Einsicht 03 Bulletin des Fritz Bauer Instituts

Hannah Arendt Fritz Bauer Institut und die Frankfurter Schule Geschichte und MMitit BeiträgenBeiträgen vonvon LLilianeiliane WWeissberg,eissberg, Wirkung des Holocaust MMonikaonika BBolloll uundnd Ann-KathrinAnn-Kathrin PollmannPollmann Editorial

haben wir uns in einer Ringvorlesung den zentralen Exponenten die- ser Auseinandersetzung zugewandt: Peter Szondi, Karl Löwith, Jacob Taubes, Ernst Bloch und anderen. Unsere Gastprofessorin, Prof. Dr. Liliane Weissberg, hat in einem Seminar Hannah Arendts umstrittene These von der »Banalität des Bösen« neu beleuchtet, während das Jüdische Museum sich mit den Rückkehrern der »Frankfurter Schu- le« (Horkheimer, Adorno, Pollock u.a.) beschäftigte. Im Rahmen ei- ner internationalen Tagung führte Liliane Weissberg die beiden The- men »Hannah Arendt« und »Frankfurter Schule« zusammen. Zwei der dort gehaltenen Vorträge drucken wir in diesem Heft ab. Sie werden ergänzt durch einen Artikel zu Günther Anders, dessen Überlegungen zu »Auschwitz« und »Hiroshima« einen deutlich anderen Denkansatz in dieser deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte darstellen. Liebe Leserinnen und Leser, Die vom Fritz Bauer Institut gemeinsam mit dem Jüdischen Mu- seum Frankfurt, dem Deutschen Filminstitut – DIF und CineGraph die Herbstausgabe unseres Bulletins, – Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V. organisierte Jah- Einsicht 02, war dem Prozess gegen John restagung der Arbeitsgruppe »Cinematographie des Holocaust« fand Demjanjuk gewidmet. Die Gerichts- dieses Jahr im Jüdischen Museum statt und hatte Benjamin Murmel- verhandlung in München hat erst nach stein (1905–1989) zum Thema. Der Rabbiner, Althistoriker, Gelehr- dem Erscheinen unseres Heftes begon- te und umstrittene letzte »Judenälteste« von Theresienstadt gewährte nen, sodass wir uns darin vor allem auf 1975 in Rom – zur Vorbereitung seines Shoah- die Vorgänge, die zum Schwurgerichts- Films – ein 11-stündiges Interview. Keine Minute daraus fand Eingang »Eine neue Studie untersucht verfahren geführt haben, sowie auf den in SHOAH (1985). Murmelstein war in den 1950er und 1960er Jahren Prozess gegen Demjanjuk in von Gershom Scholem und Hannah Arendt als angeblicher jüdischer die sexuellen Übergriffe deutscher konzentrierten. Unterdessen sind am In- Kollaborateur aufgrund seiner Rolle in Theresienstadt scharf angegrif- Soldaten während des Krieges gegen stitut schon mehrere Diskussionsveran- fen worden, bis hin zu der Äußerung, dass er es verdient hätte, aufge- staltungen zu dem laufenden Prozess hängt zu werden. Lanzmanns Interview und die Vorträge auf der Ta- die Sowjetunion – und zerstört durchgeführt worden, auf denen die Vortragenden kontroverse Stand- gung veranschaulichten die besondere Lage, in der sich Murmelstein die Legende von der sauberen punkte zu dem Verfahren vertraten. Es zeigte sich dabei jedenfalls, als Judenältester befand, sie machten die Hintergründe seiner Strate- dass solche Prozesse noch immer – wie schwer sie auch aus juri- gie deutlich und zeigten, wie wenig Handlungsspielräume er und an- .« stischer Sicht zu führen sein mögen – große geschichtspolitische Be- dere von der SS zur Kooperation gezwungene Repräsentanten der ver- Jan Friedmann, Der Spiegel deutung besitzen. Selten wurde über die »Aktion Reinhardt« so viel folgten Juden tatsächlich besaßen. Sie erklärten und relativierten auch und so präzise berichtet. In den Vernichtungslagern Bełżec, Treblin- die Angriffe, die gegen Murmelsteins Person geführt worden waren. 416 Seiten mit 37 Abbildungen ` 32,- ISBN 978-3-86854-220-2 ka und eben Sobibór sind nahezu 2 Millionen Juden und Jüdinnen er- Das Institut wird im Sommer mit Sybille Steinbacher eine der mordet worden. In der Diskussion um Demjanjuk geht es also um die profi liertesten deutschen Holocaustforscherinnen zu Gast haben. Wir Beteiligung an einem der größten Verbrechenskomplexe der Shoah, heißen sie willkommen und sind davon überzeugt, dass sie, genau Von deutschen Truppenangehörigen verübte sexuelle Verbrechen waren in den be- und es ist wichtig, dass diese Verbrechen benannt werden. Gleichzeitig wie Liliane Weissberg im vergangenen Jahr, das Interesse von zahl- setzten Gebieten der Sowjetunion ein weit verbreitetes Phänomen: Soldaten machten wird in dem Münchner Verfahren wohl erstmals einer breiten Öffent- reichen Studierenden auf die Inhalte des Fritz Bauer Instituts lenken lichkeit die Bedeutung der »fremdvölkischen Hilfstruppen« als willi- wird. Das von ihr vorgelegte Programm scheint dies zu garantieren. Frauen zu Opfern sexueller Folter und begingen Vergewaltigungen. ge Werkzeuge der deutschen Mörder vor Augen geführt. Demjanjuk Zum Schluss möchte ich noch auf eine positive Entwicklung Regina Mühlhäuser untersucht sexuelle Gewalt ebenso wie das gesamte Spektrum hatte sich von der SS rekrutieren und im Ausbildungslager hinweisen. Das Fritz Bauer Institut wird ab diesem Frühjahr zwei heterosexueller Aktivitäten von - und SS-Angehörigen im Kontext der zum »Hilfswilligen« ausbilden lassen. Die Thematisierung der »euro- neue Mitarbeiterstellen besetzen können, die der Vorbereitung der damaligen Vorstellungen von Männlichkeit und Sexualität – vom Besuch »geheimer« päischen Komplizenschaft beim deutschen Staatsverbrechen«, so der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums dienen. Durch eine Prostituierter und von Militärbordellen, über Sex im Austausch gegen Schutz oder Holocaust-Überlebende und Historiker Feliks Tych in seiner Rede am großzügige Förderung durch die Hannelore Krempa Stiftung wird Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag, schmälert in nichts die es uns möglich sein, die enge Zusammenarbeit auf diesem Gebiet Lebensmittel, bis hin zu einvernehmlichen Beziehungen, die mitunter dazu führten, deutsche Verantwortung und Schuld für das Menschheitsverbrechen. nun auch durch neue Mitarbeiter zu intensivieren. dass die Männer Heiratsgesuche stellten. Das vorliegende Heft spiegelt in seinen Artikeln die gerade statt- Regina Mühlhäusers Arbeit bietet wertvolle Erkenntnisse, die die bisherigen Forschun- fi ndende Beschäftigung des Fritz Bauer Instituts mit der Reaktion von Prof. Dr. Raphael Gross gen zu den sexuellen Politiken von Wehrmacht und SS erweitern und vertiefen und deutsch-jüdischen Intellektuellen auf den Holocaust. Im Sommer 2009 Frankfurt am Main, im März 2010 unser Verständnis der Verwobenheit von Männlichkeit, Gewalt und Sexualität in Kriegszeiten bereichern. Einsicht 03 Frühjahr 2010 Foto: Helmut Fricke, Frankfurter Allgemeine Zeitung www.Hamburger-Edition.de Inhalt

13 Joachim Perels (Hrsg.), Auschwitz in der deutschen Nachrichten und Berichte Geschichte Information und Kommunikation Neu in der edition text + kritik 13 Joachim Perels, Recht und Autoritarismus. Beiträge zur Theorie realer Demokratie Aus dem Institut 6WHSKDQ 90 Hannah Arendt und die Frankfurter Schule. %UDHVH Tagungsbericht / Elisabeth Gallus 92 NS-Prozesse und die Öffentlichkeit in Deutschland 'LHDQGHUH 1945–1969 / Katharina Rauschenberger (ULQQHUXQJ Stephan Braese -GLVFKH$XWRUHQ LQGHUZHVWGHXWVFKHQ 95 Neue Forschungen zu Geschichte und Wirkung des n 1DFKNULHJVOLWHUDWXU Einsicht e Forschung und Vermittlung Holocaust / Jörg Osterloh u Die andere Erinnerung 96 Trude Simonsohn: Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung Jüdische Autoren in der 16 Hannah Arendt und die Frankfurter Schule. 97 Was bedeutet »Befreiung«? 65. Jahrestag der Befreiung westdeutschen Eine Einleitung / Werner Konitzer von Auschwitz / Sarah Dellmann Nachkriegsliteratur 18 Einschulung. Zur Konferenz »Hannah Arendt und die 98 . Der Prozess vor dem Landgericht Frankfurter Schule« / Liliane Weissberg München II / Werner Lott 596 Seiten, € 36,– Fritz Bauer Institut 24 Hannah Arendt und Max Horkheimer. Konzeptionen des ISBN 978-3-86916-047-4 Judentums zwischen Säkularisierung und Marxismus / Aus dem Förderverein Im Überblick Als sich nach 1945 die deutschsprachige Literatur mit Monika Boll 99 Bericht des Vereinsvorstands / Brigitte Tilmann der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen 4 Das Institut / Mitarbeiter / Gremien 30 Fortschritt und Geschichte. Zum Begriff der Antiquiertheit 100 Christen und Juden. Ein Beitrag zu aktuellen begann, stand die literarische Erinnerung an die Jahre bei Günther Anders / Ann-Kathrin Pollmann Diskussionen / Klaus Schilling 1933–1945 vor enormen Herausforderungen. Das Buch 34 »Vergangenheitsbewältigung« als Strafzweck bei zeichnet an Werken von Grete Weil, Edgar Hilsenrath Völkerverbrechen? / Vasco Reuss Aus Kultur und Wissenschaft und Wolfgang Hildesheimer diesen Komplex nach. 101 Frühwerk von Matisse kehrt nach Frankfurt zurück Veranstaltungen Kommentar 102 Gedenkstätte Neuer Börneplatz um 823 Namen erweitert Halbjahresvorschau 103 Vielfalt wagen? Deutsch-israelischer Jugendaustausch 44 Unrechtsanwälte / Heinrich Senfft 104 Flüchtlingsstimmen. Das AJR Zeitzeugen Archiv 6 Gastprofessur, Dr. Sybille Steinbacher 104 Open Access. FIS Bildung Literaturdatenbank 7 Lehrveranstaltungen 105 Audioscript. Vernichtung der Juden in Dresden 1933–45 Sabina Becker/ 8 Tagungen 105 Online-Portal »Lernen aus der Geschichte« Robert Krause (Hg.) Sabina Becker 9 European Leo Baeck Lecture Series 2010 105 Radio Mikwe. Deutschsprachiges jüdisches Web-Radio Robert Krause (Hg.)

Exil ohne Rückkehr 1933 10 Vorträge zum Themenschwerpunkt »Hannah Arendt Rezensionen kkulturation nach edium der A und die Frankfurter Schule« Literatur als Medium der Literatur als M Buch- und Filmkritiken Akkulturation nach 1933 10 Wanderausstellung »Legalisierter Raub« n e 46 Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen u etwa 300 Seiten Bücher und Filme Ausstellungsangebote ca. € 32,– 48 Rezensionen: Aktuelle Publikationen zur Geschichte Wanderausstellungen des Instituts ISBN 978-3-86916-048-1 und Wirkung des Holocaust

Neuerscheinungen 106 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung Im Mittelpunkt des Bandes steht das deutschsprachige Aktuelle Publikationen des Instituts der Juden in Hessen 1933–1945 literarische Exil nach 1933. Es geht um die Frage, wie 109 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihren Gast- 11 Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.), Ausgerechnet 109 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album ländern auseinandersetzten und beschlossen, dort eine Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Pädagogisches Zentrum neue interkulturelle Identität zu entwickeln. Bundesrepublik Frankfurt am Main 12 Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.), Das »Großdeutsche Reich« und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung 84 Angebote und Beratung in den »angegliederten« Gebieten 86 Führungen, Studientage und Veranstaltungen Publikationen 12 Christoph Jahr, Antisemitismus vor Gericht. Debatten 88 Neues aus dem Pädagogischen Zentrum Levelingstraße 6a [email protected] Verzeichnis der lieferbaren Titel 81673 München www.etk-muenchen.de über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland 1879–1960 110 Jahrbuch / Wissenschaftliche Reihe / Schriftenreihe u. a.

Einsicht 03 Frühjahr 2010 Fritz Bauer Institut Im Überblick

Mitarbeiter und Arbeitsbereiche

Prof. Dr. Raphael Gross Direktor PD Dr. habil. Werner Konitzer stellv. Direktor, Forschung Dr. Jörg Osterloh Zeitgeschichtsforschung Dr. Dmitrij Belkin Ideen-, Rechts- und Migrationsgeschichte Katharina Stengel Doktorandin der Fritz Thyssen Stiftung Werner Renz Archiv und Bibliothek Ronny Loewy Das Fritz Bauer Institut Cinematographie des Holocaust Werner Lott Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, un- Digital- und Printmedien: Information und Kommunikation abhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und Manuela Ritzheim dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massen- Verwaltungs- und Projektmanagement verbrechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis Dr. Katharina Rauschenberger in die Gegenwart. Projekt koordination Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) und ist Sarah Dellmann seinem Andenken verpfl ichtet. Bauer widmete sich als jüdischer Sekretariat Wissenschaftlicher Beirat Stiftungsrat Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechts- systems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt Prof. Dr. Joachim Rückert Für das Land Hessen: hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Mitarbeiter des Pädagogischen Zentrums Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Roland Koch Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Prof. Dr. Moritz Epple Ministerpräsident Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Gottfried Kößler stellv. Vorsitzender, Goethe- Universität Frankfurt am Main Eva Kühne-Hörmann Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben geru- stellv. Direktor, Pädagogik Prof. Dr. Wolfgang Benz Ministerin für Wissenschaft und Kunst fen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universi- Dr. Wolfgang Geiger Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin tät assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Cam- Monica Kingreen Prof. Dr. Dan Diner Für die Stadt Frankfurt am Main: pus Westend in Frankfurt am Main. Manfred Levy Simon-Dubnow-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur, Leipzig Petra Roth Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Be- Dr. Martin Liepach Prof. Dr. Atina Grossmann Oberbürgermeisterin reiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinan- Cooper Union University, New York Prof. Dr. Felix Semmelroth dersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam Prof. Dr. Volkhard Knigge Dezernent für Kultur und Wissenschaft mit dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer In- Rat der Überlebenden des Holocaust Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora stitut das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: das Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Das Trude Simonsohn Sigmund Freud Institut, Frankfurt am Main Brigitte Tilmann aus diesen Verbindungen heraus entstehende Zentrum für jüdische Vorsitzende und Ratssprecherin Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp Vorsitzende Studien soll neue Perspektiven eröffnen, sowohl für die Forschung Siegmund Freund Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf Herbert Mai wie für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlungsarbeit. Dr. Heinz Kahn Krystyna Oleksy 2. Vertreter des Fördervereins Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wis- Inge Kahn Staatliches Museum Auschwitz- Birkenau, Oświęcim senschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust Dr. Siegmund Kalinski Prof. Dr. Walter H. Pehle Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: und dem Föderverein Fritz Bauer Institut e.V. Prof. Dr. Jiří Kosta S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main Prof. Dr. Werner Müller-Esterl Imo Moszkowicz Prof. Dr. Peter Steinbach Universitätspräsident Katharina Prinz Universität Karlsruhe Prof. Dr. André Fuhrmann Haupteingang des IG Farben-Hauses auf dem Campus Westend Dora Skala Prof. Dr. Michael Stolleis Dekan, Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main Foto: Werner Lott Tibor Wohl Goethe- Universität Frankfurt am Main

4 Fritz Bauer Institut Einsicht 03 Frühjahr 2010 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau

Gastprofessur am Fritz Bauer Institut Gastprofessur am Fritz Bauer Institut Lehrveranstaltung wahrgenommen. Ausgehend von einem Forschungsprojekt des Fritz Bauer Instituts, Der Faschismus in Europa Auschwitz und die »Fremde im Visier« welches solche frühen theoretischen Ausei- Politik der »Endlösung« Fotografi en als Quellen nandersetzungen sammelt und neu heraus- Dr. Sybille Steinbacher, Vorlesung, Montag für die Geschichte des gibt, sollen in diesem Hauptseminar Quel- 16.00–18.00 Uhr (12. April bis 12. Juli 2010), Dr. Sybille Steinbacher, Hauptseminar, Dienstag, lentexte gelesen und analysiert werden. PD Goethe-Universität Frankfurt am Main, 12.00–14.00 Uhr (13. April bis 13. Juli 2010), Zweiten Weltkriegs Dr. Werner Konitzer und Prof. Dr. Birgit Campus Westend, Hörsaalzentrum, Raum HZ-14 Goethe-Universität Frankfurt am Main, Erdle – Mitarbeiter an dem genannten For- Institutionen: Fritz Bauer Institut und Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 0.454 Historisches Seminar Institutionen: Fritz Bauer Institut und Dr. Jörg Osterloh, Gottfried Kößler, Übung/Block- schungsprojekt – werden an einzelnen Sit- Historisches Seminar seminar, einführende Sitzung zur Blockveranstaltung zungen teilnehmen. Der Faschismus richte- am Dienstag, 20. April 2010, 12.00–14.00 Uhr, Neben den üblichen Standardtexten zur Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus te sich gegen Demokratie, Als im Sommer 1940 die Westend, IG Farben-Haus, Raum 4.401; Institutionen: Geschichte und Theorie des Antisemitismus Liberalismus und Menschenrechte, kurz: ersten Häftlinge in das neu Fritz Bauer Institut und Historisches Seminar (Peter Pulzer, Léon Poliakov, Jakob Katz gegen die Ideen der Aufklärung. Für den errichtete Konzentrationslager Auschwitz etc.) werden vor allem unbekannte Quel- grenzüberschreitenden und rasanten Auf- verschleppt wurden, zeichnete sich noch Filme und Fotografien do- lentexte die Grundlage des Seminars bilden. Gastprofessur am Fritz Bauer Institut »Musterstadt« Auschwitz. Germanisie- stieg der Bewegung spielten die Verhee- keineswegs ab, dass das NS-Regime hier minieren vor allem in den rungspolitik und Judenmord in Ostober- rungen des Ersten Weltkriegs, die kommu- das Zentrum des Massenmords an den eu- Massenmedien die Erinnerung an den Zwei- Dr. Sybille Steinbacher schlesien (München: Saur, 2000). Ihr Blick nistische Revolution und die Wirtschafts- ropäischen Juden errichten würde. Aus- ten Weltkrieg, sind aber auch für Historiker gilt dabei aber nicht nur der nationalsozi- krisen der 1920er Jahre eine entscheidende gehend von der Geschichte des Lager- wichtige Quellen. Sie sind freilich kritisch Lehrveranstaltung Dr. Sybille Steinbacher wird alistischen »Ostpolitik«, sondern zugleich Rolle. Was führte in den einzelnen euro- komplexes steht die Frage nach der Ra- zu betrachten, spiegeln sie doch immer so- im Sommersemester 2010 legt sie mit ihrer Studie auch eine der er- päischen Ländern zum Sieg der faschi- dikalisierung der antijüdischen Politik im wohl Intentionen der Person hinter der Kame- Das Bild des Fremden in als Gastprofessorin an das Fritz Bauer Insti- sten deutschsprachigen Monografien zur stischen Parteien? Woher kamen Radika- Mittelpunkt des Seminars. Sowohl um die ra wie auch der späteren Nutzer des Bildma- europäischen Darstellungen tut kommen und am Historischen Seminar Geschichte des Konzentrations- und Ver- lität und Fanatismus ihrer Anhänger? Wie ideologischen Grundlagen als auch um terials wider. Die Übung soll anlässlich der der Neuzeit der Goethe-Universität Frankfurt am Main nichtungslagers Auschwitz vor. Ihre Arbeit ist es zu erklären, dass die Faschisten in die praktische Umsetzung des Rassismus Ausstellung »Fremde im Visier« im Histo- ein Hauptseminar (»Auschwitz und die Po- steht im Kontext eines mehrteiligen For- Italien und Deutschland aus eigener Kraft in den von Deutschland besetzten Län- rischen Museum Frankfurt (14. April bis 31. litik der Endlösung«) und eine Vorlesung schungs- und Editionsprojekts über Ausch- an die Macht kamen, während sie an- dern geht es. Aber nicht nur die Täterseite August 2010) in den Umgang mit Fotoquel- Dr. Wolfgang Geiger, Übung, Freitag 14.00–16.00 (»Der Faschismus in Europa«) anbieten. witz, das auch international breit wahrge- derswo auf Hilfe von außen angewiesen kommt in den Blick, denn die nationalso- len einführen. Insbesondere soll der Blick Uhr (16. April bis 16. Juli 2010), Goethe-Universität nommen wurde. Sybille Steinbachers für ein waren? Für die Entstehung faschistisch- zialistischen Tötungsstrategien bestimmten von Wehrmachtsangehörigen und Beamten Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben- Haus, Raum 454; Institutionen: Fritz Bauer Institut größeres Publikum verfasstes Buch über das autoritärer Tendenzen spielte die fehlende seit dem Übergang von der Vertreibung in deutscher Besatzungsbehörden in Polen und und Historisches Seminar Lager Auschwitz, Auschwitz. Geschichte Tradition demokratisch-liberaler Verfas- die Deportation den Alltag der Opfer. Da- in der Sowjetunion auf die feindlichen Solda- und Nachgeschichte (München: C.H. Beck, sungsformen offensichtlich eine entschei- her wird in der Veranstaltung, die der Lek- ten und die Bevölkerung dort behandelt wer- Die Auseinandersetzung mit 2004), wurde in fünf Sprachen übersetzt. dende Rolle. Dass die internationale Fa- türe und Interpretation von Quellen hohen den. Kriegsfotografi en sind häufi g in privaten dem »Fremden« war und ist Sybille Steinbacher hat sich unter an- schismusforschung in den letzten Jahren Stellenwert zumisst, gerade auch die Per- Nachlässen oder Pressearchiven überliefert. ein zentrales Thema der europäischen Kul- derem als Herausgeberin des in zwei Aufl a- Aufschwung nahm, dürfte daran liegen, spektive der Verfolgten im Zentrum ste- tur- und Wissenschaftsgeschichte, aber auch gen erschienenen Sammelbandes »Volksge- dass sie sich mit Fragen wie diesen neuen hen. Wie nahmen sie die Radikalisierung der politischen Geschichte. Im Gegenüber nossinnen«. Frauen in der NS-Volksgemein- Fel-dern zuwendet und aus vergleichender der Maßnahmen wahr? Wie reagierten zum Fremden formte sich das (christlich-) schaft (Göttingen: Wallstein, 2007) auch mit Perspektive innovative Deutungen entwi- sie darauf? Besaßen sie denn Handlungs- Lehrveranstaltung europäische Selbstverständnis, sein Welt- dem Gender-Aspekt in der NS-Forschung ckelt. Ansätze, Kontroversen und Perspek- spielräume? Und lässt sich angesichts des bild und die Diskussion über die Gleichheit beschäftigt. Darüber hinaus gilt ihr Interes- tiven der Forschung stehen im Zentrum der systematischen Mords überhaupt von einem Theorie des Antisemitismus oder Ungleichheit der Menschen. Ein be- Sybille se der Genese und den Folgen der »sexuel- Vorlesung, um der Frage nach dem Wesen »Alltag« der Verfolgten sprechen? sonderer Aspekt ist dabei das Bild von den Steinbacher len Revolution« in der Bundesrepublik. In des Faschismus nachzugehen, der in der er- Prof. Dr. Raphael Gross, Hauptseminar, Freitag »Fremden nebenan«, nämlich den europä- diesen Forschungsschwerpunkt fällt auch sten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa 10.00–12.00 Uhr (16. April bis 16. Juli 2010), ischen Juden. Sybille Steinbacher ist akademische ihre Habilitationsschrift Sexualität und Ge- eine so große politische und gesellschaft- Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus West- In der Übung sollen Textauszüge der end, Casino am IG Farben-Haus, Raum 1.811; Institu- Rätin am Lehrstuhl für Neuere und Neues- sellschaft in Westdeutschland. Zur Gesell- liche Rolle gespielt hat. tionen: Fritz Bauer Institut und Historisches Seminar wichtigsten Autoren, aber auch weniger te Geschichte (Prof. Dr. Norbert Frei) der schaftsgeschichte der »sexuellen Revolu- bekannter Autoren im jeweiligen politisch- Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie ist tion«. Sie hat ihre Habilitation im Januar Theorien über den Antise- historischen Kontext analysiert und ver- mit zahlreichen Publikationen zur NS-Ge- 2010 an der Philosophischen Fakultät der mitismus sind fast so alt wie glichen werden. Eine mögliche Verwendung schichte bekannt geworden. Ihre Bochu- Friedrich-Schiller-Universität Jena abge- das Phänomen selber. Trotzdem werden oft- von Texten im schulischen Unterricht wird mer Dissertation erschien unter dem Titel schlossen. mals frühe Auseinandersetzungen wenig ebenfalls thematisiert.

6 Veranstaltungen Einsicht 03 Frühjahr 2010 7 Tagung Tagung jüdischer Herkunft zur Zeit des Nationalso- sich rechtsextremen, antisemitischen oder einandersetzen: die Vorgeschichte des Zio- zialismus und nach 1945 gegenüber den ehe- rassistischen Anfeindungen ausgesetzt se- nismus und das weltweite Erwachen eines Die »zweite Schuld« Getauft, ausgestoßen mals Verfolgten verhalten haben. Die Tagung hen. Die Bedrohung trifft aber nicht nur ein- jüdischen Bewusstseins, die Ursprünge in- NEU bei Schuld – Verantwortung – und vergessen? stellt die bisherigen Ergebnisse des Projektes zelne Opfer. Vielmehr stehen grundlegende ternationaler Hilfe für die nicht industriali- Campus Perspektiven Zum Umgang der evange- vor, lässt Zeitzeugen berichten und gibt An- Fragen im Raum: Welchen Schaden nimmt sierten Länder und die Schaffung des mo- regungen für die Weiterarbeit in den Landes- die Zivilgesellschaft, wenn sie der erzeugten dernen Nahen und Mittleren Ostens. lischen Kirche in Hessen kirchen und Kirchengemeinden. Angst und Gewalt nicht entschlossen entge- Freitag, 16. bis Sonntag, 18. April 2010 in der Evan- mit den Christen jüdischer gentritt, und welche Handlungsoptionen hat gelischen Stadtakademie München, Herzog-Wil- Herkunft während der NS- sie? Wie entstehen Angsträume, und was ist helm-Str. 24, 80331 München. Eine Kooperationsver- zu tun, damit sich die Betroffenen nicht be- European Leo Baeck Lecture Series 2010 anstaltung der Evangelischen Stadtakademie München Zeit und nach 1945 Tagung droht, sondern geschützt fühlen? Wie las- Mai 2010 in Zusammenarbeit mit: Theologische Arbeitsgemein- Ca. 360 Seiten schaft im christlich-jüdischen Dialog e.V., Gegen Ver- sen sich Heranwachsende und Erwachsene Prof. Dr. Shulamit Volkov, Ca. € 34,90 gessen für Demokratie e.V., Pax Christi in der Erzdiö- Freitag, 23. bis Sonntag, 25. April 2010 in der Evan- Opferperspektiven in ihrer Wahrnehmung entsprechend sensi- Tel Aviv University ISBN 978-3- zese München und Freising, Versöhnungskirche in der gelischen Akademie Hofgeismar. Kooperationsveran- bilisieren? Diese Fragen stehen im Zentrum 593-39170-0 KZ-Gedenkstätte Dachau, Freunde Abrahams e.V., Be- ernst nehmen staltung der Evangelischen Akademie Hofgeismar, der Walther Rathenau: Politik Vor einigen Jahren entdeckte Deborah Hertz gegnung Christen und Juden, Gesprächskreis »Juden der Tagung. Im Gespräch mit Experten aus Evangelischen Akademie Arnoldshain und des Fritz Impulse zur Entwicklung vor und hinter den Kulissen in einem Berliner Archiv die »Judenkartei«, und Christen« beim Zentralkomitee der deutschen Ka- Bauer Instituts. Anmeldung: Evangelische Akademie, Forschung und Praxis sollen neue Impul- angelegt in den 1930er Jahren durch die Na- tholiken, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Berlin. Gesundbrunnen 8, 34369 Hofgeismar, ev.akademie. von zivilgesellschaftlichen se für die Debatte und Anregungen für die tionalsozialisten. Akribisch waren dort alle Schirmherrschaft: Fritz Bauer Institut; Anmeldung: Konversionen deutscher Juden seit 1645 auf- [email protected], www.akademie-hofgeismar.de präventive und die intervenierende Arbeit Mittwoch, 6. Oktober 2010, 19.00 Uhr, Goethe-Uni- Monika Künneth, Tel.: 089.549 027-0, Fax: -15, Handlungsstrategien gegen gelistet. Ausgehend von diesem Dokument versität Frankfurt am Main, Campus Westend, [email protected], www.evstadtakademie.de Rechtsextremismus gegeben werden. Die Tagung möchte die spürte die Historikerin zahlreiche Briefe und Das Schicksal der Christen Teilnehmenden dazu einladen, von ihren Casino-Gebäude am IG Farben-Haus, Raum 1.811. Tagebücher von Juden auf, die zwischen dem Veranstaltet vom Fritz Bauer Institut in Kooperation 17. und 19. Jahrhundert zum Christentum jüdischer Herkunft in Hes- Freitag, 28. bis Sonntag, 30. Mai 2010 in der Evan- Erfahrungen zu berichten und Impulse und mit dem Leo Baeck Institute London und dem Jü- konvertiert waren. In ihrem Buch erzählt sie Die »zweite Schuld« (Ralph sen während der Zeit des Nationalsozia- gelischen Akademie Ardnoldshain. Eine Kooperati- Projektideen einzubringen. dischen Museum Frankfurt. Mit Unterstützung der von den Motivationen und Hoffnungen, aber Giordano) meint die Ver- lismus ist bislang weitgehend unbekannt. onsveranstaltung der Evangelischen Akademie Ar- Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e.V. auch den Zweifeln und Anfeindungen, die mit noldshain, der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, der Konversion verbunden waren. drängung und Verleugnung der ersten Christen jüdischer Herkunft galten durch des Pädagogischen Zentrums des Fritz Bauer Instituts Schuld, der »Schuld der Deutschen unter die nationalsozialistische Defi nitionsmacht und des Jüdischen Museums Frankfurt und des Hes- Walther Rathenau ist am Hitler«, in der Zeit nach 1945. Sie hat durch als Juden, waren antisemitischer Verfol- sischen Jugendrings. Anmeldung: Evangelische European Leo Baeck Lecture Series 2010 meisten dadurch bekannt die Generationen hindurch Spuren in unserer gung ausgesetzt und fielen zu Tausenden Akademie Arnoldshain, Martin-Niemöller-Haus, geworden, dass er Deutschlands Außen- Am Eichwaldsfeld 3, 61389 Schmitten, theil@evange- Gesellschaft hinterlassen und wirkt als Ge- dem Holocaust zum Opfer. Um das Schick- lische-akademie.de, www.evangelische-akademie.de Dr. Abigail Green, Sussex minister war und von Feinden der Weima- schichte in uns weiter. Eine Vortragsreihe der sal vor allem der evangelischen Christen jü- Moses Montefi ore, rer Republik als ihr Symbol und Repräsen- Evangelischen Stadtakademie München im discher Herkunft in Hessen zu erforschen Rechtsextremismus in sei- pre-Zionist Palestine tant im Sommer 1922 ermordet wurde. Dies März 2010 hat Erscheinungsformen dieser und Wege eines angemessenen Gedenkens nen verschiedenen Erschei- ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt seines 2009 389 Seiten »zweiten Schuld« thematisiert. Die Tagung zu entwickeln, besteht seit dem Jahr 2007 ein nungsformen stand in den letzten Jahren im and the transformation Weges, auf dem er versucht hat, als Politi- 24 Abbildungen gibt Raum für persönliche Zugänge zum Forschungs- und Erinnerungsprojekt der bei- Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher For- of world Jewry ker Einfl uss auf das Schicksal Deutschlands Campus Judaica Band 25 Thema. Sie vertieft die Suche nach mög- den evangelischen Landeskirchen in Hes- schung. Sie hat wesentliche Impulse für die zu nehmen. Er versuchte das einerseits von € 34,90 lichen Ursachen der Verleugnung und Ver- sen. Aufgabe war es, zu klären, wie viele Auseinandersetzung in der Beratungspraxis Donnerstag, 15. April 2010, 19.00 Uhr, Goethe-Uni- innen heraus in verschiedenen offi ziellen ISBN 978-3- drängung der »ersten Schuld« und führt zu evangelische Christen jüdischer Herkunft liefern können. Darüber hinaus wurde deut- versität Frankfurt am Main, Campus Westend, Casi- Positionen, andererseits von außen späte- 593-38906-6 der Frage, was die Übernahme persönlicher im Bereich der beiden hessischen Kirchen lich, wie anschlussfähig rechte Ideologieseg- no am IG Farben-Haus, Raum 1.801. Veranstaltet vom stens seit 1907/1908, besonders aber wäh- Abraham Sutzkever zählt zu den bedeu- Fritz Bauer Institut in Kooperation mit dem Leo Baeck tendsten Dichtern der jiddischen Literatur. Verantwortung heute konkret bedeutet. lebten, wo sie zu Hause waren und zu wel- mente an die Diskurse der Mitte der Gesell- Institute London und dem Jüdischen Museum Frank- rend des Ersten Weltkriegs als Mitglied der Die Shoa, der er selbst nur knapp entkam, Als Referenten für die Tagung konn- chen Kirchengemeinden sie gehörten. Wei- schaft sind. Die Forderung nach einer ent- furt. Vortrag in englischer Sprache. oberen Zehntausend der Berliner sozialen ist der zentrale Bezugspunkt seines Werkes, ten u.a. gewonnen werden: Dr. Jürgen Mül- ter sollte möglichst genau aufgeklärt werden, sprechend sensiblen Herangehensweise hat Elite. Als mächtiger Industrieller und Ban- das zugleich große literarische Eigenstän- digkeit besitzt. Es wurde in mehr als ein Dut- ler-Hohagen (Diplompsychologe, Dachau), wie und in welchem Ausmaß die sogenann- sich durchgesetzt. Allerdings blieb die Ausei- Abigail Green hat eine sehr kier hatte er viele Gelegenheiten, seinen zend Sprachen übersetzt, in Deutschland ist Reinhard von Loewenich (Dekan i.R., Ber- ten getauften Nichtarier unter der national- nandersetzung dabei vor allem auf die Hand- positiv aufgenommene neue Einfluss auszuüben. Er war jedoch mit es bislang jedoch nahezu unbekannt. Dieses außergewöhnliche Buch führt in Leben und lin), PD Dr. habil. Werner Konitzer (Fritz sozialistischen Verfolgung zu leiden hatten, lungen der Akteure der extremen Rechten Biografi e von Sir Moses Montefi ore (1784– vielen Schwierigkeiten konfrontiert, zum Werk Sutzkevers ein und stellt eine große Bauer Institut), Dr. Stephan Marks (Frei- wie viele dieser Menschen emigrierten, wie gerichtet. Strategien gegen Rechtsextremis- 1885) vorgelegt. Diese herausragende jüdi- einen als Individualist, der keiner Partei Auswahl seiner Gedichte und Prosastücke burger Institut für Menschenrechtspädago- viele in Ghettos, Arbeits-, Konzentrations- mus gingen von der Beobachtung und Analy- sche Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts angehörte, zum anderen und vielleicht so- in deutscher Übersetzung vor. gik), Dr. Angela Kühner (Goethe-Univer- und Vernichtungslager deportiert wurden und se der rechten Täter aus. Die Opferperspek- wird damit dem Vergessen entrissen. Green gar entscheidender als Jude. In seinem Vor- sität Frankfurt am Main), Alexandra Senfft umkamen. Schließlich sollte der Frage nach- tive wurde weitgehend außer Acht gelassen. zeigt, wie sich anhand von Montefi ores Le- trag analysiert Shulamit Volkov Rathenaus (freie Journalistin und Autorin), Prof. Dr. gegangen werden, wie sich Kirchen und Kir- Experten regen an, das Augenmerk stär- ben viele der Themen illustrieren lassen, Karriere und bewertet seine Erfolge genau- www.campus.de Hans-Peter Heinz (Universität Augsburg). chengemeinden gegenüber ihren Mitgliedern ker als bisher auf diejenigen zu richten, die mit denen wir uns auch heute noch aus- so wie seine Misserfolge.

8 Veranstaltungen Einsicht 03 Frühjahr 2010 9 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts

Hannah Arendt und die Frankfurter Schule logie, Literatur und Politik in Frankfurt am Wanderausstellung herausgeber Dmitrij Belkin stellt die The- Main, unter anderem bei Theodor W. Ador- se über ein »deutsches Judentum zwei« auf, Im Spannungsfeld von no. Claussen wurde 1975 promoviert und Legalisierter Raub das als Ergebnis der Einwanderung ent- Messianismus und materialis- 1985 habilitiert. Er lehrt Gesellschaftstheo- Der Fiskus und die stehe. Neben wissenschaftlich fundierten tischer Gesellschaftsanalyse rie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie Ausplünderung der Juden Analysen stehen Auszüge aus einem Inter- an der Gottfried Wilhelm Leibniz-Univer- view mit dem früheren Bundesinnenmini- Die schwierigen sität Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte in Hessen 1933–1945 ster Wolfgang Schäuble, dem damaligen Begegnungen zwischen umfassen die Untersuchung von Antisemi- Ministerpräsidenten der DDR Lothar de Margarete Susman, Adorno tismus, Xenophobie, Nationalismus, Rassis- 12. März bis 22. Oktober 2010, Rotenburg an der Maizíère und dem Philosophen Boris Groys mus, Transformationsgesellschaften, Migra- Fulda. Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und sowie kritische und sehr persönlich gefärbte und Siegfried Kracauer des Hessischen Rundfunks, mit Unterstützung der tionsbewegungen und Psychoanalyse. Statements von Rabbinern aller Richtungen. Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Auch die Schriftsteller Maxim Biller und Vortrag von Dr. Ingeborg Nordmann Studienzentrum der Finanzverwaltung und Justiz, Wladimir Kaminer konnten dafür gewon- Josef-Durstewitz-Straße 2–6, 36199 Rotenburg an der nen werden, kurze Prosatexte beizusteuern. Fulda, Öffnungszeiten: Mo., Di., Do. 8.00 bis 18.00 Dienstag, 15. Juni 2010, 19.00 Uhr, Goethe- Hannah Arendt und die Frankfurter Schule Die den Kapiteln jeweils vorangestell- Uhr, Mi. 8.00 bis 20.00 Uhr, Fr. 8.00 bis 12.00 Uhr Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, (10. Juli bis 8. August 2010 geschlossen), Eintritt frei. Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.) Dem Essayband, der zur ten Bildstrecken dokumentieren teilwei- IG Farben-Haus, Raum 411. »Wozu sind wir hier nun Anmeldung zu Gruppenführungen: Wolfgang Hein, gleichnamigen Ausstel- se die in der Ausstellung gezeigten Fotos aufgehoben worden?« Tel.: 06623.932-126, [email protected] Ausgerechnet Deutschland! lung (Jüdisches Museum Frankfurt in und Objekte, bieten aber auch Ergänzendes, Ingeborg Nordmann, Dr. Über die fragile Freundschaft Jüdisch-russische Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Insti- etwa im Abschnitt »›Das Migrantische‹: phil., Literaturwissenschaft- »Da mein Sohn außeror- Einwanderung in die tut) erschienen ist, liegt eine interdiszipli- Künstlerische Positionen«. Von ganz be- lerin und Publizistin, ist seit 1988 in der zwischen Hannah Arendt dentlich begabt ist, wie näre und innovative Konzeption zugrunde. sonderer Stimmung und sensiblem Einfüh- Hannah-Arendt-Forschung tätig. Von 1991 und Gershom Scholem auch sein Lehrer bestätigt, bitte ich Sie, mir Bundesrepublik Sie beleuchtet das Phänomen der jüdisch- lungsvermögen zeugen auch die speziell für bis 2007 war sie Studienleiterin an der das Klavier des evakuierten Juden zu über- russischen Migration aus Sicht unterschied- das Projekt angefertigten Porträts der Ber- Evangelischen Stadtakademie in Frankfurt Vortrag von Marie Luise Knott lassen.« Mit dieser Bitte trat 1942 ein Of- Essayband zur licher Beteiligter – Wissenschaftler, Politi- liner Fotografi n Amélie Losier in dem Ka- am Main, wo sie zahlreiche Themenrei- fenbacher Bürger an sein Finanzamt heran. Ausstellung ker, Juristen, Künstler, Gemeindefunkti- pitel »Momentaufnahmen«: Sechs Frauen Berlin: Nicolaische hen und Veranstaltungen in den Bereichen Montag, 20. September 2010, 19.00 Uhr, Goethe- Zu dieser Zeit waren die Finanzämter be- onäre – und aus diversen Perspektiven – und sechs Männer präsentieren sich vor der Verlagsbuchhand- Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Philosophie, Politik, Medien und Gender reits mit der sogenannten Verwertung des lung GmbH, 2010, Postsowjetischer, innerdeutscher, israe- Kamera in ihrem heutigen Berufsumfeld. IG Farben-Haus, Raum 411. konzipiert und durchgeführt hat. Ingeborg Eigentums der Deportierten befasst, das 192 S., 100 farb. lischer, US-amerikanischer, rabbinischer, Ergänzt sind die Bilder um Interviewauszü- Nordmann lebt in Bensheim. seit der 1941 erlassenen 11. Verordnung Abb., ISBN 978- künstlerischer. Die zahlenmäßig kleine ge, in denen die Porträtierten über ihr Le- Marie Luise Knott, 1953 zum Reichsbürgergesetz dem »Reich ver- 3-89479-583-2, Einwanderung markierte große weltge- ben in der ehemaligen Sowjetunion, ihre ge- € 24,95 geboren in Köln, lebt heu- fiel«. Überall kam es zu öffentlich ange- schichtliche Veränderungen. Gleichzeitig genwärtige Arbeitssituation und über ihre te als freie Journalistin, Herausgeberin, kündigten Auktionen von Wohnungsinven- bleibt jüdisch-russische Einwanderung nach Wünsche und Träume in der neuen Heimat Hannah Arendt und die Frankfurter Schule Übersetzerin und Kuratorin in Berlin. Sie tar aus dem Besitz von Juden: Tischwäsche, Deutschland international umstritten, ihre Deutschland berichten. Eine kommentierte studierte Politische Wissenschaft und Ro- Möbel, Kinderspielzeug, Geschirr, Lebens- kontrapunktischen Positionen formen sich Zeittafel im Anhang erlaubt schnelle Ori- Im Spiegel eines Dritten manische Literatur und arbeitete zunächst mittel usw. wechselten den Besitzer. Viele Mit Beiträgen unter anderem von Dan Diner, Dieter in dem Band zu einem spannenden Ganzen. entierung hinsichtlich der Chronologie der Hannah Arendts und Theo- lange Jahre als Verlagslektorin. 1995– schrieben an die Finanzämter, um sich das Graumann, Lena Gorelik und Wladimir Kaminer. Das Buch gliedert sich in zehn Kapi- Entscheidungen und Ereignisse. dor W. Adornos Verhältnis 2006 Aufbau und redaktionelle Leitung der begehrte Klavier oder die schönere Woh- Grußworte zum Ausstellungsband: tel. Viele Beiträge gehen zurück auf die Die Realisation von Essayband und deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde nung zu sichern. Die Ausstellung gibt ei- »Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Ein- vom Jüdischen Museum Frankfurt im März Ausstellung verdankt sich der großzügigen zu Gershom Scholem diplomatique, Beiträge für Zeitungen, nen Einblick in die Geschichte des legali- wanderung in die Bundesrepublik« ist mutig, zeitge- 2009 veranstaltete internationale Konferenz Unterstützung der Bundeskulturstiftung, der mäß und progressiv zugleich. Die Ausstellung zeigt, Zeitschriften und Rundfunk. 2007 sierten Raubes, in die Lebensgeschichten dass und wie dramatisch sich die jüdische Gemein- »Ausgerechnet Deutschland!«. So bezeich- Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, des Bun- Vortrag von Prof. Dr. Detlev Claussen Marie Luise Knott zusammen mit Bar- von Tätern und Opfern. schaft in Deutschland seit 1989/90 verändert hat und net etwa Dan Diner das Ende des bundes- desministerium des Innern, der Gerda-Hen- bara Hahn den Katalog zur Ausstellung Das umfangreiche Begleitprogramm sucht Antworten für eine gemeinsame, gute Zukunft. republikanischen Judentums als Ergebnis kel-Stiftung sowie des Dezernats für Kul- Bundeskanzler a. D., Dr. Helmut Kohl Dienstag, 7. September 2010, 19.00 Uhr, Goethe- »Hannah Arendt – Von den Dichtern er- zur Ausstellung fi nden Sie unter: der Einwanderung aus den GUS-Staaten tur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, warten wir Wahrheit« heraus. In diesem www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub Die Auswanderung einer großen Zahl von Juden aus und stellt fest, dass »Ausgerechnet Deutsch- am Main. IG Farben-Haus, Raum 411. Herbst erscheint im Jüdischen Verlag von Weitere Informationen zur Wanderaus- der Sowjetunion geht auch auf die demokratischen Ver- land!« als Code und Slogan für die Beschrei- ihr herausgegeben der Briefwechsel zwi- stellung »Legalisierter Raub« erhalten Sie änderungen in unserem Land zurück. Der Grundsatz bung der jüdisch-russischen Einwanderung Ausstellung »Ausgerechnet Deutschland!« der Bewegungsfreiheit, der Freiheit, unser Land zu ver- Detlev Claussen, geboren schen Hannah Arendt und Gershom Scho- auf Seite 106. lassen und ins Ausland zu reisen, war eine der Errun- nicht in die 1990er Jahre passe. Zvi Gitel- 12. März bis 25. Juli 2010, Jüdisches Muse- 1948 in , studier- lem (Hannah Arendt/Gershom Scholem, genschaften der Perestrojka. Er galt und gilt für alle. man sieht diese Migration als ein Ding der um Frankfurt am Main, Untermainkai 14/15, te von 1966 bis 1971 Philosophie, Sozio- Der Briefwechsel, 1939–1964). Präsident a. D., Michail Gorbatschow Unmöglichkeit (how could they?). Und Mit- www.juedischesmuseum.de

10 Veranstaltungen Einsicht 03 Frühjahr 2010 11 Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.) cher, von Berlin angeordneter Maßnahmen Christoph Jahr die NS-Zeit, in der die Judenfeindschaft als Joachim Perels (Hrsg.) Joachim Perels demonstrieren die Beiträge eigenständige gesellschaftliche Norm etabliert wurde und Das »Großdeutsche Reich« Entwicklungen in den »angegliederten« Ge- Antisemitismus vor Gericht im Völkermord endete; zweitens die zen- Auschwitz in der Recht und Autoritarismus und die Juden bieten, die oftmals auf die antijüdische Po- Debatten über die trale Rolle, die dem Staat hierbei als Po- deutschen Geschichte Beiträge zur Theorie realer Nationalsozialistische litik im Reich zurückwirkten. juristische Ahndung juden- lizist und Lehrer gleichermaßen zugemes- Demokratie Die Beiträge gliedern sich jeweils in sen wird. Die deutsche Debatte über den Verfolgung in den drei Abschnitte. Im ersten Teil steht die Si- feindlicher Agitation in Rechtsextremismus ist, wie Christoph Men- »angegliederten« Gebieten tuation vor der Annexion im Mittelpunkt; Deutschland (1879–1960) ke in Bezug auf die Fremdenfeindlichkeit Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 24 der Blick gilt dabei sowohl der Lage der Ju- feststellte, in hohem Maße »ein Diskurs im Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2009, den als auch der Nichtjuden. Die Autoren Namen des Staates«, in dem sich die Vor- 384 S., ISBN 978-3-7890-8329-7, € 94,– analysieren die sozialen, demografi schen, stellung widerspiegelt, dass sich ein gesell- wirtschaftlichen, politischen und staatli- schaftliches Phänomen nicht zuletzt mit ju- Die Beiträge des Bandes chen Verhältnisse in den jeweiligen Gebie- ristischen Mitteln steuern lasse. sind dem Rechtsbegriff der ten seit dem Ersten Weltkrieg. Der zwei- Die Diskussion, wie Rechtsextremis- Aufklärung, der in den modernen Verfas- te Abschnitt widmet sich der militärischen mus zu bekämpfen sei, hat aber eine lange sungen seinen Niederschlag gefunden hat, Besetzung, den Verfolgungen während der Tradition. Christoph Jahr untersucht in sei- verpfl ichtet. Methodisch orientieren sich die ersten Wochen und den ersten Maßnah- ner im Juli 2006 an der Philosophischen Fa- Arbeiten an den juristischen Autoren der so- men unter deutscher Herrschaft. Der dritte kultät der Humboldt-Universität zu Berlin Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 25 zialdemokratischen Emigration in den Ver- Abschnitt befasst sich jeweils mit der Ein- eingereichten Habilitationsschrift, die jetzt Hannover: Offi zin-Verlag, 2010, 258 S., einigten Staaten während der NS-Diktatur. ISBN 978-3930345724, € 19,80 gliederung in das Deutsche Reich, der Eta- als Band 16 der Wissenschaftlichen Reihe Die Verbindung einer normimmanenten und blierung der wichtigen Institutionen und des Fritz Bauer Instituts im Campus Verlag historisch-soziologischen Vorgehenswei- Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, der Politik bis zum Ende des NS-Regimes. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, erscheint, wie zwischen 1879 und 1960 an- Wie konnte das Mensch- se ist auch für die Analyse rechtsstaatlich- Band 17 (Erscheinungstermin: 14. Juni 2010) Leitfragen sind dabei unter anderem: Wie Band 16 (Erscheinungstermin: 14. Juni 2010) tisemitische Diffamierungen geahndet wur- heitsverbrechen Auschwitz demokratischer Systeme erhellend. Die Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, entwickelte sich die Verfolgung? Welche Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, den. Welche Reaktionen löste die jeweilige entstehen, wie wurde seine Realität durchlit- exekutivstaatliche Beseitigung von Grund- ca. 450 S., EAN 978-3-593-39168-7, € 32,90 ca. 450 S., EAN 978-3-593-39058-1, € 39,90 Personen und Institutionen trieben die an- Ahndung in der Gesellschaft aus? Erkenn- ten, worin bestanden die Folgen? Diese Fra- rechtspositionen ist die negative Folie der Aus dem Inhalt tijüdische Politik in den »angegliederten« bar wird, dass antisemitische Agitation mal gen stellen sich die Autoren und Autorinnen Studien. Die Exegese demokratisch kon- Saargebiet (Gerhard J. Teschner) Gebieten voran? Was für eine Bedeutung Die Welle rechtsradikaler als Straftat wahrgenommen wurde, mal le- dieses Bandes aus der Perspektive unter- stituierter Normen steht im Vordergrund. Österreich (Albert Lichtblau) hatte die Volkstumspolitik (gegenüber den Gewalt, die im Frühjahr diglich moralische Empörung nach sich zog. schiedlicher Wissenschaften. Das ermöglicht Analysiert werden insbesondere die Garan- Sudetenland (Jörg Osterloh) Protektorat Böhmen und Mähren (Wolf Gruner) Volksdeutschen, aber etwa auch gegenüber 2000 durch Deutschland ging, belebte aufs Im Nationalsozialismus war antisemitische eine genauere, kritisch folgenreiche Wahrneh- tie der Menschenwürde, die Bedeutung des Memelgebiet (Ruth Leiserowitz) Tschechen, Polen oder Franzosen) für die Neue die Diskussion darüber, mit welchen Agitation sogar das normativ erwünschte mung des Unfassbaren. Die Verfasser behan- Gleichheitssatzes, die Gewissensfreiheit, die Danzig-Westpreußen (Wolfgang Gippert) Judenverfolgung? Mitteln Staat und Gesellschaft dieser Be- Verhalten. Christoph Jahr beleuchtet au- deln die Periode der Diskriminierung der Ju- Wissenschaftsfreiheit, die Bewahrung der Wartheland (Ingo Loose) Alle Autoren nähern sich diesen Fragen drohung des öffentlichen Friedens, der de- ßerdem, inwieweit es notwendig bzw. er- den in Nazi-Deutschland, sichtbar gemacht an Natur, die Prinzipien der Ahndung von Regierungsbezirk Zichenau (Andreas Schulz) Ostoberschlesien (Sybille Steinbacher) auf der Basis der neuesten Forschung bzw. mokratischen Ordnung und der Menschen- wünscht schien, die angefeindete Bevölke- der judenfeindlichen Kirchenpolitik, an Maß- NS-Verbrechen, der Umgang mit völker- Eupen-Malmedy (Christoph Brüll) eigener Studien. Mangels Vorarbeiten er- würde wirkungsvoll begegnen könnten. rungsgruppe vor Angriffen zu schützen, und nahmen der Verwaltung zur Zerstörung der rechtswidrigem Staatshandeln und Pro- Luxemburg (Marc Schoentgen) möglichten einige Verfasser mit ihren eige- Nicht zuletzt in der folgenden Debatte um wenn ja, warum und mit welchen Mitteln ökonomischen Existenz der Juden, nähern bleme einer Rechtslehre des aufrechten Elsass-Lothringen (Jean-Marc Dreyfus) nen Forschungen erst den hier vorgelegten das – letztlich gescheiterte –Verbotsverfah- das geschehen sollte. sich der Realität von Auschwitz über Erfah- Gangs. Zugleich werden Fragen einer ver- Überblick. Der systematische Vergleich ren gegen die NPD erschienen die rechts- rungen wie der von Ruth Klüger in weiter le- fassungsrechtlich legitimierten Umgestal- Der Band beleuchtet erst- zeigt erstmals Gemeinsamkeiten und Unter- extremistische Gewalt und die ihr voraus- PD Dr. Christoph Jahr, geb. 1963, der- ben, analysieren den juristischen Umgang mit tung der privatwirtschaftlichen Ordnung, mals systematisch die anti- schiede sowie Kontinuitäten und Wechsel- gehende Propaganda entweder primär als zeit Inhaber einer Lehrdozentur zur euro- dem größten Verbrechen der deutschen Ge- deren Krisenanfälligkeit vor aller Au- jüdische Politik in den vom NS-Staat zwi- wirkungen in der antijüdischen Politik der Straftat oder als moralischer und politischer päischen und deutschen Geschichte des schichte unter verschiedenen Aspekten, insbe- gen liegt, erörtert. Ohne das Denken und schen 1935 und 1940 »angegliederten« vom Deutschen Reich annektierten Gebiete. Skandal. Entsprechend unterschiedlich lau- 19. und 20. Jahrhunderts am Historischen sondere in Untersuchungen zum Frankfurter Handeln Einzelner bleibt Recht ein toter Gebieten, zu denen die Saar, Österreich und ten auch die Antworten auf die Frage, wie Seminar der Universität Heidelberg. Auschwitz-Prozess. Weiter widmet sich der Buchstabe. Dies zeigen Porträts kritischer das Memelgebiet ebenso zählten wie Dan- Dr. Wolf Gruner hält den Shapell-Guerin dieser Extremismus zu bekämpfen sei: Aus Publikationen: Gewöhnliche Soldaten. De- Band literarischen und musikalischen Refl exi- Rechtswissenschaftler der Weimarer Repu- zig-Westpreußen, Ostoberschlesien, Böh- Chair in Jewish Studies und ist Professor für konservativer Sicht empfi ehlt man primär sertion und Deserteure im deutschen und onen über die Nazi-Verbrechen, wie etwa Pe- blik, der NS-Zeit und der Bundesrepublik men und Luxemburg. Die Autoren untersu- Geschichte an der University of Southern Repressalien und Prävention, aus liberaler britischen Heer 1914–1918, Göttingen ter Weiss’ Stück Die Ermittlung. Schließlich – von Gustav Radbruch über Franz L. Neu- chen die Verfolgung, ihre Auswirkungen auf California in Los Angeles/USA. Perspektive vor allem Erziehung und Auf- 1998; Die Berliner Universität in der NS- wird die Frage der Stellung zur Erbschaft des mann bis Fritz Bauer. In einer rechtsstaat- die jüdische Bevölkerung und das Verhalten Dr. Jörg Osterloh ist wissenschaftlicher klärung. Das Forderungspaket aus Partei- Zeit, Stuttgart 2005 (Mitherausgeber). Nationalsozialismus in den Blick genommen: lichen Demokratie haben sie eine Orientie- der einheimischen deutschen sowie auch der Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frank- verbot und Gemeinschaftskundeunterricht am Beispiel der Gedenkstätte Bergen-Belsen rungsfunktion. nichtdeutschen Bevölkerung. Anstelle glei- furt am Main. umfasst zweierlei: erstens den Rückgriff auf und der Virulenz des Antisemitismus.

12 Neuerscheinungen Einsicht 03 Frühjahr 2010 13 MORITZ DANIEL OPPENHEIM IDEALBILDER JÜDISCHEN LEBENS KABINETTAUSSTELLUNG IM JÜDISCHEN MUSEUM 23. MÄRZ BIS 3. OKTOBER 2010

Moritz Daniel Oppenheims „Bilder aus dem altjüdischen Familienle- ben“ waren ein Verkaufsschlager. Als der Zyklus 1866 im Frankfurter Kunstverlag Heinrich Keller erschien, war Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882) bereits ein gefragter Porträtmaler des wohlhabenden und emanzipierten jüdischen Bürgertums. In einigen Ölgemälden hat-

te er auch jüdische Szenen dargestellt. Die Mappe mit Lichtdrucken JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT aber machte ihn zum gefeierten „ersten jüdischen Maler“ und Untermainkai 14/15 Begründer der jüdischen Genremalerei. Bis 1882 wurde die Kunst- 60311 Frankfurt am Main mappe immer wieder neu aufgelegt; sie umfasste anfangs sechs, [email protected] www.juedischesmuseum.de zum Schluss zwanzig Blätter, von denen hier acht aus der Ausgabe Tel. (069) 212–35000 von 1869 gezeigt werden. Für die Lichtdrucke hatte der Maler Fax (069) 212–30705 von seinen Ölgemälden eigens Grisaillen angefertigt, die mit ihren ÖFFNUNGSZEITEN Grautönen damals die einzige Möglichkeit für eine gute photogra- Di – So 10 – 17 Uhr, Mi 10 – 20 Uhr phische Wiedergabe boten. Mo geschlossen

Die Serie zeigt harmonische Szenen von der häuslichen Schabbat- Feier und aus dem jüdischen Festkalender. Oppenheim versetzt das Geschehen in eine städtische Judengasse kurz vor deren Öff- nung am Ende des 18. Jahrhunderts. Seine Darstellungen geben keinen verklärten Blick in die ärmlichen Verhältnissen des Ghettos,

Foto: Aleksandr Sliusarev sondern zeigen eine wohlhabende Familie des aufstrebenden Bürgertums, die mit großem Selbstbewusstsein eine religiöse Eigen- ständigkeit lebt, die ihr im realen Ghetto nie erlaubt war. AUSSTELLUNGEN JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT ELSE LASKER-SCHÜLER – DIE BILDER AUSSTELLUNG IM JÜDISCHEN MUSEUM FRANKFURT 8. SEPTEMBER 2010 BIS 9. JANUAR 2011

Als Dichterin und Schriftstellerin ist Else Lasker-Schüler (1869–1945) „AUSGERECHNET DEUTSCHLAND! „FÜR MARCEL REICH-RANICKI“ – heute allgemein als herausragende Vertreterin der avantgardisti- JÜDISCH-RUSSISCHE EINWANDERUNG DAS JÜDISCHE MUSEUM FRANKFURT schen Moderne und des Expressionismus anerkannt. Gottfried Benn IN DIE BUNDESREPUBLIK“ GRATULIERT ZUM 90. GEBURTSTAG nannte sie die „größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“. Sie AUSSTELLUNG IM JÜDISCHEN MUSEUM AUSSTELLUNG IM MUSEUM JUDENGASSE war aber auch eine bedeutende Zeichnerin, die zu ihren Lebzeiten in 12. MÄRZ BIS 25. JULI 2010 31. MAI BIS 5. SEPTEMBER 2010 renommierten Häusern wie dem Folkwang-Museum Hagen oder dem Berliner Salon Cassirer ausstellte. Über hundert ihrer Zeichnun- Nach dem Mauerfall und Zusammenbruch der Sowjetunion suchte Im Juni 2010 wird der wohl bekannteste Publizist und Literatur- gen waren im Besitz der Berliner Nationalgalerie. Maler wie Franz rund eine Viertelmillion sowjetischer Juden eine Zukunft im wie- kritiker der deutschen Nachkriegsgeschichte 90 Jahre. Marcel Marc und Emil Nolde schätzten die stilistisch ganz eigenständigen dervereinigten Deutschland. Wie die Einwanderer das Judentum in Reich-Ranickis Popularität reicht weit über die Literaturszene hinaus Werke und nahmen Anregungen von ihnen auf. Nach Verfolgung Deutschland seither veränderten und welche Erfahrung sie in ihrer – 98 Prozent der deutschen Bevölkerung kennt seinen Namen. Eine durch die Nationalsozialisten, Diffamierung und Zerstörung ihrer Kunst neuen Heimat gesammelt haben, beleuchtet jetzt die Ausstellung Ausstellung wird der Frage nachgehen, welche Rolle der Überleben- als „entartet“ und nach dem Berufsverbot in ihrem ersten Emigra- „Ausgerechnet Deutschland!“. Die Schau ist vom 12. März bis de des Warschauer Ghettos in einem von ehemaligen Wehrmachts- tionsort in der Schweiz ging Else Lasker-Schüler nach Palästina, wo 25. Juli 2010 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zu sehen. angehörigen, Mitläufern und Tätern stark geprägten Kulturleben der sie jedoch isoliert blieb. Obwohl 1932 mit dem Kleistpreis ausge- Kurator Dmitrij Belkin, Ex-Kontingentflüchtling und Historiker, Nachkriegszeit gespielt hat. Marcel Reich-Ranicki hat sich selber zeichnet, musste ihr dichterisches Werk nach 1945 erst wieder neu sowie sein Team veranschaulichen Integrationsprozess und Neu- immer wieder als Atheist beschrieben, der in seinem Leben keinen zugänglich gemacht werden. Die Ausstellung im Jüdischen Museum positionierung der jüdischen Gemeinden, in denen heute über- Augenblick lang an Gott geglaubt hat. Dennoch bleibt die Zuge- Frankfurt präsentiert erstmals ihr zeichnerisches Werk. Der im wiegend Russisch gesprochen wird. Außer der historisch-politischen hörigkeit zum Judentum für ihn eine selbstverständliche Tatsache. Mit Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erscheinende Katalog „Else Lasker- Dokumentation der Ereignisse und sehr persönlichen Erfahrungs- bisher nicht veröffentlichten Dokumenten und vielen Zeugnissen Schüler. Die Bilder“ liefert die erste systematische wissenschaftliche berichten der Protagonisten zeigen die Ausstellungsmacher für die aus den Medien werden Leben und Werk des Kritikers dokumentiert. Erfassung und Bearbeitung Ihres zeichnerischen Œuvres. Er wurde Schau erdachte künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Zur Ausstellung wird ein Begleitprogramm angeboten. erarbeitet von Ricarda Dick und schließt ein Werkverzeichnis mit ein. Thema und zahlreiche Interviews, auch mit den damals politisch Handelnden. Die aktuellen Daten entnehmen Sie bitte der Website Die Ausstellung wird unterstützt vom www.juedischesmuseum.de. Die Ausstellung ist dreisprachig (Deutsch / Russisch / Englisch). Das Rahmenprogramm zur Ausstellung finden Sie unter Museum Judengasse, Kurt-Schumacher-Straße 10, www.juedischesmuseum.de 60311 Frankfurt am Main Titelthema Foto: Suhrkamp Verlag Einsicht Forschung und Vermittlung

ter in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess. Sie stehen, wie die zeigte, rückte drei Aspekte der Geschichte der Frankfurter Schu- Briefstelle zeigt, von Anfang an im Kontext einer Refl exion über die le in den Vordergrund. Erstens legte sie den Akzent nicht so sehr Herausforderung, die die nationalsozialistischen Verbrechen für das auf die frühe, marxistische Phase der Theoriebildung, sondern auf ethische und politische Selbstverständnis der Menschheit überhaupt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, vor allem bedeuten. Diese Herausforderung angenommen zu haben als eine dem Antisemitismus, die die Arbeit der Emigranten der Frankfurter Hannah Arendt Herausforderung für das Denken wie auch für das politische Han- Schule in der Zeit des Exils zunehmend prägte. Sie stellte zweitens deln und damit die Auseinandersetzung über die NS-Verbrechen in das Verhältnis der Angehörigen des Instituts für Sozialforschung und die Frankfurter Schule Deutschland in den Jahrzehnten nach dem Krieg wesentlich beein- und seiner entfernteren Mitarbeiter zum Judentum dar und machte fl usst zu haben, verbindet die Leistung von Max Horkheimer, Han- deutlich, wie sich die Nachrichten von der Vernichtung des euro- Eine Einleitung nah Arendt und Günther Anders, die wir im Schwerpunkt dieses päischen Judentums in der Arbeit der Protagonisten der Frankfur- Heftes darstellen. Obwohl sie zueinander in einem teils kritischen, ter Schule niederschlugen und die Theoriebildung beeinfl ussten. Sie von Werner Konitzer teils distanzierten, teils ablehnenden Verhältnis standen, weisen ihre dokumentierte die Diskussionen um die Rückkehr nach Deutsch- Theorien doch ähnliche Züge auf. Und ihnen allen ist gemeinsam, land und die Arbeit, die das Institut in den 1950er und beginnenden dass sie für die Diskussion um die NS-Vergangenheit in Deutsch- 1960er Jahren in Deutschland leistete. Und sie zeigte, dass die Ar- land eine besondere Rolle spielten. beit des Instituts für Sozialforschung nur zu verstehen ist, wenn »Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, Dazu hat vermutlich ein Aspekt, der aus der historischen Ent- man seine Einbettung in einen weit über den engeren Kreis des In- juristisch nicht mehr fassen, und das macht fernung als ein Berührungspunkt der Werke aller drei Autoren her- stituts hinausreichenden transnationalen Diskussions- und Erfah- gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für die- vorsticht, maßgeblich beigetragen. Alle drei nämlich verstehen den rungszusammenhang berücksichtigt, ein Zusammenhang, zu dem se Verbrechen gibt es keine angemessene Nationalsozialismus nicht nur als einen fundamentalen Bruch mit auch die Gegnerschaften und Konkurrenzen gehören. Vor diesem Werner Konitzer, PD Dr. phil., Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig in- der Geschichte, sie deuten ihn zugleich im Kontext einer totalitä- Hintergrund trat die Bedeutung, die Max Horkheimer, der Leiter des Philosoph, geb. 1955, Studium adäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen ren Moderne insgesamt, das heißt, sie stellen ihn in den Zusam- Instituts, für diesen Kreis hatte, stärker heraus. In ihrem Beitrag für der Germanistik und Publizistik Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen […]. Mit ei- menhang einer historischen Kritik der gegenwärtigen Zivilisation.3 Einsicht 03 vergleicht Monika Boll die Theorien Arendts und an der Freien Universität Berlin, ner Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, und einer Unschuld, Diese Kritik verbanden sie zwar mit deutlichen Angriffen auf die Horkheimers, speziell ihre Einstellung zum Judentum und die Be- 1993 Promotion bei Helmut Richter die jenseits der Güte oder der Tugend liegt, kann man menschlich- fehlende bzw. moralisch-politisch unzureichende Auseinanderset- deutung, die das Judentum für die Entwicklung ihrer Philosophie und Ernst Tugendhat, 2002 Habilita- politisch überhaupt nichts anfangen. Das ist der Abgrund […] in zung mit den NS-Verbrechen in Deutschland. Beides wurde jedoch hatte. tion an der Europa-Universität den wir nun schließlich hineingeraten sind. Wie wir aus ihm wie- in Deutschland oft voneinander getrennt rezipiert, sodass die Mo- Während die Diskussion um Arendt und die Frankfurter Schu- Viadrina, seit 2002 Privatdozent an der herauskommen sollen, weiß ich nicht.«1 Auf diese Sätze, mit derne-Kritik hervortrat und die historisch-konkrete Situierung der le bis heute weitergeht, ist das Werk von Günther Anders nicht zu- der Kulturwissenschaftlichen Fakultät denen Hannah Arendt am 17. August 1946 kritisch auf Karl Jaspers Verbrechen in der deutschen Entwicklung in der Rezeption weit zu- letzt mit dem Kontext des Kalten Krieges und der atomaren Bedro- der Europa-Universität Viadrina Buch Die Schuldfrage reagierte, antwortete Jaspers am 19. Okto- rücktrat. hung, in dem er sich politisch weitaus entschiedener positionierte Frankfurt (Oder), bis 2006 wissen- ber aus Heidelberg: »Nicht ganz so einig bin ich mit Ihnen in den Arendts Rede von der »Banalität des Bösen« ist bis heute um- als Arendt oder auch Horkheimer und Adorno, in Vergessenheit ge- schaftlicher Mitarbeiter am Hambur- beiden anderen kritischen Bemerkungen zur ›Schuldfrage‹: Was die stritten. Liliane Weissberg, die zu diesem Thema im Rahmen ih- raten. Anders stand in einem persönlich kritischen Verhältnis zur ger Institut für Sozialforschung, seit Nazis getan haben, lasse sich als ›Verbrechen‹ nicht fassen, – Ih- rer Gastprofessur am Fritz Bauer Institut ein Seminar gab, nahm Frankfurter Schule, von dem nicht zuletzt seine Briefe an Adorno Juli 2007 am Fritz Bauer Institut als re Auffassung ist mir nicht ganz geheuer, weil die Schuld, die alle die in den letzten Monaten wieder aufgekommene Kontroverse aus dem Jahre 1963 zeugen. Auch das Verhältnis zu Hannah Arendt stellvertretender Direktor für den kriminelle Schuld übersteigt, unvermeidlich einen Zug von ›Grö- um diese Formulierung als Leitfaden für ihre Einführung zu der war nach – oder bereits während – ihrer Ehe merklich abgekühlt, Bereich Forschung zuständig. ße‹ – satanischer Größe – bekommt, die meinem Gefühl angesichts Konferenz über Hannah Arendt und die Frankfurter Schule, die auch wenn sich die beiden immer wieder trafen. der Nazis so fern ist, wie das Reden vom ›Dämonischen‹ in Hitler sie im Januar 2010 am Fritz Bauer Institut leitete. Aus ihr ist auch Gerade weil in Anders’ Büchern die Tendenz einer übergrei- und dergleichen. Mir scheint, man muss, weil es wirklich so war, Weissbergs Beitrag für das vorliegende Bulletin des Fritz Bauer In- fenden Zivilisationskritik so deutlich hervortritt, ist es erhellend, die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen, ihrer ganz nüchternen stituts entstanden. Die Themenstellung der Konferenz wird darge- die Bedeutung, die die Erfahrung des Exils und der nationalsozia- Nichtigkeit […].«2 stellt und weitergeführt in einem umfassenden Band über Hannah listischen Verbrechen für ihn bedeutete, herauszuarbeiten – und die Die Worte von der »Banalität des Bösen«, die sich in dieser Arendt und die Frankfurter Schule, der Anfang des nächsten Jah- Unterschiede und die Ähnlichkeiten zu den Autoren der Frankfur- briefl ichen Kontroverse ankündigen, ohne direkt ausgesprochen zu res erscheinen wird. ter Schule und zu Hannah Arendt zu betonen. Das unternimmt Ann- werden, verwendet Hannah Arendt dann über ein Jahrzehnt spä- Die von Monika Boll und Eric Riedel kuratierte Ausstel- Kathrin Pollmann in ihrem Artikel, in dem das Werk von Anders lung »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach in den Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust ge- Deutschland«, die das Jüdische Museum Frankfurt im letzten Jahr stellt wird.

