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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 27. Dezember 1999 Betr.: Titel, SPIEGELreporter, Augstein

um Jahresende erscheint in ungewöhnlicher Form. Geplant war Zein Titel zum bevorstehenden Jahrtausendwechsel (der genau genommen ja erst am 31.12.2000 ist) mit großen Geschichten zu den wichtigen Fragen von Gegenwart und Zukunft. Den vorderen Teil des Heftes sollte die aktuelle Berichterstattung fül- len – auch die Affäre Kohl gehörte dazu. Doch als Mitte vergangener Woche der end- gültige Niedergang des CDU-Patriarchen offenkundig wurde, stand fest: Auf den Ti- tel muss Kohl.Weil das Millennium-Stück schon im Andruck war, gibt es diesmal also zwei Titel. „Kohls zweiter Sturz – Abschied mit Schimpf und Schande“ beschreibt, wie der „ewige Kanzler“ mit der Offenlegung seiner schwarzen Kassen vom Sockel gestoßen wurde – jetzt auch von der eigenen Partei. Im Rückblick erscheinen 16 Jah- re Kohl diskreditiert: die „Bimbes-Republik“. „Wenn mir vor einem Jahr jemand ge- sagt hätte, dass ich mich Ende 1999 mit dieser Affäre beschäftigen muss, dann hätte ich gesagt: Glaub ich nicht“, sagt Kohl-Nachfolger Gerhard Schröder im SPIEGEL. Mit den Redakteuren Stefan Aust, Jür- gen Leinemann und Gerhard Spörl sprach Schröder über das Vertrauen in die Politik und über Deutschlands künftigen Standort in der Europäi- schen Union. Der Blick zurück und vor allem nach vorn leitet den zweiten, ursprüngli- chen Titel des SPIEGEL – denn egal, ob das Millennium jetzt zu Ende geht

oder nicht: Im Bewusstsein der M. URBAN meisten Menschen findet ein Epo- Spörl, Aust, Schröder, Leinemann chenwechsel statt. Wie die Zukunft von Arbeit, Kultur, Politik und Wirtschaft aussehen könnte, schildern SPIEGEL- Redakteure und Autoren. „Was bleibt, was kommt“ ist eine Frage, die uns nicht nur diese Woche beschäftigen wird. Deshalb beschreibt das neue Magazin SPIEGELreporter seit Oktober jeden Monat in Reportagen und Essays mutige Pioniere, Projekte und Ideen, die die Welt ver- ändern. Die Titelstory der Januar-Ausgabe („Die modernen Abenteurer“) erzählt, warum gerade Erfolgsmenschen mit dem Schicksal spielen, warum Unternehmer wie Jürgen Schrempp und Hubert Burda das Abenteuer suchen und warum junge Deutsche als Ärzte in den Krieg ziehen oder sich als Firmen- gründer in Asien durchschlagen. SPIEGELreporter ist von Dienstag an im Handel.

iel Ehre für SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein: Er ist „Journalist des VJahrhunderts“. Das Frankfurter „MediumMagazin“ hat 100 leitende Kollegen deutscher Zeitungen, Zeitschriften und elektronischer Medien gefragt, wer diesen Titel wohl tragen dürfe. Eine deutliche Mehrheit entschied sich für Augstein – vor dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch und den Watergate- Enthüllern Bob Woodward und Carl Bernstein. Warum Augstein? „Weil er über fünf Jahrzehnte seiner Vision vom kritischen Journalismus treu ge- blieben ist“, so die Begründung der Juroren. Des Lobes nicht genug: Der Branchendienst „Kress Re-

port“ ernannte Augstein dieser Tage auch noch zum M. ZUCHT / DER SPIEGEL „Verleger des Jahrhunderts“. Augstein

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 52/1999 5 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Schluss mit Kohl ...... 26 S. 26 bis 42 Die verschwundenen Leuna-Akten ...... 34 Kohls Ende Wie das System Kohl funktionierte...... 37 Die schwarzen Kassen des Hel- SPIEGEL-Gespräch mit Bundestagspräsident mut Kohl überschatten nun seine Wolfgang Thierse über Kohls Gesetzesbrüche ganze Ära. Das Denkmal des und die Folgen für die CDU...... 42 Einheitskanzlers stürzt, und die CDU fürchtet, von den Trümmern Kommentar schwer beschädigt zu werden. Die Rudolf Augstein: Ein Lehrstück Absetzbewegungen von der Vater- in Sachen Ehre...... 30 figur sind für die Parteierneuerer um schwierig. Denn das System Kohl war auch über

DPA 25 Jahre das System der CDU. Panorama: Bürger gegen Ökosteuer / Holzmann-Sanierung droht zu scheitern...... 19 Kohl (im ZDF bei „Was nun?”) Flug-Affäre: Strafverfahren gegen Politiker .... 44 Jahrtausendwende: Krisenstäbe in Berlin und anderen Großstädten bereiten sich auf den Ernstfall vor ...... 48 Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über den dritten Prozess gegen Monika Böttcher, geschiedene Weimar ...... 50 Russland: Putins Triumph...... 54 Fernsehen: Das aufwendige Silvesterprogramm der TV-Sender...... 56 Bestseller des Jahres 1999 ...... 59 Film: Der US-Gruselhit „The Sixth Sense“ läuft in den deutschen Kinos an...... 60 Interview mit „Sixth Sense“-Star Bruce Willis über Kino-Action und Geister-Horror...... 61

Briefe...... 10 Impressum ...... 16, 198 78 86 FOTOS: F. HELLER / ARGUM (li.); F. FOTOS: AP (re.) Leserservice ...... 198 Bayerische Trachtengruppe Schröder in Berlin Register ...... 200 Personalien...... 202 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 204 WAS IST DEUTSCH? Zum Ende des Jahrtausends haben die Deutschen die Frage ihrer nationalen Ein- heit gelöst, aber was deutsch ist, wissen sie noch immer nicht – typisch ist gerade diese Selbstungewissheit. Im SPIEGEL-Gespräch über seine Erwartungen ans kom- mende Jahrhundert sagt Kanzler Gerhard Schröder: „Wir kommen von den selbst Was bleibt, verschuldeten Verhängnissen unserer Vergangenheit so leicht nicht los.“ was kommt

Titel (2000: Was bleibt, was kommt) WASHINGTON Rätsel um den christlichen Kalender...... 64 REGIERT DIE WELT Deutschland Nichts und niemand kann die Die größten Deutschen ...... 75 einzig verbliebene Supermacht Nationalcharakter: Was ist deutsch? ...... 78 herausfordern: Politisch, wirt- Zukunft: SPIEGEL-Gespräch mit Kanzler schaftlich, militärisch und kultu- Gerhard Schröder über seine Erwartungen rell haben amerikanische Wert- an das kommende Jahrhundert...... 86 vorstellungen auch die letzten Energie: Die Ölkonzerne auf Alternativkurs.. 94 Winkel des Erdballs erobert. Amerikanische Lebensart, von Essay Hollywoods Traumfabrik trans- Das Ende aller Träume ...... 102 portiert, wird selbst von Fein- den übernommen. Dass das Wirtschaft zweite amerikanische Jahrhun- Jahrhundertauto Käfer / Die reichsten dert kommt, ist sicher, ob es Reichen / Die epochalen Irrtümer bleibt, nicht. Gegen den Trium- der Wirtschaftsgeschichte / Wal Mart – phalismus der USA regt sich Wi- die Superaktie ...... 107 derspruch von bis Peking. FOCUS FRANK / WOODFIN / AGENTUR CAMP W. Konzerne: Firmen im Fusionsfieber ...... 110 132 Arbeitswelt: Das Ende des Arbeitnehmers? .. 116 Freiheitsstatue in New York

8 der spiegel 52/1999 Medien Die Quotenhits des TV-Zeitalters / Die Stunde der Krisenstäbe Seite 48 Auflagendoping durch Sex / Wie künftige Computerfehler könnten Atommeiler, Telefonnetze und die Stromzufuhr lahm legen Medien-Experten „Derrick“ – zum Datumswechsel machen sich Krisenmanager,Ärzte und der Katastrophenschutz beurteilen werden / Mini-TV-Geräte für auf das Schlimmste gefasst. Mitten im Festlärm muss ein Heer von Polizisten, Feuer- moderne Menschen ...... 121 wehrleuten und Technikern alarmbereit und nüchtern sein. Die nächsten 100 Jahre der TV-Geschichte ...... 122 Fernsehen: Unterhaltungsmaschine Kandidat für den Kreml Seite 54 im Leerlauf...... 124 „Eine zweite Revolution“ war die Duma-Wahl Ausland für Tycoon Beresowski. Seine Partei siegte, sie Hoffnung auf Abschwächung des

REUTERS baut Premier Putin zum Nachfolger Jelzins auf. Bevölkerungswachstums...... 129 Zeitbombe Megastädte...... 130 Präsident Jelzin, Premier Putin USA: Der weltweite Hegemonieanspruch der letzten Supermacht ...... 132 Die Kriege des 20. Jahrhunderts...... 134 Europa: Die Brüsseler Republik...... 136 DIE NEUEN Russland: Verratene Hoffnungen...... 138 SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Eric Hobsbawm über die Zukunft DIKTATOREN des entfesselten Kapitalismus und die Ohne die Weltbörsen läuft nichts USA als Weltpolizist...... 144 mehr. Die Herren des Geldes Großbritannien: Der unaufhaltsame entscheiden über Fusionen, Ver- Abstieg des Empire ...... 152 käufe, Massenentlassungen – oft im Eiltempo. Die Welt AG ent- Wissenschaft • Technik steht – aber hält sie auch? Exper- Die verrücktesten Erfindungen der ten sagen: Die Mehrzahl der neu- letzten Jahrhunderte ...... 157 en Konglomerate zerfällt wieder. PRESS / REA ACTION SABA Medizin: Mikroben – die Erzfeinde des 110 Homo sapiens...... 160 Börse in Singapur Raumfahrt: Astronaut Ulrich Walter über die Besiedelung der Milchstraße ...... 168 Luftfahrt: Wann lernt der Mensch DIE HEIMLICHEN das Fliegen?...... 172 WELTHERRSCHER Kultur 50 Millionen Menschen weltweit Verkannte Genies des ablaufenden sind vom HI-Virus infiziert. Die Jahrtausends...... 175 Tuberkulose kostet jährlich 3 Mil- Zeitkritik: Gehört der Massenkultur lionen das Leben – allen Trium- die Zukunft?...... 178 phen der Medizin zum Trotz. Zeitenwende: SPIEGEL-Umfrage unter Kulturprominenten über Ängste und Selbst Herzinfarkt, Depression Hoffnungen zum Millennium ...... 184 und Fettsucht könnten durch die Erzfeinde der Menschen verur- sacht sein – die Mikroben. Sport 160 Der dreimalige Olympiasieger Forschung mit gefährlichen Viren Michael Groß über den Wandel der Athleten zu Show-Stars...... 192 BALLERMANN VOR DEM ENDSIEG Im 21. Jahrhundert droht wirklich zu werden, was Denker wie Orte- ga y Gasset für das 20. prophezei- Schön verrückt ten: der Endsieg bunter, lauter Ein Porträt der Schauspielerin Massenkultur über alles befremd- Milla Jovovich. Außerdem lich Individuelle. Statt Nietzsche in kulturSPIEGEL, dem Ballermann – Körperkult, Com- Magazin für Abonnenten: puterspiele, Pop-Events, Techno- Jan Philipp Reemtsma über

Fun, TV-Talk. DPA den amerikanischen Horror- Schriftsteller Stephen King. Disney-„Raumschiff“ in Florida 178

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Menschen wirksam zum Ausdruck ge- bracht werden könnten.“ Dies gilt sicher- „Wenn Gott nicht mehr lich auch noch im 21. Jahrhundert und mag als Vermächtnis und Aufgabe gelten, um würfelt, vielleicht spielt er den Gefahren verselbständigter Systeme jetzt Siebzehnundvier. begegnen zu können. Berlin Ulf Wolter Nicht Einstein schuf das Univer- Ein würdigeres Denkmal, als die Stationen sum, sondern umgekehrt, seiner Karriere und seines bewegten Le- bens in einem sorgfältig recherchierten das Universum schuf Einstein.“ Rückblick aufzuzeigen, konnten Sie Albert Reinhold Bäuml-Lindenthal aus Kempten in Bayern Einstein nicht setzen. zum Titel „Das Gehirn des Jahrhunderts“ Flensburg Lukas J. Kuzak SPIEGEL-Titel 50/1999 Wer hat das in der Theorie der Allgemei- nen Relativität formulierte Wesen der ge- Ihr Artikel wirft die berechtigte Frage auf, krümmten Raum-Zeit als vierdimensiona- Einfach genial was Einstein heute vom „Klonen“ halten lem Gebilde bis heute denn wirklich ver- Nr. 50/1999, Titel: Das Gehirn des Jahrhunderts – Wie würde. Aber das ist eine Frage, über die standen? Um zu Ergebnissen zu gelangen, Albert Einstein aus Gedanken ein Universum schuf viel spekuliert werden kann, ohne jemals die den normalen Menschenverstand oft- eine Antwort zu bekommen. Wie er sein mals in Grenzbereiche führen, entwarf Ein- „Die Unterscheidung zwischen Vergan- Privatleben geführt hat, wird jedoch mit stein immer wieder die von ihm geprägten genheit, Gegenwart und Zukunft ist nur Recht zur Nebensache im Vergleich zu „Gedankenexperimente“ (zum Beispiel eine Täuschung, wenn auch eine hart- seinen hervorragen- näckige.“ Diese Quintessenz von Einsteins den Leistungen. Theorie hat nicht nur ein neues Univer- Wedel (Schlesw.-Holst.) sum geschaffen, sondern das alte insoweit Boris Kandzierski bestätigt, als demnach nur der Gegenwart wesentliche Bedeutung beizumessen ist: Das „Gehirn des Jahr- Vergangenheit und Zukunft sind Begriffe, hunderts“ hat sich Instrumente,Abstrakta, deren sich das un- sein Leben lang nicht teilbare Selbst, die Seele, zur Daseinsbe- nur mit naturwissen- wältigung bedient. schaftlichen Fragen Wolfenbüttel Hermann Höltje befasst, sondern auch mit gesellschaftswis- Eine Idee ist genial, wenn sie nur einfach, senschaftlichen. Es gegen den mehrheitlichen Wissensstand ging ihm um die Frage und vor allem richtig ist. Die Gleichset- „Gibt es einen Weg, zung von schwerer und träger Masse war die Menschen von eine solche Idee und ermöglichte die Ver- dem Verhängnis des lagerung des gedanklichen Labors weg von Krieges zu befreien?“, der Erde in ein beschleunigtes Raumschiff. die er 1932 an Sig-

Die auf diese Art gewonnenen spekulativen mund Freud richtete. INSTITUTE LEO BAECK Erkenntnisse wurden 1919 durch exakte Dieser schlug vor, die Genie Einstein, Schüler (um 1938): Privatleben wird Nebensache Messungen bestätigt und veränderten ein natürliche Empörung Weltbild – so einfach ist das, und das ist der Menschen quer durch alle Nationen Zwillingsparadoxon). Hier blitzt und fun- eben genial! gegen den Krieg zu nutzen, und war ver- kelt sein ganzer Einfallsreichtum. Mit die- Eschwege Axel Jungeblodt wundert, warum es noch keine „allgemei- sen Experimenten hat er die Vordenker der ne menschliche Übereinkunft“ gibt, mit Quantenmechanik wie etwa Niels Bohr im- Was hat mich dieser Beitrag gelehrt? Viel- der das Kriegführen verworfen wird. „Ich mer wieder in arge Bedrängnis gebracht; leicht das: Physik ist ein schwieriges Me- bin überzeugt“, schrieb Einstein 1950 an- gleichwohl konnten sich diese durch ge- tier. Darüber zu schreiben ist offenbar noch gesichts des nuklearen Rüstens verbittert, schickte Interpretation stets aus Einsteins schwieriger. Das findet wohl auch Ihr Au- „die verantwortlichen Machthaber müss- argumentativen Fängen befreien. Dadurch tor: „Das Liebesleben des Physikers gibt ten ihre verhängnisvolle Haltung ändern, trug Einstein maßgeblich zum Siegeszug nicht viel zur Lösung des Einstein-Rätsels wenn Meinung und Wille der Mehrheit der der Quantenmechanik bei, wenn auch un- her.“ – Ach was. Köln Isabella Stock Vor 50 Jahren der spiegel vom 29. Dezember 1949 Mit großem Interesse hab ich den Beitrag Bayerische Pilger beim Heiligen Vater in Rom Erste deutsche Reise- von Herrn Neffe über Albert Einstein ge- gruppe seit dem Krieg im Ausland. Illegaler Hausbau im Naturschutz- lesen und viele mir bisher unbekannte De- gebiet Feldberg Bestechung mit Schuhwerk. Spekulationen über tails aus seinem Leben erfahren. Beson- zukünftige Ost-West-Beziehungen Letzte Pressekonferenz 1949 in ders interessant war, dass es Herrn Neffe Washington. Wassernotstand in New York Freitagnacht bevölkern unrasierte Männer die Stadt. Haschisch-Boom im Orient Kairo setzt gelungen ist, die theoretischen Leistungen Anti-Rauschgiftbrigaden ein. Beutekunst auf Italienisch Adlige von Albert Einstein in so anschaulichen unter Anklage. Worten vorzustellen, dass auch ein Nicht- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Physiker etwas verstehen kann. Titel: Die Kabarettistin und Schauspielerin Tatjana Sais Leetza (Sachsen-Anhalt) Brunhild Krüger

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Sehr geehrter Herr Manners, Ihr Brief Köstlich und ohnegleichen war wirklich erquickend. Man fühlt die Nr. 50/1999, Titel: Das Gehirn des Jahrhunderts – Wie Albert Einstein aus freundliche Gesinnung und freut sich. Gedanken ein Universum schuf Was nun die von Ihnen mit so viel Recht gepriesenen Pralinen anbelangt, Hier ein unveröffentlichtes Schreiben so ist der Vergleich mit der Grenzge- Einsteins an Herrn Manners – ein Stu- schwindigkeit wohl berechtigt. Ich habe dent Einsteins –, dessen Frau in der es konstatiert, indem ich unter Miss- Diaspora Pralinen herstellen musste, achtung strengster medizinischer Vor- um zu überleben. Allein die Geste zu schrift eines aus der Menge probierte. antworten brachte viel Freude und Es ist gut, wenn man etwas produzie- Hoffnung ins Haus Manners. Der Inhalt ren kann, das dauernd des allgemei- des Schreibens jedoch, eine Praline mit nen Interesses gewiss ist: mit dem der Grenzgeschwindigkeit zu verglei- Gehirn allein lässt sich das nicht zu- chen, ist einfach köstlich und ohneglei- wege bringen. chen. Einstein war kein Zombie. Freundlich grüsst Sie Media (USA) Gerhard Klenk Ihr Albert Einstein 28. März 1940 freiwillig. Es gibt Strömungen, eine die Pro-Mille gratis Wirklichkeit erklärende Theorie in Ein- Nr. 49/1999, Jahreswechsel: Gedämpfte Lust steins Sinn zu erschaffen. Gleichzeitig wird auf teure Millenniumsfeten versucht, die (mathematische) Unverein- barkeit der Allgemeinen Relativitätstheo- Bei dem Versuch, im Mai 1999 für Silvester rie mit der Quantenmechanik zu überwin- zu buchen, machte ich folgende Erfahrung: den. Ob es aber eine grundlegende, eigen- Sehr freundlich wurde meine Buchung an- ständig existierende Realität gibt – ohne genommen und eine Rechnung von über deren Beobachtung –, ist letztendlich bis 6000 Mark mir zur sofortigen Zahlung vor- heute unklar. gelegt. Ich fand das noch spaßig und setz- München Dr. Alexander Suyter te mich mit dem Hotel in Verbindung, dass ich gerne gegen eine entsprechende Zins- Vielleicht wäre der 125. Geburtstag von zahlung und eine Bankbürgschaft bereit Einstein im Jahre 2004 für die Bundesre- wäre, im Mai für eine Leistung im Dezem- publik der Anlass, Einstein endlich ange- ber zu bezahlen. Anruf der Direktion: Wir messen zu ehren. sind doch ein renommiertes Haus und Kassel Prof. Dr. Richard Vahrenkamp brauchen keine Bankbürgschaft. Ich habe dann die Bestellung storniert mit dem Hin- weis, dass ich ein renommierter Gast sei. Geschätzter Pioniergeist Bad Homburg Prof. Dr. Berthold Böringer Nr. 50/1999, Expeditionen: Die große Show um das Eisblock-Mammut

