiz. Freiburger Beiträge zur Archäologie und Ge- funde (S. 155–349) und Funde (S. 351–533) sind sehr schichte des ersten Jahrtausends 8. Verlag Marie Leidorf, ausführlich und liefern meist alle wünschenswerten In- Rahden/Westf. 2004. 383 Seiten, zahlreiche Abbildun- formationen. Besonders wichtig sind für denjenigen, der gen und Karten. sich intensiv mit diesen Grabungen beschäftigen will, die Hinweise auf die jeweiligen Vorberichte oder bishe- Die im Jahr 2001 abgeschlossene, hier in überarbeiteter rigen Publikationen, in denen die Befund- bzw. Fund- Fassung vorgelegte vor- und frühgeschichtliche Disser- nummer erwähnt oder diskutiert wurde; dies ist auch tation von Eismann fügt sich nahtlos in das Profil der deswegen nötig, da ein großer Teil der Befunde in dem Schriftenreihe ein, unter deren Dach schon andere bri- vorliegenden Buch weder in den Grundrissen noch in sante Themen aus dem Bereich der Kontinuitätsproble- den Profilen abgebildet ist. Wenig hilfreich sind jedoch matik aufgegriffen worden sind. Literatur wurde bis zum die sehr häufig zu findenden Bemerkungen: »Fundkom- Erscheinungsjahr 2002 eingearbeitet, leider jedoch nicht plex mit jüngerem Material durchmischt; für die Be- mehr der in vielen Punkten das Thema berührende Sam- fundinterpretation nicht maßgeblich«. Sind hiermit etwa melband zu den frühen Kirchen im Alpenraum (H. R. Streufunde gemeint? Was soll der Benutzer des Buches Sennhauser [Hrsg.], Frühe Kirchen im östlichen Al- mit solchen Angaben anfangen, zumal im Fundkatalog pengebiet. Von der Spätantike bis in ottonische Zeit. jeweils die Fundortangabe fehlt? Wenn man schon aus- Abhandl. bayer. Akad. Wiss., Phil. Hist. Kl. N. F. 123 gewählt hat, dann hätte man darauf auch verzichten [München 2003]). Das Werk ist in seinem Umfang können! etwa zweigeteilt: in einen auswertenden Text- und einen Eine abschließende Bewertung fällt dem Rezensenten Katalogteil zu den einzelnen Kirchenbauten, mit außerordentlich schwer; zu zwiespältig ist der Eindruck. Grundrissplänen und Übersichtskartierungen zu den Trotz aller Einwände und Vorbehalte, besonders hin- erarbeiteten Typenklassifizierungen gut ausgestattet. sichtlich der vorgeschlagenen Rekonstruktionen, stellt Das Schwergewicht der Betrachtung liegt auf der archä- der Band 9 der Studien zum Kölner Dom einen wichti- ologischen Befundanalyse, die Auswertung von über- gen Beitrag zur Erforschung dieses Baudenkmals dar. wie gend der Sekundärliteratur entnommenen Schrift- Verdienstvoll ist das Bemühen, die komplizierten Be- quel len und die historische Interpretation spielen eine funde in eine neue chronologische Ordnung gebracht deutlich geringere Rolle. So finden sich in diesem Be- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 455

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reich auch ganz unkritische Wertungen bzw. Anspra- terminologisch nicht eindeutig, mit der Eismann etwa chen wie zum »Toleranzedikt Konstantins d. Gr. 312/13« die Architekturfragmente unter der Martinskirche von (S. 13) oder etwa dem »ersten« Mainzer Bischof Mari- Ettlingen benennt (S. 61). Weiter unten klärt er dann nus/Martinus, der korrekterweise als einer quellenkriti- darüber auf, dass er bei Grabgebäuden keine Unter- schen Analyse nicht standhaltend eingeordnet ist (S. 16), scheidungen zwischen Memoria, Oratorium, Kapelle dann aber doch als erster bekannter Bischof der Mitte und Friedhofskirche vornimmt (S. 97), wobei es sich ja des 4. Jhs. bezeichnet wird (S. 17). grundsätzlich um Begrifflichkeiten für christliche Ge- Einleitend begründet Eismann die Wahl des Themas bäude handelt. Lediglich die Bezeichnung ›Memoria‹ der Entstehung von Kirchenbauten über römischen Ge- kann allgemein auf einen Grabbau oder auf ein ›Mar- bäuden damit, dass es bisher noch nicht zu einer über- tyrion‹ gedeutet werden. Die Möglichkeit der Differen- regionalen Bearbeitung dieses mitteleuropäischen Phä- zierung einer aufwendigen Grabarchitektur als nicht nomens gekommen sei und konstatiert, die Umnutzung kultisch motiviertes Mittel gesellschaftlicher Selbstdar- römischer Reste zu sakralen Zwecken sei vordergründig stellung scheint somit außer Acht gelassen, obwohl sol- häufiger zu beobachten als zu profanen. Diese Feststel- che Gebäude im frühen Mittelalter eine bedeutende Be- lung dürfte so nicht aufrechtzuerhalten sein, ist sie doch, fundgruppe darstellen. Weiter unten kommt dann noch wie auch der Autor bemerkt, von der Überlieferungslage der Begriff des ›Mausoleums‹ zu den genannten Be- bzw. dem Forschungsstand zum einzelnen Baudenkmal zeichnungen hinzu. Ein solches ersetzte nach Eismann stark abhängig, ebenso aber auch von den vielschichti- z.B. in Hettlingen eine ›Memoria‹, bevor es zu einer gen Möglichkeiten denkbarer Nutzungsänderungen im ›Kirche‹ umgebaut wurde, die oben auf der Seite aber als Verlauf der Geschichte eines Bauwerkes deutlich einge- »erste Kapelle« bezeichnet wird (S. 108). Unter Memo- schränkt. Als Untersuchungsregion wurde Südwest- rien versteht der Autor also gleichzeitig ›Grabkirchen‹ deutschland, Südbayern und die Schweiz gewählt, hin- und Familiengrablegen (S. 109). Darüber hinaus wäre gegen die Region von Mittel- und Niederrhein bewusst auch zu fragen, weshalb er den merowingischen Grab- ausgeklammert, um das Material überschaubar zu hal- saal unter dem Frankfurter Dom, dessen Bausubstanz ten. Für den Mittelrhein steht eine mehrfach angekün- sogar noch spätantik sein könnte, als »Sakralgebäude« digte Bearbeitung der entsprechenden Befunde durch anspricht oder in Bezug auf die Pfostensetzung auf dem R. Knöchlein noch aus (zuletzt: L. Grunwald, Tote Friedhof von Griesheim die fehlenden Hinweise für eine in Ruinen. Anmerkungen zu den frühmittelalterlichen Identifikation als »Kirche« betont, dann aber von einem Bestattungen des Moselmündungsgebietes in römischen möglichen »Sakralgebäude« spricht, weil sich Gräber in Gebäuderesten. Acta Praehist. et Arch. 34, 2002, 95– der Umgebung darauf beziehen (S. 18). Der Versuch, 110 ; R. Knöchlein, Die Georgskapelle bei Heidesheim, solche funktionsgebundenen Ausdrücke strukturiert zu Kr. Mainz-Bingen – ein Situationstyp? In: G. Grae - verwenden, hätte eine deutlich diversifizierte Ansprache nert /R. Marti /A. Motschi /R. Windler (Hrsg.), archäologischer Befunde, wie sie Eismann diskutiert, zur Hüben und Drüben – Räume und Grenzen in der Ar- Folge. Bei Anwendung einer scharf abgegrenzten Ter- chäologie des Frühmittelalters. Festschr. M. Martin. minologie entstehen für ein Phänomen wie die Errich- Arch. u. Mus. 48 [Liestal 2004] 141–156). tung von ›Kirchen‹ in oder über römischer Bausubstanz Die möglichen Formen der Weiternutzung antiker in überregionalen Auswertungen erheblich andere Ge- Baureste typisiert Eismann (S. 13) einleitend und später samtbilder. Ein nicht unbedeutender Teil der frühmit- nochmals ausführlich (S. 62–87) als: 1. »Wiederver- telalterlichen ›Kirchen‹, die in der archäologischen For- wendung einzelner Mauer- oder Fundamentzüge und schung kartiert werden, waren eben vielfach einfache der völligen Missachtung der römischen Bausubstanz, Grabgebäude der ortsansässigen gesellschaftlichen Elite, die sich vor allem in unterschiedlichen Baufluchten nie- die gelegentlich natürlich auch später zu Kirchen umge- derschlagen kann«; 2. als a) vollständige oder b) partielle baut werden konnten. Weiter unten betont der Autor »Wiederverwendung der Mauern bzw. Fundamente«; dann auch zu Recht genau dieses Problem bei der Erör- 3. als »Sonderfälle … in römischen Ruinen errichtete(r) terung der Grab- und Memorialbauten aus der Schweiz Holzkirchen und die Kirchen innerhalb von Kastellen«. »deren christlicher Charakter … in diesem Zeitraum [sc. Zu prüfen ist dabei, »ob eine Nutzung des Ruinengelän- 4./5. Jh.] aber noch nicht selbstverständlich …« ist des vor dem Kirchenbau eine Auswirkung auf die Wahl (S. 33). Dennoch scheint für ihn ein Raum mit Gräbern des Bauplatzes hatte« und »ob geistige Gründe für die immer auch ein ›Sakralgebäude‹ zu sein (so auch dezi- Entscheidung, eine Kirche über römischen Ruinen zu diert von Eismann geäußert auf S. 97), das er gelegent- errichten« vorliegen (S. 13). Nach meiner Ansicht wäre lich terminologisch unscharf – wenn auch oft nur indi- bereits an dieser Stelle auch eine grundsätzliche Klärung rekt ausgesprochen wie beim Beispiel von Langenau sinnvoll gewesen, was der Autor und warum überhaupt (S. 62) – mit einer möglichen Kirche identifiziert und unter einer ›Kirche‹ versteht, in welchen Punkten sie von gleichzeitig den Befund »Memoria« nennt (S. 236 f.) und einem Grab- oder Memorialbau und im Einzelfall sogar somit Christliches konnotiert. Dabei berücksichtigt er von einem Profanbau abzugrenzen ist und welche genau - nicht, dass nicht jedes Grabgebäude eine christliche ere kirchliche Funktion bzw. welchen kirchenrechtlichen Memoria ist, was auch in diesem konkreten Fall gar Status das jeweilige Gebäude möglicherweise besessen nicht nachgewiesen werden könnte. Wünschenswert hat. Ohne Definition ist z.B. der Begriff ›Grabkapelle‹ wäre es in dieser Hinsicht gewesen, die eindeutigen Hin- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 456

