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SÜDOSTEUROPA, 54. Jg., 3/2006

Dokumentation

Die Debatte zwischen und Rexhep Qosja um die nationale Identität der Albaner Seit Anfang 2006 erlebt die albanische Öffentlichkeit eine Debatte über die albanische nationale Identität, die im wesentlichen vom republikalbanischen Schriftsteller ISMAIL KADARE und dem kosovoalbanischen Philologen und Literaturkritiker REXHEP QOSJA geführt wird. Es ist nicht die erste Debatte zwischen diesen beiden führenden Intellektuellen des albanischsprachigen Raums. Ihr offener Gedankenaustausch reicht auf dem Gebiet der Sprach- und Literaturwissenschaft bis in die sozialistischen 1970er Jahre zurück. Bis dato freilich ging das Echo ihrer Diskussionen kaum über akademische Krei- se hinaus. Ihre lange Zeit zwar nicht spannungsfreie, aber unaufgeregte Be- ziehung wie auch ihre Wahrnehmung haben sich nun aber grundlegend ge- wandelt durch das Erscheinen von ISMAIL KADAREs Essay "Die europäische 1 Identität der Albaner" und REXHEP QOSJAs Replik "Die vernachlässigte Realität. Kritische Betrachtung der Ansichten Ismail Kadares über die alba- nische Identität"2. Seitdem ist eine Reihe von Interviews, Essays und Zei- tungsartikeln der beiden Autoren wie auch anderer Intellektueller in Albani- en und in erschienen, die sich des Themas der nationalen Identität der Albaner annehmen, dabei nicht selten mit persönlichen, polemischen Be- zügen auf die jeweiligen 'Gegner' in der Debatte. Der renommierteste albanische Schriftsteller und führende Intellektuelle KADARE (international häufig auch in französisierter Schreibung als Kadaré geführt) wurde 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra geboren. Als Student in und später am Gorki-Institut in Moskau zeigte er sehr früh die Neigung zur Dichtkunst. Mit seinem Roman "Der General der toten Ar- mee"3 gelang ihm der Durchbruch als einer der Schriftsteller der Nation. Sei- ne Arbeiten behandeln ein breites Spektrum von Themen, von denen unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Debatte die der Konstruktion albanischer nationaler Identität und der osmanischen Erfahrung der Balkanvölker am wichtigsten erscheinen. Kadares Werke wurden bereits während des Kom- munismus, und werden noch heute, in viele Sprachen übertragen und welt- weit veröffentlicht. Seit 1990 liegt sein Lebensmittelpunkt in Paris. 2004 für den Literatur-Nobelpreis nominiert, gewann er 2005 den gerade eingeführten Internationalen Man Booker Preis.

1 Kadare, Ismail: Identiteti evropian i shqiptarëve [Die europäische Identität der Albaner]. Tirana: Onufri 2006. 2 Qosja, Rexhep: Realiteti i shpërfillur. Vështrim kritik mbi pikëpamjet e Ismail Kadaresë për identitetin shqiptar [Die vernachlässigte Realität. Kritische Betrachtung der Ansichten Is- mail Kadares über die albanische Idenität]. Tirana: Botimet Toena 2006. 3 Kadare, Ismail: Der General der toten Armee. Zürich: Ammann Verlag 2004. Übersetzung von Joachim Röhm. 452 Dokumentation