Der von mir geleitete Bereich Quartär- paläontologie Weimar der Universität Jena zieht Herrn Mol als hoch spezialisierten Konsultanten zur Untersuchung eiszeit- licher Elefantenreste heran. Er darf mit Si- cherheit als einer der führenden Mam- mutspezialisten dieser Welt gelten. Völlig abwegig ist die Suggestion, die unter seiner fachlichen Beratung durchgeführten Gra- bungsarbeiten würden in feuchtfröhlicher Atmosphäre durchgeführt – Herr Mol war Zeit seines Lebens erklärter Nichttrinker. Als paläontologischer Sachverständiger kann Herr Mol keinesfalls für utopische Spekulationen zur Klonarbeit von Mam- muten verantwortlich gemacht werden, wohl aber zeichnet er verantwortlich für die fachgerechte Freilegung und Bestim- mung des aufgefundenen Mammutmateri- als. Der wissenschaftliche Wert des Fundes wird erst nach Auftauen aus dem Per- mafrost abschätzbar sein. Geschätzt wer-

den sollte aber schon jetzt der Pioniergeist DPA der an der Expedition Beteiligten. Eröffnung des Twin-Towers in Kuala Lumpur Weimar Dr. Ralf-Dietrich Kahlke Hysterisches Millennium-Bombardement

14 der spiegel 52/1999 In Ihrem Artikel steht, dass der Trend weg von dem rauschenden teuren Fest hin zur besinnlichen Feier zu Hause geht.Vielleicht liegt es auch daran, dass viele dieses fast hysterische Millennium-hier-, Millennium- da-Bombardement nicht mehr ertragen. Zumindest viele aus meinem Bekannten- kreis können es, so wie ich, nicht mehr hören. Wettenberg (Hessen) Hanako Reinau

Tipp für Trendsetter: Zweimal feiern! Womöglich fällt das Silvesterbuffet im nächsten Jahr um einiges preiswerter aus. Alles inklusive. Pro-Mille gratis. Wiehl (Nrdrh.-Westf.) K. Walter Blass

70 zukunftsträchtige Berufe Nr. 49/1999, Bergbau: Ausbildung ohne Zukunft Nach Ihrem Beitrag stellt sich mir als ehe- maligem Bergmann die Frage, was die ver- antwortungsvollere Entscheidung ist: jun- gen Menschen in einem ersten Schritt eine Ausbildung zu ermöglichen, um ihnen nach F. ROGNER / NETZHAUT F. Steinkohlezeche in Dinslaken Verantwortung zur Ausbildung der Lehrzeit eine reelle Chance auf dem bundesweiten Arbeitsmarkt zu geben, oder überhaupt nicht auszubilden und die Au- gen vor jeglicher gesellschaftspolitischer Verantwortung zu verschließen? Für mich ist klar: Wenn mehr Unternehmen ihrer Verantwortung zur Ausbildung nachkom- men würden, wie die Ruhrkohle, hätten wir keine Ausbildungsmisere. Dortmund Erwin Wunsch

Über 95 Prozent der 7600 Auszubildenden im RAG Konzern werden in mehr als 70 zukunftsträchtigen Berufen ausgebildet – vom Chemielaboranten bis zum Industrie- kaufmann. 12000 Menschen befinden sich täglich in RAG-Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung. Wir nehmen damit unsere Verantwortung vor allem auch für junge Menschen wahr. Wie soll eigentlich Struk- turwandel in den Bergbauregionen erfolg- reich gestaltet werden, wenn sich die großen Unternehmen dieser Regionen nicht entsprechend engagierten? Essen Dr. Andreas Reichel RAG Aktiengesellschaft

der spiegel 52/1999 Briefe

Was bleibt als Basis für den Glauben? Die Häretiker und Obskuranten Aussagen der „Urchristen“, die wie alle Nr. 50/1999, Religion: SPIEGEL-Gespräch mit dem evangelischen Neutestamentler Andreas Menschen dem Irrtum und der Täuschung Lindemann über die Jesus-Forschung unterliegen, über das, was sie nach dem Tode Jesu erlebt haben wollen. Also die An dem Gespräch mit Professor Linde- Aussagen derer, die im Nachhinein aus mann gefiel mir dessen Einstellung, dass dem jüdischen Wanderprediger Jesus den die wissenschaftliche Beschäftigung mit Welterlöser Christus gemacht haben.Wenn das nicht reinste Mythologie ist, was dann? Wiesbaden Dr. Traugott Flamm ACTION PRESS ACTION Es ist mir als Jude unverständlich, warum Schwulenhochzeit in sich die Kirche so schwer tut mit der „Jung- Ganz normale Leute frauengeburt“. Wenn Kirchen, Päpste und Theologen die „Jungfrauengeburt“ be- in republikanischen Parade-Größtunter- ständig und unbelehrsam biologisch miss- nehmen, zum Thema Homosexualität ist deuten, dann enthüllen sie sich, was die immer noch reaktionär und im Stadium der biblische Theologie betrifft, als hartnäcki- fünfziger Jahre stecken geblieben. Auch ge Häretiker und, was die Biologie betrifft, heute wird diskriminiert, „gemobbt“, wer- als unverbesserliche Obskuranten. Selbst- den Karrieren und Leben zerstört. In Frank- verständlich verdankt der Jude Jesus seine reich zum Beispiel bestraft man dies- biologische Existenz einem ganz normalen, bezügliche Verfehlungen mit zwei Jahren milliardenhaft stattfindenden menschlich- Gefängnis und 200000 Francs. sexuellen Geschehen zwischen der Jüdin München Bolko Bartsch Mirjam und welchem Mann auch immer. Bonn Michael D. Düllmann Seit dem 6. Mai 1999 gehöre ich mit mei- nem Mann zu den ersten „eingetragenen Partnerschaften“ in Hamburg. Die fehlen- Im Stadium der fünfziger Jahre den Rechte habe ich in Kauf genommen, Nr. 49/1999, Partnerschaften: Justizministerin auch weil sich auf Landesebene nur wenig Herta Däubler-Gmelin über das lösen ließe.Von der Bundesjustizministerin Gleichstellungsgesetz für homosexuelle Partner erwarte ich mehr. Ich kann nicht einsehen, warum mir ein Steuersplitting vorenthalten Dass sich einige Schwulen- und Lesben- wird, wenn ich gleichzeitig die Pflichten

AKG gruppen gegen die eingetragene Partner- im Unterhaltsrecht übernehmen muss. Christusdarstellung von Rubens schaft aussprechen, finde ich bedauerlich. Ganz klar: Ich will diese Pflichten über- Vom Wanderprediger zum Welterlöser Sie vermitteln den Eindruck, dass nicht nehmen. Ich will mich zu meinem Partner einmal die Homosexuellen geschlossen für bekennen. Aber nicht um jeden Preis. der Person Jesus und seinem Umfeld wenig eine rechtliche Neuregelung eintreten. Hamburg Reinhard Saß oder vielleicht sogar nichts mit dem christ- Köln Bernd Rosenbaum lichen Glauben, der religiösen Auseinan- dersetzung mit Christus zu tun hat. Ich verstehe nicht, warum Sie den Artikel Zehn nackte Politikerinnen Berlin Karl-Hans Gehr ausgerechnet mit einem Foto vom Chris- Nr. 50/1999, Leserbrief von Renate Schmidt topher Street Day versehen müssen. Hier (SPD) über einen Spendenüberbringer, der „wie Es ist vermutlich schwer zu verstehen, aber geht es doch nicht um ein paar schillernde zehn nackte Neger angegeben“ habe. obwohl die Evangelien nicht von SPIE- Exemplare, sondern um ganz normale Leu- GEL-Reportern der Antike verfasst worden te, die oft schon viele Jahre lang einen ganz Als meist angezogener sind, steht in ihnen doch mehr Wahrheit als normalen Alltag miteinander teilen. Neger, dem hier zu Lan- im SPIEGEL. Marbach Susanne Dahmann de schon viel Hautbe- Borchen (Nrdrh.-Westf.) Claudia Auffenberg zügliches zu Ohren ge- Die Haltung eines gewissen Personenkrei- kommen ist, würde ich Auch einer, der massenweise für Kirchen- ses mit Führungsaufgaben, unter anderem doch zu gern erfahren, austritte sorgt; als Professor auch mittelbar. womit „zehn nackte Ne- Zu Recht, meine ich. Wenn aus solchem ger“ angeben …? Viel- „Holz“ die künftigen Pfarrer „geschnitzt“ leicht fliegen wir mal zu- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Ti- werden, ist jede Minute vertan, die man bei sammen, Frau Schmidt, DPA oder für „Kirchens“ einbringt. Aber die telgeschichte (S. 42), Flug-Affäre, Jahrtausendwende: Ulrich Schwarz; und reden über Stoiber, Sanoussi-Bliss für Titelgeschichte (S. 26, 37), Millennium (S. 75), , Nationalcharakter, Gemeinde Jesu, sie lebt und bleibt. Zukunft, Energie: Michael Schmidt-Klingenberg; für Russland, Mil- gutes Essen, unpolitische Steinen (Bad.-Württ.) H. und K. Lehmann lennium (S. 129), USA, Europa, Großbritannien: Dr. Olaf Ihlau; für Ti- Bücher, Bilder oder gar über die Liebe, tel (S. 34), Fernsehen, Millennium (S. 107, 121), Konzerne,Arbeitswelt: wenn ich mir dabei nicht unbedingt zehn Werner Harenberg und Manfred Müller Gabor Steingart; für Jahresbestseller, Film (S. 61), Millennium (S. 122, nackte Politikerinnen vorstellen muss. wiederholen den uralten Fehler, Glauben 175), Zeitkritik: Wolfgang Hoebel; für Titel (S. 64), SPIEGEL-Essay,Mil- Berlin Pierre Sanoussi-Bliss durch rationale Argumente in Frage stellen lennium (S. 157), Medizin, Raumfahrt, Luftfahrt, Johann Grolle; für Sport: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für zu wollen. Entweder ich glaube, dann glau- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. be ich trotz der Widersprüche. Oder ich Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für glaube nicht, dann habe ich auch keine Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schä- glaubhafte Deutung des Unerklärlichen, fer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Bei- lagen der Thalys International, Brüssel, sowie die Verle- der Schöpfung. TITELBILD: Illustration Jean-Pierre Kunkel für den SPIEGEL TITELBILD: IFoto Astrofoto gerbeilage SPIEGEL-Verlag/kulturSPIEGEL, Hamburg, Ashausen (Nieders.) Fritz Hullen bei.

16 der spiegel 52/1999 Werbeseite

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Werbeseite Panorama

HOLZMANN Sanierung in Gefahr ach dem Streit um den Lohn- Nverzicht der Holzmann-Be- schäftigten gefährdet ein weiterer Konflikt die Rettung des Baukon- zerns. Die Gläubiger-Banken wol- len aus dem Sanierungsplan aus- steigen, wenn die Brüsseler EU- Kommission der versprochenen Kredithilfe des Bundes in Höhe von 150 Millionen Mark nicht zustimmt. In einem Schreiben an das Bun- deskanzleramt stellt die Deutsche Bank als Verhandlungsführer der Geldinstitute fest, dass die „tat- sächliche Auszahlung des Dar- lehens“ eine „wesentliche Ge- schäftsgrundlage“ für die Banken- hilfe in Höhe von einer Milliarde

Mark sei. Könne „dieser Sanie- REUTERS rungsbaustein des Bundes nicht Holzmann-Mitarbeiter nach Bekanntgabe des Sanierungskonzepts im November umgesetzt werden“, heißt es in dem Brief, „haben sich die Banken auf eine erleichterte Möglichkeit vor dem Wirtschaftsausschuss des Bundestags klargestellt, die Fi- der Kündigung des Konsortialkredits verständigt“. Ein Ausstieg nanzierungslücke müsse „ausschließlich von den Banken selbst ist danach bereits dann möglich, wenn drei Institute mit zu- geschlossen“ werden, der Bund helfe erst später. Grund für die sammen 20 Prozent der Forderungssumme ihn beantragen. neue Linie: Regierungsexperten haben inzwischen die europäi- Hintergrund der Warnung sind Versuche der Bundesregierung, schen Subventionsrichtlinien studiert. Die Regeln schreiben zwin- ihre Hilfszusagen im Nachhinein abzuschwächen. Entgegen Be- gend vor, dass die Beihilfe erst dann ausgezahlt werden darf, teuerungen von Kanzler Gerhard Schröder hatte am vorver- wenn die Kommission ihr zugestimmt hat. Verletzt die Bundes- gangenen Mittwoch Wirtschafts-Staatssekretär Sigmar Mosdorf regierung die Vorschrift, droht ihr eine Klage der Kommission.

LITERATUR der Schreib-Spur: Mit Hilfe der so ge- nannten Infrarot-Bandpassfilter-Reflek- „Woyzeck“ im Rotlicht tographie kann Oliver Hahn, Experte für Papier- und Tintenchemie von der r wolle jetzt „Ferkeldramen“ Fachhochschule Köln, die Einfälle Eschreiben, ließ der angehende Büchners im Kamerabild voneinander Doktor seine literarischen Freunde trennen – sogar nachträgliche Einzel- 1836 wissen: Georg Büchner, als poli- korrekturen entlarvt die Rotlichtbe- tischer Aufrührer in Straßburg exi- strahlung der kostbaren Handschriften, liert, nahm beim Umzug nach die heute im Weimarer Goethe- und Zürich, wo er Philosophie-Vorlesun- Schiller-Archiv liegen. Thomas Michael gen halten wollte, auch poetische Mayer, Büchner-Fanatiker aus Marburg, Entwürfe mit. Der wichtigs- ist entzückt, wie klar „gute“ te war sein Schauspiel und „schlechte“ Tinten sich „Woyzeck“ – nur wo und voneinander abheben. Ar- wie genau es entstand, das chivdirektor Jochen Golz wussten bislang selbst die hofft, dass das Verfahren Experten der Marburger bald für andere literarische Büchner-Forschungsstelle Fahndungen eingesetzt wird: nicht mit letzter Präzision. beispielsweise am Manu- Doch jetzt ist man dem skript von Goethes „Venetia- Dramatiker, der im Febru- nischen Epigrammen“, wo ar 1837 starb und sein le- Weimars prüde Hofdamen AKG T. HÄRTRICH / TRANSIT HÄRTRICH T. gendäres Werk als Frag- einst erotische Deftigkeiten Untersuchung der „Woyzeck“-Schriften ment hinterließ, dicht auf Büchner wegradierten.

der spiegel 52/1999 19 Panorama

VENEZUELA Neue Siedlungen für Flutopfer räsident Hugo Chávez will die etwa 200000 Venezolaner, die bei den sint- Pflutartigen Regenfällen vor gut einer Woche ihr Heim verloren haben, ins Landesinnere umsiedeln.Auf brachliegendem staatseigenem Gelände sollen neue Siedlungen entstehen. Bislang hat Chávez 20 Grundstücke auf einsti- gen Forts und Militärbasen sowie die Fläche über einem ehemaligen Ölfeld zur Besiedelung freigegeben. Die dorthin umgesiedelte Bevölkerung soll vor allem von Landwirtschaft leben. Die meisten der vermutlich bis zu 30000 Toten stammten aus Elendsvierteln am Rande von Caracas und an der Karibikküste. Sie hatten ihre Hütten an gerodeten Berg- hängen errichtet. Schlamm- lawinen spülten während der Flutkatastrophe die Behau- sungen zu Tal. Das Gros der Elendsviertel war in den ver- gangenen 20 Jahren entstan- den, als hunderttausende vor der Armut auf dem Land in die Städte flüchteten. Chávez will die Naturkatastrophe nutzen, um das Landesin- nere zu entwickeln und die übervölkerten Städte des Landes zu entlasten. Flutopfer an der Karibikküste Venezuelas,

SCHMIERGELD KULTURPOLITIK SPIEGEL: Weil Sie kontrollieren wollen, wo die Bundes-Millionen bleiben? Geständiger Manager „Schöner Luxus in Naumann: Wir geben alles in allem mehr als 640 Millionen Mark für das er Prozess gegen den seit August schweren Zeiten“ Berliner Kulturleben, Deutsche Welle Dinhaftierten Ex-Vorstandsvorsitzen- inklusive, aus. Es wäre legitim, dass wir den der Bayerischen Beamten Versiche- Michael Naumann, 58, Staatsminister entsprechend unserem Anteil an der rungen (BBV), Klaus Dieter für Kultur, fordert mehr Mitsprache des Finanzierung auch in den Aufsichtsrä- Schweickert, soll Ende Januar vor dem Bundes in der Hauptstadtkultur. ten der verschiedenen Institutionen Landgericht Bochum beginnen. Der vertreten sind. ehemalige Top-Manager ist weitgehend SPIEGEL: Sie fordern mehr SPIEGEL: Haben Sie mit Kul- geständig. Er muss sich wegen Verdachts Einfluss des Bundes auf die tursenatorin Christa Thoben der Steuerhinterziehung und Untreue Berliner Kulturpolitik. Wol- über Ihre Pläne gesprochen? verantworten. Zum Vorwurf, rund drei len Sie die Landeshoheit Naumann: Ich habe um einen Millionen Mark Schmiergeld beim Ver- umgehen? Termin gebeten. Sie hat aber kauf der Bonner Immobilie Friedrich- Naumann: Keineswegs. Ich erst Ende Januar Zeit. Ebert-Allee 40, dem Sitz des Bundesmi- möchte erreichen, dass die SPIEGEL: Was hätte eine Mit- nisteriums für wirtschaftliche Zusam- großen, auch vom Bund sub- wirkung des Bundes schon menarbeit, an ein Konsortium von BBV, sidierten Berliner Bühnen in Positives bewirken können? Deutscher Pfandbriefanstalt und Veba GmbHs umgewandelt wer- Naumann: Man hat bei der kassiert zu haben, sind weitere Komple- den, wie das beim Berliner Besetzung von Intendanten-

xe hinzugekommen: Für Berliner Bau- Ensemble der Fall ist. Das M. URBAN posten auf die glanzvollen projekte in der Krausenstraße und die hat sich zum Beispiel in Naumann Namen gesetzt, ohne an die Immobilie Wasserstadt soll Schweickert Hamburg schon bewährt. Programmarchitektur der mehrere Millionen Mark kassiert haben. Die Häuser können so langfristiger und ganzen Stadt zu denken. So ist es dazu Ein Komplize Schweickerts, der Bonner eigenständiger wirtschaften. Und zwei- gekommen, dass zu vieles zu ähnlich Baulöwe Berthold Kaaf, war schon vor tens glaube ich in der Tat, dass der Bund geworden ist. In Berlin konkurrieren Mitte November in einem Blitzverfah- – also kompetente Vertreter meines Mi- allein drei „Zauberflöten“ und ren zu einer Haftstrafe von vier Jahren nisteriums – in den Aufsichtsräten dieser zwei Wagner-„Ringe“. Ein schöner und drei Monaten verurteilt worden. Häuser vertreten sein sollte. Luxus in schweren Zeiten.