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weise auf eine kirchliche Nutzung der jeweiligen Ge- fall in Augsburg. Arch. Deutschland 17, 2001 H. 4, 38). bäude, wie z. B. den Altarstandort und ggf. Indizien für Die kommentarlos wiedergegebene Frühdatierung der die vermutete kirchliche Funktion zu benennen und ge- frühmittelalterlichen Saalkirche unter der Passauer bündelt zu besprechen sowie in die Statistik und Kar- Friedhofskirche St. Severin in das 5. Jh. kann so nicht tierung einfließen zu lassen. Die Ansprache als ›Kirche‹ bestehen bleiben (S. 27; 132 f.; 275f., Nr. 83; mit Da- verbirgt sich bei Eismann etwas versteckt meist hinter tierung in das 6./7. Jh.: S. Ristow, Die Datierung des Bezeichnungen wie »eindeutige Kirche«, »wirkliche Kir- ältesten Vorgängerbaus der Kirche St. Severin in Passau- che«, »normale Gemeindekirche« etc., während auch Be- Innstadt. Kommentar zur Deutung des Grabungsbefun- funde wie der Grabbau von Regensburg-Harting (S. 63; des von 1976. In: M. Altjohann, Das spätrömische 281 f.; Nr. 89) einmal neutral als »Bestattungsplatz einer Kastell Boiotro zu Passau-Innstadt. Arch. Studien zum sozial herausgehobenen Familie« benannt, dann aber Wirkungsraum des Severin von Noricum. Münchner wieder als »Kirchenbau« angesprochen werden. Nichts- Beitr. Vor- u. Frühgesch. [im Druck]). Schließlich erör- destoweniger findet der Leser die entsprechenden Anga- tert er kurz die umstrittene Problematik der Bischöfe in ben zu den für die eigene Beurteilung der maßgeblichen der Raetia und der Bajuwarenmission. Die Einführung Befunde notwendigen Sachverhalten natürlich im aus- abschließend wird die Christianisierung des schweizeri- führlichen und gut bebilderten Katalogteil der Arbeit. schen Teils des Arbeitsgebietes vorgestellt. Hier existie- An die Forschungsgeschichte schließt der Autor dann ren über die Kleinfunde des 4. und die Bischofsnennun- einen kurzen Überblick über den Verlauf der Christia- gen des 5. Jhs. hinaus auch Baubefunde, die mit aller ni sierung im Untersuchungsgebiet an. Der Einfall ver- Vorsicht als Kirchenräume schon des 4. Jhs. angesehen schiedener Germanengruppen von 406/07 in das Main- werden können, wie in Genf, Martigny und wohl auch gebiet – hier lediglich behandelt nach den wohl nur Kaiseraugst (S. 33). Die Kontinuitätsfrage bezüglich der eingeschränkt glaubwürdigen Angaben des Hieronymus, Nutzung der ›Kulthöhle‹ von Zillis bleibt nach wie vor der diese Ereignisse aus dem fernen Bethlehem kom- kontrovers diskutiert (S. 33f.; 126f.; zuletzt gegen eine mentierte –, verbunden mit der Ansiedlung germani- Kultverdrängung in Zillis, mit Angaben: G. Graenert, scher Föderaten in der Folgezeit, scheint als »massiver Tot und begraben: das Bestattungswesen. In: R. Wind- Rückschlag für die Christianisierung« und möglicher- ler /R. Marti/U. Niffeler /L. Steiner (Hrsg.), Die wei se Grundlage für eine »Repaganisierung« stark Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter überbewertet. Das nur rudimentär bekannte Mainzer 6. Frühmittelalter [Basel 2005] 145–172, hier 155). In Gräberfeld von St. Alban als »vom 5. bis in das 8. Jh. Bezug auf die episkopalen Strukturen verzeichnet die durchgehend belegt« zu qualifizieren, bedürfte der Schweiz im Frühmittelalter eine vergleichsweise häufige Erklä rung. Solche Schlussfolgerungen hätte Eismann Rochade der Bischofssitze und auch zahlreiche Überlie- allenfalls aus der nicht von ihm herangezogenen Aus- ferungslücken. wertung einiger spätantiker und frühmittelalterlicher Insgesamt hat Eismann 202 Kirchenbauten über Grabinschriften der Region gewinnen können (W. B op - oder in römischen Steinbauresten erfasst, davon die we- pert, Die frühchristlichen Inschriften des Mittelrhein- nigsten in Bayern (27). Nicht berücksichtigt wurden gebiets [Mainz 1971]). Nach einigen grundsätzlichen Bauten, bei denen nur Spolienverwendung nachgewie- Bemerkungen zur christlichen Interpretation von Grab- sen ist oder die über römischen Schichten etc. liegen. Be- funden und besonders zu den Goldblattkreuzen (S.19 f.) denklich erscheint der Ausschluss auch von Bauten, um wendet er sich der alamannischen Oberschicht als Trä- die herum römische Baureste erfasst sind, welche jedoch ger der Christianisierung Südwestdeutschlands zu, die nicht unter die Kirche reichen. Begründet wird dies mit ab 600 greif bare Spuren hinterließ. Im Folgenden erör- der primären Fragestellung der Arbeit zum baulichen tert er die Entstehung der Bistumsorganisation, soweit Zusammenhang zwischen römischem Gebäude und diese für das erste Jahrtausend überhaupt gebietsspezi- Kirche (S. 37). fisch nachvollziehbar ist. Die im zweiten Abschnitt beschriebene geographi- Der südbayrische Teil des Untersuchungsraumes wird sche Verteilung der untersuchten Kirchen entspricht im von der Überlieferung zu Augsburg und Passau domi- Wesentlichen der historischen Entwicklung des Besied- niert, während aus Regensburg keine Hinweise auf frü- lungsbildes (S. 39–42). Daraufhin erörtert der Autor hes Christentum vorhanden sind. Der Autor betont, be- die Schwierigkeiten, die erfassten Kirchen zu datieren, zogen auf die Augsburger Verehrung der Afra, zu Recht die ein generelles Problem des geringen Fundanfalls bei die Möglichkeit der frühmittelalterlichen »… ›Wieder- Kirchengrabungen sind. Eine mit Vorsicht zu benut- entdeckung‹ einer tatsächlich nie vorhandenen Märtyre- zende Statistik zeigt, dass damit gerechnet werden muss, rin …« (S. 24); ein Vorgang, der auch andernorts gän- dass in der Schweiz deutlich früher Kirchen in römische gige Praxis war. Spätantike Kirchenbaubefunde aus Altsubstanz eingebaut wurden, als das in den anderen Augsburg möchte man mit Eismann nach der archäolo- Gebieten der Fall ist (S. 45 Abb. 7–9). Begründet ist gischen Quellenlage zur Zeit nicht gelten lassen (S. 26; die Skepsis des Autors am grundsätzlichen Nutzen der 263–266), die skizzierte Überlieferungssituation zu Patrozinienforschung für die Feinbestimmung archäolo- Kleinfunden mit christlichem Hintergrund hat sich je- gisch-historischer Befunde (S. 49–54). Um die Vertei- doch deutlich verbessert (RAC Suppl. I [2000] 693– lung der Bautypen aufzuschlüsseln, über denen später 718 s. v. Augsburg [E. Dassmann]; L. Bakker, Sünden- Kirchen errichtet wurden, sind erfreulicherweise nicht 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 457

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nur ein erklärender Text, sondern auch übersichtliche ten späteren Kirchen als charakteristisch benennen Tabellen beigegeben (S. 56 Abb. 12; 58 Abb. 13). Eine (S.108f.). Affinität der späteren Kirchen zu einer bestimmten Art Die Verwendung antiker Spolien ist meistens prag- von überbautem römischem Bauwerk lässt sich dabei matisch zu begründen und nicht aus nur in verschiede- nicht feststellen. nen Einzelfällen nahe liegenden symbolischen oder ma- Die folgenden Abschnitte des Buches widmen sich gischen Motiven erfolgt; der Autor hegt allerdings nicht der detaillierten Beschreibung der den einzelnen oben näher begründete Zweifel an der Tatsache, »daß die schon genannten Situationstypen zugewiesenen Bei- Existenz von wiederverwertbarem Baumaterial … der spiele, gegliedert nach den Teilbereichen des Untersu- ausschlaggebende Grund für die Errichtung von Kir- chungsgebietes (S. 61–85). Erstaunlich ist, dass das chen über römischen Ruinen gewesen sein kann.« Gros der Kirchen mit kompletter Übernahme des römi- (S.116). Zum Phänomen der Kirchen in römischen Kas- schen Grundrisses mit einem Zeithorizont im 6.–8. Jh. tellen zieht er ausnahmsweise auch Vergleiche aus Eng- vergleichsweise spät anzusetzen ist (S. 67); weniger ver- land heran. Tragfähige generalisierende Schlussfolgerun - wunderlich ist, dass zunächst der rechteckige Saalbau die gen lassen sich aus den bekannten Befunden dieser Art bevorzugte Bauform war und meist erst später Apsiden jedoch nicht gewinnen (S. 120). Ausführlich und unter oder Rechteckchöre und weitere Nebenräume angefügt Hinzuziehung der aus älteren Arbeiten bekannten Mo- wurden. »Eine deutliche Kennzeichnung des Gebäudes numente im gesamten Mittelmeerraum werden im Fol- als Kirche durch eine besondere Bauform wurde nicht genden die Fragen der Konversion paganer Heiligtümer als notwendig erachtet« (S. 69). Bei den nur teilweise erörtert. In diesem Kapitel zieht Eismann auch umfang- auf römischen Grundmauern stehenden Bauten fällt reich die für den Problemkreis maßgeblichen Schrift- die breite chronologische Streuung des möglichen Ent- quellen heran (zur Problematik der antiken Tempel als stehungszeitraums der kirchlichen Gebäude auf (S. 74 Teil städtischer Bauensembles vgl. A. Geyer, »Ne ruinis Abb. 18). Relativ häufig ist dabei eine abweichende Aus- urbs deformetur …«. Ästhetische Kriterien in der spät- richtung der Baufluchten zu konstatieren, was deutlich antiken Baugesetzgebung. Boreas 16, 1993, 63–77). darauf hinweist, dass sehr oft die Wiederverwendung Eine direkte und bzw. oder religiös motivierte Abfolge des Baumaterials den Ausschlag für eine solche Platz- kultischer Nutzung zwischen den paganen und christli- wahl gab (S. 74–76; 113–116). Sonderfälle stellen die chen Phasen der besprochenen Gebäude lässt sich, wie anschließend besprochenen Kirchen über römischen schon nach der Auswertung der historischen Quellen zu Straßen und anderen ebenen antiken Bauflächen dar. erwarten stand, in keinem Fall sicher belegen (S. 128– Weitere Abschnitte des Buches sind den Holzkirchen 130). Als Grund für die bekannten Umnutzungen kann in antiker Bausubstanz gewidmet (S. 89–95), wobei lediglich, wie schon in den anderen Fällen, das Wie- hier naturgemäß oft gravierende Schwächen in der deraufgreifen prägnanter topographischer Standorte Überlieferungslage eine überregionale Beurteilung des und Wiederverwendung des Baumaterials ausgemacht Phänomens erschweren dürften. Den Grund für die Er- werden. richtung hölzerner Architektur am Ort schon älterer Unter den Stichworten »subjektive Kontinuität« und Steinbaureste sieht Eismann einleuchtend in siedlungs- »Wiederverwendung der Ruinen aufgrund ihres römi- topographischen Standortfaktoren begründet, obwohl schen Ursprungs« geht Eismann Hypothesen über die gerade bei diesen Beispielen im Einzelfall auch kultische Interpretationen römischer Altsubstanz in der mittel- Bezüge nicht auszuschließen, aber natürlich genauso alterlichen Welt nach, ein thematischer Ansatz, der wenig zu beweisen sind. Es folgt eine Erörterung der neuerdings eine detaillierte Einzelbearbeitung erfahren Nutzungsphasen, die an den verschiedenen Fundplätzen hat (L. Clemens, Tempore Romanorum constructa. zwischen der Existenz des römischen Gebäudes und der Monogr. Gesch. Mittelalter 50 [Stuttgart 2003], da- Einrichtung einer Kirche in ihm festgestellt werden zu: J. Strothmann, Bonner Jahrb. 202/203, 2002/ konnten. Relativ häufig ist im Zusammenhang der 2003, 663f.). Detailreich erläutert wird zudem die auch Anlage von Bestattungen in diesen Zwischenphasen zu von historischer Seite vieldiskutierte Frage der ›Fiskal- diskutieren, wie die Gräber in Bezug auf den sozialen kontinuität‹, also des Übergangs von römischem Staats- Status der in und außerhalb der Ruinen Beigesetzten zu besitz in die Hände des sich herausbildenden früh- bewerten sind. Seine Zweifel an der abenteuerlichen mittelalterlichen Adels, und der damit verbundenen Theorie H. W. Böhmes, dass verschiedentlich Angehö- Möglichkeit der Errichtung von ›Eigenkirchen‹ über rige der fränkischen Elite ihre eigene Verehrung als römischen Ruinen. Als tragfähige Grundlage für ein Ahnen durch ihre Nachkommen mit der Idee antizipiert weiteres Erklärungsmodell für Kirchen über römischen hätten, die Anlage des eigenen Grabes in einer Ruine Ruinen ist dieses Kontinuitätsschema jedoch auszu- später durch eine dort von den Nachkommen eingerich- scheiden (S. 151 f.). tete Kirche sakralisieren zu lassen (H. W. Böhme, Adel Die abschließenden Kapitel sind nochmals siedlungs- und Kirche bei den Alamannen der Merowingerzeit. geschichtlichen Fragestellungen gewidmet. In der Frage Germania 74, 1996, 477–507, hier 484 Anm. 15), der Siedlungs- bzw. Besiedlungskontinuität können die äu ßert Eismann vielleicht etwas zu wenig bestimmt Kirchen über römischen Ruinen die Ergebnisse der Sied- (S.103 f.). Vor allem für die Schweiz lässt sich die Funk- lungsarchäologie in der Regel nur unterstreichen bzw. tionsabfolge von in oder über Grabbauten eingerichte- peripher ergänzen. 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 458