1 Hannah Arendt an Karl Jaspers, 17.8.1946, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 1985, S. 90 f. 3 Vgl. dazu den sehr lehrreichen Band zum Vergleich der Werke Arendts und 2 Karl Jaspers an Hannah Arendt, 19.10.1946, in: Arendt, Jaspers, Briefwechsel, Adornos, Arendt und Adorno, hrsg. von Dirk Auer, Lars Rensmann und Julia S. 98 f. Schulze Wessel, Frankfurt am Main 2003.

16 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 17 Einschulung Zur Konferenz »Hannah Arendt und die Frankfurter Schule«

von Liliane Weissberg

Deutscher Soziologentag anläßlich des 100. Geburtstags von Max Weber, April 1964 Vor einigen Jahren publizierte Elisabeth in Heidelberg, vorne links: Max Horkheimer, vorne rechts: Theodor W. Adorno, im Young-Bruehl ein kleines Buch bei der Yale Hintergrund rechts: Jürgen Habermas. Foto: Jeremy J. Shapiro, GNU Hannah Arendt Foto: Erica Loos, Deutsches Literaturarchiv Marbach University Press, das gleichzeitig eine neue Buchreihe zu aktuellen Themen ankündigen Liliane Weissberg ist Christopher H. sollte: Why Arendt Matters1. Young-Bruehl, eine ehemalige Studentin Skandal, der bis heute anzuhalten scheint. So veröffentlichte Bernard Ich hatte das Sommersemester 2009 mit einer Gruppe von Browne Distinguished Professorin für Hannah Arendts an der New School in New York und Autorin einer Wasserstein am 9. Oktober 2009 einen Artikel in der Times Litera- Studierenden am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main gerade Kunst und Wissenschaft und Professo- eindrucksvollen Biografi e über Hannah Arendt2, refl ektiert in Why ry Supplement mit dem Titel »Blame the Victim – Hannah Arendt damit verbracht, dem Ausdruck »Banalität des Bösen« die von Ro- rin für Germanistik und vergleichende Arendt Matters über die Wirkung von Arendts Werk. Trotz Arendts Among the Nazis: The Historian and Her Sources«, in dem er sich senbaum beschriebene »Leichtsinnigkeit« zu nehmen und ihn hin- Literaturwissenschaft an der Univer- Studien zu den »Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft«3 oder sowohl auf Arendts Buch zum Eichmann-Prozess wie auch auf ihre sichtlich des Arendt’schen Werkes und seines philosophischen und sity of Pennsylvania. Ihr Forschungs- etwa zu »Macht und Gewalt«4, trotz ihrer Vorträge und Aufsätze zu Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bezieht, um zu zeigen, politischen Kontextes zu untersuchen. Wir hatten Young-Bruehls schwerpunkt liegt auf der deutschen Kant und Lessing, Heidegger und Benjamin sei ihr Werk, so Young- wie sehr Arendts Studien auf Quellen nationalsozialistischer Auto- Feststellung im Seminar also umgekehrt und mithilfe der Formulie- Literatur und Philosophie vom späten Bruehl, in der populären Rezeption vor allem auf vier Worte redu- ren beruhen.7 Nach Wasserstein internalisierte Arendt einen Anti- rung »Banalität des Bösen« die Arendt’schen Interessen und Thesen 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhun- zierbar: »Die Banalität des Bösen«.5 Diese Worte erscheinen nur semitismus, der schließlich auch die Einschätzung von Eichmanns ihrer politischen Theorie untersucht; der Skandal dieser sogenannten derts. Gegenwärtig schließt sie eine einmal zum Ende ihres Buches über »Eichmann in Jerusalem«, wur- Person und Taten beeinfl ussen musste. Der Begriff »Die Banalität Phrase offenbarte sich – fast im Brecht’schen Sinne – als Lehrstück. Publikation über deutsch-jüdische den aber von ihrem Verlag als Untertitel des Buches gewählt – »ein des Bösen« sollte in diesem Kontext gesehen werden. Aber während Arendts Buch zu Eichmann und die dort formulierte Autobiografi en seit dem 18. Jahrhun- Bericht von der Banalität des Bösen«.6 Nach Young-Bruehl sind sie Ron Rosenbaum veröffentlichte seine Reaktion auf Wasser- »Banalität des Bösen« die bis heute deutlichste Instanz des Arendt’schen dert und ihre Annäherung an die für viele zu einer Art obzönen Schimpfwort geworden, zu einer Art steins Vorwürfe am 30. Oktober im Internet-Journal Slate, der Ar- Werkes darstellen mag, hinsichtlich derer Arendt nun verteidigt oder nichtjüdische Gesellschaft ab. Im four-letter word, das die Aktualität des Arendt’schen Denkens und tikel trägt den Titel »Das Böse der Banalität« (The Evil of Bana- verurteilt werden soll, so war dies keineswegs der einzige Skandal, den Sommersemester 2009 war sie Gast- die angemessene Rezeption ihres Werks verstellt. lity), und Rosenbaum weist ebenso auf Arendts wissenschaftliche Arendts Oeuvre provozieren sollte. Bereits einige Jahre zuvor gelang professorin am Fritz Bauer Institut. Arendts Formulierung »Banalität des Bösen« wurde bereits an- wie private Beziehung zu Martin Heidegger hin, der schon früh in es ihr, mit einer heute sehr viel weniger beachteten Arbeit die Grenzen In diesem Rahmen führte sie an der lässlich der ersten Publikation der Arbeit im Jahre 1963 zu einem die NSDAP eingetreten war. zwischen liberalem und konservativem Denken infrage zu stellen. Es ist Goethe-Universität Frankfurt am »Ich hoffe«, schreibt Rosenbaum, »dass [Wassersteins] Entde- ein Skandal, auf den wir in unserem Seminar nicht eingehen konnten. Main ein Seminar durch zum Thema ckungen weiterhin bewirken werden, eine viel zu sehr benutzte, falsch 1954 befand der Oberste Gerichtshof der USA, dass die Rassen- »Ist das Böse banal? Hannah Arendt und fälschlich gebrauchte pseudo-intellektuelle Phrase unserer Sprache trennung in öffentlichen Schulen der amerikanischen Verfassung wi- 1 Elisabeth Young-Bruehl, Why Arendt Matters, New Haven 2006. und der Eichmann-Prozess«, in dem 2 Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt: For the Love of the World, New Haven zu diskreditieren, nämlich: Die Banalität des Bösen. Die Banalität der dersprach (Brown vs. Board of Education). Die Schulbezirke im Sü- sie sich mit der Philosophie Arendts 1982; die deutsche Ausgabe trägt den Titel Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Banalität des Bösen, nämlich die Leichtsinnigkeit dieses Ausdrucks, den der Vereinigten Staaten wurden aufgefordert, diesem Urteil zu beschäftigte, ihrer Studie zum Eich- übersetzt v. Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 1989. war jedem eigentlich schon lange unverständlich, aber vielleicht wird folgen, und das Gericht erklärte 1955, dass diesem Urteil nur durch mann-Prozess sowie den Reaktionen 3 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951; in ihrer eigenen diese Formulierung jetzt endlich auch ganz dem Bereich des Gefähr- eine Integration der Schulen gefolgt werden konnte – »with all de- deutschen Fassung betitelt Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 8 9 auf ihr Buch. am Main 1955. lich-Verräterischen und des Unehrlichen zugeordnet werden.« liberate speed«, in angemessener Zeit. Doch was war hier zeitlich Unter der Leitung von Liliane Weiss- 4 Hannah Arendt, On Violence, New York 1970; in deutscher Sprache unter dem berg wurde im Januar 2010 die inter- Titel Macht und Gewalt, München 1970, veröffentlicht. nationale Tagung »Hannah Arendt 5 Young-Bruehl, Arendt Matters, S. 1. 6 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New 7 Bernard Wasserstein, »Blame the Victim – Hannah Arendt Among the Nazis: The 2009 (Übersetzung L.W.). und die Frankfurter Schule« an der York 1963; Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Historian and Her Sources«, in: Times Literary Supplement, 9.10.2009, S. 13. 9 Vgl. Brian J. Dougherty, Charles C. Bolton (Ed.), With All Deliberate Speed: Goethe-Universität durchgeführt. übersetzt v. Brigitte Granzow, München 1964. 8 Ron Rosenbaum, »The Evil of Banality«, in: Slate, Posted Friday, October 30, Implementing Brown v. Board of Education, Fayetteville 2008.

18 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 19 angemessen, wenn es galt, Rechtsextremisten und Gegner der Schul- verwechsle zwei grundsätzlich unterschiedliche Bereiche miteinander integration zu überzeugen oder zumindest Ausschreitungen gegen- – den des Sozialen mit dem des Politischen. Nach Arendt ist ein Kind über schwarzen Bürgern zu vermeiden? 1957 entschied der Oberste noch kein politisch Handelnder. Seine Schulerziehung soll dem priva- Gerichtshof, dass die Schulen in Little Rock, Arkansas, trotz weite- ten Raum zugeordnet werden, sie gehört in den Bereich der Familie. rer Proteste der weißen Bevölkerung integriert werden sollten. Am Seyla Benhabib und andere Politologinnen und Politologen ha- 7. September des Jahres, dem ersten Schultag, wurden Krawalle er- ben Arendts Unterscheidung zwischen einem gesellschaftlichen und wartet, denn die konservativen lokalen Politiker riefen nach State einem politischen Bereich bereits vielfach und ausführlich infrage ge- Troopers, welche die Schule vor einer Rassen-Integration schützen stellt.15 Der schwarze Schriftsteller Ralph Ellison kritisierte bereits sollten. Die Schuladministration plante, die neun schwarzen Schü- kurz nach der Veröffentlichung des Aufsatzes die »olympische Hö- ler und Schülerinnen, die nun das Gymnasium in Little Rock, Little he«, von der aus Arendt zu urteilen sich anmaß, und die Unfähigkeit, Rock Central High School, besuchen sollten, anzurufen und sie an- die Realität der Lebensbedingungen schwarzer Erwachsener wie Kin- zuweisen, aus Sicherheitsgründen das Gebäude durch eine Seitentür der im amerikanischen Süden zu verstehen.16 Arendts eigene Schriften zu betreten. In acht Fällen waren diese Anrufe erfolgreich. Die Fami- sind darüber hinaus hinsichtlich der politischen Rolle von Kindern und lie einer Schülerin, Elizabeth Eckford, besaß aber kein Telefon. So Jugendlichen nicht immer konsistent. Arendt, die bei einer anderen Ge- ging die fünfzehnjährige Elizabeth alleine zum Haupteingang eines legenheit, in einem späteren Interview mit Günter Gaus, gerade ihre Gebäudes, unter den Beschimpfungen der weißen Bevölkerung, und ersten Erfahrungen mit dem Rassismus – dem Antisemitismus – mit wurde von bewaffneten Soldaten am Betreten der Schule gehindert.10 ihrer eigenen Schulzeit in Verbindung gebracht hatte,17 entschuldigte Die Bilder des Fotografen Will Counts gingen um die Welt, und die sich in einem privaten Brief an Ellison.18 Sie hätte die schwarzen El- Ereignisse in Little Rock wurden emblematisch für den Kampf der tern der Schulkinder keineswegs als Parvenüs verstehen sollen. Die schwarzen Amerikaner um Gleichberechtigung und Bürgerrechte.11 Erfahrungen der Schwarzen in Amerika seien ihr eigentlich fremd. Die Zeitschrift Commentary, für die Arendt bereits regelmäßig Doch während Arendt ihre Einschätzung des Eichmann-Prozesses schrieb, bat sie um einen Beitrag zu den Vorgängen in Little Rock. zwischen der ersten Fassung in der Zeitschrift The New Yorker – die Arendts Artikel entstand im Oktober 1957, wurde aber trotz des Arendt als Berichterstatterin zu dem Verfahren nach Jerusalem sandte Auftrags abgelehnt und erschien erst 1959 in einem anderen ameri- kanischen Periodikum, Dissent.12 Und die Publikation der »Refl ek- tionen zu Little Rock« macht deutlich, warum Arendts Aufsatz den Erwartungen von Commentary nicht entsprach.13 Denn die Polito- 15 Siehe Seyla Benhabib, The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks 1996, S. 246–248 (dt.: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, login, die sich sonst so wortstark für die Bürgerrechte aller einsetz- übersetzt v. Karin Wördemann, Frankfurt am Main 2006); Seyla Benhabib, te, sprach sich dort deutlich und überraschend gegen eine forcierte »Hannah Arendt’s Political Engagements«, in: Thinking in Dark Times: Hannah Integration an den öffentlichen Schulen aus. Arendt on Ethics and Politics, hrsg. von Roger Berkowitz, Jeffrey Katz und Thomas Arendt bezieht sich vor allem auf eine Fotografi e von Counts, in Keenan, New York 2010, S. 55–61; oder Robert Bernasconi, »The Double Face of Hannah Arendt the Political and the Social: Hannah Arendt and America’s Racial Divisions«, in: Foto: Erica Loos, Deutsches Literaturarchiv Marbach der sie Elizabeth Eckford als ein Kind sieht, das vom Mob verfolgt Research in Phenomenology 26 (1991), S. 3–26; und James Bohman, »The Moral wird und entgegen seinem Willen in die Position eines Opfers gedrängt Costs of Political Pluralism: The Dilemmas of Difference and Equality in Arendt’s Die fünfzehnjährige Elizabeth Eckford geht unter wird.14 Arendt zufolge sollten Kinder nicht die politischen Ausein- ›Refl ections on Little Rock‹«, in: Hannah Arendt: Twenty Years Later, hrsg. v. Larry Beschimpfungen der weißen Bevölkerung zum andersetzungen der Erwachsenen austragen müssen. Darüber hinaus May und Jerome Kohn, Cambridge (Mass.) 1996, S. 53–80. Haupteingang eines Schulgebäudes in Little Rock. 16 Ralph Ellison schrieb von einer »Olympian authority«, die er Arendt wie auch verstößt das neue Gesetz zur Integration der Schulen nach Arendt auch Foto: Will Counts, Arkansas Democrat, Irving Howe, dem Herausgeber von Dissent, zusprach; siehe Ellison, »The World 5. September 1957 gegen die Unabhängigkeit der einzelnen Bundesstaaten. Und Arendt and the Jug«, wiederabgedruckt in: The Collected Essays by Ralph Ellison, hrsg. gebraucht ein drittes Argument. Eine erzwungene Schulintegration von John Callahan, New York 1995, S. 156. Siehe auch Ellisons Interview mit Robert Penn Warren, »Leadership from the Periphery«, in: ders. (Ed.), Who Speaks for the Negro?, New York 1966, S. 343. 17 Günter Gaus, Gespräch mit Hannah Arendt, München 1964. Es handelt sich hierbei um die schriftliche Fassung eines Fernsehinterviews, das im ZDF 10 Vgl. Sana M. Nakata, »Elizabeth Eckford’s Appearance at Little Rock: The Pos- anlässlich der deutschen Publikation des Eichmann-Buches in diesem Jahr sibility of Children’s Political Agency«, in: Politics 28 (2008), S. 19–25. ausgestrahlt wurde. Siehe auch Liliane Weissberg, Vorwort zu Hannah Arendt, 11 Counts fotografi erte für den Arkansas Democrat, seine Fotos erschienen aller- Rahel Varnhagen: The Life of a Jewess, Baltimore 1997, S. 26–36. dings auch in vielen anderen Zeitungen weltweit und wurden für den Pulitzer- 18 Siehe Young-Bruehl, Hannah Arendt, S. 316. Zu dem Verhältnis von Arendt und Preis nominiert (den er nicht gewann). Ellison siehe auch Ross Posnock, »Ralph Ellison, Hannah Arendt, and the Meaning 12 Vgl. Young-Bruehl, Hannah Arendt, S. 311. of Politics«, in: ders. (Ed.), The Cambridge Companion to Ralph Ellison, Cambridge 13 Hannah Arendt, »Refl ections on Little Rock«, in: Dissent 6 (1959), S. 47–58, und 2005, S. 201–216; und Meili Steele, »Arendt versus Ellison on Little Rock: The Role »A Reply to Critics«, Dissent 6 (1959), S. 179–181. of Language in Political Judgment«, in: Constellations 9 (2002), S. 184–206; und 14 Zu den Fotografi en siehe auch Vicky Lebeau, »The Unwelcome Child: Elizabeth David Gideon Leitch, The Politics of Understanding: Language as a Model of Eckford and Hannah Arendt«, in: Journal of Visual Studies 3 (2004), S. 51–62. Culture, Dissertation, University of California, San Diego (2008), S. 187–210.

20 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 21 Einflussreiche Denkerin des 20. Jahrhunderts …

– und der späteren Buchpublikation leicht revidierte,19 blieb der Auf- York) noch die geografi sche Distanz des anderen (das spätere Frank- satz »Refl ections on Little Rock« auch in weiteren Drucklegungen furt am Main) zu einer Annäherung führen konnten? Inwieweit ist das unverändert erhalten – und Arendt versah ihn nur mit einem kurzen Verhältnis Arendts zu den Mitgliedern der Frankfurter Schule und ih- Anfangskommentar, der den zeitlichen Kontext anzugeben sucht.20 ren Projekten, inwiefern ist das Verhältnis Adornos und Horkheimers Fraglos hatte Arendt nicht nur ein Talent für provozierende Formulie- zu Arendt und ihren Werken wichtig für ihre eigenen Arbeiten, für rungen.21 Sie bemühte sich nicht gerade, Provokationen auszuweichen. die Entwicklung der politischen Theorie und kritischen Theorie die- Beide erwähnten Skandale rücken gewissermaßen in den Mittel- ser Autoren, oder ganz einfach für die Geistesgeschichte dieser Zeit?24 punkt, wenn wir uns mit dem Verhältnis von Hannah Arendt und der Die Konferenz zu »Hannah Arendt und die Frankfurter Schu- Frankfurter Schule beschäftigen. Die Fragen von Schuld und ethi- le« fand zum Ende meiner Gastprofessur am Fritz Bauer Institut statt schem Handeln, die im Mittelpunkt von Arendts Eichmann-Buch und bildete gleichzeitig eine Finissage zur Ausstellung »Die Frank- stehen, sowie Fragen des Rassismus und der politischen Verant- furter Schule und Frankfurt: Eine Rückkehr nach Deutschland« im Jü- wortlichkeit jedes Individuums, wie Arendt sie in ihren Schriften dischen Museum Frankfurt. Dass sie nur bedingt ein »Ende« setzen zur Situation der Juden vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und könnte – eines Gastsemesters, einer Ausstellung, der Fragen hinsicht- ebenso in den »Refl ections on Little Rock« behandelt, sind Themen- lich des Verhältnisses von Arendt zu den Mitgliedern der Frankfurter bereiche, die Arendt mit ihren Mit-Emigranten aus Deutschland – Schule –, dass sie stattdessen auf offene Fragen bestehen musste, dies Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Friedrich Pollock – verbin- wurde mir gleich bei den Einladungen der Referenten bewusst. Auf den. Diesen jedoch gelingen weder die gleichen theoretischen oder meine Briefe bekam ich ein paar ausführliche und bemerkenswerte verbalen Provokationen noch – vielleicht paradoxerweise – eine Antworten. Eine erste Absage erhielt ich von Jerry Kohn, einem ehe- ähnliche Integration ins amerikanische öffentliche Leben. Und nur maligen Doktoranden Arendts und heute Arendts Nachlassverwalter. ein Mitglied der sogenannten Frankfurter Schule, und ein recht mar- Jerry freute sich, von mir zu hören, war jedoch über das Thema der ginales dazu, erhält Arendts ungeteilte Bewunderung und Aufmerk- Konferenz verwundert. Wusste ich denn nicht, wie sehr Hannah diese samkeit. Es ist der Cousin ihres ersten Mannes Günther Stern, Wal- Leute hasste? Dass sie nichts mit ihnen zu tun haben wollte? Was be- ter Benjamin.22 Ihm kam sie im Pariser Exil näher, das Manuskript absichtigte ich denn mit einer Veranstaltung, die Arendt und Adorno seiner geschichtsphilosophischen Thesen wurde von Arendt aufbe- zusammenführen sollte? Nein, Jerry hatte weder Zeit noch Lust, sich wahrt und liegt heute zusammen mit Arendts eigenen Notaten im mit deren Verhältnis auseinanderzusetzen. Auch Jay Bernstein, Profes- Hannah Arendt hat zahlreiche Theorien entwickelt, die hochaktuell sind: Arendt-Archiv der Washingtoner Library of Congress. sor der Philosophie an der New School University in New York und z. B. zu Imperialismus, Globalisierung, Menschenrechten oder Feminismus. Wie steht es nun um Arendts Verhältnis zu den anderen Mitglie- Autor einiger Bücher zur Frankfurter Schule, konnte leider an der Ver- Die philosophischen, politischen und literarischen Kontexte, die ihr dern der Frankfurter Schule, und wie steht es mit dem Verhältnis die- anstaltung nicht teilnehmen, doch fand er die Fragestellung wiederum Denken geprägt haben, klärt dieses Handbuch. ser Mitglieder zu Arendt? Gibt es hier vielleicht ebenso eine schein- zu offensichtlich. Wieso ich denn zwischen Arendt und der Frankfur- Neben Informationen zur Biografie und den zeitgenössischen Bezügen bare Trennung zwischen dem sozialen und dem politischen Bereich? ter Schule unterschiede, wollte er wissen, was sollte dieses »und« im präsentiert es alle wichtigen Werke und gibt Hinweise zu deren interna- Gerade hinsichtlich seines Verhaltens gegenüber Benjamin und dessen Titel der Konferenz? War Arendt nicht, so Bernstein, die Politologin tionaler Rezeption in vielen Disziplinen. Zentrale Begriffe und Konzepte Werk wollte Arendt Adorno nicht vertrauen. Aber war der Walter Ben- der Frankfurter Schule? Worin lag hier die Fragestellung, das Problem? des Gesamtwerks werden ausführlich erklärt – darunter: Antisemitismus, Das Böse, Macht, Revolution, Republik/Nation, Totalitarismus u. v. a. jamin, den Arendt las, der gleiche, den Adorno oder andere Vertreter Eine unüberwindbare Trennung, eine bereits lange erfolgte Inte- Mit Bibliografie und Register. der Frankfurter Schule kannten? Und welche philosophischen und po- gration: Unsere Konferenz sollte sicherlich nicht der »anderen Seite« litischen Bedenken führten zu einem Bruch, sodass der eine (Adorno) mit Schweigen begegnen oder umgekehrt eine geglückte Einschulung nicht das Haus der anderen (Arendt) betreten sollte, wie Arendt aus- Arendts vollbringen. Aber die Fülle der Vortragsthemen gab bereits drücklich verlangte,23 und weder die Nähe des einen Wohnortes (New einen Hinweis, dass auch Reibungen produktiv sein können – wie auch Auseinandersetzungen und Diskussionen. Die produktive Dis- Heuer/Heiter/Rosenmüller (Hrsg.) kussion des Konferenztages offenbarte jedenfalls ein reiches Spek- Arendt-Handbuch trum an Themen – und die deutliche Erwartung eines Tagungsbands. 19 Arendt schwächte manche Formulierungen ab, insbesondere bezüglich des Leben – Werk – Wirkung Verhaltens Leo Baecks. Zu den Fassungen und zur Rezeption des Textes siehe 2010. Ca. 400 S. Geb. € 59,95 zum Beispiel Michael Ezra, »The Eichmann Polemics: Hannah Arendt and Her ISBN 978-3-476-02255-4 Critics«, in: Democratiya 9 (2007), S. 141–165. Erscheint 09/2010 20 Siehe den Wiederabdruck in Hannah Arendt, Responsibility and Judgment, hrsg. bande«. Siehe unter anderem Moshe Zuckermann, »Zur Bedeutung von Hannah von Jerome Kohn, New York 2003, S. 193–213. Arendts Eichmann in Jerusalem«, in: Utopie kreativ 201/202 (2007), S. 677; oder 21 Siehe auch Jonathan Rée, »In Her Mind’s Eye«, in: The Nation, 30.1.2006, S. 4. die Anthologie Arendt und Adorno, hrsg. von Dirk Auer, Lars Rensmann und 22 Vgl. Liliane Weissberg, »Critics in Dark Times: Hannah Arendt Reads Walter Julia Schulze Wessel, Frankfurt am Main 2003. Benjamin«, in: Literary Friendship, Literary Paternity: Essays in Honor of 24 Siehe dazu auch Seyla Benhabibs Beitrag »Hannah Arendt und die Frankfurter Schule: Stanley Corngold, hrsg. von Gerhard Richter, Chapel Hill 2002, S. 278–293. Geteiltes Schicksal ungleicher Persönlichkeiten«, in: Monika Boll, Raphael Gross Am besten gleich bestellen: 23 Arendt bemerkte hinsichtlich Adornos in Briefen: »Der kommt mir nicht ins (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland, www.metzlerverlag.de Haus!« und nannte die Mitglieder der Frankfurter Schule auch die »Schweine- Göttingen 2009, S. 170–177. [email protected]

22 Einsicht

02_Heuer_EIN_230x295_A.indd 1 25.02.2010 13:25:30 Uhr ner deutschen Jüdin aus der Romantik beschrieb die Situation der jü- sance der Weimarer Jahre4, das vor allem bei der jungen Generati- dischen geistigen Elite zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen Sä- on neu erwachte Interesse an jüdischer Tradition, oftmals verbunden kularisierung, politischer Emanzipation und Assimilation. Das Buch mit einer romantischen Schwärmerei für das vermeintlich authen- korrespondierte mit der Vita seiner Autorin – einer deutschen Jüdin tischere Ostjudentum, weder auf Arendt noch auf Horkheimer eine aus der Weimarer Zeit, die gerade das Ende der jüdischen Emanzi- Attraktivität ausübte. Im Unterschied zu anderen Mitarbeitern des Hannah Arendt und Max Horkheimer pation in Deutschland erlebte. Instituts für Sozialforschung wie Leo Löwenthal und Erich Fromm Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover geboren, wuchs jedoch interessierte sich Horkheimer in den 1920er Jahren auch nicht für Konzeptionen des Judentums in Ostpreußen, in Königsberg auf, wo zu dieser Zeit viele russisch- das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main und dessen cha- jüdische Einwanderer lebten, die vor den Pogromen aus Russland rismatischen Rabbiner Nehemias Anton Nobel. zwischen Säkularisierung und Marxismus gefl ohen waren. Auch Arendts Großeltern väterlicher- und mütter- Allerdings nahmen Arendt und Horkheimer ganz unterschied- licherseits waren ostjüdische Einwanderer. Hannah Arendt erhielt liche politische Positionen zu der seit der Aufklärung so genannten von Monika Boll Religionsunterricht bei dem Reformrabbiner Hermann Vogelstein, Judenfrage ein. Horkheimer teilte noch bis 1939 die marxistische mit dessen jüngerer Schwester Julie sie später in der Emigration be- Position, der zufolge der Judenfrage kein historischer Eigensinn zu- freundet blieb. Im Haus ihres Großvaters, der Vorsitzender der libe- komme, da sie nur ein Nebenwiderspruch innerhalb des Kapitalis- ralen jüdischen Gemeinde war, lernte sie schon als Kind den Zio- mus sei, der sich mit dem Ende kapitalistischer Produktionsverhält- Hannah Arendt machte aus ihrer persön- nisten Kurt Blumenfeld kennen, der bis zum späteren Streit um das nisse von selber aufl öse. Hannah Arendt verfügte in ihrem Denken, lichen wie theoretischen Abneigung gegen Eichmann-Buch ihr Gesprächspartner blieb. Arendts Vater war von das sie später einmal als ein »Denken ohne Geländer« bezeichne- die Frankfurter Schule keinen Hehl. Hein- Beruf Ingenieur. Religion spielte im Elternhaus keine wesentliche te, über keinen solchen geschichtsphilosophischen Großentwurf, in rich Blücher gegenüber bezeichnete sie Max Rolle, beide Eltern sympathisierten mit der Sozialdemokratie, die dessen Magnetfeld sich alle Elemente von alleine ausrichteten. So Monika Boll, geb. 1961; Studium Horkheimer und Theodor W. Adorno auch schon mal als »Schwei- Mutter war eine Bewunderin von Rosa Luxemburg. konfrontierte der Antisemitismus sie sehr viel unvermittelter als den der Philosophie, Soziologie und nebande«, das war 1941, als sie fürchtete, die beiden würden sich Max Horkheimer kam hingegen aus einem großbürgerlichen marxistischen Theoretiker mit der historischen Realität. Das Buch Publizistik in Berlin; Promotion nicht angemessen um den Nachlass von Walter Benjamin bemühen. Elternhaus, 1895 in Zuffenhausen bei Stuttgart als Sohn des Textilfa- über Rahel Varnhagen war der Versuch, dem im Denken zu begeg- mit einer Arbeit über die politische In dieser Zeit teilten Arendt und die Mitglieder des Instituts für So- brikanten und königlich-bayerischen Kommerzienrats Moritz Hork- nen. Anders als Horkheimer betrachtete Arendt die Idee der Assi- Theorie Hannah Arendts; 1993– zialforschung das Schicksal jüdischer Emigranten, sie lebten und heimer geboren. Das Elternhaus war konservativ liberal, sowohl re- milation von Anfang an skeptisch, sie hielt bereits das Streben da- 1997 Lehrtätigkeit am Institut für arbeiteten sogar in unmittelbarer Nähe in New York, ohne dass je- ligiös wie politisch. Am Sabbat und an den Feiertagen ging man in nach für einen politischen Fehler.5 Film- und Fernsehwissenschaften doch intensivere Kontakte überliefert sind. Dies ist umso erstaun- die Synagoge, und zu Hause wurden die Speisegebote beachtet. Das Davon zeugt auch ein Briefwechsel mit ihrem Doktorvater Karl an der Ruhr-Universität Bochum; licher, als es in den Emigrantenkreisen gemeinsame Freunde gab, änderte sich allerdings an dem Tag, an dem der Sohn einmal schwer Jaspers vom Januar 1933. Anlässlich von Jaspers’ 1932 erschienenem 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin etwa den protestantischen Theologen Paul Tillich, der ein lebenslan- erkrankte und der Arzt zur Aufpäppelung Schinkenbrote empfahl. Buch über Max Weber schrieb sie über Webers Patriotismus: »Sie am Lehrstuhl für Neuere und ger Freund von Arendt wie Horkheimer war. Oder Alice und Joseph Horkheimer berichtet später dazu: »Meine Mutter war völlig ver- werden verstehen, daß ich als Jüdin dazu weder Ja noch Nein sagen Neueste Geschichte an der Ruhr- Meier, die beide am New Yorker Institut für Sozialforschung arbei- wirrt. Sie rief den Rabbiner an und fragte: ›Was soll ich tun?‹ […] kann und daß mein Einverständnis ebenso unpassend wäre wie ei- Universität Bochum; Kuratorin der teten und auch mit Arendt ein Leben lang gut befreundet blieben. Da antwortete der Rabbiner: ›Ja, wenn der Arzt es sagt, muß man es ne Argumentation dagegen.«6 Worauf Jaspers antwortete: »Was ist Ausstellung des Jüdischen Museums Hannah Arendt und Max Horkheimer kannten sich jedoch schon befolgen.‹ Und das war das Ende des koscheren Kochens.«1 Politisch das für eine fatale Sache mit dem deutschen Wesen! Es ist mir wun- Frankfurt »Die Frankfurter Schule aus Frankfurt am Main, wohin Arendt ihrem ersten Ehemann Gün- empfanden die Horkheimers deutsch-national. Horkheimer bezeich- derlich, daß Sie als Jüdin sich vom Deutschen unterscheiden wollen und Frankfurt. Eine Rückkehr nach ther Stern 1931/32 für ein Jahr gefolgt war, als dieser beabsichtigte, nete sich selbst einmal als »jüdischen Jungen aus deutsch-patrio- […] Wenn Sie von Muttersprache, Philosophie und Dichtung reden, Deutschland« sowie Mitherausgeberin sich mit einer Arbeit zur Musikphilosophie zu habilitieren. Das Un- tischem Elternhaus«.2 Er schrieb über seine durch die Eltern vermit- so brauchen Sie nur das geschichtlich-politische Schicksal hinzuzu- (zus. mit Raphael Gross) des ternehmen scheiterte unter anderem an einem Einspruch Adornos. telte Kindheitswahrnehmung aus dem Kaiserreich: »Vom Judentum fügen, und es ist gar keine Differenz mehr.«7 Aber eben die unter- Ausstellungskatalogs mit gleichem Horkheimer war in dieser Zeit bereits Ordinarius für Sozialphiloso- wußte ich als meinem Religionsbekenntnis, vom Deutschen Reich schiedliche Geschichte war es, in der Arendt die entscheidende Dif- Titel (Wallstein Verlag 2009). phie und Direktor des Instituts für Sozialforschung, für dessen mar- als meinem Heimatland.«3 Arendt und Horkheimer stammten bei- ferenz zwischen Deutschen und Juden sah: »Ich weiß zu genau, wie Publikationen zu Arendts xistische Studien Arendt sich jedoch nicht interessierte. de aus assimilierten Elternhäusern, allerdings mit unterschiedlichen Totalitarismusstudie: Zur Kritik Zu der persönlichen trat noch die theoretische Distanz. Arendt politischen Präferenzen, in denen die Zugehörigkeit zum Judentum des naturalistischen Humanismus. recherchierte in der Frankfurter Zeit schon für das Buch über Rahel eine selbstverständliche Tatsache blieb. Diese Selbstverständlich- 4 Siehe dazu ausführlich: Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Repu- Der Verfall des Politischen bei Varnhagen, eine aus marxistischer Sicht wohl eher abwegige Be- keit mag auch dazu beigetragen haben, dass die jüdische Renais- blik, München 2000. Hannah Arendt, Wien 1996; zur schäftigung mit einer berühmten Salondame aus dem Berlin des 5 An Karl Jaspers schreibt sie 1952 anlässlich der ersten Veröffentlichung des Frankfurter Schule: Nachtprogramm. 19. Jahrhunderts. Die Biografi e über Rahel Varnhagen markierte Varnhagen-Buches: »Es ist geschrieben aus der zionistischen Kritik an der Intellektuelle Gründungsdebatten in Arendts Ausstieg aus der akademischen Philosophie und ihre Wen- Assimilation heraus, die ich mir zu eigen machte und die ich auch heute noch für 1 Max Horkheimer, »Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen, Gespräch wesentlich berechtigt halte. Nur ist diese Kritik politisch so ahnungslos, wie es der frühen Bundesrepublik, Münster de zur Politik, die im wachsenden Antisemitismus und drohenden mit Gerhard Rein«, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von dasjenige war, was sie kritisierte.« Arendt an Jaspers am 7.9.1952, in: Hannah 2004. Drehbuch zum Dokumentarfi lm Aufstieg der Nationalsozialisten begründet war. Die Biografi e trug Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid-Noerr, Frankfurt am Main 1985, S. 443 f. Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans HANNAH ARENDT. EINE JÜDIN AUS den Untertitel »Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Ro- 2 Max Horkheimer, »Nachwort«, in: Thilo Koch (Hrsg.), Porträts zur deutsch-jüdi- Saner, München 1985, S. 233. schen Geistesgeschichte, Köln 1961, S. 257. 6 Arendt an Jaspers am 6.1.1933, ebd., S. 55. DEUTSCHLAND. mantik« und brachte Arendts Motive auf den Punkt. Das Leben ei- 3 Ebd., S. 256. 7 Jaspers an Arendt am 3.1.1933, ebd., S. 53.

24 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 25 spät und wie lückenhaft die Juden daran beteiligt worden, wie zufäl- der Folge suchte Hannah Arendt nach Vorbildern, denen es gelungen lig sie schließlich in die damals fremde Geschichte hineingekommen war, einen jüdischen Standpunkt jenseits von Orthodoxie und As- sind.« Und als Tochter einer ostjüdischen Einwandererfamilie in drit- similation zu erobern. Eine erste Unterstützung dafür holte sie sich ter Generation fuhr sie fort: »Wenn man von Juden spricht, so kann aus dem Zionismus, zu dem sie zwar politisch Distanz hielt, weil er man im Grunde nicht die wenigen Familien meinen, die schon seit das traditionelle Judentum nicht radikal genug infrage stellte, dem Generationen in Deutschland sitzen, sondern nur den Zustrom aus sie aber die Initiation des Zweifels an der Assimilation konzedierte. dem Osten, in dem der Prozess der Assimilation immer neu vor sich Eine angemessenere Antwort auf die Herausforderung der geht. Deutschland im alten Glanze ist Ihre Vergangenheit, welches Aufklärung als den Zionismus entdeckte Arendt in der Lebensge- die meine ist, ist kaum mit einem Worte zu sagen; wie überhaupt jede schichte der Rahel Varnhagen. Mit ihrer Flucht aus dem orthodoxen Eindeutigkeit – sei es die der Zionisten, der Assimilanten oder die der Judentum auf der einen und ihrer Verweigerung einer Parvenükar- Antisemiten – die wirkliche Problematik der Situation nur verdeckt«.8 riere auf der anderen Seite hatte Rahel Varnhagen unbewusst »eine Während Horkheimer zunächst den Standpunkt des marxisti- jüdische Tradition gestiftet«11, indem sie »religiös völlig unabhän- schen Humanismus vertrat, dem es darum ging, den Menschen unab- gig vom Judentum, doch trotzdem Jude«12 geblieben war. hängig von seiner zufälligen partikularen Identität, sei sie nun natio- Arendt spricht von der Pariaexistenz Varnhagens, ein Ausdruck, nal, religiös oder ökonomisch bedingt, zum Menschen als Menschen den sie aus Max Webers Religionssoziologie übernimmt und im zu befreien, erschien Arendt dieser Humanismus problematisch. Sie Sinne eines selbstbewussten Außenseitertums aufwertet. Der Pa- hielt ihn für politisch naiv, weil er in einer Welt der Nationalstaaten ria steht bei Arendt fortan für einen Menschen mit einer paradoxen, nicht durchsetzbar war.9 Das zeige das Schicksal der Staatenlosen, hybriden Identität, der die entzauberte Tradition der eigenen Her- die ohne Staatsbürgerrechte nichts als Menschen und somit schutz- kunft als entzauberte zu bewahren sucht. Auf der Suche nach wei- und rechtlos seien. Arendt hielt es in dieser Frage mit Edmund Bur- teren Kronzeugen für diese »verborgene Tradition« eines säkularen ke, der der Menschenrechtsdeklaration der Französischen Revoluti- Judentums entdeckte Arendt Ansätze dazu bei Heinrich Heine, Franz oben links: on entgegenhielt, dass er die konkreten Rechte eines Engländers den Kafka und Bernard Lazare.13 Aus deren Werken galt es deshalb eine Max Horkheimer, aus einer Fotoserie abstrakten Menschenrechten vorzöge. Auf Arendts Situation über- verborgene Tradition freizulegen, die als Vorbild für ein politisches Anfang der 70er Jahre, tragen hieß das: »Wenn man als Jude angegriffen ist, muß man sich Selbstbewusstsein der Juden in der Moderne fungieren konnte. Fotograf Horst Tappe als Jude verteidigen. Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt Arendt hatte sich in dem Brief an Jaspers von 1933 zur deut- Foto: Archivzentrum, oder der Menschenrechte.«10 schen Kultur bekannt, sich dafür aber ausdrücklich aus der deut- Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Zu einer solchen Selbstverteidigung als Jude aber gehört der si- schen Geschichte ausgenommen, als sie schrieb: »Deutschland im Nachlass chere Standpunkt in eigener Sache. Und hier begann für Arendt die alten Glanze ist Ihre Vergangenheit, welche die meine ist, ist kaum Max Horkheimer Problematik, an der die eindeutigen Antworten etwa der Zionisten, mit einem Worte zu sagen […].«14 Neben dem Pariabewusstsein ging der Assimilanten oder der Antisemiten alle vorbeigingen, wie sie in es Arendt darum, die Geschichte des Judentums als eine eigenstän- oben rechts: Hannah Arendt ihrem Brief an Jaspers vom 6. Januar 1933 geschrieben hatte. Für dige säkulare Geschichte zu gewinnen und bewusst zu machen. Im Foto: Erica Loos, Arendt war die Frage jüdischer Identität keine von außen herange- amerikanischen Exil zu Beginn der 1940er Jahre beginnt sie mit der Deutsches Literatur- tragene, sondern eine, die sich dem Judentum selber seit der Auf- Arbeit an ihrer zentralen Studie Elemente und Ursprünge totaler archiv Marbach klärung stellte, das heißt, seitdem es Teil des allgemeinen Säkulari- Herrschaft, die 1951 in New York erschien und vier Jahre später in unten: sierungsprozesses der Moderne geworden war. Wie Max Weber und deutscher Übersetzung. Das Buch liefert eine politisch-historische Max Horkheimer Sigmund Freud hielt sie die Entzauberung von Religion und Tra- Analyse, die vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Welt- zusammen mit dem dition für unumkehrbar, eine Rückkehr in eine ungebrochene Un- kriegs reicht. Die Judenfrage bildet auch im Totalitarismus-Buch den Fernsehjournalisten mittelbarkeit war danach nur noch als sacrifi cium intellectus mög- roten Faden der Betrachtung. Dabei fällt der besondere Blickwin- Dagobert Lindlau bei den Dreharbeiten zu lich. Seit der Aufklärung kennzeichnete die Lage der emanzipierten kel auf, durch den sich das Werk von anderen Untersuchungen über einer Reportage über westeuropäischen Juden der Verlust ihrer Traditionen, das heißt ih- den Nationalsozialismus dieser Zeit unterscheidet. Arendt ist an einer die Stadt Frankfurt am re Lösung aus dem Judentum der Orthodoxie auf der einen und der Geschichtsschreibung aus jüdischer Perspektive gelegen, welche die Main, 1964 Unmöglichkeit einer völligen Assimilation auf der anderen Seite. In Juden nicht zu passiven Objekten der Geschichte entmündigt. Statt- Foto: Archivzentrum, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Nachlass Max Horkheimer 8 Arendt an Jaspers am 6.1.1933, ebd., S. 55. 11 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 119. 9 Siehe dazu ausführlicher das Kapitel »Die Aporien der Menschenrechte«, in: 12 Arendt an Jaspers am 4.9.1947, in: Arendt, Jaspers, Briefwechsel, S. 134. Monika Boll, Zur Kritik des naturalistischen Humanismus. Der Verfall des Politi- 13 Hannah Arendt, »Aufklärung und Judenfrage« (1932), in: dies., Die verborgene schen bei Hannah Arendt, Wien 1997, S. 144–167. Tradition, Frankfurt am Main 1976, S. 108–126. 10 Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus, Sendung vom 28.10.1964, ZDF. 14 Arendt an Jaspers am 6.1.1933, in: Arendt, Jaspers, Briefwechsel, S. 55.

26 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 27 dessen beabsichtigt sie in ihrem Buch, die dem europäischen Juden- unter den Mitarbeitern entfl ammte Debatte um eine neue Analyse es die Frage, wie sich jüdische Identität in der Moderne vor der He- tum eigene Geschichte der Neuzeit zu schreiben zwischen politischer des Antisemitismus, nachdem das alte ökonomische Argument ins rausforderung durch Aufklärung und Säkularisierung verstehen lie- Emanzipation und bloß gesellschaftlicher Assimilation. Eine Entwick- Wanken geraten war. Schon im Vorfeld der Studie hatte Horkhei- ße. Max Horkheimers Bindung ans Judentum war am Ende viel we- Highlights aus unserem Programm lung, die vom privilegierten Hof- und Finanzjudentum des Feudalis- mer an Adorno geschrieben: »Ich bin überzeugt, dass die Juden- niger kompliziert und voraussetzungsvoll. Nachdem der Marxismus mus über die Aufklärung führte, die im Namen der neuen Menschheits- frage die Frage der gegenwärtigen Gesellschaft ist«16, und damit für ihn keine Antwort mehr auf die einst so genannte Judenfrage Manfred Gailus idee die Assimilation der Juden begrüßte. Sie endet mit der für viele bekundet, dass er die marxistische These vom gesellschaftlichen bereithielt, kehrte er zur traditionellen Haltung seines Elternhauses Mir aber zerriss es das Herz überraschenden Wiederkehr des Antisemitismus im 20. Jahrhundert Nebenwiderspruch für obsolet hielt. zurück. In Frankfurt am Main unterstützte er den Wiederaufbau der Der stille Widerstand mit einem kaum mehr für möglich gehaltenen Ausmaß an Hass und Sowohl bei Arendt wie auch bei Horkheimer steht zu Beginn jüdischen Gemeinde, deren Mitglied er im Februar 1951 wurde, spä- der Elisabeth Schmitz Gewalt. Ein Grund, warum dieser Ausbruch viele assimilierte Juden der 1940er Jahre der Antisemitismus im Zentrum ihres Denkens. ter gehörte er zusammen mit seiner Frau Maidon, die sich bereits 2010. 320 Seiten mit 33 Abb., gebunden € 24,90 D so unvorbereitet treffen konnte, lag – das ist Arendts These – im Arendt schreibt eine Geschichte der Assimilation von den Anfän- in der Emigration dem Judentum angenähert hatte, der jüdischen ISBN 978-3-525-55008-3 Streben nach Assimilation selbst begründet. Denn diese zielte vor gen bis zu ihrem Scheitern, eingebunden in die europäische Ge- Kultusgemeinde in Bern an. An den Festtagen besuchte das Ehe- Diese Biographie erzählt das Leben allem auf eine kulturelle und gesellschaftliche Anpassung, kaum schichte vom Feudalismus bis zur Entstehung der Nationalstaaten, paar die Synagoge. der Elisabeth Schmitz, einer über- aber auf Emanzipation im politischen Sinn. Dies war ein Grund da- wobei es ihr darauf ankommt, das Judentum als einen Akteur neben Horkheimer bewegte sich neben seinen akademischen Tätig- aus mutigen Frau des christlichen für, dass das über Jahrhunderte staatenlose Diasporajudentum auch anderen Akteuren im europäischen Interessengefüge darzustellen. keiten ebenso selbstverständlich in jüdischen Kontexten. Er blieb Widerstands gegen die Nazibarba- in der Moderne in seinem Selbstverständnis unpolitisch blieb und Horkheimer und Adorno geht es dagegen auch um vorhistorische Mitglied der Loge B’nai B’rith, der schon sein Vater angehörte, rei. Angela Merkel nannte Elisa- beth Schmitz eine »Ausnahme von 17 politisch wehrlos wurde. Mit ihrer Analyse appellierte Arendt an die Bedingungen, sogar um ein Stück »biologische Urgeschichte« , wie und pfl egte Kontakte zum Zentralrat der Juden, entrichtete regelmä- der Regel des Schweigens«. Juden, Subjekte der eigenen Geschichte zu werden. Ihre Darstellung es im Abschnitt über Idiosynkrasie und Mimikry in der Dialektik der ßig einen Obolus an mehrere israelische Nationalfonds und unter- sollte belegen, dass das jüdische Volk bereits über Jahrhunderte Teil Aufklärung heißt. An die Stelle der ökonomischen Determinante tre- stützte die Gründung des »Vereins der Freunde und Förderer des Leo der europäischen Geschichte gewesen war und zu Glanz und Elend ten nun religionsgeschichtliche und psychoanalytische Erklärungs- Baeck Instituts in der Bundesrepublik« sowie die »Gesellschaft für Europas ebenso beigetragen hatte wie andere Völker auch. ansätze, in denen das Judentum weniger als handelndes Subjekt Christlich-Jüdische Zusammenarbeit«. Er gehörte der »Kommission Ulrich W. Sahm Arendt ging es um die Bewahrung einer partikularen jüdischen denn als phantasmatische Projektionsfl äche der Anderen erscheint. zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden« an. An der Alltag im Gelobten Land Identität, die den Herausforderungen der Säkularisierung wie auch Wie aber entwickelte sich Arendts und Horkheimers Verhält- Frankfurter Goethe-Universität fanden seit 1956 auf Horkheimers Mit einem Geleitwort von Henryk M. Broder. des modernen Antisemitismus gewachsen war. Für Horkheimer hat nis zum Judentum nach dem Krieg? Im Unterschied zu Horkheimer Initiative die Loeb-Lectures statt, eine Reihe von Gastvorlesungen 2010. 240 Seiten mit 90 Abb., gebunden die Suche nach einer spezifi sch säkularen jüdischen Identität nie- kehrte Arendt nicht nach Deutschland zurück, sie blieb bis zu ih- zu Geschichte, Religion und Wissenschaft des Judentums, deren Er- € 19,90 D ISBN 978-3-525-58014-1 mals den Stellenwert besessen, den sie für Arendt hatte. Bis 1939, rem Tod amerikanische Staatsbürgerin. Im Oktober 1946 nahm Karl öffnungsvortrag von Leo Baeck gehalten wurde. Die über zehn Jah- dem Jahr, in dem sein Essay »Europa und die Juden« erschien, sah Jaspers den Faden des Gesprächs mit ihr dort wieder auf, wo er 1933 re andauernde Vorlesungsreihe legte zugleich den Grundstein für das Der Nahost-Korrespondent Ulrich W. Sahm erlaubt einen tiefen Ein- er im säkularen Judentum vorrangig die ökonomischen Vertreter der durch den Sieg der Nationalsozialisten und Arendts Flucht nach 1969 gegründete Seminar für Judaistik an der Goethe-Universität. blick in das Alltagsleben in Israel. liberalen Bourgeoisie, die mit dem Umschlagen des liberalen in den Paris abgerissen war. Er schrieb: »Sie sind doch auch – wie Heine Hannah Arendt und Max Horkheimer zogen ein Leben in der Leserinnen und Leser lernen aus autoritären Staat in den Brennpunkt der Verfolgung geraten waren. nach Ihrer Charakteristik – Jude und Deutsche? Für mich sind Sie Diaspora dem Leben in Israel vor. Für Horkheimer repräsentierte die der Insiderperspektive heraus zu Es heißt dort: »Als Agenten der Zirkulation haben die Juden nichts es unausweichlich, aber ob Sie noch wollen? Oder auch es verwei- Diaspora das eigentliche Judentum. In ihr fand er am Ende auch Ver- verstehen, was das Leben in diesem nahen und doch so fremden Nach- 18 mehr vor sich. Als Menschen können sie erst dann leben, wenn end- gern, wie meine Frau?« bindungen zur Kritischen Theorie, denn beide – Diaspora und Kri- barland antreibt und hemmt. lich Menschen die Vorgeschichte zum Abschluss bringen.«15 Libera- Arendt antwortet darauf im Dezember aus New York fast lapi- tische Theorie – belegten das utopische Andere mit dem Bilderver- lismus, Kapitalismus und Faschismus erscheinen in dieser Sichtwei- dar: »Eben sehe ich noch Ihre Frage, ob ich Deutsche oder Jüdin sei. bot. Im Unterschied zu Arendt war Horkheimer nach Deutschland se allesamt als Exponenten bloßer Vorgeschichte, auf welche einmal Ehrlich gesagt, es ist mir persönlich und individuell gesehen ganz zurückgekehrt, ein aus jüdischer Sicht mehr als problematischer, die Verwirklichung eines humanistischen Gattungsideals folgen soll, egal. […] Politisch werde ich immer nur im Namen der Juden spre- gelegentlich auch offen angefeindeter Schritt. Wie sehr er manch- in dem alle bloß partikularen Identitäten zugunsten der Befreiung chen, sofern ich durch die Umstände gezwungen bin, meine Natio- mal diese Entscheidung selber bezweifelte, hat er nie öffentlich ge- Lothar Fritze (Hg.) Hannah Arendt weitergedacht des Menschen als Menschen aufgehoben sein werden. nalität anzugeben. Es ist für mich leichter als für Ihre Frau, weil ich macht. In seinem Tagebuch, den posthum erschienenen Notizen fi n- Ein Symposium Der marxistische Standpunkt änderte sich jedoch im Verlauf ferner bin all den Dingen und weil ich mich niemals spontan oder den sich jedoch einige bittere Einträge dazu wie dieser 1961 unter Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismus- der von Horkheimer und Adorno geplanten großen Antisemitismus- insistierend ›als Deutsche‹ gefühlt habe.«19 dem Stichwort »Täuschung« geschriebene: »Der Jude, der zurück- forschung, Band 35. 2008. 233 Seiten mit 3 Abb., gebunden € 34,90 D studie, aus der am Ende die fünf Bände der »Studies in Prejudice« Fragt man nach dem leitenden Motiv, das Arendts Beschäfti- kam, um zu helfen, daß es nicht wieder geschieht, ist ein Tor, der ISBN 978-3-525-36913-5 hervorgingen. Sie waren das Ergebnis der Zusammenarbeit des In- gung mit dem Judentum seit den 1930er Jahren durchzog, so war manchen Deutschen, die gegen den Schrecken ihr Leben gegeben Hannah Arendt gilt als eine anregende Denke- stituts für Sozialforschung mit dem American Jewish Committee, haben, die Treue hielt. Daß er jedoch dableibt, nachdem er wahr- rin, die in ihren Überlegungen und Problem- dessen wissenschaftliche Forschungsabteilung Horkheimer 1944 nimmt, wie das Nachkriegsdeutschland auf den Leichenbergen bloß stellungen in der Zukunft weiterwirken wird.

übernommen hatte. Dass die »Studies« sehr viel mehr als eine Ge- 16 Horkheimer an Adorno, 24.9.1940, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Geschäfte macht, politische und kommerzielle […] ist der letzten legenheitsarbeit und fi nanzielle Mittelbeschaffung waren, zeigt die Bd. 16, Frankfurt am Main 1996, S. 765. Verachtung wert.«20 17 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung«, in: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969, S. 177–217, hier S. 189. 15 Max Horkheimer, »Die Juden und Europa«, in: ders., Gesammelte Schriften, 18 Jaspers an Arendt am 19.10.1946, in: Arendt, Jaspers, Briefwechsel, S. 100. 20 Max Horkheimer, »Notizen 1949–1969«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Postanschrift: 37070 Göttingen / [email protected] / www.v-r.de Bd. 4, Frankfurt am Main 1988, S. 328. 19 Arendt an Jaspers am 17.12.1946, ebd., S. 106 f. Frankfurt am Main 1974, S. 361 f.

28 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 29 Ähnliche Fragen nach dem Sinn der Geschichte, nach den und deren Publikation geäußert hatte.2 In ihrer Antwort bittet sie ihn, Möglichkeiten, die Abfolge von Ereignissen zu deuten, und nach der sie bezüglich des Umgangs mit Benjamins hinterlassenem Manuskript Brüchigkeit eines an Kontinuität orientierten historischen Denkens auf dem Laufenden zu halten.3 Bertolt Brecht gegenüber beschrieb An- wurden nur wenige Jahre zuvor auch von Walter Benjamin aufge- ders die Thesen als dunkel und verworren.4 Im Gegensatz zu diesen worfen. Benjamins letzter, kurz vor seinem Tod 1940 verfasster Text wenigen und eher distanzierenden Äußerungen scheinen Anders’ ei- »Über den Begriff der Geschichte« ist heute ungleich bekannter als gene Betrachtungen eine Reihe von Elementen der Benjamin’schen Fortschritt und Geschichte die entsprechenden Überlegungen von Günther Anders. Aus beiden Konzeption zur Idee einer diskontinuierlich verlaufenden Geschichte spricht aber ein ähnliches Bewusstsein, eine ähnliche Einschätzung und zur Problematik der historischen Erfahrung aufzugreifen. Zum Begriff der Antiquiertheit der historischen Katastrophe, die beide als das Resultat der moder- Die von Günther Anders 1956 in einem ersten Band veröffentlich- nen europäischen, dem Fortschritt verpfl ichteten Geschichte ansahen. te, jedoch in Teilen schon früher geschriebene Zeitdiagnose der »Anti- bei Günther Anders Vielfach wurde der antizipatorische Charakter der fragmentarischen quiertheit des Menschen« ist, was den Bezug des Menschen zu »seiner« Schrift von Benjamin betont. Im Folgenden soll es dagegen darum Geschichte angeht, unmissverständlich. Die Zustandsbeschreibung der von Ann-Kathrin Pollmann gehen, wie sich Anders in seinen Arbeiten um die Neudefi nition des Antiquiertheit legt nahe, den Menschen – hier gedacht als geschichts- historischen Bewusstseins und den Umgang mit der Vergangenheit mächtiges Subjekt – als etwas Zurückgebliebenes zu begreifen, als ein bemühte – nach den Ereignissen der Massenvernichtung von Ausch- Wesen mit einem problematischen Bezug zur Gegenwart. Gleichzei- witz und Hiroshima, die er beide, sobald er von ihnen erfuhr, als tief tig signalisiert diese Diagnose ein verschobenes Verhältnis historischer Über seine im französischen und amerika- greifenden historischen und anthropologischen Bruch interpretierte. Zeiten untereinander, welches die traditionelle Auffassung von Ge- nischen Exil der 1930er Jahre verfassten Jenseits der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Benja- schichte als kontinuierlichen, emanzipatorischen, gar teleologischen Schriften sagte der Philosoph und Schrift- min und Anders – sie waren Großcousins – verband beide vor allem Prozess zur Disposition stellt. Es war das mangelnde Bewusstsein der steller Günther Anders im Rückblick ein- die Zeit des Pariser Exils zwischen 1933 und 1936. Kurz vor dem eigenen Geschichtlichkeit, eine gestörte »Erinnerungsbeziehung« zur Ann-Kathrin Pollmann, M. A., geb. mal: »Diese Texte: die didaktischen-politischen, die politischen Reichstagsbrand 1933 war Günther Anders gemeinsam mit seiner da- Vergangenheit, die Anders Ende der 70er Jahre im Begriff der »Anti- 1979, arbeitet an einem Promotions- Gedichte, die Erklärungen des Faschismus, die Deutung der Nie- maligen Lebensgefährtin Hannah Arendt nach Paris emigriert. Wie quiertheit von Geschichte« präzisierte.5 Neben diesem Schlüsselbegriff projekt zu Günther Anders’ Deutungen derlage der Linken, die Ratschläge, wie man einer neuen Faschi- auch Benjamin, der durch fi nanzielle Zuwendungen des exilierten war es vor allem die Formulierung von der »prometheischen Scham«, von Massenvernichtung und Moder- sierung Widerstand leisten könne – alle diese Texte waren ja nicht Frankfurter Instituts für Sozialforschung sein Auskommen sicherte, mit der der Autor die Disposition von Menschen beschrieb, die in ei- ne. Sie studierte Kulturwissenschaften für Frankreich oder Amerika gemeint, sondern eben für ›übermor- lebten sie dort in prekären Verhältnissen. Arendt und Benjamin wa- ner modernen, technokratischen Welt in einem entfesselten Fortschritt und Mittlere und Neue Geschichte an gen‹ – dieses Wort spielte für uns eine beinahe magische Rolle«1. ren seit Mitte der 30er Jahre miteinander befreundet. Alle drei stan- der Produktivkräfte und Arbeitsteilung an historischer Wirkmächtig- der Universität Leipzig und schloss Diese Sätze sind Ausdruck seiner im Exil gehegten Hoffnung, die den in Kontakt zu anderen antifaschistischen Emigranten wie Alfred keit verloren haben und somit die Auswirkungen ihres eigenen Tuns 2006 ihr Studium ab mit einer Zeit des Nationalsozialismus möge bald beendet sein. Rückblickend Döblin und Stefan Zweig. Anders ging es damals um eine Analyse nicht mehr selber ermessen können. Die menschlichen Vermögen der Arbeit zum Thema »Produktivität und erschien Anders sein Schreiben der 30er Jahre zukunftsgerichtet, der Ursachen des Faschismus in Europa und des Scheiterns einer lin- Erkenntnis und des Fühlens seien, so Anders, in der apokalyptischen Differenz. Modernisierungsdeutung gewissermaßen fortschrittsoptimistisch, mit einem klaren Adres- ken Opposition. Neben seinem schon vor der Emigration in Berlin Apparatewelt ins Hintertreffen geraten. Seine Kritik des verschobenen und Antisemitismus in der deutschen saten, nämlich der Bevölkerung Deutschlands nach der Katastro- begonnenen antifaschistischen Roman Die molussische Katakom- Verhältnisses von Maschine und Mensch war jedoch selbst historisch Frauenbewegung um 1900«. phe. In seinen nach 1945 verfassten Schriften verwarf er die Selbst- be, der erst in den 1990er Jahren veröffentlicht wurde, schrieb An- gedacht. Er sah das aus der Balance geratene Verhältnis zwischen dem 2008 war sie Praktikantin am Fritz verständlichkeit einer gewohnten geschichtsmächtigen Ordnung, in ders im Pariser Exil an der Erzählung »Learsi«, veröffentlichte die Menschen und der von ihm ersonnenen Technik als historischen End- Bauer Institut und ist derzeit wissen- der Gegenwart und Zukunft an das Vorangegangene anschlossen. In Novelle »Der Hungermarsch« und seine philosophisch-anthropolo- punkt einer katastrophischen Dynamik des Fortschrittsdenkens an, das schaftliche Mitarbeiterin am Simon- Amerika sah sich Anders mit den Nachrichten von den nationalsozi- gische Studie »Die Weltfremdheit des Menschen«. Hier ist bereits schließlich in der Massenvernichtung von Menschen kulminiert war: Dubnow-Institut für jüdische alistischen Vernichtungslagern und später dann den Atombomben- das Spannungsverhältnis zwischen der Vorstellung des modernen, »An die Stelle der omnipotenzbezeugenden creatio ex nihilo Geschichte und Kultur in Leipzig. abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki konfrontiert. Er betrachtete nihilistischen Menschen und seiner Historizität angelegt, welches ist die Gegenmacht getreten: die potestas annihilationis. […] Da beide »monströsen« Ereignisse als Ausdruck einer der gesellschaft- prägend für Anders’ spätere Zeitdiagnose der Antiquiertheit wurde. wir die Macht besitzen, einander das Ende zu bereiten, sind wir die lichen und technischen Rationalität inhärenten katastrophischen 1936 fl oh er in die USA und entging so dem Schicksal vieler Frank- Herren der Apokalypse. Das Unendliche sind wir. – Das sagt sich Dynamik, die die Annahme eines gesellschaftlichen Fortschritts reich-EmigrantInnen, die wenig später interniert wurden oder in der und damit auch die Idee einer fortschreitenden Geschichte zur Dis- Folge des Einmarsches der deutschen Truppen den Tod fanden, wie position stellte. Dennoch ist Anders’ Werk durchzogen von Versu- auch Walter Benjamin, der sich im September 1940 auf der Flucht im chen der Wiederaneignung von Geschichte bzw. von Vergangen- spanisch-französischen Grenzort Port-Bou das Leben nahm. 2 Hannah Arendt an Heinrich Blücher, 2.8.1941, in: Detlev Schöttker, Erdmut Wizisla (Hrsg.), Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt am heit. Sie gehen jedoch von den Grenzen ihrer Bewusstwerdung als Benjamins Manuskript der Thesen »Über den Begriff der Ge- Main 2006, S. 146. auch ihrer Darstellbarkeit aus. schichte« gelangte über Hannah Arendt schließlich zum Institut für So- 3 Arendt an Anders, 7.8.1941, ebd., S. 150. zialforschung, das diese zunächst nicht veröffentlichen wollte. Anders’ 4 Bertolt Brecht, Werke. Bd. 27: Journale 2. 1941–1955. Journale 1941–1955. Rolle im Austausch zwischen dem Institut und Arendt in dieser Sache Autobiographische Notizen 1942–1955, bearbeitet von Werner Hecht, S. 12, zit. in: Schöttker, Wizisla, Arendt und Benjamin, S. 37. ist nicht mehr in allen Details rekonstruierbar. Arendt erwähnte einen 1 »›Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?‹, Gespräch mit Günther An- 5 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, Über die Zerstörung des ders«, in: Matthias Greffrath, Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emi- »Unglücksbrief«, in dem Anders sich offenbar negativ über die Thesen Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, Zürich 1984 [1980], S. 272. grierten Sozialwissenschaftlern, Hamburg 1979, S. 37.