20 der spiegel 52/1999 REGIERUNG bau der Schulden ab. 61 Prozent plädieren für mehr Eigeninitiati- Ungeliebte ve und weniger öffentliche Hilfe. Schwächen attestieren die Be- Ökosteuer fragten der Regierung nach wie vor in der Sicherheits- und der ie Bundesregierung hat Pro- Hochschulpolitik, bei den 630- Dbleme, der Bevölkerung Mark-Verträgen und beim Auf- Sinn und Nutzen der Ökosteuer bau Ost. Intensiv muss sich die zu vermitteln. 53 Prozent der Schröder-Regierung auch immer Deutschen halten die Ökosteuer noch mit dem Vorwurf auseinan- für sozial ungerecht, 59 Prozent der setzen, die Zeche für ihre empfehlen der Regierung, die Sparpolitik zahlten die kleinen seit April geltende jährliche Leute. So halten es 86 Prozent Preiserhöhung für Benzin und für sozial gerecht, auf große Ver- Diesel bis zum Jahr 2003 „auf mögen höhere Steuern zu erhe- keinen Fall durchzusetzen“. Das ben. 78 Prozent plädieren dafür, geht aus einer repräsentativen Erbschaften ab einer bestimm- Umfrage des Meinungsfor- ten Höhe stärker zu versteuern. schungsinstituts Polis für das Bundespresseamt hervor. Kein anderes Reformprojekt der Ko- alition erfährt eine ähnlich hefti- ge Kritik. Allerdings ist laut Polis die Bevölkerungsmehrheit der Ansicht, dass die Regierungspo- litik „nach vorne weisende In- halte, auf die man aufbauen kann“, enthalte. Die Rentenan- passung wird von 79 Prozent der Deutschen akzeptiert, der Ab-

FOTOS: ( gr.); DPA REUTERS (kl.) bau staatlicher Subventionen

Schlamm-Massen in einer Siedlung bei Caracas von 90 Prozent. Nur zwei Pro- DPA zent lehnen den geplanten Ab- Benzinpreiserhöhung im April

KABELNETZ LUFTFAHRT Ausländer am Zug Jelzin wirbt für Transportflugzeug eim Verkauf ihres Kabelnetzes, des- urz vor der geplanten Entscheidung über einen neuen Militär-Transporter für Bsen Wert auf bis zu 35 Milliarden Ksechs europäische Nato-Länder und die Türkei haben die Präsidenten Russlands Mark taxiert wird, hat die Deutsche Te- und der Ukraine, Boris Jelzin und Leonid Kutschma, persönlich für das russisch-ukrai- lekom eine wichtige Vorentscheidung nische Großraumflugzeug Antonow An-7X geworben. In einem Brief an Bundeskanz- getroffen. Nachdem alle Bieter am ver- ler Gerhard Schröder und den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac schla- gangenen Montag ein letztes Angebot gen sie vor, die Flugzeuge gemeinsam zu bauen. Sie weisen Zweifel an der politischen vorlegen konnten, wurden für Nord- und wirtschaftlichen Stabilität ihrer Länder und an der Zuverlässigkeit ihrer Luftfahrt- rhein-Westfalen, Hessen und das Saar- Industrie zurück, wie sie aus „Wirtschafts- land jeweils ein exklusiver Verhand- kreisen“ geäußert worden seien. Gemeint lungspartner ausgesucht. sind damit das Wirtschaftsministerium und In zwei der drei Regionen werden aus- die am Konkurrenzprojekt eines Militär- ländische Anbieter zum Zug kommen. Airbus beteiligten Konzerne, die das Ge- Unter den Ausgewählten ist die größte meinschaftsprojekt ablehnen. kontinentaleuropäische Kabelgesell- Frankreich wünscht den MilitAirbus, ob- schaft UPC, die bereits in den meisten wohl laut Rüstungsabteilung des Bundes- Nachbarländern Kabelnetze unterhält verteidigungsministeriums die Antonow und diese zu den Daten-Highways der weit billiger – und besser – wäre. Die Luft- Zukunft ausbauen will. Die UPC ist waffe möchte 75 Transporter als Ersatz für eine Tochter der US-Kabelgesellschaft alte Transall-Maschinen. Schröder hatte im United, an der Software-Riese Micro- Osten neue Hoffnungen geweckt, als er soft mit 7,8 Prozent beteiligt ist. Der kürzlich „aus politischen Gründen“ dafür potenteste deutsche Bieter, die Deut- eintrat, die zwei – sehr ähnlichen – Flug- sche-Bank-Tochter DB Investor, ging zeug-Entwürfe zu „integrieren“. Minister bisher leer aus. Offensichtlich boten Rudolf Scharping hat die Entscheidung

Ausländer bei diesem Milliardenpoker DPA über das Milliarden-Projekt für „Anfang die höheren Preise. Kutschma, Jelzin nächsten Jahres“ angekündigt.

der spiegel 52/1999 21 Panorama

Am Rande Zeit-Los Früher war alles besser, etwa im Paläozoikum. Das dauerte 320 Mil- lionen Jahre, aber weil das kein ein- ziger Paläozoika- ner überhaupt wusste, sind damals alle 320000 Millenniumsfeiern ausgefallen. Einfach so. Ohne dass auch nur ein Wirbelloser ein Aufheben dar- um gemacht hätte. Weil in der guten alten Zeit die Wirbellosen noch gar keine Zeit hatten. Und wem sein Leben trotzdem noch

zu zeitlich war, der konnte ja Fos- DASA sil werden. Glückliche Urzeit. Montage des Radars eines „Eurofighters“ bei der Dasa Auch in Zukunft wird alles bes- ser, beispielsweise im Sternzeit- RÜSTUNGSEXPORT sicht erklärt, Firmenzusammenschlüsse alter. Kein Mensch wird je einem zu erleichtern. Dazu sollten auch Ver- befreundeten Vulkanier mit einer Abkommen vertagt einbarungen über gemeinsame Rüs- Flasche Sekt und der Behauptung tungskäufe und Forschungsprogramme unter die Augen treten wollen, rankreich, Großbritannien, Schwe- getroffen werden. dass gleich das neue Millennium Fden, Italien, Spanien und Deutsch- Beim Streitthema Export lehnten die anbricht, nur weil das Computer- land können sich nicht über Hilfen zur Partner die relativ strengen deutschen logbuch von Raumschiff „Enter- Neuordnung der Rüstungsindustrie eini- Regeln ab. Die neuen Richtlinien, auf prise“ von Zwei-Punkt-neun- gen. Die zum Jahresende geplante Un- die sich die rot-grüne Koalition kurz neun-neun-Komma-Neun auf terzeichnung eines Rahmenabkommens vor Weihnachten verständigte, werden Drei-Punkt-null-null-null-Komma- wurde vertagt – vorerst bis März. mithin die Verhandlungen zusätzlich er- Null umschlägt. Mal schlägt das Grund sind Streitigkeiten um die Re- schweren. Denn nun soll auch die Ein- Computerlogbuch vor, mal zu- geln für Waffenexporte und den Schutz haltung der Menschenrechte in Empfän- rück, von Staffel eins zu zwei, von von Geheimnissen sowie interne Aus- gerländern wie dem Nato-Partner und einandersetzungen in Italien. Die eu- EU-Kandidaten Türkei zu einem Ent- zwei zu eins, vom Vorabend zum ropäischen Partner hatten 1998 ihre Ab- scheidungskriterium werden. Spätprogramm, bis keiner mehr weiß, welches Millennium ge- rade geschlagen hat. Völlig un- logisch. Außerdem kann man KROATIEN konnte sich die HDZ noch nicht auf ei- mit Vulkaniern sowieso nicht nen Kandidaten einigen. Obwohl Um- feiern. Kampf ums Erbe fragen zufolge nur dem reformfreudigen Die aber, die das Unglück haben, Mate Graniƒ, 52, HDZ-Vize und Außen- an der Schwelle zum Jahr 2000 ur zwei Wochen nach dem Tod von minister Kroatiens, wirkliche Chancen zu stehen, die müssen feiern. NStaats- und Parteichef Franjo Tudj- eingeräumt werden, Budi∆a in einer Müssen ans Millennium-Horo- man, 77, wird die bislang allein regie- Stichwahl zu besiegen, erheben mehrere skop glauben. Und müssen das rende Kroatische Demokrati- HDZ-Spitzenfunktionäre An- 2000-Gramm-Millennium-Glas Nu- sche Gemeinschaft (HDZ) von spruch auf die Kandidatur. tella leer essen – alles nur, weil es heftigen Flügelkämpfen er- Erst am 5. Januar will die das alles nur einmal gibt. schüttert. Der Kroatenherr- HDZ auf einer Sonderpartei- Muss man? Nein, muss man scher hatte keinen eigenen konferenz eine Entscheidung nicht! Der Millenniumswechsel Nachfolger aufgebaut. So fällen. Ob sich Graniƒ dann war vor vier Jahren. Behauptet streiten sich nun nicht weniger durchsetzen wird, ist offen. der Freiburger Kirchengeschicht- als 18 Vize-Parteichefs um das Die Mehrzahl der Parteimit- ler Heribert Smolinsky. Weil Vermächtnis. Der Termin für glieder fürchtet den Reformer, Herodes schon vier vor Christus die Direktwahl des neuen der seine Absicht bekennt,

gestorben und Christus deshalb Staatsoberhaupts ist auf den DPA die Partei von „Ewiggestri- mindestens vier vor sich selbst 24. Januar festgelegt worden. Graniƒ gen“ und „Nationalisten“ geboren wurde. Aus! Vorbei! Während für das Oppositions- säubern zu wollen. Graniƒ: Kein Grund zum Feiern! Wenn bündnis aus Sozialdemokraten, Libera- „Nur mit einem neuen Profil wird die das kein Grund zum Feiern ist. len und anderen kleinen Parteien HDZ überleben und vom Westen als po- Dra≈en Budi∆a, 51, ins Rennen geht, litische Kraft ernst genommen.“

22 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Panorama

STEUERREFORM lastung von Bürgern und Unterneh- men um 27,4 Milliarden Mark durch die Senkung des Eingangssteuersat- Steigendes zes auf 19,9 Prozent und des Spit- zensteuersatzes auf 48,5 Prozent. Die Finanzierungslücke will Eichel Defizit durch Verkauf von Bundesbesitz, hauptsächlich Immobilien, schlie- ie von Bundeskanzler Gerhard ßen. So steigt die Neuverschuldung DSchröder und Finanzminister tatsächlich nicht an. Bei der Berech- Hans Eichel rechtzeitig vor Weihnach- nung der Maastricht-Kriterien zählen ten angekündigte Steuerreform wird diese Privatisierungserlöse hingegen die Sanierung der Staatsfinanzen stär- nicht. ker beeinträchtigen, als von Eichel Einen kräftigen Vorteil bringt die bislang eingestanden. Der Finanzminis- steuerliche Einmalentlastung – mit ei- ter muss sogar seine Prognose über ner Verzögerung von einem Jahr – die Entwicklung des Haushaltsdefizits den Rentnern. Da die jährliche Ren- bis 2003, die er erst Anfang Dezember tenerhöhung von der Entwicklung nach Brüssel gemeldet hat, korrigie- der Nettoverdienste abhängt, er- ren. So wird das Defizit nach ersten höhen sich die gesetzlichen Altersein- Berechnungen des Finanzministeri- künfte nach Schätzung von Renten- ums 2001 bei 1,5 Prozent des Brut- experten im Jahr 2002 voraussichtlich toinlandsprodukts liegen, einen hal- um 3,8 Prozent. Kleiner Wermuts- ben Prozentpunkt höher als bisher im tropfen für die Versicherten: Um die Stabilitätsprogramm vorausgesagt. Mehrausgaben zu finanzieren, müsste

Das Loch entsteht durch die für das AP der Rentenbeitrag zugleich um rund Jahr 2001 vorgesehene einmalige Ent- Eichel, Schröder bei Vorstellung der Steuerreform 0,3 Prozentpunkte steigen.

glauben nicht, was das Hauptsache ist doch, dass die Richtung für einen Spaß bringt. des Stückes stimmt: sich einen an- SPIEGEL: Vor allem am schickern zum Jahresende und Freude Schluss, wenn James die haben – so soll das sein. Panter sind in alte Dame in die Schlaf- freier Wildbahn ja auch bis in hohe Al- räume geleitet mit der ter sexuell aktiv.

ACTION PRESS ACTION Frage: „By the way, the Unruh same procedure as last year, Miss Sophie?“ Nachgefragt Unruh: Entschuldigen Sie mal, auch alte Menschen haben Lust auf Sex. Da ist „“ insbesondere für die Schwarzarbeit? jüngere Generation geradezu vorbild- lich. Es zeigt, wie mit Format, Eleganz Nein danke! und Würde dieses Tabuthema der Ge- Nach einer wissenschaftlichen sellschaft angesprochen wird. Studie hat die Schwarzarbeit in SPIEGEL: Mit 90 noch ein wilder Feger? Deutschland deutlich zugenom- Unruh: Na und, was machen Sie denn men. Soll die Schwarzarbeit nach so einem guten Essen? Das ist Ihrer Meinung nach stärker

CINETEXT doch völlig in Ordnung, es kann ja auch bekämpft werden? Szene aus „Dinner for One“ bei einem wachsenden Anteil von Senio- Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom ren und Seniorinnen an der Gesamtbe- 17. und 18. Dezember; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: SILVESTER völkerung keine Sexverbote geben. Es keine Angabe langt uns schon, wenn der Bundesver- „Einen anschickern“ kehrsminister alten Menschen das Auto- Angaben in Prozent fahren verbieten möchte. Ja, die Schwarzarbeit Gesamt West Ost Trude Unruh, 74, Gründerin der Senio- SPIEGEL: Und Sie übernehmen die Rolle sollte stärker bekämpft renpartei Graue Panther, über Alterssex der Miss Sophie? werden, weil sie 62 58 75 allen schadet in der TV-Sendung „Dinner for One“ Unruh: Nein, so begabt bin ich nicht, die überlasse ich meiner Pressesprecherin. Nein, sie wird bereits SPIEGEL: Frau Unruh, sehen Sie an Silves- Besetzungsprobleme haben wir dieses ausreichend bekämpft 18 19 13 ter die Sendung „Dinner for One“? Jahr noch mit James. Nein, sie sollte weniger Unruh: Nicht nur das, wir spielen das SPIEGEL: Und wo kommt der präparierte bekämpft werden. Be- Stück auf der Graue-Panther-Showbüh- Tiger her? stimmte Arbeiten wären 17 19 9 ne in unserer Wuppertaler Wohn- Unruh: Den haben wir früher aus dem ohne Schwarzarbeit gar gemeinschaft regelmäßig nach. Dieses Theaterfundus geliehen, jetzt benutzen nicht zu bezahlen Jahr gibt es eine Millenniumsfeier. Sie wir einen zusammengerollten Teppich.

24 der spiegel 52/1999 FUSSBALL Werner Hackmann gearbeitet haben. So wurden offenbar Provokateure enga- Am Rande Foul beim HSV? giert, die bei der HSV-Hauptversamm- lung gegen eine Satzungsänderung ar- er Sport-Vermarkter Ufa Sports hat gumentierten, mit der die Installation Logik-Lücke Dsich „einvernehmlich“ von seinem Hackmanns als bezahlter Vorsitzender PR-Chef Rainer Thumann getrennt und möglich wurde. Die Aktionen schlugen Mal ehrlich, beendet die Zusammenarbeit mit der fehl. Ufa-Sports-Geschäftsführer Bernd würden Sie PR-Agentur Salaction. Hintergrund: Hoffmann will von den vermeintlichen ein Buch kau- Thumann, vor seinem Ufa-Job für Jür- Alleingängen der PR-Abteilung „nichts fen mit dem gen W. Möllemanns Wirtschaftsberatung gewusst“ haben. Die Aktivitäten seien Titel „Lecker Webtec tätig, soll sich in die Personal- „hoher Eigenverantwortlichkeit“ ent- englisch ko- politik des von der Ufa vermarkteten sprungen. Thumann gab lediglich zu, chen“? Wür- Hamburger SV eingemischt und ge- „Fehler gemacht“ zu haben, Salaction meinsam mit Salaction gegen HSV-Chef wollte sich nicht äußern. den Sie FDP- Chef Wolfgang Gerhardt um Rat bitten, wenn Sie Erfolg in der Politik haben wollen? Oder Hel- mut „Amnesius“ Kohl Glauben schenken, wenn er über Treu und Rückkehrrecht Redlichkeit referiert? Nein? Eben. Wenn zwischen dem eingeschränkt Sender einer Nachricht und ihrem sraels Regierung will erstmals die Zu- Inhalt eine Glaubwürdigkeits- Iwanderung begrenzen. Der Minister Lücke klafft, kommt die Nachricht für Diaspora-Angelegenheiten bereitet nicht an. Deshalb wurde auch einen Gesetzentwurf zur Verschärfung kaum zur Kenntnis genommen, des seit Jahrzehnten unangetasteten dass die Hamburger CDU neulich

„Rechts auf Rückkehr“ vor. Alarmiert AFP / DPA die klassenlose Gesellschaft ge- wurden die Politiker durch eine Statis- Jüdische Einwanderer fordert hat. Entweder stimmt das tik, nach der 1999 mehr als die Hälfte der 65000 Neubürger aus den GUS- schaft, wenn sie jüdische Großeltern ha- nicht, denkt sich da der Leser, Staaten nicht zur jüdischen Glaubensge- ben – im Gegensatz zum Reli- oder irgendein durchgeknallter meinschaft gehören. Premierminister gionsgesetz „Halacha“, wonach nur CDU-Ossi hatte einen Rückfall in Ehud Barak, bisher energischer Verfech- Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat alte Blockpartei-Zeiten. ter des Rückkehrrechts, gab jetzt offen- oder zum Judentum konvertiert ist. Aber nein, es stimmt: Die CDU bar dem Druck in der Koalition nach Künftig soll die Zahl derer begrenzt will in der Hamburger S-Bahn und unterstützt eine Initiative zur Än- werden, die sich auf jüdische Großel- die erste Klasse abschaffen. Der derung des Gesetzes. Israel würde dann tern berufen. Konvertierte Juden dürf- Grund ist allerdings überzeu- eine deutliche Abkehr von einer Ein- ten nicht mehr ihre Eltern oder Enkel gend: Schwarzfahrer aus der Un- wanderungspolitik vollziehen, die ge- mitbringen. Noch eine Million Bürger prägt ist durch die Erfahrungen des der ehemaligen Sowjetunion haben laut terschicht haben nämlich ent- Holocaust. Sie garantiert auch nichtjü- Jewish Agency Ansprüche auf die israe- deckt, dass es in der ersten Klas- dischen Einwanderern die Staatsbürger- lische Staatsbürgerschaft. se genauso teuer ist, erwischt zu werden wie in der zweiten – aber erheblich bequemer. Und bevor der Geruch von Sozialhilfeemp- TERRORISMUS mit Sprengstoffanschlägen und Attenta- fängern und Asylbewerbern sich ten von sich reden machten, führen im Pelzmantel festsetzt, wollte Plaudernde Revoluzzer längst wieder ein bürgerliches Leben und hoffen auf Milde der Justiz. So ka- die CDU handeln. Nur wie? taatsschützer sind zuversichtlich, ei- men die Ermittler durch die Aussage ei- Armut verbieten? Wäre eine Lö- Snes der dunkelsten Kapitel des deut- nes im November in Berlin verhafteten sung, geht aber leider nicht. schen Terrorismus aufklären zu können. Kampfsportlehrers und ehemaligen RZ- Schwarzfahren verbieten? Auch Nachdem am vorvergangenen Wochen- Angehörigen auf die Spur der jetzt Fest- gut, ist aber schon verboten. Ers- ende Polizei und Generalbundesanwalt- genommenen. Auch der wegen des Ter- ter Klasse verbieten? Super Idee. schaft in Berlin und Frankfurt am Main roranschlags auf die Wiener Opec-Kon- Nur, äh, wird dann nicht automa- drei mutmaßliche Mitglieder der „Revo- ferenz 1975 angeklagte Hans-Joachim tisch die zweite zur ersten? Hockt lutionären Zellen/Rote Zora“ (RZ) fest- Klein hat frühere Mitkämpfer identifi- genommen haben, hoffen die Ermittler ziert. Ermittler setzen darauf, mit Hilfe dann nicht das ganze Gesocks auf umfassende Geständnisse. Anders der Ex-Revoluzzer auch einen der spek- wieder um die Reichen herum? als früher sind etliche der vor allem in takulärsten Anschläge aufklären zu Da klafft keine Glaubwürdig- den achtziger Jahren agierenden RZ- können: die Ermordung des hessischen keits-, sondern eine Logik-Lücke. Leute heute bereit auszupacken. Grund: Wirtschaftsministers Heinz Herbert Ach, wieder eine Nachricht, die Die Kämpfer der Revolutionären Zel- Karry, der 1981 in seinem Frankfurter nicht angekommen ist. len, die schon in den siebziger Jahren Haus erschossen wurde.

der spiegel 52/1999 25 Titel Der lange Weg zur Wahrheit Wie Kohls geheime Konten ans Tageslicht kamen

1991 27.2. Kohl stellt im Bundessicherheitsrat „Einverneh- men“ über die Lieferung von 36 „Fuchs“-Panzern nach Saudi-Arabien her. 26.8. Waffenhändler Schreiber übergibt dem Kohl- Vertrauten Weyrauch in der Schweiz im Beisein von CDU-Schatzmeister Kiep eine Million Mark in bar. 1999 3.11. Das Amtsgericht Augsburg erlässt Haftbefehl gegen Kiep, weil er die eine Million Mark von Schreiber als Schmiergeld für das Panzer-Geschäft mit Saudi- Arabien erhalten und nicht versteuert haben soll. 5.11. Kiep gibt beim Amtsgericht Königstein an, die Schreiber-Million sei als Parteispende an die CDU ge- gangen. Als Zeuge erklärt Weyrauch, das Geld auf ei- nem Treuhandkonto für die CDU bei der Hauck-Bank in Frankfurt/Main angelegt zu haben. 17.11. Kiep sagt vor der Staatsanwaltschaft Augsburg aus, Kohl habe von dem System der Treuhandkonten gewusst und über diese Konten auch persönlich Gelder an CDU-Gliederungen verteilt. 23.11. Weyrauch räumt vor der Staatsanwaltschaft ein, Spenden an die CDU seien regelmäßig auf von ihm eröffneten Treuhandkonten gelandet und umdeklariert worden, die Rechenschaftsberichte der CDU seien da- her falsch. Über „diese generelle Praxis“ sei Kohl sei- nes Wissens informiert gewesen. Am selben Tag wird der Haftbefehl gegen Kiep aufgehoben. 30.11. Bei einer Sondersitzung des CDU-Präsidiums gesteht Kohl, während seiner Amtszeit als Parteichef habe es eine „getrennte Kontoführung“ gegeben. 2.12. Der beschließt, einen Untersu- chungsausschuss einzusetzen. 6.12. Die Genfer Justiz richtet ein Rechtshilfeersuchen an die Staatsanwaltschaft Augsburg, in dem es um den Erwerb der Raffinerie Leuna durch den französi- schen Ölkonzern Elf Aquitaine geht. Elf steht im Ver- dacht, der CDU im Zusammenhang mit dem Milliarden- geschäft über die Schweiz Schmiergelder in zweistelli- ger Millionenhöhe zukommen haben zu lassen. 16.12. Kohl bekennt im Fernsehen, von 1993 bis 1998 persönlich anderthalb bis zwei Millionen Mark in bar an Spenden entgegengenommen zu haben. Die Namen der Spender will er, obwohl gesetzlich vorge- schrieben, nicht nennen. Spendensünder Kohl*: Kritik nimmt er hin, aber nicht an „Kohl kaputt“ Der denkmalswürdige Kanzler der Einheit demontierte sich selbst durch sein Schwarze-Kassen- System, mehr noch durch seine halsstarrige Verweigerung von Auskünften. In Panik versucht sich die CDU von der beherrschenden Figur Helmut Kohl abzusetzen.