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Der Katalog stellt die behandelten Kirchenbauten scheinen die Wiederverwendung eines herausgehobenen in kurzen beschreibenden Fließtexten vor und nennt Bauplatzes und natürlich noch vorhandener Bauteile summarisch die grundlegende Literatur. Für die Grund- oder -materialien die wesentlichen Gründe für das Ent- rissabbildungen im Katalogteil ist die Legende der stehen aller von Eismann untersuchten Funktions- und annähernd vereinheitlichten Signaturen in den Vorbe- Kontinuitätstypen zu sein. Im Einzelfall kann die nähe- merkungen des Kataloges an etwas versteckter Stelle rungsweise vollzogene Zuweisung der Motivation für erwähnt (S.199). die Errichtung einer Kirche über römischen Ruinen fast Die von mir vorgebrachten Anmerkungen zu termi- immer nur anhand von Indizienbelegen erfolgen. nologischen und methodischen Fragen berühren mögli- cherweise gar nicht das in dem besprochenen Buch ver- Köln Sebastian Ristow folgte, primär vor- und frühgeschichtlich-archäologische Interesse des Autors und sind demnach vor allem als Vorschlag zu einer schärferen, erklärenden Terminologie für weitere Bearbeitungen dieses oder verwandter The- men aus dem Bereich der spätantik-mittelalterlichen Ursula Koch, Das alamannisch-fränkische Gräber- Kirchenarchäologie zu verstehen. Muss sich doch die feld bei Pleidelsheim. Forschungen und Berichte zur archäologische Forschung bewusst sein, dass ihre Ergeb- Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 60. nisse oft kritiklos und ohne Prüfung in nachbarwissen- Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2001. 647 Seiten; 314 schaftlichen Untersuchungen verwendet werden. Auf Abbildungen, 120 SW- u. 8 Farbtafeln. diese Weise kommt es dann wiederum bei der Heranzie- hung historischer oder kirchengeschichtlicher Arbeiten Jenseits einer kleinen Gemeinde von Spezialisten ver- durch Archäologen zu entsprechenden Rückwirkun- heißt der Buchtitel nichts Ungewöhnliches, vielmehr im gen, die gelegentlich kritikwürdige Bilder z. B. über die guten Sinne baden-württembergische Routine. »Das Christianisierung einzelner Kulturlandschaften entste- [ethnisches Adjektiv] Gräberfeld von/bei [Ortsname]« hen lassen. Ein zukünftig noch zu lösendes Problemfeld ist der Standardtitel von Monographien zum frühen tut sich nach meiner Ansicht in der Frage der Definition Mittelalter, unter dem in den beiden bekannten Reihen von Bischofs-, Pfarr-, Coemeterialkirchen und Marty- der Landesarchäologie Gräberfeld um Gräberfeld in rien bzw. Memorien sowie verschiedenen Gebäudeklas- qualitativ ansprechenden Bänden publiziert wird. In der sen aus dem reinen Sepulkralbereich und der archäo- Regel erwarten den Leser bei hoher Druckqualität gute logischen Anwendung dieser Begrifflichkeiten in der Zeichnungen in einem übersichtlich organisierten Tafel- Befunddeutung auf. Untrennbar verbunden mit diesen teil und ein den Standards genügender Textkatalog, die Wertungsfragen ist die Thematik der Motivation für die beide zusammen noch ganz traditionell das Material Anlage von Bestattungen innerhalb von Gebäuden oder vollständig der Wissenschaft zugänglich machen, wäh- auch von Ruinen. Wie nicht nur die vorliegende Arbeit rend in anderen Zweigen des Faches vielfach bereits auf zeigt, scheint das Thema Martyrion/Memoria, Grabbau ungedruckte Daten und CDs verwiesen bzw. die Not- nach 60 Jahren (A. Grabar, Martyrium. Recherches wendigkeit von Quelleneditionen überhaupt in Frage ge- sur le culte des reliques et l’art chrétien antique [Paris stellt wird. Zum Katalog gehört regelmäßig eine Auswer - 1946]) wieder in den Focus der archäologischen Wissen - tung, die zumindest die wesentlichen Materialgruppen schaften zu rücken. sichtet und wissenschaftlich einordnet. Dieser von den Das Buch von Stefan Eismann gibt nicht nur reich- Autoren und der Landesarchäologie erfreulicherweise haltiges Material zu diesen Themenkomplexen an die durchgehaltene Publikationsstandard beschert uns für Hand, sondern liefert auch Ansätze zur Lösung in der diesen Raum eine ungewöhnlich gute Quellenlage, die speziellen Frage der Wiederverwendung antiker Baube- Baden-Württemberg zu einem idealen Forschungsfeld funde im Früh- und Hochmittelalter. Wie Eismann für die Frühmittelalterarchäologie macht. Die Monogra - schon einleitend selbst betont, steht die überregionale phie von Ursula Koch über Pleidelsheim erfüllt all diese Bearbeitung dieses speziellen Sachverhaltes für einzelne aus der Praxis eines langjährig durchgehaltenen hohen Kulturlandschaften erst am Anfang. Insofern ist das Ver- Standards herrührenden Erwartungen und führt ange- dienst dieser Publikation nicht hoch genug einzuschät- legte Kontinuitäten fort. So publiziert sie hier z. B. auf zen. Darüber hinaus liefert sie eine wertvolle, auf die acht gelungenen Farbtafeln den lang erwarteten zweiten Themeneingrenzung bezogene Übersicht über die Bau- Teil ihres Typenkataloges merowingerzeitlicher Perlen, befunde der Untersuchungsregion, die sich sonst in dessen ersten Teil sie 1977 in ihrer Schretzheim-Mono- dieser Form bisher nicht finden lässt. Ein bedeutendes, graphie veröffentlichte. durch die vorgelegte Auswertung jetzt gut greif- und an- Doch warum führen 264 Gräber eines eher unbe- sprechbares Ergebnis ist in der Tatsache zu sehen, dass kannten Ortes am mittleren Neckar nahe Ludwigsburg die weit überwiegende Mehrzahl der Kirchenbauten wie zu fünf Zentimeter Buchrücken und drei Kilogramm auch der Sepulkralgebäude über oder in römischen Res- Gewicht? Weil Ursula Koch neben der Erfüllung der ten nicht in direkter Nutzungs- oder gar Funktionskon- üblichen Standards und Erwartungen bei zwei entschei- tinuität entstanden ist. Neben der möglichen zufälligen denden Themen aus ihnen ausbricht, so dass Ihre Studie Überlagerung älterer Bauten durch spätere Kirchen er- weit mehr leistet als der bescheidene Titel verspricht. Das 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 459

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Gräberfeld von Pleidelsheim setzt in der Mitte des 5. Jhs. einer auf Fundkombinationen beruhenden neuen Re- n. Chr. ein und wird kontinuierlich bis ins mittlere Drit- gionalchronologie mit Hilfe einer Seriation, in die sie aus tel des 7. Jhs. belegt. Insbesondere aus den ersten Bele- einem weiten Raum alle relevanten Frauengräber und gungsphasen stammen reiche Gräber, unter anderem Männergräber einbringt und mit dem weit verbreiteten wurde hier um 500 n. Chr. ein spätadulter Mann mit Standardprogramm (BASP bzw. WinBASP) durchrech- einer Goldgriffspatha bestattet. Der -heim-Ort (!) liegt nen lässt. Mit etwas mühsam zu lesenden Verschlüsse- geographisch am Nordrand der Alemannia oder am lungen (S. 44: FCode, MCode, usw.) wird der Fundstoff Südrand des fränkischen Siedlungsgebietes, der Fund- der Frauengräber (S. 44–47) und jener der Männergrä- stoff bietet nebst Lokalem offensichtlich zahlreiche Ver- ber typisiert (S. 61–63), anschließend werden alle knüpfungen in die eine wie in die andere Richtung, so Typen und Gräber offen gelegt, die sie nach einer Seria- dass die ethnische Fragestellung ein zentraler Aspekt ist. tion zu den gebildeten Phasen subsumiert, wiederum ge- Die Autorin geht auf dieses Problem ausführlich und gliedert nach Frauen (S. 47–61) und Männern (S. 63– eindrucksvoll ein. Anders als viele Reihengräberfelder 70). An diese nüchternen, kaum kommentierten Listen wurde Pleidelsheim gruppenweise belegt; da der Platz schließt sich eine erläuternde Beschreibung der Phasen zudem nicht vollständig ergraben ist, bietet er für die in der neuen Chronologie an (S. 70 ff.); sie umfasst die Süddeutschland üblichen, chorologisch begründeten Phasen SD (für Süddeutschland) 1–10 und deckt die Lokalchronologien keine hinreichende Basis. Statt einer Zeit vom mittleren Drittel des 5. Jhs. bis zum 2. Drittel denkbaren Improvisation legt uns Ursula Koch zur Lö- des 7. Jhs. ab. Hier werden auch die Synchronisierungen sung dieses Problems eine grundlegend neue Chronolo- mit anderen Chronologien vorgenommen. gie des Fundstoffes für das gesamte frühmittelalterliche Das Ergebnis ist überzeugend, Typentafeln legen es Süddeutschland vor. Mit diesen zwei Themen, ethnische anschaulich dar (S. 71 ff. Abb. 12–24). Die neue »SD- Fragestellung und Chronologie, greift die Monographie Chronologie« von Ursula Koch wird nun für eine längere weit über das Übliche hinaus; unter Hintanstellung Zeit als maßstabsetzende Standardreferenz für Süd- vieler anderer spannender Aspekte konzentriert sich die deutschland dienen. Eingeflossen in sie sind alle Frauen- Besprechung auf diese beiden besonderen Leistungen und Männergräber mit guten Fundkombinationen aus des Buches. dem Raum zwischen dem Rheinknie bei Basel und dem Während in den vergangenen Jahrzehnten für Fragen bei Mainz, zwischen dem Rhein im Westen und dem der Chronologie in Westdeutschland und in Frankreich Inn im Osten: für die Frauen 175 Typen aus 304 Inven- Arbeiten im Vordergrund standen, die eher über die taren, für die Männer 125 Typen aus 207 Inventaren. Fundkombinationen argumentierten und auf Regio- Da sich gegenüber dem älteren Standard »Schretzheim« nalchronologien zielten (K. Böhner, Die fränkischen manches verändert hat, hat Ursula Koch unlängst die Altertümer des Trierer Landes. German. Denkmäler Gelegenheit eines Lexikonartikels genutzt, auch das Grä- d. Völkerwanderungszeit B 1 [Berlin 1958]; H. Ament, berfeld von Schretzheim vollständig neu im Sinne dieser Die fränkischen Grabfunde aus Mayen und der Pellenz. modernen Chronologie zu deklinieren und das Ergebnis German. Denkmäler d. Völkerwanderungszeit B 9 [Ber- in klaren Listen verfügbar gemacht (RGA2 27 [Berlin lin 1976]; P. Pé r in, La datation des tombes mérovin- 2004] 294–302 s.v. Schretzheim [U. Koch]). giennes. Historique – Méthodes – Applications. Centre Meine neue Niederrhein-Chronologie für den west- de recherches d’histoire et de philologie de da IVe section deutschen Raum stand Ursula Koch leider nur im Dis- de l’Ecole Pratique des Hautes Études V. Hautes Études sertationsdruck von 1989 zur Verfügung, auf den sie Médiévales et Modernes 39 [Genève 1980]; F. Sieg- sich häufig bezieht; die umfassende Publikation erschien mund, Merowingerzeit am Niederrhein. Die frühmit- erst 1998 und konnte von Koch, deren Manuskript 1995 telalterlichen Funde aus dem Regierungsbezirk Düssel- abgeschlossen wurde, leider nicht mehr berücksichtigt dorf und dem Kreis Heinsberg. Rhein. Ausgr. 34 [Köln werden. Eine Synchronisierung beider Systeme ist offen- 1998]), wurden für den süddeutschen Raum vor allem bar ohne große Widersprüche möglich. Über die bereits Lokalchronologien auf der Basis von Gräberfeldchoro- bei U. Koch vorgenommene Parallelisierung hinaus logien erarbeitet, die immer wieder in vielspaltige Syn- bietet hier die Studie von Christina Hansen eine inhalt- opsen zusammenzustellen waren, um einen Überblick liche wie graphisch dargelegte Synopse beider Systeme und eine überregionale Vergleichbarkeit zu erhalten. Ur- (Ch. M. Hansen, Frauengräber im Thüringerreich: Zur sula Koch war, beginnend mit ihrer für die Chronologie Chro nologie des 5. und 6. Jahrhunderts n. Chr. Basler des 6. Jhs. grundlegenden Arbeit über Schretzheim H. Arch. 2 [Basel 2004] insbes. 146 ff. mit Abb. 149). (U. Koch, Das Reihengräberfeld bei Schretzheim. Ger- Der Detailvergleich beider Chronologien bei Hansen man. Denkmäler Völkerwanderungszeit A 13 [Berlin legt dar, dass hinter der SD-Chronologie relativ viele 1977]), eine wichtige Autorin solcher Studien. Vor die- Grabinventare stehen (ebd. Abb. 146), in die SD-Chro- sem Hintergrund stehen die Seiten 26–88 der Plei- nologie anteilig mehr Frauengräber und -typen einge- delsheim-Monographie für einen Paradigmenwechsel. flossen sind als in die Niederrheinchronologie (ebd. Zunächst referiert Ursula Koch sorgfältig alle wichtigen Abb.145), und unter den Typen für das SD-System die lokalen und regionalen Studien zur Chronologie und Fibeln eine sehr große Rolle spielen, während für das legt neben den Ergebnissen deren sachlichen wie metho - NRh-System vor allem auch die Keramik wichtig ist dischen Hintergrund dar. Dann entschließt sie sich zu (ebd. Abb.147–148). Diese sachlichen Unterschiede und 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 460