30 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 31 leicht. Ist aber so ungeheuerlich, dass alle Wechselfälle der bishe- reuen aber höchstens Einen.«11 Die Schwierigkeit historischer Er- mögen, vom Hinterherhinken der Politik hinter der Technik, zur verschleift das Damals-hier-gewesen-sein und das Jetzt-hier-sein zu rigen Geschichte daneben beiläufi g werden, und die bisherigen Epo- kenntnis sei die Folge einer mangelnden geschichtlichen Synchro- Grundfi gur der philosophischen Gegenwartsdiagnose zu erheben«.14 einer ungeschichtlichen Gegenwart.«18 Doch diese Synchronisierung chen zur bloßen Vorgeschichte zusammenzuschrumpfen scheinen.«6 nizität unserer Gefühle. Und diese zeige sich nicht nur in der Dis- Günther Andersʼ Tagebücher hingegen können weitaus eher als blieb ihm unheimlich, war er sich doch gleichzeitig der Amnesie be- Im Vordergrund von Anders Überlegungen stand die Existenz der krepanz zwischen Machen und Fühlen, sondern – und dies ist eine Versuche gelesen werden, gegen eine die Erkenntnis verstellende Ge- wusst, die sie beinhaltete. Die scheinbare Möglichkeit des Wiederan- atomaren Bedrohung. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Dimension, die die Historiografi e des Holocaust bis heute beschäftigt genwart die Vergangenheit begreifen zu wollen. Anders schrieb Ta- knüpfens an die Vorkriegszeit hätte das Vergessen des eigenen Schick- Nagasaki hatten ihm erstmals gezeigt, dass »die Menschheit als Ganze – zwischen Wissen und Begreifen. Diesen Zusammenhang machte gebuch nicht aus Interesse an der eigenen Person, um retrospektiv sals des Exils, das Vergessen des Scheiterns der früheren politischen […] tötbar«7 geworden war. Historischer Ausgangspunkt seiner Über- Anders in einem Tagebucheintrag von 1948 anhand einer Nachricht ein biografi sches Kontinuum zu konstruieren – vielmehr begriff er Konzepte und der Opfer des Nationalsozialismus bedeutet. legungen waren jedoch die nationalsozialistischen Vernichtungslager. über die Ausmaße der Verbrechen des Holocaust in einer etwas merk- das Textgenre negativ: »[…] in solchen Notizen habe ich also gera- Das Exil war – anders als er es als politischer Emigrant im Paris Diese waren in seinem zunächst noch universalisierenden Verständnis würdigen Umkehrung deutlich: »Erhielt heute einen Brief aus Euro- de nicht dasjenige fi xiert, was ich erlebt hatte; sondern umgekehrt – der frühen 30er Jahre noch verstand – nicht nur Unterbrechung im der Gegenstand, an dem die Grenzen der menschlichen Vorstellungs- pa, der über viele, selbst heute noch unbekannte Greuel berichtete. ich könnte geradezu von einem negativen Tagebuch sprechen – das- Sinne einer temporären räumlich-zeitlichen Veränderung, sondern, kraft erstmalig deutlich wurden: Der Ausdruck seiner eigenen Erfah- Und plötzlich, zum ersten Male, konnte ich nicht mehr. Ich verpupp- jenige, was ich nicht erlebt hatte: den Skandal, dass Dinge nicht zu wie er 1962 schrieb, ein unerinnerbares Intermezzo, mit dem die – rung des kognitiven Scheiterns sollte schließlich zu einem zentralen te mich, ich streikte, ich wehrte ab. Auch ich. […] Wie begreifl ich Erlebnissen geworden sind, vielleicht nicht hatten werden können; so Anders – »Zerfällung unseres Lebens in mehrere Leben« endgül- Punkt seiner Theoriebildung in dem 1956 erschienenen Werk Die An- das Benehmen jener in Europa, über die wir so rasch den Stab gebro- den Skandal, den ich ja mit Hunderten von Millionen meiner Zeitge- tig geworden sei. Seine Vita habe eine Knickung erfahren, die den tiquiertheit des Menschen werden. Im ersten Band von Anders’ theore- chen haben. Ist die Behauptung, sie hätten vor dem, was sie sahen, nossen teilte und teile […].«15 Er wollte seine Tagebucheintragungen Rückblick erschwerte.19 War durch das Exil die »Vorzeit ungültig tischem Hauptwerk erschienen die Vernichtungslager jedoch lediglich die Augen geschlossen, und das, was zu sehen war, zu sehen sich ge- nicht als »Rettung« des Vergangenen verstanden wissen, sondern als gemacht worden«20, so galt dies einmal mehr für die Rückkehr. Es als Vorgeschichte: »In ihnen hatte der respektable Satz ›Alle Menschen weigert, in dieser Einfachheit aufrechtzuerhalten? Vermutlich haben Versuch, »das Gewesene durch dessen Fixierung – wieder ungesche- blieb lediglich die Erinnerung an die Opfer, die einen Anknüpfungs- sind sterblich‹ seinen Sinn endgültig eingebüßt, er hatte sich bereits lä- sie, mindestens viele von ihnen, die Augen gar nicht mehr zu schlie- hen zu machen«, es »fortbeschwören« zu können.16 Die Rettung be- punkt an das Europa der Vorkriegszeit boten. Die in Tagebuchform cherlich gemacht. […] Seine Wahrheit hatte der alte Satz eben bereits ßen brauchen. Weil das Enorme ihre Augen nicht mehr erreichte. zieht sich also auf Künftiges mit dem aufklärerischen Zweck, dass verfasste Reisedokumentation Besuch im Hades seiner Reise in seine an einen neuen weitergegeben. Und dieser Satz hätte zu lauten gehabt: […] Aber sollten auch wir uns beruhigen bei dieser Begrenztheit?«12 das von ihm historisch Geschilderte sich nicht wiederhole. Geburtsstadt Breslau und zum ehemaligen Vernichtungslager Ausch- ›Alle Menschen sind tötbar.‹ […] Wie vieles sich auch seit zehn Jahren Das menschliche Unvermögen zu begreifen analysierte Anders Die in der Antiquiertheit des Menschen formulierte moderne theo- witz ist ein Protokoll der Konfrontation mit seinen biografi schen Er- geändert haben mag, die Bombe, unter deren Bedrohung wir leben, hat auch als eine Folge eines an der Idee des Fortschritts orientierten retische Verallgemeinerung der Massenvernichtung konfrontierte An- innerungen. Sie ist gleichzeitig eine Aufzeichnung seiner radikalen dafür gesorgt, dass sie [die Wahrheit; Anm. der Verf.] auch heute noch Geschichtsdenkens: »Die Fähigkeit, uns auf › Ende‹ einzustellen, ist ders in seinen Tagebuchnotizen mit einem historischen Erzähl- und Selbstbeobachtungen als jüdischer Überlebender. Diese kann im Ge- in diesem Satze haust. Und wenn sich etwas verändert hat, dann nur uns durch den generationenlangen Glauben an den angeblich auto- Erkenntnisverfahren. Hatte er für seine Beschreibungen der atomaren gensatz zur verallgemeinernden Betrachtung, die in der Antiquiert- zum Böseren, weil es ja die Menschheit als ganze ist, was heute tötbar matischen Aufstieg der Geschichte genommen worden. Selbst den- Bedrohung, seine Glossen und Aphorismen als Verfahren »Übertrei- heit des Menschen vorherrscht, als ein Versuch verstanden werden, ist, und nicht nur ›alle Menschen‹. Diese Veränderung ist es, die die jenigen unter uns, die an Fortschritt schon nicht mehr glauben. Denn bung Richtung Wahrheit« postuliert, hat man es hier eher mit einem der Ermordung der europäischen Juden einen historischen Ort zu- Geschichte in ihr neues Zeitalter vorgeschoben hat.«8 unsere Zeitattitüde, namentlich unsere Einstellung auf Zukunft, hat mikroskopischen Darstellungsverfahren zu tun. Anders’ Tagebücher zuweisen – dies geschah bezeichnenderweise weniger am Ort des Vernichtungslager und Atombombenabwurf als gleichermaßen diese ihre Formung noch nicht verloren: wir sind noch, was wir dokumentieren in besonderer Weise seine Rückkehr nach Europa. einstigen Vernichtungslagers selbst als mit dem Verweis auf zwei his- »monströse Taten« wurden von Anders nicht nur als Zeichen einer gestern geglaubt hatten […].«13 1950 ließ er sich in Wien nieder – er hatte sich bewusst gegen ein Le- torische Konstellationen, die den Überlebenden und Opfern gleicher- neuen anthropologischen Situation charakterisiert, sondern auch vor Die Behauptung der »Antiquiertheit des Menschen« thema- ben in den beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches entschie- maßen den Blick auf das Geschehen verstellt hatten – den Ort des Exils dem Hintergrund der Möglichkeit historischer Erfahrung, da »[…] tisierte jenseits des apokalyptischen Tons, den Anders angesichts den. Die-se Rückkehr wurde begleitet von geschichtsphilosophischen und das Vertrauen in den fortschreitenden Prozess der Emanzipation. die geschichtliche Welt im Augenblicke dieses Einbruchs auch schon der Existenz der »Bombe« anschlug, vor allem die Schwierigkeit, Überlegungen, die von der biografi schen Wiederaneignung der eige- »Da uns jedes neue Jahr, nein jeder neue Tag mit einer neuen Welt mit zu zerbrechen droht«.9 Die Ereignisse der Massenvernichtung von der Gegenwart aus geschichtlich zu denken und Einsicht in ge- nen Geschichte der Exilierung und Rückkehr, dem Versuch und not- konfrontiert, schiebt sich nun die Menschheit ohne jeden ›Blick zurück‹ waren zwar geschichtlich geworden, im Sinne ihrer Realisierung. schichtliche Prozesse zu gewinnen. Sie war jedoch Theoretisierung wendigen Scheitern der Kontinuierung des eigenen Lebenszusammen- von Tag zu Tag vorwärts, oder richtiger: nur weiter. Sehr im Unterschied Gleichzeitig war ihnen jedoch, so Anders, eine Dimension eigen, die und Symptom zugleich. Symptomatisch war die von Anders ent- hangs zeugen. »Geschichtsphilosophie des Individuums«, so wurde zu dem von Benjamin als Symbolfi gur eingeführten Kleeschen ›Engel‹, die Grenzen des historischen Bewusstseins und der damit verbun- worfene Erkenntnistheorie einer technokratischen Gesellschaft in- dieses narrative Erkenntnisverfahren einmal treffend genannt.17 In sei- der (obwohl von dem sich in seinen Fittichen verfangenden Geschichts- denen Formen der Überlieferung überstieg. Aus diesem Grund be- sofern, als dass hier Auschwitz und Hiroshima zu historisch unter- nem kurz nach der Ankunft in Europa verfassten Text »Wiedersehen sturm vorwärtsgetragen) sein Gesicht zurückwendet. Denn die heutige zeichnete Anders sie als »geschichtlich überschwellig«, da sie »die schiedslosen Verbrechen verbunden wurden. Zugespitzt könnte man und Vergessen« dokumentierte Anders den Versuch, einen roten Fa- Menschheit blickt ebensowenig zurück, wie sie vorwärtsblickt. Viel- Dimension dessen, was wir als geschichtlichen Zustand auch nur behaupten, dass für Anders Auschwitz auch durch das Ereignis Hi- den in die letzten 15 Jahre seines Lebens zu bringen. Der Eindruck der mehr bleiben ihre Augen während ihres Sturmfl uges geschlossen, oder meinen können, hinter sich lassen«.10 roshima erklärbar wurde, genauer durch die Bestätigung einer uni- Selbstverständlichkeit, mit dem er 1950 über die Pariser Pont Michel bestenfalls auf den jeweiligen gegenwärtigen Augenblick fi xiert.«21 So »Ermorden«, so hatte Anders einleitend vorangestellt, »können versalen Tendenz der Selbstzerstörung der Menschheit. Sein indivi- schlenderte, erwies sich ihm als brüchig: »Die Gegenwart des Hiesigen war es neben einer unaufhaltsamen Technisierung vor allem die Unfä- wir Tausende; uns vorstellen vielleicht zehn Tote; beweinen oder be- duelles Unvermögen, Auschwitz zu verstehen, ließe sich mit Micha higkeit der Menschen, Vergangenes zu begreifen und zu erinnern, die Brumlik als »Motor und Motiv« begreifen, das »Theorem vom Zu- die Gegenwart in Andersʼ Augen zu einer ungeschichtlichen machte. rückbleiben der menschlichen Vernunft hinter dem technischen Ver- 14 Micha Brumlik, »Günther Anders. Zur Existenzialontologie der Emigration«, in: Dan 6 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1, Über die Seele im Zeit- Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, S. 130. alter der zweiten industriellen Revolution, 7., unveränd. Aufl ., München 1987 15 Günther Anders, »Warnbilder«, in: Uwe Schultz (Hrsg.), Das Tagebuch und der [1956], S. 239. moderne Autor, München 1965, S. 73. 18 Günther Anders, »Wiedersehen und Vergessen«, in: ders., Die Schrift an der 7 Ebd., S. 243. 11 Ebd., S. 267. 16 Ebd., S. 76. Wand. Tagebücher 1941–1966, München 1967, S. 97. 8 Ebd. 12 Günther Anders, »Rückblendung 1944–1949«, in: ders., Besuch im Hades, 3., 17 Stephanie Dobiesz, »Besuch im Hades. Über Günther Anders’ Geschichtsphilo- 19 Günther Anders, »Post festum« in: ders., Die Schrift an der Wand, S. 67. 9 Ebd., S. 262. unveränd. Aufl ., München 1996 [1979], S. 42. sophie des Individuums«, in: Harald Welzer (Hrsg.), Nationalsozialismus und 20 Ebd., S. 100. 10 Ebd. 13 Günther Anders, Antiquiertheit, Bd.1, S. 277 f. Moderne, Tübingen 1993, S. 12–25. 21 Günther Anders, Antiquiertheit, Bd. 2, S. 297 f.

32 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 33 auch Demjanjuk in München vorgeworfen werden – freilich unter dere Begründungs- und Legitimationsprobleme, die sich dem nati- anderem juristischen Topos.4 Die Implementierung des IGHSt wie- onalen Strafrecht so nicht stellen.8 Diese Probleme gründen in der derum wird international weitgehend begrüßt und als Fortschritt an- von alltäglicher Kriminalität abweichenden Empirie der Völkerver- gesehen, ohne dass die – auch in bestimmten Strafzielen gründende brechen, die in Art und Ausmaß so ungleich gewaltiger sind als das – Legitimation seiner Verfahren und Sanktionen erkennbar angegrif- vor nationalen Gerichten üblicherweise abgeurteilte Unrecht, und sie »Vergangenheitsbewältigung« fen würde. Im Prinzipiellen sind sich Rechtswissenschaft und -pra- werden unter so ungewöhnlichen Umständen begangen, dass sie mit xis einig darin, dass Strafprozesse sein müssen, wo Unrecht der ge- vergleichsweise alltäglichen Verbrechen kaum zu vergleichen sind. als Strafzweck bei Völkerverbrechen? nannten Art begangen wurde. Nicht nur sind Unrecht und Schuld bei einem völkerrechtlichen Wenn hier überhaupt noch Zweifel geäußert werden, weil man Massenmord unvergleichlich viel größer als bei alltäglicher Krimi- – oder: Was kommuniziert etwas nachdenklich eingesteht, dass die herkömmlichen, im natio- nalität im nationalen Kontext. Die Verbrechen basieren zudem nicht nalen Strafrecht angeführten Zwecküberlegungen auf Fälle soge- – wie dort – auf abweichenden, sondern auf kollektiv-konformen das Völkerstrafrecht? nannten »makrokriminellen«5 oder »staatsverstärkten«6 Unrechts – Handlungen großer Bevölkerungsgruppen9, werden daneben meist und auch im Falle Demjanjuks handelt es sich um solches – nicht staatlich unterstützt10 und in aller Regel von gesellschaftlich gut inte- von Vasco Reuss recht passen wollen, so wird unter anderem versucht, diesen Zwei- grierten, oft autoritätsgläubigen und auch ansonsten meist normalen, feln mit der Behauptung abzuhelfen, die strafrechtliche Sanktio- eben von den oft als »brav« bezeichneten Bürgern eines Staates11 »Prophylaxe des Völkermordes nierung jener Taten diene jedenfalls auch der Bewältigung der Ver- begangen, der diese teils zur Begehung der Verbrechen beauftragt setzt seine Ätiologie voraus.« gangenheit der von ihnen belasteten Gemeinwesen.7 Und solange hat und/oder vor Strafverfolgung schützt.12 Fritz Bauer1 jene unter der Hand eingestandenen Legitimationszweifel den Allein aus diesen kriminologisch-ätiologischen Deskriptionen grundsätzlichen Überzeugungen von der Notwendigkeit strafrecht- folgt schon, dass die gewohnten Strafzwecke der Vergeltung, der Vasco Reuss, Jahrgang 1974, Gegenwärtig steht vor dem Landgericht München II mit John (Iwan) licher Verfolgung vergleichsweise unvermittelt gegenüberstehen, Sühne, der individuellen oder kollektiven Abschreckung und der studierte von 1995 bis 2001 Rechts- Demjanjuk, einem sogenannten Trawniki2, womöglich letztmalig ein solange besteht Anlass dazu, über das rationale Fundament nachzu- Resozialisierung weitgehend scheitern müssen. Abschreckung wirkt wissenschaften und Soziologie an der Beteiligter am Völkermord an den europäischen Juden vor Gericht. denken, auf dem diese Überzeugungen – womöglich noch unausge- nicht, wo die kriminogene staatliche Struktur ihre schützende Hand Goethe-Universität Frankfurt am Wie eigentlich alle Prozesse gegen NS-Verbrecher, Täter wie Ge- sprochen – gründen mögen. Dieses Nachdenken vollzieht der fol- über die Täter hält, Resozialisierung passt nicht, wo die Täter – Main. Bis 2006 war er Mitarbeiter hilfen, geht auch dieser mit Diskussionen über Legitimität und Le- gende Beitrag, indem er sich den schon angedeuteten Überlegungen wenn auch womöglich zweifelhaft – sozialisiert sind, und eine viel am Lehrstuhl für Rechtstheorie, gitimation und insbesondere mit Blick darauf einher, welchen Sinn zuwendet, wonach bei makrokriminellen Verbrechen das Strafrecht zu große Schuld ist weder an einem Einzelnen vergeltungsfähig Straf- und Strafprozessrecht von Strafe in diesen Fällen eigentlich haben soll.3 Dies verwundert auf notwendig sei, um »Vergangenheit zu bewältigen«. Klaus Günther an derselben Univer- den ersten Blick, weil sich bereits im Jahr 2003 mit dem Internati- sität. Dort promovierte er mit einer onalen Gerichtshof in Strafsachen (IGHSt) in Den Haag ein Straf- * Arbeit über Adornos »Negative Dia- gericht der Völkergemeinschaft etabliert hat, das unter anderem zur 8 Dies wird grundsätzlich von einigen Autoren eingestanden. Vgl. etwa Frank lektik« und deren Implikationen für Verfolgung und Aburteilung von Verbrechen gegen die Menschlich- Im Völkerstrafrecht, das für die Verfolgung von Völkermord, Verbre- Neubacher, »Strafzwecke und Völkerstrafrecht«, in: Neue Juristische das Recht. Seit seinem Zweiten Staats- keit und Völkermord zuständig ist, also eben von solchen Taten, die chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig ist, Wochenschrift (NJW) 2006, S. 966 ff., m.w.N., und ders., Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, Tübingen 2005, S. 425, examen im Jahr 2008 ist er als stellen sich – was bislang noch nicht ausreichend beachtet wird – an oder Otto Lagodny, »Legitimation und Bedeutung des Ständigen Internationalen Rechtsanwalt in Berlin zugelassen die Begründung des bereits mit dem Strafverfahren einhergehenden Strafgerichtshofes«, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft und arbeitet an einer strafrechtlichen Eingriffs in die Grund- und Menschenrechte der Angeklagten beson- (ZStW) 2001, Bd. 113, S. 800 ff., 806, m.w.N. Anders und apodiktisch kurz Habilitation. Zudem forscht er im 1 Fritz Bauer, »Kriminologie und Prophylaxe des Völkermords«, in: Recht und Gerhard Werle, »Menschenrechtsschutz durch Völkerstrafrecht«, in: ZStW 1997, Politik, H. 3 (1967), S. 67. Und weiter: »Die Diagnose ist schwierig genug, aber Bd. 109, S. 808 ff., 821, 822: Das Völkerstrafrecht sei »aus der Perspektive einer Rahmen des Frankfurter Exzellenz- immer noch leichter als die Therapie, worunter die Beseitigung der Ursachen herkömmlichen nationalen Strafzwecklehre in vollem Umfang legitimiert«. Clusters »Die Herausbildung norma- verstanden wird.« (ebd.) 9 Vgl. etwa Herbert Jäger, »Versuch über Makrokriminalität«, in: Strafverteidiger tiver Ordnungen« zur Legitimation 2 Im Lager Trawniki in der Nähe von Lublin bildete die SS ab Ende 1941 Kriegs- 4 Die Anklage gegen Demjanjuk lautet auf Beihilfe zum Mord an 27.900 Men- (StV) 1988, S. 175, und Neubacher, Grundlagen, S. 159. des Völkerstrafrechts. gefangene zu »Helfern« für die Massenmorde der sogenannten »Aktion Rein- schen. Dies ist jedoch ein Vorwurf, der sich mühelos auch unter das Völkerstraf- 10 Vgl. Neubacher, Grundlagen, S. 424; Naucke, Privilegierung. Von »Regierungs- hardt« aus. Sie kamen unter anderem in den auf polnischem Gebiet gelegenen gesetzbuch (VStGB), genauer unter § 6 VStGB, subsumieren ließe. Dass die kriminalität« spricht deshalb z.B. Klaus Lüderssen, Der Staat geht unter – das Vernichtungslagern zum Einsatz. Vgl. dazu auch die Beiträge in Einsicht 02. Staatsanwaltschaft am Landgericht München I nicht hieraus anklagt, hat spezi- Unrecht bleibt. Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, Frankfurt am Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Herbst 2009, mit weiteren Nachweisen fi sch juristische Gründe, die an dieser Stelle nicht weiter relevant sind. Main 1992. Dieser Beitrag fußt auf einem Vortrag des Ver- (m.w.N.), und Angelika Benz, »Wer ist John Demjanjuk, und welche Rolle 5 Herbert Jäger hat diesen Begriff für die völkerrechtlich relevanten Verbrechen ge- 11 Zu den biografi sch-gesellschaftlichen Hintergründen der meist ganz normalen fassers, den dieser im Oktober 2009 im Rahmen spielten die Trawniki im Holocaust?«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung prägt, vgl. ders., Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, Täter vgl. schon Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, Olten der Tagung »Normative Ordnungen: Rechtferti- 18 (2009), S. 251 ff. Frankfurt am Main 1989. u.a. 1967, Neuaufl age Frankfurt am Main 1982; Christopher R. Browning, Ganz gung und Sanktion«, organisiert vom Exzellenz- 3 Vgl. zu der Diskussion zur Zeit des Auschwitz-Prozesses u.a. rückblickend Klaus 6 Wolfgang Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Krimina- normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Cluster »Die Herausbildung normativer Lüderssen, »Der Auschwitz-Prozess – Geschichte und Gegenwart«, in: Heike lität, Frankfurt am Main 1996. Polen, Reinbek bei Hamburg, 4. Aufl ., 2007; oder auch Harald Welzer, Täter. Wie Ordnung-en«, an der Goethe-Universität Jung u.a. (Hrsg.), Festschrift für Egon Müller, Baden-Baden 2008, S. 423 ff., 7 Vgl. dazu die Beiträge in: Helmut König u.a. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005. Frankfurt am Main gehalten hat. bes. 431 f.; und auch schon den Beitrag von Werner Renz, »40 Jahre Auschwitz- am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen u.a. 1998. Kritisch zum Begriff 12 Zum Schutz vor Strafverfolgung vgl. etwa die spezifi sch südamerikanische Urteil. Täterexkulpation und Opfergedenken«, in: Newsletter. Zur Geschichte und und mit zahlreichen weiteren Nachweisen Christina Möller, Völkerstrafrecht und Debatte um die Impunidad (Strafl osigkeit) etwa durch generöse Amnestien, wie Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts, Nr. 27, Herbst Internationaler Strafgerichtshof. Kriminologische, straftheoretische und rechts- sie besonders Kai Ambos, Strafl osigkeit von Menschenrechtsverletzungen, 2005, S. 14 ff. politische Aspekte, Münster u.a. 2003, S. 426 ff. Freiburg im Breisgau 1997, nachzeichnet.

34 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 35 noch von diesem Einzelnen alleine zu sühnen.13 Von daher ist der im tens denselben rechtsstaatlichen Maßstäben messen lassen muss, die Verbrechen zu bekämpfen, ist also als ein rein präventiver Straf- klassischen Kanon noch verbleibende Strafzweck der positiven auch für die von staatlichen Gerichten verhängten Strafen gelten. zweck zu verstehen. 0SYCHOSOZIAL 6ERLAG Generalprävention einer der wenigen, die hier noch als vernünftig Denn Freiheitsstrafe bedeutet – verfassungsrechtlich formuliert – Denn nimmt man sich den Begriff semantisch zur Brust, wird begründbar gelten.14 Ihm nach soll Völkerstrafrecht vermittels kom- einen massiven Eingriff in die bürgerlichen Grundrechte, und die- klar, dass er schon eo ipso einen Selbstwiderspruch formuliert: »Die Suzanne Kaplan munikativer Symbole, etwa der Strafverfolgung, des öffentlichen ser lässt sich nur begründen, wenn mit ihm ein legitimer Zweck Vergangenheit« kann nicht bewältigt werden. Bewältigen lässt sich Verfahrens, des Schuldspruchs und – nolens volens – auch des Voll- verfolgt und auch in verhältnismäßiger Weise erreicht wird.18 Dass nur Künftiges.21 Bewältigen lassen sich etwa Aufgaben, Konfl ikte Wenn Kinder Völkermord überleben zugs von langjährigen Freiheitsstrafen, ein Bewusstsein der immer- dieser Legitimationszwang gleichsam erst recht, argumentum a for- oder Probleme. Wir sprechen, analytisch betrachtet, von »bewälti- Über extreme Traumatisierung währenden weltweiten Geltung der Menschenrechte bekräftigen tiori, für eine Strafe gelten muss, die der Internationale Gerichtshof gen«, wenn wir etwas in der Gegenwart und für die Zukunft lösen und Affektregulierung (oder auch erst schaffen) und: Es soll die individuelle Verantwor- verhängt, folgt daraus, dass sich dieser, noch viel mehr als ein staat- oder klären müssen. Probleme und Aufgaben etwa sind dann bewäl- tung des einzelnen Täters untermauern und auf dessen Handlungs- liches Gericht, gerade nur dadurch legitimiert, dass er zum Schutz tigt, wenn sie gelöst oder beseitigt sind, wenn der Druck ihrer Er- spielräume hinweisen, sich den Verbrechen zu verweigern. Denn di- von Grund- und Menschenrechten urteilt.19 Und vor einem Gericht, ledigung nicht mehr auf Gegenwart und Zukunft lastet. Das aber, ese Spielräume muss es notwendig geben, will man das begangene das einzig dem Schutz dieser Rechte dient, müssen diese freilich be- was gestern war, ist als Vergangenes abgeschlossen und ist, ontolo- Unrecht auch der individuellen Schuld zurechnen, die strafrechtlich sondere Beachtung fi nden.20 gisch gleichsam, als Entität irreversibel. Gleichwohl kann gerade die nur angenommen werden kann, wenn sich sagen lässt, dass der Tä- Dass Strafe also einen legitimen, und das heißt einen mit den Tatsache, dass sich das Geschehene nicht mehr aus der Welt schaf- ter auch – jedenfalls ohne ernsthafte Gefahr für sich selbst – anders Grund- und Menschenrechten vereinbaren Zweck erfüllen und da- fen lässt, Gegenwart und Zukunft extrem belasten. Und so nimmt hätte handeln können, als er es getan hat.15 bei verhältnismäßig sein muss, bedeutet, es muss feststellbar sein, es nur wenig wunder, dass ausgerechnet die Deutschen mit dem Be- Aufgrund dieser Begründungsprobleme wird seit Längerem ein ob der angegebene Zweck durch Strafverfahren und -vollzug auch griff »Vergangenheitsbewältigung«, der in anderen Sprachen seine Strafzweck gehandelt, der sich als »Vergangenheitsbewältigung« in- erreicht wird. Solche Feststellung kann aber nur gelingen, wenn ein Entsprechung sucht22, nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ausdruck zwischen begriffl ich etabliert und dabei offensichtlich gegen die seit hinreichend bestimmter Zweck genannt wird, weil die Frage, ob ei- gefunden haben, der ihren womöglich gar nicht so unbewussten den 1950er Jahren formulierte Kritik immunisiert hat.16 Bei diesem ne Maßnahme ein Ziel erreicht, nur beantwortet werden kann, wenn Wunsch ausdrückte, die jüngste Vergangenheit möge sich wieder Begriff handelt es sich jedoch seit eh und je um eine bloße Chiffre klar ist, was genau dieses Ziel ist. Was also Vergangenheitsbewälti- aufl ösen, oder am besten gar nicht erst geschehen sein, und sie da- für allerhand verschiedene Vorstellungen von dem, was (Völker-) gung als Telos des Völkerstrafrechts semantisch bedeuten kann, wird rob auch nicht mehr belasten. Günther Anders sprach in seiner Kri- Strafe bewirken können soll. Im Folgenden wird eine Idee davon im Folgenden zuerst erörtert, um danach noch kurz auf die spezi- tik an diesem Begriff wohl auch deshalb sinngemäß davon, dass er vermittelt, was unter dieser Chiffre überhaupt sinnvoll verstanden fi sche Legitimation eines dann so bestimmten Begriffs von Vergan- hoffe, die Deutschen hätten sich mit dem Holocaust endlich einmal werden kann und was davon als rechtsstaatlich legitimer Strafzweck genheitsbewältigung einzugehen. eine Wunde geschlagen, die nicht mehr heile und die sie nicht aus gegebenenfalls vermittelbar wäre. der Welt schaffen könnten.23 * Probleme mit der Bestimmtheit weist aber auch schon der Be- * griff der Vergangenheit selbst auf.24 Welche Vergangenheit ist ei- Ein Ergebnis dieser Erörterungen sei hier vorweggenommen: Ver- gentlich gemeint? Wann beginnt sie, wann endet sie? Um wessen Ein erst einmal nicht näher bestimmter Begriff von Vergangenheits- gangenheitsbewältigung als Zweck von Völkerstrafe kann legitim Vergangenheit geht es? Die eines Menschen, eines Volkes, die der 3EITENÀ"ROSCHURÀ`  bewältigung als Legitimationsgrund der Völkerstrafe scheiterte nur bestimmt werden als der Versuch, mithilfe der kommunikativen Menschheit? Und wenn man für diese Fragen mit Verweis auf die )3".     streng genommen an mindestens einem rechtsstaatlichen Prinzip und Symbolik des Strafverfahrens die Ursachen völkerstrafrechtlicher hermeneutisch zirkulär wirkenden Normen, an denen sich die Re- damit auch an den bürgerlichen Grundrechten der potenziellen Täter. konstruktion des Vergangenen orientiert, Antworten gefunden hat, Suzanne Kaplan erforscht mit Überlebenden der Shoah und Es gilt nämlich, bei aller grundsätzlichen Akzeptanz der Pro- muss man sich aber redlicherweise im Klaren darüber sein, dass des Völkermords in Ruanda, welchen Einfluss das Erlebte zesse, immer zu beachten, dass sich auch das überstaatliche In- derart als Vergangenheit Identifi ziertes immer nur eine im Zwei- und die Erinnerungen daran auf die kindliche Psyche und Vereinten Nationen, die mit der Verfolgung der Verbrechen in Ruanda und im strument der Völkerstrafe, die meist von einem überstaatlichen fel umstrittene Re-Konstruktion ist, die als komplexer Gegenstand ihre weitere Entwicklung haben. ehemaligen Jugoslawien betraut wurden. »Als vorbildliche psychoanalytische Klinikerin zielt Kaplan Gericht, etwa dem genannten IGHSt17, verhängt wird, nach mindes- 18 Zur Frage der grundrechtlichen Überprüfung von materiellen Strafvorschriften der historischen Forschung und ihrer Kontingenz überantwortet ist. darauf ab, [...] zu erkennen, wie die jugendliche Psyche vgl. Otto Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, Freiburg Mag also die eigene Rekonstruktion durchaus eine Aufgabe Möglichkeiten findet, mit Massentötungen umzugehen – mit 1996; Gregor Staechelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, Berlin 1998. sein, die das Vergangene der Gegenwart stellt, und können von den Ferner mit Blick auf das umstrittene Urteil des BVerfG zur Strafbarkeit des Erwachsenen, die den Verstand verloren haben. […] Dies 13 Vgl. dazu die gründlichen Untersuchungen von Möller, Völkerstrafrecht, Geschwisterinzests, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), ist die äußerst lesenswerte, sehr differenzierte Erforschung S. 413 ff., 423 ff. Bd. 120, S. 224 ff., das dissenting vote Winfried Hassemers, BVerfGE, Bd. 120, der Erlebnisse von Kindern, die unfassbarer Grausamkeit 14 Vgl. neuerdings wieder Klaus Günther, »Falscher Friede durch repressives S. 255 ff., und den Beitrag von Claus Roxin, »Zur Strafbarkeit des Geschwister- Völkerrecht?«, in: Werner Beulke u.a. (Hrsg.), Das Dilemma des rechtsstaat- inzests. Zur verfassungsrechtlichen Überprüfung materiellrechtlicher Strafvor- 21 Folgende Gedanken gründen zum Teil auf den Überlegungen Bernhard Schlinks, gegenüberstanden.« lichen Strafrechts, Berlin 2009, S. 79 ff., 88. schriften«, in: StV 2009, S. 544 ff., m.w.N. »Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht«, in: König u.a. (Hrsg.), Ver- Peter Fonagy 15 Vgl. zum – freilich sehr streitigen – Begriff der Schuld im Strafrecht Claus 19 Zugleich stößt der Gedanke einer Überprüfung von Urteilen eines Völkerstraf- gangenheitsbewältigung, S. 433 ff., ebenso in: Bernhard Schlink, Vergangenheits- Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 721 ff., 732 f. gerichts auf einen (noch) notwendigen Mangel an Rechtsstaatlichkeit. Auf schuld. Beiträge zu einem deutschen Thema, Zürich 2007, S. 80 ff. 16 Vgl. zur damaligen Kritik im deutschen Schrifttum die Nachweise in: König u.a. internationaler Ebene gibt es weder eine vollendete Gewaltenteilung noch ein 22 Vgl. Möller, Völkerstrafrecht, S. 426; König u.a. (Hrsg.), Vergangenheitsbewälti- Walltorstr. 10 · 35390 Gießen (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung, S. 7 ff. Siehe auch Möller, Völkerstrafrecht, übergeordnetes Weltgericht, das Sprüche des IGHSt an ihrer Vereinbarkeit mit gung, S. 9, Anm. 14, m.w.N. Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 S. 426 ff. Grund- und Menschenrechten messen könnte. 23 Günther Anders, Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966. Nach »Holo- [email protected] 17 Zuvor freilich durch das Internationale Militärtribunal der Alliierten in Nürnberg 20 Zu ähnlich gelagerten Schlüssen und möglichen Antinomien in den Zielen des caust« 1979, München 1979, S. 189. www.psychosozial-verlag.de 1945/46. Dann erst wieder seit den 1990er Jahren durch Ad-hoc-Gerichtshöfe der Völkerstrafrechts vgl. Günther, »Friede«, S. 83 f., 86 f., 98. 24 Vgl. wiederum Möller, Völkerstrafrecht, S. 426 ff., m.w.N.

36 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 37 damit verbundenen Problemen gerade die Kriminologen des Völ- gerweise unmöglich, und Strafe ist zum Erreichen dieses Ziels un- aber keine schon a priori unerreichbaren Ziele setzen, wenn es Ziel des sozialen Ausschlusses betrifft, so ist dieser die spezifi sche kerstrafrechts beredt Auskunft geben, so kann diese Aufgabe nicht geeignet. ernst genommen werden und nicht Erwartungen wecken will, die Folge der Sanktion, etwa einer Freiheitsstrafe oder eines Berufs- eigentlicher Zweck des Strafrechts sein. Das Strafrecht muss die Re- Um dies praktisch zu untermauern, sei ein neuerer Beitrag von es nur enttäuschen kann. Daher muss sich Völkerstrafrecht offenbar verbotes. Inwiefern nun aber das Strafverfahren als Ganzes geeig- Konstruktion der vergangenen Tat und ihrer Umstände zwar notwen- Jürgen Kaube30 erwähnt, in dem dieser die irrational anmutende rein präventive Ziele setzen36, wenn es vernünftig sein, wenn es, so net sein könnte, die Ursachen der Verbrechen künftig zu beseiti- dig leisten, weil das Gericht – ein Offi zialverfahren vorausgesetzt25 Sanktionspraxis US-amerikanischer Strafgerichte beschreibt, dem Adorno, »objektiven Wahnsinn«37 ebenso verhindern will wie An- gen, ist fraglich. – die historische Wahrheit fi nden und dem Schuldspruch zugrunde großen Unrecht zigfachen Mordes mit mehrfach lebenslänglicher erkennungs- und Geltungsprobleme, die es als vergleichsweise jun- Denn um vorbeugen zu können, muss man, wie es schon 1967 legen muss. Aber schon weil dies allenfalls punktuell und niemals Haft oder mehreren Hundert Jahren Gefängnis für einen einzel- ges Recht gerade erst lösen muss. Fritz Bauer formulierte, Ursachen kennen.41 Und just in dieser ent- abschließend gelingen kann und auch weil es strikt formelle, en- nen Täter zu begegnen. Dies wirkt für uns einigermaßen grotesk. scheidenden Frage tut sich die Kriminologie bis heute außerordent- ge rechtsstaatliche Grenzen der Vergangenheitsrekonstruktion im Dieser Groteske hält Kaube die nicht weniger irrsinnig wirkende * lich schwer. Gerade sie gilt, so etwa Herbert Jäger42 und Frank Neu- Strafprozess gibt, ist das Strafrecht hierfür nicht geeignet.26 Solan- Sanktionspraxis der bundesdeutschen Nachkriegsgerichte im Um- ge andere Disziplinen die sogenannte historische Wahrheit weitaus gang mit NS-Verbrechen entgegen. Mit Verweis auf einen Beitrag Mit anderen Worten: Völkerstrafrecht muss Aufgaben bewältigen besser erforschen können, ist Strafrecht hierfür nicht erforderlich.27 von Joachim Perels31 errechnete Kaube bei zahlreichen Tätern, die wollen, die sich auch bewältigen lassen. Und als solche Aufgaben Die Vokabel »Vergangenheitsbewältigung« meint also, worauf wegen tausendfachen Mordes verurteilt wurden, durchschnittliche sehe ich folgende: 41 So das Monitum zu Beginn des Textes. – Dass das Völkerstrafrecht Vorbeugung 28 nicht alleine erreichen kann, dass die Beseitigung der Ursachen der Völkerver- auch schon ausführlich Bernhard Schlink hingewiesen hat, sinn- Haftstrafen von nur wenigen Minuten für einen einzelnen Mord. So Zum einen und wichtigsten die Aufgabe, der Möglichkeit vor- brechen eine gesamt-, eine weltgesellschaftliche Aufgabe ist, ist unbestritten. vollerweise nur, dass die Vergangenheit Aufgaben und Probleme grotesk einerseits eine mehrhundertjährige Haftstrafe für einen ein- zubeugen, dass sich Ähnliches wiederholt – nicht Gleiches, weil Dies unterscheidet sich aber wenig von den gleichen Fragen im nationalen hervorgebracht hat, die es in Gegenwart und Zukunft zu bewälti- zelnen Menschen wirkt, so extrem ungerecht erscheint wiederum Geschichte sich nicht eins zu eins wiederholt und weil gerade die Kontext. Auch dort kann Strafrecht allein keine Normtreue erzeugen. Rechts- gen, also zu lösen gilt. Es geht ihr also gar nicht um Vergangenheit, eine Haftstrafe von nur wenigen Minuten für die Tötung eines Men- Shoah, an der sich die Welle des Völkerstrafrechts notwendig bre- geltung beruht immer auf der Anerkennung der Normadressaten, die vor allem durch diverse Sozialisations-, nicht aber durch Strafprozesse erzeugt wird. sondern – prospektiv – um die Bewältigung von Gegenwärtigem schen. Aber auch die scheinbare »Bewältigung« der DDR-Ver- chen muss, bislang singuläres Unrecht darstellt, das sich einer 42 Gespräch mit Herbert Jäger in: Thomas Horstmann, Heike Litzinger, An den 38 und Zukünftigem. gangenheit via Strafe geriet ins erkennbar Irrationale, weil es den Gleichsetzung gerade entzieht. Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbre- bundesdeutschen Gerichten erst unter – nicht notwendigem32 – Zum anderen müssten die praktischen Folgen des begangenen chen, Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 35 ff., 59. * Rückgriff auf die Radbruch’sche Formel, genauer auf die Formel Unrechts bewältigt, also aufgehoben werden. Es müsste, soweit von der Unerträglichkeit des Unrechts33, gelang, die Grenzsoldaten möglich, der Zustand vor dem begangenen Unrecht restituiert wer- Welche Aufgaben und Probleme ergeben sich nun durch jenes der Nationalen Volksarmee der DDR wegen der Todesschüsse an der den, was das Strafrecht naturgemäß weniger kann als das Zivil- und »makrokriminelle« oder »staatsverstärkte« Unrecht für das Völker- innerdeutschen Grenze zu bestrafen. Dies allerdings in aller Regel das Öffentliche Recht.39 strafrecht und seine in die Zukunft wirkenden Verfahren und Sank- mit bloßen Bewährungsstrafen – als dann offenbar angemessener Beide Forderungen treffen sich in der weiteren Aufgabe, die 34 tionen? Geht man nach den absoluten Zwecken, Vergeltung und Sanktion für explizit unerträgliches Unrecht? schuldigen Täter aus ihren sozialen Rollen herauszulösen, also in Synagogen und jüdische Rituelle Sühne, so hätte die Strafe auch im Völkerstrafrecht eine Schuld ver- Alle Beispiele zeigen, dass ein absolutes Völkerstrafrecht schei- gewisser Weise zu de-sozialisieren, weil dies einer neuen Staatlich- Tauchbäder in Hessen – geltende und die Normverletzung wiederaufhebende Funktion. Di- tern muss, weil, wie es Theodor W. Adorno formulierte, »die Ge- keit Glaubwürdigkeit verleiht40 und Frieden sichern kann, und weil Was geschah seit 1945? es indes ist, wie oben angedeutet, ein hier jedenfalls unerreichbares rechtigkeit […] ohnehin keiner Sanktion fähig« ist, die »der be- nur so gewährleistet wäre, dass die jeweils gut sozialisierten Täter Von Thea Altaras. 2., bis Sept. Ziel.29 Denn Unrechtsaufhebung und Schuldausgleich sind ange- gangenen Untat gerecht würde«.35 Ein rationales Recht darf sich ihre Macht nicht wieder missbrauchen könnten. 2004 aktualisierte, erweiterte und sichts des ungeheuren Ausmaßes der begangenen Taten vernünfti- Auf diese beiden Aufgaben, Folgenbewältigung und Vorbeu- kombinierte Auflage, aus dem gung, lässt sich mithin der Begriff der Vergangenheitsbewältigung Nachlass hrsg. 2007. 432 S., 1244 Abb., dav. 218 farbig. 27*21 cm, als hinreichend bestimmtes Ziel des Rechts im Allgemeinen und Hardcover. EUR 39,80 30 Jürgen Kaube, »Maßstrafe«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.9.2009, des Völkerstrafrechts im Besonderen zuspitzen. Was hierbei das ISBN 978-3-7845-7794-4 25 Der IGHSt verfolgt ein solches nicht in Reinform. Vielmehr haben sich die Ver- S. N 3. einten Nationen auf einen komplizierten Mix aus dem angelsächsischen und dem 31 Joachim Perels, »Die Aushöhlung des Rechtsstaates durch die Umwandlung von kontinentaleuropäischen Strafprozess geeinigt. Vgl. dazu Lagodny, »Legitima- NS-Tätern in Gehilfen«, in: Rainer Erd u.a. (Hrsg.), Passion Arbeitsrecht. Thea Altaras beschreibt hier, zu- tion«, S. 800 ff. Erfahrungen einer unruhigen Generation – Liber amicorum Thomas Blanke, sammengefasst und aktualisiert bis 26 Vgl. grundlegend zu den Grenzen und Möglichkeiten der historischen Wahrheits- Baden-Baden 2009, S. 203 ff. »Hätte man die Chargierten der Folter samt ihren Auftraggebern und deren zu ihrem Tod 2004, die Geschichte und Gestalt aller 1945 ver- fi ndung im Strafprozess aus historischer Perspektive Michael Stolleis, »Der 32 Zur Kritik daran vgl. Ralf Dreier, Juristische Vergangenheitsbewältigung, Baden- hochmögenden Gönnern sogleich erschossen, so wäre es moralischer gewesen, bliebenen Reste der zumeist ländlichen Synagogenbauten in Historiker als Richter – der Richter als Historiker«, in: Norbert Frei u.a. (Hrsg.), Baden 1995, bes. S. 28 ff. als einigen von ihnen den Prozess zu machen. Dass ihnen zu fl iehen, zwanzig Hessen. Ausführlich schildert sie Geschichte und Prinzipien des Geschichte vor Gericht, München 2000, S. 173 ff.; aus strafprozessualer und 33 Nach Gustav Radbruch, »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, Jahre sich zu verstecken gelang, verändert qualitativ die damals versäumte Synagogen- und Mikwen-Baus, die unterschiedlichen Bautypen, behutsam erkenntnistheoretischer Perspektive Hans Heiner Kühne, in: Löwe- in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105 f., geraten Gerechtigkeit und Gerechtigkeit.« (ebd.) Dies lässt sich auch als Bewertung des Auschwitz- deren Einrichtung und ihre Lage im Ort. Ihr Katalog umfasst 276 Rosenberg, Kommentar zur Strafprozessordnung, 26. Aufl ., Berlin u.a. 2006, Rechtssicherheit bei der rückwirkenden Bestrafung von NS-Unrecht in einen Prozesses lesen. architektonische Beschreibungen und Bauhistorien, oft auch Be- Einleitung, Abschnitt H, Rn 23 ff. Konfl ikt, der dann, wenn das auf dem NS-Recht oder seiner Praxis fußende 36 Ausdrücklich kritisiert dies der der Vergeltungstheorie zuneigende Wolfgang richte noch angetroffener Zeitzeugen. Das abschließende Kapitel 27 Die gesonderten Probleme der Wahrheitsfi ndung, der Rekonstruktion des Ver- Unrecht so groß wird, dass seine Nichtbestrafung in einen unerträglichen Naucke: Der Bezug auf Vergangenheitsbewältigung sei »ein so verzweifelter wie widmet sie der Gedenkpraxis seit 1945. – Mit diesem Zeugnis gangenen im angelsächsischen Parteiverfahren, etwa des plea-bargaining, aber Widerspruch zur Gerechtigkeit führte, dazu zwinge, der gerechten Bestrafung vergeblicher Versuch, ein präventives Strafrecht doch noch und auch im Bereich auch das der Absprachen im Offi zialverfahren lasse ich hier einmal beiseite. Sie den Vorrang vor der Rechtssicherheit zu geben. So genannte »Unerträglichkeits- der Staatskriminalität zu retten«. Naucke, Privilegierung, S. 31 f. jüdischer Geschichte in Hessen, akribisch recherchiert in über verschärfen die Problematik der Wahrheitsfeststellung nur noch. formel«. 37 Adorno, Negative Dialektik, S. 282. 300 Orten, wurde eine Arbeit geleistet, die eigentlich andere 28 Schlink, »Bewältigung«, S. 433 ff. 34 So schon Schlink, »Bewältigung«, S. 445 f. 38 Vgl. zum Begriff und Problem der Vergleichbarkeit Schlink, »Bewältigung«, hätten erbringen müssen. Auf sehr persönliche Weise ist dieses 29 Einen neuen absoluten Begründungsversuch der Völkerstrafe unternimmt aber 35 Theodor W. Adorno, bereits 1969, in: Negative Dialektik, Frankfurt am Main S. 440, 441 und dort Fn. 3. ihr Lebenswerk für uns Dokument und Mahnung zugleich. Katrin Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf Grundlage der Kanti- 1975, S. 282. Und mit Bezug auf Walter Benjamin, dem zufolge der Vollzug der 39 Vgl. ebd., S. 440. www.blaue-buecher.de schen Rechtslehre, Berlin 2006. Todesstrafe moralisch sein könne, nicht aber deren Legitimation, fügt Adorno an: 40 Ebd.

38 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 39 bacher43, auch über 60 Jahre nach der Shoah immer noch als bedeu- ein schwaches Ich und bedürfen darum als Ersatz der Identifi kation Aufarbeitung der Vergangenheit als Behebung ihrer Ursachen tendes, vor allem auch auf internationale Grundlegung wartendes mit großen Kollektiven und der Deckung durch diese«.48 und damit Lösung der durch sie gestellten Aufgabe bedeutete Ador- Forschungsgebiet. Auch wenn Adorno zu seinen Thesen mithilfe der umstrittenen no daher Aufklärung, die Erzeugung eines »hellen Bewusstseins«53 Daniel Wildmann Zumindest eine für das Strafrecht zentrale und auch bereits sehr »Studien zum autoritären Charakter«49 gelangte, auf die er hier se- über diese subjektiven Dispositionen. »Aufarbeitung der Vergan- Der veränderbare Körper belastbare Antwort auf die Frage nach den Ursachen gibt es frei- mantisch rekurriert, weisen diese doch beträchtliche Ähnlichkeiten genheit als Aufklärung ist [daher, V.R.] wesentlich solche Wendung Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wieder- 50 lich, die prima facie so logisch und banal wie zugleich, heuristisch mit den Deskriptionen späterer kriminologischer Forschungen auf. aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein und damit gewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900 betrachtet, von zentralem Interesse für die Forschung ist. Nämlich Beispielhaft hierfür stehen die Beschreibungen der genannten Jä- auch von dessen Selbst.«54 die, dass sich das Handeln der Täter eben nicht an der im Zweifel ger, Browning, Neubacher und Möller, die bei dem Gros der Täter überpositiven Geltung der grundlegenden Menschenrechte der Op- stets folgende Beweggründe nennen: Autoritätsgläubigkeit, Kar- * fer orientiert hat, sondern an jenen – meist staatlichen – Normen rieredenken, Anpassung im Sinne einer Angst davor, aufzufallen, Daniel Wildmann öffnet einen und Normbefehlen, die die Verletzung der Menschenrechte gefor- Gruppendruck (Angst vor einem Außenseiterstatus), Gedankenlo- Man muss also konstatieren, dass ein präventiv legitimiertes Straf- innovativen Blick auf deutsch- jüdische Geschichte der Moderne. dert, unterstützt oder wie auch immer positiv sanktioniert haben. Es sigkeit, Gleichgültigkeit oder Angst vor nur leichteren Schwierig- verfahren, das die Ursachen der Völkerverbrechen angreifen möchte, Er zeigt, wie Alternativen fehlte, insbesondere sub specie Shoah, den meisten, ganz gewöhn- keiten und berufl ichen Nachteilen.51 Und im Übrigen führten auch als deren augenscheinlichste Ursache die fehlende Bereitschaft oder jüdischer Selbstvergewisserung lichen Tätern an der Fähigkeit, sich unangepasst zu verhalten und einige »Laborstudien«, etwa die von Stanley Milgram, zu hiermit Fähigkeit der Täter thematisieren muss, einerseits den Forderungen um die Jahrhundertwende gedacht sich staatlichen Direktiven zu widersetzen. Dies ist, jedenfalls dem durchaus kompatiblen Ergebnissen.52 staatlicher Normen zu widerstehen, und dass andererseits sämtliche wurden – Alternativen sowohl zu Kriminologen Neubacher zufolge, diejenige Ursache, die als Matrix jener Täter, sobald sie an einen entsprechenden Kontext angepasst assimilatorischen wie auch zu zio- aller völkerrechtlich relevanten Verbrechen gelten könne.44 waren, Unrecht in einer Weise begehen konnten, zu dem sie als Ein- nistischen Lebensent würfen – und Und auch eine zweite Antwort gilt als gesichert, bei deren For- zelne in ganz normalen Kontexten nie fähig gewesen wären. Und wie diese Alternativen gleichzeitig mulierung das Völkerstrafrecht als Schuldstrafrecht maßgeblich be- 48 Adorno, »Aufarbeitung«, S. 561 f. Auch daher rührt die sich in der Negativen man muss dann konsequent formulieren, und insofern ist Fritz Bauer Bruchlinien jüdischer Integration Dialektik, S. 283, anschließende Überlegung, dass das Strafrecht »den Schul- in Deutschland offen legten. teiligt war. Nämlich die, dass die Taten zumeist aus Freiheit be- digen die Ehre einer Freiheit antut, die ihnen nicht gebührt«, weil sie »real« – soweit ersichtlich – der erste und bislang auch einzige Jurist gewe- 2009. V, 329 Seiten 45 Durch eine präzise Analyse der gangen wurden, die Täter also angepasst und freiwillig handelten. unfrei waren. Man kann und muss an dieser Stelle womöglich noch etwas sen, der dies so deutlich gesagt hat, dass ein präventiv verstandenes (Schriftenreihe wissen- weiterdenken, was ich hier aber nur andeuten kann und was auch Adorno meist schaftlicher Abhandlungen Geschichte und Programmatik Willfährige Anpassung aus Freiheit beschrieb Adorno schon Völkerstrafrecht die Unfähigkeit der gewöhnlichen Täter von Völ- des Leo Baeck Instituts 73). nur andeutete: Womöglich sind die fehlende Fähigkeit zur Erfahrung, das jüdischer Turnvereine wird klar, in 1959 in seinem bekannt gewordenen Aufsatz »Was bedeutet: Auf- kerverbrechen zur Zivilcourage55 thematisieren und verändern muss. ISBN 978-3-16-150094-7 fehlende Selbstbewusstsein und die fehlende Ich-Stärke auch auf einer gleich- Leinen € 64,– welchem explosiven Spannungs- arbeitung der Vergangenheit« als zentrale Ursache der verhandelten sam mimetischen Ebene relevante Ursache der Verbrechen. Die Tötung, ins- 1965 schrieb Bauer, die Prozesse vermittelten die Lehre, künftig feld sich jüdische Identität im Verbrechen. Auch Adorno, der damals gerade in Abgrenzung zum besondere die gleichgültige, routinierte und gewissenlose Tötung eines Men- sei die »Bereitschaft zum eindeutigen Nein gegenüber staatlichem Was verbinden Deutschen Kaiserreich wiederfand, Begriff der Vergangenheitsbewältigung den der »Aufarbeitung« von schen kommuniziert als Handlung gleichsam performativ, dass der Mörder sich Unrecht« geboten. Sie verlangten, dass »die Menschen auf private wenn sie vorgegebene Pfade ver- über das Besondere, das Einmalige und das Unwiederbringliche des getöteten Turner mit Harmo- Vergangenheit stark machen wollte, verband damit die Aufgabe, und familiäre Vorteile verzichten und auch zu persönlichen Opfern liess. Diese Studie betritt Neuland, Subjektes nicht bewusst ist oder es bewusst leugnet. Die Leugnung des Beson- nie, Männlichkeit über die Ursachen des Vergangenen aufzuklären, um sie eines Ta- deren ist Ausdruck des falschen Allgemeinen des Täters, seiner Unfreiheit. Er bereit sind, wenn von ihnen gefordert wird, Böses zu tun oder zu denn sie integriert neue Ansätze ges aufheben zu können.46 Und auch er beleuchtete jene in Völker- existiert an sich nicht als Subjekt und tötet daher auch ohne Erfahrung der Be- tolerieren […] Die Zivilcourage besteht darin, einem bösen Staat und jüdisch sein? in der Geschichtswissenschaft, wie verbrechen – neben den Überzeugungstätern – stets und massenhaft deutung, besonderes Subjekt zu sein, nicht nur willfährig, sondern überantwortet zu widerstehen.«56 Ja sogar das Recht an sich verlange »von uns ei- Und warum Körpergeschichte, Geschichte der anzutreffenden Tätertypen, auf die nach ihm Herbert Jäger und, ab sich als Soldat im Krieg zugleich vergleichsweise blind der hohen Gefahr, selbst nen Kampf und ein gewisses Opfer«. Den Prozessen gehe es »um verweisen solche Männlichkeit und Visual History, in getötet zu werden. Die anscheinend nicht bewusst empfundene und verdrängte die deutsch-jüdische Geschichte. den 1990er Jahren, auch Browning, Neubacher, Möller und selbst Bedeutungs- und Wertlosigkeit des eigenen Lebens, die der angepasste Täter die Zivilcourage im eigenen Volk, um den eigenen Kampf für das Fragen auf Bruch- 47 mithilfe der Identifi kation mit Überhöhtem, etwa Nationen, anderen Kollektiven 57 linien jüdischer Daniel Goldhagen stießen, nämlich auf Täter »autoritätsgebun- Recht mit eigenen persönlichen Opfern«. Man habe »völlig über- »Trotz der fatalen Quellenlage hat oder abstrakten Werten (Ehre, Treue) auszugleichen versucht, agiert er gleichsam denen« Charakters, die defi niert seien, wie er sagte, durch »ein Den- sehen, dass […] Zivilcourage […] verlangt wird […], dass es eh- Integration im Deut- der Autor eine ebenso informative ken nach den Dimensionen Macht – Ohnmacht, Starrheit und Re- mimetisch am Opfer ab. renhaft ist, dass es Pfl icht ist, auch in seinem eigenen Staat für das 49 Theodor W. Adorno, »Studies in the Authoritarian Personality«, in: ders., Ge- schen Kaiserreich? wie erhellende Untersuchung zu aktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde sammelte Schriften, Bd. 9.1, Frankfurt am Main 1996, S. 143 ff. Recht zu sorgen. Deswegen ist es das A und O dieser Prozesse zu einem bislang kaum barbeiteten Selbstbesinnung, […] mangelnde Fähigkeit zur Erfahrung«. Jene 50 Was mit Blick auf die kritisierten Studien Adornos bedeuten kann, dass der dort sagen: Ihr hättet Nein sagen müssen.«58 Forschungsfeld vorgelegt.« Täter, so Adorno, identifi zierten »sich mit realer Macht schlechthin, diagnostizierte Charakter oder Teile davon so weit verbreitet sind, dass potenziell Rolf Löchel in vor jedem besonderen Inhalt«. Im Grunde verfügten sie »nur über jedes Unrechtsregime weltweit zu jeder Zeit genug »willige Vollstrecker« fände, www.literaturkritik.de 1/2010 so es diese denn suchte. Dies erklärte – idiosynkratisch –, warum so viele, auch Wissenschaftler, so allergisch abwehrend auf die Thesen Adornos reagierten. ww.mohr.de 51 Fritz Bauer spricht 1965 in seinem Beitrag »Im Namen des Volkes. Die straf- 53 Adorno, »Aufarbeitung«, S. 555. rechtliche Bewältigung von Vergangenheit« davon, dass die Täter motiviert 54 Ebd., S. 571. 43 Neubacher, Grundlagen, S. 159. waren u.a. durch »Machthunger, […] Lust am Fortkommen und […] Karriere« 55 Es wird hier von einem Begriff von Zivilcourage ausgegangen, wie ihn etwa 44 Ebd., S. 236 ff. und sogar aus bloßer »Bequemlichkeit« töteten. Der Beitrag ist erstmals abge- Wolfram Wette verwendet und der umschrieben werden kann mit dem Mut zum 45 Vgl. dazu noch Weiteres unten. druckt in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach – Eine eigenverantwortlichen, abweichenden Verhalten gegenüber staatlichen Direkti- Mohr Siebeck 46 Theodor W. Adorno, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: ders., Deutsche Bilanz 1945–1965, München u.a. 1965, S. 301 ff.; dann wieder in: Fritz ven. Vgl. dazu Wolfram Wette (Hrsg.), Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter Gesammelte Schriften, Bd. 10/2, Frankfurt am Main 1997, S. 555, 571. Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am aus Wehrmacht, Polizei und SS, Frankfurt am Main 2004, S. 18–21. Tübingen 47 Für Goldhagen waren freilich alle Täter antisemitische Überzeugungstäter. Vgl. Main 1998, S. 77 ff., 83. 56 Bauer, Humanität, S. 90. [email protected] Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz normale Deutsche und 52 Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegen- 57 So schon in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk 1963, abgedr. www.mohr.de

der Holocaust, Berlin 1996; und stellvertretend für die Kritik hieran, sich auch über Autorität, Reinbek bei Hamburg 1997; vgl. dazu auch Neubacher, Grund- in: Bauer, Humanität, S. 101 ff., 115 f. Maßgeschneiderte Informationen: w bereits im Titel distanzierend: Browning, Männer, S. 249 ff. lagen, S. 216 ff., m.w.N. 58 Ebd., S. 113 f.

40 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 41 Und dass hierfür, für abweichendes59 und zivilcouragiertes Ver- Sosehr Bauer dies damals zwar als bedeutsames Ziel der Pro- Sogar noch etwas weiter geht die Überlegung, die ebenfalls Mit dem hier skizzierten Zweck des völkerrechtlichen Strafver- halten, Raum war und dass das Verhalten Einzelner auch stets über zesse benannte, so wenig konnte er aber den Schritt gehen, dieses schon 1969 von Adorno angestellt wurde, wonach man es in den fahrens verbindet sich schließlich auch zwanglos das, was weithin Leben und Tod zahlloser Opfer entschieden hat, zeigte, nachdem Ziel zugleich als den Strafzweck völkerrechtlicher Prozesse auszu- Verfahren dabei bewenden lassen könne, die Täter einem abschlie- als der große Fortschritt und als das »Neue« des Völkerstrafrechts Bauer auch hierauf schon 1963 hinweist60, zuerst ausführlich die rufen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zum einen hatte sich ßenden Schuldspruch zu unterwerfen, um sie »danach laufen [zu] gesehen wird.67 Nämlich dass es die ihm zugrunde liegenden Ge- Habilitationsschrift Herbert Jägers. Dieser legte 1967 eine breite das Strafrecht damals noch nicht von der letztlich metaphysischen lassen«.64 Dies ist eine Überlegung, die heute in der modernen Theo- schehnisse künftig konsequent als Kriminalität brandmarkt, sie al- Analyse der Urteile der bundesdeutschen Gerichte zum NS-Unrecht Idee der Schuldvergeltung emanzipiert; Bauers Drang zu einem spe- rie ebenfalls, namentlich von Klaus Günther, vertreten wird65 und so nicht mehr diplomatisch als acts of states immunisiert oder gar vor, die keinen einzigen Fall eines entschuldigenden Befehlsnot- zialpräventiven Strafrecht war für seine Zeit noch vergleichswei- die auch Opferinteressen keinesfalls zwingend zuwiderläuft.66 Und als Schicksal von Völkern fatalisiert, sondern als individuell zu ver- stands61 und so gut wie nie Schuld ausschließende Verbotsirrtümer se ungewöhnlich. Zum anderen war der heute selbstverständliche auch Verfahren und Schuldspruch verdeutlichten die weltweite Not- antwortendes Unrecht bestimmt, das aus Freiheit begangen wor- anerkannten. Diese sprachen den Tätern damit sowohl Unrechtsbe- Zweck der positiven Generalprävention in der Diskussion noch gar wendigkeit zivilcouragierten Handelns für die Zukunft einer zivilen den und daher auch individueller Schuld zuzurechnen ist. Symbo- wusstsein als auch genügend Spielraum für abweichendes zivilcou- nicht virulent.63 Und schließlich war, den Nürnberger Prozessen zum Weltgesellschaft symbolisch. lisch schreibt das Völkerstrafrecht genau dadurch auch nicht mehr ragiertes Verhalten zu, den sie jedoch aus den genannten Gründen Trotz, an ein institutionalisiertes Völkerstrafrecht zur damaligen Zeit nur den Staaten, sondern auch den einzelnen Subjekten einer Welt- nicht nutzten – Feststellungen, die von den bereits genannten neue- noch nicht zu denken. gesellschaft die Verantwortung dafür zu, dass sich Ähnliches nicht ren historischen Forschungen allesamt bestätigt wurden. 64 Adorno, Negative Dialektik, S. 282. wiederholt und dass Handlungsspielräume in Zukunft bei Strafe zu Ein Strafrecht, das mit seinen Institutionen, Verfahren und * 65 Vgl. Günther, »Friede«, S. 89 ff., m.w.N.; eine »starke Tendenz« dazu, dass die nutzen sind. Sanktionen einen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung leisten Strafprozesse mehr und mehr nur noch auf die Feststellung von Unrecht und will, muss sich damit im Klaren darüber sein, dass es mehr von sei- Ob Völkerstrafe nun die auch von Fritz Bauer hervorgehobene, be- Schuld gerichtet seien, sieht Lüderssen, »Auschwitz-Prozess«, S. 432 f. 66 Vgl. die Äußerungen der Nebenkläger Jules Schelvis und Paul Hellmann im nen Adressaten erwartet als nur eine vergleichsweise passive nor- wusstseinsbildende Rolle effektiv spielen kann, ist eine noch offe- Demjanjuk-Verfahren, in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29.11.2009, S. 5, und mative Anpassung. Denn die Geltung der Menschenrechte muss im ne Frage, die sich hier und wohl auch generell kaum klären lässt. vom 1.12.2009, S. 3, denen vor allem Verfahren und Schuldspruch wichtig seien. 67 Vgl. Neubacher, Grundlagen, S. 147. Normenkonfl ikt mit divergierenden staatlichen Normbefehlen durch Denn das empirische Problem der effektiven Messbarkeit stellt zivilcouragiert abweichendes Handeln verteidigt werden. sich allen präventiven Strafzwecken, so auch dem Zweck der hier So wie der Auschwitz-Prozess (1963–1965) für Fritz Bauer spezifi zierten Form der Vergangenheitsbewältigung. Es braucht dem deutschen Volk die Not zur Zivilcourage unterstreichen sollte, nur wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass der Einfl uss von müsste das heute international angelegte Völkerstrafrecht ein welt- Verurteilungen auf das künftige Verhalten möglicher Völkerver- gesellschaftliches Bemühen unterstützen, die Weltbürger genau hier- brecher im Zweifel immer nur minimal sein kann. Mehr als die zu zu befähigen. Es muss gleichsam symbolisch kommunizieren, eingangs skizzierten Plausibilitätserwägungen darüber, welche dass im Konfl iktfall staatlicher Unrechtsstrukturen der verbleibende Zwecke erreichbar seien, dürften hier nicht möglich sein. Dies Initiative 9. November Diethelm Blecking/ Garant für die Geltung der Menschenrechte paradoxerweise immer kann und sollte jedoch ein aufgeklärtes Völkerstrafrecht vor dem Erinnerung Gerd Dembowski (Hrsg.) nur der potenzielle Täter selbst ist, »dass es die Pfl icht ist, auch in Forum der zu achtenden Grund- und Menschenrechte auch der Tä- braucht Der Ball seinem eigenen Staat für das Recht zu sorgen«.62 ter zur Zurückhaltung bei Art und Maß der Sanktion führen. Die Zukunft ist bunt Einsicht in die Sinnlosigkeit vergeltender Strafe und die leichter Der Ort der Fußball, Migration zu vermittelnde Notwendigkeit eines präventiven sozialen Aus- Joachim Carlos Martini zerstörten Synagoge und die Vielfalt der Musik an der Friedberger Identitäten in Deutschland 59 Der Begriff »abweichendes Verhalten« ist ein feststehender Begriff der Sozio- schlusses der Täter aus ihren kriminogenen Rollen könnten vor Widerstandes Anlage in Frankfurt Jüdische Musikerinnen am Main Fußball, Migration Joachim Carlos Martini und Musiker 1933-1945 logie, letztlich auch der Kriminalsoziologie, und meint u.a. kriminelles Verhalten. dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprin- Der Ball und die Vielfalt Das Beispiel der Identitäten Frankfurt am Main ist bunt in Deutschland Vgl. Howard S. Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, zips dazu bewegen, es bei diesem Ausschluss als verfahrensab- Musik 304 S., Großformat als Form Texte, Bilder, Dokumente Frankfurt am Main 1973; für die Kriminologie die Bände I und II zum Seminar schließende Sanktion zu belassen, etwa in Form eines im natio- ca. 330 S., Frz. Br. Frz. Br., zahlr. Abb. Abweichendes Verhalten, hrsg. von Klaus Lüderssen und Fritz Sack, Frankfurt geistigen ca. € 19,90/sFr 35,90 € 24,90/sFr 44,-, am Main 1980. Bei den Historikern des Nationalsozialismus wird er daher auch nalen Strafrecht als rein präventive Maßregel geläufi gen Berufs- Widerstandes Brandes & Apsel ISBN 978-3-86099-627-0 ISBN 978-3-86099-614-0 für Verhalten gebraucht, das Widerstand leistete; so Detlev Peukerts Schema verbots. Jüdische Musikerinnen und Musiker 1933-1945 Die Adresse Friedberger Anlage 5-6 steht für Im historischen Teil des Buches gehen die Autoren »Formen abweichenden Verhaltens im Dritten Reich«, in: ders., Volksgenossen Das Beispiel Frankfurt am Main die Vielfalt jüdischen Lebens in Frankfurt am den jüdischen, meist unbekannten Ursprüngen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Main als auch für dessen Zerstörung. Hier des deutschen Fußballs nach. Die Beiträge sind Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 97; Wette (Hrsg.), Zivilcourage, S. 18, 21. Bd. 1 Texte, Bilder, Dokumente fanden Brandstiftung und Vernichtung der informativ und unterhaltsam für Fans und Experten Als Strafziel wäre der Begriff indes neu, weil Strafe bislang auf an staatliche Menschenrechten sei sogar implizit das Grundrecht auf jene sie gewährende 308 S., geb. mit Fotos, € 29,90 Synagoge unter den Augen der Bevölkerung statt. geschrieben. Normen angepasstes Verhalten zielt. Staatlichkeit zu entnehmen (Lorenz Schulz). So richtig dies ist, so übersieht ISBN 978-386099620-1 Ausgerechnet hier erfolgte 1942/43 die Errichtung Bd. 2 Quellen, 492 S., geb., € 29,90 Beiträge von und mit Halil Altıntop, Aysun 60 Bauer, Humanität, S. 110 ff. diese Kritik doch, dass das Völkerstrafrecht gerade ein auf »staatliche« eines Schutzbunkers als Zufluchtsort vor dem ISBN 978-3-86099-621-8 Bombenkrieg. Seit Jahrzehnten wird die zukünf- Bademsoy, Ronny Blaschke, Diethelm Blecking, 61 Anerkannt wurden Fälle sogenannten Putativnotstandes, in denen Täter unver- Handlungen zielendes Strafrecht ist und so staatliche Souveränität zum Schutz Beide Bde. zus. ISBN 978-3-86099-622-5 tige Gestaltung und Nutzung dieses besonderen Detlev Claussen, Gerd Dembowski, Markus Flohr, meidbar darüber irrten, dass ihnen schwerste Sanktionen für den Fall drohten, der Menschenrechte einschränkt. Dies ist auch der Grund, warum sich viele Frankfurter Ortes intensiv diskutiert. Gunter Gebauer, Erdal Keser, Gül Keskinler, Eine reich illustrierte zweibändige Dokumentation dass sie Befehle verweigerten oder diesen sogar zuwiderhandelten. Weil diese Staaten bis heute weigern, den Gerichtshof anzuerkennen. Vgl. Heribert Prantl, Patrick Owomoyela, Mesut Özil, Lorenz Peiffer, der Verfolgung aber auch des Widerstandes Themen des Buches sind die Frankfurter Sanktionen in aller Regel nicht drohten, lagen meist »nur« entschuldigende »Der Unruhestifter, Baltasar Garzóns Kampf für das Recht«, in: Blätter für Dietrich Schulze-Marmeling, Mirko Slomka, Mark jüdischer Musikerinnen und Musiker in Frankfurt Gedenk- und Erinnerungspolitik, die Geschichte Irrtümer vor, nicht aber tatsächliche Notstandslagen, die die Handlungsfreiheit deutsche und internationale Politik, Jg. 55, H. 2 (2010), S. 63 ff., 69 f. Terkessidis, Moshe Zimmermann, Theo Zwanziger am Main unter der Naziherrschaft. Da Frankfurt der Israelitischen Religionsgesellschaft, der Täter eingeschränkt hätten. Staatlichkeit ist also genau deshalb, weil nur sie der effektive Garant für Men- und vielen anderen. neben Berlin das Zentrum jüdischen Musiklebens in das Arbeitskonzept und die Nutzungs- und 62 Bauer, Humanität, S. 114. Diese These ist bislang mündlich heftig kritisiert schenrechte ist, zugleich ihr mächtigster »natürlicher Feind«. Sie ist Garant und Deutschland war, hat Martinis Werk exemplarische Gestaltungsideen für den Bunker am Ort der worden. Es wurde bemängelt, dass sie außer Acht ließe, dass gerade die mo- Gefahr für sie zugleich. Bedeutung. ehemaligen Synagoge. www.brandesapselverlag.de derne Staatlichkeit der Garant der Menschenrechte sei (Margareta Haller). 63 Vgl. dazu auch Lüderssen, »Auschwitz-Prozess«, S. 431.