ur Preisung des Jubilars griff der und nie sei es ihm um Ämter oder gar Geld Nach Jahren des Glanzes auf historischen Festredner besonders tief in die Kis- gegangen. Höhen plötzlich in den finanziellen Sumpf Zte mit den Prunkvokabeln. Immer An dieser Stelle hielt die Festversamm- geraten, versuchte er mit dem Mantel der habe der Gefeierte treu zur Sache der lung im Feierabendhaus der BASF in Lud- Geschichte den Geruch der Korruption weg- CDU gestanden, sagte er mit vertrauter wigshafen fast erschrocken den Atem zuwedeln. Trotzig sagte er: „Wer in eine Par- Inbrunst, stets habe er die Partei als an. Denn der Festredner zu Ehren des tei geht, um Geld zu verdienen, ist entweder Heimat- und Ideengemeinschaft begriffen, 70 Jahre alten Stadtrates und rheinland- ein Dummkopf, weil der die Grundrechen- pfälzischen Ex-Innenministers Kurt Böck- arten nicht kennt, oder ein Schurke.“ * Bei einer Pressekonferenz zum Parteispendenskandal mann war am Sonntag vor Weihnachten Festredner sagen, was sie selbst am liebs- am 30. November. Helmut Kohl. ten hören würden. Und das immerhin ist

26 der spiegel 52/1999 behörden sehen es anders. Und so brach das Unheil voll über ihn herein.Was schon mehrfach in den achtziger Jahren gedroht hatte, ist jetzt eingetreten: „Kohl kaputt.“ (SPIEGEL 3/79). Der Abschied vollzieht sich in Schimpf und Schande. Die Christlich Demokratische Union Deutschlands – politisch, moralisch und fi- nanziell nach einem unerwarteten Höhen- flug wieder am Rande des Abgrunds ge- landet – will ihren Ehrenvorsitzenden nicht mehr, weil er ihr Schaden zugefügt hat. So unverblümt und drastisch, wie sich die CDU stets von ihren Ex-Mächtigen zu trennen pflegte, ob die nun oder , oder Eugen Gerstenmaier hießen, sagte die Generalsekretärin auch Helmut Kohl ade. „Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen“, schrieb Merkel, einst das Lieblings-Ziehkind Hel- mut Kohls aus dem Osten, am Mittwoch in der „Frankfurter Allgemeinen“. Die Ost- deutsche hat Erfahrung mit der Aufarbei- tung von Diktaturen – und Kohl war ein absoluter Partei-Herrscher. In der „Bild“-Zeitung hatte sein frühe- rer Generalsekretär und Verteidigungsmi- nister Volker Rühe schon tags zuvor ver- deutlicht, dass er den Wahlkampf in Schles- wig-Holstein nicht, wie geplant, mit dem Altkanzler eröffnen werde, sondern dass er dessen Nachfolger Wolfgang Schäuble und die Generalsekretärin Merkel zum Auf- takt gebeten habe. In Bonn formulierte das Präsidium der CDU am Mittwoch die dringliche Erwar- tung, dass Kohl endlich die Spender offen- baren solle, von denen er nach eigenem Eingeständnis mindestens 1,5 bis 2 Millio- nen Mark zwischen 1993 und 1998 erhalten haben will, die in Rechenschaftsberichten nicht erwähnt wurden – ungeklärt sind aber auch noch die Quellen etlicher Sonderaus-

FOTOS: IMO (li.); (re.) DPA gaben wie etwa von Kohls Briefaktion 1987. Einheitskanzler Kohl*: In solchen Momenten von seiner Bedeutung überwältigt Angela Merkel: „Ein Wort zu halten und dies über Recht und Gesetz zu stellen, mag dem Altbundeskanzler nach 16 Jahren hätte Regierungshandeln in einer Regie- vielleicht bei einem rechtmäßigen Vorgang Amtszeit und 25 Jahren im CDU-Vorsitz rung, die ich vertrete und die ich geführt noch verstanden werden, nicht aber bei ei- geblieben – den Vorwurf der persönlichen habe, beeinflusst mit Spenden“ – diese nem rechtswidrigen Vorgang.“ Bereicherung machte ihm bisher keiner. Vorwürfe hielt vor Weihnachten nur noch Im Kanzleramt wird nach verschwunde- Doch Helmut Kohl droht sich mit dem Helmut Kohl selbst für „ganz und gar un- nen Akten zur Leuna-Affäre gesucht (siehe selbstherrlichen Beharren auf seinem Eh- erträglich“. Seite 34). Und die Staatsanwaltschaft in renwort jenseits von Recht und Gesetz in Seine eigene Partei, die Mehrheit des Bonn erwägt weiter Ermittlungen wegen den letzten Tagen des ausgehenden Jahr- Deutschen Bundestages und die Justiz- Untreue gegen Helmut Kohl. Volker Neu- hunderts sogar um jene „Tragik“ (Angela Merkel) zu bringen, die noch seinem jähen Kohl-Erben Schäuble, Merkel*: „Unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“ Absturz einen Anstrich von historischer Größe hätte geben können. Indem er jeden Beitrag zur Aufklärung der Finanzmanipu- lation verweigerte, schrumpfte er vom Kanz- ler zum Komplizen. Sein heroischer An- spruch verläpperte zur lachhaften Ausrede. Denn den Verdacht, dass er „ge- schmiert“ worden sei, den Argwohn, dass er „bestechlich“ sei, die Behauptung, „man

* Oben: 1990 in Erfurt; unten: am vergangenen Mittwoch

in Bonn. DPA Titel

mann, der SPD-Vorsitzende des Bundes- Rabatten seines Ziergartens auf die tags-Untersuchungsauschusses für Partei- Kanzler der schwarzen Kassen Schutzwände zu starren. spenden, hat dem Ex-Kanzler indirekt sogar Die Karriere des Helmut Kohl Macht ist eine Droge. Noch kein Kanz- Beugehaft angedroht – überflüssigerweise, ler der Bundesrepublik hat freiwillig seinen wie Kanzler Gerhard Schröder fand. Eine Platz geräumt. Politiker können sich of- absurde Überspitzung, die den selbstge- 1969 Kohl wird in Rheinland-Pfalz fenbar nicht vorstellen, dass die Politik rechten Kohl eher zum Durchhalten als zum der jüngste Ministerpräsident der auch ohne sie gehen könnte. Einlenken bewegt haben dürfte. Bundesrepublik. Ein Denkmal? Das wollte er nicht sein. Denn so ist er, und so bleibt er, der Pa- Das rissige Brandt-Monument auf dem triarch aus Oggersheim. „Fehler“ räumt er 1973 Die CDU wählt Kohl zu ihrem SPIEGEL-Titel im Dezember 1973 hatte ein, aber das hat nichts zu bedeuten. Kritik Bundesvorsitzenden. Kohl immer vor Augen. Und doch schien nimmt er hin, aber nicht an. Nach 50 Jahren er, wenn er in den vergangenen Monaten im politischen Geschäft ist Helmut Kohl, 1976 Der Flick-Konzern lässt Kohl im öffentlich auftrat, oft ein bisschen abge- 69, unbeugsam geworden, weil er in seiner Bundestagswahlkampf fünf Briefumschläge lenkt, als lausche er einer fernen Melodie eigenen Realität lebt, selbstgerecht und un- mit Bargeld aus einer schwarzen Kasse und ticke nach einer anderen Uhr. Manch- einsichtig. Hat er nicht alle Vorwürfe über zukommen; Kohl unterliegt Kanzler mal wirkte er selbst bei seinen eigenen Re- seine Machtversessenheit, alle Vorhersagen . den abwesend. Ganz offenkundig hatte auf seinen politischen Untergang schon dut- Kohl Bodenhaftung verloren. Er konnte zende Male gehört? Man kennt seine weg- 1982 Konstruk- die Situation nicht mehr realistisch ein- werfende Handbewegung, den verächtli- tives Misstrauens- schätzen und überblickte nicht, wie sehr er chen Tonfall, die empört zuckenden Lider. votum gegen seiner Partei schadete. Schmidt. So saß er in der vorvergangenen Woche Noch saß er im Parlament. Aber ohne Kohl wird Kanzler. auch vor den Fernsehkameras des ZDF, hinderliche Scham forderte der Abgeord- entschlossen, den eigenen Willen gegen die 1983 Kohl er- nete Kohl, er sei nach anderen Maßstäben Wirklichkeit, gegen die Gesetze und gegen zielt sein bestes und Regeln zu messen als andere. die Argumente der anderen durchzuhal- Wahlergebnis. Er Es gehörte zu den Erfolgsgeheimnissen ten. Da kam keine Demutsgeste, keine Zer- gewinnt die Bun- des politischen Profis aus der Pfalz, dass er, knirschung – nur eine trostlose Distanz destagswahl mit SIMON SVEN der so pathetisch und großspurig formu- zum tatsächlichen Geschehen. 48,8 Prozent. CDU-Wahlplakat 1983 lierte, im privaten Leben, soweit es ihm ge- Plötzlich wirkte gespenstisch, was früher blieben war, geradezu verdächtig normal beeindruckte. Denn die Wahrheit, die Kohl 1985 Vor dem Untersuchungsausschuss wirkte. Lange schien Helmut Kohl ein Mann nicht sehen wollte, war, dass er über die des Mainzer Landtags zur Parteispendenaf- ohne Skandale und ohne Extravaganzen. Macht, die er mit seinem System und durch färe macht Kohl eine Falschaussage. Gene- Nur bei Staatsakten und offiziellen Auf- sein Amt angehäuft hatte und mit seiner ralsekretär Heiner Geißler entschuldigt dies tritten amtierte Kohl im Dienste der Ge- massigen Figur bewusst einzusetzen pfleg- als „Blackout“. schichte. In solchen Momenten wurde er te, längst nicht mehr verfügte. von sich und seiner Bedeutung förmlich Sein großer Gestus tönte hohl. Gewiss, 1989 Geißler, Lothar Späth, Rita überwältigt. Da nun ging es um den „Kanz- noch fünf Wochen vorher war er als Eh- Süssmuth, und Kurt Biedenkopf versuchen ler der Einheit“, um den Regierungschef renbürger Europas, als Kanzler der Ein- vergebens, Kohl vor dem Bremer Parteitag von 82 Millionen Deutschen, um den Chef heit, als Bismarck des 20. Jahrhunderts bei zu stürzen. der größten Wirtschaftsmacht Europas, der den Feiern zum 10. Jah- Kohl stellt dem Deutschen Bundestag dritten in der Welt. Den stellte er dar, wie restag des Falls der Mau- seinen Zehn-Punkte-Plan zur Deutschen er zu sagen pflegte. Und den wollte er re- Die Opposi- er bejubelt worden. Noch Einheit vor. spektiert wissen. tionsrolle einmal trat der ewige Zuletzt aber dehnte er diese Rolle auf schien Kohl Kanzler auf, in Wahrheit 1990 Kohl gewinnt die erste gesamt- die Innenpolitik aus. Im Grunde hatte die eine Bedrohung für sei- deutsche Bundestagswahl. Er verspricht den Machtpolitiker Kohl immer nur in ih- nach seiner den Wählern in den neuen Ländern Abwahl nicht ne Partei. Noch einmal rer Auswirkung auf die jeweils nächste schien er seinen Nachfol- „blühende Landschaften“. Wahl interessiert. Seine Pflicht glaubte er zur Kenntnis ger Schröder zum Statis- getan zu haben, wenn er die CDU-Macht Der Kanzler setzt sich für den zu nehmen ten der Geschichte de- 1992 politisch abgesichert hatte – mit „Bimbes“, Erhalt des mitteldeutschen Chemie- gradiert zu haben. dreiecks ein. Der französische Konzern Elf- wie er sagte, und mit loyalem Personal. Er hatte sich aber längst überlebt.Als pa- Aquitaine übernimmt die Leuna-Werke und Die Oppositionsrolle schien Kohl nach thetischer Nachruf auf sein politisches Le- die Minol-Tankstellen. seiner Abwahl selbst gar nicht zur Kennt- ben hockte er Buddha-ähnlich im Berliner nis zu nehmen. Er blieb der Bundeskanz- Reichstag. Mit seinen ritualisierten An- 1996 Rekord-Kanzler: Kohl ist länger im ler. So wurde er von seinen Parteifreunden sprüchen erstickte er jeden Reformansatz Amt als . angeredet, und so verstand er sich. in der Partei. Nun bricht brutal der Alltag durch. Merkte er nicht, wie er zur Karikatur zu 1997 Auf dem Leipziger Parteitag ruft Bis jetzt, hat Wolfgang Schäuble un- werden drohte? Zum Symbol für alle Aus- Kohl den Fraktionsvorsitzenden Wolfgang längst vor der Fraktion geseufzt, habe die sitzer der Nation? Schon vor der letzten Schäuble als seinen „Kronprinzen“ aus. Partei vorwiegend die freundliche Vorder- Wahl hatte er versprochen, die nächste seite Helmut Kohls erlebt, nun sei sie ge- Amtszeit sei „mit Sicherheit die letzte“. 1998 Kohl verliert die Bundestags- zwungen, sich auch mit der dunklen Rück- Warum quälte er sich weiter? wahl gegen Gerhard Schröder (SPD). seite auseinander zu setzen. Wahr ist, dass ihm gelegentliche An- Die CDU ernennt den Ex-Kanzler zu ihrem Ausgeleuchtet wird sie vor allem von wandlungen von Amtsmüdigkeit keines- Ehrenvorsitzenden. Staatsanwälten, Wirtschaftsprüfern und wegs fremd waren.Wahr ist aber auch, dass Steuerfahndern. Das kennt man schon aus der Sog der Ämter und die Rituale der 1999 Kohl gesteht, jahrelang über der Flick-Affäre Anfang der achtziger Jahre. Macht weitaus stärker waren als die Aus- schwarze Kassen verfügt zu haben. Damals überstand der Kanzler die un- sicht, in Oggersheim über die manikürten appetitliche Geschichte, die Macht des Am-

28 der spiegel 52/1999 die kämpfte, wenn es ernst wird, eben nicht für Land und Partei – sondern nur für sich selbst. Dass er sich über das ZDF noch einmal an die Nation wenden wollte, er- fuhr die Partei erst, als der Termin längst feststand.Via Bildschirm erhielt die Uni- on erstmals Einblick in das Kohlsche Kassenwesen: „Ich habe Spenden entge- gen genommen in einem Umfang zwischen 1993 und 1998, der zwischen andert- halb und zwei Millionen Mark liegt. Die Spender haben mir ausdrücklich erklärt, dass sie die Spende, die ich drin- gend brauchte angesichts der Finanzlage der CDU in den neuen Ländern, nur ge- ben, wenn es nicht in die Spendenliste kommt.“ Die Namen, daran ließ Kohl kei- nen Zweifel, werde er nicht nennen: „Ich habe mein Wort gegeben.“ Kohls Ehrenwort ge- wichtiger als das Grundge- setz? Einen letzten Beweis für seine Uneinsichtigkeit lieferte Kohl vergangenen Montag bei einem Ge- spräch mit den von der

ACTION PRESS ACTION CDU beauftragten Wirt- Spatenstich für die Raffinerie Leuna (1994): Der große Gestus tönt nur noch hohl schaftsprüfern. Er, der im Präsidium bedingungslose tes schützte ihn. Wäre es nach dem Willen Kohl änderte die Strategie. Öffentlich Aufklärung zugesagt hatte („An mir soll es der Bonner Staatsanwaltschaft gegangen, räumte er ein, „vielleicht“ gegen das Par- nicht liegen“), blieb jede präzise Auskunft wäre Kohl wohl 1985 wegen uneidlicher teiengesetz verstoßen zu haben. Natürlich schuldig und fabulierte stattdessen über Falschaussage angeklagt worden. Aber in nur zum Wohl der Partei. Dabei wusste seine Verpflichtungen gegenüber der Par- den oberen Etagen der Justiz verlor sich „der Alte“, dass seine Geldakquise syste- tei. Raus kam nix. Im Fernsehen hatte er der Verfolgungseifer. matischer Rechtsbruch war. mehr gesagt. Einem Regierungschef außer Diensten Doch was im Land nicht mehr wirkte, dis- Dabei hätte die CDU die Hilfe des Alt- wird solche Rücksichtnahme nicht zuteil. ziplinierte noch immer die Partei. Sie schar- kanzlers dringend gebraucht – bis Ende Und wie bei Flick war es auch jetzt der Zu- te sich mehrheitlich – allen Bedenken zum fall, der die Fahnder auf die Spur von Ge- Trotz – um den alten Übervater. Aber der setzesverstößen führte, für die Kohl ver- begann seinen Kredit zu überziehen. Auf antwortlich ist. der Weihnachtsfeier der Unionsfraktion in Die staatsanwaltschaftliche Durchsu- Berlin versuchte er, alle zu Komplizen zu chung im Büro des CDU-Steuerberaters machen: „Was wollt ihr denn, ihr habt doch und Kohl-Vertrauten Horst Weyrauch, ei- auch Geld bekommen.“ gentlich wegen des Waffenhändlers Karl- Kurz darauf ließ er sich von seinem al- heinz Schreiber, brachte Unterlagen über ten Vertrauten Hans Terlinden, dem Ver- das fein gesponnene Neben-Finanzsystem waltungschef in der Parteizentrale, das Ver- des Patriarchen zum Vorschein. nehmungsprotokoll Weyrauchs zustecken. Als Wochen später im Bundestag über Als die neue Parteiführung darüber rätsel- einen Untersuchungsausschuss debattiert te, was der Steuerberater wohl alles aus- wurde, riss der einfache Abgeordnete Kohl, geplaudert hat, saß Kohl mit Pokermiene mit zitternden Händen und Zornesfalten dabei – und schwieg. Terlinden kostete die- auf der Stirn, ein Mikrofon an sich und se letzte Geste der Ergebenheit den Job. herrschte: „Jetzt hören Sie zu.“ Da wurde Es war wie bei einer russischen Ma- der Mann, den gerade noch alle als Staats- troschka-Puppe: Kohl verlor Hülle um Hül-

mann historischen Formats gefeiert hatten, le. Unter dem großen Europäer und Kanz- DPA hämisch ausgelacht. Der Bann war gebro- ler der Einheit erschien wieder die rusti- CDU-Politiker Geißler, Kiep (1982) chen, das Denkmal begann zu bröckeln. kale Machtmaschine aus der Pfalz. Und Der Bann war gebrochen

der spiegel 52/1999 29 Titel

des Jahres muss die Union den Rechen- schaftsbericht 1998 korrigieren. Kohl taktierte im Bewusstsein, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn unaus- Ein Lehrstück in Sachen Ehre weichlich geworden ist. Nur die ständige Ankündigung seiner Anwälte, noch neue RUDOLF AUGSTEIN entlastende Unterlagen vorzulegen, hin- derte die Bonner Staatsanwälte daran, nter allen Menschen, die den als wäre der große alte Häuptling schon in der vergangenen Woche den Alt- Staat bestohlen haben, bleibt Adenauer noch im Amt. Die heute kanzler zu einem gewöhnlichen Beschul- UHelmut Kohl eine seltene Aus- anklägerischen Wortführer in der Uni- digten zu degradieren. nahme: Er hat sich selbst, so weit man on hielten damals ebenfalls dicht oder Direkt nach Weihnachten, das steht so das irgend sehen kann, nicht bereichert. wollten von diesen Schatullen nichts gut wie fest, wird die Staatsanwaltschaft Dennoch hat sein Gebaren im Wurzel- wissen. Bonn Bundestagspräsident Wolfgang Thier- reich der Demokratie ärger gewütet als Seinem oft gerühmten Aussitzen se mitteilen, dass sie beabsichtige, ein Er- alle Skandale und Skandälchen um blieb Kohl auch diesmal treu. Er hätte mittlungsverfahren gegen Kohl wegen des Geld und Gut vorher. der CDU und sich selbst einen Dienst Verdachts der Untreue einzuleiten. Dann Der Vergleich mit der SPIEGEL-Af- erwiesen, wenn er jetzt rechtzeitig ab- muss nur noch über die Aufhebung der Im- färe des Jahres 1962, wie Gunter Hof- getreten wäre.Aber er beschloss, wie er munität entschieden werden – bei dieser mann ihn in der „Zeit“ anstellte, geht es nannte, „zu kämpfen“. Das führte Beweislage eine reine Formsache. meines Erachtens fehl. Sicher, das war die Union nicht in eine Krise, sondern Entscheidend für diesen Schritt werden damals die erste Staatsaffäre der Nach- in einen Schlamassel. nicht die mittlerweile 14 Strafanzeigen sein, kriegszeit, aber sie wurde von zwei De- Kein führender Politiker, ob nun die in Bonn eingegangen sind, sondern mokratoren angezettelt und beendete Staatsmann oder nicht, wurde je von Kohls eigene Erklärungen. Als besonders den Machiavellismus der beiden einem Generalsekretär derartig abge- belastend bewerten Juristen Kohls Salvie- führenden Unionspolitiker Adenauer bürstet wie Helmut Kohl von seiner rungversuch im ZDF. Denn das Einge- und Strauß. Beide wurden beschädigt, Generalsekretärin Angela Merkel in ständnis, Spenden am Rechenwerk der der eine, Strauß, sogar abgestraft. Ein der vergangenen Woche – brüsk und Union vorbeigeschleust zu haben, wird für Erwachen des Bürgertums aus einer Art ohne jeden Schnörkel. Allerdings ist die CDU finanzielle Konsequenzen haben. Narkose war unverkennbar. die Union dafür bekannt, dass sie kein Bei mindestens 1,5 Millionen Mark sol- Der Fall Kohl liegt anders und bleibt Mitleid kennt, wenn Wahlen anstehen cher Gelder sind nach dem Parteiengesetz das Millennium-Rätsel: Kohl lebte nicht und einer ihrer Anführer den Erfolg Strafen in doppelter Höhe fällig. Mindes- zuletzt davon, dass er als redlicher gefährdet. tens für diesen Betrag, so sehen es die Er- Mann galt. So ist zu fragen, wie konn- Zwar ist der Wählerwille unbere- mittler, ist der Untreueverdacht zwingend. te ein derart erfahrener und durch- chenbar und auch durch Umfragen Dabei hatte Kohl offenbar gedacht, be- setzungskräftiger Politiker sich dazu nicht genau abzuschätzen, aber ziem- sonders clever argumentiert zu haben.Vor verstehen, ein ganzes System der Geld- lich sicher ließ sich vor dem Kohl-De- entwendung quasi in einem Schatten- saster voraussehen, dass Kanzler Schrö- reich zu unterhalten – ein Nebelheim. der Schleswig-Holstein und Nordrhein- War er nur naiv? Die Antwort fällt Westfalen verlieren würde. Schröders leicht: Alles andere als das. jetzige Koalition hätte sich dann nicht Was war es dann, was ihn trieb? Es mehr halten können. war sein selbstbesessener Machthun- Es mag aber auch sein, dass das ger, der ihn dazu brachte, seine ohnehin Wahlvolk ganz anders reagiert, als es starke Stellung unter Tage weiter aus- derzeit den Anschein hat. Es könnte zubauen und seine Machtpositionen dieser größten Staatskrise nach dem zu verstärken. Er scheute die ihm Motto „Legt’s zu dem Übrigen“ auch ganz sicher bekannte Illegalität nicht. mit Wahlenthaltung begegnen. Tradi- Über seine Bimbeskonten machte er tionell würde das jetzt der SPD zugute sich diejenigen gefügig, von denen er kommen. glaubte, dass er sie legal nicht errei- Die Grünen werden unter Joschka