Sein Diskussionspartner, REXHEP QOSJA, ebenfalls Jahrgang 1936 und geboren im montenegrinischen Bergdorf (alb. Vuthaj) nahe (alb. Guci), ist seit langem einer der führenden Intellektuellen in Kosovo, als Sprachwissenschaftler und in seiner publizistischen Resonanz aber auch eine ausgesprochen gesamtalbanische Autorität. Versuche, in der Politik aktiv zu werden, hatten allerdings bislang wenig Erfolg. Spätestens seit der laufenden Identitätsdebatte und insbesondere durch seine Artikel in den Tiranaer Zei- tungen (Shqip, Korrieri, Shekulli) sind Qosja und seine Konzeption albani- scher nationaler Identität nun auch für die weitere republikalbanische Öffent- lichkeit ein Begriff und ist er ein Kadare im Ansehen ebenbürtiger Diskussi- onspartner. Der wichtigste Argumentationsstrang der Debatte knüpft sich an die Frage, ob und wieweit das osmanische Erbe Teil der nationalen Identität der Albaner ist. Die Antwort KADAREs in der "Europäischen Identität der Alba- ner" lautet, Albanien gehöre nicht nur geographisch, sondern auch auf der Ebene der Zivilisation gänzlich zu Europa. Daraus ergibt sich nach Kadare ein klares Ziel für die albanische Nation: die Vereinigung mit der europäi- schen Völkergemeinschaft. QOSJA dagegen vertritt in seiner "Ideologie der Zersetzung" die Ansicht, daß die Albaner ihrer geographischen und kulturellen Bestimmung nach eine vermittelnde Rolle spielen und einen entspannenden Einfluß auf die Bezie- hungen des Westens mit dem Osten bzw. dem Orient ausüben können. Er wirft Kadare vor, von zwei falschen Grundannahmen auszugehen: Erstens von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit der kulturellen Unterschiede zwi- schen dem Osten und dem Westen; und zweitens von der Überlegenheit der europäischen Identität gegenüber anderen und insbesondere der muslimi- schen. Er argumentiert, es stehe "außer Zweifel, daß der Weg, den Kadare eingeschlagen hat, unsere europäische Identität nachzuweisen, falsch ist, [und zwar] weil er versucht, etwas aus unserer Identität zu entfernen, das sich nicht herausnehmen läßt".4 Die Debatte wird weitgehend von der Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Zivilisation bestimmt. Um Kadares Gleichsetzung von Eu- ropa, der Europäischen Union und christlicher Zivilisation entgegenzuwir- ken, führt QOSJA Beispiele von Umberto Eco an. Der italienische Intellektu- elle habe sich aus politischen wie kulturellen Gründen gegen die Aufnahme des Konzepts eines christlichen Ursprungs von Europa in die EU-Verfassung ausgesprochen.5 Nicht die muslimische Religionszugehörigkeit eines wesent- lichen Teils der albanischen Bevölkerung, sondern das Demokratiedefizit in Politik und Gesellschaft sieht Qosja als Problem für die EU-Integration.6

4 Qosja, Rexhep: Kadare, Evropa dhe jeta jonë [Kadare, Europa und unser Leben]. In: Shqip, 07.05.2006. 5 Qosja, Rexhep: Idetë raciste të Ismail Kadaresë [Die rassistischen Ideen von Ismail Kadare]. In: Shqip, 03.05.2006. 6 Qosja, Kadare, Evropa dhe jeta jonë (Anm. 4). Dokumentation 453

Davon sei aber in Kadares Abhandlungen keine Rede. Hiermit hängt auch die Kritik Qosjas an dem zusammen, was er als Fehlinterpretation der jünge- ren kosovarischen Geschichte durch Kadare versteht. Dieser interpretiert in der "Europäischen Identität der Albaner" die Massenkundgebungen in Koso- vo von 1981 und 1991 als die Botschaft von "zehntausenden jungen muslimi- schen Albanern, [die] nach den Wurzeln des frühen albanischen Christen- tums suchten, und zwar nicht aus religiösen Motiven, sondern schlicht um zu zeigen, daß ihr Volk viele Jahrhunderte früher als die Slawen in Kosovo be- heimatet war" [S. 44 f.]. Qosja zufolge eine Fehlinterpretation: der Beweg- grund der Demonstrationen war weder religiöser noch archäologischer, hi- storischer oder linguistischer Natur, sondern im Mittelpunkt stand die Forde- rung nach der Republik Kosovo, in der Hoffnung, daß diese sich eines Tages mit Albanien werde vereinigen können.7 QOSJA warnt auch vor den außenpolitischen Implikationen der Darle- gungen Kadares. In der "Europäischen Identität der Albaner" nämlich zeigt sich KADARE sehr skeptisch gegenüber Beziehungen zu muslimischen Län- dern. Dramatisch kritisiert er den 1992 erfolgten Beitritt Albaniens zur Or- ganisation der Islamischen Konferenz: "Wie ein blinder Vogel flog eine al- banische Gesandtschaft nach Dschiddah, ein Flug, nach dessen Ende Alba- nien in der Islamischen Liga erwachte" [S. 11]. Qosja trifft die Feststellung, Kadare sei "gegen jede Beziehung Albaniens mit dem Nahen, Mittleren Osten und jedem muslimisch bewohnten Land", offensichtlich nicht ganz ohne Grund. Rasch hat sich in dieser noch nicht abgeschlossenen Identitätsdebatte ei- ne mittlerweile fast unüberschaubare Anzahl von Persönlichkeiten aus Alba- nien, Kosovo, Makedonien sowie der Diaspora zu Wort gemeldet. Meist wird versucht, Partei entweder für Kadare oder für Qosja zu ergreifen, wobei die erste Stoßrichtung überwiegt. Falsch wäre indessen die Annahme, diese Intellektuellendebatte lasse sich entlang der albanisch-kosovarischen bzw. albanisch-exjugoslawischen Grenze gliedern. Während z.B. aus Albanien der prominente Publizist FATOS LUBONJA sowie der Schriftsteller und sozialisti- sche Weggefährte Kadares, DRITËRO AGOLLI, Qosja beigesprungen sind, ha- ben einige albanische Intellektuelle aus Kosovo und Makedonien die Kon- zeptionen Kadares über die nationale Identität übernommen und untermau- ert. Die größte Würdigung erfuhr Kadare durch den albanischen Premiermi- nister , der eigentlich verantwortlich für die Mitgliedschaft Al- baniens in der Islamischen Liga ist. Er wies Kadare den Ehrenplatz eines "modernen Vertreters der Rilindja"8 zu, gemeint als Anerkennung der An- sichten Kadares über die Nation in tagespolitischer wie auch in langfristiger, zukunftsweisender Sicht. Wie polarisierend diese Debatte in der Öffentlich-