42 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 43 Einsicht Kommentar

gen seiner Rolle als nahezu nahtloser Naziverbrecher-Anwalt des- beantwortet die Frage nach der Moral. Mitwisser von Schuld zu sein halb nicht grundsätzlich, meine aber weiter, dass er wie auch andere und Parteilichkeit gehören zum Wesen des Berufs.« dazu da war, dass seine Mandanten ihrer Rechte nicht beraubt wur- Gewiss gibt es Fälle im Zivil- und Strafrecht, in denen sich der den, obwohl sie solche Nazischlächter waren. Muss man sich des- Anwalt mit dem Mandanten identifi ziert: weil er überzeugt ist, dass halb mit seinen Mandanten identifi zieren? Vielleicht tut das man- dieser strafrechtlich unschuldig ist oder zivilistisch Recht hat. Na- Unrechtsanwälte cher, viele aber auch nicht. türlich gab und gibt es auch alte Nazis, denen zu Unrecht ein Ver- Man macht einem Anwalt doch auch keine Vorwürfe, wenn man brechen vorgeworfen wird, weil sie vielleicht bösartig denunziert Die Rolle des Strafverteidigers erfährt, dass ihm sein Mandant – sei es ein straf- oder zivilrechtli- wurden oder die staatlichen Ermittlungen unsauber geführt worden cher – über seinen Fall reinen Wein eingeschenkt hat – und der An- waren. Es geht hier um rechtsstaatliche Überprüfung von Vorwür- und die Frage nach der Moral walt schweigt; er muss schweigen. Das Bundesverfassungsgericht fen, nicht um Sympathiekundgebungen. Niemand weiß, wie es im in Karlsruhe hat die Rolle des Zivilanwalts im Gegenteil kürzlich Innern des Anwalts aussieht – und so ist die rechte Ecke vielleicht von Heinrich Senfft noch gestärkt und festgestellt, dass die anwaltliche Verschwiegen- der falsche Platz, wenn es sich um einen Rechtsbeistand von NS- heitspfl icht im Zivil- wie im Strafrecht gleichermaßen besteht. Wie Tätern handelt. Aber es gehört natürlich schon viel dazu, so lange soll ein Anwalt seinen Mandanten auch richtig und erfolgreich ver- viele Naziverbrecher en suite um sich zu haben und sich ihre Lügen treten, wenn er vom Mandanten die Wahrheit nicht erfährt? (Es ge- und Ausreden geduldig anzuhören – das ist nicht nach jedermanns Wenn es um Millionen – oder auch weniger schieht dennoch nicht selten.) Geschmack – ist das die andere Seite? – geht, um die vor Zivilgerichten gestritten Es ist Sache des Gerichts, die Wahrheit zu ermitteln und sodann Aber welche Mandanten sucht man sich schon aus? Ist man als wird, gibt es kaum je Aufregung. Tritt aber zu urteilen. So ist schon mancher Täter davongekommen – und man- Spezialist bekannt, kommen viele mit ihren Sorgen. Nach welchen ein Rechtsanwalt in einem Strafverfahren cher zivilistisch Klagende zu einer Gerichtsentscheidung gekom- Kriterien soll man sie akzeptieren oder wieder wegschicken? Das Heinrich Senfft, geb. 1928 in Stutt- für einen wirklichen oder vorerst nur vermeintlichen Verbrecher auf, men, die ihm eigentlich gar nicht zugestanden hätte. So sagt auch muss jeder Anwalt für sich entscheiden – nicht jeder Entschluss gart, Jurastudium ab 1948 in Mainz, fragen sich viele, wie es wohl möglich sei, dass sich ein Anwalt da- Jürgen Schreiber im ZEITmagazin: »Juristen sind Pragmatiker, das wird einem gefallen. Tübingen und Hamburg, Examen in für hergebe, so einen Angeklagten zu vertreten. Tübingen. Referendarzeit in Stuttgart Diese Frage tauchte auch für mich auf, als ich mich vor vielen und Düsseldorf, Assessor-Examen Jahren entschloss, kein Einzelanwalt mehr zu sein, sondern Kom- in Stuttgart, 1955 Promotion in pagnon in einem größeren Büro – und da kam ein bekannter Straf- Tübingen. 1957 mit dem Max-Planck- verteidiger als Partner des Wegs, der NS-Verbrecher wegen in Po- Institut für ausländisches und len begangener Taten vertrat. Ich war natürlich erst schockiert, fi ng internationales Privatrecht nach dann aber an, über die Rolle des Strafverteidigers nachzudenken, Hamburg. Später selbstständiger die mir als Zivilanwalt noch gar nicht richtig klar geworden war: Warum ist es geschehen? Anwalt in Hamburg, sehr stark an Bist du am Ende nur dafür da, dafür zu sorgen, dass der Angeklag- die Wochenzeitung Die Zeit und te alle seine Rechte bekommt, die ihm nach dem Gesetz zustehen die Illustrierte Stern gebunden. – oder identifi zierst du dich mit ihm? Und da ich den Eindruck be- 1959/1960 an der Law School der kam, dass mein voraussichtlich neuer Partner sich nur dafür ein- University of California in Berkeley. setzte, dass seinen Mandanten die Rechte zukamen, die ihnen nach Sodann wieder Hamburg. Viele dem Gesetz zustanden, akzeptierte ich seine Rolle als Strafvertei- 1941 datiert den Beginn des Völkermords an den Ju- große Presse- und Urheberrechts- diger und lebte in Harmonie mit ihm. den mit der Inbetriebnahme der ersten Vernichtungs- prozesse. Zeitweise auch Anwalt des Das Beispiel Otto Schily: Viele meinen, er habe seine Meinung lager und Massenerschießungen in Polen und der UdSSR. Betrachtet man die deutsche Geschichte mit Spiegel und etlicher Studenten – in über die Jahre ganz und gar geändert: Früher habe er die RAF-Leute Helmut Walser Smith: diesem Fluchtpunkt, dann stellt sich die Frage: Welche den 1960er Jahren. Ab 1987 auch vertreten und sei ein linker Anwalt gewesen – und dann ein Law-and- Fluchtpunkt 1941 Kontinuitäten der deutschen Geschichte führten zum politisch-historische Publizistik, Order-Bundesinnenminister geworden. Nein: Schily war immer ein Kontinuitäten der Holocaust? Welche Gründe und Vorgeschichten hat deutschen Geschichte Artikel, Rezensionen, Bücher. Law-and-Order-Mann und hat die RAF-Leute vertreten, um dafür zu der Sturz in die Barbarei, welche Denkweisen und Übers.: C. Wiese · 330 S. Ab 1994 wohnhaft in London. sorgen, dass sie alle ihre gesetzlichen Rechte bekamen. Und ein sol- Ideologien haben das möglich gemacht? HC 10734 · € 24,95 cher Innenminister war er auch: Recht und Ordnung – nichts weiter. Das ZEITmagazin hat Jürgen Schreiber am 20. Oktober 2009 viel Raum für eine Titelgeschichte über den Frankfurter Anwalt Fritz Steinacker und die Frage gegeben, ob er »Der Anwalt des Bösen« gewesen sei, weil er so viele alte Nazis und Mörder vertreten habe. Nähere Informationen unter Mir scheint das noch immer ein totales Missverständnis der Rol- www.reclam.de le des Anwalts zu sein – und ich verachte Herrn Steinacker we-

44 Einsicht Einsicht 03 Frühjahr 2010 45 Rezensionen Buch- und Filmkritiken

68 Alfred Gottwaldt: Eisenbahner gegen Hitler. Widerstand  und Verfolgung bei der Reichsbahn 1933–1945 von Dorothee Lottmann-Kaeseler, Wiesbaden

69 Guy Walters: Hunting Evil. The Nazi War Criminals Who Escaped and the Dramatic Hunt to Bring Them to Justice von Dieter Maier, Frankfurt am Main HANDBUCH 70 Gertrude Schneider: Reise in den Tod. Deutsche Juden in Riga 1941–1944 DES ANTISEMITISMUS von Kurt Schilde, Siegen-Geisweid Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart

71 Barbara Huber: Der Regensburger SS-Zahnarzt Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismus- Dr. Willy Frank forschung der Technischen Universität Berlin von Jochen August, Berlin/Oświęcim herausgegeben von Wolfgang Benz in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann, Rezensionsverzeichnis 73 Jerzy Bielecki: Wer ein Leben rettet… Die Geschichte Johannes Heil, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa Liste der besprochenen Bücher und Filme einer Liebe in Auschwitz von Jochen August, Berlin/Oświęcim Redaktion: Brigitte Mihok

BAND 2: PERSONEN 48 Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich 57 Terrence Des Pres: Der Überlebende – Anatomie der 75 Susan Cernyak-Spatz: »Ich wollte leben …«. 2009. 2 Bde., zus. xxxviii, 934 Seiten endlich vom Holocaust lösen muss Todeslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück. Gebunden Ladenpreis € 199,95 / US$ 310.00 von Naomi Bubis, Tel Aviv von Stefan Lochner, Weimar Drei Stationen meines Lebens ISBN 978-3-598-24072-0 von Werner Renz, Fritz Bauer Institut eBook Unverb. Ladenpreis € 222,– / US$ 310. 00 ISBN 978-3-598-44159-2 49 Shlomo Sand: The Invention of the Jewish People 59 Jacek Andrzej Młynarczyk (Hrsg.): Polen unter von Micha Brumlik, Frankfurt am Main deutscher und sowjetischer Besatzung 1939–1945 76 : Ich bin der letzte Jude. Band 2 enthält mehr als 650 Biographien aus aller Welt von der Spät- antike bis zur Gegenwart. von Markus Roth, Gießen/Marburg Treblinka 1942/43. Aufzeichnungen für die Nachwelt 50 Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Philosophie im von Werner Renz, Fritz Bauer Institut „Das […] „Who Is Who“ der antisemitischen Persönlichkeiten von der Nationalsozialismus 60 Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und Antike bis heute hat einen hohen Informationswert; und es ist strecken- weise auch unterhaltsam, zum Beispiel wenn das Wirken des zu recht von Werner Konitzer, Fritz Bauer Institut militärisches Hinterland 1941/42 77 Jacob van der Hoeden: Lienekes Hefte vergessenen Schriftstellers Hans Diebow (1896 bis 1975) beschrieben von Reinhard Otto, Lemgo Tami Shem-Tov: Das Mädchen mit den drei Namen wird, der mit einer Arbeit über „Archäologische Studien über die 51 Jan-Werner Müller: Constitutional Patriotism von Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut Nacktheit des Weibes in der griechischen Kunst“ promovierte, bevor er sich der Lösung der „Rassenfrage“ zuwandte.“ von Werner Konitzer, Fritz Bauer Institut 62 Barbara Engelking, Helga Hirsch: Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden 79 Andreas Lehnardt: Die Jüdische Bibliothek an der Henryk M. Broder in: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,674311,00.html 53 Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom »jüdischen von Monika Tokarzewska, Thorn Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1938–2008. Bolschewiken«. Zur Geschichte des russischen Anti- von Dorothee Lottmann-Kaeseler, Wiesbaden Bereits erschienen: semitismus vor und während der Russischen Revolution 64 Petra Bonavita: Mit falschem Pass und Zyankali. Retter von Christoph Dieckmann, Keele/Frankfurt am Main und Gerettete aus Frankfurt am Main in der NS-Zeit 80 Argumente. Netzwerk antirassistischer BAND 1: LÄNDER UND REGIONEN von Helga Krohn, Frankfurt am Main Bildung e.V. (Hrsg.): Dunkelfeld. Recherchen in extrem 2008. 444 Seiten. 8 Ktn. Gebunden € 99,95 / US$ 155.00 54 Katrin Hassel: Kriegsverbrechen vor Gericht. Die rechten Lebenswelten rund um Rhein-Main ISBN 978-3-598-24071-3 Kriegsverbrecherprozesse vor Militärgerichten in der 65 Klaus Hillenbrand: Nicht mit uns. Das Leben von Leonie von Sarah Dellmann, Maria Klein, Jérôme Seeburger, eBook Unverb. Ladenpreis € 111,– / US$ 155.00 britischen Besatzungszone unter dem Royal Warrant und Walter Frankenstein Offenbach am Main ISBN 978-3-11-023137-3 vom 18. Juni 1945 (1945–1949) von Birgit Maria Körner, Frankfurt am Main BAND 3: BEGRIFFE, EREIGNISSE, THEORIEN erscheint im Herbst 2010

von Annette Weinke, Jena 81 Hannes Karnick, Wolfgang Richter: WENN ÄRZTE TÖTEN eBooks sind derzeit nur für Bibliotheken / Institutionen erhältlich Preise in US$ gelten für Bestellungen aus Nordamerika 67 Alexandra Flügel: »Kinder können das auch schon mal von Christoph Schneider, Frankfurt am Main Preisänderungen vorbehalten 56 Anette Kretzer: NS-Täterschaft und Geschlecht. Der wissen«. Nationalsozialismus und Holocaust im Spiegel Preise inkl. MwSt. erste britische Ravensbrück-Prozess 1946/47 in Hamburg kindlicher Refl exions- und Kommunikationsprozesse 82 Thomas Harlan: WUNDKANAL

von John Cramer, Lüneburg von Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut von Christoph Schneider, Frankfurt am Main www.degruyter.com

46 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 47 Selbstgefälligkeit und Groll lasse die Gesellschaft rassistischer werden und beraube sie dessen Die Juden – am Ende doch kein Volk? sen sei, und er versucht, diese Sicht zu widerlegen. Im Gegenzug humanistischer Werte. Den israelischen Arabern gehe es heute so haben ihm israelische Kritiker, etwa die Historiker Israel Bartal und wie den deutschen Juden in der Inkubationszeit, die dem National- Anita Schapira, vorgehalten, der zionistischen Geschichtsschreibung sozialismus vorausging, erklärt Burg. das Verschweigen wichtiger Tatsachen anzulasten – ein Missver- Avraham Burg Versucht man die Ursprünge seiner Gedankenwelt in Burgs Le- Shlomo Sand ständnis, denn die Raffi nesse von Sands Beweisführung besteht ge- Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich bensgeschichte zu fi nden, erscheinen seine Ausführungen noch we- The Invention of the Jewish People rade darin, die in der Öffentlichkeit übergangenen Ergebnisse gera- vom Holocaust lösen muss niger plausibel. Der durchaus intelligente und äußert eloquente Sohn Aus dem Hebräischen von Yael Lotan. de auch »zionistischer« Forschung erneut zu präsentieren. Demnach Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. des ehemaligen Innenministers Josef Burg von der Nationalreligi- London: Verso 2009, 332 S., £ 18,99 › gab es keine Vertreibung der Juden aus ihrem Land, da erstens Frankfurt am Main, New York: Campus ösen Partei war lange Knesset-Abgeordneter und vier Jahre lang http://inventionofthejewishpeople.com schon zur Zeit des Zweiten Tempels die übergroße Zahl der Juden Verlag, 2009, 280 S., € 22,90 deren Sprecher, er war zudem Vorsitzender der Jewish Agency, der nicht in Judäa, sondern um das gesamte Mittelmeerbecken lebte, wichtigsten zionistischen Organisation. Seinen Wehrdienst leistete und die Römer zweitens, anders als die Assyrer, Juden weder beim er in der Eliteeinheit der Fallschirmspringer. Er ist zwar in einem Auf Deutsch wird das tragende Gesetz des ersten noch beim zweiten Aufstand im Jahre 70 und 132 depor- Das Buch Hitler besiegen von Avraham Burg toleranten Elternhaus aufgewachsen, doch wann sich seine provo- zionistischen Staates »Rückkehrgesetz« ge- tierten. Gewiss: Viele kamen um, und auch nicht wenige wurden ist keine leichte Lektüre. Zum einen wegen kanten Positionen zu dem antiisraelischen Konglomerat formten, nannt, auf Hebräisch etwas bescheidener »Chok ha Schwut«, was nach römischem Brauch als Kriegsgefangene verkauft. Indes: Ab- dessen provokanten Thesen, zum anderen und primär wegen des schlep- die in dem aktuellen Buch ihren spektakulären Höhepunkt fi nden, übersetzt nichts anderes heißt als »Niederlassungsgesetz«. Es be- gesehen von dem Verbot für Juden, das nach 135 als Aelia Capito- penden Tons, der trockenen Schreibart und den Zeit- und Gedanken- bleibt unklar. Ja sicher, Burg lehnte bereits den Libanonkrieg 1982 stimmt, dass jede religionsgesetzlich als jüdisch defi nierte Person lina bezeichnete Jerusalem zu betreten, sind jüdische Siedlungen sprüngen, die die Leselust hemmen. Burg fordert Israel in seinem Buch ab und trat der Friedensorganisation Peace Now bei. Doch in seiner unmittelbar bei Einreise die israelische Staatsbürgerschaft bean- in Galiläa bis weit ins 6. Jahrhundert nachgewiesen. auf, von der Fixierung auf die Shoah abzulassen. Damit hat er sich These von der Übermacht und Besessenheit Israels von der Shoah tragen und erhalten kann. Seit dem Ende der Sowjetunion ist die › war schon die bedeutende »zionistische« Historiografi e, etwa in dort mehr Feinde als Freunde gemacht. Er wurde als Nestbeschmutzer geht Burg weiter als die meisten linken und innovativen Denker Reichweite des Gesetzes auch auf nichtjüdische Verwandte derar- Gestalt von Benzion Dinur, davon überzeugt, dass es – wenn über- und Vaterlandsverräter beschimpft. Erst wenn Israel aus dem Schatten dieses Landes. Mit Hitler besiegen stellt er sich in den Windschat- tiger Immigranten ausgedehnt worden. Das Gesetz lässt sich somit haupt – eine Vertreibung von Juden aus Palästina frühestens seit der der Shoah trete, würde das jüdische Volk Hitler besiegen, tönt Burg. ten der Geschichtsschreibung der neuen Historiker um Ilan Pappe als die wegweisende Ausführungsbestimmung der Proklamations- arabisch-islamischen Eroberung gegeben habe. Indes: Diese The- In zwölf nicht enden wollenden Kapiteln verknüpft der Autor sei- und Tom Segev. Der brillante Segev, der den Zionismus neu inter- urkunde des Staates Israel vom 15. Mai 1948 lesen, in deren ersten se ließ sich tatsächlich nicht halten, heute wird angenommen, dass ne eigene Biografi e mit der Geschichte Israels. Er vollführt Gedanken- pretierte und an den im kollektiven Bewusstsein verankerten natio- Zeilen es heißt: »In Erez Israel stand die Wiege des jüdischen Vol- nach dem Joch der byzantinischen Unterdrückung die meisten Ju- sprünge zwischen familiären und gesellschaftlichen Ereignissen, spickt nalen Legenden rüttelte, stellt die Entstehung des Staates Israel nicht kes; hier wurde sein geistiges, religiöses und politisches Antlitz ge- den wie andere eroberte Völker auch zum Islam konvertierten. seine Ausführungen mit biblischen Anekdoten und politischen Vermer- einseitig als heroischen zionistischen Befreiungsakt dar, sondern be- formt; hier lebte es ein Leben staatlicher Selbständigkeit. […] Mit › Dieser Überzeugung waren jedenfalls der spätere israelische Staats- ken. Diese reichen von der Arche Noah bis zum Eichmann-Prozess, leuchtet deren Schattenseiten. In seinem Klassiker Die siebte Milli- Gewalt aus seinem Lande vertrieben, bewahrte es ihm in allen Län- präsident Izhak Ben-Zvi und der spätere Premierminister David Ben von Bismarck über Weimar, zu König David und David Grossman. Die on schreibt Segev, dass die Rettung der europäischen Juden für die dern der Diaspora die Treue und hörte niemals auf, um Rückkehr in Gurion, die noch 1929 auf Hebräisch ein Buch publizierten, in dem Bandbreite seiner historischen Schwenker ist schier unerschöpfl ich. Zionisten sekundär war und sich die Überlebenden in Israel recht- sein Land und Erneuerung seiner politischen Freiheit in ihm zu be- sie auf der Basis etymologischer Studien zu palästinensischen Orts- Er wettert gegen die »Shoahisierung« in Israel, kritisiert das ab- fertigen mussten, der Nazihölle entkommen zu sein. Segev traf da- ten und auf sie zu hoffen.« namen die These vertraten, dass die dort lebenden Fellachen nicht solute Monopol der Judenvernichtung über alle Aspekte des Alltags. mit den Nerv des israelischen und jüdischen Selbstverständnisses; Sands Buch, das über Wochen auf den israelischen Bestseller- die Nachfahren der arabischen Eroberer, sondern die Nachfahren Das Glorifi zieren der Toten und das Regieren mit dem Schwert füh- doch zumindest hat der Querdenker Segev im Gegensatz zu Burg listen stand, beansprucht nicht weniger, als diese Behauptung der jüdischer Bauern, die ihre Scholle nicht verlassen wollten, seien. re zwangsläufi g zu paranoidem Handeln, in dem das Gefühl, von der ein fundiertes und spannendes Buch geschrieben. Unabhängigkeitserklärung mit den Mitteln einer maßvollen Dekon- › Die vergleichsweise große Anzahl von Juden im Mittelalter so- ganzen Welt gehasst zu werden, das dominierende sei. Es mag sein, Wie zuvor für Tom Segev ist auch für Avraham Burg der Wen- struktion zu widerlegen. Demnach gibt es 1. gar kein jüdisches Volk, wohl in Arabien, in Nordafrika als auch in Ostmitteleuropa dass dieses Gefühl bei vielen Israelis existiert. Dieses aber einzig auf depunkt der zionistischen Entwicklung der Eichmann-Prozess von das daher auch 2. nicht aus seinem Lande vertrieben werden konnte erklärt Sand – auf auch von zionistischen Historikern nie bestrit- die Shoah zurückzuführen wäre einseitig. In den über 60 Jahren der 1961 in Jerusalem. Ministerpräsident Ben Gurion habe ihn als und somit 3. auch keinen moralischen oder rechtlichen Anspruch auf tene Quellen gestützt – damit, dass das antike und mittelalter- Existenz des jüdischen Staates gab es Kriege, Terror, Selbstmord- Schauprozess initiiert, um die Shoah zum identitätsprägenden Mo- Rückkehr geltend machen kann. Vielmehr, so meint Sand, hande- liche Judentum eine missionarische Religion gewesen sei: Be- attentate und wenig Empathie für ein Land, das sicherlich militä- mentum aller Juden zu machen, schreibt er. Für Burg führt der Weg le es sich beim Konstrukt des jüdischen »Volkes« um eine typische kehrt wurden Berberstämme in Nordafrika, der Jemen kannte in risch nicht immer verhältnismäßig reagiert, aber sich dennoch weh- von der Hinrichtung Eichmanns linear zur Besetzung der palästinen- Annahme des späten 19. Jahrhunderts, in dem Historiker und In- der späten Antike ein jüdisches Königreich, und schließlich tra- ren muss. Für Burg bedeutet dies, dass Israel keine Seele, sondern sischen Gebiete. Burgs streitsüchtige Beweisführung reiht sich be- tellektuelle allerorten historische »Ursprünge« ihrer meist sprach- ten im hohen Mittelalter nicht nur der Hof, sondern – wie archä- nur Muskeln hat. Der Schuldkomplex über die Shoah führe zu einer stens ein in das pseudo-intellektuelle Umfeld der »Holocaust-Indus- lich zusammengehaltenen Bevölkerungsgruppe gesucht und gefun- ologische Grabungen zumal auf Friedhöfen erhärten konnten – nationalen Besessenheit überzogener Sicherheitspolitik, schreibt er. trie« von Norman Finkelstein. Doch sind Burgs Vergleiche noch ab- den hätten: etwa Hermann den Cherusker als Urvater der Deutschen breite Teile des ganzen Turkvolkes der Khazaren zum Judentum Die Shoah verdränge jede Erörterung anderer israelischer Lei- struser. Etwa, wenn er die Shoah mit dem Ozonloch vergleicht: nicht oder die Helden der Ilias und Odyssee als Ursprünge der doch eher über. Sand ist der Überzeugung, dass die jiddisch sprechenden den, meint der 55-jährige Autor. Israel sei eine multitraumatische zu sehen, aber immer präsent, abstrakt und folgenschwer. Wenn der balkanischen Bevölkerung des heutigen Griechenland. ostmitteleuropäischen Juden eher Nachfahren der Khazaren sind Gesellschaft. In einer betont medialen Gesellschaft, in der konfron- Wortschwall nach 276 langen Seiten endlich ein abruptes Ende fi n- Shlomo Sand, der in Tel Aviv Neuere Geschichte lehrt, benennt anstatt der nur wenigen aschkenasischen Juden, die vor dem Ju- tativ Unrecht, Korruption, Diskriminierung und soziale Missstände det, fragt man sich, was in dem Buch eigentlich steht, außer Selbst- die nationaljüdischen, noch nicht explizit zionistischen Historiker denhass nach Polen fl ohen. Zur Abrundung dieses Arguments be- offengelegt werden, ist diese Schlussfolgerung sehr verkürzt. Die gefälligkeit und Groll gegen den Staat Israel. Heinrich Graetz und als Urheber einer Geschichts- müht er die Forschungen eines Außenseiters der Linguistik: Der Israelis haben genügend aktuelle Probleme, mit denen sie sich täg- betrachtung, die die Juden grosso modo in kaum unterbrochener an der Universität Tel Aviv lehrende und forschende Paul Wex- lich auseinandersetzen, sodass die Shoah im Alltag eher fern als nahe Naomi Bubis Kontinuität als ethnisches Kollektiv gezeichnet hätten, das sich sei- ler glaubt zeigen zu können, dass Jiddisch strukturell eine slawi- liegt. Weiter polemisiert Burg, Israels Auslegung als jüdischer Staat Tel Aviv nes Ursprungs im Judäa der augusteischen Zeit stets bewusst gewe- sche, keine germanische Sprache ist.

48 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 49 Das, alles zusammengenommen, lässt keinen anderen Schluss so merkwürdiger erscheint es, dass es bisher in Deutschland kaum chen Fällen angemessen sein mag, bringt es leicht mit sich, dass es Vom liebenden Kampf zum zu, als dass das vermeintlich kontinuierliche jüdische Volk im Rah- nennenswerte philosophische Versuche gegeben hat, nicht nur den so scheint, als sei der Nationalsozialismus ein Phänomen gewesen, herrschaftsfreien Diskurs. Geschichte men des schon biblischen Narrativs von Vertreibung und Wiederheim- Nationalsozialismus und seine Verbrechen, sondern auch die Ge- das das Denken und Wollen der Philosophen von außen her, aus ei- und Geltung des Verfassungspatriotismus führung nichts anderes ist als ein allerdings geschichtsmächtiger My- schichte der Philosophie im Nationalsozialismus eingehender und nem anderen Raum, befallen hat. thos, der aber mit der realen Geschichte der Juden nichts zu tun hat. in einem philosophischen Zusammenhang zu untersuchen. Für eine historische Analyse der Geschichte des Nationalso-

Sand hat seinem Buch als Motto eine Bemerkung des aus der Der Band Philosophie im Nationalsozialismus kann diese Lücke zialismus noch erhellender sind die Aufsätze, die auf die Beant- Tschechoslowakei stammenden Politologen Karl Deutsch voran- nicht schließen. Sein Ziel scheint auch eher, auf sie aufmerksam zu wortung der Frage abzielen, wieweit die in Deutschland bestehen- Jan-Werner Müller gestellt: »A nation […] is a group united by a common error about machen und erste Wegmarken für eine mögliche Thematisierung des den Philosophierichtungen aus eigenem Antrieb und ihrer eigenen Constitutional Patriotism their ancestry and a common dislike of their neighbours.« Es ver- Feldes zu setzen. Das Buch versammelt zehn Beiträge unterschied- Tradition heraus völkische und nationalsozialistische Tendenzen Princeton: Princeton University Press steht sich, dass Sand daher den Begriff des Volkes differenziert licher Länge und Zielsetzung. In der großen Mehrzahl befassen sie entwickelten. Emmanuel Faye zeigt, dass Heideggers Vorlesungen 2007, 173 S., € 17,99 betrachtet: Indem er zwischen »Ethnos« als Herkunfts- und Ab- sich mit dem NS-Engagement einzelner Philosophen. Diskutiert aus dem Jahre 1933 bis 1934, die nationalsozialistische Vorstellun- stammungsgemeinschaft hier und »Demos« als freiwilligen Zusam- werden die Haltungen und Handlungen von Oskar Becker (Wolf- gen in radikalster Form propagieren, für die Anlage seines Wer- menschluss von Bürgern zur Gründung eines freien politischen Ge- ram Hogrebe), Martin Heidegger (Emmanuel Faye), Erich Roth- kes symptomatisch sind, das heißt, dass Heidegger als einer der meinwesens unterscheidet, tritt er für ein Israel als Staat aller seiner acker (Volker Böhnigk), Joachim Ritter (Hans Jörg Sandkühler) und bedeutendsten Vertreter nationalsozialistischer Ideologie zu ver- Bürger ein. Wenn es die historische Abstammungsgemeinschaft Hermann Noack (Jens Thiel). Ihnen werden, als Beiträge über Phi- stehen ist – einer Ideologie, der man, wie Faye meint, den Titel Der Begriff »Verfassungspatriotismus« wur- nicht gibt, hatte die Unabhängigkeitserklärung unrecht und der losophen, die sich nicht kompromittiert haben, Texte über Hannah »Philosophie« absprechen sollte. Und Hans Friedrich Fulda erörtert de das erste Mal von Dolf Sternberger1 ge- zionistische Staat keinen historischen Grund mehr. Arendt und Karl Jaspers gegenübergestellt. Daneben gibt es – ab- in einem gründlichen und detailreichen Aufsatz die Frage, wie es braucht. In der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre ging es gesehen von der ausführlichen Einleitung Sandkühlers – drei all- dazu kommen konnte, dass Heinrich Rickert als Mentor des süd- ihm bei der Einführung des Begriffes darum, eine affektive und volitio- Micha Brumlik gemeinere Beiträge zu Universität und Wissenschaft in der natio- westdeutschen Neukantianismus die Machtübernahme des Natio- nale Bindung an das politische Gemeinwesen zu denken. Sie sollte sich Frankfurt am Main nalsozialistischen Diktatur (Michael Grüttner), zu Philosophie im nalsozialismus begeistert begrüßte. Dazu zeichnet er detailliert die deutlich vom hergebrachten Nationalismus unterscheiden und dennoch Nationalsozialismus (Gereon Wolters) und zur Geschichte des Neu- Veränderungen nach, die im neukantianischen Philosophieren an so etwas wie Zugehörigkeitsgefühle zum Staat ermöglichen. Sternber- kantianismus (Hans Friedrich Fulda). 1 der kantischen Rechts- und Moralphilosophie vorgenommen wur- ger verband das Konzept vor allem mit der Vorstellung der wehrhaften Im Vordergrund der meisten Beiträge steht die Frage, wieweit den, bis schließlich aus einer universellen Moral, die sich an der Demokratie: Die Haltung des Verfassungspatriotismus sollte gewährlei- sich der diskutierte Philosoph in seinen Äußerungen, aber auch in Autonomie des Einzelnen orientierte, eine partikulare, an der völ- sten, dass die Verfassung, anders als es in der Weimarer Republik ge- seinem Werk dem Nationalsozialismus angepasst hat bzw. wieweit kischen Gemeinschaft ausgerichtete Wertphilosophie wurde – für schehen war, gegen ihre Feinde verteidigt werden konnte. Im Kontext Keine »Aufhebung« – zur Geschichte sein Werk selbst nationalsozialistisch zu nennen ist. Voraussetzung die Bruno Bauchs Ethik von 1935 ein gutes Beispiel darstellt. Da- des Historikerstreits in den 1980er Jahren wurde das Konzept von Jür- der Philosophie im Nationalsozialismus dafür ist eine – oft recht enge – Begriffsbestimmung dessen, was mit schält sich aus der älteren Fragestellung: Wieweit sich einzel- gen Habermas zu einer theoretisch anspruchsvolleren, umfassenderen nationalsozialistisch ist. Ergebnis ist eine Unterscheidung zwischen ne Philosophen durch ein nationalsozialistisches Engagement kom- Konzeption modifi ziert. Ihm ging es darum, die Sicherung universeller verschiedenen Formen der Involvierung von Philosophen in die na- promittiert haben, eine neuere heraus, nämlich: Wie man an der Werte mit der Bindung an partikulare politische Gemeinschaften zu- tionalsozialistische Ideologie und Praxis, die dann auch eine Ge- Entwicklung der praktischen Philosophie in Deutschland die Her- sammenzudenken. Ziel war, ein Selbstverständnis politischer Öffent- Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.) wichtung und Bewertung der unterschiedlichen Motivationen zu- ausbildung einer radikalen partikularen, auf die Verfolgung einer lichkeit als einer Sphäre, in der eine Auseinandersetzung mit einer vom Philosophie im Nationalsozialismus lässt: Zwischen aktiven NS-Ideologen (wie u.a. Heidegger, Gehlen, Gruppe ausgerichteten Ethik studieren kann. Nationalsozialismus geprägten und durchdrungenen kulturellen Tra- Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2008, Lehmann, Rothacker, Krieck, Bäumler), solchen, die sich zum Na- dition stattfi nden konnte, zu formulieren. Habermas entwickelte seine 344 S., € 24,90 tionalsozialismus bekannten, ohne »aber ihre Philosophien in ihm Werner Konitzer Konzeption in mehreren Aufsätzen2, die primär auf die westdeutsche, aufgehen zu lassen« – dazu zählt er Heinrich Rickert –, und solche, Fritz Bauer Institut später spezifi sch gesamtdeutsche Diskussion reagierten. Sie wurde in deren Philosophieren nicht nationalsozialistisch war, in das sich aber der internationalen wissenschaftlich-politischen Öffentlichkeit breit »nordische« oder »völkische« Zugeständnisse einschlichen, wie bei- aufgegriffen und kritisiert, aber auch verteidigt und weiterentwickelt. spielsweise bei Joachim Ritter. Eine solche Perspektive, die in man- Mit dem Buch von Jan-Werner Müller liegt eine systemati- Bis heute ist eine »kritische Geschichte der sche, ethisch-politisch angelegte Studie zum Verfassungspatrio- Philosophie im Nationalsozialismus nicht tismus vor, die nun auch auf Deutsch erscheinen wird.3 Müller geschrieben« (S. 11) worden.1 Diese Beobachtung, die Hans Jörg Sandkühler in der Einleitung des Sammelbandes Philosophie im Na- 1 Eine rühmliche Ausnahme bildet das ausgezeichnete Buch Heideggers Crisis von tionalsozialismus formuliert, ist mehr als die Feststellung über ei- Hans Sluga, Cambridge 1992. Leider wurde es bis heute noch nicht ins Deutsche übersetzt. Das zweibändige Werk Christian Tilitzkis, der mit außerordentlichem 1 Dolf Sternberger, »Verfassungspatriotismus«, Rede bei der 25-Jahr-Feier der ne zufällig entstandene Forschungslücke, sondern besagt Wesent- Fleiß kongenial die Geschichte von Berufungsverhandlungen, Habilitationsgutach- »Akademie für Politische Bildung« (1982), in: ders., Schriften, Bd. X, Frankfurt liches über Philosophie und Philosophieren in Deutschland bis in ten und akademischen Konkurrenzen im NS nachzeichnet, ist zwar ungeheuer mate- am Main 1990, S. 17–31. die Gegenwart hinein. Gerne und wiederholt machten Philosophen rialreich, kann aber kaum als Versuch, Geschichte zu verstehen, gewertet werden. 2 Jürgen Habermas, »Geschichtsbewußtsein und postnationale Identität. Die West- in Deutschland der analytisch geprägten angelsächsischen Philoso- Das Buch ist eher ein Dokument der Kontinuität nationalsozialistischer Auffassun- orientierung der Bundesrepublik«, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, gen in der Philosophie als ihrer Kritik. Vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Univer- Frankfurt am Main 1987, S. 161–179; ders., »Staatsbürgerschaft und nationale phie den Vorwurf, die Geschichte des philosophischen Denkens, sei- sitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002. Zu Identität«, in: ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992. ne Situativität und Kontextualität, zu wenig zu berücksichtigen. Um- dem Buch nimmt Gereon Wolters in dem besprochenen Band ausführlich Stellung. 3 Das Buch erscheint im August 2010 in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag.

50 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 51 systematisiert nicht nur die Überlegungen von Habermas, sondern wickelt wurden. In vielen Aspekten kommen beide Konzepte, ob- »Judäobolschewismus« in Russland In starkem Kontrast zum fortgeschrittenen Forschungsstand zu stellt sie neueren, moralphilosophisch begründeten Formen von li- wohl normativ unterschiedlich konzipiert, zu denselben Ergebnis- 1917–1921 Polen rückt erst in jüngster Zeit der Kontext der Entstehung und Ver- beralem Nationalismus gegenüber und geht so über die verstreuten sen. Für beide ist charakteristisch, dass sie sich letzten Endes auf breitung des »jüdischen Bolschewismus« in der Endphase des Za-

Überlegungen von Habermas hinaus. Er schildert, was Habermas’ Freiheitsrechte des Einzelnen berufen, um daraus den Wert und die renreiches, der Revolution 1917 und den nachfolgenden Wirren und Konzeption an die besondere deutsche Geschichte bindet, um dann Geltung auch partikularer Bindungen abzuleiten. Dennoch lassen Kriegen bis 1921 in das Blickfeld der westlichen Forschung. Ulrich zu diskutieren, inwieweit sie auch in anderen Kontexten eine Rol- sich wesentliche Unterschiede feststellen: Verfassungspatriotis- Ulrich Herbeck Herbeck hat dazu 2006 an der Freien Universität Berlin bei Wolfgang le spielen kann. Auf diese Weise begegnet er der doppelten Kri- mus ist eine unselbstständige Theorie, die sich in Fragen der Zu- Das Feindbild vom »jüdischen Bolsche- Wippermann promoviert und nun die erste deutschsprachige Unter- tik, die der Konzeption des Verfassungspatriotismus entgegen- gehörigkeit auf die Vorgegebenheit politischer Institutionen und wiken«. Zur Geschichte des russischen suchung zur Entstehung dieses Feindbildes in Russland vorgelegt.3 gehalten wird: auf der einen Seite, dass sie eine rationalistische, Grenzziehungen stützt. Liberaler Nationalismus dagegen kann Kri- Antisemitismus vor und während der Rus- Basierend auf den Ansätzen von Reinhard Rürup und Peter Pulzer »blutleere« Konstruktion sei, zu abstrakt und universalistisch, um terien für solche Grenzziehungen angeben. Liberaler Nationalis- sischen Revolution zur Erforschung des modernen Antisemitismus, von Shulamit Volkov solche affektiven Bindungen herzustellen, die politische Gemein- mus setzt auch nicht von vornherein auf die »Dezentrierung« na- Berlin: Metropol-Verlag, 2009, 480 S., € 24,– zur Frage nach dem »kulturellen Code«, der dem Antisemitismus zu- wesen brauchen; auf der anderen Seite, dass sie zu konkret sei. Weil tionaler Selbstverständnisse, wie es der Verfassungspatriotismus grunde liegt, und von Klaus Holz zum Zuschnitt des modernen Anti- sie im Zusammenhang der deutschen Teilung und der Auseinander- tut. Andererseits scheint Verfassungspatriotismus geeigneter, die Seit 1917 verbreitete sich in Russland die semitimus als »nationalem Antisemitismus« geht Herbeck folgendem setzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen entstanden sei, Bindungskraft, die entstehende transnationale Normen mit sich antisemitische Vorstellung, Judentum und Fragenkranz nach: Welche Vorbedingungen sind im spätzaristischen sei sie auch nur, wenn überhaupt, auf Deutschland in einer beson- bringen, zu konzeptualisieren. Dennoch bleibt es befremdend zu Bolschewismus seien identisch, denn die Revolution in Russland sei Antisemitismus zu fi nden, und was ist das spezifi sch Neue an der deren Situation anwendbar. sehen, dass gerade ein Konzept, das gewissermaßen in seiner Ent- von »jüdischen Bolschewiken« organisiert und durchgeführt wor- Vorstellung vom »Judäobolschewismus«? Wie ist dieses Stereotyp Beide Einwände nimmt Müller ernst und diskutiert sie dif- stehungsgeschichte noch die Spuren des deutschen Nationalismus den. Kurz darauf glaubten viele in Europa und großen Teilen der zu kontextualisieren? Welche Funktionen erfüllte das Stereotyp für ferenziert und abwägend. Er zeichnet dazu zunächst die Entste- in sich trägt, in der Lage sein soll, auf die Probleme zu antworten, restlichen Welt, sich gegen den »Judäobolschewismus« verteidi- die Selbstbilder seiner Trägerschichten und ihren Blick auf die Ge- hungsgeschichte des Konzeptes in verschiedenen Diskursen der die sich weltweit im Zusammenhang mit nationalistischen Strö- gen zu müssen. Dieses Feindbild wurde zum wichtigsten Ausdruck samtgesellschaft? In der westlichen Osteuropaforschung kann Her- Nachkriegszeit in Deutschland nach. Habermas, so macht Müller mungen immer erneut und in Krisenzeiten deutlicher stellen. Dass des Antisemitismus Anfang der 1920er Jahre. Der Mythos der Ver- beck an Alexander Orbach, Hans Rogger, Walter Laqueur und An- deutlich, nimmt einen grundlegenden und durchaus in nationalisti- solche Zweifel nicht beiseitegeschoben, sondern offen ausgespro- schwörung des Weltjudentums und insbesondere das Stereotyp des dré Gerrits anknüpfen. Auf russischer Seite hat fast zeitgleich Oleg scher Tradition stehenden Gedanken aus Karl Jaspers Schuldfra- chen werden, dass der Entstehungskontext des Konzeptes so klar »jüdischen Bolschewismus« dienten zwanzig Jahre später dem Na- Budnickij grundlegende Forschungen zu dem in der Sowjetunion ge (1946) auf; sie ist für die Entwicklung seiner Philosophie ins- herausgestellt wird, und nicht zuletzt die argumentative Genauig- tionalsozialismus als zentrale weltanschauliche Legitimation für den lange tabuisierten Thema des Antisemitismus der Weißen vorgelegt.4 gesamt prägend. Jaspers Konzeption einer in »liebendem Kampf« keit, mit der das Konzept in der Auseinandersetzung mit den an- Massenmord an den europäischen Juden. Herbeck gliedert seine Darstellung in vier große Abschnitte. gewonnenen aufgeklärten und an der Wahrheit orientierten Hal- spruchsvollen Konzepten von Gans, Tamir und anderen verteidigt In den Gesellschaften Ostmitteleuropas spielt das Feindbild des Nach der Analyse der vielfältigen Stränge des russischen Antisemi- tung zu Tradition und Vergangenheit wird nämlich bei Habermas wird, all das macht das Buch von Jan-Werner Müller lesenswert »jüdischen Bolschewismus« nach wie vor eine große Rolle in den tismus bis 1917 erläutert er die Verbreitung des Feindbildes in den weiterentwickelt zum Prinzip des öffentlichen Diskurses, der sich und diskussionswürdig. Diskussionen über die unmittelbare Vorgeschichte der deutschen Be- Jahren der Revolution und des Bürgerkrieges 1917 bis 1921 und er- an universellen Werten orientiert, sich aber gleichwohl auf ein setzung ab 1941 und die einheimische Kooperation mit den Deut- klärt die ideengeschichtlichen Hintergründe mit Schwerpunkt auf partikulares Gemeinwesen bezieht. Beide lösen sich vom tradi- Werner Konitzer schen. Die historische Forschung hat sich im Kontext der Jedwab- den religiösen Traditionen der orthodoxen Kirche und den »Proto- tionellen Nationalismus ab. An die Stelle einer Einigung in einem Fritz Bauer Institut ne-Debatte auf die Jahre 1939–1941 und vor allem auf Ostpolen kollen der Weisen von Zion«. Sehr überzeugend schildert Herbeck, gemeinsamen und geteilten Gefühl des Stolzes, das auf einer My- konzentriert. Im Zwischenkriegs-Polen waren żydokomuna und wie sich die Grundlagen eines politisierten Teufelsglaubens und die thisierung und Heroisierung von Vergangenheit beruht, tritt das żydobolszewism die beiden häufi gsten Propagandathemen.1 Inzwi- apokalyptische Erwartung eines Endkampfes zwischen Gut und Konzept der Bindung durch Streit und Argumentation. Auch bei schen ist das polnisch-jüdische Verhältnis im 20. Jahrhundert Ge- Böse entwickelten. Diese Glaubensvorstellungen stellten den ent- ihm spielen Gefühle eine Rolle, jedoch vor allem Scham bzw. genstand breit angelegter Untersuchungen, die das Stereotyp »jü- scheidenden Rahmen dar für die modernisierte Form des Antisemi- Schuld in Bezug auf die Verbrechen der Nation in der Vergan- discher Bolschewismus« empirisch genauer untersuchen.2 tismus: das Feindbild des »Judäobolschewismus«. Die Praxis der genheit. Stolz ist nur dort möglich, wo er sich auf das gemeinsam Antisemiten in zahlreichen Organisationen und Gebieten zeichnet geschaffene demokratische Gemeinwesen bezieht und nicht die Verletzung anderer und die Verkennung des Geschehenen und Ge- schehenden einschließt. 1 Joanna B. Michlic, »Żydokomuna – Anti-Jewish Images and Political Tropes in Modern Poland«, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts IV (2005), S. 303– hier S. 279. Vgl. die Überlegungen zum jüdischen Bolschewismus in Jan T. Inwieweit lässt sich dieses Konzept, das im spezifi schen Kon- 329, hier S. 304; Klaus-Peter Friedrich, »Von der żydokomuna zur Lösung einer Gross, Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical text der deutschen Situation gewonnen wurde, universalisieren? ›jüdischen Frage‹ durch Auswanderung: Die politische Instrumentalisierung Interpretation, New York 2006, S. 192–244. Müller diskutiert die Vorteile und Nachteile von Verfassungspa- ethnischer und kultureller Differenzen in Polen 1917/18 bis 1939«, in: Dietrich 3 Vgl. Herbecks zusammenfassenden Aufsatz »National in triotismus in einer Auseinandersetzung mit modernen Konzeptio- Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem during the Years of Crisis, 1914–1922«, in: Studies in Ethnicity and Nationalism Erwachen: Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918– 7 (2008), Nr. 3, S. 171–184. Wesentliche Vorarbeiten leistete Mathias Vetter, nen des liberalen Nationalismus, wie sie unter anderem von Chaim 1945, Paderborn 2007, S. 53–76. Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeind- Gans, Yael Tamir und David Miller4 in den 1990er Jahren ent- 2 Joanna Michlic, Poland’s Threatening Other. The Image of the Jew from 1880 to schaft 1917–1939, Berlin 1995. Das Pamphlet von Johannes Rogalla von Bieber- the Present, University of Nebraska 2006; Agnieszka Pufelska, Die »Judäo-Kom- stein, »Jüdischer Bolschewismus«. Mythos und Realität, Albersroda 2002, sehe mune«. Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des ich nicht als wissenschaftliche Studie an. Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007; Stephanie Zloch, »Nationsbildung 4 Vgl. insbesondere Oleg Budnickij, Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi 4 Chaim Gans, The Limits of Nationalism, Cambridge 2003; Yael Tamir, Liberal und Feinderklärung – ›Jüdischer Bolschewismus‹ und der polnisch-sowjetische (1917–1921) [Russische Juden zwischen Roten und Weißen (1917–1921], Nationalism, Princeton 1993; David Miller, On Nationality, Oxford 1995. Krieg 1919/1920«, in: Jahrbuch Simon-Dubnow-Institut IV (2005), S. 279–302, Moskau 2005.

52 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 53 er detailliert für die Jahre 1917 bis 1921 nach. Die Gewalt der Jah- Britische NS-Prozesse im vollziehbar dargelegt, warum sich die Autorin in derart ausführ- allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hassel ihr Aktenma- re 1917 bis 1921 stellte eine ungeheure Katastrophe dar, die noch Nachkriegsdeutschland licher Weise mit der Vorgeschichte ihres eigentlichen Hauptthemas terial ansonsten nur sehr unzureichend befragt hat. So fi nden sich keinen angemessenen Platz im europäischen Geschichtsbewusst- befasst – allein der Abschnitt über die Strafbestimmungen des Ver- weder Überlegungen darüber, nach welchen Kriterien bestimmte sein gefunden hat. Etwa sieben Millionen Menschen kamen ums sailler Friedensvertrages und deren Anwendung nimmt fast ein Vier- Fälle an die Military Courts, die Control Commission Courts oder

Leben, darunter etwa 150.000 bis 200.000 Juden, die Pogromen tel des Gesamttextes ein –, noch werden irgendwelche Leitfragen im die Entnazifizierungskommissionen überwiesen wurden – die zum Opfer fi elen. Neben den Interventionen der Alliierten und den Hinblick auf die Royal Warrant-Rechtsprechung formuliert. Auch Praxis dürfte in dieser Hinsicht durchaus uneinheitlich gewesen innerrussischen Kämpfen zwischen Bolschewiken, den »Weißen« Katrin Hassel der zweite Teil enthält überwiegend Altbekanntes, ohne dass eine sein –, noch werden Vergleiche mit der Rechtsprechung in anderen und den »Grünen« gab es eine Serie von nationalen Unabhängig- Kriegsverbrechen vor Gericht. Die Kriegs- Zuspitzung auf die – von Arieh J. Kochavi, Priscilla Dale Jones und Besatzungszonen angestellt. Auch über die Angeklagten in den keitskriegen von baltischer, polnischer und ukrainischer Seite und verbrecherprozesse vor Militärgerichten in Donald Bloxham intensiv erforschte – britische Haltung gegenüber einzelnen Verfahren – darunter eine Reihe hoher SS-Führer und zahlreiche regionale Konfl ikte im Norden, Süden und Osten des der britischen Besatzungszone unter dem Ro- der Kriegsverbrecherproblematik erfolgt. Unverständlich ist zudem, Angehörige ausländischer Hilfstruppen – erfährt der Leser nichts. Reiches. Herbeck arbeitet vor allem die Bedeutung der Propagand- yal Warrant vom 18. Juni 1945 (1945–1949) warum die Verfasserin die Bedeutung der Law Reports der United Dieser Tunnelblick ist bedauerlich, wird doch gerade die Frage nach aabteilungen der Weißen heraus, die in ihrem Bemühen um die Mo- Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, Nations War Crimes Commission (UNWCC) ausdrücklich hervor- der Einbeziehung bzw. Nichteinbeziehung ausländischer Kollabo- bilisierung der Bevölkerung gegen die Bolschewisten auf den An- 2009, XII, 342 S., € 85,– hebt, diese jedoch nicht in Bezug zu den späteren britischen Mili- rateure in die NS-Strafverfolgung unter dem Eindruck des Münch- tisemitismus und das Feindbild des »Judäobolschewismus« setzten tärgerichtsverfahren setzt. ner Demjanjuk-Prozesses derzeit in der Öffentlichkeit stark de- und an Kontinuitäten des spätzaristischen Antisemitismus anknüp- Obwohl die nach 1945 geführten Prozesse In Kapitel vier und fünf macht Hassel den Leser dann mit den battiert. Zusammengefasst lässt sich daher sagen, dass die Studie fen konnten. Darüber hinaus führte die prekäre Lage der russischen wegen nationalsozialistischer Massenver- normativen und institutionellen Rahmenbedingungen des Kriegs- einen eher zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Ihre Stärke liegt zwei- Juden während der nationalistisch aufgeladenen Unabhängigkeits- brechen seit mehreren Jahren intensiv und mit stetig wachsendem verbrecherprogramms in der britischen Besatzungszone Deutsch- fellos in der akribischen Aktenrecherche und der peniblen Erfas- kriege in den westlichen Teilen des Reiches – vor allem in der Uk- Interesse erforscht werden, kommt die empirische Auswertung der lands vertraut. Im Vergleich zu den nationalen Programmen der sung des überlieferten Materials. Nur bedingt kann sie jedoch als raine – zu großen Opfern. Das Feindbild des »jüdischen Bolsche- zahlreichen Verfahren nur langsam voran. Neueren Schätzungen zu- westalliierten Verbündeten zeichneten sich die britischen Straf- Beitrag zu laufenden Forschungsdiskussionen bewertet werden. wisten« war in den verschiedensten Zusammenhängen einsetzbar folge wurden nach Kriegsende allein in Europa rund 330.000 Deut- verfolgungsaktivitäten durch einige Gemeinsamkeiten und Beson- Warum das britische Royal Warrant-Programm das »umstrittenste und wurde schließlich zum »Exportgut nach Mittel- und Westeu- sche und Österreicher mit Ermittlungsverfahren und Anklagen kon- derheiten aus. Ebenso wie die Amerikaner und Franzosen schufen Vorhaben alliierter Besatzungspolitik« war,3 darüber gibt auch ropa« (S. 438). Die chronologisch und territorial gegliederten Ab- frontiert; mindestens 96.798 von ihnen wurden wegen vor 1945 auch die Briten für die Strafverfolgung nach dem Kontrollratsgesetz Hassels Buch keinen Aufschluss. schnitte der ersten drei Kapitel basieren in erster Linie auf Publi- verübter Verbrechen verurteilt – darunter eine nicht unerhebliche Nr. 10 (KRG 10) und dem nationalen Royal Warrant vom 18. Juni kationen in russischer, englischer und deutscher Sprache, wobei Zahl zum Tode.1 Vor diesem Hintergrund ist jede Studie zu begrüßen, 1945 separate Strukturen: Während sogenannte Military Govern- Annette Weinke insbesondere die Auswertung der russischsprachigen Literatur bis die sich dem durchaus mühsamen Geschäft widmet, die mehr oder ment Courts bzw. seit Januar 1947 Control Commission Courts für Jena Ende der 1920er Jahre bemerkenswert erscheint. weniger abstrakten Justizstatistiken durch direkte Arbeit mit dem die Rechtsprechung nach KRG 10 und damit für die Aburteilung von Das letzte große Kapitel befasst sich mit dem Anteil der Bol- Quellenmaterial zu konkretisieren. Katrin Hassels Untersuchung Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und allge- schewiken an den Pogromen und ihrem Versuch, anti-antisemitische zu den Royal Warrant-Prozessen in der britischen Besatzungszone meine »Zonenkriminalität« verantwortlich waren, sollten sich die Politik durchzusetzen. Hier spielen eigene Archivstudien in Mos- Deutschlands betritt in dieser Hinsicht insofern historiografi sches unter dem Royal Warrant geschaffenen Military Courts auf klas- kauer Beständen des Jüdischen Kommissariats, des Jüdischen Ge- Neuland, als sie für ihre an der Universität Hannover eingereichte sische Kriegsverbrechen konzentrieren. Eine Besonderheit die- sellschaftlichen Komitees und der Evsekcija eine größere Rolle. rechtswissenschaftliche Dissertation die Masse britischer Verfah- ser Verfahren, so Hassel, habe darin bestanden, dass die unter Eid Herbeck arbeitet zwei Schwerpunkte heraus: zum einen die Pro- rensakten – diese befi nden sich überwiegend in den Beständen des stehenden Angeklagten in eigener Sache hätten aussagen dürfen blematik des Antisemitismus in den eigenen Reihen, die sehr rasch früheren Public Record Offi ce in Kew (heute: The National Archi- (S. 142). Anhand ihrer statistischen Analysen kann Hassel nachwei- bekämpft und zugleich tabuisiert werden sollte. Und zum anderen ves), teils auch im Koblenzer Bundesarchiv – systematisch gesich- sen, dass in der Zeit vom 17. September 1945 bis zum 19. Dezem- das Dilemma, den von nichtbolschewistischen Gruppen begangenen tet und mithilfe quantifi zierender Methoden ausgewertet hat. ber 1949 insgesamt 329 Royal Warrant-Verfahren gegen 964 An- Pogromen entgegenzutreten, ohne die wirkungsmächtigen Zuschrei- Hassel hat ihre Arbeit in fünf Hauptabschnitte unterteilt. Im er- geklagte geführt wurden. Während ein Viertel der Urteile mit Frei- bungen zu bestätigen. sten Kapitel schildert sie die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts sprüchen endete, seien die Hälfte aller Angeklagten zu überwiegend Diese Studie stellt einen Meilenstein in dem längst überfälligen und humanitären Völkerstrafrechts seit Ausgang des 19. Jahrhun- milden Freiheitsstrafen verurteilt worden. In etwa einem Fünftel al- Streben dar, sich empirisch abgesicherten Antworten auf die oben derts. Das zweite Kapitel zeichnet die wichtigsten Etappen auf dem ler Urteilssprüche ergingen Todesstrafen. skizzierten Fragen nach der Entstehung und Verbreitung des »Ju- Weg zum Londoner Statut vom August 1945 und der nachfolgenden Als das Ergebnis von Hassels Studie ist somit festzuhalten, dass däobolschewismus« zu nähern. Ulrich Herbeck ist es gelungen, in Errichtung eines Internationalen Militärgerichts nach. Bereits in die- sie die von Jones vorgelegten Zahlenangaben teils ergänzen, teils dieser komplexen Gemengelage sowohl wesentliche Kontinuitäten sen beiden Anfangskapiteln werden gravierende konzeptionelle und auch nach unten korrigieren kann. So war jene 1998 noch von ei- als auch spezifi sche Veränderungen im russischen Antisemitismus inhaltliche Schwächen des Buches sichtbar. So wird weder nach- ner Gesamtzahl von 357 Verfahren gegen mehr als 1.000 Angeklag- herauszuarbeiten. Seine Forschungen, Ergebnisse und Thesen bieten te ausgegangen.2 Dies ist immerhin ein Erkenntnisgewinn. Er kann für die weitere Forschung zahlreiche Anknüpfungspunkte.

Christoph Dieckmann 1 Zahlen nach Norbert Frei, »Nach der Tat. Die Ahndung deutscher Kriegs- und NS-Verbrechen in Europa – eine Bilanz«, in: ders. (Hrsg.), Transnationale Ver- 2 Priscilla Dale Jones, »Nazi Atrocities Against Allied Airmen: Stalag Luft III and 3 Donald Bloxham, »Pragmatismus als Programm. Die Ahndung deutscher Kriegs- Keele/Frankfurt am Main gangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa the End of British War Crimes Trials«, in: The Historical Journal 41 (1998), verbrechen durch Großbritannien«, in: Frei, Transnationale Vergangenheitspoli- nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 7–36, hier S. 30–34. S. 543–565. tik, S. 157.

54 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 55 Doppelte Devianz einen Seite der männliche Kriegsverbrecher als erwartbarer »Nor- Vom (Über-)Leben im Extremen Unterschiede in Aufbau und Organisation, funktionaler Ausrich- malfall«, auf der anderen Seite die weibliche Angeklagte als Ex- tung oder den Existenzbedingungen, jeweilig innerhalb als auch zwi- zesstäterin, die nicht nur als übermäßig grausam, dabei aber rätsel- schen den nationalsozialistischen und sowjetischen Lagersystemen, haft und nachgerade systemfremd eingestuft worden sei, sondern spielen daher kaum eine Rolle. Das Todeslager steht schlicht als Syn- Anette Kretzer obendrein Erwartungen idealisierter Weiblichkeit in eklatanter Terrence Des Pres onym für alle jene totalitären Einrichtungen in ihrer radikalsten Aus- NS-Täterschaft und Geschlecht. Weise verletzt habe. Eine derartige doppelte Devianz habe Raum Der Überlebende – Anatomie der prägung, »die zu überstehen man kaum eine Chance hatte« (S. 130). Der erste britische Ravensbrück-Prozess geboten für alle möglichen »Naturalisierungs-, Mystifi zierungs-, Todeslager Dem (Über-)Leben im Extremen angesichts des kontinuierlichen Aus- 1946/47 in Hamburg Dämonisierungs- und Skandalisierungsweisen« (S. 345), sodass Mit einem Nachwort von Arno Gruen. nahmezustands, systematischen Terrors und stetig präsenten Vernich- Berlin: Metropol-Verlag, 2009, 478 S., schließlich – zum Beispiel durch die Berichte von Überlebenden des Aus dem Englischen von Monika Schiffer. tungsdrucks, kurz, dem »Leben im Tod«, so eine Kapitelüberschrift, € 24,– Lagerterrors oder die mediale Prozessberichterstattung, die die Stuttgart: Klett-Cotta, 2008, 248 S., € 22,90 gilt sein Hauptinteresse. Der Terminus »Todeslager« bezieht sich folg- Autorin auszugsweise analysiert – aus einem Verbrechens- ein Weib- lich nicht auf die Zentren der sofortigen industriellen Vernichtung Anderthalb Jahre nach der Befreiung des lichkeitsdiskurs geworden sei. vom Typ Treblinka, jedoch auf die multifunktionalen Konzentrati- Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück Kretzers Studie hingegen zielt darauf ab, die im ersten Ravens- Mit mehr als dreißigjähriger Verspätung onslager- und Vernichtungslagerkomplexe wie Auschwitz oder Maj- begann am 5. Dezember 1946 im Hamburger Curio-Haus der er- brück-Prozess angeklagten Frauen als »tätige und haftbare Subjekte liegt seit 2008 nun endlich Der Über- danek. Trotz dieser unscharfen Begriffl ichkeit und generalisierenden ste und längste Prozess einer Reihe von sechs britischen Militärge- innerhalb kollektiver Verbrechen« sichtbar zu machen, und zwar lebende – Anatomie der Todeslager von Terrence Des Pres in Perspektive sind jedoch politisch motivierte Lesarten des Buches, die richtsverfahren gegen Angehörige des Kommandantur-Personals »fern von Stereotypisierungen weiblicher Devianz und idealisier- deutscher Übersetzung vor. Das 1976 veröffentlichte Buch avan- es als Steilvorlage zur Gleichsetzung von NS-Vernichtungslagern und und der Wachmannschaften sowie gegen ehemalige Funktionshäft- ter Feminität« (S. 17). Die Akribie, mit der die Autorin dazu Ermitt- cierte unmittelbar zu einem viel diskutierten Standardwerk der SU-(Vernichtungs-)Lagern3 verwenden, nicht nur falsch, sondern wer- linge dieses Lagers. Unter den 16 Angeklagten des »Ravensbrück lungsunterlagen und Verfahrensprotokolle diskursanalytisch gegen amerikanischen Holocaust-Studies.1 Auch in der noch jun- den ebenso den Intentionen des Autors nicht gerecht. Main Trial« befanden sich sieben Frauen; fünf von ihnen wurden den Strich bürstet und sich hierbei eines breiten Methodenspek- gen deutschen historiografi schen KZ-Forschung, die obendrein Obwohl perspektivisch nicht Hauptgegenstand, liegt gerade die zum Tode verurteilt. trums aus Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaft sowie fe- erstmals 1978 durch Falk Pingels für viele Jahre wegweisende Stärke des Buches in der Darstellung der Herrschafts- und Unterdrü- Die leitende Fragestellung von Anette Kretzers interdisziplinär ministischer kritischer Kriminologie bedient, ist beeindruckend. Sie Studie Häftlinge unter SS-Herrschaft die Innenansichten der ckungsmechanismen der Lager und ihrer entsetzlichen Auswirkungen angelegter und klar strukturierter Studie über diesen Prozess lautet, leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Schließung der erstaun- Häftlingsgesellschaft in den Mittelpunkt der Analysen rückte, auf die Häftlinge. In den emphatischen, dichten Situationsbeschrei- welche Funktion und Wirkung die Kategorie Geschlecht (genauer lichen Forschungslücke im Bereich der frühen Nachkriegsprozesse, wurde Der Überlebende entgegen gängiger Ansichten sofort, bungen des Unbeschreibbaren wird dem Leser nichts erspart, wie gesagt: Weiblichkeit) bei der Kriminalitätsdefi nition sowie der Tä- die historiografi sch nach wie vor im Schlagschatten des Internatio- wenngleich kritisch rezipiert.2 zum Beispiel in dem bestürzenden Kapitel »Excremental Assault« – terschaftsrekonstruktion hatte und wie sich dies auf die Repräsen- nalen Militärtribunals von Nürnberg stehen. Gleichzeitig verdeut- Des Pres (1940–1987), von Hause aus Literaturwissenschaftler, aus welchem abgeschwächt in der deutschen Überschrift »Vernich- tation von NS-Täterinnen von der Nachkriegszeit bis in die Gegen- licht ihre Arbeit die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen zu die- wertet in seinem Buch publizierte Textzeugnisse ehemaliger Häftlin- tung der Seele« wurde. Hier schildert der Autor die systematischen wart hinein auswirken sollte. sem Themenkomplex; denn dass der Kategorie »Weiblichkeit« bei ge der nationalsozialistischen Konzentrations- bzw. Vernichtungsla- Angriffe »einer Macht, die absolut wird« (S. 70) auf die »Territo- Im Anschluss an eine gut informierte rechtshistorische Einord- einem Prozess zu Verbrechen in einem Frauen-Konzentrationslager ger, Ghettos, aber auch des sowjetischen Lagersystems aus, zentriert rien des Selbst« (Erving Goffman), mit dem Ziel der Erniedrigung, nung des Ravensbrück Main Trial legt die Autorin dar, wie die de- (mit überwiegend weiblichen Opfern und einem erheblichen Anteil um das Thema des Überlebens »als eine Fähigkeit von Menschen, Entwürdigung, geistigen und schließlich körperlichen Auslöschung. fi nitorische Unschärfe von »War Crimes« (als des den britischen an weiblichen Angeklagten) ein besonderer Stellenwert zukommen dem unvorstellbaren Druck der dauerhaften Notsituation standzu- Es ist zu betonen, dass Des Pres mit dem »Bild des Überleben- NS-Prozessen zugrunde liegenden Straftatbestands) geschlechtsspe- würde, ist nicht wirklich überraschend. Ein Blick auf die Vorberei- halten, die schlimmsten körperlichen und seelischen Schmerzen zu den« ein idealtypisches Symbol derer konstruiert, die »versuchten, zifi sche Effekte nach sich ziehen konnte. Voraussetzung dafür war tung, Durchführung und Wirkung etwa des ersten Bergen-Belsen- ertragen und dennoch weiterzumachen, zu leben, geistig gesund Geist und Leben zu erhalten – nicht nur diejenigen, die zurück- der Umstand, dass die Ermittlungsarbeit der Militärjuristen um die Prozesses im Herbst 1945 offenbart signifi kante Unterschiede zum und menschlich zu bleiben« (S. 7). Etwaige Leseerwartungen, dem kehrten […]« (S. 10). Folglich ist seine Methode selektiv und in- Kategorie des »staff« kreiste: Der Nachweis der Zugehörigkeit zum Ravensbrück-Verfahren, zumindest was Kretzers Befund einer verkürzten Untertitel der deutschen Übersetzung geschuldet, einer strumentell, quellenkritische Betrachtungen sind ihm fremd. Er ver- Lagerpersonal, das die Verbrechen von Ravensbrück in einer »kon- geschlechtsspezifi schen Konstruktion von Täterschaft betrifft. Ob strukturellen Analyse der »totalen Institutionen« (Erving Goffman) traut auf die »Autorität« der Zeugnisse, deren Gültigkeit er in der zertierten Aktion« gemeinschaftlich verübt haben sollte, hätte dem- beziehungsweise inwiefern sich also ihre Thesen verallgemeinern KZ/Vernichtungslager oder Gulag werden nur teils erfüllt. Es geht Häufi gkeit von gleichen Aussagen bestätigt sieht (S. 9 f.). Das ide- nach für einen Schuldspruch ausgereicht; die Höhe des Strafmaßes lassen, ließe sich daher wohl nur durch einen breiter angelegten Des Pres in erster Linie um eine dichte Beschreibung der »Ana- alisierte Konstrukt des Überlebenden steht für einen »moralischen für die in Hamburg angeklagten »hauptverantwortlichen Kriegsver- Vergleich der Ahndungspraxis alliierter und deutscher Strafverfol- tomy of Life in the Death Camps«, so der Originaluntertitel, ge- Archetypus […], dem eine besondere Aufgabe zukommt« (S. 60). brecher« wiederum sollte sich an der Stellung innerhalb der Perso- gungsbehörden sowie eine umfassendere, die internationale Ebene nauer: »Ich möchte in diesem Buch den Kampf des Überlebenden Überlebenden-Symptome wie Schuldgefühle, psychische Beschä- nalhierarchie bzw. dem individuellen Beteiligungsgrad orientieren. einschließende Rezeptionsanalyse befriedigend klären. beschreiben und verdeutlichen, worin seine besondere Menschlich- digungen und Traumata oder der Verlust des Grundvertrauens in An diesem Punkt konstatiert Kretzer geschlechtsstereotype Vorde- keit besteht« (S. 13). die Menschheit werden heruntergespielt oder nicht thematisiert, da- fi nitionen hinsichtlich des abzuurteilenden Kollektivs: Während die John Cramer gegen wird die Überlebenden-Figur apotheotisch überhöht: Er ist männlichen Angeklagten aufgrund ihrer militärischen Karriere und Lüneburg »Beweis für ein moralisches Selbst, das in die Abgründe der Un- formalen SS-Mitgliedschaft eindeutig als »senior members« hät- 1 Vgl. Lawrence L. Langer, Versions of Survival. and the Human menschlichkeit gezwungen wurde und dennoch in der Lage war, sich ten eingestuft werden können, sei die Zugehörigkeit der angeklag- Spirit, New York 1982, S. 53–65. ten Frauen grundsätzlich »uneindeutig« geblieben, sodass bei ih- 2 Vgl. Falk Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung nen das Ausmaß ihrer Beteiligung – als »more active members« und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978, S. 11, S. 229; ders., »The Destruction of Human Identity in Concentration Camps: The Contribution 3 Vgl. Ulrich Schacht, »Vom Leben im Tod. Zu Terrence Des Pres’ Studie über – im Fokus der Ermittler gestanden habe. Vor Gericht sei es daher of the Social Science to an Analysis of Behavior under Extreme Conditions«, in: die Vernichtungslager des 20. Jahrhunderts«, in: Merkur, Jg. 63 (2009), H. 717, zur Konstruktion von zwei Täterschaftstypen gekommen: auf der Holocaust and Genocide, Jg. 6 (1991) H. 2, S. 171. S. 154–158.