chen könne. Fischer jeden Kompromiss mitmachen, PRESSE BILD BENZ Kanzler geworden, wollte er groß- der sie den nächsten Bundestagswahlen CDU-Chef Kohl, Vertrauter Terlinden (um 1976) herzig „die geistig-moralische Wende“ näher bringen könnte. Ihr Selbsterhal- „Was wollt ihr denn?“ herbeiführen. Sie blieb aus. Das System tungstrieb wird sie noch in den Ab- Kohl kam an ihre Stelle, ein System, grund treiben. So hat Kohl seiner Ehre seinem Auftritt hatte er sich vom Haupt- das alle korrumpieren musste, die mit zwar Abbruch getan, aber wenigstens geschäftsführer der Christlich-Demokrati- ihm in Berührung kamen. Es wirkte an- für zwei spannende Wahlkämpfe ge- sche Arbeitnehmerschaft (CDA), Ulrich steckend. sorgt. Hettinger, eine „Aufstellung über Sonder- Offenkundig bekannte Tatbestände, Kohls und Gorbatschows Rolle in zuschüsse … für Personalkosten der CDA- wie die undurchsichtigen Geschäfte des Sachen Wiedervereinigung wird oh- Mitarbeiter/innen in den neuen Bundes- Kohl-Intimus Horst Weyrauch und an- nehin überschätzt. Man könnte ebenso ländern“ zuschicken lassen. dere trickreiche Finanzmanöver der gut die Außenminister Schewardnadse In dem Telefax („Persönlich, Dr. Helmut CDU, die der SPIEGEL schon 1995 ent- und Genscher und vor allem James Kohl, Bundeskanzler a.D.“) finden sich die hüllte, wurden von der Kanzlerpartei Baker nennen. Kein denkbarer deut- jährlichen Zuwendungen: Von 1993 bis 1998 und ihren bayerischen Amigo-Kumpa- scher Kanzler hätte in einer solchen jeweils 300000 Mark, nur 1994 ließ Kohl nen so selbstbewusst totgeschwiegen, Situation anders handeln können. nur 250000 anweisen. Zusammen 1,75 Mil- lionen Mark – ziemlich nah an der Summe, die Kohl selbst als Spenden eingesammelt

30 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel R. SCHULZE-VORBERG AP Kohl, Zögling Schäuble (1984), Zögling Merkel (1991): Leicht könnte der Kronprinz zur tragischen Figur werden und auf dem Schwarzgeldkonto geparkt hält, reichte ein Blick ins Internet. Auf der Überzeugung, immer waren es Partei oder haben will. sonst eher spärlich besuchten Homepage Vaterland, die ihn antrieben. Über das täg- Prompt leitete Kohl das CDA-Schreiben der Bundes-CDU (www.cdu.de) lieferten liche Alltagsgeschäft schaute dieser Kohl auch der Staatsanwaltschaft zu. Untreue? sich Surfer heftige Wortgefechte im virtuel- hinaus, in Details der zeitgenössischen Schwer vorstellbar, dass Kohl damit len Raum.Allein am vergangenen Mittwoch Wirklichkeit verheddert sich so einer nicht. durchkommt. Zu viele Fragen bleiben: gingen binnen weniger Stunden mehr als Aus diesem Ruf speiste sich seine Volks- π Spitzfindig gestand er nur jene Jahre ein, 100 Beiträge von Computernutzern ein, die tümlichkeit – Kohl, das war ein Kanzler für die nach dem Parteiengesetz noch dem Ehrenvorsitzenden entweder man- der Anti-Eitelkeit, dessen Zeitrechnung die Belege aufbewahrt werden müssen. gelndes Rechtsbewusstsein vorwarfen oder stets mit dem Urteil der Nachwelt begann. Dabei begann das System der schwar- gleich seinen Rücktritt verlangten. Stoisch konnte er alle Angriffe über sich er- zen Kassen schon mindestens ein Jahr- Andererseits gehen sowohl im Adenau- gehen lassen, weil er an den Geschichts- zehnt früher; er-Haus als auch in der Fraktion täglich büchern mehr interessiert war als an der π Steuerberater Weyrauch hat die Union Anrufe und Faxe von Bürgern ein. Mehr- Tagespresse. Unbeeindruckt konnte er sich wissen lassen, durch einen Umzug seien heitlicher Tenor: Wir haben euch das letz- als ungelenker, aber bescheidener Retter leider die Belege 1994 bis 1996 für das te Mal gewählt. Wir wollen nicht, dass Dr. der gespaltenen Nation geben. Schwarzgeldkonto verschwunden; Kohl demontiert wird. Kein Wunder, dass die CDU zwei Gele- π die Wirtschaftsprüfer entdecken ständig „Die Partei hat eine Seele“, schrieb Ge- genheiten verstreichen ließ, diesen Kohl Hinweise auf weitere Konten, die ihnen neralsekretärin Merkel in der „Frankfurter aufs Altenteil zu schicken. Sie hätte ihn auf bisher verschwiegen wurden. Es fällt Allgemeinen“. Für viele wurde sie von Hel- sein Versprechen festnageln können, recht- ihnen „erkennbar schwer“ (Schäuble), mut Kohl verkörpert. Jetzt sind sie ratlos zeitig zu Gunsten von Wolfgang Schäuble eine „Rekonstruktion der Einzahlungen und zornig. Schon zu Adenauers Zeiten war als Kanzler zurückzutreten. Doch so wie und Auszahlungen vorzu- die CDU machtbesessen; sie gab die Dinge lagen, war der fliegende Wechsel nehmen“; sich gerne als Kanzlerwahlverein nur mit Kohl zu vollziehen, nicht gegen ihn. π in den offiziellen Geldkreis- „Wir müssen her, solange der Kanzler Garant Schäuble versuchte es denn auch gar nicht. lauf der CDU wurden die Mil- raus aus für Wahlsiege war. Nebenbei hielt Stattdessen übte er sich in bitterer Demut. lionen nur portionsweise ein- seinem die Christenpartei aber auch ger- Die Abwendung vom Parteichef war gespeist, deklariert als „sons- Schatten, wir ne die bürgerlichen Grundwerte nach der verlorenen Wahl am 27. Septem- tige Einnahme“; sind die hoch, mindestens in ihrer ber 1998 fällig. Da aber gab Schäuble die π Kohls Finanzsystem war dar- Schrumpfform: Was Recht, Ord- Devise aus, anders als 1969 solle der Macht- auf angelegt, wenig Spuren zu CDU nach nung und Anstand bedeuten, ist verlust für die CDU diesmal unblutig ver- hinterlassen. Kohl sammelte Helmut Kohl“ auch heute noch einigermaßen laufen – ohne Bruch mit dem Verlierer, Bargeld, seine Vertrauten scho- verbindlich. Damit verträgt es ohne Diadochen-Kämpfe, ohne Selbstzer- ben es ebenfalls fast ausschließlich in bar sich nicht, dass ein Kanzler und Parteivor- fleischung. hin und her. Konten wurden bisweilen sitzender schwarze Konten führen lässt und Auch diese noble Haltung beruhte vor- nur für eine einzige Transaktion eröffnet schwarze Gelder nach Gutdünken verteilt. nehmlich auf Einsicht in die Notwendigkeit. und danach sofort wieder geschlossen. Helmut Kohl hatte dem konventionellen Kohl verkörperte damals noch in seiner Solche Systeme kennt man sonst nur aus Bild von bürgerlicher Reputation lange ent- ganzen Hülle und Fülle die Partei, sein Pro- dem Bereich der Geldwäsche. sprochen. Den Wählern und Sympathisan- dukt aus 25 Jahren Herrschaft. Das System Auf die CDU kommen schmerzhafte Zei- ten der Union gefiel, dass „der Alte“ immer arbeitete weiter, als sei nichts geschehen. ten zu.Wenn Kohl in der vergangen Woche am großen Zusammenhang interessiert zu Im Grunde muss die CDU – und das erfahren wollte, was die Parteibasis von ihm sein vorgab. Nie handelte er aus bloßer ganze Land – heute froh sein, dass

32 der spiegel 52/1999 unsicheren Zeiten lieber nicht genannt werden möchte, die Gemütslage an den Graswurzeln. Aufklärung sei ohne Zweifel herbeizu- führen, findet Thüringens Ministerpräsi- dent Vogel. „Aber eine Los-von-Kohl-Be- wegung ist mir dabei zu wohlfeil, vor allem wäre sie in ihrer Konsequenz nicht glaub- würdig.“ Vogel zielte mit diesen Bemerkungen auf Angela Merkel, die sehr wohl weiß, dass „die Menschen – in der Partei zumal – an Helmut Kohl hängen“. Die ostdeut- sche Pfarrerstochter beurteilt die CDU, wie sie vor kurzem noch die DDR beurteilt hat. Die Partei müsse sich „wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen“, drängt sie auf Emanzipation. Aus ihrer Sicht sind die Unionsmitglieder abhängig von der Obrigkeit, unfähig, die Chancen der Katastrophe zu erblicken. Es war wohl kein Zufall, dass sich im Präsidium die ostdeutsche Ex-Ministerin Claudia Nolte am Begriff „Pubertät“ stieß, wie auch Arnold Vaatz aus Dresden. Ehr- hart Neubert, ehemaliger Bürgerrechtler und heute CDU-Mitglied, sagt: „Ich war Kohlianer und bleibe es. Seine politische Leistung bleibt alternativlos.Wenn ich mir vorstelle, 1990 wären Späth und Geißler an der Macht gewesen, dann hätten gleich die Sozis regieren können.“ Die West-Präsiden Volker Rühe, Christi- an Wulff, Peter Müller und Annette Scha- van dagegen bedankten sich ausdrücklich bei Angela Merkel für ihren „FAZ“-Bei- trag. Der sei gut und im richtigen Augen- blick erschienen. „Wir müssen raus aus seinem Schatten.Wir werden den Ton ver- schärfen, die Distanz vergrößern“, meinte auch der Fraktionsvize Friedrich Merz, „wir werden sagen: Wir sind die CDU nach Helmut Kohl.“ Über die Dramatik der Lage machte sich am Mittwoch im Präsidium niemand Illu- sionen. Man dürfe jetzt nicht immer nur fragen: Wie können wir Kohl noch einen roten Teppich aufrollen und sein Denkmal noch ein bisschen glänzender putzen, sag- te ein Präsidiumsmitglied. Jetzt sei der Mo- ment gekommen, wo Kohl seine Verant- wortung gegenüber der Partei wahrneh- men müsse. Wortführerin Merkel hatte sich zuneh-

AP mend in Wort und Ton radikalisiert, auch CDU-Führer Schäuble, Merkel, Ehrenvorsitzender Kohl*: Zerstörung einer Legende eine Folge der Resonanz in der Partei. An- fangs schlug ihr Hass entgegen, als sie Auf- die Wähler Kohl aus dem Amt entfernt ha- dium und Vorstand gehören die unver- klärung und Abkehrung von Kohl einklag- ben, ehe die undemokratische Kehrseite brüchlichen Kohl-Verehrer wie Norbert te. Sie schlachte „ohne Not unseren letzten seines Systems zum Vorschein kam. Blüm oder Bernhard Vogel zwar zur Helden“, hielten ihr Bedenkenträger ent- Ein amtierender Kanzler als Gesetzesbre- Minderheit.Aber mit ihnen steht eine Mehr- gegen. Dass „Bild“ sie zur Kanzlerkandi- cher, als Herr über Schwarzkonten, als heit der Stammwähler und der Mitglieder in datin ausrief, wird intern als gezielte Ruf- Verächter der ermittelnden Instanzen – den Ortsvereinen in Treue fest zum Sün- schädigung aus dem intakten System Kohl die Affäre Kohl wäre zur Staatskrise ge- der: „Dort höre ich immer: Das könnt ihr gewertet. raten. doch mit Kohl nicht machen“, beschreibt Im diffusen Führungsgeflecht der CDU So aber steckt allein die CDU in der eine Nachwuchshoffnung, die in diesen kann die Generalsekretärin schnell als Ein- schwersten Krise ihrer Geschichte. Sie zelkämpferin isoliert werden. Noch ver- ist auf unabsehbare Zeit eine gespaltene * Bei einer Pressekonferenz zur Spendenaffäre am 30. fügt sie über keine Hausmacht; schon des- Partei. In der Bundestagsfraktion, in Präsi- November in Berlin. halb ist völlig offen, ob sie am Ende nicht,

der spiegel 52/1999 33 Titel

Bundeskanzleramt in Bonn

Das Leuna-Labyrinth Seit Jahren sind Akten zur Leuna/Minol-Affäre im Bonner Kanzleramt verschollen. Schon unter Regierungschef Helmut Kohl wurde nach den Papieren gefahndet – ohne Erfolg.

M.-S. UNGER er Suchauftrag galt sechs Kartons der Aktenschwund öffentlich. Seit Wo- sich auch Gerüchte, dass bei Provisions- mit rund 1700 Seiten Akten, be- chen suchen Beamte der rot-grünen Re- zahlungen von rund 100 Millionen Mark Dschriftet als „TR 3 NA 4“ und „TR gierung in den internen Archiven erneut auch Gelder an die CDU geflossen seien. 3 NA 5“. nach den Unterlagen, bislang vergebens. Nun versucht ein parlamentarischer Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes Erst jetzt wurde ihnen klar: Sie sind nicht Untersuchungsausschuss Licht ins Dun- fahndeten monatelang in den Beständen die Ersten, die im Schattenreich des Alt- kel zu bringen wie bereits zwei solche des Hauses nach den internen Papieren, kanzlers nach Unterlagen fahnden. Aufklärungsgremien vor ihm. Endlich die über die Rolle des Kanzleramtes bei Schon sehen sich die damals Verant- wollen die Abgeordneten auch Einblick der Privatisierung der ostdeutschen Leu- wortlichen mit dem Vorwurf konfrontiert, in die – für die Öffentlichkeit gesperrten na-Raffinerie und des Tankstellennetzes möglicherweise gezielt Akten vernichtet – Tagebücher des ehemaligen Treuhand- Minol Auskunft geben sollten. Am Ende zu haben. Ein Verdacht, den der ehemali- Vorstands Klaus Schucht nehmen, der für konnten sie nur feststellen, dass offenbar ge CDU-Kanzleramtschef Friedrich Bohl die Leuna-Privatisierung verantwortlich große Teile der Dokumente über das Leu- von sich weist: „Ich muss mich mit aller zeichnete. na-Geschäft mit dem französischen Mi- Entschiedenheit gegen den erzeugten Ein- neralölkonzern Elf Aquitaine verschwun- druck verwahren“, so der Kohl-Vertraute den waren. An Stelle der Originale stan- vergangene Woche, „als sei während mei- den nur noch Kopien in den Regalen. ner Amtszeit eine solche Aktenvernich- „Weitere Erkenntnisse über den Ver- tung auf meine Anweisung, durch mich bleib der uns fehlenden Akten konnten selbst oder wie auch immer vorgenom- nicht gefunden werden“, heißt es in einem men worden.“ internen Vermerk der Beamten. Tatsächlich ist der Verlust von Regie- Der Abschlussvermerk des Referats In- rungsakten ein gravierender Vorgang. nerer Dienst stammt vom 26. Oktober Selbst als unbedeutend geltende Unterla- 1998, einen Tag bevor Gerhard Schröder gen dürfen nur mit Zustimmung des Kob-

von Helmut Kohl das Kanzleramt über- lenzer Bundesarchivs vernichtet werden, DPA nahm. Diese und eine Reihe weiterer in- bei Missachtung dieser Rechtsvorschrift Aktenordner aus dem Untersuchungsausschuss terner Notizen legen den Schluss nahe, droht den Beteiligten eine Freiheitsstrafe dass Originalakten zur Privatisierung von bis zu fünf Jahren. Zwar wurden die Aufzeichnungen für Leuna/Minol aus den Jahren 1991 bis 1994 Der Leuna-Komplex begann als den Ausschuss der vergangenen Legisla- in den Beständen des Kanzleramtes be- deutsch-französisches Prestigeprojekt. Im turperiode aufbereitet, aber nie zugeleitet. reits seit Jahren fehlten und dies in der Januar 1992 hatte sich mit Unterstützung Doch nun will Schucht die Notizen nicht Machtzentrale spätestens seit 1997 auch der Politik ein Konsortium unter Führung zur Verfügung stellen (SPIEGEL 51/1999). bekannt war. Dass die Kohl-Mannschaft von Elf Aquitaine verpflichtet, für 4,8 Mil- Sollte er sich wirklich weigern, so ist aus diese Erkenntnis für sich behielt, ist umso liarden Mark eine neue Raffinerie in Leu- Ausschusskreisen zu vernehmen, will das erstaunlicher, als die Leuna-Affäre bereits na zu bauen. Gremium die Unterlagen notfalls be- mehrere Untersuchungsausschüsse be- Seitdem sorgt das deutsch-französische schlagnahmen lassen. Und erneut wollen schäftigt hat. Projekt für Schlagzeilen: Mal ging es um die Abgeordneten jene Kanzleramtsun- In diesen Tagen erinnern sich altge- die Bevorzugung der Franzosen bei den terlagen sehen, die ihnen bisher niemand diente Mitarbeiter des Kanzleramtes wie- Vertragsverhandlungen, mal um mögli- zeigen wollte oder konnte. der deutlich an die mühevolle Suchaktion, cherweise überhöhte Subventionszahlun- Bereits 1994 wollte der damalige Bun- denn seit dem vorletzten Wochenende ist gen beim Raffineriebau. Seit Jahren halten destags-Untersuchungsausschuss „Treu-