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auch die im Detail unterschiedliche Feingliedrigkeit der methodischen Ansatzes das Bild eines polyethnischen Phasen sehe ich nicht als Widerspruch, sondern als kul- Gräberfeldes, das zunächst von drei alemannischen Fa- turgeschichtlich deutbare Tatsachen: Wandel und Rele- milien inklusive einiger Oberschichtbestattungen ge- vanz der verschiedenen Gattungen des Sachgutes sind prägt wird. Mit dem Wechsel von Phase SD 4 zu SD 5 im alemannischen Raum im Vergleich zum fränkischen um 530 n. Chr. entfallen die alemannischen Ober- Raum unterschiedlich, und sie betreffen die Geschlech- schichtgräber, neu treten Bestattungen einer fränkischen ter nicht gleichermaßen. Oberschicht sowie thüringischer Einwanderer hinzu. In Selbstverständlich habe ich neben meiner Freude und sorgfältiger Analyse des Sachgutes und des Belegungs- Bewunderung für das Geleistete kleinere Wünsche oder planes rekonstruiert sie insgesamt zehn Familien und Monita: Die beiden großen Tabellen, die die Fund- deren Schicksal und ethnische Zugehörigkeit bis in das kombinationen auch tatsächlich zeigen, hätte ich mir mittlere Drittel des 7. Jhs. gedruckt gewünscht. Die beiden Parabeln der Seria- Während hinsichtlich der Chronologie unter den tion hätte ich gerne gesehen. Die Daten der Seriation aktiv Forschenden weitgehend Konsens besteht, war die wünschte ich mir so publiziert, dass nachfolgende Auto- ethnische Fragestellung im vergangenen Jahrzehnt ein rinnen ›ihr‹ Material möglichst leicht in diese große Feld heftigen und nicht bereinigten Dissenses. Die Dis- Referenzserie einarbeiten könnten. Im Detail bevorzuge kussion, ob Archäologen mit ihren Methoden Ethnien ich methodisch einen anderen Weg: Ursula Koch hat die überhaupt sehen können, ist alt und je nach Epoche in Seriation als Vorordnung genommen und anschließend unterschiedlicher Intensität strittig. Doch darüber hi- die Kombinationstabelle gemäß ihrer Vorstellung ma- naus ist es derzeit sowohl unter Historikern als auch nuell umgeordnet (S. 44; ähnlich: U. Müssemeier / unter Archäologen chic, jenseits der Frage der Erkenn- E. Nieveler /R. Plum/H. Pöppelmann, Chronologie barkeit die Existenz von Ethnien im Frühmittelalter der merowingerzeitlichen Grabfunde vom linken Nie- grundsätzlich in Zweifel zu ziehen und ihre nicht zu derrhein bis zur nördlichen Eifel. Mat. Bodendenk- leugnende Präsenz in den Texten eher als Diskurse und malpfl. Rheinland 15 [Köln 2003] hier S. 14). Mir er- Konstrukte denn als gelebte historische Wirklichkeit zu scheint es transparenter, die Seriation und die resultie- lesen. Diese Skepsis hat zuletzt für die Frühmittelalter- renden Tabellen so wie errechnet unverändert offen zu archäologie am prominentesten die Habilitationsschrift legen, und dieses (Teil-)Ergebnis zusammen mit anderen von Sebastian Brather gebündelt (S. Brather, Ethni- Thesen (z. B. Chorologien) anschließend in einer expli- sche Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäo- ziten ›Diskussion‹ zur resultierenden Chronologie zu- logie: Geschichte, Grundlagen und Alternativen. RGA sammen zu fügen. Doch all dies könnte auch im Nach- Ergbd. 42 [Berlin 2004]; vgl. hier S. 462 ff.); er hält die hinein geliefert werden und nimmt dem eindrucksvollen Archäologie für ungeeignet, solche Probleme zu diskutie- Ergebnis nichts: Mit diesem Werk ist die neue Stan- ren. Kurz zuvor hatte der Rezensent in einer Monogra- dardreferenz zur Chronologie der Merowingerzeit für phie zwar den antiquarischen Ansatz samt Analyse der Süddeutschland geboren. Damit ist es keinem Bearbei- Verbreitungsbilder von Typen zurückgestellt, statt des- ter genommen, bei geeignetem Material eine neue eigene sen aber Beigabensitten analysiert und anhand dieser Lokalchronologie zu entwickeln, aber solche Chronolo- Sitten mit rein archäologischen Argumenten drei ar- gien sind nun für Süddeutschland eindeutig auf die mo- chäologische Ethnien herausgearbeitet, die sich als Ale- derne Referenzchronologie ›SD‹ zu beziehen. Berück- mannen, Franken und Thüringer identifizieren lassen sichtigt man neben den oben bereits genannten Arbeiten (F. Siegmund, Alemannen und Franken. RGA Ergbd. von Siegmund (1998), Koch (2001), Müssemeier u. a. 23 [Berlin 2000]). Die Umsetzung der dort formulier- (2003) und Hansen (2004) noch die Studie von Maren ten Modelle auf das Gräberfeld von Pleidelsheim fällt Siegmann zu Liebenau und Dörverden (M. Siegmann, technisch leicht, weil die Publikation von U. Koch alle Bunte Pracht: Die Perlen der frühmittelalterlichen Grä- notwendigen Information bestens auf bereitet präsen- berfelder von Liebenau, Kr. Nienburg /Weser, und Dör- tiert (hier: S. 364 ff. Tab. 8 f. für die Frauengräber und verden, Kr. Verden/Aller. Chronologie der Gräber, Ent- 370 ff. Tab. 10 f. für die Männergräber). Wendet man wicklung und Trageweise des Perlenschmucks, Technik das bei Siegmund formulierte Modell auf die Pleidels- der Perlen. Beitr. Ur- u. Frühgesch. Mitteleuropa 28,1– heimer Gräber für die Phasen SD 1–4 (ca. 430–530 5 [Langenweissbach 2002–2006]), ist damit auf me- n. Chr., entsprechend ›Zeitschnitt A‹ nach Siegmund, thodisch vergleichbarer Grundlage innerhalb eines Jahr- vgl. ebd. 258 Abb. 138) an, erweist sich das frühe Plei- fünfts allenthalben eine Renovierung und Aktualisie- delsheim auch in diesem Sinne als alemannisches Grä- rung der älteren Standardreferenzen aus den 1970er bis berfeld. Die Inventare der Phasen SD 7ff. (ca. 580–670 1980er Jahren gelungen, die zu untereinander bestens n. Chr. und folgende Jahre, entsprechend ›Zeitschnitt C‹ kompatiblen Ergebnissen geführt hat, wobei die Mono- nach Siegmund, dazu ebd. 275 ff. Abb. 155) erweisen graphie von U. Koch quasi den krönenden Schlussstein das späte Pleidelsheim als sicher fränkisches Gräberfeld; bildet. dabei zeigt die Bewaffnung mit einem auffallend hohen Anteil an Saxen eine große Nähe zum ebd. 210 f. Das zweite große Thema der Monographie steckt im pla- Abb. 108 f. formulierten ›Modell Ostfrankreich‹, das kativen Adjektiv des Buchtitels: »alamannisch-frän- jene fränkischen Gräberfelder zusammenfasst, die im kisch«. Ursula Koch entwirft auf der Grundlage ihres 7. Jh. bereits stark der Romanisierung der Beigabensitte 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 461

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unterliegen. Soweit sind die Thesen von mir, die ja machen. Quantitativ liegt der Schwerpunkt ihrer Argu- auf einem ganz anderen methodischen Ansatz beruhen, mentation auf den Frauengräbern, was am Beispiel der mit der Analyse von U. Koch im Ergebnis vergleichbar. Auszählung der Verbreitungskarten belegt werden soll: Eine deutliche Divergenz ergibt sich allerdings für die 16 Verbreitungskarten beziehen sich auf Typen aus Frau- Phasen SD 5 und 6 (ca. 530–580 n.Chr., entsprechend engräbern, acht Kartierungen betreffen Gefäße im wei- ›Zeitschnitt B‹ bei Siegmund 2000, dazu ebd. 265ff. testen Sinne (Kästchen, Eimer, Glas- und Keramikge- Abb. 145), da sich Pleidelsheim nach meinem Modell fäße) und acht Kartierungen gelten Waffen und Gürteln klar in die Gruppe der alemannischen Gräberfelder ein- aus Männergräbern. Die Texte mögen passagenweise fügt. U. Koch würde dem entgegenhalten, dass sie eine lang atmig und kaum über viele Seiten hinweg konzen- solche Betrachtung für alle datierten Gräber gemeinsam triert lesbar sein, aber die Autorin gibt dem Leser viele als ungenügend erachte, da in Pleidelsheim zu dieser spannende Erkenntnisse und Hinweise mit und bündelt Zeit die Bestattungsgemeinschaft aus Familien unter- diese zu plausiblen Deutungen der Grabinventare. Nie schiedlicher ethnischer Herkunft bestehe. Doch auch hat man den Eindruck, Ergebnisse könnten durch mögli - wenn man ihrer Gliederung folgen würde, lösen sich die cherweise versehentlich nicht wahr genommene Paralle- Widersprüche nicht: Ihre alemannischen Familien 1–3 len anders ausfallen oder die Zusammenfassung von In- in den Phasen SD 5–6 ergeben tatsächlich ein zweifellos dividuen zu Typen könnten ebenso plausibel ganz anders alemannisches Beigabenspektrum. Ihre aus Thüringen vorgenommen werden und dann zu erheblich abwei- stammende Familie 5 jedoch steht dem alemannischen chenden Thesen führen. Kurz: kenntnisreich und fleißig Kulturmodell deutlich näher als dem thüringischen, vor ist hier ein spezifischer methodischer Ansatz zu einem allem, da die Intensität der Gefäßbeigabe erheblich zu offenen Forschungsproblem an einem spannenden Ma- gering ist und Thüringische Drehscheibenkeramik völlig terial ungemein konsequent durchgeführt worden. fehlt. Ihre Familie 4 »fränkische Amtsträger« entzieht Diese Bilanz und meine Bewunderung für das Er- sich der Beurteilung, da sie neben drei Frauengräbern reichte ändern indes nichts an meiner Überzeugung, nur ein Männergrab umfasst, weshalb die Waffenbeiga- dass im Fall der divergenten ethnischen Zuordnung des bensitte nicht erkennbar ist. Zieht man diese Familie 4 Gräberfeldes für die Phasen SD 5–6 mein Modell rich- mit der Familie 6 »Gefolgschaftskrieger« zusammen – tig ist. Gemäß seiner inneren Logik ist der Ansatz von was sicherlich im Sinne von Koch wäre – ergibt sich ins- U. Koch nicht falsifizierbar: Oft ergeben die einzelnen gesamt ein zwar wenig typisches, aber dennoch aleman- Objekte eines Grabes in sich konsistente Zeit- und nisches Beigabenspektrum. Kurz: die Thesen Kochs Raumbezüge. In den Fällen, in denen die Raumbezüge und die des Rezensenten zu Pleidelsheim im 6. Jh. gehen heterogen sind, wird dies in die individuelle Biographie auch dann nicht zusammen, wenn man die Bestattungs- der Verstorbenen projiziert (z.B. zu Grab 81, 89), wo- gemeinschaft entsprechend der Analyse Kochs in Fami- durch verständlich gemacht wird, weshalb eine thürin- lien aufgliedert und diese separiert betrachtet. gische Fibel, eine alemannische Fibel und ein fränkisches Keine der drei divergenten Grundpositionen und An- Gefäß in einem Inventar vereint sind. ›Passende Ensem- sätze zur ethnischen Fragestellung, die hier exemplarisch bles‹ bestätigen das System, ›unpassende‹ jedoch ebenso, an den Arbeiten von Koch, Siegmund und Brather skiz- und dies ist wissenschaftslogisch ein – je nach Tempera- ziert wurden, ist gänzlich neu, zudem kennen die ge- ment – unbefriedigender bis unhaltbarer Zustand. An- nannten Autoren einander aus Vorveröffentlichungen, dererseits erscheint es gerade im 6. Jh. auch keinesfalls Vorträgen und Kongressen. Keine der drei Positionen hat unmöglich, dass es eine geborene Ostgotin über Thü- die beiden anderen grundsätzlich erübrigen können, sie ringen in eine fränkische Siedlungsgemeinschaft auf stehen derzeit konträr gegenüber. Daher ist zu fragen: dem Boden der ehemaligen Alemannia verschlägt und was ist der besondere Beitrag der Pleidelsheim-Monogra - man dies an ihrem Besitz auch sehen kann. ›Irgendwie‹ phie zu diesem Thema? Die Antwort steckt vor allem in müsste ein Weg gefunden werden, die Aussagen anhand den Seiten 190–352 des Buches mit den Kapiteln zur der Bestattungs- und Beigabensitten einerseits und an- »formenkundlichen Analyse«. Hier wird, zunächst für hand der Typen und ihrer Verbreitungsbilder anderer- die Frauen, dann für die Männer, Grab für Grab das seits zu kombinieren und gegenseitig abzugleichen. Sachgut des Pleidelsheimer Gräberfeldes diskutiert und Hätte ich für dieses Problem eine gute Lösung, die auch am Ende für jedes Grab eine chronologische und ggf. U. Koch und die weiteren Vertreter der antiquarischen auch ethnische Bilanz gezogen. Hier breitet U. Koch ihr Schule einbindet und überzeugt, schriebe ich anstelle ganzes Wissen aus, beschreibt die Charakteristika einzel- einer Besprechung ein neues Buch. ner Objekte, verfolgt diese über die Literatur der Mero- wingerwelt, und gewinnt so ihre Einordnungen. Allein Basel Frank Siegmund 32 Verbreitungskarten mit meist mehreren Typen samt aller Nachweise dokumentieren ihren Gelehrtenfleiß, doch über die mit Abbildungen kartierten Typen hinaus formuliert der Text weit mehr Gruppierungen und Be- Wa lter Pohl und Max Diesenberger (Hrsg.), Inte- züge. Dabei unterstützt sie die Typenbildungen verstärkt gration und Herrschaft: Ethnische Identitäten und auch durch merkmalanalytische Tabellen (wie z. B. soziale Organisation im Frühmittelalter. Denkschrif- S.211 Tab. 4), die ihr Vorgehen besser nachvollziehbar ten /Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phi- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 462