56 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 57 wieder zu erheben. Die Zeugnisse der Überlebenden zeigen, dass ein rors« (Wolfgang Sofsky) kontextualisiert. Die Binnenstrukturen »Die vierte polnische Teilung« menschliches Heldentum möglich ist« (S. 61). Hier nimmt Des Pres und sozialen Verhältnisse der Häftlingsgesellschaft eines Konzen- Studienreisen in die die Betrachtungsweise Tzvetan Todorovs über den Fortbestand der trations- und Vernichtungslagers waren weitaus komplexer und kon- interessantere Hälfte Europas Moralität im Angesicht des Äußersten vorweg.4 Dialektisch gewen- fl iktreicher, als uns Des Pres nahelegt. Beispielsweise thematisiert Geschichte, Politik, Literatur, Jüdisches Leben det impliziert es natürlich gleichsam, dass es Häftlinge gab, die in er nicht die von der SS festgelegte externe Stratifi zierung der Häft- Jacek Andrzej Młynarczyk (Hrsg.) Konfrontation mit der Extremsituation der Lager eben nicht »geistig lingsgesellschaft, ideologisch nach völkisch-rassistischen und euge- Polen unter deutscher und sowjetischer Armenien • Georgien • Rumänien • Sofia gesund und menschlich« (S. 7) blieben, ohne dass dies jedoch pro- nischen Kriterien bestimmt, durch welche eine starre Sozialstruktur Besatzung 1939–1945 Chiúinău • Lemberg • Czernowitz • Kiew • Odessa • Krim blematisiert wird. Analytische Differenziertheit oder Tiefenschärfe der Ungleichheit formiert wurde. Diese Rangordnung verteilte Gü- Osnabrück: Fibre Verlag, 2009, 544 S., Galizien-Transkarpatien • Podolien-Wolhynien • Minsk Moskau • Königsberg-Kurische Nehrung • St. Petersburg sind beim Lesen hier ebenfalls nicht zu erwarten. ter, Privilegien, Macht, Prestige, Art der Häftlingsarbeit oder Dauer € 35,– Riga • Tallinn-Tartu • Wilna-Kurische Nehrung Am Ende seiner Argumentationskette stellt das moralisch in- des befristeten Überlebens. Je niedriger die soziale Position der Häft- Krakau • Danzig • Lublin-ZamoĞü • Ljubljana tegre Verhalten der Häftlinge ein »Ecce Homo Spiegel« (Eugen lingskategorien, desto höher war der direkte und indirekte Vernich- Sarajevo-Mostar • Belgrad-Novi Sad • Israel Kogon) für die »Normalwelt« dar – meines Erachtens in jeglicher tungsdruck, insofern das Existenzrecht überhaupt zugestanden wurde. Im Schatten des 20. Jahrestags des Mauer- New York - Osteuropäisch, Jüdisch, Literarisch

Ausrichtung unangebracht –, als Vermächtnis der unzerstörbaren Solche Faktoren liegen nicht im Blickfeld von Des Pres. Dagegen falls machten eine Reihe von Publikationen Menschlichkeit, was Des Pres gleichsam als politisches Plädoyer in schildert er die Möglichkeiten und Grenzen des Überlebens im Ex- und Fernsehdokumentationen auf einen weiteren Jahrestag aufmerk- Anbetracht der Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts von Worku- tremen in erster Linie anhand der Taten bzw. Nichttaten der Häft- sam: Anfang September 2009 jährte sich der deutsche Überfall auf ta, Auschwitz über Hiroshima bis Indochina verstanden wissen will. linge; was ein Grund war, warum es zu einer heftig und polemisch Polen zum siebzigsten Mal. Eng verbunden damit gab es ein wei- In seinen prophetischen Worten: »Seine Seele lebt in seinem Fleisch, geführten Kontroverse zwischen dem Autor und Bruno Bettelheim teres Ereignis, das hierzulande immer noch weitgehend unbekannt und sein Körper sagt uns, dass der menschliche Geist so tief sin- kam.5 Und, entscheidend, er sieht begründet, dass sich die Häft- ist, in Polen in der öffentlichen Erinnerung aber einen hohen Stel- ken, so viele Qualen ertragen und so viel Beschmutzung und Angst linge im existenziellen Zurückgeworfensein auf das »Leben an sich« lenwert hat, zumal eine offene Diskussion und Forschung hierüber Katalog kostenlos von und unaussprechliche Not erdulden kann – trotzdem noch lebt. […] (S. 214) in den Lagern, gerade »auf typisch menschliche Weise selbst bis 1989/90 nicht möglich war. Mitte September 1939 marschierte Ex Oriente Lux Reisen wir wären dumm, die Botschaft des Überlebenden zu ignorieren« erhalten« (S. 216) und den »Rückzug in die Gemeinschaft« (S. 223) die sowjetische Armee in Ostpolen ein. Dies war eine direkte Folge Neue Grünstr. 38, 10179 Berlin Tel 030-62 90 82 05 (S. 235). Das Buch endet mit dem Gebot Verzweifl e nicht!, stellver- vollziehen, in den »biosozialen Wurzeln« (S. 226) des menschlichen des bekannten Hitler-Stalin-Paktes. Mit diesen beiden historischen Fax 030-62 90 82 09 tretend von einem Häftling offenbart – leider wie so oft im Text oh- Daseins. Das Basistheorem seiner Argumentationen läuft auf einen Ereignissen kam es zur vierten Teilung Polens, das fortan während www.eol-reisen.de [email protected] ne Quellennachweis: »Ich hab euch [Neuankömmlinge; S.L.] nicht kruden »biologischen Imperativ« (S. 226) hinaus: »Überlebende ver- des gesamten Krieges unter Fremdherrschaft litt. Foto: Tallinn. von unseren Erfahrungen erzählt, um euch aufzuwühlen, sondern halten sich so, als wären sie auf das Extreme vorbereitet, als gäbe es Der von Jacek Andrzej Młynarczyk, früher Mitarbeiter am um euch zu stärken […] Jetzt müsst ihr entscheiden, ob es gerecht- ein tieferes Wissen, das dem Lernen und der kulturellen Anpassung Deutschen Historischen Institut in Warschau (DHI), jetzt am neu fertigt ist zu verzweifeln« (S. 235). vorausgeht wie ein Substrat lebenswichtiger Informationen, die bi- entstehenden Museum für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs Christlich-jüdischer Dialog Nach diesen Anmerkungen ist es evident, dass Des Pres in dem ologisch festgelegt sind und biologisch wirken« (S. 215). in Danzig, herausgegebene Sammelband widmet sich beiden Besat- Medien - Materialien - Informationen Überlebenskampf der Häftlinge die Dominanz von wechselseitigen Resümierend ist dennoch festzuhalten, dass Der Überlebende zungsregimen, dem keine zwei Jahre währenden sowjetischen und ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis solidarischen Verhaltensweisen hervorstellt. Diese seien in erster Li- als ein frühes Wissenschaftsdokument eines Nichtaugenzeugen be- dem über fünf Jahre dauernden deutschen. Das Buch geht auf eine für das christlich-jüdische Gespräch www.ImDialog.org nie bestimmt gewesen »von Formen der sozialen Verbindung und sticht, der sich in den Dienst der Opfer stellt und sprachgewaltig und Anfang 2005 vom DHI gemeinsam mit dem Institut des Nationalen in Hessen und Nassau des Austauschs, von gemeinsamem Widerstand, von der Aufrecht- mit großer Empathie ihr Leiden, Widerstehen und ihre Lebensfähig- Gedenkens in Posen veranstaltete Konferenz zurück, deren Beiträge erhaltung eines Moralempfi ndens und einer gelebten menschlichen keit aufzeigt. Auf jeder Seite spürt der Leser die Eindringlichkeit nun endlich gedruckt vorliegen. Allerdings haben nicht alle Konfe- BlickPunkt.e Würde« (S. 9). Die Sozialität des KZ oder Gulag ist für den Au- seines Anliegens, aber auch die Schwere dieser Aufgabe. Obwohl renzbeiträge Eingang in den Band gefunden, manche wurden durch MATERIALIEN ZU CHRISTENTUM, JUDENTUM, ISRAEL UND NAHOST tor die Gemeinschaft. Somit fi ndet er in den Quellen durchgängig seine positivierende und undifferenzierte Ausrichtung teils ebenso neue ersetzt. Wer die Konferenz erlebt hat, weiß, dass dies unum- Hinweise, »dass es unter den Gefangenen ein Netzwerk des Fürei- irritiert wie seine Erklärungsversuche und theoretischen Grundie- gänglich war. Dadurch aber ist die Ausrichtung aus dem Gleichge- Gottesdienst in Israels Gegenwart nander-Einstehens und der gegenseitigen Unterstützung gab. Ohne rungen, bleibt das Buch von Des Pres aus historiografi scher Per- wicht geraten: Wurden in Posen noch alle Themenblöcke – wirt- MATERIALHEFTE ZUR GOTTESDIENSTGESTALTUNG ein Minimum an Fürsorge, ein zumindest ansatzweise vorhandenes spektive von großem Interesse, wenngleich weniger aus aktuell wis- schaftliche Ausbeutung, Verfolgungspolitik, Bevölkerungspolitik, Systems des Gebens und Nehmens ist eine Existenz im Extremen senschaftlichem. Widerstand, Reaktionen der Bevölkerung und Kollaboration – sys- Schriftenreihe undenkbar« (S. 46). tematisch bzw. schematisch für die einzelnen besetzten Gebiete Po- THEMEN ZU THEOLOGIE, GESCHICHTE UND POLITIK Die strukturell erwachsende Grauzone der indirekten Kollabo- Stefan Lochner lens (eingegliederte Gebiete, Generalgouvernement, Ostpolen un- ration der Funktionshäftlinge, die Problematik des Opfertauschs, das Weimar ter sowjetischer und unter deutscher Herrschaft) behandelt, fehlen Ausstellungen zu verleihen »Organisieren« oder die Rolle des politischen Widerstands wird al- manche Bereiche für bestimmte Besatzungsherrschaften nun völlig. JÜDISCHE FESTE UND RITEN • ANTIJUDAISMUS • lein unter seinem Narrativ einseitig und unkritisch interpretiert und Das ist umso bedauerlicher, als von den Kürzungen vor allem die HOLOCAUST UND RASSISMUS • DIE BIBEL vor allem nicht in der Ganzheit der spezifi schen »Ordnung des Ter- Behandlung der sowjetischen Besatzungspolitik betroffen ist. Über 5 Vgl. Herbert Hirsch, Genocide and the Politics of Memory. Studying Death to Kollaboration und Bevölkerungspolitik im sowjetisch beherrschten ImDialog • Robert-Schneider-Str. 13a • 64289 Darmstadt Preserve Life, London 1995, S. 56–70; Bruno Bettelheim, Erziehung zum Überle- Teil Polens zum Beispiel erfährt man leider kaum etwas. ben. Zur Psychologie der Extremsituation (1979), 5. Aufl ., München 1992, S. Tel. 06151- 423900 • Fax 06151 - 424111 4 Vgl. Tzvetan Todorov, Facing the Extreme. Moral Life in the Concentration 108, S. 297 ff.; Terrence Des Pres, »The Bettelheim Problem«, in: Social Re- Die Etablierung der sowjetischen Herrschaft in den ostpolni- Email [email protected] • Internet www.imdialog.org Camps (1991), New York 1996. search, Jg. 46 (1979), H. 4, S. 619–647. schen Gebieten war bislang kaum in deutscher Sprache nachzule-

58 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 59 sen.1 Lediglich die Ermordung Tausender polnischer Offi ziere in mit der Kollaboration auch ein bislang weitgehend vernachlässig- 800 Seiten starken Buch – und liest sich zur eigenen Verblüffung Darüber hinaus ist das Buch von einem immensen Material- Katyń erlangte eine gewisse Bekanntheit, zuletzt durch Andrzej tes Forschungsfeld deutscher Besatzungspolitik in Polen einbezo- an den verschiedensten Stellen sehr schnell so fest, dass es schwer- reichtum. Der Autor erschließt viele bislang unbekannte Quellen Wajdas fi lmischer Bearbeitung.2 Umso begrüßenswerter ist es, dass gen wird – ein Beitrag zur Kollaboration im sowjetischen Herr- fällt, die Lektüre abzubrechen, nicht zuletzt deswegen, weil der Au- und stellt bekannte oft genug in einen neuen Zusammenhang, so- nun Aufsätze zu einigen wenigen Aspekten vorliegen. Schrittwei- schaftsgebiet aber fehlt leider. tor einer Frage nachgeht, die seit dem Start der Wehrmachtsausstel- dass es zu einem Muss wird für denjenigen, der sich in Zukunft zum se wurden, das zeigt Albin Głowacki (Łódź) in einem instruktiven Während der Band bezogen auf die nationalsozialistische Be- lung vor fast 15 Jahren die deutsche Öffentlichkeit polarisiert hat Beispiel über das Kriegsgefangenenwesen im Reich oder in den be- allgemeinen Überblick über die generellen Richtlinien der sowjeti- satzungspolitik in Polen in erster Linie eine Forschungsbilanz bie- wie kaum eine zweite, der Frage, ob allein die bloße Zugehörigkeit setzten Gebieten informieren will. Das wird umso leichter fallen, als schen Okkupationspolitik, die ostpolnischen Gebiete der Sowjetherr- tet – immerhin gleichermaßen von polnischen und von westlichen zur »verbrecherischen Wehrmacht« gleichzusetzen sei mit einer in- auch der größte Teil der dazu veröffentlichten, teilweise sehr entle- schaft einverleibt und die politischen Strukturen etabliert, die alten Historikern –, offerieren die Beiträge über Aspekte sowjetischer Be- dividuellen Schuld ihrer Soldaten. genen Literatur verarbeitet wird. polnischen Eliten entmachtet und verfolgt. Doch auch andere, poli- satzungsherrschaft hingegen – ausnahmslos aus der Feder polni- Hartmann untersucht am Beispiel von fünf im südlichen Teil der Schließlich gelingt ihm eine Bewertung des Ostkrieges, die in tisch nun nicht mehr konforme Bevölkerungsgruppen gerieten in das scher oder russischer Forscher – dem deutschen Publikum manch Heeresgruppe Mitte eingesetzten Divisionen – einer Elite-Panzerdi- ihrer Sachlichkeit und Ausgewogenheit aus der Masse der Veröf- Visier des sowjetischen Verfolgungsapparats, der seine Infrastruktur Neues, da deutsche Forscher, das zeigte erst kürzlich eine weitere vision, zwei Infanterie-Divisionen sowie zwei Besatzungsverbän- fentlichungen der letzten Jahre weit herausragt. Er nennt Verbrechen rasch auf die neu eroberten Gebiete ausweitete. In mehreren Wellen Konferenz des DHI, dieses Themenfeld weitgehend meiden. Un- den, die das Hinterland sicherten und verwalteten –, wieweit und in und Täter schonungslos beim Namen, um zugleich aber immer wie- deportierten die neuen Machthaber in einem arbeitsteiligen Vorgang ausgesprochene Impulse gehen allenfalls von den Leerstellen aus: welcher Form deren Angehörige, in erster Linie die »ordinary men«, der die Frage aufzuwerfen, ob seine vorangegangene Analyse nicht Hunderttausende Menschen, die sie als »Feinde des Systems« an- Nach immer neuen Spezial- und Regionalstudien scheint es ange- in die Verbrechen an Kriegsgefangenen und Kommissaren, Juden, auch ganz andere Interpretationen und Bewertungen erlaube. Dem sahen, dabei stets um eine legalistische Grundierung des Prozesses raten, Synthesen zu wagen, die die NS-Besatzungsherrschaft über im Partisanenkrieg sowie beim Rückzug im Winter 1941/42 ver- Leser wird kein Urteil vorgegeben, sondern er wird befähigt, es sich durch Verordnungen etc. bemüht. Systematisch setzten sie so einen Polen insgesamt in den Blick nehmen, Vergleiche mit der sowjeti- wickelt waren. Diese Divisionen können, wie er überzeugend selbst zu bilden – Geschichtsschreibung im besten Sinne. meist gewaltsamen Elitenaustausch in Gang, dessen Mittel Mord, schen Praxis oder anderen Regionen anstellen. Manches gewonnen begründet, als ein typischer Ausschnitt aus dem gesamten Ostheer Damit setzt Hartmann wohl den Schlusspunkt unter die langjäh- Deportation, Enteignung, Verhaftungen etc. waren. wäre allerdings schon, wenn in einzelnen Bereichen, etwa der Kul- angesehen werden und seine Ergebnisse daher ein hohes Maß an rige, oft durch Einseitigkeit geprägte und deswegen mit großer Erbit- Die nur gut eineinhalb Jahre, die die Sowjetherrschaft dau- tur- oder der Wirtschaftspolitik, die Perspektiven erweitert würden. Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen. terung geführte Diskussion über die »Verbrechen der Wehrmacht«. erte, genügten nicht, Gesellschaft und Strukturen in allen Berei- In anderen Bereichen allerdings sind erst noch empirische Pionier- Bei einer solchen Problemstellung sollte es keine Ausgangs- Der Mythos von der »sauberen Wehrmacht« müsse nicht mehr chen zu sowjetisieren. In der Wirtschaftspolitik etwa reichte die studien notwendig. these geben, die zu verifi zieren oder falsifi zieren ist und damit die entlarvt werden, so sein Fazit, aber der Soldat des Ostheeres sei des- Zeit nicht aus, die kapitalistischen Strukturen Ostpolens vollstän- Quellen von vornherein in ein bestimmtes Interpretationsschema wegen nicht von vornherein ein Krimineller gewesen, sondern zu- dig zu zerstören und durch die kommunistische, zentral gelenkte Markus Roth presst. Um das Verhalten von Führung, Offi zieren und einfachen meist nur ein kleines Rädchen in dessen Getriebe, das freilich zu- Planwirtschaft zu ersetzen, auch wenn die Umwälzungen in die- Gießen/Marburg Soldaten angemessen einschätzen zu können, muss vielmehr das weilen mit so viel Spielraum, dass der Schritt zu verbrecherischem ser kurzen Zeitspanne recht weit reichten, wie Marek Wierzbicki Umfeld dieser Männer genau ausgelotet werden: die Institutionen, Verhalten unmerklich kommen konnte. So lag die »praktische Um- zu zeigen vermag. denen sie angehörten, nebst deren Strukturen, der soziale Bereich setzung einer militärischen Besatzungspolitik nach den Mustern der Parallel zu Głowackis Beitrag führt Czesław Madajczyk, der von der Herkunft bis hin zu den Auszeichnungen, die sie erhielten, NS-Ideologie ausgerechnet in den Händen jener Soldaten, deren 2008 verstorbene Experte für die NS-Okkupationspolitik in Polen der militärische Rahmen 1941/42 und schließlich der Raum, in dem Alter, politische Sozialisation und Lebenserfahrung vermuten ließen, und darüber hinaus, in die grundlegenden Konstituenten national- »Verbrechen der Wehrmacht« – sich Krieg und Verbrechen abspielten. Nur wenn all diese Fak- dass sie sich mental dafür am wenigsten eigneten«. Wenn es dann sozialistischer Besatzungspolitik ein. Allerdings beschränkt sich eine Antwort toren detailliert bekannt sind, lässt sich nach Ansicht des Autors doch oft genug dazu kam, lag das in erster Linie an den Entschei- Madajczyk weitgehend auf eine Bilanz seiner eigenen Forschun- überhaupt erst die Frage nach Verantwortlichkeit und Schuldaus- dungen eines seelenlosen militärischen Apparates und dem Gehor- gen und bildet zum Teil einen älteren Forschungsstand ab. So wie maß stellen. samsprinzip ebenso wie an der Zufälligkeit des Jahrgangs oder des Madajczyks und Głowackis Einführungen und Überblicke isoliert Im Endergebnis lässt er keinen Zweifel daran, dass viele Solda- Einberufungsbescheides (S. 797 f.). Mit einer solchen Feststellung nebeneinander stehen und keine vergleichenden Überlegungen an- Christian Hartmann ten in Verbrechen verwickelt waren, gleichwohl sei es kaum mög- wird der Autor nicht überall auf Gegenliebe stoßen – der Wert des stellen, so ist es auch bei den übrigen Beiträgen: Ein enger The- Wehrmacht im Ostkrieg. Front und lich, die persönliche Schuld im Sinne einer unmittelbaren, direkten Buches ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass mancher lieb gewor- menbereich wird jeweils nur für ein eng umgrenztes Territorium militärisches Hinterland 1941/42 Haftung für einzelne Ereignisse und Taten durch eine Formel zu er- dene Konsens infrage gestellt wird. bearbeitet. Nicht einmal für die verschiedenen Gebiete nationalso- München: Oldenbourg Verlag, 2009, VIII, fassen. Wie weit der Einzelne aktiv in den Vernichtungskrieg verwi- Eigentlich bleibt nur ein Wunsch offen: Es möge sich jemand zialistischer Besatzungspolitik – die eingegliederten Gebiete, das 928 S., € 59,80 ckelt war, hing eher von externen Faktoren wie Institution, Raum, fi nden, der ein vergleichbares Buch über den Krieg und die deut- Generalgouvernement und Ostpolen – gibt es übergreifende Ana- Zeit und Krieg ab (S. 792). sche Besatzung auf dem Balkan schreibt. lysen. So verlieren sich die Beiträge bisweilen in schon mehrfach Hervorzuheben ist zunächst die sprachliche Darstellung. Hart- in ähnlicher Form dagewesenen Forschungsbilanzen, die zum Teil Noch ein Buch über die Wehrmacht, und mann versteht es, den Leser durch den häufi gen Rückgriff auf die Reinhard Otto nur wenig Neues bieten. Positiv anzumerken ist allerdings, dass schon wieder über den Osten, stöhnt man Quellen den Protagonisten gleichsam an die Seite zu stellen. Selbst Lemgo innerlich, wenn man das Buch von Christian Hartmann in die Hand trocken anmutende Sachverhalte wie die Funktionsweise einer nimmt. Da sollte doch langsam alles gesagt sein, zumal in letzter Division werden durch Zitate aus zum Teil sehr persönlichen Do- Zeit Johannes Hürter sein hervorragendes Buch über Hitlers Genera- kumenten – in einem Besatzungsverband waren zum Beispiel »lau- 1 Bislang vor allem: Jan Gross, Und wehe du hoffst… Die Sowjetisierung Ostpo- lität vorgelegt, Felix Römer die auf der Basis des Kommissarbefehls ter alte Kracher« im Einsatz, allerdings »zum Teil tolle Hechte lens nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939–1941, Freiburg 1988. begangenen Verbrechen minutiös analysiert oder Dieter Pohl die darunter« (S. 92) – sehr anschaulich; immer wieder schaut man in 2 Vgl. zum Beispiel: Gerd Kaiser, Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsge- heimnis, Berlin 2003; Victor Zaslavsky, Klassensäuberung. Das Massaker von Herrschaft der Wehrmacht in der besetzten Sowjetunion beschrie- die Anmerkungen, die, wenn auch etwas zu umfangreich, vielfältig Katyn, Berlin 2007. ben haben. Eher pfl ichtgemäß blättert man daher in dem mehr als die Sicht der Soldaten dokumentieren.

60 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 61 Unbequeme Wahrheiten. Polnische sprachigen Leser mithin eine wahrlich umfangreiche Einsicht in die (S. 208), was für jemanden, der diese Partei identifi zieren möchte, liegenden Sammelwerk gelesen werden, zumal sie auch Kalendari- Antisemitismus-Debatten auf Deutsch Reaktionen, die das Buch von Gross (und der Film von Agnieszka verwirrend ist. Stattdessen unternahm man einige Ausbesserungen en und Informationen zur polnischen Presselandschaft oder auch In- Arnold) in Polen auslösten.1 Auch ein Kalendarium der Debatte fi n- der Art wie »Die Todesstrafe drohte […] für nicht registrierte Kü- terpretationen enthalten. Der Leser des vorliegenden Bandes erfährt det sich im Transodra-Band. Die Herausgeberin Ruth Henning ver- he« anstelle von »[…] für das Nichtregistrieren von Kühen« (S. 210). jedoch nichts (Kowitz) bzw. kaum (Transodra) von deren Existenz. dient Anerkennung, so schnell Übersetzer für dermaßen viele Texte Wie sich die Sache bei den übrigen Beiträgen verhält, habe ich nicht Seit langer Zeit ist desgleichen der berühmte Text von Jan Błoński Barbara Engelking, Helga Hirsch mobilisiert zu haben. Ihr Name wird in dem Suhrkamp-Band eigen- weiter nachgeprüft. Ich befürchte jedoch, dass die Herausgeberinnen im deutschsprachigen Raum präsent.4 Lange Zitate und ausführliche Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein artigerweise nicht erwähnt. In den Drucknachweisen am Ende des recht willkürlich vorgegangen sind. Besprechungen der Jedwabne-Debatte fi nden sich auch in Karol Sau- Verhältnis zu den Juden Buches danken die Herausgeberinnen Engelking und Hirsch den Au- Die im Suhrkamp-Band enthaltenen Beiträge von Andrzej erlands Buch Jedwabne und die Folgen, vertieft um eine Geschich- Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, toren der übernommenen Beiträge beziehungsweise dem Verlag für Kaczyński und Joanna Tokarska-Bakir sind außerdem bisher schon te der polnisch-jüdischen Beziehungen von 1939 bis 1968.5 Es ist 2008, 309 S., € 12,– die Genehmigung zum Abdruck. Man erfährt nicht, warum gerade zweimal auf Deutsch erschienen. Stephanie Kowitz hat sie 2004 in unverständlich, warum auf diese Fakten nicht verwiesen worden ist. diese Texte übernommen wurden und worin die Überarbeitung der den Dokumentationsteil ihres Buches über Jedwabne aufgenommen, abgedruckten Texte bestand. Hielten sie etwa die Übersetzungen für neben einer Reihe von anderen Presseartikeln aus der polnischen De- Monika Tokarzewska korrekturbedürftig? Ich habe den Text von Joanna Tokarska-Bakir batte der 1990er und 1980er Jahre, die wiederum in dem Band von Thorn Der von Barbara Engelking und Helga sowie den von Stanisław Janecki und Jerzy Sławomir Mac im vor- Engelking und Hirsch nicht zu fi nden sind.3 Der Band von Kowitz Hirsch herausgegebene Band Unbequeme liegenden Band mit dem in Transodra verglichen. Im Beitrag von kann also, ähnlich wie die Transodra-Hefte, als Pendant zu dem vor- Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden enthält ins Deut- Tokarska-Bakir konnte ich außer einer Handvoll stilistischer Än- sche übertragene Artikel aus der polnischen Presse, die wichtige Sta- derungen erkennen, dass das Zitat aus Günter Grass erweitert wur- 4 Abgedruckt in: Marek Klecel (Hrsg.), Polen zwischen Ost und West. Polnische Es- says des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 76–93. tionen der publizistischen Debatte über die polnisch-jüdischen Be- de im Vergleich zu der polnischen Fassung (S. 191), dass Thomas 3 Stephanie Kowitz, Jedwabne. Kollektives Gedächtnis und tabuisierte Vergangen- 5 Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die ziehungen während der Shoah und danach dokumentieren. Die Texte Merton, den Tokarska-Bakir nach der polnischen Übersetzung an- heit, Berlin 2004. Folgen, Berlin 2004. stammen aus der Zeit von 1987 bis 2008 (als die polnische Überset- führt, hier direkt aus dem Englischen übersetzt wurde (S. 203) und zung des Buches Fear von Jan Tomasz Gross erschien). Die Arti- dass einige bibliografi sche Hinweise hinzugefügt wurden.2 An ande- kel sind in fünf Kapitel gruppiert, von denen jeder Einblick in eine rer Stelle wurden solche Ergänzungen jedoch unterlassen. So fehlt aus einem anderen Anlass entfl ammte Debatte gewährt. Die Anläs- etwa ein Hinweis auf Anka Grupińskas Ciągle po kole. Rozmowy se waren unterschiedliche. Ende der 1980er Jahre warf Jan Błoński z żołnierzami z getta warszawskiego, hier steht bloß die deutsche – ausgehend von zwei während der Besatzungszeit in Warschau ent- Übersetzung des Titels (S. 193). Wer trotzdem mit der Hoffnung, es standenen Gedichten von Czesław Miłosz – die Frage nach der Hal- handle sich um stilistische Verbesserungen und bibliografi sche Er- tung der Polen ihren jüdischen Mitbürgern gegenüber auf. Darauf gänzungen, an die weiteren Texte herangeht, wird enttäuscht, denn Einsicht folgten 1994 eine kurze, aber sehr heftige Debatte über antisemi- in dem Beitrag von Janecki und Mac wurden keine Hinweise auf die Bulletin des tische Vorfälle in den Reihen polnischer Untergrundkämpfer wäh- im Artikel enthaltenen Zitate aus den Schriften so wichtiger Auto- Fritz Bauer Instituts rend des Warschauer Aufstandes von 1944 und schließlich die Aus- ren wie Emanuel Ringelblum (S. 207), Jan Karski (S. 20) oder Kry- einandersetzungen um die beiden Bücher von Jan Tomasz Gross, styna Kersten (S. 213) angegeben. Man vermisst bei diesen Namen die den in Jedwabne im Juli 1941 und den Antisemitismus auch mindestens kurze Fußnoten mit Angaben zu ihrem Leben, so Hier könnte kurz nach Kriegsende (vor allem Kielce 1946) zum Gegenstand hat- wie es im Falle von Jerzy Stępień, Witold Tomaczak (beides S. 215) ten. Ein weiteres Kapitel versammelt Stimmen zum Streit um das und Jerzy Zawieyski (S. 214) in dem gleichen Beitrag geschehen Ihre Anzeige stehen! Kreuz und das Karmelitinnenkloster in unmittelbarer Nähe der Ge- ist. Sind die Herausgeberinnen davon ausgegangen, dass die Namen denkstätte Auschwitz. Jedem Kapitel ist eine kurze Erklärung der Ringelblum und Karski dem deutschen Leser bereits bekannt genug Anzeigenformate und Preise Herausgeberinnen vorangestellt. sind? Vielleicht ja, denn bei Ringelblum wurde sogar der knappe bi- Umschlagseite U 4 230 x 295 mm + Beschnitt € 950,– Dem Leser wird die Heftigkeit, mit der die polnische Diskussi- ografi sche Hinweis, der sich in der Transodra-Übersetzung befand, Umschlagseite U 2 / U 3 230 x 295 mm + Beschnitt € 850,– on geführt wurde, nicht entgehen. Wenn er allerdings an dem The- samt der Erwähnung des Oneg Schabat-Archivs entfernt. Es fehlt Ganzseitige Anzeige 230 x 295 mm + Beschnitt € 680,– ma interessiert ist und ihm die bereits auf Deutsch erhältlichen the- auch ein Hinweis auf die Nummer der Warschauer Zeitschrift Jide- 1/2-seitige Anzeige vertikal 93 x 217 mm € 380,– matisch verwandten Publikationen vertraut sind, wird er wohl mehr le, aus der am Ende des Artikels von Janecki und Mac zitiert wird 1/2-seitige Anzeige horizontal 192 x 105,5 mm € 380,– neue Akzente und eine Weiterführung oder zumindest einen tieferen (S. 216). Ausgeblendet im Vergleich zu der Erstübersetzung wur- 1/3-seitige Anzeige vertikal 60 x 217 mm € 300,– Einblick in die Thematik erwarten. Der Band enthält 24 Beiträge, de der Originalname für »Partei der Arbeit« [Stronnictwo Pracy] 1/4-seitige Anzeige vertikal 93 x 105,5 mm € 250,– neun davon sind bereits vor etwa einem Jahrzehnt in deutscher Über- zuzügl. gesetzl. MwSt. setzung in einigen Nummern der Zeitschrift Transodra erschienen. Kontakt Besonderes Gewicht hatte das Heft 23/2001, herausgegeben und Manuela Ritzheim eingeleitet von Ruth Henning. Es enthält 53 (!) aus dem Polnischen 1 Die Sondernummer von Transodra ist auch in elektronischer Fassung unter Tel.: 069.798 322-33 http://www.transodra-online.net/de zu fi nden. [email protected] Aufl age: 5.500 Exemplare übersetzte Pressetexte zur Jedwabne-Debatte, die 16 Zeitschriften 2 Das gilt für die Zitate aus Zygmunt Baumann (S. 194), Tadeusz Mazowiecki und Tageszeitungen entnommen sind. Das Heft liefert dem deutsch- (S. 197), Konstanty Jeleński (S. 200), Jan Józef Lipski (S. 197).

62 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 63 Gefälschte Papiere, Flucht und Illegalität holungen führt. Andererseits bietet sie zum Beispiel Schülern die von Rettern oder deren Kindern. Nur wenige Beteiligte haben nach »Sie haben überlebt. Möglichkeit, sich mit einzelnen Fällen zu befassen. In den meisten 1945 über die Rettung ausführlich berichtet. Die meisten Berichte Sie wollen ihre Geschichte erzählen.« Fällen geht es darum, Menschen vor der drohenden Deportation zu wurden im Zusammenhang mit Entschädigungsansprüchen ver- retten. Viele hatten bereits Tage oder Wochen im Gefängnis der Ge- fasst. Aus den vorhandenen Unterlagen wird deutlich, dass die mit Petra Bonavita stapo verbracht, nachdem sie unter ganz unterschiedlichen Vorwän- falschen Papieren oder gefälschten Angaben ins Ausland Gefl o- Mit falschem Pass und Zyankali. Retter den zur Geheimen Staatspolizei bestellt worden waren. Andere fl o- henen oder in Deutschland Untergetauchten immense Schwierig- Klaus Hillenbrand und Gerettete aus Frankfurt am Main in hen bereits vor dem Termin der Vorladung. Dieser Schritt war nicht keiten hatten, ihre Identität wiederherzustellen und ihre Verfolgung Nicht mit uns. Das Leben von Leonie der NS-Zeit einfach und brauchte viel Vorbereitung, Unterstützung und Mut. Die anerkannt zu bekommen. und Walter Frankenstein Stuttgart: Schmetterling-Verlag, 2009, lebensgeschichtlichen Berichte zeigen die Hindernisse und Schwie- Für die Retter und Unterstützer gab es eine Vielfalt von Mo- Mit 25 Fotos. Frankfurt am Main: 189 S., Abb., € 19,80 rigkeiten auf, die eine Flucht ins Ausland oder das Untertauchen in tiven, Juden zu helfen. Sie entsprangen politischen und weltan- Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag die Illegalität aufwarfen: Gefälschte Papiere waren notwendig, eine schaulichen Einstellungen, menschlichem Mitgefühl, freund- 2008, 251 S., € 19,80 Die freischaffende Soziologin und Au- Vielzahl von Unterkünften auf der Reise mussten bereitstehen, Fahr- schaftlichen und verwandtschaftlichen Bindungen oder auch einer torin Petra Bonavita hat in mehrjähriger karten besorgt und ein nicht gradliniger Reiseweg gefunden wer- spontanen Hilfsbereitschaft. Manche Retter wurden von den Be- intensiver und hartnäckiger Recherche ein bisher nur in Ansätzen den. Mit Ummeldungen konnte versucht werden, sich unauffi ndbar drohten um Hilfe gebeten, andere wurden von sich aus aktiv. Dass bekanntes Kapitel der Frankfurter Nazi-Zeit bearbeitet und in sehr zu machen. Untertauchen bedeutete, ohne Lebensmittelkarten aus- sie sich in große Gefahr begaben, war allen Rettern bewusst. Die Ende Februar, Anfang März 1943 in Berlin. ansprechender Weise dargestellt. Der Untertitel »Retter und Geret- kommen zu müssen, in ständiger Angst zu leben und völlig abhän- meisten von ihnen schwiegen nach 1945 über ihre Hilfeleistungen, Es sind die Tage der sogenannten »Fabri- tete aus Frankfurt am Main in der NS-Zeit« hebt das Spannende an gig von Helfern zu sein. Weder Flüchtende noch Helfer durften den oft weil sie spürten, dass es zu viele Deutsche gab, die sich damit kaktion«. Nun sollen auch die verbliebenen, Zwangsarbeit leisten- diesem Buch hervor, nämlich die Zusammenfügung der Motive, kleinsten Fehler machen. Nicht jede Rettung gelang, auch geschei- rühmten, Juden geholfen zu haben. Die Gedenkstätte Yad Vashem den Juden in die Vernichtungslager deportiert werden. 11.000 Men- Handlungen und Netze derjenigen, die Juden und als Juden Verfolgte terte Wege werden von Petra Bonavita beschrieben. Der Titel des in Israel hat inzwischen mehrere Frankfurter als »Gerechte unter schen werden in wenigen Tagen von der Gestapo und Einheiten der geholfen haben mit dem Schicksal der Geretteten. Auf etwa 200 Buches »Mit falschem Pass und Zyankali« weist darauf hin, dass den Völkern« geehrt. Waffen-SS ohne Vorankündigung in den Betrieben und zu Hause Fälle von Frankfurter Geretteten ist die Autorin gestoßen, mehr als manche Flüchtenden daran dachten, unter bestimmten Umständen Dieses Buch schließt eine wichtige Lücke in der Erforschung verhaftet. Der 22-jährigen Leonie Frankenstein, geborene Rosner, 60 hat sie umfangreich recherchiert und für die Veröffentlichung Selbstmord zu begehen. der Verfolgung in Frankfurt am Main in der Zeit des Nationalsozi- gelingt es, durch ihre geistesgegenwärtige Reaktion aus der Depor- ausgewählt. In den meisten Fällen ging es darum, einzelne Menschen oder alismus. Retter wie Gerettete haben nur wenige Spuren hinterlas- tationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße zu fl iehen. Ihr Die Zahl der Geretteten ist gering, sie bleibt auch gering, wenn Familien zu retten. Für den im Juli 1942 aus dem Konzentrations- sen, weil keiner sie befragt hat, obwohl viele von ihnen nach 1945 19-jähriger Mann Walter Frankenstein ist zufällig nicht im Betrieb, noch weitere Schicksale bekannt werden. Bis Ende 1942 sind cir- und Vernichtungslager Majdanek gefl üchteten Robert Eisenstadt in Frankfurt lebten. Auf verschlungenen Wegen hat Petra Bonavita als seine Kollegen verhaftet werden. Beide beschließen spontan, sich ca 30 Personen untergetaucht und gefl ohen, 35 Personen sind 1943 aber leisteten die Retter aus dem »Bockenheimer Netzwerk« ei- noch einige Zeitzeugen oder deren Kinder gefunden, und es ist zu den Deportationen durch Untertauchen zu entziehen: »Wir wollten in die Illegalität gegangen und 1944 und 1945 jeweils weitere 80 ne perfekt organisierte Fluchthilfe in die Schweiz, um der Welt- wünschen, dass sich nach der Veröffentlichung weitere Angehörige nicht gehen wie unsere Freunde. […] Nicht mit uns!« (S. 40). (S. 175). In den Jahren 1943/44 sind mehrere das Wagnis eingegan- öffentlichkeit Berichte aus einem Vernichtungslager zukommen melden und die Forschungsergebnisse erweitern. Dass das Ehepaar Frankenstein in der Illegalität überleben gen, sich als Ausgebombte außerhalb von Frankfurt am Main neue zu lassen. könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Sie haben keinerlei Vorbe- Papiere ausstellen zu lassen und bei Bekannten oder vermittelten Das bedeutendste Netzwerk in Frankfurt am Main zur Ret- Helga Krohn reitungen getroffen: keine falschen Papiere, keine Lebensmittelkar- Familien unterzukommen. In einigen geschilderten Fällen reichte tung von Juden bildeten im Stadtteil Bockenheim der Arzt Dr. Frankfurt am Main ten, kein Versteck, keine Beziehungen – aber das sechs Wochen der lange Arm der Gestapo auch dorthin. Fritz Kahl, die Pfarrer Otto Fricke und Heinz Welke. Sie hatten alte Baby Peter Uri. Und doch haben sie es geschafft. Die außerge- Der zeitgeschichtliche Hintergrund des Buches ist das ver- Kontakte zum »Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutsch- wöhnliche Geschichte ihres Überlebens in NS-Deutschland erzählt schärfte Vorgehen der Gestapo gegen in »rassisch gemischter« Ehe land« in der Schweiz (Karl Barth u. a.) und zu einer Verbindung Klaus Hillenbrand in seinem gelungenen Porträt, das auf Interviews lebende Juden und gegen Christen, die durch die nationalsozialis- württembergischer Pfarrer, die Flüchtende aufnahmen. Unterstützt mit den Frankensteins und Freunden und Bekannten sowie umfang- tischen Rassengesetze zu Juden erklärt wurden, sowie gegen soge- wurden sie in Bockenheim durch einen Fälscher von Dokumenten, reichen Archivrecherchen basiert. nannte »Mischlinge«. Nach dem Abschluss der großen Deportati- einen Kriminalbeamten, der vor Verfolgungsaktionen warnte, meh- Was die Frankensteins, die sich 1941 im Auerbachschen Wai- onen aus Frankfurt im Herbst 1942 konzentrierte sich die Gestapo rere Privatpersonen, die Kurierdienste übernahmen oder die Ver- senhaus in Berlin kennenlernten, gerettet hat, sind Mut, Glück, Gei- auf diese Personengruppen. Heinrich Baab und später Ernst Holland sorgung mit Lebensmitteln organisierten und vor allem auch durch stesgegenwart und die vielfältige Unterstützung von jüdischen und legten dabei einen unvorstellbar fanatischen Eifer an den Tag, be- ihre Familien. Im ersten Kapitel des Buches wird dieses Netzwerk nichtjüdischen Deutschen, die trotz NS-Gesetzen und -Propagan- sonders nach der Einrichtung einer Gestapostelle in der jüdischen vorgestellt, in vielen später geschilderten Fällen tauchen diese Ret- da bereit waren zu helfen. Hillenbrand schildert realistisch, wie Gemeinschaftsunterkunft im Hermesweg. Die meisten der Betrof- ter wieder auf. viele Möglichkeiten es gab, untergetauchte Juden zu unterstützen: fenen hatten sich bis dahin als »geschützt« angesehen, obwohl sie Es liegt an der schwierigen Quellenlage und dem Beginn der durch Übernachtungs- und Wohnmöglichkeiten, Lebensmittel, das durchaus schon Verfolgungen und Nachteile wie Verlust der Ar- Recherche erst 60 Jahre nach dem Ende der Nazi-Zeit, dass viele Überlassen eigener Papiere oder durch Wegschauen im richtigen beitsstelle oder verweigerten Schulbesuch, Annahme eines zusätz- Fragen nicht beantwortet werden können, die sich beim Lesen der Moment. Hillenbrand zeigt ganz normale Menschen, die aus ver- lichen »jüdischen« Vornamens oder sogar das Tragen des »Juden- einzelnen Schicksale stellen. Kaum eine Geschichte ist lückenlos. schiedensten Motiven außergewöhnlich gehandelt haben: Wider- sterns« erleiden mussten. Private Erinnerungen und Aufzeichnungen von Geretteten, Anga- ständler der »Gemeinschaft für Frieden und Aufbau« wie Edith Das Buch folgt einer zeitlichen und einer thematischen Glie- ben in Entschädigungsakten und Akten der Betreuungsstelle für Berlow und Werner Schafft; einfache, vielfach unbekannt geblie- derung, die oft die Orientierung erschwert und zu vielen Wieder- rassisch Verfolgte, Flüchtlingsdossiers der Schweiz und Berichte bene Menschen wie Arthur Ketzer. Prostituierte, andere unterge-

64 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 65 tauchte Juden wie Arthur Katz und Heinrich Grünbaum. Diese mu- In die Lebensgeschichte der Frankensteins eingebettet sind in- Grundschüler zum Holocaust teresse von Jungen an militärischen Aspekten fällt auf und verweist tigen Menschen und das Ehepaar Frankenstein selbst sind für Hil- formative Absätze zu den historischen Hintergründen. Diese bie- auf die notwendige Beachtung geschlechtsspezifi scher Zugänge von lenbrand die Helden seines Buches. ten einen prägnanten Einstieg in grundlegende Themenfelder zum Grundschülern. Deutlich wird, dass die Kinder den Nationalsozialis- Berichtet wird auch von den anderen Deutschen, denjenigen, Verständnis der Zeit, wie zum Beispiel antijüdische Gesetzgebung, mus der realen Welt und nicht der fi ktionalen Medienwelt zuordnen. die denunzieren. Ende August/Anfang September 1943 wird Beate Pogromnacht, Enteignung, Deportation, Konzentrations- und Ver- Alexandra Flügel Die Autorin kann unter bestimmten Bedingungen ein Empa- Kranz, die Mutter von Leonie Frankenstein, von einer Bekannten nichtungslager, Luftkrieg in Berlin, Kriegsende, Displaced Persons, »Kinder können das auch schon mal wis- thievermögen der Kinder mit den Schicksalen einzelner Verfolgter angezeigt, als diese zufällig entdeckt, dass der Zwangsname Sara Zionismus, Aufbau des Staates Israel, Aliya Bet, Israelischer Unab- sen«. Nationalsozialismus und Holocaust feststellen. »Wenn im Unterricht den Verfolgten und Ermordeten in deren Postausweis fehlt. Beate Kranz, die bis dahin durch ihren hängigkeitskrieg. Die gelungene Verbindung von Lebensgeschich- im Spiegel kindlicher Refl exions- und ein Gesicht gegeben wurde, ihr Leben und nicht nur ihr anonymer nichtjüdischen Ehemann geschützt war, wird daraufhin verhaftet te und historischen Fakten macht das Buch für ein breites und auch Kommunikationsprozesse Tod dargestellt wurde, erfolgt in den Darlegungen der Kinder eine und wegen »Tarnung ihrer Rassezugehörigkeit« als »Schutzhäft- jüngeres Publikum sehr geeignet. Opladen, Farmington Hills, MI: Budrich einfühlende Annäherung an diese Person.« (S. 310) Dies ist eine ling« nach Auschwitz deportiert und stirbt dort keine zwei Monate Leonie Frankenstein ist am 19. Mai 2009 gestorben, Walter UniPress Ltd., 2009, 343 S., € 33,– wichtige Bestätigung entsprechender pädagogischer Ansätze. Fehlt später am 3. Januar 1944 (S. 84 f.). Frankenstein ist jetzt 85 Jahre alt. Mit der Zustimmung zur Ver- es hingegen an solch einer Person, an der die Kinder ihre Empathie Walter und Leonie Frankenstein gelingt das Überleben in der öffentlichung ihrer Lebensgeschichten in Deutschland wollen sie »Wenn der das hier in der entwickeln können, zeigen die Kinder sprachlich und emotional Di- Illegalität mit zwei kleinen Kindern (1943 kommt der zweite Sohn ein Beispiel geben, dass sich der Kampf für Menschlichkeit lohnt Schule gehört hätte, dann hätte der das viel- stanz. »Durch das Fernhalten der Opfer als Personen wird die Un- Michael zur Welt). Doch mit dem Ende des Krieges beginnt für sie (S. 223). leicht gar nicht gemacht.« (S. 264) Die Sichtweisen von Grundschü- terstellung von Fremdheit und Andersartigkeit der Opfer begünstigt. noch lange kein normales Leben. Zunächst in einem Displaced-Per- lern, ihre Deutungen und Sinnzuschreibungen zum Holocaust stehen Damit bewahren die Schülerinnen und Schüler sich vor der Vor- sons-Lager untergebracht, wollen die Frankensteins Deutschland Birgit Maria Körner im Fokus der Dissertation von Alexandra Flügel, mit der sie einen stellung, selbst Opfer zu sein.« (S. 311) Nicht aufzuheben ist auch möglichst schnell verlassen und ein neues Leben im damaligen Pa- Frankfurt am Main wichtigen Beitrag zu der nun schon bereits seit mehr als 15 Jahren im Unterricht »das Angst machende und bedrohliche Moment der lästina beginnen. Während Leonie Frankenstein mit den Kindern im geführten Diskussion zur Thematisierung von Nationalsozialismus Vorstellung, selbst Opfer zu sein« (S. 311). Februar 1946 einwandern kann, wird Walter Frankenstein zum Mit- und Holocaust im Unterricht der Grundschule vorlegt. Sie analysiert Die Autorin verweist auf das äußerst schwierige Konstrukt, dass arbeiter der Aliya Bet gemacht, dem Versuch, Shoah-Überlebende insbesondere Äußerungen in Kleingruppengesprächen von Viert- im Unterricht »den Opfern selbst die Gründe für ihre Verfolgung ein- illegal nach Palästina zu bringen. Als er endlich selbst auf dem Weg klässlern, die das Thema zuvor im Klassenverband behandelt haben. geschrieben werden« (S. 311), um die Bedrohung des potenziellen dorthin ist, wird er von der britischen Mandatsmacht in einem La- Als grundlegendes – nicht überraschendes – Ergebnis kann die Opferseins zu kompensieren. Dies führt zu problematischen Inter- ger auf Zypern interniert. Autorin feststellen, dass den Schülern ein Balanceakt bei der Aus- pretationen. Die Kinder unterstellen »der Verfolgung einen Grund, Kurz vor der israelischen Staatsgründung und im Unabhängig- einandersetzung mit dem Thema gelingt. »Sie können sich den Ver- der zwar von ihnen verurteilt wird, dessen Grundannahmen sie den- keitskrieg 1948 kämpft Walter Frankenstein in der Hagana und dem brechen und grausamen Aspekten des Themas nähern, sorgen jedoch noch zustimmen« (S. 284). Solche antisemitischen Vorurteile wurden Zahal, der israelischen Armee. Die Frankensteins fühlen sich trotz ebenso dafür, dass ihnen positive, gewissheitssichernde und -schaf- »im Unterricht selbst bemüht, teilweise von Lehrkräften ins Spiel ge- dieser Gefahren in Israel zu Hause und sind stolz auf die Aufbauar- fende Elemente bewahrt bleiben.« (S. 300) Die Frage der möglichen bracht, teilweise zumindest unbesprochen stehen gelassen« (S. 284). beit, die sie geleistet haben. Doch als Walter Frankenstein aus ge- Überforderung von Grundschülern ist nach den Untersuchungser- Die Geschichtsinterpretationen der Grundschüler folgen nach sundheitlichen Gründen nicht mehr als Bauarbeiter arbeiten kann, gebnissen nicht eindeutig zu beantworten, da »offen bleibt«, wie ei- Einschätzung der Autorin einem – wie sie es m.E. überhöht benennt entschließen sie sich, mit der Hilfe eines Freundes nach Schweden ne »angemessene Verarbeitung des Geschehenen« aussehen könnte. – »erlöserischen Narrativ«. Die Kinder stellen quasi als Ausgleich zu emigrieren. Hier leben sie gut, können ihre Ausbildung nachho- Konstatieren kann die Autorin jedoch, dass Kinder verschiedene dem Bericht über etwas schwer für sie zu Ertragendes einen Licht- len, werden 1965 schwedische Staatsbürger. Aber eine neue Hei- Verarbeitungsstrategien nutzen. Die nicht verbalisierte »innere Be- blick wie das Verhalten von Helfern und Rettern gegenüber. »Das mat fi nden sie nicht. fi ndlichkeit« der Schüler allerdings »bleibt die unbekannte Deter- Festhalten an diesen ›erlöserischen‹ Momenten gewährt die gegen- Klaus Hillenbrand ist ein liebevolles Porträt zweier mutiger minante« (S. 309). wärtige und zukünftige Verbürgung auf Sicherheit.« (S. 312) Menschen mit unabhängigem Geist gelungen. Er schreibt sachlich, Zur Frage nach möglicher Trivialisierung bei der Vermittlung Einschlägiges Vorwissen der Kinder können die Ergebnisse der mit angemessener Distanz und dennoch menschlich nah. Das Buch von Nationalsozialismus und Holocaust in der Grundschule einige Untersuchung bestätigen, die Autorin betont »die bereits bestehen- ist spannend zu lesen, gerade weil der Autor es vermeidet, die bei- Ergebnisse: Die Kinder wagen sich an »das Grauen« heran und spre- de Verstrickung der Kinder in die Erinnerung an die nationalsozialis- den Lebensgeschichten unnötig zu dramatisieren. Nur an ganz we- chen darüber, bemühen sich aber gleichzeitig, »ein Gleichgewicht tische Vergangenheit« (S. 313). Es erscheint ihr folglich »zweifelhaft, nigen Stellen verfehlt Hillenbrand ein wenig den Ton, wenn er zum herzustellen, welches für sie gewissheitssichernde Momente bewahrt« davon auszugehen, dass Kinder unberührt blieben von der Erinnerung Beispiel fragt, ob wohl »Milch und Brei« für die aus dem Waisen- (S. 302). So positionieren sich die Kinder beispielsweise moralisch an den Nationalsozialismus und Holocaust« (S. 314). Zum Unterricht haus deportierten Kinder zur Verfügung gestanden hätten (S. 150). stark gegen den Nationalsozialismus, lassen sich emotional nicht mit verweist sie kritisch darauf, dass »eine Vielzahl didaktischer Überle- Außerdem lassen sich genderspezifi sche Gewichtungen beobach- den Tätern ein und reduzieren sie zur Vermeidung eigener Verunsi- gungen des historischen und politischen Lernens im Unterricht nicht ten. Streckenweise scheint Walter Frankensteins Geschichte dem cherung auf Hitler und einige Nazis. Die Kinder beschäftigen sich mit aufgegriffen wurden« (S. 319). Notwendig erscheint auch ihr die Ver- Autor näherzuliegen, da dieser als Mann mehr in die politischen den Taten, »erfragen provokant grausame Details, schildern diese […] schiebung der Diskussion über das »ob« zur Frage, wie das Lernen in Aktivitäten eingebunden war. Über die Herausforderungen für Le- und zeichnen brutale Ereignisse detailreich nach« (S. 305). Emotional der Grundschule zu diesem Themenkomplex erfolgen kann. onie Frankenstein, mit zwei kleinen Kindern versteckt zu überle- sind sie dabei sowohl von Opfern als auch von Tätern distanziert. Ale- ben und in Israel allein ein Leben zu bestreiten, erfahren die Lese- xandra Flügel kann so bisherige Beobachtungen, dass Kinder grau- Monica Kingreen rinnen und Leser weniger. same Schilderungen aussparen, nicht bestätigen. Das spezifi sche In- Fritz Bauer Institut

66 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 67 Verdienstvolle Fülle unterstellt. Zu dieser Zeit erforderte die forcierte Aufrüstungspoli- den Bahnverkehr kam auch das Speise- und Schlafwagenperso- Wiesenthal ohne Sockel tik des NS-Regimes auch eine Steigerung des Personalbedarfs, was nal in Betracht. auch die Einstellung arbeitsloser Eisenbahner einschloss, die als So- Aus der Chronologie ergeben sich auch die Schwerpunkte des zialdemokraten 1933 entlassen worden waren. widerständigen Handelns und seiner Interpretation, damals und heu- Alfred Gottwaldt Der Autor teilt die NS-Zeit in vier große Abschnitte ein: die te; das trifft besonders für die Kriegsjahre zu. Wie zwiespältig die Guy Walters Eisenbahner gegen Hitler. Widerstand und Jahre vor und nach der Machtergreifung 1933 bis 1936, Übergang Beurteilung aus heutiger Sicht ausfallen muss, zeigt die Biografi e Hunting Evil. The Nazi War Criminals Verfolgung bei der Reichsbahn 1933–1945 der Reichsbahn in die unmittelbare Staatsverwaltung 1937 bis zum des Dr. Ing. Karl Eugen Hahn: Reichsbahnbeamter, Reserveoffi zier, Who Escaped and the Dramatic Hunt to Wiesbaden: Marix Verlag, 2009, 352 S., Kriegsbeginn 1939, Widerstand von September 1939 bis Ende Betriebsleiter in Minsk/Weißrussland, KZ-Häftling in Sachsenhau- Bring Them to Justice € 20,– 1942, Eisenbahner im Widerstand von 1943 bis Kriegsende. Jedes sen, Oberreichsbahnrat (ernannt von Reichsverkehrsminister Juli- London: Bantam Press, 2009, 518 S., Kapitel wird nach einem Einführungstext ergänzt um einige Einzel- us Dorpmüller), Feldeisenbahnoffi zier zuerst in der Ukraine, dann Abb., € 21,– biografi en von Personen, die für diese Zeitabschnitte von besonde- in Italien, Eisernes Kreuz, Entlassung durch die Alliierten Oktober rer Bedeutung waren; diese machen auch bei Weitem den Schwer- 1945, ab Mai 1946 Abteilungspräsident in den Bundesbahndirekti- Bei den Intellektuellen sei 1933 »Gleich- punkt des Buches aus. Da sie von verschiedenen Autoren verfasst onen Frankfurt am Main und Stuttgart, Selbstmord 1957. Jetzt ist es passiert. Der britische Journalist schaltung die Regel« gewesen, stellte Hannah Arendt fest1; Urteils- wurden, entbehren sie einer gewissen Einheitlichkeit. Andererseits Nicht ganz befriedigend ist die Diskussion der Nachkriegsjah- Guy Walters hat in einem Buch ausgeführt, fähigkeit und Menschlichkeit haben offensichtlich wenig mit Bil- konnten viele Details sowohl aus veröffentlichtem als auch unver- re gelungen. Schon in der Einleitung setzt sich Gottwaldt mit den was Kenner der Materie wussten: ist keine sau- dung zu tun. Wenn man die biografi schen Skizzen im neuen Buch öffentlichtem Material zusammengetragen, lokal- und regionalge- Formen des Gedenkens in der DDR und der BRD auseinander, die bere Quelle. Er war, so Walters starke Worte, ein Lügner und Ange- von Alfred Gottwaldt liest, fi ndet man zahlreiche Bestätigungen die- schichtliche Bezüge hergestellt werden. Sie können in dieser Be- erwartungsgemäß sehr unterschiedlich ausfi elen. Diese Thematik ber, der rücksichtslos und unverantwortlich vorging. Je mehr Walters ser Erfahrung der Philosophin. sprechung nicht ausgebreitet werden. greift er im sehr kurzen fünften Kapitel noch einmal auf und ver- zum Thema NS-Täter nach 1945 recherchierte, desto stärker geriet »Der Widerstand der ›kleinen Leute‹ gehört vielleicht zu den Schon in den einleitenden Texten wird eine Fülle von Einzel- gibt damit die Chance, dem Leser ein zusammenfassendes Fazit Wiesenthal in seinen Fokus und ist zum Thema von Hunting Evil bemerkenswertesten Aspekten der NS-Zeit, obwohl er oft überse- beispielen aufgearbeitet, die sicher den einzelnen Akteuren nicht zu bieten. geworden. Walters Abrechnung mit Wiesenthal beginnt bei dessen hen wird. Es hat den Menschen oftmals Übermenschliches abver- immer gerecht werden. Äußerst hilfreich ist deswegen das Perso- autobiografi schen Schilderungen, in denen vieles nicht stimmt. Das langt, sich im Alltag nach außen hin linientreu und vor der Gesta- nenregister, das dem Leser ermöglicht, der Vielzahl der beteiligten Dorothee Lottmann-Kaeseler wäre nicht das Schlimmste, denn Dichtung und Wahrheit liegen bei po sicher zu organisieren. […] Gehorsame Pfl ichterfüllung bei der Personen nachzugehen. Manche Eisenbahner waren in kirchlichen Wiesbaden Autobiografi en nahe beieinander. Aber Walters greift unmittelbar Verwaltung konnte mitunter also neben partieller Opposition und Gruppierungen oder Netzwerken tätig oder stark von ihrer katho- das Lebenswerk Wiesenthals an, die Jagd nach Naziverbrechern. neben der Hilfe für Verfolgte stehen. […] Der ›illegale‹ Widerstand lischen Herkunft geprägt. Andere stammten aus den Parteien KPD, Wiesenthal hat Fakten erfunden und sich Verdienste zugerech- gegen das NS-Regime forderte auch unter Angehörigen der Reichs- SPD, SAP (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands), den Ge- net, die ihm nicht zukamen. Von den zahlreichen Beispielen sei- bahn einen hohen Blutzoll. Niemand kennt die genaue Zahl der werkschaften, darunter dem seit 1925 so benannten Einheitsver- en die beiden bekanntesten erwähnt: Die legendäre SS-Fluchthil- Eisenbahner, die hingerichtet oder auf andere Weise ermordet wur- band der Eisenbahner Deutschlands (EdED), der Revolutionären feorganisation ODESSA gab es nicht, sie ist ein von Wiesenthal den. Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten, Katho- Gewerkschaftsopposition (RGO). Auch internationale Organisa- (und der Stasi!) geschaffenes Phantom1. Auch die Entdeckung Eich- liken und nachdenkliche ›unpolitische‹ Beamte wurden in großer tionen wie der Internationale Sozialistische Kampfbund und die manns in seinem argentinischen Unterschlupf war nicht Wiesenthals Zahl ermordet. […] Oftmals begingen die Eisenbahner ihre wider- Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) waren äußerst Werk, wie er behauptet. Seine Initiativen zur Auslieferung des nach ständigen Handlungen übrigens nicht am Arbeitsplatz, denn sol- wichtig. Über eine herausragende Persönlichkeit, den Niederländer Chile gefl ohenen Gaswagen-Organisators Walther Rauff waren öf- ches Tun schien – vorsichtig formuliert – der Berufsehre zu wider- Edo Fimmen, der seit 1923 als Generalsekretär der ITF in Amster- fentlichkeitswirksam und politisch sinnvoll, aber Akten des Aus- sprechen.« (S. 18) dam wirkte, und seine Rolle für den Widerstand erfährt man etwas wärtigen Amtes (die Walters nicht kennt) relativieren seine Rolle Der Autor hat sich verdienstvollerweise des Themas ange- und wird angeregt, dessen 2002 auf Deutsch erschienene Biogra- erheblich. Ein israelischer Diplomat hat es auf eine schlüssige Formel nommen, das seit dem ersten von Raul Hilberg 1981 vorgelegten fi e2 zu lesen. gebracht: Wiesenthal war ein Nazijäger, aber kein Nazifänger. Buch über die Beteiligung der Reichsbahn an der Shoah und zahl- Auch wenn die Frauen und Männer – überwiegend waren es Walters stutzt Wiesenthal kräftig zurecht, wobei er in der Sub- reichen weiteren Veröffentlichungen bisher sehr wenig behandelt natürlich Männer – aus ganz unterschiedlichen Milieus kamen, tra- stanz wenig Neues vorbringt (und seinerseits Fehler macht, die Wie- wurde. Aber schon aus dem Zitat geht hervor, dass viele Eisenbah- ten sie doch bei der Reichsbahn in eine »Welt für sich« ein, in senthal wohl doch nicht unterlaufen wären). Wiesenthal war un- ner im Widerstand den Betrieb der Bahn(en) gar nicht störten oder deren Rahmen sie sich der Anpassung verweigern oder gar dem mittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wenigen, die auf erschwerten. Immerhin haben etwa 703.500 Menschen für die Bahn Widerstand anschließen konnten. Gottwaldt bezieht auch die Per- das Versagen der Justiz gegenüber Naziverbrechern hinwiesen und gearbeitet, davon 420.000 Arbeiter und Angestellte. Arbeitsrecht- sonen ein, die – meist aus politischen Gründen – früh entlassen handelten, wenn er sah, dass Judenmörder unbehelligt lebten. Es lich hatte die Rechtsform der Reichsbahn gewisse Auswirkungen; wurden, aber noch in Eisenbahn-bezogenen Institutionen, der ent- gab viele Nazijäger damals, die so anonym wie möglich arbeite- sie wurde erst im Frühjahr 1937 wieder ganz der staatlichen Hoheit sprechenden Industrie oder bei Privatbahnen und kommunalen ten; Wiesenthal exponierte sich, und deshalb kamen Informanten Straßenbahnen untergekommen waren. Beim grenzüberschreiten- zu ihm. Wiesenthal war die Kehrseite eines unauffälligen oder un-

1 Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, Sendung vom 28.10.1964, ZDF, abgedruckt in: Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und 2 Willy Buschak, Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisie- 1 Siehe Heinz Schneppen, Odessa und das Vierte Reich, Berlin 2007, und ders., Werk, München 1996, S. 44–70. rung. Eine Biographie, Essen 2002. Ghettokommandant in Riga. Eduard Roschmann, Berlin 2009.