7 Qosja, Rexhep: Gjeografia lëvizëse [Die bewegliche Geographie]. In: Shqip, 05.05. 2006. 8 Als Rilindja kombëtare, "nationale Wiedergeburt", wird in der albanischen Historiographie die Nationalbewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Zu Berishas Wortmel- dung siehe . 454 Dokumentation

keit gewirkt hat, zeigt ein Artikel9 des vormals politisch verfolgten Künstlers MAKS VELO. Er bezeichnet darin Qosja als einen "typisch islamischen, völlig orientalischen Gelehrten", wobei dies im Falle Qosjas genetisch determiniert sei. Des weiteren bringt Velo zum Ausdruck, was Kadare sich vermutlich nie erlauben würde: Die albanischen Muslime werden des Verrates am Christen- tum und an Europa sowie der Verantwortung für die rückständige Lage be- zichtigt. "Zumindest jetzt mögen die Nachfahren der Verräter schweigen.." Die Argumentation kulminiert bei Velo in einem Aufruf zum "vorsichtigen Umgang mit den Kosovaren". "Sie sind noch primitiv und werden uns endlo- se Probleme verursachen". Distanzierter spricht sich PËLLUMB XHUFI, Historiker und Diplomat aus Albanien, für eine Identitäts-Debatte jenseits der Huntingtonschen These vom Zusammenprall der Kulturen aus, und für eine Akzeptanz der albani- schen Nation, wie sie in der Gegenwart "nach einer langen historischen Rei- se"10 auftrete. Durch die positive Anerkennung der religiösen Vielfalt bei gleichzeitiger Zuordnung zu der "gemeinsamen und starken Hauptquelle" begibt sich Xhufi näher an die Konzeption Qosjas als an diejenige Kadares. In einem weiteren Artikel11 kritisiert Xhufi denn auch sowohl die Ansichten Velos als auch die Art und Weise, wie Kadare seine Ideen dem Publikum präsentiere: "In freimaurerischer Manier, ohne die Teilnahme der 'anderen', im Stile der Lynch-Sitzungen der (sozialistischen) Liga der Schriftsteller". Als eine Fortsetzung der sozialistischen Streitkultur versteht die Debatte Qosja – Kadare auch der schon erwähnte FATOS LUBONJA. Lubonja stellt in den Positionen Kadares einen politischen Rechtsruck bei gleichzeitiger Wah- rung alter kommunistischer Charakteristika fest. Für ihn kein Widerspruch, wenn man bedenke, daß "Enver Hoxhas Kultur eine national-kommunisti- sche gewesen" sei. Neu sei die Orientierung Kadares nur insofern, als er das Feindbild Westen aus seinen Konzeptionen gestrichen habe; der Osten dage- gen noch als Feindbild verblieben sei. In dieser Neuorientierung nach Europa erscheine jedoch die Frage gerechtfertigt: Warum ist Europa mit dem Katho- lizismus und nicht etwa mit der Aufklärung zu identifizieren? 12 Auf dem Balkan finden seit den einzelnen "Wenden" diverse politische und geistige Neuorientierungen statt. In diesem Rahmen ist auch die gegenwärti- ge albanische Debatte zu verorten. Freilich ist ihr sprachliches und konzep- tionelles Spektrum eng begrenzt. Zum einen existiert in den Konzeptionen nationaler Identität Kadares wie Qosjas kein grundsätzlicher Unterschied: Beide gehen von einer statischen Idee der Nation aus, die durch die Zeiten