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losophisch-Historische Klasse, Band 301. Forschungen damit offensichtlich sowohl das Frühmittelalter als auch zur Geschichte des Mittelalters, Band 3. Verlag der die Geschichtsforschung. Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien Und was lernen wir daraus? – fragt eine kluge und 2002. 354 Seiten inkl. gemeinsamem Quellen- und Li- interessant geschriebene Synthese von Walter Pohl teraturverzeichnis, 22 Abbildungen, Text in deutscher (S.275–288): Dass das frühe Mittelalter ungemein kom- und englischer Sprache. pliziert mehrdeutig war und viele ehedem als sicher gel- tende Tatsachen sich heute als wesentlich komplexer Der Band veröffentlicht die erweiterten Ergebnisse einer darstellen. Weshalb viele einst in griffigen Polaritäten Tagung, die im Frühjahr 1998 in Wien stattfand. Auto- gedachte Themen (Romanen versus Germanen, Freie ren und Herausgeber haben keine Buchbindersynthese versus Sklaven) heute in komplexere und vielfältigere hinterlegt, sondern die Beiträge sorgfältig ausgearbeitet, Begriffe und Skalen aufgelöst werden. Dass Historiker um einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat er- heute ungern schreiben, »wie es denn gewesen ist«, son- gänzt und so ein spannendes und nützliches Buch ver- dern versuchen, für das frühe Mittelalter aufzuzeich- fasst, das einen Anlass, ein Thema und Ergebnisse hat. nen, wer wann in welchen Worten, aus welcher Tradition Doch um so schwerer ist die Aufgabe des Rezensenten, heraus, mit welchen Motiven und in welcher Weise über denn Anlass und Thema des Werkes sind in der Einlei- etwas berichtete, und dass in dieser Diskursanalyse eher tung von Walter Pohl knapp und präzise umrissen (S. 9– Gewissheiten zu gewinnen sind als über die berichteten 14), und eine kurze, aber hinreichend informierende Bi- ›Tatsachen‹. Beispielhaft der Artikel von Hans-Werner lanz von Ian Wood schließt den Band (S. 303–312). Goetz (S. 133–150), der analysiert, wann in den Quel- Beides kann diese Besprechung nicht besser machen len von wem der Begriff ›Franke‹ in welcher Bedeutung oder zusammenfassender darstellen. verwendet wurde. Die neuen Unsicherheiten gehen ein- Anlass der Tagung war der Wunsch nach einer Ab- her mit einer wieder frischen und breiten Lektüre der rundung des von der Europäischen Wissenschaftsstif- Quellen. Aber Pohl bilanziert unter den Ergebnissen tung ESF 1993–1997 geförderten Projekts »The Trans- auch die interessanten Erfahrungen des ESF-Projektes, formation of the Roman World« mit seinen Treffen die sich aus dem Zusammenkommen ganz unterschied- verschiedener kleiner Arbeitsgruppen und deren Pub- licher Europäer und unterschiedlicher Wissenschafts- likationen (Übersicht: S. 275 Anm. 3). In Wien sollte schulen ergaben. Erfreulich seine Selbstreflexion als in größerer Runde der Versuch einer gemeinsamen Bi- Historiker: Warum eigentlich kommen derzeit aus ver- lanz unternommen werden, wobei die Organisatoren schiedenen Ländern und Schulen im Bereich des frühen eine stärkere Integration ›Ostmitteleuropas‹ anstrebten. Mittelalters so viele Forscher wieder auf genau diese Übergreifendes Thema ist der Übergang von der Antike Themenfelder der ethnischen und sozialen Fragestel- in das Mittelalter. Die neu aufkommenden ethnischen lung, während andere Themen zurücktreten? Pohl sieht Identitäten und die sich verändernde soziale Organisa- einen Zusammenhang mit unserem Zeitgeschehen und tion sowie der damalige und der heutige Diskurs darüber nennt Schlagworte wie Maastricht-Verträge, Schengen- stehen im Mittelpunkt der insgesamt zwanzig Beiträge, Abkommen und das Auseinanderfallen Jugoslawiens. die die Herausgeber in fünf Themenblöcke strukturiert Leider wird dieser Zusammenhang allein im Sinne einer haben: ›Städte, Kirchen und Ethnische Identitäten‹, Selbstreflexion genutzt, d. h. als kritische Hinterfragung ›Regnum und Gens in der fränkischen Welt‹, ›Gotische der Zeitbedingtheit der eigenen Fragestellungen. Mir Identitäten‹, ›Die frühen Slawen: Integration ohne Herr- schiene mehr Mut fruchtbar. Denn die Frage, was ler- schaft?‹ und ›Wandlungen in der römischen Welt‹. Die nen wir aus der frühmittelalterlichen Geschichte für Beiträge sind aktuell und beziehen in der Sache da, wo Heute, steht im Raum. Wenn nicht die Fachhistoriker die Wissenschaftslandschaft kontrovers ist, auf ange- selbst eine Beantwortung angehen, wird sie allein schon nehme Weise klare Positionen. Besonders charmant über die Zwänge eines nach Nützlichkeit orientierten führen Helmut Castritius und Dieter Geuenich ihre Wissenschaftsbetriebes von außen an sie herangetragen Kontroverse um die Frage der Verfassung und des Ein- werden. Königtums der Alemannen im 5. Jh. fort, indem sie ihren Dissens offen und verständlich in einen gemein - Bis auf eineinhalb Beiträge ist der Band archäologiefrei, samen Artikel fassen. Leser, die die Fachdiskussion zum und der eine rein archäologische Beitrag von Michael Frühmittelalter unter Historikern nicht aus der Nahsicht Schmauder über Dakien und das Dekumatland wirkt verfolgen können, erhalten über das ganze Buch hinweg wie ein Fremdkörper. Dem Frühmittelalter- Archäologen einen lebendigen Einblick in den aktuellen Stand der gibt das Buch also vor allem einen lebendigen und wei- Diskussion und werden über zahlreiche Hinweise und terführenden Einblick in die aktuelle Diskussion unter Literaturangaben angeregt, sich weiter zu vertiefen. Pa- Historikern. Er könnte ihm auch Anlass geben zur ra digmen und Gewissheiten des 19. Jhs. und der ersten Selbstreflexion: Werden hier Themen verfolgt, in die Hälfte des 20. mussten aufgegeben werden, und an ihre Archäologen direkt eigenes Wissen einbringen können? Stelle ist nicht eine neue Gewissheit getreten, sondern Mir scheint dieser Tagungsband eher das Gegenteil deut- vielfältige Ansätze und Sichtweisen. »World in great dis- lich zu machen: Die dort derzeit verfolgten Fragestellun- order: excellent situation« – mit diesem Zitat schließt Ian gen, Themen und Diskurse stehen für sich und bedürfen Wood auf S. 312 seine Zusammenfassung, und er meint der Archäologie nicht, und Archäologen sollten diesem 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 463

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Diskurs nicht hinterherlaufen. Aber sie sollten die Nach- Da es sich um vielschichtige Fragen handelt, geht er bardisziplin mit wachen Augen beobachten, und dazu weit ausholend der Geschichte ethnischer Interpretatio- bietet dieser anregende Band viel Stoff. nen in der prähistorischen Forschung nach (S. 5; Kap. II). Er fordert schließlich, dem Gedankengang von Hans Basel Frank Siegmund Jürgen Eggers, dass archäologische und literarische Quellen nicht zu gleichen Ergebnissen kommen müss- ten, konsequent weiter zu folgen, weil der Charakter der Archäologie als historische Wissenschaft auch ohne ethnische Interpretation erhalten bleibe. Fehlt da nicht Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in das Salz in der Suppe? Warum sollen Menschen aus dem der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Elb-Saale-Gebiet im 5.–6. Jh. nicht als Thüringer ange- Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum sprochen werden. Wir wissen doch, wo und zu welcher Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 42. Ver- Zeit Langobarden im 6. Jh. siedelten. Wie anders als lag Walther de Gruyter, Berlin/New York 2004. 807 über diese ethnischen Bezeichnungen können wir mit Seiten, 94 Abbildungen, 25 Tabellen. Historikern ins Gespräch kommen? Ein Hauptproblem ethnischer Interpretation archäologischen Materials sieht Der Verfasser bedauert, dass eine wissenschaftliche Re- Brather darin, dass dieses Paradigma bereits abge- volution in der prähistorischen Forschung bisher nicht fragt wird, bevor andere Erklärungen erwogen werden stattfand und traditionelle Forschungsprogramme wei- (S. 565). Müssen ergebnislose Kartierungen, Überle- terhin verfolgt werden, vor allem bei ethnischen Zuord- gungen und Theorien immer fixiert werden? Der Ver- nungen. Von Anfang an ist zu spüren, dass er es ablehnt, fasser unterstellt der frühgeschichtlichen Archäologie ethnische Identitäten aus Sachgut mit archäologischen methodische Einseitigkeit, die er analysieren will, um Methoden zu erschließen (S. 3). Dies hat er zudem in anschließend Alternativen aufzeigen zu können (S. 27). mehreren Vorträgen (u. a. Leipzig, Mannheim 2000) Seine späteren Analysen zeigen dann allerdings, dass er und Aufsätzen (u. a.: Ethnische Identitäten als Kon- sich nicht in archäologische Untersuchungen vertieft, strukte der frühgeschichtlichen Archäologie. Germania sondern diese nur mit seinen Theorien konfrontiert. 78, 2000, 139–177) kund getan. Als wesentlichen An- Wie die Begriffe Volk, Kultur, Sprache und Rasse zu satzpunkt seiner Studie nennt Brather die Ergebnisse verstehen sind, in Zusammenhang mit Beobachtungen, von Siân Jones (The archaeology of ethnicity. Con- dass Gesellschaften nicht einschichtig sind und sich sel- structing identities in the past and the present [Lon- ten scharf abgrenzen lassen, ist ein weiteres Thema (S. 6; don/New York 1997]), die den subjektiven Charakter Kap. III): Diese Begriffe wurden im 19. Jh. geprägt, und ethnischer Selbstidentifikation betont (S. 9); damit wird ihre Verflechtungen würden selten durchdacht. Noch bereits deutlich, dass Brather sich auf Gedanken von problematischer werde es, wenn einer dieser Begriffe von Historikern, Kulturanthropologen und Soziologen stützt unterschiedlichen Disziplinen verwendet wird, deren und nicht von archäologischen Quellen herkommend ar- Erkenntnisse unterschiedliche Bereiche der einstigen beitet. Brather argumentiert theoretisch und reiht eine Realität betreffen (S. 31 f.). Für die wissenschaftliche Behauptung an die andere. Ich werde versuchen, seine Analyse erhalte der Begriff Ethnos nur einen Sinn, wenn Standpunkte wiederzugeben. Die ethnische Interpre- er nicht klassifizierend, sondern beschreibend verwendet tation in der frühgeschichtlichen Archäologie müsste, werde (S. 51; 322); ich kann da keinen Unterschied er- sensibilisiert durch die Arbeit des Verfassers, nun vom kennen. archäologischen Material ausgehend, noch einmal auf- Kultur bezeichnet die vom Menschen selbst geschaf- gerollt werden, das kann ich im Rahmen dieser Rezen- fene Welt (S. 54); im archäologischen Fundmaterial sion nicht leisten. schlagen sich wesentliche Teile der geistigen Welt jedoch Die erste zentrale Frage Brathers gilt Gruppierungen, nur gebrochen nieder (S. 76). Heute konkurrieren zwei die eine starke Identität entwickelten, denn jedermann, gegensätzliche Auffassungen von archäologischer Kultur. wie wohl auch jede Frau, gehöre verschiedenen sozialen Das methodische Problem liegt nach Brather in der Gruppen an, wobei ethnische Übereinstimmung nur Definition von Kultur. Der eine Ansatz geht davon aus, eine der Gruppenidentitäten sei (S. 616). Auf die kom- dass es sich bei einer archäologischen Kultur um eine tat- plexen sozialen Verhältnisse in frühgeschichtlichen Ge- sächlich vorhandene, von Zeitgenossen auch bewusst sellschaften weist Brather in einem Aufsatz (Zeitschr. wahrgenommene Gruppierung handelt. An den jüngst Arch. Mittelalter 32, 2004, 1–58) detaillierter und kon- von Volker Bierbrauer und Frank Siegmund beschriebe- kreter hin; darauf komme ich zum Schluss noch einmal nen Kulturmodellen in der frühgeschichtlichen Archä- zurück. Die zweite zentrale Frage betrifft die Vorausset- ologie kritisiert Brather, dass sie homogene Verhältnisse zungen für eine ethnische Interpretation (S. 5). Kapitel voraussetzen und bezweifelt, dass eine solche Teilung I »Fragestellung« wirft allerdings weniger Fragen auf, der gemeinsamen Lebenswelt gerecht wird, weil die sondern beschreibt mehr die Gliederung der Studie. Gruppen sich eben nicht als einheitliche und abge- Mehrmals weist Brather darauf hin, dass er die Fragen grenzte Blöcke gegenüberstünden, sondern die Ent- neu und anders stellen möchte (S. 7; 27; 31; 353) und wicklung gemeinsam vollzogen (S. 71 f.; 564). Brather das Problem in der Fragestellung liege (u. a. S. 294). übersieht, dass die ethnische Fragestellung immer dann 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 464