68 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 69 sichtbaren Netzwerks, das zu erforschen weit mehr Mühe machen »Wenn man überleben wollte, den und Jüdinnen relativ getrennt lebten. Die Geschichte des Ghet- Zur Funktion der SS-Mediziner würde als die gründliche und lange, mit vielen Reisen verbundene durfte man nicht an die grausame tos beginnt im Winter 1941/42 und wird chronologisch abgehandelt. bei der Massenvernichtung in Auschwitz Recherche Walters. Wirklichkeit denken.« Der erste Deportationstransport kam mit Juden und Jüdinnen aus Das Milieu, in dem Wiesenthal arbeitete und seine Informan- Würzburg, Fürth und Umgebung. Diese Menschen fanden »fürch- ten hatte, war obskur. Es gab Nazis, die ihm Informationen über terliche Zustände vor, total ungenügende Unterkünfte, nichts zu es- frühere Freunde steckten, um alte Rechnungen zu begleichen. Wil- sen« (S. 51). Schneider geht auf jeden einzelnen Transport ein. Ins- Barbara Huber helm Höttl etwa, ein hoher österreichischer Funktionär des Reichs- gesamt kamen nach ihren Ermittlungen 20.057 Juden und Jüdinnen Der Regensburger SS-Zahnarzt sicherheitshauptamtes, spielte nach dem Krieg die Rolle eines Dop- Gertrude Schneider aus dem Reich, von denen im Februar 1942 nur noch rund 15.000 Dr. Willy Frank pelagenten zwischen Ost und West und lebte zudem von seinen Reise in den Tod. Deutsche Juden in Riga am Leben waren. Würzburg: Verlag Königshausen & revisionistischen Schriften. An solchen Figuren führte für Wiesen- 1941–1944 Zur Sprache kommen die von Deutschen wie Letten be- Neumann, 2009, 165 S., € 24,80 thal kein Weg vorbei. Geldzahlungen gegen Informationen sind hei- Mit Vorbemerkungen zur Autorin und zum gangenen Verbrechen, die Massenmorde – »Aktionen« genannt – kel, aber in konkreten Situationen eine logische Option. Aber auch Buch von Norbert Kampe. 2., überarb. u. und die seltenen guten Taten. Dazu gehört, dass Bildung und Schul- die Zeugnisse von KZ-Überlebenden sind gelegentlich von Trau- erw. Aufl . Dülmen/Westfalen: Laumann wesen, zionistische Betätigungen sowie Liebe und Sport möglich mata und Suggestionen getrübt. Wiesenthal mag hier manchmal zu Verlag, 2008, 207 S., € 18,50 waren. Sonntags zum Beispiel wurden im Sommer Fußballspiele Die in Auschwitz eingesetzten SS-Zahnme- gutgläubig gewesen sein, aber es ging ihm um Einzeltäterschaft, zwischen der deutsch-jüdischen und der lettisch-jüdischen Ghetto- diziner standen bisher, abgesehen von ih- und der Nachweis der individuellen Schuld war nicht immer leicht. Gertrude Schneider ist eine Holocaust- polizei ausgetragen. Es gab sogar Theateraufführungen: Jeremias rer Funktion beim Raub des Zahngolds der Ermordeten, eher am Wiesenthal war verhasst und galt als Nestbeschmutzer, denn Öster- Überlebende aus Wien, die im Februar 1942 von Stefan Zweig und Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Rand der Forschungen über die nationalsozialistischen Konzentra- reich hatte den Persilschein, das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein. mit ihren Eltern und der Schwester in das Ghetto von Riga deportiert Lessing. Dies war wichtig für das Überleben: »Wenn man über- tionslager. Barbara Hubers Buch über Willy Frank, von Novem- Als die zeitliche Distanz zum Hitlerreich groß genug war, hievte man wurde. Nach der Befreiung emigrierte ihre Mutter – der Vater starb leben wollte, durfte man nicht an die grausame Wirklichkeit den- ber 1942 bis Dezember 1944 SS-Zahnarzt in den Konzentrations- ihn auf einen Sockel. Nun stocherte er nicht mehr in einer unverheil- im April 1945 – mit ihr und der Schwester 1947 nach New York. Erst ken.« (S. 109) Schneider berichtet über die Arbeitseinsätze im lagern Niederhagen, Auschwitz und Dachau, der 1965 im 1. Frank- ten Wunde, sondern war Vorkämpfer der Gerechtigkeit. Die Öffent- 1971 war die Autorin wieder in Riga. In ihrer neuen Heimat USA Ghetto und außerhalb sowie über medizinische Experimente, für furter Auschwitz-Prozess wegen Beihilfe zum Mord zu sieben lichkeit war der Motor dieser Erhöhung. Wiesenthal selbst benutzte ist sie Historikerin geworden und promovierte 1973 mit der Studie die Juden und Jüdinnen lettischer oder deutscher Herkunft als Ver- Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, zeigt, dass auch eine biografi - die Presse wie ein Pianist die Klaviatur. Ich sprach ihn einmal in sei- The , 1941–1943 an der City University of New York. suchskaninchen dienen mussten. sche Studie den Forschungsstand zur Geschichte des Konzentrati- nem wohnzimmerhaften Wiener Büro auf eine Information an, die ich Daraus entstand 1979 Journey into terror. Story of the Riga Ghetto, Im Sommer 1943 begann die Aufl ösung des Rigaer Ghettos. onslagers Auschwitz erweitern und die bisherigen Kenntnisse über nicht glauben konnte, und er antwortete seelenruhig – dabei Brief- 1941–1943, veröffentlicht in New York. 2001 kam eine erweiterte Bis August waren 7.874 »Ghettogenossen« in das Konzentrations- die Beteiligung von SS-Medizinern an der Durchführung des Mas- marken ausschneidend –, das habe er gesagt, um den Feind aus der US-Fassung heraus. Als deutsche Version verfasste die inzwischen lager Kaiserwald geschickt worden. Im November 1943 erfolgte die senmords vertiefen kann. Reserve zu locken. Das war die Wahrheit. Er gab, wie ihn Walters emeritierte Historikerin fünf Jahre danach Reise in den Tod. Deut- endgültige Schließung, und jüdische Arbeitskommandos mussten Sicherlich kam den erforderlichen Recherchen zugute, dass die selbst zitiert, der Presse das Fressen, das sie wollte. Wenn Wiesenthal sche Juden in Riga 1941–1944. Dieses Buch hat Gertrude Schnei- die Spuren der einstigen Bevölkerung des Ghettos beseitigen. Am Akten des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses inzwischen archiva- auf falscher Spur war oder gar einen Unschuldigen verdächtigte und der – wie sie sagt erstmalig seit 1947 – »umfangreicher in meiner 14. Oktober 1944 befreite die Rote Armee Riga. risch erschlossen sind und in wesentlichen Teilen (Hauptverhand- die Behörden nicht gleich reagierten, vermutete er Komplizenschaft deutschen Muttersprache geschrieben« (S. 21). Mit der nun vorlie- In ihrem Epilog hebt Schneider als die Besonderheit der Ge- lung und ausgewählte Akten der Voruntersuchung) durch die vom und gab ein Zeitungsinterview. Damit überreizte er ein Mittel, das alle genden zweiten, überarbeiteten und erweiterten Aufl age ist dieses schichte dieses Ghettos hervor, dass es außer Theresienstadt kein Fritz Bauer Institut in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Mu- Menschenrechtsarbeiter/-innen routinemäßig benutzen, weil sie kaum Buch wieder verfügbar. anderes Ghetto gegeben hat, »das einen derartig hohen Prozentsatz seum Auschwitz-Birkenau erarbeitete DVD-Edition (Berlin 2004) ein anderes haben. Äußerste Diskretion, um die Nazijagd nicht zu ge- Im Ghetto von Riga (und später im Konzentrationslager Kai- an Überlebenden aufweisen kann« (S. 174). Aber um im Ghetto und unkompliziert eingesehen werden können. Durch ihre akribischen fährden, und offensive Pressearbeit, um sie voranzutreiben, das verträgt serwald) führte sie ein Tagebuch mit Notizen über das alltägliche im Konzentrationslager zu überleben, durfte man nicht den Glauben Recherchen (zur Person insbesondere in bayrischen Archiven) so- sich auf die Dauer nicht. Die Zwiespältigkeit Wiesenthals geht auf die Leben und Überleben. Zusätzlich hat sie systematisch Dokumente, an sich selbst verlieren und brauchte »Selbstbehauptung und See- wie die Einbeziehung weiterer Ermittlungsergebnisse zu im Kon- Rolle zurück, die er übernahm, als es damit nichts zu gewinnen und Zeugenaussagen und Erinnerungen gesammelt sowie Überlebende lenstärke – in anderen Worten: eine Art von Widerstand« (S. 175). zentrationslager Auschwitz eingesetzten SS-Medizinern konnte die viel zu verlieren gab. Diese objektiven Bedingungen übersieht Walters. befragt. In ihrer Darstellung sind die angekommenen Deportations- Die in dem Buch faksimiliert wiedergegebenen Dokumente und Verfasserin jedoch das familiäre Umfeld Willy Franks, sein Hin- Nachdem Wiesenthal einmal zum »secular saint« (Walters) sti- transporte und die Mordaktionen der Deutschen und ihrer lettischen Fotografi en ergänzen die Darstellung und illustrieren sie. Sehr hilf- einwachsen in das Münchner völkische und antisemitische Milieu, lisiert war, bedurfte es eines Buches wie Hunting Evil, um ihn vom Helfer ebenso festgehalten wie Momente des Glücks. Norbert Kam- reich ist das Namens-, Sach- und Ortsverzeichnis. in dem schließlich die NSDAP entstand, und zahlreiche Details der Sockel zu heben. Die Fallhöhe würde für einen Skandal genügen. Das pe merkt an, dass Gertrude Hirschhorn – so hieß sie damals noch – Gertrude Schneider hat ein sehr wichtiges Buch verfasst, das Tätigkeit in Auschwitz 1943 und 1944 umfassend und detailliert Buch ist in mehrere Sprachen übersetzt (aber noch nicht in die deut- wie ihre Eltern nicht zur »Ghetto-Elite« gehörte und daher frei blieb nun auch wieder in deutscher Sprache vorliegt. Norbert Kampe ist darstellen. sche) und hat bereits Beifall von der falschen Seite erhalten. Seien vom »tragischen Rechtfertigungsdruck anderer Überlebender, der zuzustimmen, wenn er feststellt: »Diese Mischung aus unbefan- Für die eineinhalb Jahre des Einsatzes Franks im Konzentrati- wir froh, dass die überfällige Attacke nicht von den Neonazis kam. oftmals unter Last und Scham der Erinnerung zu Umdeutungen des gener, präziser Erinnerung des jungen Mädchens, also der Zeitzeu- onslager Auschwitz erarbeitete Barbara Huber eine auf die Frank- Jetzt wäre eine kritische Würdigung von Wiesenthals Verdiensten nö- Erlebten und der eigenen Handlungen führte« (S. 11 f.). gin, und die akribische, methodisch kontrollierte Einordnung der furter Ermittlungen, den bisherigen Forschungsstand, Zeugenaus- tig, und sie ist erst jetzt möglich. Und auch eine solide Biografi e. Tom Gertrude Schneider beginnt mit einem kurzen historischen Historikerin in den größeren Zusammenhang machen den beson- sagen und Selbstäußerungen von angeklagten SS-Angehörigen Segev wird sie – dem Vernehmen nach – in diesem Herbst vorlegen. Überblick und einem Exkurs zur Literatur über das Ghetto von Riga, deren Charakter dieses Buches aus.« (S. 7) gestützte Zusammenschau und rekonstruierte seine Tätigkeit sehr in dem einige der darin enthaltenen Fehler korrigiert und apologe- viel detaillierter, als dies seinerzeit für den Schuldnachweis erfor- Dieter Maier tische Ansätze kritisiert werden. Es wird über das zweiteilige Ghet- Kurt Schilde derlich war. Zwar trifft es zu, wie auch das Gericht feststellte und Frankfurt am Main to berichtet, in dem lettische und deutsche (bzw. österreichische) Ju- Siegen-Geisweid bei der Strafzumessung berücksichtigte, dass Frank aufgrund einer

70 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 71 Erkrankung als nicht mehr frontverwendungsfähig eingestuft und Die von der Autorin zusammengetragenen detaillierten Infor- Wie ein Häftling es schaffte, Bielecki beschreibt seine ersten Tage in Auschwitz, als die 728 schließlich in Konzentrationslagern eingesetzt wurde. Eine solche mationen über den Werdegang Franks und sein Verhalten im Kon- der SS ein Opfer zu entreißen am 14. Juni 1940 aus dem Gefängnis Tarnów eingelieferten polni- Beorderung war jedoch grundsätzlich für alle Mitglieder der Allge- zentrationslager Auschwitz zeigen erneut, dass ihm offensichtlich schen Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz zunächst in ei- meinen SS möglich (auch zum Beispiel der SS-Arzt Johann Kre- eine Hemmschwelle fehlte, die die Beteiligung an Verbrechen ge- nem der Gebäude des früheren Polnischen Tabakmonopols, südlich mer wurde ins KL Auschwitz versetzt), die Weichen waren also mit gen weltanschaulich ausgegrenzte und diffamierte Personen verhin- vom Gelände des späteren Stammlagers, untergebracht wurden, die dem freiwilligen Beitritt zur SS 1936 gestellt. dert hätte. Dass bei anderen SS-Medizinern, mit denen auch Frank Jerzy Bielecki Verlegung in mehrere Blöcke der früheren polnischen Kaserne und Aufschlussreich ist vor allem die Darstellung des Raubs und des Umgang hatte, so eine Hemmschwelle durchaus bestand, wurde in Wer ein Leben rettet… Die Geschichte die Verhältnisse im zunächst noch kleinen Lager Auschwitz, den Einschmelzens des Zahngolds (S. 59, 66 ff.), des Verlaufs der Se- der Urteilsbegründung des Frankfurter Gerichts detailliert erörtert einer Liebe in Auschwitz Drill, den Arbeitseinsatz beim Aufbau des Lagers, die bald eintre- lektionen und der Beteiligung von SS-Medizinern, vor allem wäh- und ist auch in diesem Buch angesprochen. Aus dem Polnischen von Rozwita tende Entkräftung der Häftlinge, die ersten Toten, Strafen, Mithäft- rend des Eintreffens der Transporte mit Juden aus Ungarn 1944, Eine Anmerkung zur Begriffl ichkeit: Die Häftlinge der natio- Brodowskaja. Berlin: wjs verlag, Wolf linge, erste Einblicke in die »Logik« dieses Lagers und Versuche, sowie der Tätigkeit von SS-Medizinern bei der Durchführung der nalsozialistischen Konzentrationslager waren nie lediglich »inter- Jobst Siedler jr., 2009, 327 S., € 24,90 in halbwegs erträgliche Verhältnisse zu gelangen. Er wird auf dem Massenvergasungen und überhaupt der Funktion der SS-Ärzte im niert« (so S. 54 und 56; dies hätte das Lektorat korrigieren sollen); Wirtschaftshof der von der SS beschlagnahmten Landwirtschafts- Ablauf der Massenvernichtung in Auschwitz (S. 84 ff., 116 ff.). Die- Zweck der Konzentrationslager war bereits in den 1930er Jahren die betriebe eingesetzt und schließlich dem Kommando »Mühle Ba- se auch für die vom Frankfurter Schwurgericht eruierten Straftat- Bekämpfung und sehr bald die Vernichtung von als Gegner bzw. als bitz« (im Randgebiet der Stadt Oświęcim/Auschwitz) zugeteilt, wo bestände wesentliche Rekonstruktion war für Barbara Hubers bio- »auszumerzend« kategorisierten Personen und Gruppen. Das Spiegel-Buch Eine Liebe in Auschwitz der SS-Kommandoführer einen Häftling zur Bedienung der techni- grafi sche Studie erforderlich, weil Frank während des Prozesses Das Buch reiht sich ein in andere in den letzten Jahren ent- von Thilo Thielke über Jerzy Bieleckis und schen Anlagen brauchte. Bielecki berichtet auch über Kontakte mit seine Beteiligung an Verbrechen bestritt. Als sich aufgrund von Aus- standene Studien über SS-Mediziner in Auschwitz, wie Konrad Cyla Cybulskas Flucht aus Auschwitz wies auf die heroische und im Umland des Konzentrationslagers Auschwitz lebenden Polen, sagen früherer Häftlinge während der Hauptverhandlung die Be- Beischls 2005 ebenfalls im Verlag Königshausen & Neumann er- zugleich bewegende Endphase von Bieleckis Haft in Auschwitz hin zum Beispiel zu einer bei der Mühle wohnenden polnischen Fami- lege verdichteten, dass Willy Frank an den Selektionen und den schienenes Buch über Franks Auschwitzer Vorgesetzten Eduard und weckte bereits Interesse, mehr über die beiden zu erfahren. Ein lie, die Häftlinge mit Lebensmitteln versorgte und den heimlichen Vergasungen beteiligt war, wurde er am 5. Oktober 1964 in Unter- Wirths. Barbara Hubers Studie (zunächst eine 2008 an der Univer- Jahrzehnt später sind jetzt Bieleckis zuerst 1990 in Polen veröffent- Briefwechsel mit den Angehörigen und sogar Begegnungen mit sei- suchungshaft genommen (S. 119 ff.). sität Regensburg vorgelegte, preisgekrönte medizinische Disserta- lichte Erinnerungen an Auschwitz (so der Untertitel der polnischen ner nach Oświęcim/Auschwitz gefahrenen Mutter ermöglichte. Wesentlich sind ferner die Ausführungen über die Lebensver- tion) zeigt, dass biografi sche Forschungen, wenn sie gründlich das Erstausgabe) – seine Erlebnisse seit dem deutschen Angriff auf Wer als Häftling für die SS einen »Nutzwert« hatte, der wur- hältnisse der SS-Ärzte in Auschwitz (S. 72 ff.). So waren beispiels- Umfeld und die faktische Tätigkeit aufarbeiten, durchaus weitere Er- Polen und seine vier Jahre Haft in Auschwitz – erstmals in deutscher de gebraucht, war individuell erkennbar und wurde auch an ande- weise in dem von Frank und seiner Familie bewohnten Haus auch kenntnisse über die Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz Übersetzung erschienen. re SSler weitergereicht. Ein erträgliches Arbeitskommando garan- die SS-Mediziner Horst Fischer, Werner Rohde und Bruno Kitt un- erbringen. Der Verfasserin ist in ihrer Schlussbemerkung zuzustim- Anders als der deutsche Titel akzentuiert, ist das Buch, aus der tierte aber keine Sicherheit; als Jerzy Bielecki im Frühjahr 1942 tergebracht. Ein Bogen spannt sich vom Hineinwachsen Franks in men, dass »noch immer unzählige Akten der Aufarbeitung« harren; Perspektive eines Einzelschicksals, ein Bericht über die Gesamtge- in den Krankenbau musste, suchte der SS-Arzt Friedrich Entreß die entstehende NSDAP während seiner Jugend in Regensburg und auch methodisch gibt ihr Buch Anregungen für weitere Studien. schichte des Konzentrationslagers Auschwitz. Angefangen von der (1914–1947) ihn für seine Typhusexperimente aus – er überleb- München bis zum fehlenden Schuldbewusstsein noch während des Reaktion des damals neunzehnjährigen Oberschülers auf die Be- te, weil sich ein Mithäftling aus der konspirativen Gruppe im La- Prozesses, das am stärksten daran erkennbar wird, dass er offen- Jochen August setzung Polens und seinem Versuch, wie viele andere Gleichaltrige ger um ihn kümmerte, der bereits wusste, was es mit diesen Expe- sichtlich einen Freispruch erwartete und die zahnärztliche Praxis Berlin/Oświęcim über die Slowakei zur Polnischen Armee in Frankreich zu gelangen, rimenten auf sich hatte. erst nach dem Schuldspruch aufl ösen ließ (S. 135). der Verhaftung im Grenzgebiet und der Einlieferung in das gerade Als einer der in der Mühle Babitz eingesetzten Häftlinge fl oh, In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass zwei Frank erst, u. a. zur Bekämpfung solcher Widerstandshandlungen errich- wurde Bielecki erneut einem riskanten und kräftezehrenden Ar- schwer belastende Zeugen, die im eingesetzten tete Konzentrationslager Auschwitz über sein Schicksal im vom KZ beitskommando zugeteilt, der Kiesgrube. Durch seine Kontakte als Häftlinge Filip Müller und Dov Paisikovic, nach dem Willen der zum Massenmordzentrum ausgebauten Lager bis hin zu der Flucht bereits langjähriger Häftling kam er jedoch bald in eine Werkstatt SS nicht überleben sollten. Auch der 1942 aus der Slowakei nach aus Auschwitz im Juli 1944, bereits nach den Deportationen der Ju- der Landwirtschaftsbetriebe und wurde von dort schließlich An- Auschwitz deportierte Zahnarzt Alex Rosenstock, der bezeugte, dass den aus Ungarn, als sich allmählich das Ende von Auschwitz ab- fang September 1943 zum Getreidespeicher versetzt, dessen Chef Willy Frank im Sommer 1944 mindestens sechs Mal an der Rampe zeichnete und die Häftlinge befürchteten, bei Frontannäherung al- für die Aufrechterhaltung seines Betriebs einen aufgeweckten Häft- selektierte, hatte keine großen Überlebenschancen. Es überrascht le vernichtet zu werden. ling suchte. Damit hatte Jerzy Bielecki wieder eine Nische gefun- nicht, dass Franks Verteidiger Hans Laternser während der Haupt- Als Jerzy Bielecki Anfang September 1943 in das Komman- den, die bessere Überlebenschancen bot, und dort lernte er Cyla Cy- verhandlung massiv versuchte, die Glaubwürdigkeit gerade dieser do Getreidespeicher versetzt wurde und Cyla Cybulska kennen- bulska kennen. Zeugen zu erschüttern. lernte, war er bereits seit gut drei Jahren Häftling in Auschwitz. Inzwischen war Auschwitz vom KZ zum Vernichtungslager ge- Ein Kontrast zur Bereitschaft von Franks Sohn, der Autorin In- Was er über diese Zeit erzählt, vermittelt wesentliche Einblicke in worden – Bielecki beschreibt diese Entwicklung in mehreren, je- formationen über seinen Vater zugänglich zu machen, ist die Wei- die dortigen Existenzverhältnisse und erlaubt zugleich, nachzu- weils für den entsprechenden Zeitpunkt in die Erzählung einge- gerung der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg, Einblick vollziehen, wie es ihm gelang, seine Freundin aus dem Lager her- bauten Einschüben: über die sowjetischen Kriegsgefangenen in in Willy Frank betreffende Unterlagen aus der Nachkriegszeit zu auszuführen und diese heldenhafte Aktion zu einem erfolgreichen Auschwitz, die zunächst im Stammlager einquartierten und später ermöglichen. Dass die ärztliche Standesvertretung mit der vorge- Ende zu bringen. Ein Auszug aus früheren Erinnerungen über die ent- nach Birkenau verlegten ersten Frauen im Lager, den Bau und Aus- schobenen Begründung des Datenschutzes (S. 8, 135) nicht einmal scheidenden Stunden der Flucht wurde schon 1963/64 von Tadeusz bau des Lagers Birkenau, den Beginn der Massenvergasungen und einer ärztlichen Berufskollegin Akteneinsicht gewährt, deutet auf Iwaszko in seiner Studie »Häftlingsfl uchten aus dem Konzentrati- die Veränderungen durch die nach Auschwitz deportierten Transpor- eine nach wie vor bestehende Blockade hin. onslager Auschwitz« (Hefte von Auschwitz, 7, S. 28 f.) veröffentlicht. te mit Juden aus ganz Europa. All dies sahen die langjährigen Häft-

72 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 73 linge, oder sie erfuhren Einzelheiten von Kameraden, sie wussten dung gebrauchte Begriff »Drillich« bzw. »Drillichanzug« meint eine Erinnerung und Wissen – derzugeben, will Cernyak-Spatz in den Auschwitz-Kapiteln par- also, was in Auschwitz geschah, und dieses Wissen wurde für Jerzy Stoffart, nicht jedoch die Streifenanzüge, für die polnische Häftlin- Holocaust-Memoiren tout ein wenig Geschichtsschreibung betreiben. Obschon sie ver- Bielecki, ungeachtet des persönlichen Grundes, zum zentralen Mo- ge aus dem polnischen Substantiv »pasy« (Streifen) das Wort »pasi- schiedentlich auf einschlägige Literatur referiert, scheint sie die For- tiv, gemeinsam mit Cyla Cybulska die Flucht zu riskieren. ak« ableiteten. Wo in der Übersetzung »Peitschenhiebe« (S. 53 und schungsliteratur nur selektiv rezipiert zu haben. Weder zieht sie die Der Bericht über Jerzy Bieleckis und Cyla Cybulskas Freund- 74) genannt sind, ist im polnischen Text (S. 58 und 76) von »Hie- fünfbändige Sammlung von umfassenden Studien zur Geschichte schaft und ihre gemeinsame Flucht aus Auschwitz ist damit nicht ben« (poln.: »baty«) die Rede; Peitschen waren in den beschriebe- Susan Cernyak-Spatz des Lagers3 noch die Aufsatzsammlung Anatomy of the Auschwitz allein als eine Liebesgeschichte unter dramatischen Umständen le- nen Situationen ungebräuchlich, die Kapos benutzten in Auschwitz »Ich wollte leben …«. Theresienstadt, Death Camp4 heran. Wiederholt setzt sich Cernyak-Spatz hingegen senswert. Bieleckis Erinnerungen zeigen anschaulich und nachvoll- Knüppel. Statt »Abstellgleis« sollte es generell »Nebengleis« heißen Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück. mit konkurrierenden Erinnerungen auseinander, ignoriert aber die ziehbar, dass den SSlern in Auschwitz ein Schnippchen geschlagen (dies ergibt sich bereits aus dem Kontext: Die Gleisanlagen, an de- Drei Stationen meines Lebens Erkenntnisse der historischen Forschung. werden konnte, dass beherzte Häftlinge (allerdings nicht in jeder nen beim Konzentrationslager Auschwitz die Transporte ankamen, Hrsg. von Hans H. Pöschko. Die Autorin kommt Ende Januar 1943 in Auschwitz an und will Phase der Geschichte von Auschwitz, und nicht alle hatten dazu ei- waren keine Abstellgleise). Die mehrfach genannte »Reitschule« Aus d. Amerikan. von Dirk Brinkmann unbedingt durch den »Torbogen« (S. 64) von Birkenau gefahren ne Chance) im Lager viel für ihre Gefährten tun konnten, auch wenn (z. B. S. 79 und 81: »in der Reitschule«) war tatsächlich der Reit- unter Mitw. von Renate Overbeck. Berlin: sein, obschon niemand – wie sie hervorhebt – davon etwas »be- erst die Zerschlagung des Nazismus von außen der ständig drohen- platz der früheren polnischen Artilleriekaserne, den Jerzy Bielecki Metropol-Verlag, 2008, 158 S., € 16,– merkt« (ebd.) habe. Auch »qualmte« ein »großer Schornstein im den Gefahr ein Ende setzte. und seine Mithäftlinge für das Konzentrationslager herrichten mus- Hintergrund gegenüber der Lokomotive« (S. 64 f.). Mit Verweis auf Beim Lesen der Kapitel über die Flucht und die Monate bis zur sten. »Miechowszczyzna« (S. 130) ist ganz einfach die Umgebung Die Holocaust-Forschung kann die indivi- ein in Faksimile bei Danuta Czech5 veröffentlichtes Schreiben der Befreiung durch die Rote Armee wird deutlich, dass die beiden und der nördlich von Krakau gelegenen Stadt Miechów. (Diese Aufstel- duelle Erinnerung der Shoah-Überlebenden Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei Auschwitz an das Wirt- vor allem Cyla Cybulska dank der Hilfe von ihnen vorher unbe- lung könnte fortgesetzt werden.) gewiss nicht verderben.1 Geschichtsschreibung wie Erinnerung leis- schafts-Verwaltungshauptamt vom 29. Januar 1943 sieht sich Cer- kannten Polen und von Jerzy Bieleckis Familienangehörigen über- Nach seinem Studium und anfänglicher Tätigkeit in einer Trans- ten konstitutive Beiträge zur integrierten Geschichte des Holocaust nyak-Spatz in ihrer Erinnerung bestätigt, dass aus dem Schornstein lebten. Die Führerin, die die Flüchtlinge Ende Juli 1944 über die portfi rma war Jerzy Bielecki jahrzehntelang Lehrer und Schullei- (Saul Friedländer). Wo aber individuelle Erinnerung meint, durch eines Krematoriums Flammen geschlagen haben und Rauchwol- Grenze ins Generalgouvernement brachte, wird zum Beispiel mit ter an südpolnischen Schulen. Wer seine jetzt auch in deutscher die Beigabe von nachträglichem Wissen sich komplettieren zu müs- ken gequollen sein können. Die Rampe in Birkenau wurde jedoch den Worten zitiert: »Von Auschwitzern nehme ich keinen Groschen« Sprache zugänglichen Erinnerungen liest, kann sich wohl vorstel- sen, ist kritische Forschung gefordert, Erinnerung mit belegbarer Er- erst im Mai 1944 in Betrieb genommen. Bis zum Bau der dreiglei- (S. 307 ff.). Viele wussten während der letzten Monate der natio- len, wie eine solche Lehrerpersönlichkeit lebenslang die Erinnerung kenntnis zu vergleichen. sigen Anlage inmitten des Todeslagers kamen die Züge auf der »Al- nalsozialistischen Okkupation von ihnen, und Vorsicht war gebo- an Auschwitz weitergibt. Susan Cernyak-Spatz, 1922 in Wien als Susanne Eckstein ge- ten Rampe« oder »Judenrampe« am Güterbahnhof von Auschwitz ten, aber sie waren sicher und bereits frei. boren, hat 2005 in den USA ihre späten Erinnerungen an Stationen an. Das Birkenauer Torhaus ist Anfang 1944 fertiggestellt worden. Der Text der deutschen Ausgabe ist stellenweise gerafft und vor Jochen August ihres Lebens (Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück) Cernyak-Spatz bleibt bei ihrer Erinnerung, will sich aber den Er- allem in den vorletzten beiden Kapiteln gekürzt (ein entsprechen- Berlin/Oświęcim publiziert. Auf Deutsch sind sie vor zwei Jahren veröffentlicht wor- kenntnissen der Auschwitz-Forschung nicht gänzlich verschließen. der Hinweis in der deutschen Edition fehlt), ohne dass dies jedoch den und haben recht wenig Beachtung gefunden. Cernyak-Spatz ist Sie hält es deshalb auch für möglich, dass »die Flammen und der den Gang der Erzählung wesentlich beeinträchtigt. Das letzte Kapi- eine ungewöhnliche Frau. Bereits über 40 Jahre alt, begann die ge- Qualm […] von den Scheiterhaufen« von »Bunker I und II« (S. 65) tel über die Monate nach der Flucht und die Trennung, auf die erst schiedene Mutter dreier Kinder ein Studium und promovierte An- stammten. Die Entfernung vom Güterbahnhof bis zu den Verbren- fast vier Jahrzehnte danach ein Wiedersehen folgte, ist der zweiten fang der 1970er Jahre bei Ruth Klüger (damals Lawrence, Uni- nungsgruben bei den provisorischen Vergasungsanlagen betrug mehr polnischen Ausgabe (1999) entnommen. versity of Kansas) über deutschsprachige Holocaust-Literatur.2 Die als zwei Kilometer. Anzumerken sind Übersetzungsfehler und Unsicherheiten im Überlebende wurde zur Wissenschaftlerin, die unter anderem über Das Zeugnis von Cernyak-Spatz ist an den Stellen kritisch zu sprachlichen Ausdruck, die sich stellenweise auf das Verständnis den Holocaust lehrt. lesen, an denen sie ohne thematische Notwendigkeit »Nachkriegs- des Textes auswirken. Der auf S. 102 erwähnte zweite Transport Die Autorin eröffnet dem Leser in denjenigen Passagen ihres informationen« (S. 111) in ihre Darstellung einbezieht. So meint sie, aus Tarnów umfasste nicht etwa »400 Juden«, sondern nach dem Buches neue Perspektiven auf das Leben der verfolgten Juden so- was allein für Majdanek zutrifft und für Sobibór und Bełżec nicht polnischen Text (S. 99) »ungefähr vierhundert Häftlinge«, konkret wie auf das Geschehen in den Lagern, in denen der Überleben- stimmt, Häftlinge aus den Vernichtungslagern »Majdanek, Sobibór, 413 am 30. August 1940 eingelieferte Polen (darunter neun nament- den die Akademikerin nicht in die Quere kommt. Die Kapitel über Bełżec«, seien »vor dem Eintreffen der Russen geräumt« und nach lich bekannte römisch-katholische Geistliche), die überwiegend aus Berlin, Wien, Prag und Theresienstadt sind erkenntnisfördernd und Auschwitz »überführt« worden (ebd.). Weiter legt sie dar, mit Ver- dem gleichen Grund wie Jerzy Bielecki verhaftet worden waren. Der aufschlussreich, die Kapitel über Auschwitz-Birkenau hingegen auf S. 150 genannte Häftling Otto Kiesel hieß tatsächlich Otto Kü- nur mit Einschränkungen. Statt sich auf das Erinnerte zu beschrän- sel (ein unwesentlicher Schreibfehler ist in der zweiten polnischen ken und Erlebtes nach Maßgabe des eigenen Gedächtnisses wie- Ausgaben bereits korrigiert), er war der als »Arbeitsdienst« einge- setzte deutsche Auschwitz-Häftling mit der Nummer 2, den viele 3 Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernich- tungslagers Auschwitz. Hrsg. von Wacław Długoborski und Franciszek Piper. Mithäftlinge gerade wegen der auch in diesem Buch beschriebenen Aus d. Poln. von Jochen August. Oświęcim 1999 (engl. Ausgabe: Oświęcim Hilfe in guter Erinnerung behielten – ein Blick in Danuta Czechs 1 Siehe Volkhard Knigge, »Kritische Erinnerung der Erinnerung. Zum Verhältnis 2000, Aus dem Poln. von William Brand). Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz- von Geschichte und Gedächtnis«, in: Norbert Frei (Hrsg.), Was heißt und zu wel- 4 Anatomy of the Auschwitz Death Camp. Ed. by Yisrael Gutman and Michael Birkenau 1939–1945 (Reinbek bei Hamburg 1989) oder in die Stu- chem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts? Göttingen 2006, Berenbaum. Bloomington u.a. 1994. S. 68–75, hier S. 69. 5 Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz- dien der Gedenkstätte Auschwitz zur Geschichte des Lagers hätte 2 Susan E. Cernyak-Spatz, German Holocaust Literature, New York u.a 1985, Birkenau 1939–1945, aus dem Poln. von Jochen August, Reinbek bei Hamburg genügt. Der in der Übersetzung durchgängig für die Häftlingsbeklei- 21989. 1989, S. 397.

74 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 75 weis auf Martin Gilbert6, Auschwitz sei im Mai 1944 »von den Rus- schen das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Bir- der erwähnten SS-Angehörigen konnte die Übersetzerin Ulrike Bo- Gemalte Briefe eines jüdischen Vaters sen« (S. 121, 125) bombardiert worden. Bei Gilbert freilich fi ndet kenau als Symbol für die Shoah. Auschwitz-Überlebende haben in kelmann, die der deutschen Ausgabe dankenswerterweise viele An- an seine kleine Tochter sich hierfür kein Beleg. Nicht wenige Unrichtigkeiten ließen sich den ersten Jahren nach ihrer Befreiung Zeugnisse veröffentlicht, die merkungen hinzugefügt hat, identifi zieren. Die deutschen Mörder noch anführen. auch aufgrund ihrer literarischen Qualität weltweit Aufmerksamkeit erhalten so einen Namen, und es kann zum Teil nachvollzogen wer- Die Autorin, die Seminare zur Geschichte des Holocaust erregten. Von den wenigen überlebenden »Arbeitsjuden« der drei den, was aus den Exekutoren der »Endlösung« geworden ist. (S. 129) gibt, hätte – wie es ihre Doktormutter in ihrem Buch weiter deutschen Mordfabriken lagen hingegen kaum Berichte vor. Frühe Den Aufstand der »Arbeitsjuden« vom 2. August 1943 schildert Jacob van der Hoeden leben7 gemacht hat – allein ihrer unmittelbaren Erinnerung vertrau- Zeugnisse wie die von Yankel Wiernik (Treblinka) und Rudolf Re- Rajchman ohne Pathos. Die Flucht aus dem Todeslager gelang nur Lienekes Hefte en sollen. Vermengen sich im von Sekundärinformationen durch- der (Bełżec) fanden nur vereinzelt Beachtung. Manuskripte wie das wenigen. Hilfe erhielten die Davongekommenen auf ihrem Weg Aus dem Niederländ. von Edmund Jacoby. tränkten Gedächtnis Erinnerung und Wissen, Erlebtes und nachträg- von blieben über Jahrzehnte in der Schublade lie- in die erhoffte Freiheit selten. Von den deutschen Besatzern terro- Text von Agnès Desarthe, aus dem Franz. lich Erfahrenes, dann ist das Risiko nicht gering, auf Holzwege zu gen, weil sie keinen Verleger fanden. risierte und eingeschüchterte Polen, Verrat und Denunziation von von Sarah Pasquay. Berlin: Verlagshaus geraten. Cernyak-Spatz hat sich bedauerlicherweise dafür entschie- Chil Rajchman, 1914 in Łódź geboren, hat zehn Monate Treb- Landsleuten fürchtend, gewährten kaum Unterstützung. Rajchman Jacoby & Stuart, 2009, € 19,95 den, mehr als ihre Erinnerungen aufschreiben zu wollen. Gleich- linka überlebt, konnte beim Aufstand (2. August 1943) fl iehen, sich aber erfährt Beistand von einem polnischen Bauern und gelangt wohl: Immer wieder ist der Leser von der eindrücklichen, unge- nach Warschau durchschlagen und mit »arischen Papieren« die deut- nach Warschau. Ein polnischer Freund besorgt ihm Papiere. Den schminkten und direkten Darstellung der Autorin fasziniert. Viele sche Besatzung überstehen. In Warschau schrieb Rajchman 1944/45 lebensmüden Rajchman, der sich nach all dem Erlittenen jegliches Einsichten und Refl ektionen fi nden sich in dem Buch. Nur schade seinen Bericht auf Jiddisch. Seine drei Söhne widmen das Buch ihres Lebensrecht abspricht, richten gute Freunde wieder auf. Am 17. Ja- drum, dass niemand der Memoirenschreiberin mit Jean Paul gera- 2004 in Montevideo () verstorbenen Vaters »all jenen, de- nuar 1945 wird er in der zerstörten polnischen Hauptstadt von der Tami Shem-Tov ten hat, sich mit einer »Selberlebensbeschreibung« zu begnügen. nen es nicht vergönnt war zu erzählen« (S. 9). Roten Armee befreit. Im Jahr darauf wandert Rajchman nach Urugu- Das Mädchen mit den drei Namen Im Oktober 1942 nach Treblinka deportiert, wird Rajchman ay aus, seinen Bericht gibt er nur seinen Familienangehörigen zum Aus dem Hebr. von Mirjam Pressler. Werner Renz am »Bahnhof« der Mordstätte aussortiert und als »Arbeitsjude« ins Lesen. Erst im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Demjan- Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, Fritz Bauer Institut Lager verbracht – anders als Tausende und Abertausende, die un- juk in den USA und in Israel wird Rajchman bekannt, tritt als Zeu- 2009, 302 S., € 14, 95 mittelbar nach ihrer Ankunft durch den »Schlauch«, die »Himmel- ge auf. Wie andere Treblinka-Überlebende auch meint er in dem fahrtsstraße«, in die Gaskammern getrieben und qualvoll durch Mann aus Cleveland »Iwan den Schrecklichen« vor sich zu haben.

6 Martin Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, aus dem Engl. von Karl Heinz Siber, Motorabgase erstickt werden. Rajchman nennt die SS und die Für die Davongekommenen war es eine schmerzliche Erfahrung, München 1982. ukrainischen Helfershelfer schlicht »Mörder« und »Verbrecher«. dass sie einer Personenverwechselung erlagen. Rajchmans Zeug- Kleine Briefheftchen in der Größe einer 7 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992. Alle beteiligen sich mit bestialischer Grausamkeit an der »Abferti- nis ist ein authentisches, zutiefst ergreifendes Dokument. Die mit Spielkarte sind Mittelpunkt zweier in deut- gung«, an der Vernichtung von Transporten, alle fungieren gemein- dem jiddischen Original abgeglichene Übersetzung aus dem Fran- scher Übersetzung im letzten Jahr erschienenen Veröffentlichungen. schaftlich als Teil der Mordmaschinerie. Die Opfer werden ihrer zösischen samt den Anmerkungen ist gelungen. Da und dort hätte Im besetzten Holland hatte der jüdische Tierarzt Jacob van der Habe beraubt, müssen sich entkleiden, die Frauen werden den »Fri- der Verlag beim Gebrauch von polnischen Sonderzeichen freilich et- Hoeden in der Zeit von Herbst 1943 bis Juni 1944 neun solcher illus- seuren« zugetrieben und geschoren. Den Eintritt in das als »Bad« ge- was sorgfältiger sein können. Auch Hinweise auf Forschungslitera- trierter Briefe für sein untergetaucht lebendes jüngstes Kind Liene- Zeugnis aus Treblinka tarnte Gaskammergebäude, über dessen Eingang ein Davidstern hing, tur und Zeugnisse von Treblinka-Überlebenden wären für die deut- ke geschrieben. Durch den niederländischen Widerstand, dem er an- erzwingen die »Mörder« mit Peitschenhieben. Rajchman erleidet als sche Leserschaft dienlich gewesen. gehörte, konnte er ihr diese Briefchen zukommen lassen. Zu dieser »Friseur«, »Zahnarzt« und Leichenträger im hermetisch isolierten Zeit lebte die im Mai 1933 geborene Lieneke unter falscher nicht- »Totenlager« (Lager Nr. 2) alle Qualen als ohnmächtiges »Werk- Werner Renz jüdischer Identität bei einem Kollegen ihres Vaters. Sie war wohl ab Chil Rajchman zeug« (S. 60) der SS. Seinen Lebenswillen verlor er aber, im Un- Fritz Bauer Institut Sommer 1942 getrennt von der schwerkranken Mutter, von ihrem Ich bin der letzte Jude. Treblinka 1942/43. terschied zu so vielen, die ihren eigenen Tod sterben wollten, nicht. Vater und ihren älteren Geschwistern. Mit ihrer zwei Jahre älteren Aufzeichnungen für die Nachwelt Ständig in Todesgefahr, fortwährend dem Terror der SS und der Schwester Rachel konnte sie hingegen zeitweise in einem Haushalt Aus dem Franz. von Ulrike Bokelmann. Trawniki-Männer ausgeliefert, ist Rajchman dennoch ein sehr ge- wohnen. Zuvor hatte sie bereits zusammen mit der Schwester unter Mit 28 Abb. auf Tafeln. nauer Beobachter. So fällt ihm zum Beispiel auf, dass die SS-Män- falschen Namen in einer anderen Familie gelebt. München, Zürich: Piper Verlag, 2009, ner nach einem Heimaturlaub schlecht aussehen: »Zu Hause ist die Als Gerüchte über ihre jüdische Identität aufkamen, musste sie 155 S., € 16,95 Verpfl egung nicht so gut wie in Treblinka. Hier können sie sich al- zu anderen hilfsbereiten Menschen. In dieser Zeit waren die liebe- les leisten, denn an Geld fehlt es nicht: Jedes Opfer bemüht sich voll und mit Talent gezeichneten und geschriebenen kleinen Briefe Der Münchner Prozess gegen John Dem- doch, etwas nach Treblinka mitzubringen.« (S. 130 f.) Nicht um- ihres Vaters, überaus emphatisch auf die Tochter Lieneke einge- janjuk hat die erfreuliche Folge, dass die sonst überschrieb , der letzte Kommandant des Todesla- hend, von ganz besonderer stabilisierender Bedeutung. Sie knüpften Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« ein wenig ins Bewusst- gers, eine Seite seines Fotoalbums mit »Schöne Zeiten«. Der Mord mit ihren Geschichten an Erinnerungen an das frühere gemein- sein der interessierten Öffentlichkeit treten. Obgleich es (neben sehr an den Juden war den meisten SS-Angehörigen nicht nur eine be- same Leben in Utrecht an, ihre Freude an Tieren, lobten ihre guten frühen, gegen Einzelpersonen durchgeführten Verfahren) Mitte der reitwillig erbrachte Pfl icht, er war auch ein einträgliches Geschäft Leistungen in der Schule, gratulierten zum Geburtstag, scherzten, 1960er Jahre von den Medien durchaus wahrgenommene Sammel- für sie und ein bequemes Leben fern der Front obendrein. reimten, aber überbrachten auch Informationen über die Mutter verfahren gegen SS-Personal der Todeslager Treblinka, Sobibór und Rajchman nennt die deutschen Mörder zumeist mit Vornamen und andere vertraute Personen. Diese kleinen Briefe konnte Liene- Bełżec gegeben hat, dominiert im historischen Gedächtnis der Deut- oder mit ihren, von den Häftlingen ersonnenen Spitznamen. Viele ke jeweils nur wenige Stunden bei sich haben, bevor sie sie ihrem

76 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 77 Pfl egevater zur Beseitigung übergeben musste. Die Antwortbriefe herbringen wollen, können auf geeignete Bücher wie beispielswei- Endlich erforscht und gepfl egt die Dokumentation vor allem für Spezialisten, für Judaisten und Bi- Lienekes an ihren Vater sind leider nicht erhalten. se die autobiografi sche Geschichte von Inge Auerbacher, Ich bin ein bliothekare, von Interesse. Die reiche Gemeindegeschichte und die Nach der Befreiung konnte Lieneke 1945 wieder mit dem Va- Stern, zurückgreifen.2 führenden Persönlichkeiten lassen sich mittels vorhandener Buch- ter und auch den Geschwistern zusammen sein, ihre Mutter war hin- Mehr über die Geschichte von Lieneke und ihrem Leben unter bestände darstellen; die schmerzlichen Lücken werden aufgezeigt. gegen kurz vor Kriegsende an ihrer schweren Krankheit gestorben. der deutschen Besatzung ist zu erfahren in dem biografi schen Ro- Andreas Lehnardt Auch die zwangsweise Zusammenführung der Gemeinden nach Lieneke erhielt auch die Briefe wieder, da die sie beherbergende man der israelischen Autorin Tami Shem-Tov, Das Mädchen mit Die Jüdische Bibliothek an der Johannes 1933 und ihrer Einrichtungen kann man an den Büchersignaturen Familie es doch nicht übers Herz gebracht hatte, sie zu vernich- den drei Namen. Dieses Buch entstand auf Anregung eines Verlags Gutenberg-Universität Mainz 1938–2008. ablesen. Nun stellt der Autor auch dar, wie es zur »Rettung« der Bü- ten, sondern in ihrem Garten vergraben hatte. Lieneke emigrierte auf der Basis der Erinnerungen von Nili Goren/Lieneke, mit der ge- Eine Dokumentation cher kam. Der Mainzer Verein für Sozialgeschichte und andere hat- nach dem Krieg nach Israel, sie hieß nun Nili Goren. Dort überg- meinsam die Autorin Personen und Plätze ihres Lebens in den be- Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2009, ten immer wieder einmal einzelne Aspekte angesprochen, aber erst- ab sie die Briefe später an das 1995 gegründete Kindermuseum Yad setzten Niederlanden aufsuchte. Das Buch ist den beiden Ehepaaren 260 S., Abb., € 40,– mals erfährt man dies im Zusammenhang. LaYeled zur Geschichte der Kinder im Holocaust (für Besucher ab gewidmet, bei denen Lieneke damals leben konnte. Der Erlass des Reichsstatthalters in Hessen vom 6. September 12 Jahren). In den Roman eingebettet fi nden sich die Seiten der neun Brief- Vom jüdischen Mainz mit seiner tausend- 1938 hatte allen Bibliotheken vorgeschrieben, die Bestände der jü- Eine französische Besucherin, die Schriftstellerin Agnès heftchen des Vaters als Reprint in Originalgröße mit begleitenden jährigen Geschichte und seinen bedeu- dischen Gemeinden zu erfassen. In Mainz hat sich ein Briefwechsel Desarthe, sah dort die Heftchen für Lieneke und beschloss, sie der deutschen Übersetzungen. Hier ist die Reihenfolge der Entstehung tenden Rabbinern im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen der Stadtbibliothek und der Geheimen Staatspolizei erhal- französischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, was 2007 ge- der Briefe berücksichtigt. Langsam und ruhig wird hier erzählt. Ein ist außer dem alten und dem neuen Friedhof nichts erhalten. Die Sy- ten. »Da die Stadtbibliothek Mainz im September 1938 neben 900 ei- schah. Nun liegen sie in deutscher Lizenzausgabe als Lienekes Hefte Gespräch mit Nili Goren/Lieneke über die Zeit nach der Befreiung nagogengebäude der Hauptgemeinde und der orthodoxen Gemeinde genen Judaica eine Teilabschrift des Zettelkatalogs der Bücherei der vor. Agnès Desarthe verfasste in der Ich-Form als Lienecke einen lässt nun auch einmal die Gerettete direkt zu Worte kommen. Ganz wurden zerstört, ebenso das Museum für Jüdisches Altertum, später jüdischen Gemeinde besaß, waren die Behörden über den jüdischen vorgeblich kindlich gehaltenen Text aus der erwachsenen Rückschau hinten im Buch fi nden sich zahlreiche Fotos aus dem Familienal- Bezirksschule. Dass aber ein großer Teil der Bücher aus beiden Ge- Buchbestand informiert. Aus einem Schreiben vom 14. August ohne deutliche historische Kontextualisierung und zeitliche Zuord- bum von Lieneke. Eine ergänzende historische Kontextualisierung meinden die NS-Zeit überstanden hat, ist nicht allgemein bekannt. 1939 wird dann der weitere Werdegang deutlich: Ein großer Teil des nung. Als »wunderbares Dokument der Vaterliebe« (Klappentext) des Untertauchens in den besetzten Niederlanden hätte dem Buch Sie befi nden sich seit 1946 in der »Obhut« der Universität. Dort Bestandes der Bibliothek der jüdischen Gemeinde wurde im No- wurden die neun kleinen Briefheftchen – etwas vergrößert und in gutgetan: Schätzungsweise 27.000 der in den Niederlanden leben- wurde 1945 eine Evangelisch-Theologische Fakultät neu gegrün- vember 1938 und versprengte Teile wurden nachträglich im Laufe des der Seiteneinteilung verändert – aus dem Niederländischen über- den oder dorthin gefl üchteten Juden tauchten nach dem Beginn der det, die auch ein Seminar für die Wissenschaft des Judentums er- Juli 1939 bei den Abbrucharbeiten mit Hilfe der Geheimen Staatspo- setzt und in Anlehnung an das Original gestaltet und in einem Schu- Massendeportationen ab Sommer 1942 unter. Ein Drittel von ihnen hielt. Der Büchermangel der Universität in der Nachkriegszeit und lizei aus den Trümmern der Synagoge gerettet und in die Stadtbibli- berkästchen präsentiert. Das zehnte Heftchen ist die Geschichte der wurde allerdings verraten. Auch bei diesem biografi schen Roman großer Platzmangel der wiedergegründeten Jüdischen Gemeinde, othek gebracht. Die Bestände waren zu diesem Zeitpunkt bereits stark Hefte. An einen imaginierten kindlichen Leser gerichtet, schreibt erscheint die Altersempfehlung der Kinderbuchreihe Schatzinsel des die 1945 in provisorischen Räumen mit Behelfssynagoge unterge- beschädigt. Eine Auswertung des Bestandes konnte allerdings wegen die vorgebliche Lieneke: »›Aber‹, so fragt ihr euch jetzt verzwei- S. Fischer-Verlags von zehn Jahren wegen der narrativen Struktur bracht war, führten offenbar zu dieser Lösung. Auch nach dem Um- Personalmangels nicht weiter verfolgt werden, und ein Teil der Ein- felt, ›wie kommt es dann, dass die Hefte noch da sind … ?‹ … mei- und der schwachen historischen Einbettung nicht angemessen, da zug 1952 in das neue Gemeindezentrum hatte die jüdische Gemein- zelblattreste wurde aus Gründen des Luftschutzes und Platzmangels ne Hefte, die ihr jetzt in Händen haltet.« ein Kind im Mittelpunkt eines Buches nicht allein schon ausreicht, de (bis heute) keinen Platz für etwaige Buchbestände. 1955 wurde makuliert, ebenso neuere Rechnungsarchivalien der jüdischen Gemein- Unverständlich ist, warum dem zuletzt verfassten Brief des um das Werk als Lektüre für Kinder zu einem so sensiblen und be- ein offi zieller Leihvertrag mit der Universität abgeschlossen. Erst de. Ende Juli 1939 fanden sich nochmals etwa 30 Zentner alter jü- Vaters die Nummer 1 zugeordnet wurde. Hier bezieht sich der deutenden historischen Thema zu empfehlen. Ende der 1980er Jahre begann die Aufarbeitung der NS-Zeit für Bi- discher Schriften, die zunächst wiederum in der Stadtbibliothek Auf- Vater auf die bevorstehende Befreiung der besetzten Niederlan- Die Geschichte von Lieneke und den Briefheftchen ihres Va- bliotheken sich in Tagungen und Schriften1 niederzuschlagen. Zwei nahme fanden.«3 de. Überaus problematisch und falsch erscheint die Empfehlung ters ist eine durchaus berührende Geschichte – allerdings nicht für wichtige Bestände jüdischer Gemeindebibliotheken, Hamburg2 und Lehnardt macht auch deutlich, dass die beteiligten Personen, vor des Verlags für Leser ab sieben Jahren. Das niedliche Puppenstu- Kinder. Wien, haben sich zum großen Teil erhalten. allem Richard Dertsch, Direktor der Stadtbibliothek, wohl keine eif- benformat der Briefheftchen im Schmuckkästchen und auch das Mit der Berufung eines jungen Professors 2006 begann erst- rigen Nazis waren. Das Verhandlungsgeschick des letzten Rabbiners Sa- kindliche Alter von zehn beziehungsweise elf Jahren der Empfän- Monica Kingreen mals die wissenschaftliche Aufarbeitung und konservatorische li Levi4 trug vermutlich ebenfalls dazu bei, dass die noch vorhandenen gerin verweisen nicht automatisch auf die Eignung dieser Lektü- Fritz Bauer Institut Bearbeitung des Bücherschatzes in Mainz; dazu gehört auch die Bücher an den sicheren Ort gelangten. Sie überstanden weitgehend re für Kinder. Erforschung seiner NS-Geschichte. Eine Reihe von Aufsätzen und die Zerstörung von Mainz durch die Bombardierungen. Andererseits So verwundert es nicht, wenn darauf basierend Empfehlungen Vorträgen hat Andreas Lehnardt inzwischen vorgelegt, nun fasste zeigt der Umgang mit den Büchern in den folgenden Jahrzehnten, wie erwachsen wie beispielsweise die der Vorsitzenden der GEW-Ar- er 2009 die bisherigen Ergebnisse zusammen. In weiten Teilen ist wenig genuines Interesse vorhanden war, den Bestand zu bewahren. beitsgemeinschaft Jugendliteratur Medien in Hessen in einer Re- zension für Kinder sogar bereits ab drei Jahren (!). Für sie sind »die Dorothee Lottmann-Kaeseler Hefte ein geeignetes Mittel, um Kindern die Geschichte der Juden- Wiesbaden verfolgung altersgerecht nahezubringen«.1 Genau das Gegenteil ist 1 Z. B. Dov Schidorsky, »Das Schicksal jüdischer Bibliotheken im Dritten Reich«, 2 Inge Auerbacher, Ich bin ein Stern, Weinheim 2008. Siehe auch allgemein: Moni- in: Peter Vodosek, Manfred Komorowski (Hrsg.), Bibliotheken während des Natio- aber der Fall. Eltern und Lehrer, die ihren Kindern und Schülern (ab ca Kingreen, »Aspekte für Gespräche mit Grundschulkindern zum Holocaust – nalsozialismus, Wiesbaden 1992; Evelyn Adunka, Der Raub der Bücher. Über Ver- der 4. Klasse) das Thema Nationalsozialismus und Holocaust nä- einem nicht einfachen Thema«, in: Magazin 02/2010 Lernen aus der Geschichte, schwinden und Vernichten von Bibliotheken in der NS-Zeit und ihre Restitution nach http://lernen-aus-der-geschichte.de/drupal/Lernen-und-Lehren/content/7746/20. 1945, Wien 2002; Stefan Alker u.a. (Hrsg.), Bibliotheken in der NS-Zeit. Proveni- Siehe ebenso: »Nationalsozialismus – ein Thema für zeitgeschichtliches und mo- enzforschung und Bibliotheksgeschichte, Göttingen 2008. 3 Andreas Lehnardt, »Die Mainzer Jüdische Bibliothek«, in: Die Mainzer Synago- ralisches Lernen in der Grundschule?«, Thema des Magazins 02/2010 Lernen aus 2 Alice Jankowski, »Die Konfi szierung und Restitution der Bibliothek der Jüdischen gen, hrsg. von Hedwig Brüchert, Mainz 2008, S. 163–177, hier S. 164. 1 Hannelore Verloh, »Zärtliche Briefe aus einer dunklen Zeit« (Rezension), www. der Geschichte, http://lernen-aus-der-geschichte.de/drupal/Lernen-und-Lehren/ Gemeinde Hamburg: Vom Dritten Reich zum Kalten Krieg«, in: Zeitschrift für Bi- 4 Sali Levi (geb. 1883) trat 1919 die Nachfolge von Siegmund Salfeld an, blieb bis julim-journal.de. Magazin/7740. bliothekswissenschaft und Bibliographie, Sonderheft 88 (2006), S. 213–225. Anfang 1941 in Mainz, starb in Berlin im April 1941.

78 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 79 Rechter Alltag vor der eigenen Tür extrem rechten Strukturen im Rhein-Main-Gebiet umfassend offen- Abstumpfung / Eifer der Ärzte, insbesondere in Auschwitz, wird jedoch mit Ausdrücken zulegen, sondern veranschaulicht exemplarisch deren Beschaffen- beschrieben wie: dem System ausgeliefert sein, verwickelt werden, heit. Die einzelnen Gruppen und Personen werden durch ihre Ver- immer weitere Kompromisse eingehen. So heißt es etwa, die »vo- bindungen zu anderen Gruppierungen als auch durch Reaktionen von rausgegangene Einbeziehung in die Nazi-Medizin« habe den im Argumente. Netzwerk antirassistischer Behörden, sozialem Umfeld und Presse kontextualisiert. Ergebnis ist Hannes Karnick, Wolfgang Richter: Vernichtungslager eintreffenden Arzt »abgestumpft«, zuvor sei er Bildung e.V. (Hrsg.) ein vielschichtiges Bild von extrem rechten Erscheinungen auf lo- WENN ÄRZTE TÖTEN schon den Zwangssterilisationen und dem unmittelbaren medizi- Dunkelfeld. Recherchen in extrem rechten kaler und kommunaler Ebene (für einen Überblick über szeneinter- ÜBER WAHN UND ETHIK IN DER MEDIZIN nischen Töten von Kranken und Behinderten »begegnet« (S. 528). Lebenswelten rund um Rhein-Main ne Erkennungszeichen verweist die Broschüre auf die bekannte Pu- Film, D 2009, 86 Min. Hier wird nicht zuletzt das medizinische Personal der »Euthanasie«- Berlin: Eigenverlag, 2010, 144 S., € 6,– blikation Das Versteckspiel1). Dies macht sie auch für ein Publikum R.: Hannes Karnick und Wolfgang Richter Mordanstalten beschrieben, das ab 1942 in die Lager der »Aktion Bezug: www.argumente-netzwerk.de interessant, welches sich jenseits des lokalen Bezugs einen Einblick DVD, ab Sommer 2010, € 19,90 Reinhardt« ging und dem das Projekt der Vernichtung keineswegs in die Vielgestaltigkeit rechter Lebenswelten verschaffen möchte. nur begegnet ist – die SS-Ärzte haben es gewollt und vorangetrie- Eine aktuelle Broschüre dokumentiert die Die Redaktion ist sich einig, dass Bündnisarbeit unabdingbar Im Dezember 2009 kam mit WENN ÄRZTE ben. Vollends deutlich wird das Problem in Formulierungen wie die- Recherchen antifaschistischer und antiras- ist, um dem Dunkelfeld langfristig etwas entgegenzusetzen. Chris- TÖTEN ein Dokumentarfi lm in die Kinos, der ser: »Die Alternative [zur Anpassung an Extremsituationen, d. Verf.] sistischer Initiativen, die Licht in das »Dunkelfeld« extrem rech- tiane Ritter rät zur Refl exion auf eigenes zivilgesellschaftliches sich im Wesentlichen darauf konzentriert, den Psychiater und Au- ist der totale Zusammenbruch des Selbst. Diese Erfahrung machte ter Lebenswelten im Rhein-Main-Gebiet bringen. Die gut recher- Engagement und warnt davor, die Zivilgesellschaft für mangelnde tor Robert Jay Lifton in Szene zu setzen. Der Film verzichtet auf ei- der einzelne Nazi-Arzt unter den harten Bedingungen seiner Einge- chierten Reportagen bieten über Orte, Personen, Gruppen und Entschiedenheit in der Kommunalpolitik haftbar zu machen. Nicht nen Kommentar und auch auf historisches Filmmaterial. Die langen wöhnungsphase in Auschwitz. In dieser Zeit war er sowohl Todes- Milieus Einstiege in das Thema. Kritische Überlegungen zum Ex- selten, da sind sich Ball und Ritter einig, würden Vertreter/innen von Einstellungen, das Zeigen des Sets gegen Ende und der Telefonan- ängsten als auch der Angst vor Todesäquivalenten – wie Selbstzer- tremismusbegriff, dem Verhältnis von zivilgesellschaftlichem Enga- staatlicher Seite die Deutungs- und Handlungshoheit im Kampf ge- ruf, der das Gespräch mit dem Protagonisten unterbricht, markieren fall, Isolierung und Erstarrung – ausgesetzt. Er brauchte ein funkti- gement zu staatlichem Handeln sowie zur Defi nition extrem rechter gen rechts beanspruchen und antifaschistisches Engagement im Re- seine Distanz zum TV-geprägten Mainstream des Genres. onierendes Auschwitz-Selbst, um dieser Ängste Herr zu werden.« Lebenswelten sind den Reportagen vorangestellt. Zum Ende werden kurs auf ihren Extremismusbegriff delegitimieren – auch wenn sie Lifton führte in den frühen 1980er Jahren zahlreiche Gespräche (S. 497) Damit ist zu Entscheidungsfreiheit und Verantwortung fast Erfahrungen im Umgang mit Aktivitäten der extremen Rechten und innerhalb der geforderten Zivilgesellschaft agieren. mit KZ-Überlebenden, vor allem aber mit NS-Ärzten. Im Film wie alles gesagt. Die Sache wird nicht mehr gerettet, indem man be- Handlungsstrategien für verschiedene Ebenen (Parlamente, Aufmär- Die Erfahrungsberichte zeigen, dass die wirksamsten Strategien auch in seinem 1986 erschienenen Buch (dt.: Robert Jay Lifton, tont, die Ärzte hätten die Anpassung innerlich gewollt, um den Lei- sche, Jugendcliquen, Sozialarbeit) beschrieben. diejenigen waren, die sich in konsequenter Ausgrenzung gegenüber Ärzte im Dritten Reich. Aus d. Amerikan. v. Annegrete Lösch. Stutt- densdruck abzuschwächen. Von nun an erscheinen sie als Spielball Das Dunkelfeld beschreiben die Herausgeberinnen als Ergän- jeglichen Formen rechten Auftretens üben. Rechte Vertreter/innen gart: Klett-Cotta, 1988) geht er der Frage nach, was die Ärzte da- einer höheren Macht, und Liftons in Film und Buch vorgebrachte zung zum behördlich erfassten »Hellfeld«: Neben dem »›klassischen‹ zum Beispiel in Podiumsdiskussionen zu integrieren »förder[t] To- zu gebracht hat, die zahlreichen Medizinverbrechen zu begehen. Beteuerung, sie seien voll verantwortlich für ihr Handeln, verfängt organisierten Spektrum der extremen Rechten« thematisieren sie leranzen, senk[t] Tabuschwellen und stärk[t] die Position der Rech- Liftons Film-Erzählung ist gegliedert durch Einstellungen auf nicht mehr. Jeder weiß, dass Handlungen motiviert sind, Verhalten »den vorpolitischen Raum« (Klappentext). Dieses Feld – obwohl ten« (S. 125). die Küstenlandschaft am Drehort, dramaturgisch bewegt sie sich auf aber verursacht wird, und nur für Ersteres – das intentionale Han- rege genutzt – gerät notwendig aus dem Blick der Behörden, wenn Zu kritisieren bleibt, dass die Broschüre selbst einen Bereich ex- Auschwitz zu. Mit Bezug auf Auschwitz wird – in Film und Buch deln – wird man in der Regel zur Rechenschaft gezogen, nicht aber diese sich auf zu enge Kriterien beziehen. Simone Ball stellt di- trem rechter Lebenswelten im Dunkeln lässt. In der Defi nition jener – eine These über das Funktionieren der NS-Ärzte formuliert. Der für ein Verhalten, zu dem man durch übermächtige Bedingungen es überzeugend an der Verwendung des Extremismusbegriffs dar: Welten heißt es zwar, dass es sich um »kein ausschließliches Phäno- Schlüssel zum Verständnis liege im psychologischen Prinzip der getrieben wurde. Wird die Rechte »nur an den Handlungen bzw. an der Strafbarkeit men herkunftsdeutscher Personen und Cliquen« (S. 9) handele, son- »Dopplung«, einem Mechanismus der sich von dem psychoanaly- Durch welche Gespräche sich Lifton diese Lesart angeeig- der Handlungen gemessen, [bleiben] die zugrunde liegenden Ein- dern dass es auch »in migrantischen Milieus verbreitet« (ebd.) sei. tischen Konzept der Dissoziation unterscheide und auch nicht mit net hat, wird man allenfalls anhand seines (bis auf Weiteres aber stellungen ausgeklammert« (S. 9 f). Ball betont die Notwendigkeit, Dieses Thema wird leider nicht weiter ausgeführt, obwohl es gera- der Diagnose Schizophrenie zusammenfalle. »Mit Hilfe der Dopp- nicht zugänglichen) Interview-Materials rekonstruieren können, der auf Ideologieelemente und vertretene Überzeugungen zu schauen. de in einer Region mit einem hohen Anteil nichtdeutscher Einwoh- lung konnte sich ein Nazi-Arzt nicht nur das Töten – oder das Bei- Film interessiert sich für all das nicht. Wer den fi lmischen Purismus Dies ist Ansatz der vorliegenden Untersuchungen, in denen »eine ner/innen von Bedeutung wäre, zum Beispiel die nationalistischen tragen dazu – erleichtern. Dasselbe Prinzip half ihm zugleich beim akzeptiert und sich von Liftons interessanten Berichten und bedacht- Verschmelzung rechter und extrem rechter Lebenswelten mit der türkischen Grauen Wölfe ins Blickfeld zu nehmen. heimlichen Aufbau einer kompletten Selbststruktur, die letztlich al- samen Darstellungen einnehmen lässt, wird kaum dafür empfäng- ›normalen‹ Alltagskultur« (S. 3) in den Blick genommen wird. Die sachliche, unpolemische Argumentation, ein sorgfältiges le Aspekte seines Verhaltens umfasste und dem Projekt Auschwitz lich werden. Der Regisseur Wolfgang Richter entgegnete im Film- Zentral ist der Begriff der »Lebenswelt«, die Jugendlichen und Lektorat und die sinnvoll ausgewählte Bebilderung heben diese zugutekam.« (Lifton, Ärzte, S. 491) Lifton geht grundsätzlich gespräch in Frankfurt am Main, er habe es nicht als seine Aufgabe jungen Erwachsenen einen Erfahrungsraum bietet, in dem rechte Broschüre hervor. Ein Register und thematisch zugeordnete Litera- davon aus, dass die NS-Ärzte psychischer Entlastungsstrukturen angesehen, Lifton mit dem Fortgang der historischen Forschung zu Überzeugungen nicht konsistent oder in Parteistrukturen organisiert turtipps machen sie für die politische Bildungsarbeit, den pädago- bedurften. Er erwägt nicht, ob die Rationalisierungen der rasse- konfrontieren. Es geht aber weniger um neue Forschungen als um sein müssen: So begreifen sich einige selbst als apolitisch, verfügen gischen Kontext und die eigene Sensibilisierung empfehlenswert. biologischen Weltanschauung und ihre Fundierung in Eugenik, den schon zum Zeitpunkt der Erstausgabe von Liftons Buch pro- über kein gefestigtes rechtes Weltbild und tragen doch zur Norma- Krankheitslehre und Euthanasie-Debatte (all das referiert er) ihnen blematischen Mystizismus des bösen Orts, der im Verbund mit der lisierung von extrem rechten Ideen bei, indem sie das »Zusammen- Sarah Dellmann, Maria Klein, Jérôme Seeburger vielleicht hinreichend gute Gründe an die Hand gaben und somit psychologischen Deutungsfi gur die Medizinverbrecher doch wieder spiel von vorhandenen Fragmenten rechter Ideologien« (S. 8) als Offenbach am Main hinreichend stabile Täter erzeugten. Stattdessen betont er die sy- den Alltagsverhältnissen entrückt und Auschwitz zum Täter macht. Teil des Alltags akzeptieren. Entsprechend vielfältig ist das, was die stemische Macht des Ortes: Die Institution Auschwitz sei so über- Schlaglichter der Reportagen beleuchten: von Dorfnazitreffen auf mächtig gewesen, dass das Milieu des Lagers den einzelnen Arzt Christoph Schneider Grillplätzen über die Verstrickungen mit Rocker- und Türstehersze- weitgehend bestimmt habe. Frankfurt am Main 1 Agentur für soziale Perspektiven e.V., Berlin (Hrsg.), Das Versteckspiel. Lifestyle, nen bis hin zu Elterninitiativen, Studentenverbindungen und Inter- Symbole und Codes von neonazistischen und extrem rechten Gruppen, Hamburg Einerseits sieht Lifton die Medizin in Bezug auf die NS-Ver- netplattformen. Dabei erhebt die Broschüre nicht den Anspruch, die 2009 (11. Aufl .). Zu bestellen unter: www.dasversteckspiel.de. nichtungspolitik in einer zentralen Rolle, die persönliche Situation

80 Rezensionen Einsicht 03 Frühjahr 2010 81 » In diesem Buch erzählt ein Davongekommener von einem Wunder,

Täterarbeit tion provoziert der Film den Zusammenbruch des dichotomen Mo- Peter Härtling dells der Fremd-/Selbsttötung. Die Anstrengungen der Gruppe, ohne sich zu wundern.« mit Fragen, eingespielten Bildern und Tönen sowie dem modell- haften Nachstellen von Szenen, Klarheit zu bekommen, erscheinen Thomas Harlan als Kopie juridischer Wahrheitsfi ndungsprozesse, mit denen sie das WUNDKANAL Scheitern ebenso teilen wie die Perpetuierung weiterer Gewalthand- Doppel-DVD, 257 Min., mit: lungen. Mit seinen visuellen und auditiven Mitteln (Kamera: Hen- WUNDKANAL, D/F 1984, R.: Thomas Harlan ri Alekan), dem Wechsel der Bildebenen betreibt WUNDKANAL letzt- NOTRE NAZI, F/D 1984, R.: Robert Kramer lich eine Art Dekonstruktion. München: Edition fi lmmuseum, Über die Rolle Filberts im Film ist der Zuschauer immer wie- DVD Nr. 49, 2009, € 29,90 der im Unklaren. Er wird sowohl nach Ereignissen gefragt, die den empirischen NS-Verbrecher meinen, er wird aber auch in Spiel- Alfred Filbert wurde von Thomas Harlan handlungen verwickelt, die der Fiktion folgen. Darüber hinaus ist betrogen. Unter Vorspiegelung der Tatsache, er bestrebt, seine postnazistische Identität zu verteidigen, er nutzt es solle ein Film über ihn, Filbert, gedreht werden, und der Zahlung gleichsam das gebotene Spielfeld, um eine historisierende Distanz eines nicht geringen Geldbetrags wurde er Anfang der 1980er Jah- zu seinem früheren Handeln zu festigen. Als Zuschauer ist man re animiert, an einem Filmprojekt teilzunehmen, das ganz andere ständig genötigt zu kontrollieren, auf welcher Ebene, vor welchem Interessen verfolgte. Filbert war 1941 Kommandeur des Einsatz- Hintergrund Dialogfetzen, Zitate und Szenen ihre Bedeutung ent- kommandos 9 der Einsatzgruppe B, tätig in Litauen und Weißruss- falten. Diese Anstrengung macht WUNDKANAL – obwohl es ein ru- land – ein Massenmörder und Kriegsverbrecher, 1962 wurde er vom higer, manchmal langsamer Film ist – zur Herausforderung. Nicht Landgericht Berlin zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und war alle konnten sich damit anfreunden. Die Irritationen und Unsicher- Foto: Manfred Schad mehrere Jahre in Haft. heiten, gepaart mit Fragen nach der Art des Sterbens in Stammheim, Der Film WUNDKANAL – uraufgeführt bei den Filmfestspielen in haben eine Rezeption befördert, in der der zweite Film – Kramers Venedig 1984 – arbeitet mit der Fiktion, eine neue Generation der NOTRE NAZI – als Aufl ösung des ersten gelesen wurde. Im Ver- Roten Armee Fraktion (RAF) entführe einen Nazikriegsverbrecher, bund mit einer gegenüber Harlan im Hinblick auf seinen Vater Veit um ihn über seine Verbrechen und den Einfl uss von ehemaligen NS- häufi g eingenommenen psychologisierenden Perspektive wurde Beamten im bundesdeutschen Sicherheitsapparat zu befragen. Die- WUNDKANAL von vielen als Privatobsession abgetan. se heute seltsam anmutende thematische Überschneidung bildet zwei Kramers Film ist weniger subtil-verrätselt und handlungs- bedeutende Lebensthemen Thomas Harlans ab: Bereits Anfang der reicher, er zeigt das Filmteam am Set von WUNDKANAL interagie- 1960er Jahre hat er mit enormem Einsatz in polnischen Archiven die rend mit Filbert, dem Schauspieler, dem Massenmörder. Zwar sieht unter den Tisch gefallenen Vorgeschichten bundesdeutscher Indus- man Formen des manipulativen Umgangs mit ihm, zugleich aber trie-, Polizei- und Verwaltungskarrieren recherchiert. Nicht minder wird deutlich, dass alle, die sich auf ihn einlassen, mit seiner Leut- zornig war er in den 70er Jahren Teil von antiimperialistischen Befrei- seligkeit und der von ihm forcierten Unterstellung einer geteilten Zi-

ungskämpfen etwa in Italien, Vietnam oder Chile. Parallel zu WUND- vilität konfrontiert sind. Verschärft wird die Situation dadurch, dass ing.de KANAL und von Harlan gewollt, drehte Robert Kramer einen Film auf viele im Team kein Deutsch sprechen und Filberts Reden oft nur ru- Video, der die Verhältnisse am Set zum Gegenstand hat: NOTRE NAZI. dimentär oder zeitversetzt verstehen. Letztlich bricht diese Konstel- Die beiden Filme müssen zusammen gesehen werden, und so sind sie, lation auf: Filbert wird am Ende – auch ein Dokumentarfi lm hat ei- nachdem sie lange verschollen waren, nun auch auf DVD erschienen. ne Dramaturgie – in einer minderen Form körperlich angegangen. Harlan lockte Filbert in eine Situation, über deren Virulenz auch Die beiden Filme bieten zahlreiche unwahrscheinliche Ein- www.schoeffl 21. April bis 9. Mai 2010 der Filmautor allenfalls ungefähre Vorstellungen haben konnte. Dem blicke. Bestürzend ist zu sehen, dass nur mit der fi lmischen Appa- einstigen SS-Obersturmbannführer wiederum verhieß die Welt des ratur als Waffe, viele am Set in die Defensive gerieten. Einem mit Films ein neues Spannungsmoment in einem Leben, dessen Span- den Diskursen der Vergangenheitsbewältigung legierten Filbert zu Weitere Informationen zum nungsmomente nicht mehr ausgestellt werden konnten. Die fi ktive begegnen, ohne die eigenen Gefühle zu verraten, war offenkundig Mit einem Nachwort von Peter Härtling Gruppe von Insurgenten interessiert sich nicht nur für Massener- eine kaum zu bewältigend Aufgabe. Es zeigt, was die Zeitgenossen- und zahlreichen, teils farbigen Abbildungen Buch und den verschiedenen schießungen während des Nationalsozialismus, sondern auch für schaft mit den Filberts tatsächlich bedeutet – jedenfalls solange man 320 Seiten. Gebunden Veranstaltungen finden Sie unter Techniken, die die Liquidierung eines Delinquenten im Gewand nicht bereit ist, den (Kamera-)Blick abzuwenden. € 19,90 des Suizids ermöglichen. Suggeriert wird, dass die evidente perso- ISBN 978-3-89561-485-9 www.frankfurt-liest-ein-buch.de. nelle und institutionelle Kontinuität der Sicherheitsapparate auch die Christoph Schneider Tradierung solcher Techniken beinhaltete. Im Fortgang der Narra- Frankfurt am Main