9 Velo, Maks: Qoseizmi ose teoria e urrejtjes. [Qoseismus oder die Theorie des Hasses]. In: Shekulli, 20.06.2006, auch unter . 10 Unter . 11 Xhufi, Pëllumb: Mjerimet e një sinodi [Das Elend einer Synode]. 24.07.2006, unter . 12 Lubonja, Fatos: Degradimi qëndron në karakterin e marëdhënieve që po ndërtohen midis shqiptarëve [Entwürdigend ist der Charakter der Beziehungen zwischen den Albanern]. In: Standart, 13.05.2006. Dokumentation 455

transzendiert. Beiden – Qosja etwas weniger – fehlt ein tieferes Verständnis für individuelle oder Gruppenidentitäten, die in der Wertigkeit über der Na- tion denkbar sind. Der Unterschied liegt in den Details: Während Kadare wichtige Bestandteile einer nationalen Identität in Frage stellt und andere überbetont, möchte Qosja all diese Bestandteile in die übergeordnete Identi- tät integriert wissen. Insoweit könnte man Kadare einen Idealisten, Qosja hingegen einen Realisten nennen. Im übrigen wird diese Debatte in einer hermetischen Sprache geführt und richtet sich auch an ein geschlossenes – albanisches – Publikum. Ob- wohl einige schlichtend auftretende Gesprächspartner behaupteten, Kadare habe sein Essay für ein europäisches Publikum geschrieben, könnten die dar- in enthaltenen nationalen und nationalistischen Konzeptionen keiner euro- päischen wissenschaftlichen und intellektuellen Kritik standhalten. Anderer- seits wird eine solche Identitätsdebatte zum ersten Mal im albanischsprachi- gen Raum geführt, was ihren ausufernden Charakter erklären mag. Wie sie geführt wird, zeugt von erheblichen Verständigungsproblemen in der albani- schen Kommunikationsgemeinschaft. Diese Probleme haben hauptsächlich einen Hintergrund: Die nationalistischen Deutungsmuster Hoxha-Albaniens, die auch die Albaner des Kosovo geprägt haben. Der Kommunismus ver- mochte nicht, die tatsächliche Vielfalt einer nationalen Identität mit all ihren Zusammenhängen und Widersprüchen auszuradieren, obwohl er sich des Leitspruchs aus der Rilindja-Zeit "Die Religion des Albaners ist das Alba- nertum" bedient hat. Da freilich die Rilindja keine einheitliche Bewegung mit deutlich formulierten Zielen war, sondern ein durchaus auch wider- sprüchlicher Komplex politischer, gesellschaftlicher und historischer Prozes- se, war es während des Kommunismus einfach, ein nationales Narrativ mit marxistischer Begrifflichkeit zu entwerfen, um es dann auf nach Maßgabe der herrschenden Ideologie "auserwählte" historische Persönlichkeiten zu- rückzuprojizieren. Im Grunde setzen Kadare wie Qosja ihre eigenen Versio- nen des albanischen Nationalkommunismus fort: Kadare, indem er die dia- lektischen Unvereinbarkeiten zwischen Ost und West weiter konstruiert; und Qosja, indem er der Nation alles unterordnet. Daß jedoch nach den Zeiten des albanischen Atheismus nun auch die Religion als ein Bestandteil der na- tionalen Identität aufgegriffen wird, und daß nach dem Monismus auch die Pluralität von Identitäten als berechtigt betrachtet wird, kann als Fortschritt bezeichnet werden. Als positiv ist auch eine Tendenz in der albanischen Gei- steswissenschaft zu werten, vertreten von jungen Wissenschaftlern, in der in einem breiteren Kontext die albanischen Geschichtsnarrative auf Grund der Orientalismustheorien und des internationalen Forschungsstands analysiert und hinterfragt werden.13