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aktuell wird, wenn solche Blöcke erstmals zusammen- Übergangsphasen können Identitäten rasch wechseln treffen und durchaus noch als jeweils homogen betrach- (S.108). Um die Vielfalt ethnischer Identitäten zu erklä- tet werden dürfen. Entscheidender ist für ihn, dass die ren, bedient sich der Verfasser bei der Ethnosoziologie Annahme einer einheitlichen, scharf umgrenzten archä- (S. 109 f.). Ethnische Identitäten entstehen durch histo- ologischen Kultur in deutlichem Widerspruch zu heu - ri sche Prozesse (S. 111); sie differieren je nach histori- tigen ethnosoziologischen Modellen steht, die innere schem und regionalem Kontext (S. 156). Gesellschaften Abstufungen und uneinheitliche Veränderungen beto- brauchen die Erinnerung an ihre Vergangenheit zur nen. Diese Binnendifferenzierung der Gesellschaften Selbstdefinition (S. 115). Die Rolle ethnischer Identitä- bereite auch Akkulturationskonzepten große Schwierig- ten im Alltag der meisten Menschen ist nicht abzuschät- keiten, soweit sie wechselseitige Beeinflussung auf der zen (S.113). Basis abgegrenzter Kulturen zu ermitteln suchen (S. 74). Die Kernfrage, »wieweit lassen sich ethnische Identi- Der zweite Ansatz betrachtet archäologische Kultu- täten im archäologischen Fundgut wieder finden?«, wird ren als beschreibende Ordnungsbegriffe. Da von einem mehrfach umkreist. Das Problem ist, dass die ermittel- ständigen kulturellen Wandel sowie unterschiedlich ver- ten Zeichen auch in den Augen der Zeitgenossen irgend breiteten Kulturelementen auszugehen sei, seien archäo- eine Rolle bei der ethnischen Identifizierung gespielt logische Kulturen ein Gebilde – Brather verwendet da- haben sollten. Die antiken Ethnographien bieten keinen für gern das Fremdwort Konstrukt – der Wissenschaft Einblick in ethnische Identitäten (Kap. IV,7; S. 163). (S. 162; 526), deren Bedeutung für die Zeitgenossen Völkernamen wie Kelten, Germanen und Slawen sind sich nicht beurteilen lasse (S. 581). Nach seiner Ansicht Oberbegriffe der antiken Ethnographie (S. 131; 225; sollten nur langfristige Entwicklungen im Mittelpunkt 228). Erst im frühen Mittelalter operieren alle zeit- archäologischer Interpretationen stehen, quasi das Fun- ge nössischen Quellen mit ethnischen Bezeichnungen dament, auf dem sich die politische Geschichte abspielt (Kap. IV,8). Die Frage ist allerdings, wer oder was jeweils (S. 75 und Kap. VI). gemeint war (S. 141 f.). Die ethnischen Bezeichnungen Um archäologisches Material ethnisch zu interpretie- sind mehrdeutig, die Terminologie schwankt; gebiets - ren, müsse geklärt werden, unter welchen Bedingungen bezogene Gruppenidentitäten können nicht schlüssig ethnische Zusammengehörigkeitsgefühle überhaupt ent- abgeleitet werden (S. 145). Zum Beispiel verbergen sich stehen, wie sich soziale und ethnische Gruppen dar- hin ter Franken, abhängig von Zeit und Situation, ver- stellen und erkennbar werden (S. 6 f.; Kap. IV). Unter schie dene Bedeutungen (S. 156; 193). Unbestritten Identität wird eine subjektive Selbst-Zuordnung, das trafen in Spätantike und frühem Mittelalter verschie- Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit verstanden (S. 97). dene kulturelle Traditionen auf dem Gebiet des Impe- Vorhandene Unterschiede innerhalb einer Gruppe lassen rium Romanum zusammen, bezeichnet Francus einen sich durch Abgrenzung zu anderen ausblenden, nur eth- ingenuus, der für das Heer verfügbar war, Romanus einen nische Identität ist von der Konfrontation mit anderen steuerzahlenden Grundbesitzer (S. 144; 147; 294), doch abhängig (S. 620 f.). Gruppenidentitäten spielen für die bezweifelt Brather, dass sich die Bevölkerung auf zwei historische Entwicklung von Gesellschaften eine wich- homogene, abgegrenzte ethnische Gruppen – Romanen tige Rolle (S. 98), sie sind aber weder homogen noch und Germanen – aufteilen lasse. Wegen der raschen Ak- abgeschlossen (S. 101). Identitäten bilden den Orientie- kulturation können weder Waffengräber noch Beigaben rungsrahmen für soziales Handeln (S.103). Das metho - führende Bestattungen pauschal als germanisch angese- dische Problem der Archäologie bestehe in der Beurtei- hen werden (S. 295), denn es handele sich um Status- lung der Rolle des Einzelnen innerhalb sozialer Gruppen symbole (S. 300). Mit Franken werden im 7.Jh. sowohl (S. 98 mit Abb. 14), aus der sich seine Gruppenbindung regionale soziale Eliten als auch ein übergentiles Herr- ergebe. In den Mittelpunkt des Interesses rückt dann schaftsgebilde (S. 152) bzw. die politische Oberschicht hinsichtlich der ethnischen Identität das Erscheinungs- im Merowingerreich (S. 192) bezeichnet. Noch im 8. Jh. bild von Gruppen (S. 98). Ethnische Identität, auch wird nur eine kleine Gruppe politisch Handelnder als als Gemeinsamkeitsglaube oder kollektives Bewusstsein Franken verstanden (S. 146). Die gentile Identität er- bezeichnet (S. 106) oder als komplexe Vorstellung ge- weist sich meist als Begriff für einen politischen Verband meinsamer Kultur und Abstammung (S. 313), umfasst (S. 157), für eine soziale Elite in Königsnähe bzw. für das eine Gesellschaft, die räumlich und sozial begrenzt ist Heer (S. 148). Die Einseitigkeit der Schriftquellen und (S. 104). Darum siedelt Brather sie auf einer höheren wie die darin unerwähnt bleibenden Unpolitischen zu Ebene an, primär auf der Ebene der politischen und benennen sind, wird nicht weiter diskutiert. Für wech- Ereignisgeschichte (S. 350), von der er annimmt, dass selnde Zuschreibungen von Einzelpersonen wird das sie der Archäologie verschlossen bleibe (S. 520). Ethni- Beispiel eines Herzogs angeführt (S. 149; 290). Ethni- zität stelle die mit Hilfe weniger kultureller Merkmale sche und geographische Termini sind oft vermischt (S.107) definierte soziale Identität dar, die soziale Unter (S. 150), mit Alamannen wird z.B. die regionale Identi- schiede überdecke (S. 164). Repräsentiert wird ethni- tät in einem merowingischen Herzogtum beschrieben sches Bewusstsein oft nur von einer Elite (S.105), wobei (S. 192). Eine Vielzahl von Ethnogenesen vollzog sich in soziale Eliten als Identitätskerne fungieren (S.112). Ent- Spätantike und im frühen Mittelalter auf dem Boden scheidend für ethnische Abgrenzung sind Wahrneh- des Imperiums (S. 154) oder um militärische Anführer mung und Handlung von Gruppen; in Krisen und und Sippenrepräsentanten (S. 155). Aus den Angaben in 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 465

Spätantike und frühes Mittelalter 465

schriftlichen Quellen lassen sich jedoch kaum materielle doch die unterschiedlichsten Gruppierungen, in ethni- Zeichen erschließen, die der Archäologie zugänglich scher, sozialer oder territorialer Hinsicht (S. 257 f.). Brat- wären (S. 158; 315; 318). her unterstellt, dass die Archäologie das Volk der Goten Bei der ethnischen Deutung archäologischer Quellen sicher nicht über mehrere archäologische Kulturen hin- steht fast immer eine räumliche Verbreitung im Mit- weg verfolgen würde (S. 228–231; 255–268), wenn es telpunkt des Interesses (S. 159; 518). Da es Brather die von Jordanes überlieferte Konstruktion gotischer Ge- um grundsätzliche methodische Probleme geht (S.160; schichte nicht gäbe, in der er keine verlässliche Grund- 304 ff.) und er den Versuch ethnischer Interpreta- lage sieht (S. 255; 542). Er verkennt die Tatsache, dass tion unter methodologischem Blickwinkel betrachtet sich vor allem die Forschungen von Volker Bierbrauer (S.161), lautete seine zentrale Frage nicht, wie, sondern auf ein über die Gräber- als auch die Siedlungsarchäolo- ob sich Ethnos und Kultur miteinander verbinden lassen gie erarbeitetes Kulturmodell stützen und es für die Pe- (S. 159; 326). riode, als Goten an das Schwarze Meer zogen und erst- Mit fünf Schwerpunkten versucht er alle in der Ar- mals an die Grenzen des Römischen Reichs stießen, die chäologie erörterten Varianten ethnischer Interpretation schriftlichen Quellen inklusive Jordanes mehr als kärg- zu erfassen (S. 160): Zuweisung von Siedlungsräumen lich sind (Die ethnische Interpretation der Sîntana de bzw. Parallelisierung von Kultur und Ethnos als am wei- Mureş-Černjachov-Kultur. In: G. Gomolka-Fuchs testen verbreitete Variante (Kap. V,9), Kontinuitäten [Hrsg.], Die Sîntana de Mureş-Černjachov-Kultur. (Kap. V,10), Ethnogenese (Kap. V,11), Wanderung (Kap. Akten Internat. Koll. Caputh 1995. Koll. Vor- u. Früh- V,12) und Fremde (Kap. V,13). Als methodisches Pro- gesch. 2 [Bonn 1999] 211–238). Im Fall der Zuwande- blem erweist sich die Zusammenarbeit der drei Diszip- rung nach England im 5. Jh. sind Ausgangs- und Ziel- linen Historiographie, Linguistik und Archäologie, gebiet bekannt, der Weg jedoch unklar. Das Ende des denn jede Disziplin arbeitet mit eigenen Begriffen, wie römischen Britannien erzwang die Entwicklung neuer an den Beispielen Kelten – Hallstatt- und Latène-Kultur Identitäten (S. 268 ff.). Die Möglichkeit, ethnisch (S. 166 ff.), Germanen und Jastorf-Kultur (S. 174 ff.), fremde Personen zu identifizieren, bestehe nur in einem Slawen – Prag-Korčak – und Sukow-Dziedzice-Kultur fremden homogenen Raum. Auch die Koexistenz von (S. 184 ff.) aufgezeigt wird. Als ethnisches Beispiel von größeren Gruppen unterschiedlicher Herkunft sei denk- Stammesverbänden werden Franken und Alamannen bar (S. 276 ff.). Doch über Koexistenz, Abschottung angeführt (S. 192 ff.). Den von Frank Siegmund nach- oder Integration und Akkulturation könne aus archäo- gewiesenen kulturellen Differenzierungen fehle jegliches logischer Sicht meist nur spekuliert werden, weil zwi- Indiz, dass es sich um ethnische Identitäten handele schen individueller Mobilität und kulturellem Austausch (S. 197). Ob kulturelle Veränderungen mit Ethnogenese nicht begründet unterschieden werden könne (S. 282). zusammenhängen und kulturelle Weiterentwicklungen Der Verfasser bemängelt, dass in den merowingerzeitli- mit ethnischer Kontinuität (Kap. V,10–11), wird wie- chen Gräberfeldern von Altenerding, Schretzheim und derum an den Beispielen der Kelten (S. 206 ff.), Germa- Pleidelsheim nur Frauen fremder Herkunft bestimmt nen (S. 210 ff.) und Slawen (S. 213 ff.) besprochen. Die und Fibeln zum entscheidenden Symbol ethnischer Her- Parallelität und Kongruenz von sprachlicher, kultureller kunft stilisiert wurden. Er setzt dagegen, dass gerade und ethnischer Entwicklung wird vor allem bei den Ger- jene ethnisch bezeichneten frühmittelalterlichen Grup- manen in Frage gestellt. Für die Konstituierung aller drei pen, Gruppen von Männern waren (S. 283–286), und Gruppen spielten äußere Einflüsse eine entscheidende übersah, dass sowohl in Schretzheim (U. Koch, Das Rolle, Akkulturationen und Fremdwahrnehmungen Reihengräberfeld bei Schretzheim [Berlin1977] 188) als dürften parallel verlaufen sein (S. 217 f.). Allein kultu- auch Pleidelsheim (U. Koch, Das alamannisch-fränki- relle Kontinuität reiche aber nicht aus, um den Zeit- sche Gräberfeld bei Pleidelsheim [Stuttgart 2001] 384) punkt der Ethnogenese zu bestimmen (S. 218). Auch von Familien die Rede ist, weil auch in Männergräbern wenn diese sprachlich definierten Großgruppen von der Hinweise auf die fremde Herkunft vorhanden sind. We- Archäologie mit umfassenden Kulturräumern identifi- sentlich besser identifizierte mittlerweile Max Martin ziert werden, dürfen diese mangels Bewusstsein einer die thüringischen Männer (Thüringer in Schretzheim. Zusammengehörigkeit nicht als Ethnien bezeichnet wer- In: Reliquiae Gentium. Festschr. Horst Wolfgang den (S. 219; 228). Um Ethnien kann es sich nur bei ein- Böhme 1 [Rahden 2005] 285–302) und zeigte einmal zelnen keltischen, germanischen oder slawischen gentes mehr, wie viel weiter der Weg von unten, die sorgfältige handeln (S. 219 f.). Die Alamannen sind ein gutes Bei- und genaue Analyse archäologischer Quellen, führt. spiel, wie unterschiedlich Ethnogenese beurteilt werden Brather bestreitet auch nicht, dass es im frühen Mittel- kann. Entweder gab es hier mehrere Ethnogenesen oder alter Wanderungen und Umsiedlungen gab und diese einen nie abgeschlossenen kontinuierlichen Prozess; im ihre Spuren hinterlassen haben können, doch bleibe das archäologischen Fundmaterial spiegele sich dieser aber methodische Problem, Erklärungsmöglichkeiten be- allenfalls in Ansätzen wieder (S. 232–236). Die unter- gründet zu unterscheiden (S. 287). Ich kann nur immer schiedliche Bewertung archäologischer Quellen im Hin- wieder darauf hinweisen, dass eine der wichtigsten Vor- blick auf Wanderungen hänge stets mit den Aussagen raussetzungen für jegliche Interpretation die Sorgfalt bei schriftlicher Quellen zusammen, dies gelte bereits für die der chronologischen Zuordnung ist. So rechnet Brather Kelten (S. 240–248). Der Goten-Name verbinde je- nach Eingliederung des Thüringerreiches und der Ala- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 466