82 Rezensionen Schöffling & Co. Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main

› Kontaktvermittlung von Zeitzeugen, Hil- Abrufangebote der Konzeption von Gedenkveranstal- festellung bei der Gesprächsvorbereitung und Beratung tungen. › Bereitstellung eigener Unterrichtsmateri- Schwerpunkt National- › Beratungsangebot: »Erinnerung vor Ort« alien und Zeitzeugen-Videos in hessischen Städten und Dörfern › Nutzung der Bibliotheken des Fritz Bau- sozialismus und Holocaust »Erinnerung vor Ort« ermutigt, den indi- er Instituts und des Jüdischen Museums vi duellen Schicksalen der einzelnen aus Schwerpunkte unserer Be- mehr als 200 hessischen Gemeinden ver- Fortbildungsveranstaltungen für Lehr- ratung sind die Planung schleppten Holocaustopfer und den Op- kräfte können auch in den Schulen durch- von schulspezifi schen Curricula zum The- fern der Vertreibung durch die National- geführt werden. Sie finden das breit ge- menkomplex »Nationalsozialismus und sozialisten in hessischen Dörfern und fächerte Angebot auf unserer Website Holocaust«, die Planung von Gedenkstät- Städten konkret nachzugehen. Einzel- www.paedagogisches-zentrum-ffm.de. tenfahrten, die Unterstützung bei der Gestal- personen, Schulklassen, Geschichts- und Das Pädagogische Zentrum ist beim tung von Gedenktagen und die Nutzung von Heimatvereine erhalten praktische Hilfe- Hessischen Institut für Qualitätsentwick- Medien bei der pädagogischen Annäherung stellungen. Weiterhin werden Möglich- lung als Anbieter für Fortbildungs- und an die Geschichte des Holocaust. keiten aufgezeigt, wie noch lebende aus Pädagogisches Zentrum Qualifizierungsmaßnahmen akkreditiert. Folgende Angebote können abgerufen Hessen stammende jüdische Bürger und/ Es ist als Träger der Arbeitnehmerweiter- werden: oder ihre Nachfahren im Ausland erreicht Auschwitz Fritz Bauer Institut in der deutschen Geschichte und Jüdisches Museum Frankfurt bildung nach dem HBUG anerkannt. › Aktuelle Konzepte zur Vermittlung der Ge- werden können. Die Ergebnisse dieses schichte und Wirkung des Holocaust Projekts entfalten ihre öffentlichen und › Jüdisches Leben in Geschichte und Ge- schulischen Auswirkungen im Erinnern Herausgegeben von Joachim Perels Das Pädagogische Zentrum die Wahrnehmung der Vergangenheit. Das genwart und Gedenken vor Ort. Die Kooperati- des Fritz Bauer Instituts und Pädagogische Zentrum hat die Aufgabe, di- › Geschichte und Gegenwart des Antisemi- on mit den vor Ort engagierten Personen Joachim Perels (Hg.) des Jüdischen Museums Frankfurt verbin- ese Themen voneinander abzugrenzen und tismus und Institutionen wird gesucht und un- Auschwitz in der deutschen Geschichte det zwei Themenfelder: jüdische Geschich- so zu helfen, sie genauer kennenzulernen. › Vor- und Nachbereitung von Gedenkstät- terstützt. Schriftenreihe des Fritz Bauer Institutes: Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte te und Gegenwart sowie Geschichte und tenfahrten und Wirkung des Holocaust, Band 25 Nachgeschichte des Holocaust. Sein zen- Das Pädagogische Zentrum ist täglich › Nationalsozialismus als Unterrichtsthe- Kontakt ISBN 978-3-930345-72-4 trales Anliegen ist es, Juden und jüdisches zwischen 10.00 und 16.00 Uhr erreichbar. ma in der Grundschule Monica Kingreen 256 Seiten, 19,80 Euro Leben nicht ausschließlich unter dem Ge- Für längere Beratungsgespräche können › »Konfrontationen« – Pädagogische An- [email protected] Wie konnte das Menschheitsverbrechen Auschwitz Gottfried Kößler entstehen, wie wurde seine Realität durchlitten, worin sichtspunkt der Verfolgung und des Antise- Angebote Termine vereinbart werden. Schulinterne näherungen an Geschichte und Wirkung [email protected] bestanden die Folgen? mitismus zu betrachten. Ein gemeinsames Fortbildungen können ebenfalls individuell des Holocaust Diese Fragen stellen sich die Autoren und Autorinnen des Pädagogischen Zentrums dieses Bandes aus der Perspektive unterschiedlicher pädagogisches Zentrum für jüdische Ge- vereinbart und geplant werden. Die Kosten Dieses pädagogische Konzept des Fritz Wissenschaften. Das ermöglicht eine genauere, kritisch schichte und Gegenwart auf der einen und › Führungen (1–2 Stunden) im Jüdischen für Lehrgänge richten sich nach Gruppen- Bauer Instituts ist für die Vermittlung des folgenreiche Wahrnehmung des Unfassbaren. Geschichte und Nachgeschichte des Holo- Museum, Museum Judengasse oder am größe, Teamer-Anzahl und nach der Entfer- Themas Holocaust in von Migration ge- caust auf der anderen Seite bietet die Chan- Norbert Wollheim Memorial nung von Frankfurt am Main. Für hessische prägten Lerngruppen entwickelt worden. Klaus Ahlheim ce, folgende Themen differenziert zu bear- › Workshops (2–4 Stunden) und Studientage Schulen fi nden Beratungen und schulinter- Einführungsworkshop für Fachkonfe- Erinnern und Aufklären Interventionen zur beiten: (4–6 Stunden) zu den Themenfeldern des ne Fortbildungen kostenfrei statt. renzen oder fachübergreifende Arbeits- historisch-politischen › Deutsch-jüdische Geschichte im europä- Pädagogischen Zentrums. Sie können auf gruppen. Bildung ISBN 978-3-930345-83-0 ischen Kontext das jeweilige Interesse einer Gruppe zuge- Kontakt und Anmeldung für Lehrerfortbildungen Beratung bei der Entwicklung von schul- 156 Seiten, 13,80 Euro › Jüdische Gegenwart schnitten werden. Schwerpunktsetzung und internen Curricula bzw. Konzepten für au- Ahlheim betont die Not- Martin Liepach › Antisemitismus und Rassismus Dauer wird individuell vereinbart. ßerschulische Bildungsträger. wendigkeit des Erinnerns Jüdisches Museum Frankfurt › Holocaust › Beratung bei der Auswahl von Unter- › Nationalsozialismus und Holocaust als und Aufklärens, weil Untermainkai 14/15, 60311 Frankfurt am Main NS-Verbrechen und richtsmaterial, vor Fahrten zu Gedenk- Tel.: 069.212 388 04 Thema für Kinder im Alter von 9–12 Jah- Holocaust noch immer Die deutsch-jüdische und europäisch- stätten, bei der Planung von Unterricht, [email protected] ren die wichtigsten Themen historisch-politischer jüdische Geschichte wird meist vom Ver- bei Recherchen zur Regionalgeschichte Einführung und Beratung zu Kinder- und Gottfried Kößler Bildung sind. brechen des Holocaust aus betrachtet, das und in der Vorbereitung von Projekttagen Fritz Bauer Institut Jugendliteratur zu Nationalsozialismus Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main Bödekerstraße 75 ist gerade in Deutschland nicht anders denk- › Unterstützung bei der Thematisierung von und Holocaust. 30161 Hannover bar. Die Dominanz des Holocaust prägt die Konfl iktfeldern im Bereich des Rechtsex- Tel.: 069.798 322 32 › Spurensuche und Gedenken Tel. 0511 – 807 61 94 [email protected] Fax 0511 – 62 47 30 Annäherung an alle genannten Themen, und tremismus und des Antisemitismus im Un- Beratung bei der Konzeption und Durch- [email protected] www.offizin-verlag.de dieser eingeschränkte Blick verzerrt auch terricht www.paedagogisches-zentrum-ffm.de führung von Spurensuche-Projekten und

84 Pädagogisches Zentrum Einsicht 03 Frühjahr 2010 85 Norbert Wollheim kriegszeit mit den lebensgeschichtlichen VHS-Angebote SCHINDLERS LISTE wird in den E-Kinos Memorial Interviews der Überlebenden zu verbinden. In Zusammenarbeit mit Volkshochschu- an der Hauptwache gezeigt, der Workshop Führungen und Studientage Die Gruppe arbeitet mit Zeitzeugenin- len der Region werden an den nachfolgend fi ndet im nahe gelegenen Oskar und Emi- terviews und Materialien zur Ereignisge- aufgeführten Terminen Exkursionen zum lie Schindler-Lernzentrum (Museum Juden- schichte. Ergebnis ist ein exemplarischer Norbert Wollheim Memorial angeboten. Die gasse, Kurt-Schumacher-Straße 10) statt. Das Norbert Wollheim Me- Überblick zu den Themen Konzernge- Anmeldung für die Kurse erfolgt bei den je- Der Film kam 1993 in die Kinos und wur- morial auf dem Campus schichte im NS, Zwangsarbeit und Ent- weiligen Volkshochschulen. de 1994 mit sieben Oscars ausgezeichnet. Westend der Goethe-Universität Frankfurt, schädigung, der von der Perspektive der › Freitag, 16. und Samstag, 17. April 2010, In dem Workshop werden die Unterschiede dem ehemaligen Verwaltungsgebäude des Überlebenden ausgeht. Die westdeutsche 18.00–20.00 Uhr, VHS Neu-Isenburg, zwischen fi lmischer Umsetzung und histo- IG Farben-Konzerns, ist ein Denkmal für Nachkriegsgesellschaft steht unter den Ge- Kurs-Nr. U1.01.04, Gebühr: € 15,– rischer Überlieferung thematisiert. Für die die Verfolgten, Ermordeten und Überleben- sichtspunkten Justiz, Politik und individu- www.vhs-neu-isenburg.de dramaturgische Verdichtung reduzierte Re- den des KZ Buna/Monowitz am Ort der Tä- elle Schuld im Mittelpunkt. › Mittwoch, 5. Mai 2010, 18.00–20.15 Uhr, gisseur Steven Spielberg in seiner Verfi l- ter. Das Denkmal steht für die Auseinander- Die Studientage gibt es in einer vier- VHS Frankfurt am Main, mung des Romans »Schindlers Liste« von setzung der Überlebenden mit den Tätern, und einer sechsstündigen Variante. Kosten Kurs-Nr. 0701-02, Gebühr: € 6,– Thomas Keneally die Anzahl der im Mittel- für ihren Kampf um Entschädigung als aus- für einen Studientag: € 100,– für Schulklas- www.vhs.frankfurt.de punkt der Handlung stehenden Personen. So gebeutete Zwangs- bzw. Sklavenarbeiter in sen, andere Gruppen auf Anfrage. › Mittwoch, 5. Mai 2010, 19.30–21.00 Uhr, trägt die Kunstfi gur des Isaak Stern sowohl der Bundesrepublik Deutschland. Studientag: 4 Stunden VHS Hochtaunus, Kurs-Nr. A031101, Züge des jungen Mietek Pemper, der als Die Führungen und Studientage richten › Teil 1: Einführung Gebühr: € 10,– Stenograf bei dem KZ-Lagerkommandanten sich ausdrücklich nicht nur an Schulen, son- Geschichte der IG Farben bis 1942 und www.vhs-hochtaunuskreis.de Amon Göth arbeiten musste, als auch des dern auch an Studierende und Erwachsene. Entstehung des Norbert Wollheim Memo- › Freitag, 7. Mai 2010, 17.00–18.45 Uhr, Schindler-Vertrauten Stern. Im Workshop rials VHS Offenbach, Kurs-Nr. R1100FÜ, betrachten die Schülerinnen und Schüler Überblicksführung Die IG Farben in Auschwitz: das KZ Gebühr: € 5,– an verschiedenen Computerterminals Aus- Die Führung geht vom IG Farben-Haus Buna/Monowitz, Situation der Häftlinge www.vhs-offenbach.de züge aus einem Videointerview mit Mietek und seiner architekturhistorischen Bedeu- im Konzentrationslager Pemper und gehen der Frage nach, wie au- tung aus. Sie stellt neben der Konzernge- › Teil 2: Die Nachkriegszeit Kontakt thentisch ein Spielfi lm über ein geschicht- schichte auch die Perspektive der ehema- IG Farben nach 1945, die IG Farben im Sarah Dellmann, Fritz Bauer Institut liches Ereignis sein muss. ligen Zwangsarbeiter vor und zeigt, wie Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, der Tel.: 069.798 322-37, Fax: 069.798 322-41 Die kleine Ausstellung im Oskar und [email protected] beide Perspektiven in der Nachkriegsge- Prozess Norbert Wollheim gegen die IG Emilie Schindler-Lernzentrum mit histo- schichte im Prozess Norbert Wollheim Farben, Kämpfe um Entschädigung, Per- Norbert Wollheim Memorial rischen Fotos, Erinnerungen der Überle- gegen die IG Farben aufeinandertreffen. spektiven der Angestellten der IG Farben Goethe-Universität – Campus Westend benden und einem Faksimile der legendär- Die Führung endet im Pavillon des Nor- und der ehemaligen Häftlinge Gelände vor dem IG Farben-Haus en Namensliste, welche die Geschichte der Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main bert Wollheim Memorials mit Ausschnit- Studientag: 6 Stunden www.wollheim-memorial.de Rettung von über 1.200 jüdischen Zwangs- ten aus Erzählungen von Überlebenden des › Teil 1: Einführender Rundgang arbeitern erzählt, wird ebenfalls in den KZ Buna/Monowitz. Das IG Farben-Haus und das Norbert Workshop integriert. › Dauer: 1,5 bis 2 Stunden Wollheim Memorial inklusive Fotota- › Mindestgröße für Klassen, Kurse und › Kosten für eine Führung (ca. 20 Per- feln im Park, die IG Farben zwischen den Gruppen: 20 Teilnehmer/innen sonen): € 50,– Weltkriegen, Kollaboration mit dem NS › Termine: Dienstag bis Samstag, Filmvor- › Teil 2: Das Verbrechen Schindlers Liste führung 9.00 Uhr Offene Führungen Gemeinsame Interessen? Die Kooperation Film und Workshop › Anmeldefrist: mindestens zwei Wochen Jeweils am 3. Samstag im Monat, 15.00 Uhr, von IG Farben und SS in Auschwitz: das vor dem gewünschten Termin Treffpunkt am Norbert Wollheim-Pavillon, KZ Buna/Monowitz, Situation der Häft- › Dauer: Film (195 Minuten), Workshop Goethe-Universität – Campus Westend linge im Konzentrationslager In Kooperation mit den (ca. 90 bis 120 Minuten) Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main › Teil 3: Die Nachkriegszeit Frankfurter E-Kinos bietet › Kosten: € 9,– je Schüler/in IG Farben nach 1945, die IG Farben im das Pädagogische Zentrum des Fritz Bau- Studientage Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, der er Instituts und des Jüdischen Museums Kontakt Die Studientage greifen die Konzeption des Prozess Norbert Wollheim gegen die IG Frankfurt ein Studientagsangebot für inte- Martin Liepach, Jüdisches Museum Frankfurt Norbert Wollheim Memorials auf, die Er- Farben, Kämpfe um Entschädigung, Per- ressierte Schulen und Gruppen an, das den Tel.: 069.212 38804 [email protected] eignisgeschichte in den drei zeitlichen Ebe- Norbert Wollheim Memorial: 13 Fototafeln im Park vor dem IG Farben-Haus in Frankfurt am Main. spektiven der Angestellten der IG Farben Besuch des Films im Kino und einen an- nen Vorkriegszeit, NS-Geschichte und Nach- Im Vordergrund die Fototafel mit Norbert Wollheim. Foto: Werner Lott und der ehemaligen Häftlinge schließenden Workshop umfasst.

86 Pädagogisches Zentrum Einsicht 03 Frühjahr 2010 87 Veranstaltungen große Synagoge der Israelitischen Religi- Neues aus dem Pädagogischen Zentrum Migration prägt das Gesicht von Frank- Für den Projektverlauf gibt es eine Wir suchen dafür Fotos aus allen hes- onsgesellschaft. Das Ostend hatte früher ei- furt: Alle drei Jahre verändern sich rund Portfoliomappe für die Klassen, in der die sischen Ortschaften, in denen Juden vor der »Fremde im Visier« nen sehr hohen Anteil jüdischer Bevölke- »Stichworte zehn Prozent der Stadtbevölkerung durch SchülerInnen alle Notizen, Pläne, Mit- NS-Zeit ihre Heimat hatten. Fotoalben aus dem Zweiten rung. Die Synagoge wurde 1938 zerstört, zur jüdischen Geschichte« Zu- und Abwanderung. Der tief greifende schriebe, Ergebnisse und Protokolle ver- Bitte stellen Sie uns Scans von Fotos Weltkrieg die jüdischen Bewohner des Stadtteils wur- auf der Website des gesellschaftliche Wandel der letzten vierzig sammeln, um am Ende des Kurses einen mit Hinweis auf das Copyright zur Verfü- den 1942 deportiert und ermordet. Jahre wird vor allem in den Schulen sicht- »Expeditionsbericht« oder ein Journal in gung. Hinweis: Wärmere Kleidung wird we- Pädagogischen Zentrums bar. Mit Unterstützung des Dezernats für der Hand zu halten. Montag, 19. April 2010, Historisches Museum, Saal- gen der geringen Raumtemperatur im Bun- Kultur und Wissenschaft der Stadt Frank- Für die Zusammenstellung der Modu- Kontakt gasse 19, Römerberg, Frankfurt am Main, 14.30 Uhr ker empfohlen. In monatlichen Abständen furt wird im Schuljahr 2010/11 erstmals le gibt es eine Beratung. Für den gesamten Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut Tel.: 069.798 322-31, Fax: -41 wird auf der Website des ein Angebot ausgeschrieben, für das sich Zeitraum des Projekts steht eine Ansprech- [email protected] Siebzig Jahre nach Kriegsbe- Kontakt Pädagogischen Zentrums ein Stichwort zur die Frankfurter Schulen bewerben können. partnerin zur Verfügung. ginn verhandeln die nachfol- Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut jüdischen Geschichte erläutert und erklärt. An dem Projekt können vier Schulklassen Eine formlose Bewerbung sollte bis genden Generationen intensiver denn je die Tel.: 069.798 322-31, Fax: -41 Es geht dabei um zentrale Themen der jü- teilnehmen. 30. Mai 2010 vorliegen, bis 14. Juni erfolgt [email protected] Nachlässe und Erinnerungen aus dem Zwei- dischen Geschichte im europäischen Kon- Beteiligt an dem Projekt sind: Archäo- die Auswahl der angemeldeten Klassen ten Weltkrieg. Wie geht man mit den oft ver- text, die auch häufi g noch von Missverständ- logisches Museum, Historisches Museum, durch die beteiligten Museen und Institute. heimlichten Fotoarchiven ihrer Familien um? nissen oder sogar Vorurteilen belastet sind. Jüdisches Museum, Jugendbegegnungsstät- Neues aus dem Pädagogischen Zentrum Die Ausstellung bietet Lesarten und Sichtwei- Das Stichwort besteht aus einer knapp te Anne Frank, Fritz Bauer Institut und In- Kontakt sen für ein tieferes Verständnis dieser Bildar- gefassten Darstellung in enzyklopädischer stitut für Stadtgeschichte. Die Geschichte Martin Liepach, Jüdisches Museum Frankfurt Tel.: 069.212 38804 Fotos und Infos gesucht chive an. Sie zeigt die Blicke deutscher Sol- Veranstaltungen Form. Auf einer weiteren gemeinsamen Sei- der jüdischen Migration nimmt einen wich- [email protected] Hessische jüdische Kinder daten auf fremde Menschen, Landschaften te für alle Stichworte werden bibliografi sche tigen Teil in dem Angebot ein, das insge- und Kulturdenkmale in den besetzten Län- Schlappekicker Hinweise und Internetlinks gesammelt. samt 14 thematische Module umfasst. Gottfried Kößler, Fritz Bauer Institut und Jugendliche – dern. Dabei werden nicht nur die Motive und Die Reihe wird eröffnet mit dem Stichwort Das Projekt verfolgt mehrere Ziele: ei- Tel.: 069.798 322-32, Fax: -41 Opfer des Holocaust und »Juddebube« [email protected] die Bildästhetik der Fotos untersucht, sondern »Geld, Geldverleiher«, sobald die Seite on- nerseits die durchgehende Bedeutung von auch der Einfl uss der Kriegspropaganda auf Juden im deutschen Fußball line geht. Einwanderungsgruppen für die Entwick- die Amateurfotografi e. Das Historische Mu- lung der Stadt deutlich zu machen, ande- Das Fritz Bauer Institut seum bietet in Zusammenarbeit mit dem Pä- Montag, 7. Juni 2010, Eintracht Frankfurt Museum, www.paedagogisches-zentrum-ffm.de rerseits durch die Faszination der originalen erarbeitet ein pädagogi- dagogischen Zentrum Frankfurt Workshops Mörfelder Landstr. 362, Frankfurt am Main, 14.30 Uhr Überreste auch Quellen und Methoden his- sches Gedenkprojekt für die etwa 3.500 für Schulklassen und andere Gruppen an. torischer Erkenntnis kennenzulernen. Zu- Neues aus dem Pädagogischen Zentrum hessischen jüdischen Kinder und Jugend- Unser Beitrag im Vorfeld dem wird die Attraktivität historischer und lichen, die deportiert und ermordet wurden, Kontakt der Fußballweltmeister- kultureller Einrichtungen als wichtige Orte Alte Fotos gesucht die Verschleppung überlebt haben oder in Gottfried Kößler, Fritz Bauer Institut schaft 2010: Das Eintracht Frankfurt Mu- Neues aus dem Pädagogischen Zentrum der Identitätsfi ndung an Schülerinnen und der Illegalität überleben konnten. Auf einer Tel.: 069.798 322-32, Fax: -41 Vor dem Holocaust – seum und das Jüdische Museum erin- Schüler vermittelt und so das Thema Mi- Homepage werden Biografi en der Kinder [email protected] nern an das Erbe und den Anteil jüdischer »Frankfurt als gration erfahrbar. Jüdisches Alltagsleben in und Jugendlichen (1921 und später gebo- Fußballer, Funktionäre und Klubtrainer Stadt der Einwanderer« Zu den Rahmenbedingungen für die Hessen ren) zu lesen sein. im deutschen Fußball; insbesondere an die Schulklassen für ein Durchführung gehören: Wir suchen dazu Fotos der Kinder und Frankfurter Fußballgeschichte. Eintracht › Das Projekt wird epochal oder über ein Als ein neuer pädagogischer Jugendlichen mit ihren Familien und ande- Frankfurt galt früher als »Judenclub«. Da- Projekt im Schuljahr ganzes Schuljahr durchgeführt. Zugang zur jüdischen Ge- ren Spuren ihres Lebens. Bitte stellen Sie Veranstaltungen her war die Eintracht von der Machtü- 2010/11 gesucht › Jedes der an dem Projekt beteiligten Mu- schichte für Lehrkräfte und Schüler wird im uns Scans von Fotos und Informationen zur bernahme der Nazis stärker betroffen als seen und Institute wird mindestens einmal Fritz Bauer Institut eine Website »Vor dem Verfügung. Ostend andere prominente Fußballvereine. Die Ver- Das Pädagogische Zentrum besucht. Holocaust – Jüdisches Alltagsleben in Hes- Blick in ein jüdisches Viertel anstaltung gibt einen Einblick, wie die NS- entwickelt seit einigen Jah- › Die Mindestzahl der Module beträgt acht. sen« entwickelt. Das Alltagsleben jüdischer Kontakt Machthaber einen traditionell weltoffenen ren zusammen mit anderen historischen In- Bei der Zusammenstellung der Module Menschen in ihren hessischen Heimatorten Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut Tel.: 069.798 322-31, Fax: -41 Donnerstag, 20. Mai 2010, Hochbunker Friedberger Verein unter ihre Kontrolle brachten. stituten und Museen Frankfurts ein Ange- werden die Schulen beraten. »vor dem Holocaust« in der Familie, in der [email protected] Anlage 5/6, Frankfurt am Main, 14.30 Uhr bot für weiterführende Schulen in Frankfurt, Für die beteiligten Schulen fallen keine Schule, in der Nachbarschaft, in Sport- und Kontakt das die Möglichkeit eröffnet, sich projekt- Kosten für die Module in den Museen und anderen Vereinen, im Beruf, im religiösen Martin Liepach, Jüdisches Museum Frankfurt orientiert auf Spuren der Frankfurter Stadt- Instituten an. Von den Schulen wird erwartet, Bereich und auch im öffentlichen Leben Die Ausstellung »Ostend – Tel.: 069.212 38804 Blick in ein jüdisches Vier- [email protected] geschichte zu begeben, und schwerpunkt- dass an dem Thema zwischen den Modul- steht – im Spiegel von Fotos – im Mittel- tel« steht im Mittelpunkt der Veranstaltung. mäßig die Migrationsgeschichte Frankfurts umsetzungen in den Klassen/Kursen inhalt- punkt. Die Fotos der Homepage werden auch In der Friedberger Anlage befand sich die erfahrbar macht. lich und methodisch weitergearbeitet wird. über eine Hessen-Karte zu erschließen sein.

88 Pädagogisches Zentrum Einsicht 03 Frühjahr 2010 89 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation

würfe des Machtbegriffes und zeigte da- bei, wie Arendt in verschiedenen histo- rischen Gegebenheiten sich wandelnde Ausdifferenzierungen von Macht zu ana- lysieren vermochte, die sich seiner Mei- nung nach konzeptionell zwischen den Koordinaten repressiver versus konstituti- ver und akteursbezogener versus system- abhängiger Ausformung bewege. Sei es Arendt in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft um die Darstellung von Formen totalitärer, also repressiver, system- abhängiger Machtausübung gegangen, zeugten zum Beispiel ihre Überlegungen in Vita Activa von einem Konzept kommu- Aus dem Institut nicht nennenswert betrachteten, da sie von nikativer, eben konstitutiver, akteursbezo- gegenseitiger Ablehnung bestimmt gewe- gener Macht. Die beiden anschließenden

Hannah Arendt und sen sei, bis zu denjenigen, die in der Au- Beiträge von Ingeborg Nordmann und Eva- Internationale Tagung die Frankfurter Schule torin der Elemente und Ursprünge totaler Maria Ziege widmeten sich stärker dem »Hannah Arendt und Tagungsbericht Herrschaft (1951) wiederum ganz selbstver- Vergleich der politischen Theorie und Be- die Frankfurter Schule« ständlich »die Politologin der Frankfurter griffl ichkeit von Arendt und Adorno. Beide am 11. Januar 2010 in der Aula der Schule« erkannten. Insofern bot die als ab- bewegten sich im Kontext der Nachkriegs- Goethe-Universität Internationale Tagung, Freitag, 11. Januar 2010, schließender Höhepunkt der vom Jüdischen geschichte und nahmen die Auseinanderset- Frankfurt am Main Goethe-Universität Frankfurt am Main Museum kuratierten Ausstellung zur Frank- zung mit Antisemitismus und Nationalsozi- Foto: Werner Lott Veranstalter: Fritz Bauer Institut in Kooperation mit furter Schule durchgeführte Tagung ein alismus als Ausgangspunkt für die Analy- dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main, unter der Leitung von Prof. Dr. Liliane Weissberg (University hohes Maß an Diskussionspotenzial. Ging se der Gemeinsamkeiten und Unterschiede. of Pennsylvania) es doch, wie Weissberg so treffend formu- Nordmann deutet dabei auf eine Spannung lierte, um die kaum hinreichend zu beant- hin, die sich dadurch ergebe, dass beide wie nah sich die exilierten jüdischen Theo- das Potenzial einer Auseinandersetzung genutzt. »Mit und gegen Marx« könne man Das Verhältnis zwischen wortende Frage, ob Hannah Arendt in die Autoren zwar darin übereinstimmen, den retiker durch die institutionelle Anbindung mit Arendt und Benjamin auf der Folie ih- so die Theorien des Politischen von Arendt Hannah Arendt und den Frankfurter Schule »eingeschult« werden »Traditionsbruch« (Arendt) als eine alle an das American Jewish Committee, das rer Marx-Rezeption und Marx’scher Ka- und Benjamin dahingehend zusammenfüh- Mitgliedern der Frankfurter Schule war zeit- könne oder eben nicht. Maßstäbe des Denkens »auseinanderrei- Jewish Labour Committee und die Con- tegorien für die Justierung gegenwärtiger ren und fruchtbar machen, indem die Ka- lebens von Animositäten und Missverständ- Der Frage sollte in drei verschiedenen ßende« Erfahrung zu erkennen, sie aber ference on Jewish Relations waren, in de- politischer Praxis, beschäftigte sich Lind- tegorien der Freiheit, der Partizipation, der nissen geprägt, obwohl die (stellenweise) Panels aus unterschiedlichen Perspektiven eine gänzlich unterschiedliche Ausdeu- ren Zusammenhang zum Beispiel mehrere ner mit dem Verhältnis von Benjamin und Praxis und der Politisierung als Ausgangs- räumliche und thematische Nähe sowie das nachgegangen werden. Im ersten ging es um tung der daraufhin zu formulierenden po- Sammelbände zum Antisemitismus erschie- Arendt aus einer kulturhistorisch-ideenge- punkte für heutige Fragen nach dem Ver- gemeinsame intellektuelle Umfeld anderes Vergleich und Abgrenzung von Denkfi guren, litischen Konsequenzen und Darstellungs- nen, in denen Arendt, Adorno und Hork- schichtlichen Perspektive. Thiem zeigte, hältnis von Politik und Gesellschaft aufge- hätten vermuten lassen. Dementsprechend Begriffen und theoretischen Prämissen Han- möglichkeiten vornehmen. Habe Adorno heimer vertreten waren. Trotzdem betonte dass insbesondere die Vernachlässigung griffen werden. Lindner wandte sich zum widerstreitend sind auch die gegenwärtigen nah Arendts und Theodor W. Adornos mit in der totalen Herrschaft den Umschlag ei- Ziege, dass sich jenseits aller konstatierten ökonomischer und materieller Fragestel- einen einzelnen Denkfi guren Benjamins Positionen zu diesem Verhältnis. Als die am einem besonderen Fokus auf die Nachkriegs- ner ganzen Gesellschaft in den Extremis- Nähe kein Konsens zwischen Arendts dia- lungen in Arendts politischer Theorie ei- zu, um deren Fortwirken bei Arendt und Fritz Bauer Institut als Gastprofessorin tä- zeit. Im zweiten Panel wurde die Bezugnah- mus erkannt, der keinerlei Möglichkeit des chron, historisch-funktionalistischem und ne große Differenz zur Frankfurter Schule Adorno zu beschreiben. Hier ging es um tige Liliane Weissberg gemeinsam mit dem me auf Person und Werk Walter Benjamins Widerstandes jenseits der Utopie zulasse, Adornos marxistisch-psychoanalytischem ausmache und darüber hinaus verhindere, den Begriff der Geschichte und die Auf- Frankfurter Jüdischen Museum vor einigen diskutiert, der für Adorno wie Arendt eine sei es Arendt möglich gewesen, durch ihre Ansatz herbeiführen lasse. dass Arendt die soziale/ökonomische Ord- fassung von Politik genauso wie um die Monaten zu der Tagung »Hannah Arendt tragende Rolle in der eigenen intellektuellen Vorstellung von Natalität und Erneuerung Die Auseinandersetzung mit Walter nung als Teil der politischen begreifen kön- Bedeutung des Marxismus. Er suchte aber und die Frankfurter Schule« lud, hätten die Entwicklung gespielt hat, und im dritten Pa- als historischer Kontinuität an der Idee der Benjamin führten Annika Thiem und Burk- ne. Benjamin hingegen habe der ökono- gleichzeitig auch den Kontext auszuleuch- Reaktionen deshalb widersprüchlicher nicht nel abschließend die Konzeption und Rolle Freiheit im politischen Handeln festzuhal- hardt Lindner von sehr unterschiedlichen mischen Sphäre in seiner kulturkritischen ten, in dem diese wirkungsgeschichtlichen sein können. So berichtete Liliane Weiss- des Jüdischen in der geistigen Auseinander- ten. Ziege kontextualisierte diese Ausfüh- Perspektiven aus vor. So konnten sie die Analyse, insbesondere über den Begriff des Fragen stattfanden – den Streit zwischen berg in ihrem Einführungsbeitrag von ganz setzung wie den biografi schen Konstellati- rungen durch die Einbettung von Arendts Weite des Spektrums der Berührung, Ein- Warenfetischs, zentrale Bedeutung einge- Arendt und Adorno nämlich, der in Bezug unterschiedlichen Einschätzungen: Sie onen der Protagonisten beleuchtet. und Adornos Thesen in die amerikanischen fl ussnahme und Verlängerung von Benja- räumt und damit auch für seine Wahrneh- auf die Herausgabe der Werke Benjamins reichten von denjenigen, die die Beziehung Hauke Brunkhorst konzentrierte sich Forschungs- und Organisationszusammen- mins Ideen in Arendts und Adornos Denk- mung gesellschaftlicher Realität und sei- entbrannte und deren Verhältnis nachhal- zwischen Arendt und den »Frankfurtern« als in seinem Vortrag auf Hannah Arendts Ent- hänge der 1940er Jahre. Sie konnte zeigen, bewegungen aufzeigen. Betonte Thiem nen Begriff von politischer Partizipation tig prägte.

90 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 91 Monika Boll referierte im letzten Vor- die eine »Einschulung« Arendts gemein- Aus dem Institut trag der Tagung zum Verhältnis von Han- hin verhindern. Ein inhaltlicher Einwand nah Arendt und Max Horkheimer und legte gegen letztgültig formulierbare Ergebnisse Die Strafverfolgung dabei einen besonderen Schwerpunkt auf wäre allerdings, dass der Fokus der Tagung von NS-Verbrechen und die Rolle des Jüdischen in deren Leben auf dem Vergleich von Arendt und Ador- die Öffentlichkeit in und Werk. Auch sie betonte die eigentliche no lag und somit die Erweiterung des Pa- Übereinstimmung der Themenschwer- noramas auf die anderen Mitglieder des Deutschland 1945–1969 punkte beider Intellektuellen nach dem Instituts für Sozialforschung wie Herbert Workshop-Bericht Holocaust, konnte aber gleichzeitig theore- Marcuse, Franz Neumann oder Friedrich tische Prämissen aufzeigen, die sich deut- Pollock sicher noch andere Differenzen wie Ein Workshop des Hannah-Arendt-Instituts für Totali- lich unterschieden und sich zum Beispiel Berührungspunkte verdeutlichen könnte. tarismusforschung e.V. an der TU Dresden in Koope- im jeweiligen Blick auf die jüdische Ge- Die Gräben, die sich zwischen Arendt, ration mit dem Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main, 30. und 31. Oktober 2009 schichte niederschlugen. Hatte Arendt Ju- Adorno und Horkheimer auftaten, hatten, den immer als Akteure beschrieben und ins- wie zum Beispiel der Briefwechsel von besondere deren Streben nach Assimilation Hannah Arendt und Gershom Scholem deut- Tagungen und Publikationen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen ge- lich zeigt, weitaus weniger mit inhaltlichen zur Geschichte der NSG- stellt, hatte Horkheimer vielmehr die Juden Polarisierungen denn persönlichen Querelen Verfahren gab es in den vergangenen Jah- Von links: Katharina als »phantasmatisches Subjekt«, als Form zu tun. So könnte ein Blick auf die weniger ren einige.1 Die öffentliche Diskussion um Rauschenberger, der Zuschreibung durch die Außenwelt ana- aufgeladenen Beziehungen zu den anderen die Prozesse stand hingegen bislang nicht im Jörg Osterloh und lysiert. Parallel dazu zeigte Boll, dass sich Mitgliedern sicher noch mehr darüber ver- Fokus. Der von Jörg Osterloh und Clemens Annette Weinke Foto: Mike Schmeitzner der Stellenwert des Jüdischen im eigenen raten, inwiefern Hannah Arendt, die zwar Vollnhals organisierte Workshop des Hannah- Leben Horkheimers und Arendts durchaus aus der Theorietradition des Liberalismus Arendt-Instituts und des Fritz Bauer Instituts unterschied. Arendt habe sich durch die stammte, deren enge Berührungspunkte mit konzentrierte sich auf diesen Zugang. Die Erfahrung des Holocaust eindeutig dazu der des Marxismus aber auf dieser Tagung Beiträge befassten sich mit den Reaktionen entschieden, politisch für die Juden zu spre- erneut sichtbar wurden, einen spezifi schen auf ausgewählte Strafverfahren sowohl in der Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 nach Normalität breit. Kritische Stimmen der Besatzungsmacht erhoffte Schockthera- chen, erhob Herkunft aber nicht zur Maxi- Beitrag zur Ausformulierung kritischer The- wie auch in der Bundesrepublik und der DDR reichten nun von der Ablehnung vermeint- pie führte vielmehr zur Ablehnung britischer me allen politischen Denkens. Horkheimer orie geleistet hat. zwischen 1949 und 1969. Das Spektrum der lich alliierter Rechtsprechung bis zur zuwei- Rechtsprechung einerseits und zur Verwei- habe dazu eine – und dies wurde vor allem 1 Z.B. »Juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. »Öffentlichkeit« reichte in den Darstellungen len offenen Unterstützung lokaler NS-Täter. gerung jedes Schuldeingeständnisses oder in der Diskussion zum Vortrag unterstrichen Elisabeth Gallas Strafprozessakten als historische Quelle«, von den Reaktionen von Parteien, Gewerk- Erst Mitte der 1950er Jahre erfuhren die Pro- auch nur der Auseinandersetzung mit die- – gespaltene Haltung eingenommen. Einer- Simon-Dubnow-Institut für jüdische 3.–4.7.2007, Tagung in Augsburg; Kerstin Freudi- schaften, Opferverbänden und der Kirchen zesse wieder eine größere Zustimmung. Die ser Frage andererseits. Es war von »alliier- seits habe sich im Alltag seine religiöse Pra- Geschichte und Kultur e.V., Leipzig ger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbre- bis hin zur Berichterstattung in den Medien. Kritik an der allzu reibungslosen Integrati- ter Vergeltungssucht« die Rede und von der chen, Tübingen 2002; Kurt Schrimm, Joachim Rie- xis deutlich verstärkt, andererseits habe er del, »50 Jahre Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Ein Da der Workshop sehr dicht war (siehe ange- on von NS-Verbrechern in die Gesellschaft SS als dem »Sündenbock« der Justiz. den Begriff des Jüdischen und der Religion Erfahrungsbericht über die letzten zweieinhalb hängtes Programm), kann hier nur auf einige nahm nun ebenso zu wie an deren milder Be- Am Beispiel des Nürnberger Flick-Pro- im Allgemeinen häufi g auch als Substitut Jahrzehnte«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschich- ausgewählte Beiträge eingegangen werden. handlung vor Gericht, sofern es überhaupt zu zesses 1947 machte Jörg Osterloh (Frank- für seine politischen Perspektiven verwandt te, 56 (2008), S. 525–555; Helge Grabitz, Täter und Edith Raim und Andreas Eichmül- einer Anklage kam. An diesen Debatten wa- furt am Main) deutlich, in welchem Maß Gehilfen des Endlösungswahns. Hamburger Verfah- und in unterschiedlichen Kontexten mit un- ren wegen NS-Gewaltverbrechen 1946–1996, Ham- ler (beide München) machten in ihren ein- ren die Opferverbände in Westdeutschland die »Kriegsverbrecherprozesse« bereits im terschiedlichen politischen Funktionen ver- burg 1999; Freia Anders u.a. (Hrsg.), Bialystok in leitenden Überblicken deutlich, in wel- maßgeblich beteiligt. beginnenden Kalten Krieg instrumenta- knüpft. Detlev Claussens Vortrag, der das Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor chen Jahren die Justiz die größten Anstren- Noch vor der Eröffnung des Interna- lisiert wurden. Die Enthüllungen im Ver- Verhältnis von Hannah Arendt, Theodor W. dem Landgericht Bielefeld 1958 bis 1967, Bielefeld gungen zur Strafverfolgung von NS-Ver- tionalen Militärtribunals in Nürnberg fand fahren gegen den Industriellen und fünf 2003; Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt Adorno und Gershom Scholem hätte be- gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen brechen unternommen hatte: 70 Prozent der der erste NS-Prozess 1945 in Lüneburg in seiner engsten Mitarbeiter dienten der SED- leuchten sollen, musste leider ausfallen. Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008; Verfahren fanden zwischen 1945 und 1949 der Britischen Besatzungszone statt. John Propaganda als Beleg, dass man in der So- Im Gesamten betrachtet, konnte die Christian Dirks, »Die Verbrechen der anderen«. statt. Da viele der Ermittlungsverfahren auf- Cramer (Lüneburg) berichtete über das Ver- wjetischen Besatzungszone (SBZ) mit der Tagung das erwähnte Spannungsverhältnis Auschwitz und der Auschwitz-Prozeß der DDR. grund von Anzeigen eingeleitet wurden, wirft fahren gegen SS-Angehörige und Funktions- frühen Enteignung Flicks 1945 und der Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst von Nähe und Distanz zwischen Arendt und Fischer, Paderborn u.a. 2006; Irmtrud Wojak, Fritz diese Statistik zugleich ein Licht auf das In- häftlinge in Bergen-Belsen, das zu 11 Todes- grundsätzlichen Umgestaltung der Eigen- den Frankfurtern selbstverständlich nicht Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München teresse der Bevölkerung an der strafrecht- urteilen und 19 Freiheitsstrafen führte. Der tumsverhältnisse richtig und konsequent nach einer Seite hin aufl ösen, sie ermögli- 2009; Sabine Horn, Erinnerungsbilder. Auschwitz- lichen Ahndung nationalsozialistischer Ver- Prozess sollte die deutsche Bevölkerung läu- gehandelt hatte. Die aus Sicht der SED zu mil- chte aber einen konzisen Blick auf verschie- Prozess und Majdanek-Prozess im westdeutschen brechen. Nach 1949 nahm die Zahl der tern. Daher waren Presse und Rundfunk aus- den Strafen nahm diese wiederum als Beleg Fernsehen, Essen 2009; Jürgen Finger u.a. (Hrsg.), dene Aspekte des Verhältnisses und damit Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen Anzeigen stetig ab; vor allem machte sich in drücklich aufgerufen, hieran teilzunehmen – für die »Kumpanei« des amerikanischen mit eine komplexere Vorstellung der Momente, als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009. der deutschen Bevölkerung eine Sehnsucht was ohne größere Resonanz blieb. Die von dem deutschen »Monopolkapital«.

92 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 93 In der SBZ bzw. später in der DDR sischen Generalstaatsanwalts Fritz Bau- ter für personelle und mentale Kontinuität Aus dem Institut chen) wiederum präsentierte ihre Untersu- gen zu zeithistorischen Arbeiten. Markus handelte es sich dabei in der Regel um ge- er, durch den Frankfurter Prozess eine »Ge- mit dem NS-Staat gesehen wurden. chung zum » Holocaust in der Slowakei Riverein (Frankfurt am Main) stellte sei- steuerte Teilöffentlichkeiten, wie auch die schichtsstunde« für die deutsche Bevöl- Versuche, die Öffentlichkeit über die Neue Forschungen zu 1938–1945«. Ihr Ziel ist es, eine Alltags- ne biografi sche Studie zu Karl Wolff vor. folgenden Beiträge zeigten. Gerald Hacke kerung abzuhalten. Bauers Rechtsauffas- Prozesse gezielt zu beeinfl ussen – sei es im Geschichte und Wirkung geschichte der slowakischen Juden 1938– Wolff, General der Waffen-SS, war Chef schilderte anhand des Dresdner Juristen- sung zufolge war das Verbrechensgesche- Sinne eines Läuterungsprozesses, sei es im des Holocaust 1945 zu verfassen, wobei sie sich auf das des Persönlichen Stabes des Reichsführers prozesses 1947 den massiven Eingriff der hen in Auschwitz als »eine Tat«, die An- Sinne einer Vereinnahmung für politische Schicksal von Kindern und Jugendlichen SS . Nach dem Ende des sowjetischen Militärregierung in das Ver- wesenheit der Angeklagten in Auschwitz Ziele –, verfi ngen unterschiedlich stark. Zwar Interdisziplinäres konzentriert. »Dritten Reiches« trat er zunächst als Zeu- fahren und in die öffentlichen Verlautba- als »natürliche Handlungseinheit« zu be- lehnte die Bevölkerung in Ostdeutschland die Doktorandenseminar Die folgenden Beiträge stellten fi lm- ge in verschiedenen NSG-Verfahren auf, rungen hierzu. Besonders drastisch fi el die trachten. Der Nachweis der individuellen offensichtlich von der Besatzungsmacht ge- und fotohistorische Untersuchungen vor. bevor er schließlich 1962 selbst wegen Diffamierung des Verteidigers Dr. Fritz Gla- Schuld Einzelner war nicht zu führen, viel- steuerten Schauprozesse ab, Propaganda wie Anja Horstmann (Bielefeld) befasst sich Beihilfe zum Mord an 300.000 Juden an- ser aus, der als Jude selbst von den Verfol- mehr galt es das Gesamtverbrechen und die im Umfeld des Flick-Konzerns gegen die Unter dem Titel »Neue mit »›Judenbildern fürs Archiv‹ – Die geklagt und 1964 schließlich zu 15 Jah- gungsmaßnahmen des NS-Regimes betrof- die Mitwirkung der Angeklagten zu bewei- Wirtschaftseliten wurde jedoch von vielen Forschungen zu Geschich- Gleichzeitigkeit von Archivierung und Ver- ren Haft verurteilt wurde. Frank Görlich fen gewesen war. Ihm wurde im Verlauf sen. Das Medienecho auf den Auschwitz- angenommen. Im Westen griffen die erzie- te und Wirkung des Holocaust« fand vom nichtung in nationalsozialistischen ›Doku- (Berlin) präsentierte seine konzeptionellen des Verfahrens der Status als »Opfer des Prozess war tatsächlich mit 933 Beiträgen herischen Ziele in Verbindung mit den Pro- 29. September bis 1. Oktober 2009 in Ar- mentarfi lmen‹ 1942«. Sie erläuterte, dass Überlegungen zum Thema »Kolonisation Faschismus« aberkannt. Die Justizverbre- binnen 22 Monaten in fünf überregionalen zessen aufgrund des mangelnden Interesses noldshain das erste interdisziplinäre Dok- die in den Ghettos entstandenen Filme die und Menschenvernichtung. Das Sonder- chen im »Dritten Reich« sollten jedoch in Tageszeitungen enorm. Das Institut für So- der Mehrheit der Bevölkerung nicht. torandenseminar des Fritz Bauer Instituts in visuelle Grundlage für eine auf der NS- kommando R der Volksdeutschen Mit- der SBZ kein öffentliches Thema sein, da zialforschung ermittelte jedoch – so Renz Eine Veröffentlichung der Beiträge Kooperation mit der Evangelischen Akade- Ideologie basierende Erinnerung an das telstelle in Transnistrien und der deutsch sonst die Gefahr bestanden hätte, dass dann weiter – ein generell bereits wieder nachlas- wird derzeit vorbereitet. mie Arnoldshain statt. Jörg Osterloh (Fritz europäische Judentum dienen sollten; die besetzten Ukraine 1941–1944«. Ziel der auch die Rechtspraxis der Nachkriegsgesell- sendes Interesse an den NSG-Verfahren und Bauer Institut) leitete die Veranstaltung ge- Aufnahmen sollten freilich erst zum Ab- systematischen Analyse des deutschen Be- schaft auf den Prüfstand gekommen wäre. auch am Frankfurter Auschwitz-Prozess. Katharina Rauschenberger meinsam mit Margrit Frölich (Evangelische schluss der »Judenpolitik« Verwendung satzungsregimes ist es, die Zusammenhän- Mike Schmeitzner (Dresden) referierte Die Betrachtung der öffentlichen Re- Fritz Bauer Institut Akademie Arnoldshain) und Susanne Heim finden. Tanja Kinzel (Oldenburg) unter- ge von Germanisierung und Holocaust in über die Tätigkeit der Sowjetischen Militär- zeption der NSG-Verfahren in West- und (Institut für Zeitgeschichte, München/Ber- sucht »Bilder aus nationalsozialistischen Transnistrien aufzudecken. Katharina tribunale (SMT), die ebenso wenig rechts- Ostdeutschland zeigte sehr eindrücklich, Programm, 30. Oktober 2009 lin). Susanne Heim eröffnete das Seminar Ghettos: Die Perspektive der Fotografi e- Stengel (Frankfurt am Main/Bochum) be- staatlichen Kriterien genügte: Der Vorsit- dass die Bevölkerung in beiden Teilen Edith Raim (Institut für Zeitgeschichte, München): Die mit einem öffentlichen Abendvortrag zum renden«. Ihre Quelle ist ein Fotokonvolut richtete über ihre biografi sche Studie zu zende Richter nahm auch die Funktion des Deutschlands nur unmittelbar nach dem Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch die deutsche Thema »Die Radikalisierung der national- von etwa 11.700 Bildern aus dem Ghetto dem Auschwitz-Überlebenden Hermann Justiz in den westlichen Besatzungszonen 1945–1949; Staatsanwalts wahr, die Verhandlungen fan- Krieg für dieses Thema wirklich empfäng- Andreas Eichmüller (Institut für Zeitgeschichte, Mün- sozialistischen Judenpolitik 1938/39. Ent- Łódź, das sie einer qualitativen Bildanaly- Langbein. Ihr Erkenntnisinteresse reicht den hinter verschlossenen Türen statt. Es lich war. Schon bald dominierten Fragen der chen): Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen eignung und Vertreibung am Vorabend des se unterzieht, um dessen Entstehungszu- aber über die Person Langbeins hinaus; ging nicht um individuelle Schuldfeststel- eigenen Existenzsicherung und ein Gefühl, in der frühen Bundesrepublik Deutschland 1949–1960; Zweiten Weltkriegs«, wobei sie den Zusam- sammenhänge zu rekonstruieren. Andreas sie betrachtet die Überlebenden nicht als lung, auch stand das Strafmaß von vornehe- selbst genug gelitten zu haben. Diese Hal- John Cramer (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge menhang von verschärfter Judenverfolgung Schneider (Gießen) und Michael Zok (Mar- Opfer oder Zeugen, sondern vielmehr als e.V., Bezirksverband Lüneburg/Stade): Der Lüneburger rein fest. Nur über einige als Schauprozesse tung fand sich dabei nicht nur auf der »Tä- Bergen-Belsen-Prozess 1945; Heike Krösche (Olden- und Kriegsvorbereitung des NS-Regimes burg) berichteten über ihre Forschungen zu Akteure in der öffentlichen Auseinander- gedachte Verfahren wurde die Öffentlichkeit terseite«, sondern auch aufseiten der Opfer- burg/Linz): Das Internationale Militärtribunal Nürnberg betonte. »televisuellen Historiografi en. Die Darstel- setzung mit Auschwitz. detailliert in Kenntnis gesetzt. Die Bericht- verbände. Das öffentliche Interesse blieb 1945/46; Markus Urban (Nürnberg): Der Wilhelmstra- An den folgenden beiden Tagen stellten lung des Holocaust im west- und osteuro- Im letzten Themenblock standen li- erstattung steuerte hierbei das Sowjetische in den meisten Fällen auf das Strafmaß ßen-Prozess 1948; Jörg Osterloh (Fritz Bauer Institut, 13 Doktorandinnen und Doktoranden aus päischen Fernsehen, 1950er bis 1980er Jah- teraturwissenschaftliche Studien im Mit- Frankfurt am Main): Der Nürnberger Flick-Prozess und Nachrichtenbüro. beschränkt. Es galt als Indikator für die die Öffentlichkeit in der SBZ 1947; Gerald Hacke (Han- Deutschland, England und Spanien in einer re«. Andreas Schneider nimmt die televisu- telpunkt. Veronika Kövers (London) Dis- Auch die jüdische Öffentlichkeit in Ernsthaftigkeit der rechtlichen Aufarbei- nah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dres- geschlossenen Veranstaltung ihre geplanten elle Gewaltdarstellung in Deutschland, den sertationsvorhaben trägt den Arbeitsti- Westdeutschland ließ sich in die Frontenstel- tung. Dabei wurde durchaus mit zweierlei den): Der Dresdner Juristen-Prozess 1947; Julius Schar- beziehungsweise laufenden Arbeitsvorha- Niederlanden und in Großbritannien in den tel »Exilierte Sprache. Verschiebungen im lung des Kalten Krieges einbinden. Katha- Maß gemessen: Forderungen nach einem netzky (Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein): Der Dresdner ben zur Diskussion. Der erste Vortragsblock Blick. Michael Zok wiederum befasst sich Werk von Jean Amery und Imre Kertesz«. Euthanasie-Prozess 1947; Mike Schmeitzner (Hannah- rina Stengel (Frankfurt am Main/Bochum) hohen Strafmaß in Ostdeutschland durch Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden): widmete sich zeithistorischen Promotions- vor allem mit Spielfi lmen (»Blockbuster«) Sie versteht die Werke der beiden Autoren zeigte, dass im Falle des Frankfurter Ausch- SED und Sowjetische Militärregierung gal- Die Sowjetischen Militärtribunale (SMT) 1945–1949 projekten. Janosch Steuwer (Bochum) be- in Polen. Lea Wohl (Hamburg) schloss die- als zwei Modelle exilierter Sprache; beide witz-Prozesses von 1963 bis 1965 der Ne- ten in der Öffentlichkeit als Zeichen für das richtete über seine Studie über die »›Volks- sen Themenblock. In ihrer Dissertation geht hätten die Aufgabe geschultert, eine Spra- benklagevertreter Henry Ormond vom In- Übergreifen des stalinistischen Unrechtssy- Programm, 31. Oktober 2009 gemeinschaft‹ als Handlungsgemeinschaft. sie der Frage »Und nach dem Holocaust? che nach Auschwitz zu schaffen. Rosa Pé- ternationalen Auschwitz Komitee verlangte, stems. Entsprechende Forderungen in den Falco Werkentin (Berlin): Die Waldheimer Prozesse Zur Gesellschaftsgeschichte der Etablierung Jüdische Figuren und jüdisches Leben rez Zancas (Barcelona) befasst sich mit der 1950; Katharina Stengel (Ruhr-Universität Bochum): Die den eigenen Anteil an den Ermittlungen im drei Westzonen wurden dementgegen als be- ehemaligen NS-Verfolgten – Zuschauer, Zeugen, Kläger, des Nationalsozialismus 1933–1939«, die nach 1945 im deutschen Film und Fernse- »Instrumentalisierung der literarischen Tra- Prozess zu verschweigen. Da das Komitee rechtigter Versuch gewertet, rechtsstaatliche Berichterstatter; Annette Weinke (Berlin/Jena): Öffent- unter anderem den Fragen nachgeht, wie hen« nach. Sie untersucht, in welcher Wei- dition zum Schreiben über den Holocaust: auch Kontakte zu Zeugen aus Osteuropa un- Maßstäbe in Deutschland neu zu entwickeln. liche Reaktionen auf die Einrichtung der zentralen Stelle sich die Volksgemeinschaft konstituierte. se Filme aus der Bundesrepublik und der Ruth Klüger«. Pérez Zancas analysiert Klü- terhielt, bestünde die Gefahr, dass das gan- Und umgekehrt: Geringe Strafmaße in den der Landesjustizverwaltungen in Ludwigburg 1959; Peter Hallama (München) skizzierte seine DDR Auskunft über das deutsch-jüdische gers Werk, indem sie die vielschichtigen Werner Renz (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main): ze Verfahren in Misskredit gezogen würde. sowjetisch besetzten Gebieten wurden als Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965; Chris- vergleichende Arbeit über die »jüdischen Verhältnis nach dem Holocaust geben. Stimmen in der Binnen- und der Rahmen- Werner Renz (Frankfurt am Main) be- Bruch mit dem NS-Strafsystem gewertet, tian Dirks (Berlin): Der Auschwitz-Prozess der DDR: Opferdiskurse in der Tschechoslowakei und Den dritten Tag der Veranstaltung er- handlung der Erzählung voneinander iso- leuchtete wiederum die Absichten des hes- während milde Strafen westdeutscher Rich- Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Horst Fischer 1966 in Österreich«. Barbara Hutzelmann (Mün- öffnete ein weiterer Block mit Vorträ- liert.

94 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 95 Die Teilnehmer diskutierten die vorge- AUSCHWITZ (BRD 1986) von Irmgard von stellten Projekte in einer angenehmen, aber zur Mühlen. Der Dokumentarfi lm verbindet zugleich konzentrierten Arbeitsatmosphä- ein Interview mit dem sowjetischen Kame- re. Im Mittelpunkt standen Fragen nach der ramann Alexander Worontsow, der als An- Quellenlage, dem methodischen Zugriff gehöriger der Roten Armee das Todeslager und dem theoretischen Hintergrund der Ar- Auschwitz-Birkenau befreite, mit Film- beiten. Das Doktorandenseminar soll künf- aufnahmen der sowjetischen Kameramän- tig als jährliche Veranstaltung im Termin- ner, die zwischen Februar und Mai 1945 in kalender des Fritz Bauer Instituts etabliert Auschwitz gemacht wurden. Mit diesem werden. Das nächste Seminar wird vom Film wurde die Perspektive der Befreier 13. bis 15. September 2010 in Arnoldshain thematisiert. In der regen und von der Ini- stattfi nden; die Ko-Moderation übernimmt tiative Studierender am IG Farben Campus Dr. Sybille Steinbacher, die im Sommerse- sorgsam vorbereiteten Diskussion wurde so- mester 2010 als Gastprofessorin am Fritz wohl über die fi lmische Darstellung, die Au- Bauer Institut arbeiten wird. thentizität des Filmmaterials und der Bilder, die sich im kulturellen Gedächtnis zur Be- Jörg Osterloh freiung des KZ Auschwitz etablierten, dis- Fritz Bauer Institut kutiert als auch Fragen nach (aktuellen) For- men der Darstellung und der Überlieferung Trude Simonsohn spricht vor der Gedenktafel am IG Farben-Haus für die Opfer des Blick in den Lern- und Informationsraum des Norbert Wollheim Pavillons, gestellt. Konzentrationslagers Buna-Monowitz, 2. Oktober 2005. Foto: Werner Lott im Fenster spiegelt sich die Fassade des IG Farben-Hauses. Foto: Werner Lott Die Befreiung von Auschwitz markiert kein Ende, da die Wirkungen der Verbre- chen für Befreier und Befreite noch über Aus dem Institut lichen eine Wertorientierung der Mensch- Der Ignatz-Bubis-Preis ist mit 50.000 Aus dem Institut arbeit für die IG Farben genötigt; wer in den diesen Tag hinaus spürbar waren: Für die lichkeit vermittelt. Zudem hat sie eine Leh- Euro dotiert und wird alle drei Jahre verlie- Augen des Aufsichtspersonals nicht mehr Befreier bedeutete die Befreiung der Lager Trude Simonsohn rergeneration geprägt. Dabei erreicht sie hen. Trude Simonsohn ist die vierte Preis- Was bedeutet »Befreiung«? arbeitstauglich war, wurde »nach Birkenau den Beginn der Arbeit, Tausende von unter- Ignatz-Bubis-Preis eine Ausstrahlung weit über Schulen und trägerin nach den Preisträgern Bundestags- 65. Jahrestag der Befreiung überstellt«, was den Tod in den dortigen ernährten Menschen zu retten, die Verbre- für Verständigung 2010 Begegnungsstätten hinaus. Sie ist darüber präsident Wolfgang Thierse (2001), Bischof von Auschwitz Gaskammern bedeutete. chen zu dokumentieren und den verschlepp- hinaus aktiv, um auch die Generation der Prof. Dr. Franz Kamphaus (2004) sowie Mehr als 80 Interessierte kamen zum ten Menschen ihre Heimreise zu ermögli- Kinder der Opfer in dieses wichtige Wirken dem früheren Frankfurter Oberbürgermei- Zeitzeug/innengespräch mit drei Frankfur- chen. Für die Befreiten hingegen war es der Das Kuratorium zur Ver- einzubinden. Diese Basisarbeit ist einem Le- ster und Frankfurter Ehrenbürger Dr. Walter »Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit.« ter Auschwitz-Überlebenden. Am Nach- Beginn einer oft schmerzvollen und lang- leihung des Ignatz-Bu- ben der Versöhnung und der Verständigung Wallmann (2007). Der Preis wurde nach Norbert Wollheim, 26. August 1945 mittag berichteten Siegmund Freund, Sieg- jährigen Auseinandersetzung mit ihrer un- bis-Preises für Verständigung der Stadt zwischen Menschen gewidmet. Der per- dem Tod des Vorsitzenden des Zentralrats mund Kalinski und Trude Simonsohn von vergänglichen Vergangenheit. Frankfurt am Main 2010 hat unter Vorsitz sönliche Mut ist zugleich ein Einsatz gegen der Juden in Deutschland und Vorsitzenden Zum 65. Jahrestag der Be- ihrer Erfahrung des Todesmarsches, der Be- von Oberbürgermeisterin Petra Roth in ei- Fremdenfeindlichkeit. Trude Simonsohn hat der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am freiung von Auschwitz am freiung und des Lebens in den ersten Jah- Sarah Dellmann ner Sitzung am 15. Februar entschieden, dabei ein außergewöhnliches Engagement Main von der Stadt Frankfurt am Main ge- 27. Januar 1945 gestaltete das Fritz Bau- ren nach der Verfolgung. Keine/r von ihnen Fritz Bauer Institut Trude Simonsohn auszuzeichnen. und ein stets zukunftsorientiertes Handeln stiftet. Damit ehrt die Stadt das Lebenswerk er Institut zusammen mit der Initiative Stu- erlebte die Befreiung am 27. Januar 1945; Trude Simonsohn hat die Schrecken des zum Aufbau einer friedlichen Welt mit Of- und die Persönlichkeit von Ignatz Bubis. dierender am I.G. Farben Campus einen Tag mit dem Todesmarsch und der Verlegung in Holocausts überlebt. Sie hat sich mit dem fenheit und Toleranz vorgelebt. Sie verkör- Die Verleihung des Preises ist für Mon- mit drei Veranstaltungen, die sich mit ver- andere KZ endete die Haftzeit für sie wie Namensgeber des Preises vor Jahrzehnten pert somit in hervorragender Weise die Wer- tag, 26. April, 18.00 Uhr in der Frankfur- schiedenen Formen der Zeugenschaft be- für viele Auschwitz-Häftlinge erst Wochen darüber ausgetauscht, wie bedeutsam es ist, te, für die sich Ignatz Bubis eingesetzt hat. ter Paulskirche vorgesehen. Staatsministerin schäftigten. nach dem 27. Januar 1945. Doch auch mit jungen Menschen von diesen Menschheits- Zwischen 1986 und 1998 war sie Mitglied a.D. Ruth Wagner wird die Laudatio halten. Auch in diesem Jahr lasen Studierende der Befreiung war der Schrecken keinesfalls verbrechen zu berichten. Sie hat sich damals des Vorstands und Vorsitzende des Gemein- Trude Simonsohn ist Vorsitzende des der Goethe-Universität Frankfurt am Main vorüber: Die Einsicht, als eine/r von weni- wie Ignatz Bubis zu diesem außerordent- derats der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Rats der Überlebenden des Holocaust am im Foyer des IG Farben-Hauses Namen aus gen der ganzen Familie überlebt zu haben, lichen Engagement persönlich bereit erklärt Sie gehört dem Kuratorium der Jugendbe- Fritz Bauer Institut. Die Mitarbeiterinnen den sogenannten Überstellungslisten des kam für sie erst nach der Heimkehr. Im An- und spricht seitdem als Zeitzeugin nicht nur gegnungsstätte Anne Frank an und ist Trä- und Mitarbeiter gratulieren herzlich zur von der SS und den IG Farben betriebenen schluss an die Berichte gingen die Zeitzeug/ in Frankfurt, sondern in ganz Deutschland. gerin der Wilhelm Leuchner-Medallie und hoch verdienten Auszeichnung! Konzentrationslagers Buna/Monowitz vor. innen auf Fragen der Zuhörenden ein. Mit ihrem gewinnenden Wesen beeindruckt des Ehrensiegels der Jüdischen Gemeinde Die Häftlinge, überwiegend jüdische Män- Ebenfalls gut besucht war die Film- sie junge Menschen und hat damit Jugend- Frankfurt. ner aus ganz Europa, wurden zur Zwangs- vorführung des Filmes BEFREIUNG VON

96 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 97 Aus dem Institut Aus dem Förderverein »Marcel Reich-Ranicki. Ein Überleben- der des Holocausts in der bundesdeutschen John Demjanjuk Mitteilungen Nachkriegsgesellschaft«. Der Prozess vor dem Bericht des Die Mitgliederversammlung des För- Landgericht München II Vereinsvorstands dervereins fand am 23. Januar 2010 statt. Höhepunkt der Veranstaltung war zweifel- los der hoch informative und in besonderem Vortragsveranstaltungen mit Cornelius In den Monaten, die seit Maße bewegende Vortrag von Prof. Dr. Cor- Prittwitz, Tom Segev und Cornelius Nestler dem letzten Bericht aus nelius Nestler, Hochschullehrer und Neben- dem Förderverein im Herbst 2009 ver- klägervertreter, über die »Strafsache gegen Ergänzend zum Schwer- gangen sind, hat sich der Vereinsvorstand John Demjanjuk«, zu dem auch zahlreiche punktthema der letzten intensiv mit dem nach wie vor aktuellen und Studenten und weitere Besucher erschie- Ausgabe unseres Bulletins, Einsicht 02, gab dringlichen Problem der Mitgliederwerbung nen waren. Nahezu atem- und geräuschlos es im Januar drei Vortragsveranstaltungen beschäftigt. In den ersten Jahren nach sei- lauschte das Auditorium den Ausführungen zu der am 30. November 2009 vor der ner Gründung hatte der Verein über 1.000 von Professor Nestler und diskutierte noch Schwurgerichtskammer des Landgerichts Mitglieder, eine stolze Zahl, die wir gerne lange und intensiv mit dem Referenten. München II eröffneten Hauptverhandlung wieder erreichen würden. Bitte unterstützen Auch über diese Veranstaltung wird in die- im Strafverfahren gegen John Demjanjuk. Sie uns und werden Sie Mitglied oder wer- sem Heft gesondert berichtet (Seite 98). Un- Am Donnerstag, 14. Januar 2010 refe- ben Sie ein neues Mitglied! Der Vorstand ser Dank gilt Herrn Professor Nestler für ei- 0%4%2Ö'!4(-!..Ö rierte der Frankfurter Professor für Straf- Tom Segev im Gespräch mit Georg M. Hafner, Redakteur des Hessischen Rundfunks, hat einen neuen Flyer mit Kurzinformati- ne Vortragsveranstaltung, die für alle Zuhö- -!24).!Ö0!5, recht, Strafprozessrecht, Kriminologie und am 21. Januar 2010 in den Räumen des Fritz Bauer Instituts. Foto: Werner Lott on und Beitrittsformular zur Mitgliederwer- rer ein einmaliges Erlebnis war. Rechtsphilosophie, Prof. Dr. Cornelius Pritt- bung entwickelt, den Sie beim Förderverein Zum Schluss möchte ich darauf hin- .!2:)33Ö'/%""%,3 witz, zum Thema »Ambivalente Eindeutig- anfordern können. Die Anschrift fi nden Sie weisen, dass für Mitglieder des Förder- %).%Ö039#(/()34/2)3#(%Ö keit – Zum Prozess gegen John Demjanjuk«. von seinen in München gewonnenen Eindrü- Im Anschluss an seine Mitgliederver- auf der hinteren Umschlaginnenseite dieses vereins Fritz Bauer Institut die Mitglied- ")/'2!&)% Der Strafprozess gegen John Demjanjuk vor cken und erläuterte die Rezeption des Pro- sammlung am 23. Januar 2010 lud der För- Heftes. schaft in der neu belebten Gesellschaft der dem Landgericht München II hat viel Me- zesses in der israelischen Öffentlichkeit vor derverein ein zu einem Vortrag von Prof. Dr. Außerdem hat der Vorstand für den Freunde und Förderer des Jüdischen Mu- Diese Biografie nähert sich der dienpräsenz gefunden. So eindeutig es zu- dem Hintergrund der Bedeutung des Holo- Cornelius Nestler über die »Strafsache ge- Förderverein die Veranstaltung »Christen seums e.V. zum ermäßigten Mitgliedsbei- Persönlichkeit Goebbels mit den nächst erscheint, dass dieser Strafprozess causts im kollektiven Bewusstsein der isra- gen John Demjanjuk – Hintergründe und und Juden – Ein Beitrag zu aktuellen Dis- trag von € 40,– möglich ist. Im Gegenzug Mitteln der Psychohistorie und sucht auch Jahrzehnte nach dem Holocaust stattfi n- elischen Gesellschaft. Zur Frage der Sinn- aktuelle Fragen«. Prof. Dr. Cornelius Nest- kussionen« organisiert. Unter der Moderati- können Mitglieder der Gesellschaft zum er- in den Erlebnissen seiner Kindheit den muss, so viele Fragen stellen sich, wenn haftigkeit des Prozesses verwies Segev da- ler ist Hochschullehrer am Institut für Straf- on unserer Vorstandsmitglieder Klaus Schil- mäßigten Mitgliedsbeitrag von € 40,– Mit- und Jugend die Wurzeln für die man unterschiedliche Aspekte des Falles – rauf, dass es in den Jahren seit dem Ende recht und Strafprozessrecht der Rechtswis- ling und David Schnell traten die Rabbine- glied des Fördervereins werden. Ich lade späteren politischen Entscheidungen. vom Alter des Angeklagten bis zur konkreten des Zweiten Weltkrieges zu weiteren Geno- senschaftlichen Fakultät der Universität Köln. rin Elisa Klapheck und der Theologe Dr. Sie ein, von dieser Möglichkeit Gebrauch Das Buch begleitet den Leser von Beweislage – in Ruhe betrachtet. In Bezug- ziden gekommen ist – in Kambodscha, Ru- Im Münchner Strafprozess gegen John Dem- Norbert Reck in einen spannenden Gedan- zu machen. Goebbels’ Anfängen bis zum Ab- nahme auf das aktuelle Verfahren unterzog anda und auf dem Balkan. Kriegsverbrechen janjuk stehen nicht zuletzt die Nebenkläger kenaustausch zur Frage einer generellen Be- Der Vorstand des Fördervereins dankt schlusspsychogramm einer narziss- Professor Prittwitz die Möglichkeiten und wurden an vielen Orten begangen. Daher sei im Zentrum des Medieninteresses. Professor stimmung des Verhältnisses von Christen allen Mitgliedern und Freunden für ihr In- tisch gestörten Persönlichkeit. Grenzen der Aufarbeitung von Geschichte der Demjanjuk-Prozess auch als eine War- Nestler hat für eine große Zahl der Neben- und Juden und zogen das zahlreich erschie- teresse und die Unterstützung der Arbeit des vor Gericht einer kritischen Analyse. nung zu verstehen an jeden einzelnen Solda- kläger die Nebenklage organisiert und vertritt nene Publikum in ihren Bann. Einen kurzen Fritz Bauer Instituts. »Ein hervorragendes Buch.« In der Woche darauf war der israe- ten, sich der Verantwortung seines Handelns selbst elf Nebenkläger. Sowohl aus der Sicht Bericht über die Veranstaltung fi nden Sie ORF lische Historiker und Journalist Tom Segev bewusst zu sein: Wer Kriegsverbrechen be- des Hochschullehrers als auch aus der des Im Anschluss an diese Mitteilungen auf Sei- Brigitte Tilmann (Vorsitzende) in Frankfurt zu Gast. In der Herbstausga- geht, kann dafür zur Verantwortung gezo- Nebenklägervertreters berichtete Professor te 99. Für den Vorstand be unseres Bulletins hatte er unter dem Ti- gen werden, selbst wenn er 89 Jahre alt ist. Nestler engagiert und eindringlich über das Der Vorstand wird sich weiterhin be- ÖÖ3ÖÖ37 !""Ö'"Ö-)4Ö35Ö tel »›Der Fall ist abgeschlossen, aber unvoll- Das hr-Fernsehen hat den Aufenthalt Verfahren, die rechtliche Konstruktion der mühen, durch eigene Vortragsveranstal- ÕÖ Ö )3".Ö     endet‹ – Der Prozess gegen John Demjanjuk Tom Segevs in Frankfurt genutzt und in den Anklage und die besondere Bedeutung der tungen zu aktuellen und interessanten The- in Jerusalem« das Verfahren in Israel nach- Räumen des Fritz Bauer Instituts ein halb- Nebenklage in diesem Verfahren. Das zahl- men auf den Förderverein und seine Ziele gezeichnet. Nachdem er jetzt für zwei Ta- stündiges Gespräch, das Georg M. Hafner reich anwesende Publikum folgte seinen Aus- verstärkt aufmerksam zu machen. ge den Prozess in München besucht hatte, mit dem israelischen Historiker führte, auf- führungen mit großer Aufmerksamkeit. Zurzeit unterstützt der Förderverein un- berichtete er in seinem Vortrag »Wiederbe- gezeichnet. Die Sendung »Das Sonntagsge- ter anderem das gemeinsame Ausstellungs- 777"/%(,!5$% gegnung mit John Demjanjuk. Der Prozess spräch« wurde am 24. Januar 2010 ausge- Werner Lott projekt des Fritz Bauer Instituts und des in München – Eine israelische Perspektive« strahlt und ist auf www.hr-online.de abrufbar. Fritz Bauer Institut Jüdischen Museums Frankfurt am Main