34 der spiegel 52/1999 weil sie zum Vatermord aufruft, auf der Strecke bleibt. Ihre öffentlichen Interven- hand“ den umstrittenen Leuna-Deal ge- weis darauf, dass wichtige Unterlagen tionen sind keineswegs jedes Mal mit nauer ausleuchten und forderte deshalb nicht mehr auffindbar oder möglicher- Schäuble abgesprochen. erstmals die Regierungsdokumente an. weise gar abhanden gekommen waren. Angela Merkel hat die alte Geißler-Rol- Schließlich erhielten die Abgeordneten Im Kanzleramt machte sich Ende Fe- le übernommen: Um die Partei vor weite- drei Aktenordner mit Kopien ausgewähl- bruar 1998 das Referat Innerer Dienst auf rem Schaden zu bewahren, spricht sie un- ter Kanzleramtsakten. Übergeben wur- die Suche nach den verschollenen Akten. angenehme Wahrheiten aus. Merkel hat den die Akten durch das für den Aus- Schon die Klärung der Frage, wer die Ori- das endgültige Ende der Ära Kohl verkün- schuss zuständige Finanzministerium. ginalunterlagen im Herbst 1994 nach det und dem Ehrenvorsitzenden nahe ge- Dieser Vorgang ist vor allem deshalb ihrem Umweg über das Finanzministeri- legt, alle seine Ämter niederzulegen. Das bedeutsam, weil zweifelsfrei feststeht, dass um eigentlich wieder in Empfang genom- „Mädchen“ setzt sich vom Übervater ab. es Ende Oktober 1994 zumindest die Ori- men hatte, erwies sich als schwierig. Der neue Parteichef Schäuble steckt tief ginale noch gab. Damals nämlich sandte So existiert zwar eine Art Empfangs- im Dilemma: Einerseits hat er Sorge, von das Finanzministerium das Aktenkonvo- bestätigung der Hauptregistratur. Doch Kohl-Getreuen der Illoyalität geziehen zu lut, von dem man die Kopien gefertigt hat- bei näherer Nachforschung zeigte sich, werden.Andererseits darf er den Anschluss te, ans Kanzleramt zurück. Danach ver- dass angeblich die Akten bei einem Be- an die neue Zeit nicht verpassen. Deshalb liert sich die Spur. amten aus der Abteilung 4 angelandet sein erklärte er Merkels Aufsatz als deren „per- Als ein weiterer Untersuchungsaus- sollen. Doch auch dort wurde der Innere sönlichen Beitrag“, aber er verriet nicht, ob schuss in der nächsten Legislaturperiode Dienst vier Jahre später nicht fündig, der er ihre Meinung teile, dass Kohl der Partei wieder um Zusendung der Akten bat, lie- Kollege ist mittlerweile gestorben. geschadet habe und weiter schade. ferte das Finanzministerium im Juni 1997 Weil weder eine ausgedehnte Archiv- So lässt er Raum für Deutungen. Er geht erneut die Kopien aus seinem Bestand, die suche noch weitere Befragungen im Haus ein bisschen auf Distanz zu Merkel („Wir es schon 1994 dem Parlament zur Verfü- zu einem brauchbaren Ergebnis führten, sind nicht immer einer Meinung“), stärkt gung gestellt hatte. Spätestens zu diesem gab der Innere Dienst am 26. Oktober ihr aber den Rücken und lässt sie gewähren Zeitpunkt verfügte das Kanzleramt nicht 1998 seine Bemühungen auf. („Aber wir sind immer auf einem gemein- mehr über die Originalpapiere. Im Juli 1997 Bis heute ist unklar, ob die Originaldo- samen Weg“). Das sieht nach einer unab- wurden in der Registratur des Kanzleram- kumente schon frühzeitig vernichtet wur- gesprochenen, aber geschickten Arbeits- tes an Stelle der „nicht mehr auffindbaren den oder einfach im Chaos des Kohlschen teilung aus. Originalbestände“ die drei Jahre zuvor ge- Machtsystems verschwanden. Da selbst Auf die Frage, ob Kohl jetzt seine Ämter fertigten Kopien des Finanzministeriums in engste Mitarbeiter des Altkanzlers immer niederlegen sollte, um die Situation der den Bestand übernommen. nur in Ausschnitten über Entscheidungs- Partei nicht weiter zu verschlechtern, gab Die nun ersatzweise eingestellten Do- abläufe unterrichtet waren, ist es gut mög- Schäuble ausweichende Antworten. Kohl kumente waren ungeordnet, teilweise lich, dass die Unterlagen in einem ver- sei „am besten in der Lage, die Situation zu fehlten Seiten, manche Papiere waren wandten Vorgang gewissenhaft abgeheftet beurteilen, in der sich die Partei befindet. gleich mehrfach abgeheftet.Vor allem las- wurden, ohne dass benachbarte Abtei- Es gibt wenige, die ihn darin übertreffen“. sen die Duplikate kaum noch Rück- lungen davon Kenntnis bekamen. Und doch – darüber waren sich die am schlüsse zu, inwieweit sie dem Original- Kenner des Kanzleramtes halten es für vergangenen Mittwoch im Bonner Konrad- bestand eigentlich entsprechen; tatsäch- durchaus denkbar, dass die neuerliche Su- Adenauer-Haus tagenden Präsiden der

K.-B. KARWASZ „Treuhand“ 1994, Raffinerie Leuna: „Nicht mehr auffindbare Originalbestände“ CDU einig – hänge jetzt alles davon ab, lich ist von diesem nur noch ein kleiner che, wenn sie gründlich betrieben wird, dass Kohl reagiert. Das Präsidium müsse Rest vorhanden. Zudem weisen die Akten doch noch zum Erfolg führt. Beispiels- zusammenstehen: „Wir gehen jetzt in un- just in den Zeiträumen Leerstellen auf, in weise kann ein und dasselbe Dokument gewöhnlich schwere Wochen“, sagte ein denen Vermittler wie der Geschäftsmann gleich unter verschiedenen Aktenzeichen Teilnehmer. Dieter Holzer, der in dem Leuna-Geld- abgelegt sein. Diskutiert wurde auch die Frage, was fluss eine zentrale Rolle spielt, auf der Als viel versprechend gilt auch eine Re- passiert, wenn Kohl sich weiterhin weigert, Bonner Bühne aktiv waren. cherche im so genannten Zwischenlager Auskunft über die Spenden zu geben. Dies Als der Ausschuss bei der Durchsicht Hangelar bei Bonn, wo alle Akten des sei letztlich eine Autoritätsfrage, es habe der Kopien auf diese Lücken stieß und Kanzleramtes übergangsweise verwahrt aber zu der Erklärung von heute keine Al- deshalb am 31. Oktober 1997 alle weiteren werden, bevor sie endgültig ins Koblenzer ternative gegeben. Akten zum Leuna-Deal anforderte, über- Bundesarchiv wandern. Hangelar, das zu- Wenn Kohl Antworten schuldig bleibt, sandte das Kanzleramt einen Ordner mit mindest scheint sicher, wurde bislang al- wird der Konflikt weiter eskalieren. ausgewählten Unterlagen aus dem einzig lenfalls flüchtig in Augenschein genom- Die Gefahr, dass es die Partei zerreißt, verbliebenen Originalordner. Kein Hin- men. Markus Dettmer würde dadurch noch größer. Aus der neuen Führung hat niemand mehr Zugang zu Kohl: „Wir stehen unter Verratsverdacht.“ Des-

der spiegel 52/1999 35 Titel halb seien alte Vertraute wie Rudolf Seiters, dung über Kohls System beiträgt, könnte ihren Spaß an der Schadenfreude be- Vogel, Anton Pfeiffer und Blüm gefragt. sich zur Katastrophe für die CDU auswei- rüchtigt ist. Edmund Stoiber zeigte sich Wo Merkel weit geht, geht Schäuble ten. Selbst wenn die CDU jetzt „munter im kleinen Kreis „rat- und fassungslos“ nicht weit genug, kann es vielleicht auch und lustig den Vatermord begeht, wird’s über die Enthüllungen, aber dabei beließ nicht, ohne sich selber zu schaden. nicht besser“, meint ein Bundestagsabge- er es. Kohl hatte den jungen Abgeordneten aus ordneter sarkastisch. Generalsekretär Thomas Goppel ist be- dem Wahlkreis Offenburg entdeckt, geför- Auch Volker Rühe, hypernervös und in unruhigt, dass die Politik sich auf Kohls dert und als präsumtiven Nachfolger ge- Sorge um seinen fast schon greifbaren schwarze Kassen zu reduzieren drohe: „Ob adelt. Schäuble war Parlamentarischer Ge- Wahlerfolg in Schleswig-Holstein, ist sicht- es um die Rente geht oder die Steuerre- schäftsführer, Kanzleramtsminister und In- bar hin- und hergerissen. Wie Schäuble form, alles wird überlagert von der Spen- nenminister von Kanzlers Gnaden. Er muss gehört er zur alten Nomenklatura. Er war denaffäre. Das kann die Opposition nicht sich zwangsläufig einen Rest Loyalität be- als Generalsekretär Nachfolger von Heiner durchhalten.“ wahren. Wenn er mit der Hand auf den Geißler, der als Erster von Schwarzgeldern Aus Sicht der CSU teilen sich Merkel Gesetzesbrecher Kohl zeigt, zeigt er im- sprach. Wusste Rühe wirklich nichts da- und Schäuble ihre Rollen aber gut auf: mer mit drei Fingern auf sich selber. von? Und wenn er nichts wusste, warum ei- Schäuble gebe den „behutsamen Aufklärer, Leicht könnte Schäuble zur tragischen gentlich nicht? der die eigene Partei mitnehmen muss und Figur der Spätphase Kohl werden. Kanzler Weder Rühe noch Schäuble, weder Pe- nicht frontal gegen Kohl in Stellung brin- wäre er am ehesten durch Kohls Designa- ter Müller noch Roland Koch sind gegen gen kann“, sagt ein CSU-Vorständler. tion geworden. Er musste das Erbe nach den Parteivorsitzenden Kohl zu Amt und Die CSU verfügt über Erfahrungen im dem Machtwechsel antreten und kann nun Würden gelangt. Die ziemlich zahmen heiklen Umgang mit dem Denkmal Franz die Trümmer besichtigen.Als Parteichef ist „jungen Wilden“ in Wiesbaden und Saar- Josef Strauß. Ein Unterschied aber fällt er nichts mehr als eine Übergangsfigur.Aus brücken halten sich denn auch mit Brand- ins Gewicht: „Wir hatten es leichter, uns Kohls Schatten kann er nicht heraustreten. rufen nach Aufklärung zurück. Sie warten abzunabeln“, sagt ein Stoiber-Vertrauter. Schäuble versuchte zuletzt massiv, den lieber ab, was die Wirtschaftsprüfer und „Strauß war schließlich schon tot, Kohl widerstrebenden Kohl zur Preisgabe der die neue Parteiführung noch so alles über lebt.“ Spendernamen zu bringen. Mehrfach tele- das System Kohl herausbringen. Dass Kohls politisches Ende sich ausge- fonierte er mit ihm, um ihm klarzumachen, Auffälliges Schweigen herrscht auch bei rechnet zur Jahrtausendwende vollzieht, dass sein Einlenken im eigenen Interesse der CSU in München, die eigentlich für würde dem alten FJS, Kohls Erzfeind und sei. Nur so bleibe seine histori- Männerfreund über Jahrzehn- sche Leistung unangetastet. te, nicht schlecht gefallen ha- Der Ehrenvorsitzende ließ sich ben. Für Bosheiten der Historie aber auch diesmal nicht nöti- hatte der ein feines Gefühl. gen: Er habe sein Ehrenwort Für Helmut Kohl war der gegeben. Er hinterlässt ver- 1. Januar 2000 nie irgendein brannte Erde. Datum. Symbolbesessen, wie Klar ist inzwischen, dass es er immer schon war, hatte be- wohl kaum schnelle Aufklärung reits den jungen Pfälzer der über die illegalen Gebräuche Anbruch des neuen Jahrtau- im System Kohl geben wird. Im sends fasziniert. Stets begann Zweifel dürfte sich Kohl wohl da für ihn die Zukunft. nur von Staatsanwälten zur Of- Nicht einmal 36 Jahre war fenlegung der Spendernamen der Mainzer Politiker alt, als er zwingen lassen. im März 1966 zum Landesvor- Herr des Verfahrens bleibt sitzenden der rheinland-pfälzi- somit wie eh und je noch im- schen CDU gewählt wurde. mer der große Vorsitzende eh- Doch weil das für ihn eine Art renhalber. Die Partei steht wei- Abschied von der Jugend ge- ter in seinem Bann. Muss er die wesen sein muss, drückte er mildtätigen Geber, die ihm an- damals seinen Neid aus gegen- gebliche Millionen zusteckten, über den noch jüngeren Partei- demnächst doch nennen? Wer- freunden in der Rhein-Mosel- den die anonymen Schweizer Halle von Koblenz: Stehe Spender bekannt, die angeb- ihnen doch das Glück bevor, lich ihr Erbe der CDU ver- die Jahrtausendwende in voller machten? Gibt es sie über- Manneskraft erleben zu dürfen haupt? und so das heraufdämmernde Im Strafverfahren wegen Millennium mit gestalten zu Steuerhinterziehung gegen können. Er hingegen, Helmut im Jahr Kohl, sei dann schon alt und 1991 stießen die Ermittler auf siech und aus dem Geschäft. die Spur von acht Millionen 70 Jahre wird er demnächst, Mark, die sich in der Schweiz aus dem Geschäft ist er noch verloren. Sind sie wirklich ver- nicht ganz: Er ist noch mit der schwunden, oder tauchen sie Zerstörung seiner Legende be- jetzt nach Jahr und Tag wieder schäftigt. auf? Jede Neuigkeit, die ein Tina Hildebrandt, Jürgen Bruchstück zur Wahrheitsfin- Leinemann, Georg Mascolo, Heiner Schimmöller, N. MASKUS / IMO N. MASKUS Gerhard Spörl * Im Bonner Bundestag 1998. Abgeordneter Kohl*: Alt und siech und aus dem Geschäft

36 der spiegel 52/1999 J. H. DARCHINGER Kohls Arbeitszimmer im Bonner Kanzleramt (1997): Geflecht von Abhängigkeiten Der Anführer und die Kasse Das System Kohl arbeitete bereits in Ludwigshafener Kindheits- und Jugendtagen. Der Kanzler machte sich seine Partei untertan – und die war es gern.

as System Kohl funktionierte früh, Wer Kohl folgte, bekam den anderen nicht scha- und es funktionierte perfekt. Der Schutz, Vorteile, Karriere den. War ja alles fürs Va- DKnirps Helmut warf sich ein Laken und die Nähe zur Macht. terland. So auch mag zu über, setzte sich den Kaffeewärmer auf den Dafür verlangte der An- erklären sein, dass der Kopf und befahl, man möge ihm die führer Loyalität und Ge- Altkanzler bis heute kein Schleppe tragen. Einem Hasen brachte er horsam. Mitwisser hatten Schuldbewusstsein ent- bei, Männchen zu machen, ein Huhn ließ Mitschweiger zu sein.Wer wickelt hat. Schließlich, er wie hypnotisiert einen Kreidestrich ent- die Gesetze missachtete, sagt der Kohl-Biograf langmarschieren. wurde ausgestoßen. Alexander Gauland, sehe So widerspruchslos ihm Mitte der dreißi- So funktionierte das sich der Altkanzler „in ger Jahre Ludwigshafener Kinder und System Kohl mehr als drei der Nachfolge Bismarcks Kleintiere gehorchten, so treu folgten ihm Jahrzehnte – wie ge- und Adenauers und fühlt viele Parteifreunde bis über das Ende sei- schmiert. Kein anderer sich von einem undank- ner Amtszeit hinaus. Selbst als Helmut Spitzenpolitiker hat sich baren, klein karierten Pu- Kohl schon nicht mehr Parteichef war, so intensiv ums liebe Geld blikum jetzt wegen einer mühte sich Abteilungsleiter Hans Terlin- gekümmert wie Helmut Kleinigkeit angegriffen“. den im Bonner Adenauer-Haus noch eifrig, Kohl. „Die Kasse muss In Kohls Denken sei die das System der schwarzen Kassen vor der stimmen“, hatte der auf- SPIEGEL-Titel 31/1994 CDU Teil des Gemein- neuen CDU-Führung zu verbergen. strebende CDU-Politiker wohls, deshalb habe er Das System Kohl – Synonym für einen schon in jungen Jahren von seinem Mentor sich als Spendensammler doch letztlich auch bestechenden Politikstil, ein instrumentel- Johannes Fink gelernt, einem katholischen nur fürs Gemeinwohl eingesetzt. Jetzt gebe les Geflecht von Abhängigkeiten, stabil ge- Priester, der die CDU in der Pfalz mitbe- er den „beleidigten großen Staatsmann“ nug, um von Ludwigshafener Kriegstagen gründet hatte und auch ihr erster Vorsit- und schlüpfe in die Rolle des Opfers. bis an die Schwelle zum neuen Jahrtau- zender war. Kohl verstand sich als Spitze einer Keil- send zu überdauern. In diesen Nachkriegstagen wurde Kohls formation. Er selbst sorgte für den Schub Das Erfolgsgeheimnis war die Nutzbar- strikt utilitaristisches Weltbild maßgeblich nach vorn, dessen Sog weitere Mitläufer machung von Neigungen und Schwächen geprägt. Die Nazi-Gesetze galten nicht anzog, die sich aus der Zugehörigkeit zu anderer. mehr, die Zukunft lag im Nebel, das Leben den „Kohlianern“ Vorteile versprachen. Schon als Schüler entdeckte Kohl jene war vom Kampf ums Überleben bestimmt. Das System Kohl bestand damals wie scheinbar ewig gültigen Gesetze des Anführer waren diejenigen, die Leute heute aus einer Mannschaft, die bestimmte menschlichen Miteinander, deren er sich und Wege kannten, sich Vorteile zu ver- Kriterien erfüllen mußte: Treue,Verschwie- fortan bediente: Die Menschen wollten schaffen. Anführer wie Helmut Kohl. genheit, Loyalität, Respekt. Was für seine Führung, ihr Motiv war Egoismus, ihr Ziel Kohl, die CDU und Deutschland waren Parteifreunde Heinrich Holkenbrink, Heinz die Macht, ihr Handicap die Angst. eins, und was dem einen nützte, konnte Korbach oder Heinz Schwarz galt, war spä-

der spiegel 52/1999 37 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel ter im Mainzer Landtag für seine Minister Auf einem Fressgelage befahl Kohl Rheinland-Pfalz zu ändern. 1966 übernahm Heiner Geißler und Bernhard Vogel und plötzlich einem Mitarbeiter „Mach de er den Parteivorsitz. schließlich in Bonn für Leute wie Eduard Aff“, woraufhin dieser auf den Tisch Mit Hilfe der Partei konnte Kohl sein Ackermann, Friedrich Bohl oder Norbert sprang. Von seinem Schulfreund Egon Au- Netzwerk ergänzen, denn nun hatte er Pos- Blüm Gesetz: Sie alle mussten den Anfüh- gustin verlangte Kohl, dass er den Kreis- ten anzubieten. Er besuchte den Indu- rer bewundern, sie alle waren durch seine vorsitz der Ludwigshafener CDU an ihn striemanager Richard von Weizsäcker in Fürsprache auf ihre Posten gekommen, sie abtrete. Augustin war dazu nicht bereit. Ingelheim, den er zuvor noch nie getroffen alle durften keine nennenswerte Gefolg- „Von dieser Stunde an war es mit der hatte. Dem überraschten Adligen, den er schaft haben, sie alle mußten Qualifikatio- Freundschaft vorbei“, klagte Augustin. gern in seinem Team gehabt hätte, schlug nen bieten, die Kohl nützlich erschienen. Nach seinem Sieg ließ Kohl aus allen Kohl einen sicheren Listenplatz für die Der Koblenzer Schwarz erinnert sich in amtlichen Dokumenten der Ludwigshafe- nächste Bundestagswahl vor. der Kohl-Biografie von Klaus Dreher an ner CDU den Namen seines einstigen Den Rechtsprofessor Roman Herzog kö- den Modellcharakter, den die Nachwuchs- Spielkameraden entfernen. derte Kohl mit dem Angebot,Vertreter von politiker ihrer Gruppe zumaßen. „Wir Schon Mitte der sechziger Jahre – da Rheinland-Pfalz im Bund zu werden. Und mussten drei sein“, so Schwarz, denn war er Vorsitzender der CDU-Landtags- dem heutigen thüringischen Ministerpräsi- wenn sich zwei verbünden, dient ein Drit- fraktion in Mainz – taucht sein Name bei denten Bernhard Vogel verschaffte er eine ter der Kontrolle. So funktionieren Ge- Gönnern auf, die der CDU über illegale Bundestagskandidatur. heimbünde. Umwege Spenden zukommen ließen. So verstand es der Nachwuchsstar der Als Klebemittel für die CDU auch, sich rechtzeitig Kontakt zur „Kohlianer“ fungierten Wirtschaft zu verschaffen. Da Kohl als kom- jene Gelage, die der laut- mender Mann galt, wurde für ihn bei der Ei- starke Boss schon damals sengießerei Mock der Posten eines Direk- oft und ausgiebig befahl. tionsassistenten geschaffen: Kohl war dafür Die Abende liefen immer zuständig, die ans Firmengelände grenzen- nach dem gleichen Muster den Grundstücke günstig zu erwerben. ab: Gegen zwei Uhr mor- Nach einem Jahr wechselte Kohl als Re- gens wurde die besinnli- ferent zum Verband der chemischen Indu- che Phase eingeleitet, oft strie von Rhein-Pfalz-Saar, wo er Kontakte mit der pfälzischen Natio- zu Lobbyisten und Bossen knüpfte. Der nalhymne: „Ich bin een Posten war offenkundig nur geschaffen wor- echter Pälzerbu, de den, um dem künftigen Ministerpräsidenten Stärkschte von unsre schon mal ein ordentliches Auskommen zu Klass.“ Oft folgte ein sichern. In die tieferen Geheimnisse des nächtlicher Saunagang. Verhältnisses von Staat und Markt weihte Natürlich saß Kohl am ihn Fritz Ries ein, Chef der Pegulan-Werke, nächsten Morgen als erster die in Bodenbelägen machten. wieder am Schreibtisch. Ries, der sich auch seiner Freundschaft Die Völlerei setzte Kohl zu Franz Josef Strauß rühmte, brachte den bis zuletzt als Machtmit- jungen Kohl in Wirtschaftskreise und war tel ein. Bis zu seinen letz- sich dessen Dankbarkeit bewusst. „Auch ten Arbeitstagen traf sich wenn ich den nachts um drei anrufe, muss fast täglich die „Arbeits- er springen“, soll Ries einst über Kohl ge- gemeinschaft Essen und sagt haben. Trinken“. Mit seinen Ries, der in der Nazi-Zeit am Zukauf ari- engsten Vertrauten, Büro- sierter Betriebe und dem Ausbeuten von chefin Juliane Weber, tausenden von Zwangsarbeitern verdiente, Eduard („Carbonara“) war bekannt für seine Gesellschaften auf Ackermann oder Andreas dem österreichischen Schloßgut Pichlarn. („Fritzi“) Fritzenkötter Hier trafen sich Strauß, ein paar ehe- pflegte Kohl in seinen malige Nazi-Größen und Arbeitgeberprä-