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mannen in das Merowingerreich mit sozialen Aus- eignisgeschichte (S. 339). Regelmäßigkeiten und Über- gleichs- und Anpassungsprozessen, und die beiden Her- einstimmungen (S. 343), längerfristige Entwicklungen zöge Leuthari und Butilin müssen wieder einmal für und Strukturen (S. 352 f.) lassen sich mit archäologi- den Fortbestand einer sozialen, sich dann vollständig schem Material erfassen; der abweichende Einzelfall ent- fränkisch gebenden Elite in der Alamannia herhalten ziehe sich dagegen individuellen Erklärungen. Mir (S. 289 f.). Warum wird nicht unterschieden zwischen leuchtet nicht ein, warum erkennbare kurzfristige Pro- dem nach kriegerischen Auseinandersetzungen bereits zesse im archäologischen Material ausgeklammert wer- zu Beginn des 6. Jhs. dem Frankenreich angegliederten den sollen, warum in einem Gräberfeld ganz individuelle alamannischen Gebiet in Nordwürttemberg und Nord- Erscheinungen nicht als solche angesprochen und erklärt baden, wo die reichen Grablegen abbrechen, und der werden dürfen, was in der ersten Generation natürlich 536/37 von den Ostgoten übernommenen Alamannia? immer auch Überlegungen zur Herkunft einschließt. Erst zu diesem späteren Zeitpunkt tauchten die vorneh- Brather verlangt eine Fragstellung, die strukturelle Ver- men Brüder auf (Quellen zur Geschichte der Alaman- hältnisse in den Mittelpunkt rückt (S. 353 f.; 514). Denn nen 5 [Sigmaringen 1983] 22). eine strukturelle Betrachtungsweise argumentiere auf Brather vermisst bei den bisherigen ethnischen Inter- einer quellennäheren und allgemeineren Basis, dadurch pretationen von archäologischem Material systematische würden die nicht zu einem befriedigenden Ergebnis ge- Anwendungen theoretischer Modelle (S. 304) und vor lan genden Diskussionen um historische Erklärungen und allem den Zugang zum Selbstverständnis der Zeitgenos- ethnische Deutungen vermieden und die Aussagekraft sen (S. 305 f.; 519). Auch durch eine Kombination meh- der Quellen nicht überstrapaziert (S. 514; 521; 532). rerer kultureller Merkmale würden Stammesverbände In diesem Sinne handelt er die archäologischen Quel- nur diffus und variabel identifiziert (S. 306 ff.). Bei den len – Gräber, Siedlungen, Hortfunde – unter verschie- Einzelobjekten bleibe das Problem, ob überhaupt ma - denen Gesichtspunkten noch einmal ab (S. 354–513). terielle Symbole ethnisch gebraucht wurden (S. 310; Auch dieses Kapitel enthält so manche nicht zutreffende 567ff.). Er ist der Meinung, dass Kleidung bei weitem Behauptung und Ungenauigkeit. Nur ein Beispiel, wo es nicht das wichtigste Mittel war, ethnische Identität mit- um die kulturelle und soziale Bedeutung des Essens und zuteilen, sondern vor allem sozialen Rang demonstrieren Trinkens geht, um das Mahl und den Kreis der Beteilig- sollte (S. 314). Und weil es in schriftlichen Quellen keine ten. »Die Grabfunde machen deutlich, dass dies eine Hinweise auf ethnische Symbole gibt, seien solche auch Welt der Männer war.« Dem widersprechen die Grab- archäologisch nicht zu finden (S. 317 f.; 569 f.; 577). beigaben wie Bronzebecken und Holzeimer, die zur Aus- Da ethnischen Interpretationen keine aus der Archä- stattung eines großen Mahles gehörten, aber nicht nur in ologie entwickelten Fragestellungen zu Grunde liegen Männergräbern vorkommen, sondern auch in den Grä- (S. 319), versucht der Autor nun, die Interpretations- bern zahlreicher wohlhabender Frauen an Rhein und möglichkeiten der Archäologie grundsätzlich zu klären. Neckar; ich zähle sie im 6. Jh. zu den Statussymbolen Das umfangreichste Kapitel VI (S. 323–577) ist den einer Hofherrin (zuletzt: Frauen in verantwortungsvoller strukturellen Alternativen gewidmet. Es enthält zu- Position: drei Frauen – zwei Gräber von Mannheim-Vo- nächst zahlreiche Wiederholungen aus den vorangegan- gelstang. In: Reliquiae Gentium. Studia Honoraria 23. genen Kapiteln und befasst sich dann überwiegend mit Festschr. Horst-Wolfgang Böhme 1 [Rahden/Westf. so grundlegenden Eigenschaften und Aussagemöglich- 2005] 263–272). Das umfangreiche Kapitel VI stützt keiten der Archäologie, wie sie in Proseminaren bespro- sich nicht – wie die Einführung in die Vor- und Frühge- chen werden sollten: Wenn geordnetes und zusammen- schichte von Hans-Jürgen Eggers – auf eigene archäolo- gefasstes archäologisches Material historisch interpretiert gische Untersuchungen, sondern ist eine fleißige Litera- wird, können räumliche und zeitliche Entwicklungen turrecherche. Das zeigen zum einen sehr deutlich die beschrieben werden, sie enthalten Wirtschafts-, Ver- eingestreuten Tabellen und Graphiken, die alle den Hin- kehrs-, Kulturräume, Werkstattkreise, Technikbereiche, weis auf eine fremde Herkunft enthalten, zum anderen Sozialstrukturen und Lebensverhältnisse (S. 8; 330). der umfangreiche Anmerkungsapparat mit entspre- Doch einen methodischen oder inhaltlichen Zusam- chend langer Literaturliste, in der Materialeditionen menhang mit Ethnos, dem Niederschlag eines subjekti- nicht gerade überwiegen. Neu ist Tabelle 18 mit einer ven Gruppenbewusstseins, sieht Brather nicht und fragt Gegenüberstellung der Interpretationsmöglichkeiten sich, ob ethnische Identitäten überhaupt ein Thema der und -ziele einer strukturellen Betrachtung einerseits und archäologischen Forschung sein können (S. 8; Kap. VI), eines auf den Einzelfall zielenden historistischen Ansat- denn dem Charakter archäologischer Quellen würde zes andererseits (S. 515). eine solche Fragestellung nicht gerecht (S. 323). Über Brather möchte die frühgeschichtliche Gesellschaft geistige Kultur, soziale Abgrenzungen, religiöse Vorstel- gern gleichzeitig unter mehreren Perspektiven betrach- lungen, politische Verbände, rechtliche Konzepte gäben ten, der Vielzahl von einwirkenden Faktoren Rechnung archäologische Quellen nur mehrfach gefiltert fragmen- tragen und stets bedenken, wie kompliziert und mehr- tarische Auskunft (S. 335). Die Sozial-, Wirtschafts- schichtig historische Prozesse sind (S. 518 f.; 627). Er (S. 336 f.) und Kulturgeschichte (S. 351), auch die All- möchte bei historischen Interpretationen im Rahmen täglichkeiten des Alltags sind zugänglich (S. 338; 353), der Möglichkeiten bleiben, d. h. strukturelle Bedingun- außen vor bleibe der Bereich des Politischen und die Er- gen untersuchen (S. 523). Er will ethnische Deutung 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 467

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nicht gegen strukturgeschichtliche Erklärungen ausspie- tungsweise erscheine es wichtiger, was Kommunikation len, sondern gegeneinander abwägen (S. 525); groß ist und Austausch in der jeweiligen Gesellschaft bewirkten der Unterschied hier wohl nicht. Dazu stellt er ein Mo- (S. 558). Häufigkeit und Vorbildwirkung fremder Ob- dell vor, mit der Ordnung des Fundmaterials in der jekte seien zu berücksichtigen, um die relative Bedeu- ersten Ebene, den strukturgeschichtlichen Erklärungen tung für die einheimischen Verhältnisse abzuschätzen in der zweiten Ebene und einem eingeschränkten Zu- (S. 565). Fremde Objekte oder Kleidung und abwei- gang zur dritten Ebene mit den Ereignissen (S. 521 f. chende Bestattungssitten oder Bauweisen sind als fremde Abb. 85). Nach der Feststellung, dass Kartierungen von Beeinflussung zu werten (S. 559). Eine begründete Ent- Funden Siedlungsareale und Kommunikationen wider- scheidung zwischen fremder Person oder Fremdgut hält spiegeln, Ethnien Kommunikationsgemeinschaften sind der Autor auch im Einzelfall für kaum möglich (S. 562). und zwischen Gemeinsamkeitsglauben und Sachkultur Er räumt zwar ein, wenn man nicht nur Kleidung, son- eine lockere, mittelbare und indirekte Beziehung exis- dern auch die Anlage des Grabes, also den Gesamtbe- tiert, stellt er noch einmal die Frage, welche Züge der fund zum Ausgangspunkt macht – was eigentlich eine materiellen Kultur für die hypothetische Abgrenzung Selbstverständlichkeit sein sollte – so könnten sich die ethnischer Gruppen zu berücksichtigen sind (S. 532). Hinweise auf fremde Herkunft verdichten, zieht dann Auszuschließen sind Verbreitungsbilder, die von wirt- aber gleich wieder zurück (S. 563), denn Gräber wurden schaftlichen Faktoren bestimmt sind (S. 533), das be- von Hinterbliebenen angelegt, und ob diese die Regeln trifft auch Kleidungsbestandteile, solange keine Klar- noch kannten? Auch wenn verschiedene kulturelle heit über Produktion und Vertrieb besteht (S. 534). Weil Traditionen auszumachen sind, bleibe das Problem, kul- ethnisches Selbstverständnis als Verhalten anderen ge- turelle Merkmale eindeutig zuzuweisen (S. 564). Auf- genüber zu verstehen ist, könne es nicht aus Totenritua- schlussreich seien auch nicht die vermuteten ethnischen len, dem Umgang mit den eigenen Toten, erschlossen Unterschiede, sondern die sozialen, wirtschaftlichen und werden (S. 534 f.). Warum gerade Totenrituale, die mit kulturellen Möglichkeiten, die sich den Menschen unge- Traditionen derartig behaftet sind, keine ethnischen Un- achtet ihrer Herkunft innerhalb ihrer gemeinsamen Le- terschiede erkennen lassen, leuchtet wohl kaum ein. benswelt böten (S. 564). Der ethnischen Identität käme Dann wird weiter theoretisiert: dass es sinnlos sei, nach für die meisten Zeitgenossen allenfalls eine sekundäre Abgrenzungen zu suchen, da sich Kulturräume weder als Bedeutung zu (S. 566). Eine eventuell von der ethni- homogen noch abgegrenzt erweisen (536 f.), dass sich schen Herkunft abhängige soziale oder wirtschaftliche kulturelle und ethnische Identität nicht parallelisieren Stellung wird nicht erwogen. lassen, auch nicht mit archäologisch nachweisbarer Be- Dass eine Identifizierung regionaler Gruppen mit Zu- völkerungskontinuität (S. 537–544). Die Frage, was mit sammengehörigkeitsgefühl, also Ethnien, allein mit ar- ethnischen Kontinuitäten im Einzelfall gemeint sei, zeigt chäologischen Methoden nicht möglich sein kann, soll das ganze Dilemma, denn biologisch wie kulturell seien ein Ausflug in die Prähistorie untermauern (S. 8 f.; Kap. Kontinuitäten ja die Regel (S. 541). Und das Ergebnis: VII), bevor die einzelnen Kapitel ausführlich zusam- eine Kultur lässt sich nicht über Kontinuitäten, sondern mengefasst werden (S. 615–631). Verdienstvoll ist ein nur regionen- und zeitspezifisch beschreiben (S. 544). angehängtes Personen-, Orts- und Sachregister. Ein Problem der Archäologie sei, dass sich neu entste- Wie ich eingangs erwähnte, demonstrierte Brather hende bzw. entstandene Identitäten nicht in der Sach- (Kleidung und Identität im Grab. Gruppierungen inner- kultur niederschlagen müssen (S. 547). Dies Problem halb der Bevölkerung Pleidelsheims zur Merowinger- hat allerdings nur, wer vom theoretischen Modell her zeit. Zeitschr. Arch. Mittelalter 32, 2004, 1–58) seine kommt, nicht wer von den Funden und Befunden aus- strukturelle Betrachtungsweise jüngst am Beispiel Plei- geht! delsheim. Er kam zu dem Ergebnis, dass Kleidung und Ethnische Gruppen bildeten sich meist allmählich, Waffen Gruppenzuordnungen und Rollenverteilungen daher hängen Kontinuitäten und Ethnogenese eng zu- sichtbar werden lassen und dass das Lebensalter die sammen. Für die Archäologie sei es interessant, die kul- Grabausstattung ganz entscheidend beeinflusste. Um die turellen Veränderungen in struktureller Hinsicht zu be- nötigen statistisch relevanten Größen zu erreichen, wur- obachten. Art und Weise der Veränderungen würden den statt der SD-Phasen 1–10, die den etwa zehn im dann Rückschlüsse auf die Dynamik der Kulturent- Gräberfeld beobachteten Generationen entsprechen wicklung erlauben (S. 549 ff.). (U. Koch, Das alamannisch-fränkische Gräberfeld bei Ein weiterer Punkt in den Überlegungen über ethni- Pleidelsheim, Kr. Ludwigsburg [Stuttgart 2001]), nur sche Deutung oder strukturgeschichtliche Erklärung be- drei zwar gebräuchliche, aber in diesem Fall doch recht trifft die Wanderungen. Aus unterschiedlichen Gründen willkürlich eingesetzte Zeitphasen unterschieden. Das waren selten Einzelpersonen mobil, mobil waren in der nimmt natürlich jede Möglichkeit einer differenzierteren Regel Teile von Populationen, die sich an traditionelle Beobachtung. So ergaben Kartierungen auf dem Grä- Bahnen hielten (S. 551 ff. mit Abb. 88). Eindeutige Kri- berfeldplan, wie z. B. alle Familien, alle Gefäße, alle terien, Wanderungen und Güteraustausch auseinander Fibeln, alle Waffen oder die in nur drei Gruppen zu- zu halten, gebe es nicht (S. 554 Tab. 21). Kleinräumige sammengefasste Grabarchitektur, keinerlei Sinn. Es sind Verschiebungen blieben im archäologischen Fund ohne- eben nicht alle 285 innerhalb von etwa 200 Jahren an- hin unentdeckt (S. 557). Bei einer strukturellen Betrach - gelegten Gräber als Einheit zu betrachten. In Pleidels- 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 468