98 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 99 Aus dem Förderverein unter Berufung auf Jesus einen bewussten sitiven Gehalt sichtbar werde. Nach die- Gegensatz zum jüdischen Gott herstellte. sen einleitenden Bemerkungen setzte sich Christen und Juden Reck machte deutlich, wie einzelne Motive Klapheck in luzider Weise mit der christ- Ein Beitrag zu aktuellen dieses marcionitischen Erbes – trotz der Zu- lichen Vorstellung einer Entstehung des Diskussionen rückweisung seines Vorschlags der antijü- Christentums aus dem Judentum auseinan- dischen Säuberung der christlichen Bibel der. Dabei stellte sie deutlich heraus, welche – in der christlichen Theologie und Men- Problematiken mit Vorstellungen einer zeit- Am 29. Oktober 2009 fand talität immer wieder auftauchen und als at- lichen Abfolge in der Entstehung oder auch auf Einladung des Förder- traktiv wahrgenommen werden. Mit Blick mit Figuren des Erbes etc. verbunden sind, vereins des Fritz Bauer Instituts die Ver- auf die beiden von ihm konturierten theo- und plädierte für ein Modell, die Gleichzei- anstaltung »Christen und Juden – ein Bei- logischen Linien verdeutlichte Reck un- tigkeit der beiden Religionen zu denken. trag zu aktuellen Diskussionen« mit der terschiedliche Akzente mit den jeweiligen Dieses Verständnis untermauerte sie mit Rabbinerin Elisa Klapheck (Frankfurt am Chancen und Gefahren christlicher Gottes- einem historisch-theologischen Exkurs zu Main) und dem Theologen Dr. Norbert Reck rede und machte sodann auch ihre Relevanz den geteilten Herausforderungen des Den- (München) statt. mit Blick auf zentrale kirchengeschichtliche kens und Handelns, mit denen sich das neu Der Skandal mit der Erklärung des Va- Etappen im Verhältnis von Christen und Ju- formierende Judentum ebenso wie das sich tikans zur Piusbruderschaft bildete den Hin- den deutlich. Dabei spannte er den Bogen bildende Christentum auseinandersetzten. In tergrund bzw. Ausgangspunkt des Nachden- von dem sich im 3. Jahrhundert bildenden der Folgezeit kam es zwischen beiden Re- kens der beiden Referenten, denen es mit ih- Verständnis der Kirche als »neues Israel« ligionen zu »wechselseitigen Themenvor- ren unterschiedlichen Beiträgen gelang, ein und dem damit verbundenen Substitutions- gaben« mit unterschiedlichen Beantwor- Pressekonferenz im Jüdischen Museum Frankfurt am Main am 11. Februar 2010, von links: Felix Semmelroth (Stadt Frankfurt am Main), Panorama zum Verhältnis von Christen und modell bis zur für die katholische Kirche tungen. Es lohne sich, so Klapheck, diesen Dietmar Schmid (BHF-Bank), Achim Vandreike (BHF-Bank Stiftung), im Hintergrund: Raphael Gross (Jüdisches Museum Frankfurt). Foto: Rafael Herlich Juden zu entwerfen, in dem die »christliche entscheidenden Neubestimmung des Ver- Prozess einmal genauer zu untersuchen und Judenfeindschaft und Verdrängung des Ju- hältnisses im Geiste der Anerkennung des eine positive theologische Bilanz der Be- dentums« (Reck) wie auch »Fallstricke und Judentums durch das Dekret »Nostra Ae- gegnungsgeschichte von Juden und Christen Aus Kultur und Wissenschaft Geschichte des Raubs von Kunstwerken in auch als Widerstandskämpfer in Erschei- Schwierigkeiten des gegenwärtigen christ- tate« im Zweiten Vatikanischen Konzil so- zu schreiben. Hierbei allerdings bestehe – jüdischem Besitz durch die Nazis aufzei- nung trat. Nach dessen Selbstmord 1945 lich-jüdischen Dialogs« (Klapheck) sicht- wie durch die Vergebungsbitte Johannes ähnlich wie auch bei Veranstaltungen des Raubkunst gen, so Museumsdirektor Raphael Gross. in einem französischen Militärgefängnis bar wurden. Paul II. im Jahr 2000 an die Juden und die »christlich-jüdischen Dialogs« – die Gefahr Frühwerk von Matisse Ab Frühjahr soll das Gemälde in entspre- wurde das Gemälde in einem Versteck auf- Norbert Recks Vortrag stellte deut- Frage nach der gegenwärtigen Lage unter einer Vereinnahmung und Reduzierung der kehrt nach Frankfurt zurück chendem Kontext in der Dauerausstellung gefunden und, weil es französische Zoll- lich heraus, dass ein Verständnis der aktu- dem deutschen Papst Benedikt XVI. jüdischen Gesprächspartner auf eine nicht des Jüdischen Museums seinen Platz fi nden. stempel trug, an die Französische Republik ellen Problemlage im Sinne einer »Causa Rabbinerin Klapheck machte mit ih- eigenständig produktive Größe. Abschlie- Das kleinformatige Bild (Öl auf Lein- übergeben und im Centre Pompidou wieder- Ratzinger« viel zu kurz greife und es sich rem Vortrag eine jüdische Position in der ge- ßend skizzierte Klapheck die Aufgabe der Das Landschaftsgemäl- wand, 38 x 46 cm), das ein Haus mit ei- holt ausgestellt. bei der Frage der Verhältnisbestimmung genwärtigen deutschen Debattenkultur stark Konstruktion eines »neuen Rahmens« für de »Paysage, Le Mur Ro- ner rosaroten Gartenmauer auf Korsika Jahrzehntelang galt das Matisse-Ge- zum Judentum um ein Grundproblem der und hinterfragte verschiedene Denkmuster einen Dialog in und mit der säkularen Ge- se«, das zu den bedeutendsten Früh- zeigt, gehörte seit etwa 1914 dem Unter- mälde als »herrenlos«, bis es im Novem- christlichen Religion handele, da das Chri- und Strukturen des christlich-jüdischen Di- sellschaft, in dem Fragen von Politik und werken des französischen Malers Henri nehmer und Kunstsammler Harry Fuld, der ber 2008 von der Französischen Republik stentum ohne »jüdische Wurzeln« nicht alogs kritisch. Dabei verstand sie es in sehr Theologie zu verhandeln wären. Matisse (1869–1954) zählt, ist nach mehr in Frankfurt die H. Fuld & Co. Telephon an die Erben Fulds, die Stiftung »Roter denkbar sei, Judentum ohne Christentum ansprechender Weise, auf Recks Vortrag Be- Der Abend machte allen Beteiligten als 60 Jahren nach Frankfurt am Main zu- und Telegraphenwerke AG gegründet hat- Davidstern« (Magen David Adom UK), dagegen schon. Diese jüdischen Wurzeln zug zu nehmen und dabei eigene Gedanken das lohnende Unterfangen deutlich, sich rückgekehrt. Bis 1937 befand es sich in Be- te und eines der größten Unternehmen für restituiert wurde. Nun hat die Stiftung wurden und werden im Christentum immer zur Gestalt des Judentums, zum Verhältnis im bürgerschaftlich-universitären Rahmen sitz des jüdischen Sammlers Harry Fuld. Telefone und Uhren leitete. Bei seiner Emi- das impressionistische Werk, das Matisse wieder verdrängt – mit antijüdischen Af- von Christen- und Judentum sowie zur Be- von Veranstaltungen des Fördervereins Fritz Mithilfe großzügiger Unterstützer konnte gration aus Nazi-Deutschland im Jahr 1937 1898 bei einem Aufenthalt auf Korsika fekten und Theologien im Gefolge. Ausge- deutung einer neuen Verhältnisbestimmung Bauer Institut auszutauschen und kontro- das von den Nationalsozialisten einst ge- musste sein Sohn, Harry Fuld jr., das Bild malte, dem Jüdischen Museum Frankfurt hend von dieser Einsicht konturierte Reck im Rahmen der gegenwärtigen säkularen vers zu diskutieren. Auch in Zukunft will raubte Kunstwerk für das Jüdische Muse- zurücklassen. zu einem Vorzugspreis von 200.000 Euro zwei Grundtypen christlicher Theologie im Gesellschaft vorzustellen. Einleitend stell- der Vorstand des Fördervereins jährlich eine um Frankfurt angekauft werden. Die gesamte umfangreiche Sammlung, überlassen – auf dem Kunstmarkt hätte si- Umgang mit diesem Spannungsverhält- te sie heraus, dass die Rezeption jüdischer Veranstaltung zu aktuellen Anlässen durch- Während der Ausstellung »Raub und die bei einem Berliner Transporteur unter- cherlich ein weitaus höherer Preis erzielt nis, die er an die Ansätze Paulus’ und Mar- Positionen in der deutschen Debatte zumeist führen. Restitution«, die 2009 im Jüdischen Mu- gestellt war, wurde von den Nazis beschlag- werden können. Der Erwerb dieses hoch- cions knüpfte. Die paulinische Linie zielte unter negativen Vorzeichen stattfi nde – im seum zu sehen war, entstand der Wunsch, nahmt und versteigert. Vermutlich bei dieser rangigen Kunstwerkes durch das Muse- – so Reck – auf Anerkennung und gegen- Sinne von erbetenen bzw. abgefragten Äu- Klaus Schilling dieses Gemälde zu erwerben, um auch nach Versteigerung in einem Berliner Auktions- um war nur möglich durch das großzügige seitigen Respekt zwischen Christen und ßerungen zu bestimmten Skandalen (zum Frankfurt am Main der Ausstellung das Thema anhand einer haus kam das Bild dann in den Besitz des fi nanzielle Engagement der Hessischen Kul- Juden, während Marcion mit seiner Kon- Beispiel Papst, Möllemann, Walser) – und beispielhaften Frankfurter Geschichte zu in seiner Person widersprüchlichen hoch- turstiftung, der BHF-Bank und der BHF- struktion eines christlichen Gottes der Liebe dadurch das Judentum nicht in seinem po- zeigen. Mithilfe des Bildes lasse sich die rangigen SS-Offiziers Kurt Gerstein, der Bank-Stiftung sowie von Dietmar Schmid,

100 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 101 Vorstandsmitglied der BHF-Bank, des Kul- nartag im Haus der Wannsee-Konferenz wur- turamtes der Stadt Frankfurt am Main und den aktuelle Ansätze und Fragestellungen der Gesellschaft der Freunde und Förderer zum Thema der Erinnerungsarbeit in den des Jüdischen Museums e.V. multikulturellen Lebenskontexten Deutsch- Die Rückkehr des Bildes sei von »be- land und Israel vorgetragen und diskutiert. trächtlicher symbolischer Bedeutung«, sagte Die Ergebnisse des Seminars gestal- Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmel- ten sich vielschichtig: Gibt es einerseits roth bei der Pressekonferenz zur Bekanntga- eine Selbstverständlichkeit in der Offen- be des Kunstankaufs am 11. Februar 2010. heit und Ausrichtung deutsch-israelischer Das Matisse-Gemälde sei zu einem »histo- Programme auch für Jugendliche unter- rischen Manifest für die systematische Aus- schiedlich kultureller Herkunft, so wird die plünderung der jüdischen Bürger« gewor- Frage der bewussten Öffnung an anderer den. Stelle durchaus auf ihre Zielsetzung und Sinnhaftigkeit hinterfragt. Gerade für das Kontakt Thema der Erinnerung an die Shoah be- Jüdisches Museum Frankfurt am Main deutet die Öffnung des Jugendaustauschs Untermainkai 14/15, 60311 Frankfurt am Main auch die gedankliche Öffnung für die un- Tel.: 069.212-35000, Fax: -30705 [email protected] terschiedlichen Erfahrungshintergründe und www.juedischesmuseum.de assoziativen Bedeutungen, die die Ausei- Eine israelische Jugendgruppe aus Ramat HaNegev besucht die Gedenkstätte Neuer Börneplatz. Christine Mähler (Leiterin von ConAct) fasst die Arbeitsergebnisse des Fachseminars zusammen. nandersetzung mit dem Nationalsozialis- Foto: Eyal Mor-Yosef Foto: Werner Lott mus und der Shoah für junge Menschen un- terschiedlich kultureller Herkunft mit sich bringt – hier unterscheiden sich Bedeutungs- Aus Kultur und Wissenschaft Die letzten Jahre recherchierten Histo- Forschungen in den Archiven der KZ-Ge- Aus Kultur und Wissenschaft Das Seminarprogramm bot zum ei- aspekte von herkunftsdeutschen Jugend- riker im Auftrag der Stadt gemeinsam mit denkstätten und im Bundesarchiv. Das For- nen informative Einheiten zu ausgewählten lichen etwa von denen türkisch-deutscher Gedenkort dem Jüdischen Museum Frankfurt die Le- schungsprojekt wird im Auftrag der Stadt Vielfalt wagen? Gruppen Jugendlicher, die möglicherweise Jugendlicher oder solche von jüdischen Ju- Gedenkstätte Neuer bensdaten von weiteren 1.700 Personen, Frankfurt von der Firma zeitsprung. Kon- Deutsch-israelischer Zielgruppen des deutsch-israelischen Aus- gendlichen und arabischen Jugendlichen in Börneplatz um darunter jene Holocaust-Opfer, an die der tor für Geschichte betreut. Nikolaus Hirsch Austausch mit Jugendlichen tauschs sein könnten: Auf deutscher Seite Israel. neue Abschnitt der Gedenkstätte jetzt er- vom Architekturbüro Wandel Hoefer Lorch gab es Einsichten zu Jugendlichen mit ara- In Arbeitsgruppen wurden zahlreiche 823 Namen erweitert innert. Im Museum Judengasse ist eine er- + Hirsch, das die Gedenkstätte entworfen unterschiedlich kultureller bischem, jüdischem oder russischem Hin- Aspekte zusammengetragen und diskutiert, gänzende Datenbank zugänglich, in der hatte und auch die Ergänzung betreute, be- Herkunft tergrund und auf israelischer Seite wurden die es im Bereich der Vorbereitung, Planung Die Gedenkstätte Neuer Biografi en und Fotos von über 12.600 er- tonte, dass der Gedenkort Börneplatz keinen spezifisch junge Einwanderer/innen aus und Durchführung von Austauschprogram- Börneplatz in Frankfurt am mordeten Juden abrufbar sind. Die Gedenk- Schlussstrich der Erinnerung markiert, son- Für vier Tage trafen sich Russland sowie arabische Jugendliche in men dieser bunten Zielgruppe zu berück- Main wurde am 16. Juni 1996 in der un- stätte am Neuen Börneplatz bildet zusam- dern durch die fortgehende Erforschung der im November 2009 mehr den Blick genommen. Unter der Überschrift sichtigen gilt. Viele dieser zusammengetra- mittelbaren Nachbarschaft des Museums men mit dem alten jüdischen Friedhof und Schicksale der Ermordeten ein sich »wan- als 75 deutsche und israelische Verantwort- »Identität und Selbstverständnis – Begeg- genen Gesichtspunkte bedürfen sicher der Judengasse und des alten jüdischen Fried- dem Museum Judengasse ein historisches delndes Denkmal« im öffentlichen Raum liche im deutsch-israelischen Austausch nung jüdischer Jugendlicher aus Deutsch- weiteren bilateralen Diskussion. ConAct hofs in Erinnerung an die von den Natio- Ensemble, das eine intensive Auseinander- darstellt. zu einem bilateralen Fachseminar in Ber- land und Israel« stellten Werner Lott (Fritz wird eine Dokumentation des Fachseminars nalsozialisten zerstörte dritte jüdische Ge- setzung mit der Geschichte der Frankfurter lin, um gedanklich neue Schritte zu gehen: Bauer Institut) und Meron Mendel (ehem. zweisprachig zusammenstellen, die die Ba- meinde Frankfurts eröffnet. Ihr zentrales Juden ermöglicht. Kontakt Wie müssen deutsch-israelische Begeg- Leiter, Zionistische Jugend in Deutschland) sis für nächste Schritte in diesem Themen- Element bilden in die Außenmauer des al- Bei der Übergabe der Gedenkstätten- Museum Judengasse nungskonzepte aussehen, die der multikul- das von ihnen initiierte gemeinsame Aus- feld sein wird. ten jüdischen Friedhofs eingelassene Blö- erweiterung am 25. Januar erläuterte der Dependance des Jüdischen Museums Frankfurt turellen Zusammensetzung der heutigen Ju- tauschprojekt mit der Jugendabteilung des Kurt-Schumacher-Str. 10 cke, auf denen die Namen deportierter und Frankfurter Kulturdezernent Felix Sem- 60311 Frankfurt am Main gend beider Länder gerecht werden? Welche Regionalverbands Ramat HaNegev vor. Da- Kontakt ermordeter Frankfurter Juden verzeichnet melroth die Bedeutung der Gedenkstätte, Tel.: 069.297 74 19 Herausforderungen birgt das gemeinsame rüber hinaus boten Arbeitsgruppen und kre- ConAct – Koordinierungszentrum sind. Bisher hatten hier 11.134 Opfer eine der es gelungen sei, durch detaillierte Re- Fax: 069.212 307 05 Erinnern an die Shoah mit jungen Menschen ative Workshops die Möglichkeit, sich über Deutsch-Israelischer Jugendaustausch Altes Rathaus, Markt 26 symbolische Ruhestätte gefunden. Im Janu- cherchen über die Ermordeten ein individu- [email protected] unterschiedlich kultureller Herkunft? Und die eigene Herkunft und persönliche Kul- www.juedischesmuseum.de 06886 Lutherstadt Wittenberg ar 2010 wurde die Gedenkstätte aus Anlass alisiertes und unpathetisches Gedenken zu wie überhaupt können wir den deutsch- tur auszutauschen, um der immer gegebenen Tel.: 03491.4202-60 des Tags des Gedenkens an die Opfer des schaffen. Anschließend berichtete Rapha- israelischen Jugendaustausch stärker dem Multikulturalität im Zusammensein von Fax: 03491.4202-70 Nationalsozialismus um 823 weitere Na- el Gross, Direktor des Jüdischen Museums, Kontext multikultureller Gesellschaften in Menschen in unseren Gesellschaften Auf- [email protected] www.ConAct-org.de menstafeln erweitert. über die der Ergänzung zugrunde liegenden Deutschland und Israel öffnen? merksamkeit zu widmen. An einem Semi-

102 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 103 Aus Kultur und Wissenschaft kunftsorte der Flüchtlinge, die Erfahrungen Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft der Flüchtlingskinder in den Kindertrans- Flüchtlingsstimmen porten, die Erfahrungen der Flüchtlinge als Open Access Audioscript Online-Portal Radio Mikwe Das AJR Zeitzeugen Archiv Hausangestellte und die Erfahrungen der In- FIS Bildung Literaturdaten- Verfolgung und Vernichtung »Lernen aus der Geschich- Deutschsprachiges ternierung auf der Isle of Man genannt. Der bank kostenfrei im Internet der Jüdinnen und Juden te« in neuem Design und jüdisches Web-Radio Großteil der Interviewten wurde in Berlin Refugee Voices – The AJR (31) und Wien (24) geboren. in Dresden 1933–1945 mit erweitertem Angebot Audio-Visual Testimony Jedem Interview beigefügt sind Auf- Die renommierte FIS Bil- Radio Mikwe, ein Projekt Archive ist eine Sammlung von 150 ge- nahmen von Fotografi en von Familienmit- dung Literaturdatenbank ist Das Audioscript zur Ver- Mit dem Relaunch seines des Jüdischen Museums fi lmten Interviews mit ehemaligen Flücht- gliedern und Freunden des Interviewten, jetzt kostenfrei im Internet verfügbar. Die folgung und Vernichtung Webauftritts möchte das Hohenems und zugleich das erste deutsch- lingen des Nationalsozialismus, die heute von Orten, die für den Interviewten von Datenbank enthält über 700.000 Literatur- der Jüdinnen und Juden in Dresden 1933– Bildungsportal »Lernen aus der Geschich- sprachige jüdische Web-Radio, ist am in Großbritannien leben. Das Projekt wur- Bedeutung sind, sowie von anderen Do- nachweise zu allen Bereichen des Bildungs- 1945 ermöglicht in 13 Tracks eine Ausei- te« eine Schnittstelle zwischen Wissen- 7. März 2010 auf Sendung gegangen und de 2003 von der Association of Jewish Re- kumenten oder Gegenständen, die eine be- wesens und wird vom Fachinformationssy- nandersetzung mit (stadt-)historischen, phi- schaft und Praxis schaffen. Das Zusammen- jetzt weltweit über das Internet zugänglich. fugees (AJR) in Auftrag gegeben und wird sondere Rolle im Leben des Interviewten stem (FIS) Bildung erstellt, einem Verbund losophischen und künstlerischen Diskursen führen unterschiedlicher Perspektiven soll Radio Mikwe will den vielstimmigen von Dr. Anthony Grenville und Dr. Bea spielten. Diese verfi lmten Fotografi en und von fast 30 Dokumentationseinrichtungen. zur Shoah. Die Hörenden erwartet ein Stadt- eine fruchtbare, theoriebezogene und zu- Diskurs über die Mikwe, über Freiheit und Lewkowicz geleitet. Die Sammlung be- Dokumente stellen eine große Quelle an Das Deutsche Institut für Internationale Pä- rundgang zu exemplarischen Orten der an- gleich auf die Praxis ausgerichtete Diskus- Ritual, Geschlechterrollen und Religion, steht aus mehr als 450 Stunden Filmma- Bildmaterial für Bildungs- oder Dokumen- dagogische Forschung (DIPF), an dem die tisemitischen Verfolgung im Nationalsozia- sion rund um die historisch-politische Bil- Liebe und Sexualität hörbar machen. Radio terial und wird eine wertvolle Quelle für tationszwecke dar. FIS Bildung Literaturdatenbank angesiedelt lismus und deren gegenwärtiger Rezeption. dung anregen. Das Portal gliedert sich in Mikwe sendet Interviews und Informationen, Wissenschaftler, Forscher, Pädagogen und Außer der Erforschung des Beitrags der ist, bringt damit Open Access im Bildungs- Motivation für die Produktion des Au- vier Hauptbereiche: historische Nachrichten, Gespräche und Li- andere Personen mit einem professionellen Flüchtlinge zur britischen Gesellschaft und bereich weiter voran. dioscripts war der Mangel an Kenntnis und »Lernen & Lehren« bietet einen kos- teratur, Musik und Reisereportagen. Radio Interesse im Bereich Flüchtlingswanderung Kultur erfassen die Interviews das große In Verbindung mit weiteren Angebo- Refl exion der nationalsozialistischen Ver- tenlosen Fundus von Unterrichtsmaterialien Mikwe berichtet von den Spannungen und und Holocaust-Studien darstellen. Bei der Spektrum der Erfahrungen von Überleben- ten bietet das DIPF dem interessierten Nut- brechensgeschichte durch die Dresdner Bür- und Methodenvorschlägen für Lehrer/innen den Berührungen zwischen den Religionen, Zusammenstellung der Sammlung wurden den, darunter ein Interview mit einem Zeit- zer ein breites Spektrum an frei verfügbaren gerinnen und Bürger aufgrund ihrer nahezu und Pädagog/innen. Über Aktuelles aus der zwischen Tradition und Gegenwart und über speziell die Anforderungen von Wissen- zeugen, der von Dänemark nach Schweden Fachinformationen zum gesamten Bildungs- ausschließlichen Fokussierung auf die Luft- historisch-politischen Bildungsarbeit infor- die Widersprüche des jüdischen Alltags und schaftlern und anderen Gelehrten berück- in Sicherheit geschleust wurde, ein Inter- bereich. Die FIS Bildung Literaturdatenbank angriffe. Das Hauptaugenmerk lag auf einer miert das monatlich erscheinende LaG-Ma- seiner Geschichte. Auf der Website fi nden sichtigt. view mit einer Frau, die von Bergen-Bel- ist eng mit dem Dokumentenserver pedocs Analyse der deutschen Gesellschaft im Na- gazin. Sie das Programm der Woche und natürlich Alle Interviews wurden vollständig sen in die Schweiz als KZ-Häftling »ausge- und dem Deutschen Bildungsserver (DBS) tionalsozialismus und deren Tradierung so- »Teilnehmen & Vernetzen«, hier kön- die aktuelle Sendung: www.radiomikwe.at transkribiert und katalogisiert, was dem tauscht« wurde, sowie ein Interview mit der vernetzt. Das eröffnet komfortable Such- wie ihrer Kontinuitäten bis in die Gegen- nen Interessierte Fragen und Ideen aus ih- Die derzeitige Ausstellung des Jü- wissenschaftlich Interessierten die Mög- letzten noch lebenden Person, die der Un- möglichkeiten nach Publikationen und Inter- wart. rer Bildungsarbeit einbringen, an Experten- dischen Museums Hohenems, »Ganz rein!«, lichkeit bietet, ein Interview anzuschau- terzeichnung der Israelischen Unabhängig- netquellen. Kostenfrei im Netz vorhandene Die Audioproduktion besteht aus zwölf chats teilnehmen und sich bundesweit und Jüdische Ritualbäder – Fotografien von en und im Anschluss die Transkription des keitserklärung beigewohnt hat. Das Archiv Dokumente können sofort abgerufen werden. Tracks. In den 10- bis 20-minütigen Beiträ- international vernetzen. Peter Seidel / Das Mikwen Projekt – Fotogra- Gesprochenen zu lesen, oder umgekehrt. bietet außerdem Interviews mit Überleben- Die vom DIPF betriebene Online-Platt- gen wird die Geschichte der Orte und der »Online Lernen« präsentiert Web-Se- fi en von Janice Rubin, Texte von Leah Lax Zur Vereinfachung der Bezugnahme sind den, die bisher nur selten über ihre Erleb- form pedocs sammelt Veröffentlichungen der dort stattgefundenen Verbrechen aufgezeigt. minare von Expertinnen und Experten aus (9. März bis 3. Oktober 2010), geht der sowohl die Filme als auch die Transkripte nisse gesprochen haben. Bildungsforschung und der Erziehungswis- Das Audioscript zur Verfolgungsge- Wissenschaft und Praxis zu relevanten The- historischen Tiefendimension jener Reini- mit einem Zeit-Code versehen, der es er- Weitere Informationen über Refugee senschaft, die nach Absprache von den Ver- schichte der Dresdener Juden im National- men der historisch-politischen Bildung. gungsrituale nach, die vom Judentum bis möglicht, bestimmte Passagen ohne großen Voices im Web: www.refugeevoices.co.uk lagen freigegeben wurden. Der Deutsche Bil- sozialismus kann auf der Projekt-Website »International Diskutieren« ist ein zum Ritual der Taufe reichen, und themati- Aufwand zu fi nden. Ein wertvoller Teil des dungsserver ist der zentrale Wegweiser zu in deutscher und englischer Sprache ge- hauptsächlich englischsprachiger Bereich, siert die Renaissance der Mikwe im Zeichen Refugee Voices Archiv ist auch die umfang- Kontakt Bildungsinformationen im Netz. Die koor- hört und heruntergeladen werden. Ein da- der durch internationale Fachbeiträge, Pro- einer umstrittenen neuen jüdischen Spiritu- reiche Datenbank, die einen Index der In- Michael Newman, Director dinierende Geschäftsstelle des DBS ist am zugehöriger Stadtplan steht ebenfalls zum jektvorstellungen und Expert/innenchats alität. Die Ausstellung entstand in Zusam- terviews sowie Details über die Interview- Association of Jewish Refugees DIPF angesiedelt. Mit dieser Fülle an Dienst- Download zur Verfügung. Das Audioscript vielseitige Perspektiven eröffnet. menarbeit mit den Jüdischen Museen Frank- Jubilee House, Merrion Avenue, Stanmore ten und ihre Lebensgeschichten enthält. Die Middsex HA7 4RL, UK leistungen bekennt sich das Institut eindeutig kann außerdem auf mp3-Playern an zwei furt am Main, Fürth und Wien. Interviews sind nach 44 Kategorien katalo- Tel.: +44(0)20.8385-3070 zu den Prinzipien des Open Access. Stationen in der Innenstadt Dresdens aus- Kontakt gisiert, darunter Geburtsort, Angaben über Fax: +44(0)20.8385-3080 geliehen werden. Informationen hierzu sind Lernen aus der Geschichte e.V. Kontakt die Eltern, Art der Emigration, Gefängnis/ [email protected] Kontakt ebenfalls der Website zu entnehmen. c/o Institut für Gesellschaftswissenschaften Jüdisches Museum Hohenems www.ajr.org.uk und historisch-politische Bildung Lager, Beruf etc. und bieten daher eine Fül- FIS Bildung, Alexander Botte Schweizer Straße 5 DIPF – Deutsches Institut für Internationale Technische Universität Berlin A-6845 Hohenems, Österreich le an Informationen für Forscher, die pro- Pädagogische Forschung Kontakt Franklinstraße 28/29, 10587 Berlin Tel. +43(0)5576.739890 blemlos Informationen zu einer großen An- Schlossstraße 29, 60486 Frankfurt am Main Gruppe audioscript Tel.: 030.31473143 offi [email protected] zahl spezifi scher Interessengebiete fi nden Tel.: 069.247083-30, Fax: -38 [email protected] [email protected] www.jm-hohenems.at www.audioscript.net www.lernen-aus-der-geschichte.de können. Hier seien zum Beispiel die Her- [email protected], www.dipf.de www.radiomikwe.at

104 Nachrichten und Berichte Einsicht 03 Frühjahr 2010 105 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Instituts

Forschungsprojekt Ihnen allen begegnet der Ausstellungs- Auch in den hessischen Staatsarchiven la- besucher im Hauptteil wieder, der – ausge- gen umfangreiche Aktenbestände zum The- hend von den Biografi en und zu ihnen zu- ma vor, aber es fehlte an einer zusammen- rückkehrend – auf Tafeln und in Vitrinen hängenden Darstellung. 1999 stellte das erzählt, wie sich die Ausplünderung der jü- Land Hessen die Mittel für ein Forschungs- dischen Bevölkerung vollzog, was sie für projekt zur Verfügung, das vom Fritz Bauer die Opfer bedeutete und wer die Täter wa- Institut in enger Zusammenarbeit mit dem ren. Hessischen Hauptstaatsarchiv durchgeführt Die Tafeln im Hauptteil der Ausstel- wurde. lung entwickeln die Geschichte der Täter- Legalisierter Raub Die gesichteten Devisenakten, Steuer- gesellschaft, die mit einem Rückblick auf Der Fiskus und die Ausplünderung akten, Vermögenskontrollakten und Hand- die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung der Juden in Hessen 1933–1945 akten jüdischer Rechtsanwälte zeigen, dass nach einer Enteignung der Juden gab es unterschiedliche Dienststellen in Finanzbe- nicht erst seit der Machtübernahme der Na- hörden, Zollfahndung und Devisenstellen tionalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, gemeinsam mit der Gestapo und anderen Or- weitverbreitete antisemitische Klischees mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen ganisationen in gesetzlich legalisierten Ak- zurückgreifen, insbesondere auf das Bild und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst tionen Sparbücher, Devisenguthaben und vom »mächtigen und reichen Juden«, der Wertpapierdepots jüdischer Bürgerinnen und sein Vermögen mit List und zum Schaden Bürger einzogen. Sie belegten ihre Opfer mit des deutschen Volkes erworben habe. Vor 12. März bis 22. Oktober 2010 Ausplünderung der jüdischen maliges Jüdisches Ritualbad Rotenburg, konferenz vier Aktenkonvolute der ehema- Sondersteuern und Strafkontributionen und diesem Hintergrund zeichnet das 2. Kapitel Studienzentrum der Bevölkerung in Rotenburg, Volkshochschule des Landkreises Hers- ligen Reichsfi nanzverwaltung, die im Ar- versteigerten öffentlich das Hab und Gut die Stufen der Ausplünderung und die Rolle Finanzverwaltung und Justiz Bad Hersfeld, Bebra und Umgebung feld-Rotenburg, Verkehrs- und Kulturamt chiv der Oberfi nanzdirektion Frankfurt am der aus Deutschland Gefl ohenen oder De- der Finanzbehörden in den Jahren von 1933 Josef-Durstewitz-Straße 2–6 Die Ausstellung wird vom 12. März bis Rotenburg. Main gelegen hatten, an die Frankfurter Jü- portierten. In der Folge verdiente das Deut- bis 1941 nach. Im nachgebauten Zimmer 36199 Rotenburg an der Fulda 22. Oktober 2010 auf Einladung des Stu- dische Gemeinde. Seine Erkenntnisse und sche Reich durch die Reichsfl uchtsteuer an eines Finanzbeamten können die Ausstel- dienzentrums der Finanzverwaltung und Vorgeschichte der Ausstellung Fragen formulierte er so: »Es wurden Tau- denen, die es in die Emigration trieb, wie an lungsbesucher in Aktenordnern blättern: Sie Öffnungszeiten Justiz in Rotenburg an der Fulda und der Eine Ausstellung von Prof. Dr. Wolfgang sende vertrieben, alles sprach dafür, dass denen, die blieben, weil ihnen das Geld für enthalten unter anderem Faksimiles jener Mo., Di., Do. 8.00 bis 18.00 Uhr; Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zu- Dreßen, die 1998 im Stadtmuseum Düssel- sie nie mehr zurückkehren würden«, doch die Auswanderung fehlte oder weil sie ihre Vermögenslisten, die Juden vor der Depor- Mi. 8.00 bis 20.00 Uhr; Fr. 8.00 bis 12.00 Uhr (vom 10. Juli bis 8. August 2010 geschlossen). sammenarbeit Hersfeld-Rotenburg e.V. im dorf unter dem Titel »Betrifft: ›Aktion 3‹. Zweifel, weshalb die Opfer, die angeblich Heimat trotz allem nicht verlassen wollten. tation ausfüllen mussten, um den Finanzbe- Anmeldung zu Gruppenführungen: Wolfgang Hein, Studienzentrum zu sehen sein. Für die Prä- Deutsche verwerten jüdische Nachbarn« nur in die sogenannten »Ostgebiete« um- Die Ausplünderung war ein wichtiger Teil hörden die »Verwaltung und Verwertung« Tel.: 06623.932-126, [email protected] sentation wird die Ausstellung mit einem eröffnet wurde, rückte die fi skalische Aus- gesiedelt werden sollten, keinerlei Möbel, der Vernichtungsmaschinerie und zugleich ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu Ein ausführliches Begleitprogramm zur Ausstellung neuen, regionalen Schwerpunkt versehen, plünderung der Juden im Nationalsozialis- Gebrauchsgegenstände oder Wäsche mehr Bestandteil der NS-Kriegswirtschaft. erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich fi nden Sie auf unserer Website: www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub der sich mit der Ausplünderung der jüdischen mus erstmals in das Blickfeld einer breiteren brauchten, seien in der Finanzverwaltung mit den kooperierenden Interessengruppen Bevölkerung in Rotenburg, Bad Hersfeld, Öffentlichkeit. Gezeigt wurden dort Unter- offensichtlich nicht aufgekommen. Statt- Die Ausstellung in Politik und Wirtschaft, aber auch mit Bisherige Ausstellungsstationen Bebra und Umgebung beschäftigen wird. lagen aus dem Bezirk der Oberfi nanzdirek- dessen habe sie die Einziehung und Ver- Das Forschungsprojekt des Fritz Bauer In- dem »deutschen Volksgenossen« als Profi - Felsberg/Schwalm-Eder-Kreis, Limburg (2007) Darüber hinaus ist ein umfangreiches Be- tion Köln, doch die Ausstellung löste ei- wertung von Vermögen der Deportierten stituts bildete die Grundlage für die gemein- teur. Schließlich wird nach der sogenann- Hanau, Groß-Gerau, Friedberg (2006) Berlin, Offenbach am Main (2005) gleitprogramm mit Lesungen, Zeitzeugen- ne bundesweite Debatte aus: Sie warf ei- »reibungslos und ohne jede Skrupel« admi- sam mit dem Hessischen Rundfunk konzi- ten Wiedergutmachung gefragt: Wie ging Wiesbaden, Wetzlar, Kassel, Fulda (2004) veranstaltungen, Filmvorführungen, Stadt- nerseits erneut die Frage auf, was die deut- nistriert. Große Nachfrage aus der Bevölke- pierte und realisierte Ausstellung sowie für die Rückerstattung in Hessen und Berlin Darmstadt, Gießen (2003) rundgängen und Vorträgen geplant. sche Bevölkerung von der Ermordung der rung verzeichnen die Dokumente auch nach den Film DER GROSSE RAUB (hr, 2002). vor sich, wie erfolgreich konnte sie ange- Frankfurt am Main, Marburg (2002) Neben dem Studienzentrum der Fi- Juden gewusst hatte. Andererseits: Handel- dem gerade erst beschlagnahmten Besitz Die Ausstellung gibt einen Einblick in sichts der gesetzlichen Ausgangslage und Weitere Ausstellungsstationen nanzverwaltung und Justiz und der Ge- te es sich bei den nun veröffentlichten Do- der Deportierten. Bei den öffentlichen Ver- die Geschichte des legalisierten Raubes, in der weitgehend ablehnenden Haltung der Ab November 2010 wird die Ausstellung im Museum sellschaft für Christlich-Jüdische Zusam- kumenten um Steuerakten, die dem Steuer- steigerungen ihrer letzten Habseligkeiten die Biografi en von Tätern und Opfern. Die Bevölkerungsmehrheit sein? Korbach zu sehen sein. Voraussichtlich ab September menarbeit beteiligen sich zahlreiche Insti- geheimnis unterlagen, oder um Akten der sei der Zulauf »außerordentlich groß« ge- einleitenden Tafeln stellen Franz Soetbeer, Im Zentrum der Ausstellung stehen Vi- 2011 wird sie in Gelnhausen gezeigt und ab Januar tutionen und Organisationen an der Vor- historischen Forschung? wesen. Für Karl Starzacher ergab sich aus Walter Mahr, Artur Lauinger, Paul Graupe, trinen, die die Geschichten der Opfer erzäh- 2012 in Eschwege. bereitung der Präsentation: Sparkasse Bad Karl Starzacher, Hessischer Minister den Dokumenten: »Sehr viele haben ge- Alexander Fiorino, Fritz Reinhardt, Martin len: von Erich Ochs aus Hanau, von Frie- Hersfeld-Rotenburg, Landeszentrale für der Finanzen, wies die Finanzbehörden wusst oder haben wissen können, was tat- Buber, Waldemar Kämmerling sowie die da, Julius, Leopold und Johanna Kahn aus politische Bildung, Geschichtsverein des Landes an, in ihren Beständen nach sächlich vor sich ging. Und nicht wenige Familien Guthmann, Cahn, Grünebaum, Groß-Gerau, von Familie Popper aus Kas- Altkreis Rotenburg im VHG, Stadtmar- NS-Unterlagen zu suchen. Im Dezember haben von der Vertreibung der Juden pro- Reinhardt, Pacyna und Goldmann mit ihren sel, von Familie Grünebaum aus Espa und ketingverein Rotenburg, Förderkreis Ehe- 1998 übergab er im Rahmen einer Presse- fi tiert.« Lebensgeschichten bis zum Jahr 1933 vor. vielen anderen.

106 Ausstellungsangebote Einsicht 03 Frühjahr 2010 107 Manche Vitrinen zeigen neben Doku- Die IG Farben und das Ein Leben aufs neu menten und Fotografi en kleine Objekte wie KZ Buna/Monowitz Das Robinson-Album etwa den Klavierauszug, der Gertrud Lands- Wirtschaft und Politik DP-Lager: Juden auf deut- berg gehört hat. Sie sind durch Zufälle, dramatische und gelegentlich wundersame im Nationalsozialismus schem Boden 1945–1948 Umstände erhalten geblieben oder auch Jahrzehnte später wiedergefunden worden. Das Konzentrationslager Die Ausstellung porträtiert Die Ausstellung wandert sehr erfolg- der IG Farbenindustrie AG das tägliche Leben und die reich durch Hessen. Da für jeden Präsenta- in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die Arbeit der Selbstverwaltung eines Lagers tionsort neue regionale Vitrinen entstehen, Kooperation zwischen Wirtschaft und Poli- für jüdische Displaced Persons in der ame- die sich mit der Geschichte des legalisier- tik im Nationalsozialismus bis hinein in die rikanischen Besatzungszone: das DP-Lager ten Raubes im Ausstellungsort beschäftigen, Vernichtungslager. Die komplexe Geschichte Frankfurt- Zeilsheim. Der Fotograf Ephraim »wächst« die Ausstellung. Waren es bei der dieser Kooperation, ihre Widersprüche, ihre Robinson, der selbst als DP in Zeilsheim war, Erstpräsentation 15 Vitrinen, die die Ge- Entwicklung und ihre Wirkung auf die Nach- fertigte nach seiner Einwanderung in die schichten der Opfer erzählten, sind es heu- kriegszeit (die Prozesse und der bis in die Ge- USA ein Album an. Uber das vertraut schei- te weit über 60. Sie entstehen auf der Basis genwart währende Streit um die IG Farben in nende Medium des Albums führt die Aus- weiterer Recherchen und an manchen Or- Liquidation), wird aus unterschiedlichen Per- stelung in ein den meisten Menschen unbe- ten in Zusammenarbeit mit Schülerinnen spektiven dokumentiert. Strukturiert wird die kanntes und von vielen verdrängtes Kapitel und Schülern. Für die Präsentation im Ausstellung durch Zitate aus der Literatur der der deutschen und jüdischen Nachkriegsge- Hermann G. Abmayr (Hg.) Deutschen Historischen Museum in Berlin Menschenmenge bei einer Versteigerung von enteignetem Hausrat deportierter Juden in der Gegend von Hanau, Überlebenden, die zu den einzelnen Themen schichte ein: Fotografi en von Familienfesten Stuttgarter NS-Täter ca. 1942. Der Fotograf, Franz Weber, war von 1935 bis 1966 Leiter der Hanauer Bildstelle. Foto: Bildstelle Hanau wurden der Ausstellung neben dem neu- die Funktion der einführenden Texte überneh- und Schulunterricht, Arbeit in den Werkstät- Vom Mitläufer bis zum Massenmörder en regionalen Vitrinen-Schwerpunkt auch men. Als Bilder werden Reproduktionen der ten, Sporttourneen, Zeitungen und Theater, 384 S., ill., 19,80 EUR, ISBN 3-89657-136-2 Ausstellungstafeln zu den Berliner Finan- Fotografi en verwendet, die von der SS anläss- Manifestationen eines »lebn afs nay«, das «Fassungslos und schockiert, so haben zämtern sowie zum Thema »Wiedergutma- lich des Besuchs von Heinrich Himmler in den Schrecken nicht vergessen macht. die Zuhörer bei der Lesung reagiert.» chung« hinzugefügt. Auschwitz am 17. und 18. Juli 1942 ange- Ein gemeinsames Projekt des Fritz Stefan Klinger, Stuttgarter Nachrichten fertigt wurden. Die Bildebene erzählt also Bauer Instituts mit dem Jüdischen Museum «Die Recherchen des Journalisten Ausstellungsausleihe Druckwerkstatt Fernwald, Hauptstraße 26, 35463 Ausstellungskonzept durchgängig die Tätergeschichte, der Blick München (Maximilianstr. 36, 1989–1998). Ulrich Viehöver setzen dem Mythos Die Ausstellung kann weiter ausgeliehen werden. Fernwald, [email protected]. Dr. Bettina Leder-Hindemith (Hessischer Rundfunk), auf die Fabrik und damit die Technik ste- Zur Ausstellung erschienen: Jacqueline Porsche zu.» Dr. Susanne Meinl, Katharina Stengel und Sie besteht aus circa 60 Rahmen (Format: 100 x 70 Die Materialmappe kann von Schulen unentgeltlich hen im Vordergrund. Die Textebene hinge- Giere, Rachel Salamander (Hrsg.), Ein Le- Nils Klawitter in «Der Spiegel» Stephan Wirtz (Fritz Bauer Institut) cm), 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, 2 Installati- angefordert werden: Ernst-Ludwig Chambré-Stif- gen wird durch die Erzählung der Überleben- ben aufs neu. Das Robinson-Album. DP-La- onen und Lesemappen zu ausgesuchten Einzelfällen. tung, c/o Dr. Klaus Konrad-Leder, Birkenstraße 37, Pädagogische Begleitung den bestimmt, wenn auch häufi g ein Thema ger: Juden auf deutschem Boden 1945–1948. Für jede Ausstellungsstation besteht die Möglichkeit, in- 35428 Langgöns, [email protected]. Gottfried Kößler und Katharina Stengel aus der Sicht von Überlebenden und Tätern Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band (Fritz Bauer Institut) teressante Fälle aus der Region in das Konzept zu über- › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. behandelt wird. Die gesamte Ausstellung ist 8, Verlag Christian Brandstätter, Wien 1995, nehmen.Weitere Informationen für Leihnehmer fi nden Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialis- Kontakt als Montage im fi lmischen Sinn angelegt. Der 128 S., 133 Abb. (leider vergriffen). Sie auf unserem Infoblatt: www.fritz-bauer-institut.de/ mus durch die Reichsfi nanzverwaltung in Hessen. Fritz Bauer Institut Betrachter sucht sich die Erzählung selbst aus legalisierter-raub/info-leihnehmer.pdf Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Katharina Stengel den Einzelstücken zusammen. Um diese Su- Tel.: 069.798 322-40 Bd. 10, Frankfurt am Main, New York: Campus che zu unterstützen, werden in Heftern Quel- Fax: 069.798 322-41 Publikationen zur Ausstellung Verlag, 2004, 748 S., € 44,90. [email protected] lentexte angeboten, die eine vertiefende Lek- › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. türe ermöglichen. Daneben bietet das Fritz Ausstellungsausleihe Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Hes- Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalso- Hessischer Rundfunk Bauer Institut einen Reader zur Vorbereitung Unsere Wanderausstellungen können gegen Dr. Bettina Leder-Hindemith sen-Thüringen, Heft 8, 3. Aufl . 2008, 72 S., € 5,–. zialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz der Ausstellung an. Gebühr ausgeliehen werden. Gerne beraten Tel.: 069.155-40 38 Petra Bonavita Der Katalog kann in der Ausstellung erworben werden. Bauer Instituts, Bd. 15, Frankfurt am Main, [email protected] Die Ausstellung besteht aus 57 Rahmen wir Sie bei der Organisation des Begleit- Mit falschem Pass und Zyankali › Legalisierter Raub – Materialmappe zur Vor- und New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90. (Format: 42 x 42 cm) sowie einem Lageplan programms und senden Ihnen weitere Infor- Retter und Gerettete aus Frankfurt Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs. › D ER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN Weitere Informationen des Lagers Buna/Monowitz und der Stadt mationen und ein Ausstellungsangebot zu. am Main in der NS-Zeit www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub Hrsg. von der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning Auschwitz/Oświęcim. 200 S., ill., 19,80 EUR, ISBN 3-89657-135-4 www.legalisierter-raub.hr-online.de Lich und dem Fritz Bauer Institut. Gießen: Bookx- Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, Konzeption: Gottfried Kößler, Recher- Kontakt im Buchhandel Fritz Bauer Institut press-Verlag der Druckwerkstatt Fernwald, 2002, 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 14,99. che: Werner Renz, Gestaltung: Werner Lott. oder bei Dr. Katharina Rauschenberger www.schmetter- € 8,50. Einzelexemplare können (zuzgl. € 1,30 Ver- Der Film ist in der Ausstellung und über den Unterstützt von: Conference on Jewish Ma- Tel.: 069.798 322-26, Fax: 069.798 322-41 ling-verlag.de sand) bezogen werden: Bookxpress-Verlag der hr-Shop im Hessischen Rundfunk erhältlich. terial Claims Against , New York. [email protected]

108 Ausstellungsangebote Einsicht 03 Frühjahr 2010 109 Publikationen Auswahl aus dem Verzeichnis der lieferbaren Titel

Wissenschaftliche Reihe Schriftenreihe Monica Kingreen »Auch die Musik hat mir mein Leben gerettet.« Der Auschwitz-Prozess Franz Ephraim Wagner, geboren 1919 in Breslau Geschichte, Bedeutung und Wirkung Interview: Petra Mumme, Kamera: Werner Lott Fritz Bauer Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hrsg.) Mit CD mit Zeugenaussagen von Auschwitz-Überle- Frankfurt am Main, 1999, VHS, 100 min (f), D Die Humanität der Rechtsordnung Lachen über Hitler – Auschwitz Gelächter? benden im Originalton. 2004, 112 S., DIN-A 4, € 15,–, Ausgewählte Schriften Filmkomödie, Satire und Holocaust ISBN 3-932883-21-7; Pädagogische Materialien Nr. 8 Ein Leben zwischen Konzentrationslager Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Campus Edition text + kritik, München, 2003, 386 S., 40 s/w und Dorfgemeinschaft Verlag, Frankfurt am Main/New York, 1998, 443 S., Abb., € 27,50, ISBN 3-88377-724-2; Schriftenreihe, Marion Imperatori Ruth Lion, geboren 1909 in Momberg (Hessen) € 24,90, ISBN 3-593-35841-7; Wissenschaftliche Rei- Band 19 Als die Kinder in Langen samstags zur Synagoge Interview: Monica Kingreen und Gottfried Kößler; he, Band 5 gingen Frankfurt am Main, 2000, VHS, 30 min (f), D Catrin Corell Eine Zeitreise in die Vergangenheit. Kinderstadtführer Irmtrud Wojak Der Holocaust als Herausforderung für den Film zum Jüdischen Leben und zur NS-Verfolgung »Rollwage, wann willst Du endlich aufwachen« – Erin- Eichmanns Memoiren Ein kritischer Essay Formen des fi lmischen Umgangs mit der Shoah seit Materialien für die 4. bis 6. Klasse. nerungen an die Kinderlandverschickung 1940–1945 Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2001, 1945. Eine Wirkungstypologie Frankfurt am Main, 2009, 76 S., € 5,–, ISBN 978-3- Herbert Rollwage, geboren 1929 in Hamburg 280 S., 16 Abb., € 25,50, ISBN 3-593-36381-X; Wis- transcript – Verlag, Bielefeld, 2008, ca. 550 S., kart., 932883-23-1; Pädagogische Materialien Nr. 9 Interview: Gottfried Kößler; Kamera: Eberhard Tsche- senschaftliche Reihe, Sonderband zahlr. Abb., ca. € 36,80, ISBN 978-3-89942-719-6; pe, Frankfurt am Main, 2001, VHS, 40 min (f), D Schriftenreihe, Band 20 Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub »… Dass wir nicht erwünscht waren« Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus Jaroslava Milotová, Zlatica Zudová-Lešková, Martha Hirsch, geboren 1918 in Frankfurt am Main, Das Fritz Bauer Institut ver- Jahrbuch zur Geschichte durch die Reichsfi nanzverwaltung in Hessen Jiří Kosta (Hrsg.): Tschechische und slowakische Ju- Reihe »Konfrontationen« und Erwin Hirsch, geboren in Straßburg öffentlicht mehrere Publika- und Wirkung des Holocaust Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2004, den im Widerstand 1938–1945 Interview: Angelika Rieber, Kamera: Gisa Hilleshei- tionsreihen, darunter das Jahrbuch und die 748 S., € 44,90, ISBN 3-593-37612-1; Wissenschaft- Aus dem Tschechischen von Marcela Euler mer. Frankfurt am Main, 1995, VHS, 55 min (f), D liche Reihe, Band 10 Metropol Verlag, Berlin, 2008, ca. 260 S., € 19,–, Gottfried Kößler, Petra Mumme Wissenschaftliche Reihe, jeweils im Cam- ISBN 978-3-940938-15-2; Schriftenreihe, Band 22 Identität / Konfrontationen Heft 1 Die Reihe »Interviews mit Zeitzeugen« umfasst 11 Fritz Bauer Institut (Hrsg.) pus Verlag, und die Schriftenreihe, die in Claudia Fröhlich Frankfurt am Main, 2000, 56 S., ISBN 3-932883-25-X Videos. Sie ist für die Verwendung im Unterricht und »Gerichtstag halten über uns selbst …« verschiedenen Verlagen erscheint. Daneben Wider die Tabuisierung des Ungehorsams Irmtrud Wojak in der außerschulischen Bildungsarbeit konzipiert. Geschichte und Wirkungsgeschichte des ersten Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung Fritz Bauer 1903–1968 Eine Biographie Jacqueline Giere, Gottfried Kößler Die Videokassetten (demnächst auch als DVD-ROM) gibt es Publikationsreihen, die im Eigenver- Frankfurter Auschwitz-Prozesses von NS-Verbrechen Verlag C. H. Beck, München, 2009, 24 Abb., 638 S., Gruppe / Konfrontationen Heft 2 sind zum Preis von € 25,50 zu erwerben. lag verlegt sind, darunter die Pädagogischen Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Irmtrud Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2006, € 34,–, ISBN 978-3-406-58154-0; Schriftenreihe, Frankfurt am Main, 2001, 56 S., ISBN 3-932883-26-8; Wojak. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, Materialien und die Reihe Konfrontationen. 430 S., € 39,90, ISBN 3-593-37874-4; Wissenschaft- Band 23 2001, 356 S., 21 Abb., € 24,90, ISBN 3-593-36822-6; Video-Interviews, Ausstellungskataloge und liche Reihe, Band 13 Heike Deckert-Peaceman, Uta George, Petra Mumme Jahrbuch 2001, Band 5 andere Einzelveröffentlichungen ergänzen Joachim Perels (Hrsg.): Recht und Autoritarismus. Ausschluss / Konfrontationen Heft 3 Thomas Horstmann, Heike Litzinger (Hrsg.) Beiträge zur Theorie realer Demokratie Frankfurt am Main, 2003, 80 S., ISBN 3-932883-27-6 Sonstige Veröffentlichungen das Publikations-Portfolio des Instituts. Fritz Bauer Institut (Hrsg.) An den Grenzen des Rechts Gespräche mit Juristen Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2009, Zeugenschaft des Holocaust Eine komplette Aufl istung aller bisher über die Verfolgung von NS-Verbrechen 384 S, ISBN 978-3-7890-8329-7, € 94,–; Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler, Oliver Tauke Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung erschienenen Publikationen des Fritz Bau- Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2006, Schriftenreihe, Band 24 Ghetto / Konfrontationen Heft 4 Essayband zur Ausstellung Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Michael 233 S., € 19,90, ISBN 3-593-38014-5; Wissenschaft- Frankfurt am Main, 2002, 88 S., ISBN 3-932883-28-4 Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.) er Instituts fi nden Sie auf unserer Website: Elm und Gottfried Kößler. Campus Verlag, Frankfurt liche Reihe, Band 14 Joachim Perels (Hrsg.) Ausgerechnet Deutschland! www.fritz-bauer-institut.de am Main/New York, 2007, 286 S., € 24,90, EAN 978- Auschwitz in der deutschen Geschichte Verena Haug, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kössler Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik 3-593-38430-6; Jahrbuch 2007, Band 11 Katharina Stengel (Hrsg.) Offi zin-Verlag, Hannover, 2010, 258 S., ISBN 978- Deportationen / Konfrontationen Heft 5 Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Bestellungen bitte an die Vor der Vernichtung Die staatliche Enteignung der 3930345724, € 19,80; Schriftenreihe, Band 25 Frankfurt am Main, 2003, 64 S., ISBN 3-932883-24-1 Mit Beiträgen von Dan Diner, Dieter Graumann, Lena Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Juden im Nationalsozialismus Gorelik und Wladimir Kaminer. Karl Marx Buchhandlung GmbH Opfer als Akteure Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2007, Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 2010, 192 Publikationsversand Fritz Bauer Institut Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der 336 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38371-2; Wissen- Todesmärsche und Befreiung / Konfrontationen Heft 6 S., 100 farb. Abb., € 24,95, ISBN 978-3-89479-583-2 Nachkriegszeit. Jordanstr. 11, 60486 Frankfurt am Main schaftliche Reihe, Band 15 Frankfurt am Main, 2003, 56 S., ISBN 3-932883-29-2 Tel.: 069.778 807, Fax: 069.707 739 9 Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Katha- Pädagogische Materialien Ausstellungskatalog rina Stengel und Werner Konitzer. Campus Verlag, Christoph Jahr Alle Hefte der Reihe »Konfrontationen – Bausteine Fritz Bauer Institut (Hrsg.) [email protected] Frankfurt am Main/New York, 2008, 308 S., € 29,90, Antisemitismus vor Gericht für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main www.karl-marx-buchhandlung.de EAN 978-3-593-38734-5; Jahrbuch 2008, Band 12 Debatten über die juristische Ahndung judenfeind- Gottfried Kößler, Guido Steffens (Hrsg.) Wirkung des Holocaust« sind zum Preis von € 7,60 Hrsg. von Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer licher Agitation in Deutschland (1879–1960) 27. Januar – Lerntag oder Gedenktag? (ab 10 Hefte € 5,10) erhältlich. Instituts. Snoeck Verlag, Köln, 2004, 872 S., 100 farb. Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Liefer- und Zahlungsbedingungen Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, Anregungen zur pädagogischen Gestaltung des »Tages und 800 s/w Abb., € 49,80, ISBN 3-936859-08-6 Moralität des Bösen Lieferung auf Rechnung. Die Zahlung ist sofort fällig. ca. 450 S., € 39,90, EAN 978-3-593-39058-1; Wissen- des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus” Ethik und nationalsozialistische Verbrechen Bei Sendungen innerhalb Deutschlands werden ab schaftliche Reihe, Band 16 Frankfurt am Main, 1999, 56 S., € 4,–, DVD-ROM einem Bestellwert von € 50,– keine Versandkosten Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Werner ISBN 3-932883-13-6; Pädagogische Materialien Nr. 6 Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Konitzer und Raphael Gross. Campus Verlag, Frank- berechnet. Unter einem Bestellwert von € 50,– betra- Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.) Interviews mit Zeitzeugen Auschwitz- Birkenau (Hrsg.): Der Auschwitz-Prozess furt am Main/New York, 2009, 272 S., € 29,90, EAN gen die Versandkosten pauschal € 3,– pro Sendung. Das »Großdeutsche Reich« und die Juden. Axel Bohmeyer, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente 978-3-59339021-5; Jahrbuch 2009, Band 13 Für Lieferungen ins Ausland (Land-/Seeweg) werden Nationalsozialistische Verfolgung in den »angeglie- Schwierigkeiten mit Verantwortung und Schuld Directmedia Verlag, 3. Aufl ., Berlin, 2007, Digitale Bi- Versandkosten von € 5,– pro Kilogramm Versandge- derten« Gebieten Kirchen und Nationalsozialismus – Materialien und »Returning from Auschwitz.« bliothek, Band 101, DVD-ROM, ca. 80.000 S., € 45,–, Mitglieder des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. wicht in Rechnung gestellt. Besteller aus dem Ausland Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, Vorschläge zur pädagogischen Arbeit Bernhard Natt, geboren 1919 in Frankfurt am Main ISBN 978-3-89853-801-5 (zeno.org, Bd. 007, € 19,90, können das Jahrbuch zum reduzierten Preis von erhalten eine Vorausrechnung (bei Zahlungseingang ca. 450 S., EAN 978-3-593-39168-7, € 32,90; Wissen- Frankfurt am Main, 2001, 76 S., € 7,60, Interview: Petra Mumme, Kamera: Werner Lott ISBN 978-3-89853-607-3). Zu beziehen über: Direct- € 23,90 (inkl. Versand) abonnieren. wird das Paket versendet). schaftliche Reihe, Band 17 ISBN 3-932883-14-4; Pädagogische Materialien Nr. 7 Frankfurt am Main, 1999, VHS, 110 min (f), D media Publishing GmbH, www.digitale-bibliothek.de

110 Publikationen Einsicht 03 Frühjahr 2010 111 Impressum Fördern Sie mit uns das Nachdenken

Kontakt: über den Fritz Bauer Institut Grüneburgplatz 1 Holocaust D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de

Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse Generalstaatsanwalt Fritz Bauer BLZ: 500 502 01, Konto: 321 901 Foto: Schindler-Foto-Report IBAN DE91 5005 0201 0000 3219 01 BIC/SWIFT Code: HELADEF1822 Steuernummer: 45 250 814 5 5 Einsicht 03 Finanzamt Frankfurt am Main III Bulletin des Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am Vorstand des Fördervereins Direktor: Raphael Gross (V.i.S.d.P.) 13. Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer In- Brigitte Tilmann (Vorsitzende), Gundi Mohr (stellvertretende Vor- Fritz Bauer Instituts Redaktion: Werner Konitzer, Werner Lott, stitut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und sitzende und Schatzmeisterin), Dr. Diether Hoffmann (Schriftfüh- Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger, Wirkung des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein- rer), Prof. Dr. Eike Hennig, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Mai, Frühjahr 2010 Werner Renz andersetzung unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holo- Klaus Schilling, David Schnell 2. Jahrgang Anzeigenredaktion: Manuela Ritzheim caust und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut ISSN 1868-4211 Lektorat: Gerd Fischer trägt den Namen Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen General- Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust Gestaltung/Layout: Werner Lott staatsanwalts und Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Titelbild: Grafi sches Konzept: Surface – in Frankfurt am Main. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürger- Hannah Arendt Gesellschaft für Gestaltung mbH schaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stif- Foto: Erica Loos / Deutsches Herstellung: Druckerei Otto Lembeck Aufgaben des Fördervereins tungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. Literaturarchiv Marbach GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegrün- Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören Erscheinungsweise: zweimal jährlich det worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des Zum Titelthema »Hannah Arendt (April/Oktober) dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und und die Frankfurter Schule« Aufl age: 5.500 ideelle und fi nanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlreicher Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. lesen Sie Beiträge von: Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Er sam- Werner Konitzer, Seite 16 Manuskriptangebote: melt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und die Erwei- Werden Sie Mitglied! Liliane Weissberg, Seite 18 Textangebote zur Veröffentlichung in terung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Öffent- Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– Monika Boll, Seite 24 Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts lichkeit die Ideen, Diskussionsangebote und Projekte des Instituts, Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! Ann-Kathrin Pollmann, Seite 30 bitte an die Redaktion. Die Annahme schafft neue Kontakte und sorgt für eine kritische Begleitung der Frankfurter Sparkasse, BLZ: 500 502 01, Konto: 319 467 Elisabeth Gallus, Seite 90 von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer Institutsaktivitäten. Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei zu- Werben Sie neue Mitglieder! Begutachtung durch die Redaktion. Für nehmend knapper werdenden öffentlichen Mitteln –, die Arbeit und Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die unverlangt eingereichte Manuskripte, den Ausbau des Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Be- Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Fotos und Dokumente übernimmt das stand langfristig zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Fritz Bauer Institut keine Haftung. Gerne senden wir Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust zur Fördermitgliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. Copyright: Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene © Fritz Bauer Institut Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Stiftung bürgerlichen Rechts Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Re- Förderverein Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur den und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschich- Fritz Bauer Institut e.V. mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. te des Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion Einsicht erscheint mit Unterstützung des über Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenver- Grüneburgplatz 1 Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. brechen refl ektieren und bereichern sollen. 60323 Frankfurt am Main Vorzugsabonnement: Mitglieder des Fördervereins können das aktu- Telefon: +49 (0)69.798 322-39 elle Jahrbuch zum Preis von € 23,90 (inkl. Versandkosten) im Abon- Telefax: +49 (0)69.798 322-41 112 Impressum nement beziehen. Der Ladenpreis beträgt € 29,90. [email protected] ROBERTSTEEGMANN Hermann Kaienburg (Hrsg.) $AS+ONZENTRATIONSLAGER Wolfgang Benz .ATZWEILER 3TRUTHOF Nationalsozialistische UNDSEINE!U†ENKOMMANDOS „Der ewige Jude“ AN2HEINUND.ECKAR¯ Konzentrationslager Metaphern und Methoden 1933–1945 nationalsozialistischer Propaganda Klaus Schmidt „Ich habe aus Mitleid gehandelt“ Die Veränderung der Existenzbedingungen Der Kölner Waisenhausdirektor und NS-„Euthanasie“-Beauftragte Friedrich Tillmann (1903–1964)

Geschichte der Konzentrationslager 1933–1945 · Band 11

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Wolfgang Benz Robert Steegmann Hermann Kaienburg (Hrsg.) Klaus Schmidt „Der ewige Jude“ Das KZ Natzweiler-Struthof und Nationalsozialistische Konzentra- „Ich habe aus Mitleid gehandelt“ Metaphern und Methoden seine Außenkommandos an Rhein tionslager 1933–1945: Die Veränd e - Der Kölner Waisenhausdirektor nationalsozialistischer Propaganda und Neckar 1941–1945 rung der Existenzbedingungen und NS-„Euthanasie“-Beauftragte ISBN: 978-3-940938-68-8 ISBN: 978-3-940938-58-9 ISBN: 978-3-940938-37-4 Friedrich Tillmann (1903–1964) ca. 240 Seiten · 19,– € ca. 580 Seiten · 24,90 € 241 Seiten · 19,– € ISBN: 978-3-940938-71-8 Die Ausstellung „Der ewige Jude“ war ab In den Jahren 1941 bis 1945 ließ das NS- Die Geschichte der NS-Konzentrations- 220 Seiten · 19,– € November 1937 zuerst in München, spä- Regime etwa 52 000 Häftlinge aus allen lager weist immer wieder Veränderungen Der christlich geprägte Nationalsozialist ter auch in anderen Städten zu sehen. Sie Teilen Europas in das KZ-Natzweiler- in den Existenzbedingungen auf. Von Friedrich Tillmann, der in Köln als ange- diente als Grundlage für den gleichnami- Struthof im Elsass deportieren. Sie sollten den ersten „Schutzhaftlagern“ 1933 bis sehener Waisenhausdirektor jüdische Kin- gen Propagandafilm, der im November dort und in den Außenlagern auf beiden zu den Massenmorden während des der schützte, wirkte 1940/41 in Berlin als 1940 Premiere hatte. Der Film sollte die Seiten des Rheins Zwangsarbeit leisten. Zweiten Weltkriegs lassen sich Kontinui- Büroleiter bei der „“ mit. Nach Bevölkerung auf den Mord an den Juden Im Laufe seines Bestehens entwickelte sich täten, aber auch Zäsuren und neue Ent- 1945 arbeitete er als Heimleiter. Die Ent- vorbereiten. Die literarische Figur des ewi- Struthof von einem Arbeits- zu einem To- wicklungen feststellen. Die Bedingungen hüllung seiner Vergangenheit im Jahr 1960 gen Juden wurde als Metapher des Hasses deslager. Nahezu 22 000 Häftlinge starben wurden härter und unmenschlicher, erschütterte die Öffentlichkeit. 1964 fand benutzt und mit den Methoden der poli- an Hunger, Entkräftung, Krankheiten – sie kul minierten während des Zweiten der wegen Beihilfe zum Krankenmord An- tischen Propaganda instrumentalisiert. oder wurden direkt ermordet. Weltkriegs in Verelendung, Seuchen, geklagte durch den Sturz aus einem Kölner Massensterben und Massenmorden. Verwaltungshochhaus den Tod.

Wolfgang Benz (Hrsg.) Luise Hirsch Paul Schaffer Vom Schtetl in den Vorurteile in der Hörsaal: „Als ich in Auschwitz war …“ Kinder- und Jüdische Frauen und Erich Kohlhagen Jugendliteratur Kulturtransfer Bericht eines Überlebenden Mit einem Vorwort von Simone Veil Zwischen Bock und Pfahl 77 Monate in deutschen Konzentrationslager

ÜberLebenszeugnisse

minima judaica 9

Positionen Perspektiven Diagnosen Metropol

Wolfgang Benz (Hrsg.) Luise Hirsch Paul Schaffer Erich Kohlhagen Vorurteile in der Kinder- und Vom Schtetl in den Hörsaal: Als ich in Auschwitz war …“ Zwischen Bock und Pfahl Jugendliteratur Jüdische Frauen und Kulturtransfer Bericht eines Überlebenden 77 Monate in deutschen Konzentrationslagern ISBN: 978-3-940938-75-6 ISBN: 978-3-940938-74-9 Mit einem Vorwort von Simone Veil Mit einem Nachwort von Joan Piorkowski ca. 220 Seiten · 19,– € ca. 320 Seiten · 24,– € ISBN: 978-3-940938-76-3 ISBN: 979-3-940938-73-2 Ressentiments gegen Minderheiten in Ju- Ethnische Minderheiten mit Migrations- ca. 150 Seiten · 17,– € ca. 180 Seiten · 17,– € gendbüchern, Schullektüren, Comics oder hintergrund waren nicht immer die Verlie- Paul Schaffer wächst als jüngster Sohn einer Erich Kohlhagen wurde 1938 von den Serien des unterhaltenden Genres sind oft rer im deutschen Bildungswesen. Im Ge- jüdischen Familie in Wien auf. Nach dem Nationalsozialisten verhaftet und in die KZ nicht auf den ersten Blick erkennbar. Im genteil: Jüdinnen, vor allem aus Russland, Novemberpogrom 1938 flieht er mit den Sachsenhausen, Groß Rosen, Auschwitz Kindes- und Jugendalter erworben, bleiben haben die Universitäten des Kaiserreichs Eltern nach Südfrankreich. Dort wird er in- und Mittelbau-Dora verschleppt. Im Jahr sie besonders wirksam und bestimmen das für Frauen überhaupt erst geöffnet. Sieb- terniert und danach mit seiner Mutter und 1946 brachte er seine Erinnerungen an Weltbild vieler Erwachsener. Die Folgen zig Prozent aller Berliner Medizinstuden- Schwester über Drancy nach Auschwitz de- die spezifischen Grausamkeiten der ein- können Ausgrenzung, Diskriminierung tinnen vor 1918 waren Jüdinnen. Damit portiert. Die Frauen werden sofort ermor- zelnen Lager wie die „Isolierung“ und den und Gewalt gegenüber ethnischen, kul- schlug die Minderheit die Schneise, die die gesell- det. Paul überlebt als Zwangsarbeiter bei Zellenbau in Sachsenhausen, die Steinbrü- turellen, sozialen oder sexuellen Minder- schaftliche Mehrheit schließlich auch für Siemens-Schuckert. Bei der Evakuierung che in Groß Rosen, den Todesmarsch aus heiten sein. sich nutzen konnte. des Lagers gelingt ihm auf abenteuerlichen Auschwitz und die unterirdische Raketen- Wegen die Flucht nach Frankreich. Produktion in Mittelbau-Dora zu Papier.

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