13 Siehe Sulstarova, Enis: Arratisje nga Lindja. Orientalizmi shqiptar nga Naimi te Kadareja [Flucht aus dem Osten. Der albanische Orientalismus von Naim (Frashëri) zu Kadare]. Tira- na: Botimet Toena 2006. Vgl. auch Çela, Alba: 'Orientalism' in Service of Contemporary 456 Dokumentation

Kadare, Ismail: Identiteti evropian i shqiptarëve [Die europäische Identität der Albaner]. Tirana: Onufri 2006. (Auszüge) "Die indirekte Nostalgie, die heute bei uns für den Osmanismus in Erscheinung tritt, ist nicht allein erstaunlich. Sie ist in erster Linie erniedrigend. Das gleiche gilt für den Geist des Haxhi Qamili14, der immer öfter in den albanischen Gebieten auftaucht. Die Statue, die 2001 im Zentrum von Tirana einem zum angeblichen Gründer der Stadt ernannten osmanischen Anführer15 errichtet wurde, war die größte Beleidigung für die Hauptstadt des Staates, die Geschichte und das albanische Gewissen. Einzig ein Volk, das die Freiheit nicht verdient, kann seinem Besatzer ein Denkmal errichten. […] Dieses Denkmal ist die Verkörperung politischer und moralischer Korrum- pierung höchsten Grades. Die Historiker haben diesen vermeintlichen Gründer als sol- chen schon ad acta gelegt. Der Name Tirana bezeichnet eine Siedlung aus viel älterer Zeit als jene dieses Paschas.16 Wir haben keine Vorurteile gegen die Errichtung von Denkmälern für fremde Persönlichkeiten – seien diese Stadtgründer oder Ankömm- linge aus der osmanischen Welt. Jedoch ist der Mensch, den dieses Denkmal reprä- sentieren soll, weder ein Philosoph, noch Dichter, Erbauer, Wohltäter, oder meinet- wegen ein Mystiker jener Welt. Eine Persönlichkeit, der das albanische Volk aus dem einen oder anderen Grund zu Dank verbunden wäre. Er ist keiner dieser Art. Er ist einfach ein osmanischer Militärführer – mit dem Schwert in der einen Hand und dem Ferman in der anderen. Er sei Albaner, könnte jemand sagen. Dann um so schlimmer. Er wäre dann ein Albaner, der per Erlaß des Sultans die Umgebung von Tirana als Großgrundbesitz [çiflig] übernommen hat. Die schicksalhafte Frage kann in diesem Fall nicht vermie- den werden: Für welche Verdienste hast du, Pascha, dieses çiflig bekommen? Das Denkmal kann nicht sprechen, wir jedoch wissen die Wahrheit. 1606, im ersten Jahr-

National Identity Building in . The Literary Work of Ismail Kadare. Magisterarbeit, CEU Budapest 2006; unter , eingesehen am 02.10.2006. 14 Qamil Xhaneta, bekannt als "Haxhi Qamili": Anführer eines 1914 in Mittelalbanien ent- flammten Aufstandes, der sich gegen den von den Großmächten als Fürsten von Albanien eingesetzten Prinzen Wilhelm von Wied und die von Esat Toptani geführte Regierung rich- tete. Während in der kommunistischen Historiographie die historische Person Haxhi Qamili hochgeschätzt wurde und sein Aufstand als Klassenkampf der einfachen Bauern gegen die Fremdherrschaft und die Großgrundbesitzer interpretiert wurde, stehen sein Name sowie der Begriff "Haxhiqamilismus" heute für Rückständigkeit und orientalische Mentalität. Siehe hierzu zwei Texte von Mithat Frashëri und Enver Hoxha unter , eingesehen am 01.10.06. 15 Die Rede ist von Sulejman Pasha Bargjini (auch Suleyman Barkin-Zade), auf den die Stadt- gründung Tiranas im Jahr 1614 zurückgeht. Er stammte aus dem Dorf Bargjin in der Umge- bung von Tirana. Für die in den persisch-osmanischen Kriegen gezeigte Tapferkeit wurde er von Sultan Ahmet I. (1603–1617) zum Pascha erhoben. Starb 1622 im Irak. Siehe hierzu Frashëri, Kristo: Historia e Tiranës [Die Geschichte Tiranas]. Bd. 1. Tirana: Botimet Toena 2004. 16 Der Name Tirana ist wohl tatsächlich älter. Jedoch geht es bei der Stadtgründung um die Aufwertung des Status der Siedlung zu einer Stadt und den Bau von Einrichtungen (Markt, Bäckerei, Gasthof), die von städtischem Leben zeugen. Dokumentation 457 hundert der Besatzung, als Albanien noch blutete, empfing dieser Pascha vom Sultan einen Ferman. Und nun müssen wir, zu unserer Schande und der des Staates, der dem Vaterlandsleugner jenes Denkmal errichtet hat, diesen in Bronze gegossenen Schrek- ken ertragen. […] Die Botschaft ist mehr als hinterhältig: Fürchtet euch nicht, euer Land zu verleugnen, ihm gar verräterisch in den Rücken zu fallen. Es wird euch nicht schaden, im Gegenteil: Man könnte euch ein Denkmal errichten!" [S. 52–54]