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heim bestatteten in den ersten drei Phasen bis zu drei welcher Realität sollen sich diese denn annähern? Wenn Familien, dann in SD-Phase 4 nur eine Familie, was der Hiatus auf dem Bestattungsplatz bei Pleidelsheim, nicht allein mit der Ausschnitthaftigkeit des Gräberfel- den nur eine Familie von geringer Wirtschaftskraft über- des zu erklären ist. Im Unterschied zu vielen anderen brückt, nicht übersehen wird, erübrigen sich z. B. Über- Gräberfeldern aus der alamannischen Periode in Nord- legungen, ob es zwischen dem Herrn mit Goldgriff- württemberg und Nordbaden bricht das Gräberfeld bei spatha in Grab 71 (SD Phase 3) und dem Herrn in dem Pleidelsheim mit dem Ende von SD-Phase 3 nicht völlig extrem tiefen, aber beraubten Kammergrab 247 (SD- ab, aber teilweise. Dann beginnt ab SD-Phase 5, d. h. in Phase 5) eine Verbindung gab und ob es sich bei letzte- der Zeit König Theudeberts (533–548), auf dem glei- rem um einen der einheimischen Alamannen handele, chen Areal ein Reihengräberfeld, auf dem nun bis zu »die aufgrund ihrer Loyalität neuen Herrn gegenüber fünf fassbare Familien bestatteten, darunter auch die seit im Amt blieben« – was letztendlich auch eine ethnische alamannischer Periode ansässige. Auch unter strukturel- Zuordnung ist. len Gesichtspunkten sollte jedes dieser beiden zu gro- Ethnische Deutungen bleiben zwar bei Brather eine ßen Teilen übereinander liegenden Gräberfelder für sich unter vielen denkbaren – und auf über 600 Seiten mehr- betrachtet werden, allein das würde sicher schon zu fach wiederholten – Möglichkeiten historischer Inter- wesentlich befriedigenderen Ergebnissen führen. Wenn pre tation archäologischen Materials, werden aber abge- Inventare »nicht so eng und unmittelbar an die Herkunft lehnt, da sie sich von den archäologischen Quellen viel der Bestatteten gebunden« gesehen werden und wenn weiter als strukturgeschichtliche Interpretationen ent- »in gewissen Grenzen flexible Identitäten und Orientie- fernen. rungen der Zeitgenossen für möglich« gehalten werden, werden zwar alternative Interpretationen denkbar, aber Heroldsberg Ursula Koch

NACHLEBEN UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Vinnie Nørskov, Greek Vases in New Contexts. The lection of Cardinal Gualtieri, left to the Vatican in 1728, Collecting and Trading of Greek Vases – An Aspect of and the Mastrilli-collection in Naples, seen by Winckel- the Modern Reception of Antiquity. Aarhus University mann and in 1766 bought by Sir William Hamilton. Press, Aarhus 2002. 407 Seiten, 87 Abbildungen, 17 Due to the influence of these two men the tradition of Tafeln, 3 Appendices. collecting Greek vases spread to the rest of Europe. The publication of the Hamilton-collection by d’Hancarville The purpose of this interesting book is to explore the made them attractive collector’s items. In 1828 the exca- most recent developments in the tradition of collecting vations of Vulci by Lucien Bonaparte, Prince of Canino, Greek vases, in order to examine how these changes recovering more than 3000 Athenian vases caused a col- have taken place. This study is based on the assumption lecting fever all over Europe. that the change of the scholarly approach to Greek ce- In the second half of the 19th century the methodol- ramics after World War II and the increasing focus on ogy of archaeology developed and archaeological studies unauthorised excavation of archaeological sites have in- were introduced in the universities. The museums be- fluenced the collecting and perception of Greek vases. came research centres. Vinnie Nørskov hopes that her book contributes to the The growing collections demanded systematical pub- discussions on modern collecting and will be a basis for lication and exhibition. A chronological sequence be- gaining a deeper understanding of the scale of it and the came the standard, urging a new kind of acquisition: to problems involved. obtain a complete sequence museums wanted to fill To show how modern treasure hunting and the loot- ‘holes’ in their collections. ing of archaeological sites have their roots in the history In the 20th century the study collection was an impor- of collecting and trading of Greek vases, the author de- tant innovation. Sherds that were not suitable for exhi- votes two chapters to historical aspects. Ancient ceram- bition could be used in teaching and for study purposes. ics were known in the 13th century and were kept in the The studies concentrated on production centres and the Italian cabinets of curiosities of the 16th and 17th century. individual vase painter. J. D. Beazley was able to distin- But in the 18th century painted vases, then thought to be guish many different painters and schools. In France Etruscan, were mentioned and published in scholarly iconological studies focused on the relationship between books. Real vase collections were created now, as the col- representation and reality moving from the producer of 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 469

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the painting to the viewer. The same is seen in the stud- duced painted vases in Northern Europe, the National ies on trade and distribution of the products. Museum of Copenhagen, which has its roots in a Where art is collected there are art dealers. First the princely collection, the Metropolitan Museum of New trade was limited to Italy, but later the royalty of North- York, which is one of the first and most important mu- ern Europe started to collect, buying objects from Italian seums of the United States, the Ny Carlsberg Glypto- collections of impoverished heirs. In 1624 a decree was tek in Copenhagen, chosen as an example of a museum issued introducing license requirements for excavations built up by industrialists, the Antiken Museum and the and export of antiquities. Many laws followed, none of Sammlung Ludwig in Basel, founded after World which was effective. Greek vases became an attractive War II, the Ashmolean Museum in Oxford, the earliest souvenir for travellers and in Italy the prices increased. University collection and important because of the in- This was not the case in Northern Europe as Hamilton fluence of J. D. Beazley, the Antikensammlung in Kiel, discovered when he tried to sell his second collection. founded when classical archaeology was introduced as In Greece, where it had been easy to obtain a licence an independent study, and the Duke Classical Collec- for excavations and export from the Turkish Sultan, tion in Durham, North Carolina, a small collection things changed after the War of Independence. In 1834 founded after World War II. The analysis of the collec- the first law preventing random excavation and export tions is based on the registration of all vases acquired of antiquities passed. In where the rules were by the respective collections, with special attention for generous for foreign excavators a new antiquities law the post-war acquisitions. Interviews with the curators prohibiting export was introduced in 1884. (Appendix A) give also important information on this In the 19th century commercial interests guided most subject. of the excavations. A scholarly catalogue and an exhibi- The author also gives a short introduction in the his- tion proved to be good marketing. There were many tory of each museum and its way to exhibit the objects. trained archaeologists working as art dealers in Rome, as This is not the place to give all the details, but in general Hartwig, Hauser and Pollak who did research in the there is a development from an exhibition based on ma- field of attributions, maybe to increase the appreciation terial to a chronological exhibition, sometimes within a and the value of the vases. The price of the vases went geographical frame. Research done on a particular group up when America entered the market, but with the crash of objects could upgrade it and cause the creation of a of the stock market in 1929 the antiquities market came special room devoted to this subject. to a low point, to recover only after World War II. That the historical and cultural contexts of the ob- In the first half of the 20th century the protection of jects become more important after 1970 is also seen in cultural heritage was considered a national problem. But the fact that the vases were often shown in a thematic ex- after the war there was an internationalisation with the hibition, which offers a reconstruction of a context. This “The Hague Convention for the Protection of Cultural attention for the context and provenance had also influ- Property in the Event of Armed Conflict” of 1954 and ence on the acquisition policy. The directors and cura- the “UNESCO’s Convention on the Means of Prohibit- tors had great influence on the acquisition and the exhi- ing and Preventing the Illicit Import, Export, and Trans- bition of the objects. Some were very keen on the legal fer of Ownership of Cultural Property” of 1970. The provenance of the pieces, while others had fewer prob- prevention of the looting of archaeological sites is in the lems with the art market. interest of everyone like the preservation of the environ- In chapter 5, “A look at the market”, the author gives ment. But in the meanwhile antiquities are seen as pos- a survey of the most important dealers and auction session and investment, which is the reason that archae- houses followed by an analysis of vases put up for sale on ological sites still are looted. There are four responsible the antiquities market from 1954 to 1998, based on 596 parties: the source countries, who do not protect their catalogues from auction houses and antiquities dealers in sites, the dealers who buy objects from clandestine exca- Europe and the United States. More than 18.000 paint - vations, the collectors who create the market for un- ed Greek vases from the Geometric to the Hellenistic pe- provenanced objects and the scholars and museums riod (excluding prehistoric, Cypriot, black-glazed and who neglect the contextual value. All agree that looting bucchero ware) are registered. The statistics show a con- is negative, but the archaeologists and source countries tinuous increase in the supply of vases, with the 1980s blame the trade and the collectors and make the regula- as the most intensive period and a marked reduction in tions more severe, while the art dealers wish a more lib- the number of vases offered in the 1990s. All vases with eral policy, with a system of export licences. a reference to earlier owners (with names or anony- The heart of the book is formed by eight case studies mous), to publications or to a possible find spot, have of museums with vase collections. Questions asked are been grouped under the category ‘provenanced’, the rest how has the collecting of Greek vases been carried out was grouped under the category ‘unprovenanced’. Until during the last 50 years, what kind of objects have been the 1990s 80–90 % of the vases was without prove- collected, which criteria have been decisive for acquisi- nance, after 1991 the percentage became 50%. tions and how are the vases presented to the public? In the 1990s the Gulf crisis and the lack of import- The eight museums are the British Museum in London, ant objects had their influence on the market. Smaller, the first public museum and the first museum that intro- less important pieces remained unsold, while the top 12_Besprechungen_Rev 379-470 drh:Layout 1 16.11.2006 17:08 Uhr Seite 470

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pieces, seen as an investment, were sold for high prices. the work of a curator in different types of museums. Rarity, quality of drawing, provenance, attribution and Appendix B and C consist of tables with the numbers preservation were the most important criteria for top and percentages of vases on the market and a list of the prices. 172 most expensive vases sold. The conclusion of the book is that the tradition of This book is a highly interesting study and should be collecting Greek vases had been closely connected to read by anyone dealing with collecting Greek vases, pri- the changes in scholarly interests and approaches. The vate collectors and especially museum curators. curator will always try to improve and enlarge the col- For museum curators it is enlightening to compare lection of the museum by acquisitions and loans and his the history of their own museum with the general ten- choice based on his scholarly interest is the most impor- dencies described in this book. It makes one conscious tant factor. of the powers that influenced the acquisition and the ex- Private collections are often the foundation on which hibition of the objects. In the case of ‘my’ museum, the museum collections are built. In that case the collector Allard Pierson Museum, the archaeological Museum of made the selection (although sometimes with the inten- the University of Amsterdam, I recognised many resem - tion to give the object to the museum and guided by the blances. One little point: the museum has been founded museum staff ). There are many reasons why people col- in 1934, when the collection of Museum Scheurleer in lect Greek vases, but mostly they do it for the originality The Hague was bought by the Allard Pierson Founda- and the quality of the shape and decoration. From the tion and given to the University of Amsterdam, and not 1970s the curator’s choice began to differ from the col- in 1921 (p. 204, Table 11). lector’s choice. The interest in the archaeological context The tables with numbers and percentages of vases on and provenance in combination with financial problems the market give food for reflection. Although the num- led to a decrease of acquisitions and sometimes to the ber of unprovenanced vases has been diminished, it is development of an acquisition policy. Most curators are still the greater part. And for many provenanced vases members of ICOM and observe the ethical rules set up the only provenance is the name of the former owner, by it. Especially when a curator is active in excavation which says nothing on the archaeological context. Most projects he is keen on a find context and legal prove- museums keep themselves to the ICOM rules or their nance. So here too the scholarly activity of the curator is own acquisition policy when they buy objects, but for decisive. private collectors the aesthetic value is more important, After World War II it took more than ten years before so most of the objects on the market will go to private museums started to change their displays. The museums collections. More severe rules for the art market will not became more public-orientated. First they reduced the prevent the trade of illegal excavated objects as history number of exhibited objects, making primary and sec- has pointed out. ondary rooms. In the primary rooms the general public Creating a better understanding with the private col- could admire the highlights, while the professional had lectors for the importance of the archaeological context admittance to the rest of the collection in the secondary will be the first and most important step. Therefore pri- rooms. Later the thematic displays offered more infor- vate collectors should read this book also. But, learning mation on special subjects to the visitor. from this book that through the ages the scholarly ap- Therefore the museums are changing their policy in proach to Greek ceramics has influenced the collecting, acquisition and exhibition. But for the private collectors maybe the museums and curators also have work to do the historical context of an object is still less important here, not only by giving the good example by developing than its aesthetic value, except that objects with a prove- a strict acquisition policy for themselves and their bene- nance are more expensive. Maybe the ‘cult of the origi- factors, but also by organizing exhibitions which give full nal’ is coming to an end. There is already more interest attention to the archaeological and historical context of in the old cast collections and copies of Greek vases. the objects to make the public conscious of the impor- The book ends with three appendices. In Appendix A tance of it. you will find the interviews with the curators of the mu- seums which are treated. They give a nice inside view in Amsterdam Geralda Jurriaans Helle