Lieblingslokalen in Bonn FOTOS: H. DARCHINGER J. sident Hanns Martin Schleyer. Letzterer und Umgebung opulent Christdemokrat Kohl*: „De Stärkschte von unsre Klass“ soll Kohl gemeinsam mit Ries für „spätere und teuer zu dinieren. Ziele“ vorgemerkt haben. Oft wurden Abgeordnete dazu gebeten, Kurt Lotz, damals Vorstandsvorsitzen- Zum Plan gehörte auch ein intellektuel- die es auszuzeichnen oder zu disziplinieren der der Anlagenbau-Firma Brown, Boveri les Element: der kluge Kurt Biedenkopf, galt. Kohl bestellte für alle, duzte alle und & Cie., avisierte am 11. Dezember 1964 der die Ries-Tochter Ingrid 1979 zur Frau bezahlte für alle – er hatte ja Geld genug. eine größere Summe. „In den nächsten Ta- nahm. Das Gespann Kohl und Biedenkopf, Auch Journalisten, die brav waren, kamen gen werden wir nochmals 50 000 Mark so hatten sich das die Industriellen ausge- mit an den Tisch des Herrn. Oder er be- überweisen“, heißt es in einem Schreiben, dacht, sollte eines Tages die Macht am lohnte ihm gewogene Medienleute, indem das der Staatsanwaltschaft Bonn in die Rhein übernehmen. er gleich eine ganze Schar zur Sause in Lu- Hände fiel. „Und ich habe die Bitte, diese Gut verstand sich Kohl auch mit Hans- xuslokale einlud, etwa in den „Illhäuser“ Herrn Kohl zur Verfügung zu stellen, wenn Otto Scholl, FDP-Chef in Rheinland-Pfalz im Elsass. er an Sie herantritt.“ und Hauptgeschäftsführer beim Bundes- Das scheinbar gütige System konnte zu- In der CDU war zu Zeiten Adenauers verband der Pharmazeutischen Industrie, gleich unglaublich gnadenlos sein. Kohl er- die Fraktion und nicht die Partei das Zen- der in seiner Amtszeit etwa 20 Millionen hob sich, indem er andere demütigte. So trum der Macht. Kohl beschloss, dies in Mark an Parteispenden verteilt haben soll. schickte er Bernhard Vogel bei einem Be- Zugleich stieg in dieser Zeit der Arznei- triebsausflug auf den Hochsitz. Er wusste, * 1971 auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf vor einem mittelverbrauch in Deutschland von 8 auf dass Vogel nicht schwindelfrei war. Adenauer-Plakat. 17 Milliarden Mark.

40 der spiegel 52/1999 Basis. Kohl wurde wie- dergewählt, und jeder in der Partei hätte die Zusammenhänge erken- nen können (SPIEGEL 24/1995). Denn spätestens seit den Tagen der Par- teispendenaffäre waren fast alle Akteure bekannt. Walther Leisler Kiep war Ende der siebziger Jahre schon Schatzmeis- ter, Uwe Lüthje sein Generalbevollmächtigter. Und Kohls rheinland-pfäl- zischer Landesgeschäfts- führer Hans Terlinden be- reitete bereits 1980 in Mainz die Akten für die CDU-Parteitag (in Bremen)*: Für persönliche Förderung zu Dank verpflichtet Ermittler auf. Die CDU- Mannen vertrauten ihrem Die Industrie war froh über einen CDU- seinem bevorzugten Machtmittel, dem Anführer blind, etwa wenn er versichern Politiker wie Kohl, der ihre Anliegen of- Geld. ließ, ein Vor-Weihnachtsausflug im De- fensichtlich gut verstand. Der Pragmatiker Mal bekamen die Niedersachsen, mal zember 1996 mit Vertrauten per BGS-Hub- Kohl verlangte jedoch auch eine Gegen- die Hamburger Parteifreunde eine halbe schrauber ins Frankenland sei „nicht aus leistung. Schließlich hatte er in seiner Million aus Kohls dunklen Kassen. Oder der Staatskasse“ bezahlt worden. Inzwi- Amtszeit als Ministerpräsident von 1969 die klamme Saar-CDU wurde von einem schen sind Kohls Parteifreunde sicher, dass bis 1976 Rheinland-Pfalz in eine einzige Teil ihrer Schulden befreit. die Tour aus seinen schwarzen Konten be- Geldwaschanlage verwandelt. Es war Kohls heutiger Intimfeind Bieden- glichen wurde. Über Tarnorganisationen mit Phanta- kopf, der die Partei als Generalsekretär auf Nun wird die Partei prüfen müssen, ob sienamen („Verband für Schutz und recht- strammen Kohl-Kurs brachte. Sein Genie- bei diesen Sausen Geld veruntreut wurde, liche Absicherung privatwirtschaftlichen streich war die neue Zusammenarbeit zwi- das eigentlich zur Finanzierung ihrer poli- Eigentums“) wurden für CDU und FDP in schen der Bundeszentrale und tischen Aufgaben gespendet zehn Jahren über 250 Millionen Mark ge- den Kreisverbänden. Die Ge- worden war. waschen. Das war schon damals ein glatter schäftsstellen in der Provinz be- Als Minister- Auch das von Kohl gern prak- Verstoß gegen Gesetze und Rechtspre- kamen Computer, dienten als Ser- präsident tizierte System des „Ticketing“ chung. Kohl aber war immer mit dabei, vicestationen und erhielten dank machte Kohl erscheint angesichts grauer Fi- wenn es galt, Spuren zu verwischen. neuer Beitragsordnung Geld in Rheinland-Pfalz nanzquellen heute in einem an- Wohlmeinende Zeitgenossen mögen die Kassen. Dafür berichtete die zu einer deren Licht. dem Politiker Kohl seinerzeit geglaubt ha- Parteibasis direkt an die Zentrale. Mandatsträger aus Parlament ben, dass er von den Machenschaften nicht Auf die einst mächtigen Landes- einzigen Geld- oder Parteiorganisationen wie allzu viel mitbekommen hat. Doch Noti- fürsten der Union war Kohl im- waschanlage der Jungen Union, die zu Kon- zen, die im Flick-Untersuchungsausschuss mer weniger angewiesen. gressen oder Workshops der zu Tage gefördert wurden, zerstreuen jede Später arbeitete zusätzlich eine Art Nach- CDU und ihrer internationalen Schwes- Theorie von Kohls Ahnungslosigkeit. „Frau richtendienst für die Parteizentrale. Ein hal- terparteien reisen wollten, mussten sich Weber/Sekret. Dr. Kohl fragt an, ob es Ih- bes Dutzend Mitarbeiter des Adenauer- die Spesen beim großen Vorsitzenden ge- nen recht ist, wenn sie morgen, Dienstag, Hauses und der parteinahen Konrad-Ade- nehmigen lassen. Der führte penibel Lis- 6.12., gegen 16 Uhr bei Ihnen kurz vorbei- nauer-Stiftung saßen bei Landes- oder ten, auch darüber, welche finanziell klam- kommt“, wird 1977 im Büro von Eberhard Kreisparteitagen überall in den hinteren men Gäste aus dem Ausland auf wessen von Brauchitsch notiert. Reihen. Einladung hin ein Ticket aus den verbor- Der Flick-Manager bestätigt 1985 vor Biedenkopf, später von Kohl kaltgestellt, genen Kassen Kohls bezahlt bekamen. dem Landgericht Bonn, dass Frau Weber klagte: „Er hat ein Netz von Abhängigkei- Hatte sich jemand bei Hofe unbeliebt „schon mal für Herrn Kohl Geld empfan- ten aufgebaut wie ein Landsknechtshaupt- gemacht, lehnte der Vorsitzende den An- gen hat“. Mindestens vier Mal, so steht mann, der König geworden ist.“ trag nicht selbst ab. Das überließ er dem fest, hat Kohls Vertraute bis zu 50000 Mark Über die Hälfte aller Parteitagsdele- Generalsekretär. abgeholt. „In der Ära Kohl“, so von Brau- gierten und Bundestagsabgeordneten der Dass CDU-Chef Wolfgang Schäuble sei- chitsch in seinen Memoiren, „gab es ge- CDU, so schätzte einst der Soziologe Ralf nen Vorgänger jetzt gern als einen etwas setzliche Bestimmungen, die unseriösen Dahrendorf, seien dem Kanzler Kohl für altmodischen Patriarchen hinstellen will, Praktiken Vorschub geleistet haben.“ persönliche Förderung zu Dank verpflich- dessen Politikstil überholt sei, kann kaum War das Unrechtsbewusstsein seinerzeit tet. Eine ähnlich ausgeprägte Zentralgewalt gut gehen. 25 lange Jahre war Kohl die parteiübergreifend eher gering ausgeprägt, war in keiner anderen Partei zu finden. CDU, und die CDU wollte gern Kohl sein. so sollte Kohl aber spätestens seit der Und sie lohnte sich, wenn es eng wurde für Vieles, fast alles, hätte die Partei wissen Parteispendenaffäre von der Zwielichtig- Kohl wie 1989, als einflussreiche Präsidi- können, ahnen müssen. Schäuble selbst hat keit seines Tuns geahnt haben. Doch umsmitglieder auf dem Bremer Parteitag einmal gesagt, dass „Helmut Kohl keine der Patriarch griff weiter – offenbar vor- seinen Sturz planten. Geheimnisse haben kann. Wer ihn so lan- sätzlich – auch in den Tagen nach Flick zu Die von CDU-Wirtschaftsprüfer Horst ge kennt wie ich, der kann in seinem Ge- Weyrauch treuhänderisch geführte Partei- sicht alles lesen“. * Im Mai 1998 bejubelten die Delegierten die Rede von Firma Dico-Soft verschenkte für mehrere Dirk Koch, Hartmut Palmer, Helmut Kohl. Millionen Mark Rechner an Verbände der Hajo Schumacher, Klaus Wiegrefe

der spiegel 52/1999 41 Titel

SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich fordere radikale Aufklärung“ Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) über Kohls Gesetzesbrüche, die finanziellen Folgen für die CDU und den Schaden für die Demokratie

SPIEGEL: Herr Bundestagspräsident, wel- prüft werden. Das habe ich dem neuen Par- kratischer Großzügigkeit auf Strafe ver- che Konsequenzen hat das Geständnis Hel- teivorsitzenden Wolfgang Schäuble auch zichten. Ist die Sanktion zu hoch, klagt die mut Kohls, Spendengelder in Millionen- schriftlich mitgeteilt. Allerdings: Das Union, ist sie zu niedrig, ziehen andere höhe am Rechenschaftsbericht vorbeige- Grundgesetz formuliert ein absolutes Parteien vor Gericht.Vor dem Gesetz sind schleust zu haben? Transparenzgebot für die Parteien – und alle gleich. Thierse: Zunächst einmal: Dieser Vorgang zwar ohne jede Fristbegrenzung. Wenn es SPIEGEL: Wollen Sie über das finanzielle bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Ge- also irgendeinen Weg gibt, auch mögliche Schicksal der Union wirklich allein ent- schichte der Republik. Ein ehemaliger Bun- noch weiter zurückliegende Verstöße auf- scheiden? deskanzler hat eingestanden, jahrelang sys- zuklären, dann muss auch dies unbedingt Thierse: Das sind juristisch hochkompli- tematisch gegen das Parteien- und das getan werden. zierte Fragen. Ich hole deshalb den Rat an- Grundgesetz verstoßen gesehener Verfassungs- zu haben – das ist ein rechtler ein, die Erfah- unerhörter Vorgang. Er rung mit dem Thema der wirft nicht nur einen tie- Parteienfinanzierung ha- fen Schatten auf die Par- ben. Mit diesen und mei- teien, sondern erzeugt nen Juristen werde ich auch ein Klima des Ver- mich in den nächsten dachts gegen alle Politi- Wochen beraten. ker. Deshalb ist Auf- SPIEGEL: Wann rechnen klärung auch so wichtig. Sie mit einer ersten Ent- SPIEGEL: Der Ex-Bundes- scheidung über Rückzah- kanzler ist für Sie ein lungen? Rechtsbrecher? Thierse: Der gesamte Thierse: Was die von Hel- Vorgang wird sich wohl mut Kohl eingeräumten noch lange hinziehen. anonymen Spenden an- Meine Behörde hat ja geht, so ist die Rechts- keine eigenen Ermitt- lage glasklar. Es handelt lungskompetenzen. Ich sich um einen Verstoß ge- habe deshalb die Augs- gen das Transparenz- burger Staatsanwalt- gebot des Grundgesetzes. schaft gebeten, mir alle

SPIEGEL: Nach dem Ge- M. URBAN Ergebnisse, die für den setz muss der Bundes- Parlamentspräsident Thierse: „Die letzten zehn Jahre prüfen“ Bereich der Parteien- tagspräsident darüber finanzierung der CDU entscheiden, wie die Union bestraft wird. SPIEGEL: Nach Kohls Geständnis ist klar, entscheidend sind, zugänglich zu machen. Wie weit sind Ihre Prüfungen? dass zumindest seit 1993 alle Rechen- Die Berichte der Union, auch die korri- Thierse: Die CDU kann mir bis Ende die- schaftsberichte falsch sind. gierten, müssen dann auch noch mit allen ses Jahres einen überarbeiteten Bericht Thierse: Das ist der entscheidene Punkt, anderen Informationen verglichen werden, für 1998 vorlegen und zugleich die Vor- der es für mich auch schwer macht. Das die mir vorliegen. aussetzungen für eine ordnungsgemäße Gesetz sieht in diesem Fall eine weitere SPIEGEL: Wird die Union wie geplant am Abrechnung für 1997 schaffen. Wir haben schwerwiegende Sanktion vor: Den Par- 15. Februar des kommenden Jahres ihren dann sechs Wochen Zeit für eine Plausi- teien droht in einem solchen Fall der Ver- ersten Abschlag auf die staatlichen Zu- bilitätsprüfung. Grundsätzlich gilt: Ano- lust ihres kompletten Anspruchs auf staat- wendungen in Höhe von rund 15 Millionen nyme Spenden sind illegal und müssen liche Beihilfen. Es kann auch nicht sein, Mark erhalten? komplett an den Bundestagspräsidenten dass weit zurückliegende Rechenschafts- Thierse: Der 15. Februar könnte der Zeit- abgeführt werden. Dazu kommen Straf- berichte korrigiert werden und dann die punkt für eine erste Sanktion sein.Wenn es gelder in zweifacher Höhe. Insofern muss Strafen wegfallen. Sonst hätte ja jede Par- zu diesem Zeitpunkt noch Klärungsbedarf man nur zusammenrechnen, um die Ge- tei getürkte Berichte abgeben und darauf gibt – und danach sieht es derzeit aus –, samtstrafe zu ermitteln. Das Geld werde bauen können, nach dem Auffliegen durch gibt es zwei Möglichkeiten: Ich behalte die ich dann gemeinnützigen Zwecken zu- Nachbesserung einer Strafe zu entgehen. Gelder komplett oder teilweise ein – oder führen. SPIEGEL: Könnte es sein, dass die CDU im ich zahle die volle Summe nur gegen Vor- SPIEGEL: Welchen Zeitraum des Kohlschen Jahr 2000 keinerlei Staatsgelder bekommt? lage einer entsprechenden Bankbürgschaft Finanzsystems wollen Sie aufklären? Thierse: Diese theoretische Möglichkeit ist aus. Thierse: Bilanzen und Bücher müssen zehn gegeben. Aber mein Bestreben kann es SPIEGEL: Bedarf das System der Parteien- Jahre lang aufbewahrt werden, also ist das nicht sein, eine große Volkspartei finan- finanzierung angesichts der eklatanten für mich maßgeblich. Zumindest diese Jah- ziell zu ruinieren. Das wäre unsinnig. jahrelangen Verstöße einer grundlegenden re müssen noch einmal vollständig über- Allerdings kann ich auch nicht aus demo- Reform?

42 der spiegel 52/1999 großes Rätselraten würde beginnen, wel- che Firma hinter welchem Spender steckt. SPIEGEL: Also soll alles beim Alten bleiben – trotz aller Parteispendenskandale? Thierse: Nein, aber ich habe nach den jet- zigen Vorgängen die skeptische Hoffnung, dass die Zustände sich bessern werden. Und es haben sich ja auch nicht alle so ver- halten wie Helmut Kohl und die CDU. Der Bundespräsident wird wieder so eine Kom- mission berufen, die Empfehlungen zur Parteienfinanzierung ausarbeitet. Und ich könnte mir gut vorstellen, die Kontrollme- chanismen noch weiter zu verstärken – etwa durch eine unabhängige, staatsferne Institution zur Kontrolle des Finanzgeba- rens der Parteien. Darüber sollten wir nach Abschluss der Ermittlungen von Staatsan- waltschaft und Untersuchungsausschuss diskutieren. SPIEGEL: Welche Auswirkungen wird die Spendenaffäre auf die politische Kultur in Deutschland haben? Thierse: Helmut Kohl und die anderen Beteiligten in der CDU haben Recht und Gesetz gröblichst missachtet. Dieser unge- heuerliche Vorgang schürt Vorurteile ge- gen die Parteien und damit gegen die Demokratie.Aber die öffentliche Erregung über das Fehlverhalten zeigt natürlich auch, wie vital unsere Demokratie ist und wie die Gewaltenteilung funktioniert. Pres- se und Justiz kommen ihren Pflichten nach. Das spricht für die Kraft, die unsere rechts- staatliche Demokratie hat. SPIEGEL: Hat sich Ihr Bild von Helmut Kohl verändert? Thierse: Natürlich bleiben historische Ver- dienste. Aber mein Urteil über Helmut Kohl – und ich glaube das Urteil vieler Menschen – wird davon abhängen, ob und wie er zur Aufklärung beiträgt. Es darf nicht sein, die begangenen Gesetzesbrüche

HAITZINGER als Fehler abzutun und zu verharmlosen. „… aber stellt für jeden Fall einige Eimer Wasser bereit!“ bunte Ich plädiere deshalb für radikale Auf- klärung, damit Schaden von der deutschen Thierse: Eine Gesetzesverletzung spricht müssen, war allgemeine Praxis – nicht nur Demokratie abgewendet wird. nicht gegen das Gesetz, sondern gegen den in der CDU. Verstößt dieser von den Par- SPIEGEL: Erwarten Sie von Kohl, dass er Gesetzesbrecher. Andere Parteien haben teien als legal empfundene Trick nicht ge- die Namen der Spender nennt? sich ja offenbar an die Vorschriften gehal- gen den Geist des Gesetzes? Thierse: Radikale Aufklärung schließt die ten. Eine vorschnelle Debatte über eine Thierse: Ich bin entschieden für eine re- Offenlegung aller bislang verschwiegenen Gesetzesänderung würde nur einen Nebel striktive Auslegung und Handhabung des Details ein. erzeugen, in dem sich der Gesetzesbrecher Gesetzes und werde dies in Zukunft durch- SPIEGEL: Herr Thierse, wir danken Ihnen verstecken könnte – so als wäre das Gesetz setzen. Das Gesetz verlangt Transparenz, für dieses Gespräch. und nicht er schuld an der Misere. jede Art von Verschleierung ist unzulässig. SPIEGEL: Reichen die Sanktionen denn aus, Wer große Spenden stückelt, verschleiert die das Gesetz vorsieht? und verstößt damit gegen das Gesetz. Thierse: Die Sanktionen sind schon sehr SPIEGEL: Was halten Sie davon, künftig hart. Es haftet ja nicht nur der Einzelne – Spenden von Unternehmen zu verbieten? in diesem Fall Helmut Kohl –, der gegen Thierse: Dieser Vorschlag ist ein Schnell- das Gesetz verstoßen hat. Da der Partei- schuss, der die Transparenz nur ver- vorstand die Vollständigkeit des Rechen- schlechtern würde. Dann würden nicht schaftsberichts an den Bundestag zu be- mehr Firmen, sondern in deren Auftrag Ein- stätigen hat, haftet die gesamte Partei fi- zelpersonen spenden. In den öffentlich ein- nanziell für das Fehlverhalten. Eine härte- sehbaren Berichten der Parteien würden re Sanktion als die laut Gesetz möglichen die Firmen nicht mehr auftauchen – und ein