"Das falsche Klischee, Albanien lasse sich als Mittlerland, als ein Sandwich zwischen Orient und Okzident begreifen, als eine Zivilisation, die weder hierher noch dorthin gehört, oder anders gesagt als ein 'Weder-Noch-Land', macht uns alles andere als Eh- re. Erstens, weil es unwahr ist. Und zweitens, weil eine solche Eigenschaft zu erstre- ben dasselbe ist, als würde man sich selbst als 'halbgar' erklären, was im Albanischen unter anderem 'Schwachkopf'17 bedeutet." [S. 55] [...... ] Wenn es für die Albaner ein vorherbestimmtes historisches Schicksal gegeben hat, dann ein anderes als das des Vermittlers. […] Das Schicksal bestimmte für die balkanischen Völker und unter ihnen auch für die Albaner, Kämpfer Europas im Zen- trum des osmanischen Reiches zu sein, ohne daß sie selbst, ja ohne daß Europa dies wußte. Als solche sind sie immer, wenn auch leidvoll, an den Wurzeln Europas gewe- sen. Und ein schmerzhaftes Dasein ist nie ein Fernsein, ganz im Gegenteil." [S. 61f]

"Das albanische Volk hat keine halbe, geheuchelte oder hinter einem bunten Gemisch von Lügen verborgene Identität. Seine Identität ist klar […]. Die Albaner sind eines der ältesten Völker des europäischen Kontinents, eines seiner Gründervölker [popull themeltar], wie auch die albanische Sprache von allen großen Linguisten als eine von 10 oder 12 Grundsprachen des Kontinents anerkannt worden ist. Die Geographie, diese hartnäckigste Sache der Welt, bezeugt als erste das Euro- päischsein der Albaner. […] [Einige] erzeugen den Eindruck, daß Albanien am Rande Europas liege, und gleich dahinter die Türkei oder Asien beginne. Jedoch zeigt ein Blick auf die Karte, daß vor jener Grenze noch mindestens drei andere Staaten liegen: Makedonien, Griechenland und Bulgarien. Ganz zu schweigen von jenem Gebilde, das man "europäische Türkei" nennt. Die albanische Bevölkerung ist wie die des gesamten europäischen Kontinents weißer Hautfarbe. Wie ihre Sprache ist sie im günstigsten Fall ein Nachfahre der Illy- rer, im ungünstigsten der Thrako-Illyrer." [S. 21].

"Die Mission der Albaner auf diesem Planeten, ihr Schicksal oder ihre Vorsehung ist die eine, unveränderbare: die Verteidigung der Interessen ihres Landes, das Albanien heißt, und ihres Volkes, das die Albaner sind. Dies und nur dies ist das Programm ei- nes jeden zivilisierten Volkes. Freundschaften, Allianzen, Strategien stehen aus- schließlich damit in Verbindung. Das ist kein Ethno-Egoismus. […] Es ist der Kern

17 Im Original "tarrallak", ein aus dem Türkischen (eigtl. "unreif") entlehntes Wort mit pejora- tiver Konnotation. 458 Dokumentation der europäischen Idee, die Basis, auf der die Europäische Union sich erhebt, jene Union, die auch das Europa der Nationen genannt wird." [S. 58.]

Qosja, Rexhep: Ideologjia e shpërbërjes. Trajtesë mbi idetë çintegruese në shoqëri- në e sotme shqiptare. [Die Ideologie der Zersetzung. Erörterung der desintegrie- renden Ideen in der heutigen albanischen Gesellschaft]. Tirana: Botimet Toena 2006. Hier nach der Internet-Version unter dem Titel: Takimi i madh [Das große Treffen], , eingesehen am 01.10.2006. (Auszüge) "Aus seinem Essay "Die europäische Identität der Albaner" geht hervor, daß Ismail Kadare die Identität als etwas für immer Vorgegebenes behandelt, bestimmt durch die Geographie, die ethnische Herkunft, die Hautfarbe usw.! […] Die materielle und gei- stige Kultur, Religion, Tradition, Sitten und Geschichte hinterließen keinerlei Spuren in der Identität der Individuen, ethnischen Gruppen und Völker – als ob sie gar nicht existierten! […] In seinem Essay urteilt und verallgemeinert Kadare die Identität, indem er außer acht läßt, daß es einzelne und allgemeine, individuelle und kollektive, herkömmliche und neue, historische und kulturelle, politische und geistige, religiöse und staatliche Identitäten gibt. Und darüber hinaus noch andere. All diese Identitäten, die mehr oder weniger gesonderte Identitäten in einem engeren Sinn sind, werden in einer Allge- meinheit bzw. Ganzheit vereint, die wir nationale Identität nennen. Konkreter: es gibt Albaner mit kosovarischer, labischer18, gegischer, toskischer, mirditaer19, "berglerischer" (malësor20) Identität, jedoch vereinen sich all diese geson- derten Identitäten in jene Allgemeinheit, jenes Allgemeine und Ganze, die wir albani- sche nationale Identität nennen. Darüber hinaus gibt es Albaner mit katholischer, orthodoxer, muslimischer, pro- testantischer, atheistischer Identität, aber all diese gesonderten, engeren, kleineren Identitäten vereinen sich auf Grund der in jeder von ihnen enthaltenen Gemeinsam- keiten in jene Allgemeinheit, jenes Allgemeine und Ganze, das wir ALBANISCHE NATIONALE IDENTITÄT nennen. [Hervorhebung im Original – E.C.] Wer sich hierüber im klaren ist und Verständnis aufbringt für die Beziehung des Besonderen zum Ganzen, wird keinem vorwerfen, die Albaner in Christen und Mus- limen zu spalten, nur weil er feststellt, daß es Albaner mit christlicher und muslimi- scher Identität gibt – sind diese, ob Christen (Katholiken, Orthodoxen, Protestanten) oder Muslime, doch alle Albaner. Sie sind es auf Grund der in jeder ihrer Religionen enthaltenen albanischen Gemeinsamkeiten. [… ...] Bewegliche Geographie Es verwundert, warum Ismail Kadare, obwohl er auf verschiedenen Kontinenten – gewiß in Amerika, in Asien und Afrika – gereist sein mag, nicht einsehen will, bis

18 Bewohner des südalbanischen Akrokeraunen-Gebirges bei Vlora. 19 Nordalbanische Gebirgslandschaft hinter Lezha. 20 Bezeichnung hauptsächlich für nordalbanische Bergbevölkerung. Dokumentation 459 wohin die Rolle der Geographie bei der Bestimmung der Identität der unterschiedli- chen Völker und ethnischen Gruppen reicht. [… ...] Die Albaner leben auf dem Balkan, diesem peripheren Teil Europas, aber sie le- ben auch in den USA, in Kanada und Australien. Die balkanischen Albaner jedoch, die Gelegenheit gehabt haben, ihre Landsleute auf jenen Kontinenten zu besuchen, vermeinen nicht, daß diese oder zumindest die, die auf dem Balkan geboren worden sind, ihre Identität verändert hätten. Im Gegenteil. Sie sagen, daß die auf anderen Kontinenten lebenden Albaner nicht weniger Albaner sind als wir auf dem Balkan. Sie haben dorthin die nationale Identität übertragen und pflegen die kulturelle Traditi- on mit großer Liebe. [… ...] Wie unhaltbar jedoch der Einfluß der Geographie in der Identität der Völker und verschiedener Gruppen geworden ist, besagt uns auch die Erklärung der bekannten amerikanischen Schriftstellerin Emily Dickinson. Sie gehörte der sogenannten verlo- renen Generation amerikanischer Schriftsteller an und hatte sich entschieden, für eine Zeit fern von ihrer Heimat in Europa, in Paris zu leben. Als ihre Freunde sie einmal fragten, ob sie befürchte, ihre Wurzeln zu verlieren, weil sie so lange fern ihrer Hei- mat, den USA, lebe, antwortete: 'Was nützen mir die Wurzeln, wenn es keine solchen sind, die ich mitnehmen kann?!' Diese [...] Schriftstellerin hatte bereits vor dem Zwei- ten Weltkrieg erkannt, was wir auch siebzig Jahre nach ihr nicht in der Lage sind, zu erkennen, nämlich, daß die Geographie nicht mehr das ist, was sie einst war. [...] Will heißen: Nur jene Politiker und Intellektuellen können die Geographie weiterhin zum entscheidenden Faktor für die Bestimmung der Identität verschiedener Völker und ethnischer Gruppen erklären, die in den Erörterungen über Geographie und Identität im Grunde an die Geographie der Zeit Christoph Kolumbus' denken. Sie vergessen, daß über die Bewegungen der Menschen von einem Kontinent zum ande- ren hinaus auch die Technik und Technologie, die elektronischen Medien, das Internet und die rücksichtslose Globalisierung auf die Identität der Völker wesentlich stärker einwirken als die entthronte Geographie."

Qosja, Rexhep: Të vërtetat e vonuara. Përgjigje e dytë në polemikat e Ismail Kada- resë dhe të bashkëmendimtarëve të tij [Verspätete Wahrheiten. Zweite Antwort auf die Polemik Ismail Kadares und seiner Gleichgesinnten]. Tirana: Botimet Toena 2006. (Auszüge) "Es ist erstaunlich und zugleich erhellend, daß einige Diskussionsteilnehmer, die über die albanische Identität sprechen, nur Albanien vor Augen haben. Aus diesem Grund wird der Name des Landes zum Ersatz für den Namen des albanischen Menschen. […] Es steht außer Zweifel, daß dies eine falsche Voraussetzung für jedes Urteil über die Identität der Albaner ist. Es kann nicht wissenschaftlich über Fragen der albani- schen Identität geurteilt werden, wenn man sich nur Albanien vor Augen hält, d.h. in- dem man alle Albaner auf dem Balkan und in der Diaspora außer acht läßt. Das Urteil über den Teil kann nicht das Urteil über das Ganze ersetzen." [S. 34] 460 Dokumentation

"[Die Vertreter der Rilindja] waren sich bewußt, daß man für Albanien und die Verei- nigung des albanischen Volkes nur arbeiten konnte, indem man die Idee des religiö- sen Pluralismus verteidigte, alle drei Religionen, denen ihre Mitbürger zugehörten – die katholische, orthodoxe und muslimische Religion – gleich achtete, und die Würde dieser drei Religionen als völlig gleichrangig behandelte. Dessen bewußt, machten sie jenen historischen Leitsatz, der eine so große Rolle für die religiöse Toleranz und für die Einigung des albanischen Volkes spielen sollte, zum Lebensideal: DIE RELIGION DER ALBANER IST DAS ALBANERTUM. [Hervorhebung im Original – E.C.] [S. 101] [… ...] Standpunkte zu äußern, die sich gegen eine dieser drei Religionen richten, wie dies Ismail Kadare immer wieder gegen die muslimische Religion tut, und Propaganda zum Frommen einer oder zweier Religionsrichtungen zu betreiben, wie Ismail Kadare dies zum Vorteil des Christentums tut, bedeutet, sich wider das Ideal der Rilindja – den religiösen Pluralismus – zu erheben. Und diejenigen, die sich im albanischen Le- ben, in der albanischen Politik und Kultur gegen dieses Ideal von religiösem Plura- lismus und Gleichbehandlung der Würde aller drei Religionen der Albaner erheben, können weder moderne noch sonst welche Verfechter der Rilindja sein. Die religiöse Propaganda, derer sich Ismail Kadare seit fünfzehn Jahren beflei- ßigt, ob sie nun der muslimischen Religion zum Schaden oder der christlichen zum Nutzen gereicht, ist eine Propaganda, die im Widerspruch zum Ideal der Rilindja steht, und als solche in ihrem Kern eine Tätigkeit, die nur antinationale Effekte haben kann." [S. 102]

Einführung und Übersetzung der Texte aus dem Albanischen: Egin Ceka, Wien