Geldbußen ist kaum vorstellbar. M. URBAN SPIEGEL: Die Stückelung großer Spenden * Georg Mascolo und Stefan Berg in Wolfgang Thierses Thierse, Spiegel-Redakteure* mit dem Ziel, sie nicht veröffentlichen zu Büro im Berliner Reichstag. Millionen Rückforderungen?

der spiegel 52/1999 43 Deutschland

FLUG-AFFÄRE „Übersicht PJC ab ’89“ Weit mehr prominente Sozialdemokraten als bisher bekannt ließen sich von der Westdeutschen Landesbank Flüge im Privatjet spendieren. Die Staatsanwälte prüfen, gegen wen vom Düsseldorfer Kabinett sie Strafverfahren einleiten müssen.

as heißt EDXW? Die vier Buch- hatten. Da fand sich auch ein Ordner staben beschäftigen über die „Übersicht PJC ab ’89“ – voller Kürzel WWeihnachtstage Parlamentarier und Flugverbindungen. des Düsseldorfer Landtags nicht weniger Einen vielseitigen Computerausdruck, als Steuerfahnder des Finanzamts ein paar Auswertung der Entdeckungen in dem al- Straßen weiter. Und wie ist es mit LYSP? ten PJC-Ordner, überließen die Finanz- Auch in der NRW-Staatskanzlei sitzen ermittler den Kollegen von der Staatsan- Experten an Buchstabenrätseln. waltschaft: das erste amtliche Reisetage- EDXW, bei der Staatsanwaltschaft weiß buch der fliegenden Sozis von Düsseldorf. man das schon, ist das Flughafenkürzel der Den Spitzenplatz auf der Tripliste hat Piloten für Westerland auf Sylt. Da flog Fi- allerdings einer von außerhalb. Österreichs nanzminister Heinz Schleußer hin, und ehemaliger sozialdemokratischer Kanzler LYSP stand für Split, da war er auch. Franz Vranitzky flog laut Liste an die 15- LOWW steht in den Bordbüchern der Pi- mal mit dem PJC-Düsenflitzer auf Kosten

NRW-Ministerpräsident Clement: Was hat er J. ECKEL J. PJC-Fluggäste Rau, Schnoor (1991): Die WestLB zahlte und redete nicht drüber loten für Wien. Da waren Landesvater Jo- der WestLB. Der Ex-Regierungschef will hannes Rau, Nachfolger Wolfgang Clement aber nur zweimal im PJC-Jet gesessen und und WestLB-Chef Friedel Neuber. mit der deutschen Affäre nichts zu tun ha- Die Landeshauptstadt im Flugfieber. Ein ben: Es gebe keinen „wie immer gearteten Landtagsuntersuchungsausschuss, Staats- Zusammenhang“. anwälte vom Düsseldorfer Landgericht, die Neben bereits aktenkundigen Vielflie- Steuerfahnder, Regierungsjuristen in der gern wie Schleußer und Landeschef Wolf- Staatskanzlei und in den betroffenen Mi- gang Clement belegt nach Erkenntnissen PJC-Chef Wichmann nisterien am Rhein büffeln die Unterlagen der Steuerfahndung der ehemalige Düs- Maßlos überzogene Flugzeiten der Flug-Affäre um die WestLB, die Politi- seldorfer Innenminister Herbert Schnoor kerflüge in kleinen teuren Jets durch ganz einen vorderen Rangplatz. Ex-Minister ebenso der einstige SPD-Kanzlerkandidat Europa finanzierte. Schnoor nahm dazu keine Stellung. Auch und Kieler Regierungschef Björn Engholm. Und mittlerweile – beim Finanzamt der Fluggast Johannes Rau taucht auf der Die Betroffenen waren letzte Woche vor kommt nichts weg – haben die Steuer- Computerliste wiederholt auf. Weihnachten nicht mehr erreichbar. Frie- fahnder alte Akten aufgeräumt, die sie 1996 Das Amtspapier offenbart noch mehr: del Neuber, der Düsseldorfer Machthaber im Flugbüro der WestLB-Partnerfirma Die einstige ÖTV-Chefin Monika Wulf-Ma- an der Spitze der WestLB, zahlte und re- Privat-Jet-Charter (PJC) beschlagnahmt thies ließ sich auf WestLB-Kosten düsen, dete nicht drüber.

44 der spiegel 52/1999 „Wir sind die Schweinereien leid“, scheidendes geändert: In aller Regel wur- empörte sich der SPD-Fraktionsvorsitzen- den die Flüge auf die Minute genau korrekt de im Düsseldorfer Landtag, Manfred abgerechnet. Dammeyer, und meinte damit natürlich Dass das Jahre währende Millionenspiel nicht das Gedüse seiner Parteifreunde, son- des Unternehmers Wichmann ausgerech- dern die öffentlichen Berichte darüber. net bei den Rechenprofis von der Bank Doch damit geht es jetzt, fünf Monate vor nicht aufgefallen sein soll, glauben die Er- der Landtagswahl, erst richtig los. Die mittler nicht.Wegen Untreue ermitteln sie Staatsanwälte werden nun neue Ermitt- nun auch gegen die Bankverantwortlichen, lungsakten anlegen müssen: zunächst mal die Wichmanns Rechnungen so großzügig für die Reisen, die von den Kollegen der beglichen haben. Steuerfahndung in der Computerliste mit Untreue ist der juristische Name für Filz: einem Fragezeichen versehen wenn Politik und Geschäft nicht korrekt wurden. Privatreisen? auseinander gehalten werden. Und die Er- Eine erste Auswertung er- mittler werden darum gar nicht anders gab mindestens zehn Frage- können, als Strafverfahren auch gegen Mit- zeichen. glieder des fliegenden Kabinetts einzu- „Wenn ein Verantwortlicher leiten. der WestLB auf Kosten der Zumindest Schleußer ist dran. Der Split- Bank Politikern Privatreisen Urlauber sitzt im Verwaltungsrat der West- bezahlt haben sollte, wäre LB, vom Gesetz dazu berufen, die Ge- dies Untreue“, erläutert ein schäfte seines Freundes, des Bankchefs Ermittler und fügt hinzu: Friedel Neuber, zu kontrollieren. Der wich- „Derjenige, der diese Flüge ge- tigste Mann in Clements Kabinett aber nutzt hat, hätte nach unserer wusste offenbar, dass in der WestLB über- Auffassung Beihilfe dazu ge- höhte Rechnungen bezahlt wurden. Er leistet.“ selbst verteidigt sich ja damit, dass er für Doch die Recherchen der eine Privatreise so eine Rechnung bekom- Staatsanwälte nach EDXW men und aus Protest nicht bezahlt hatte. und LYSP beziehen sich nicht Vergangenen Donnerstag versuchte die nur auf Privatflüge. Der ge- Staatsanwaltschaft, dem Düsseldorfer samte Freundeskreis von Frie- Landtagspräsidenten einen sehr ernsten

M. DARCHINGER del Neuber flog auch dienst- Brief zuzustellen: die rechtlich vorge- gewusst? lich über bald zehn Jahre zu schriebene Mitteilung, man habe die Ab- kriminell überhöhten Preisen. sicht, gegen den Landtagsabgeordneten Millionensummen überwies die WestLB Schleußer ein Ermittlungsverfahren wegen ungeprüft für die Flüge der Politiker und des Anfangsverdachts der „Verletzung des Promis an die Firma PJC, für zwei- bis drei- Dienstgeheimnisses“ einzuleiten. Hinter- fach überhöhte Rechnungen. Der mittler- grund ist der Verdacht, Finanzminister weile verstorbene Firmenchef Peter Wich- Schleußer habe WestLB-Chef Neuber früh- mann, zugleich der Chefpilot, hatte hinter zeitig über eine bevorstehende Razzia in- die Flughafenkürzel maßlos überzogene formiert (SPIEGEL 50/1999). Flugzeiten eingesetzt, über zwei Stunden Schleußers Rücktritt, der schon vor zwei nach EDXW, obwohl doch diese fliegen- Wochen in der Staatskanzlei diskutiert wur- den Herren ganz gut wussten, wie schnell de, rückt immer näher. Damit kommt Cle- man eben mal nach Sylt kommt. ment in Zugzwang. Er wollte mit einem fri- Im Herbst 1996, nachdem die Steuer- schen Gesicht im Kabinett auftrumpfen, fahnder wegen Schwarzgeld-Vorwürfen wenn Herausforderer Jürgen Rüttgers seine Wichmanns PJC-Büro am Flughafen ge- Schattenmannschaft im kommenden Jahr filzt hatten, schien die vertrauensvolle Ge- präsentiert. Die Berliner Parlamentarische schäftsbeziehung zur WestLB erstmals ge- Finanzstaatssekretärin Barbara Hendricks stört. Über die Reisestelle der Bank wur- sollte Schleußers Ministerium übernehmen den bald keine neuen Flüge für Politiker – und der elegant an die Spitze der Lan- mehr abgerechnet, auch die Banker selbst deszentralbank wechseln. hielten sich monatelang mit neuen Bu- Ministerpräsident Clement („Ich habe chungen bei der verdächtigten Wichmann- mir persönlich nichts vorzuwerfen“) hat Firma zurück. es bislang geschafft, sich aus dem Flieger- Im Februar 1997 war dann alles wieder filz herauszuhalten. Dabei verbindet ihn gut. Neubers Reisestelle – Abteilung 01- mit Schleußer nicht nur so manche Flug- 90122 – bestellte einen Flug von Düsseldorf reise auf Rechnung der WestLB, sondern nach München und zurück. Kosten: auch während seiner Zeit als Wirtschafts- 25470,20 Mark. Zahlung „bitte sofort rein minister das Aufpasseramt im Verwal- netto“. Bis weit ins Jahr 1998 hinein – lan- tungsrat der Bank. ge nach dem Tod Wichmanns – bediente Die Fragen, die Staatsanwälte an sich die WestLB auch weiterhin der PJC- Schleußer stellen müssen, zielen auch auf Jets. Der Umsatz lag für mehr als 20 Einsät- den Genossen Clement: Hat er etwas ge- ze bei knapp einer halben Million Mark. wusst von dem Millionenbetrug? Allerdings hatte sich seit dem Herbst Der schlechte Geruch von Flugbenzin 1996 in der Geschäftsbeziehung etwas Ent- und Genossenfilz hängt tief in den Düs- 45 Deutschland seldorfer Ministerien, statt „Mahlzeit“ heißt es in den Kantinen jetzt schon „Guten Flug“. Und bis zur Wahl im Mai 2000 wird das noch viel schlimmer. Zwar verhält sich der Cle- ment-Konkurrent Jürgen Rütt- gers von der CDU auffallend leise. Die Genossen vermuten, dass der Taktiker und Kohl- Vertraute die Nähe zu jed- weder Affäre scheut. Damit bloß niemand auf die Frage kommt: Was hat eigentlich Rüttgers über die schwarzen Konten seines Mentors Kohl PJC-Logbook (Auszug): Reisetagebuch der fliegenden Sozis gewusst? Dafür aber hat Clement jetzt den Un- Doch gerade deshalb be- tersuchungsausschuss am Hals. Der wird kommt das Staatsoberhaupt schon im Januar die ersten Zeugen laden: nun ein Problem mit seiner vor allen den Finanzier Neuber und die Vergangenheit. Wo Amts- Witwe des Flugunternehmers, Sabine ausübung so zwanglos in Wichmann. Dann sind Clement und gemütliches Zusammensein Schleußer dran. übergeht wie unter Raus Auch Bundespräsident Rau, der zu sei- Regiment, wo freundliche nen Zeiten als Landesvater ein fast fami- Zuwendung dienstliches liäres Verhältnis zu Wichmann hatte, soll Kompetenzreglement er- dem Ausschuss Auskunft geben. „Nach al- setzt, ist es schwer, auf lem, was bisher bekannt ist“, sagt der Vor- Dauer glaubwürdig Staat zu sitzende Rolf Hahn (CDU), „ist das wohl machen. nicht vermeidbar.“ „Möglicherweise“ rei- Denn die Zeiten haben che allerdings eine schriftliche Stellung- sich geändert. Überall im nahme aus. Land haben Städte und Unvermeidbar scheint zumindest eine Landesverwaltungen, aufge- Aufklärung über Raus Verständnis von schreckt von Korruptions- Dienstflügen. Mal flog er zu einem „Tref- skandalen, rigide Regeln

fen der elbischen Kirche“ (Rau), mal zu über die Trennung von PRESS ACTION einer Preisverleihung des Vereins „Bibel Menschlichem und Dienst- PJC-Fluggast Wulf-Mathies (M.): Schlechter Geruch von Filz und Kultur“, dessen Vorsitzender er war. lichem erlassen. Jede Zu- Es sei alles „im Rahmen meines Amtes“ wendung ist verdächtig geworden – schon beiter der Stadtverwaltung annehmen. gewesen, erklärt Rau zu den Vorwürfen, weigerte sich eine Kindergärtnerin in Köln, Eine Anti-Korruptions-Stelle überwacht er habe sich zu solchen Flügen einladen selbstgebastelte Strohsterne ihrer Schütz- die Einhaltung der Vorschriften. lassen. Und tatsächlich lässt sich ja ab ei- linge anzunehmen, weil sie irgendetwas „Völlig unmöglich“, sagt Hemzal, sei es ner gewissen Dauer der Landesvaterschaft mit den Dienstvorschriften falsch verstan- da, dass jemand wie der Leiter des Bau- das Private vom Dienstlichen kaum noch den hatte. amts sich ein Geburtstagsfest bezahlen trennen. Da ist es unmöglich zu sagen, ob Nicht einmal zehn Mark für die Kaffee- lasse. Der müsse wahrscheinlich „mit Raus- die von der WestLB teilweise bezahlte Ge- kasse dürfen beispielsweise unter dem ei- schmiss rechnen“. burtstagsfeier Raus nun ein Staatsakt oder sernen Regiment des Frankfurter Perso- Bei Friedhelm Farthmann war der Fall ein Familienfest war. naldezernenten Horst Hemzal die Mitar- ganz klar. Der alte Weggefährte Raus hat Als Farthmann nämlich zu Lasten des Gewinns, der am Schluss den Charter-Jet auf dem Düs- den Eigentümern ausgeschüttet wird. seldorfer Flughafen (Kürzel Gleichwohl kommt kaum ein Anteilseigner EDDL) bestieg, habe da auf die Idee, die Selbstbedienung bei sei- schon Rau gesessen – nicht ner Firma mit einer solchen Floskel zu angeschnallt. Der Gratulant rechtfertigen. überreichte dem Reisenden Nein, wieder anders: Wegen der teuren ein zweiteiliges Jagdmesser- Flugrechnungen sei mit den anderen Ei- Set in grünem Lederetui. gentümern der Bank – das sind Sparkassen Farthmann hat das wenig und Kommunalverbände – „jeweils ein genutzt, denn er fing auf der Ausgleich“ hergestellt worden. ganzen Reise keinen einzigen Eine große, aber offenbar geheime Ab- Bären. Aber beeindruckt war teilung – in der Staatskanzlei, in der West- er doch über den allgegen- LB, in Wichmanns Flugbüro? – müsste da- wärtigen Landesvater, der mit beschäftigt gewesen sein, dutzende selbst beim Abflug noch die Flüge „jeweils“ auszugleichen, abzurech- Treue hält. nen, zu verrechnen, gegenzurechnen und Treue, nicht Untreue. zu versteuern. Für Haushaltsrechtler und Natürlich ist Rau nach der Finanzexperten eine eher lächerliche Idee. Gratulation wieder ausgestie- Eine solche Panscherei mit Geldbeträgen gen und umgehend seinen ist Betrug am Parlament, dessen vornehm- Dienstgeschäften nachgegan- stes Recht, das Etat-Recht, darin besteht, gen. Ausgaben und Einnahmen der Regieren- Er habe, rechtfertigte Rau den zu kontrollieren. „Verrechnungen“, sich im Fernsehen, die Flug- mit denen sich Johannes Rau, mittlerweile zeuge der WestLB benutzt, Erster Staatsmann, rechtfertigen will, sind weil „man sicher war, dass da unzulässig. zwischen Landesregierung „Das Brutto-Prinzip des Haushalts- und Landesbank eine Ver- rechts“, erklärt der Berliner Hans Meyer, rechnung stattfindet, die Professor für Staats- und Finanzrecht, Recht und Gesetz ent- „verlangt, dass Einnahmen und Ausgaben spricht“. getrennt abgerechnet und dem Parlament So sicher kann „man“ vorgelegt werden.“ Nur so sei Regie-

PEOPLE PICTURE nicht gewesen sein, sonst hät- rungshandeln rechnerisch nachvollziehbar. PJC-Fluggast Vranitzky, Ehefrau: Oben auf der Tripliste te die Düsseldorfer Staats- Wenn also die regelmäßige Verrech- kanzlei nicht anfangs so nungspraxis mit der WestLB nicht nur eine sich von Friedel Neuber zur Bärenjagd ein- forsch erklärt, das Sponsoring durch die Ausrede, sondern Düsseldorfer Reise- laden lassen. Und darüber wird er auch Bank habe dem Steuerzahler schließlich kostenprinzip war – umso schlimmer. vor dem Untersuchungsausschuss aussa- Geld gespart: „Bei uns zahlt die WestLB.“ Einen „nicht offenbarten Nebenhaushalt“ gen müssen. Er ist bislang der Einzige, der Als Clement begriff, wie filzig das klingt, nennt Jurist Meyer vornehm solche Schat- offen über seine Privatreise auf Kosten der besserte er nach: „Die Flüge gehen selbst- tenwirtschaft. WestLB spricht – und über die Familien- verständlich zu Lasten des Gewinns“, den In der Staatskanzlei wird schon an neu- verhältnisse unter Rau. die Landesregierung als Miteigentümerin en Erklärungen herumgefeilt. Clements Ju- Als er 1990 zu seinem 60. Geburtstag an der WestLB kassiere. risten werden noch froh sein, sich um die- mit Neuber auf Bärenjagd ging, erinnert Vielflieger Schleußer, der natürlich viel se ärgerlichen Flugrechnungen niemals sich Farthmann, sei er froh gewesen, den besser rechnen kann, hätte Clement er- gekümmert zu haben. üblichen Gratulationsfeierlichkeiten da- klären können, dass er da etwas eher Wer eigentlich zahlt denn auch zehn- vonfliegen zu können. Doch der damalige Selbstverständliches verkündet: Natürlich tausende Mark für einen kurzen Flug nach Fraktionschef hatte nicht mit dem Über- geht jede Ausgabe eines Unternehmens, Sylt? Georg Bönisch, Thomas Darnstädt, vater Johannes gerechnet. ob für Flugreisen oder für Büroklammern, Barbara Schmid, Andrea Stuppe P. LANGROCK / ZENIT Flugsicherung am Flughafen Berlin-Schönefeld: „Hurra, wir leben noch“

JAHRTAUSENDWENDE „Größter anzunehmender Unfug“ Computer werden zum Datumswechsel unberechenbar. Die Experten, die für eine sichere Jahrtausendwende planen, rechnen mit Stromausfällen ebenso wie mit dem Zusammenbruch der Telefonnetze. Zu Silvester schlägt die Stunde der Krisenstäbe.

„Ja mach nur einen Plan / Sei nur ein großes ausschließen, dass manchem Elektronen- blutigen Gemengelagen. „Wir wollen nichts Licht / Und mach dann noch hirn ein gehöriger Schreck in die Platinen hochspielen, aber intern rechnen wir mit ’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht.“ fährt, wenn ein veraltetes Bauteil tief in dem GAU“, sagt ein Frankfurter Krisen- Bertolt Brecht, „Dreigroschenoper“ seinem Inneren von der Jahresziffer 99 auf stäbler, der das Kürzel flapsig als „größten eine rätselhafte Doppelnull umspringt. anzunehmenden Unfug“ übersetzt. urz vor Mitternacht wird den Rei- Back to the future – vorwärts zurück ins Der Stab aller Stäbe, die den GAU unter senden im -Airbus 319 Jahr 1900? Erst fällt der Strom aus, dann Kontrolle halten wollen, nimmt seinen Sitz K„Schweinfurt“ dann doch ein biss- das Gas und dann die Wasserzufuhr, weil natürlich in der Hauptstadt. Am Spree- chen mulmig zu Mute. Die Gespräche er- ohne elektrische Schaltkreise gar nichts bogen im Berliner Stadtteil Moabit resi- sterben, manch einer der 100 Passagiere mehr funktioniert. Die Küche bleibt kalt. diert seit dem Regierungsumzug das Bun- zurrt rasch den Gurt noch einmal fester. Der Gefrierschrank tropft. Aus dem Gully desinnenministerium. Ein Raum im 10. Dann springen die Uhren auf den 1. Ja- riecht es muffig. Irgendwo da draußen ex- Stock, der ungefähr so groß ist wie ein Klas- nuar 2000 um, doch das Chaos bleibt aus. plodiert ein Atomkraftwerk. senzimmer, wird ab dem 31. Dezember, Kein Flimmern der Instrumente, kein Da- So schlimm muss es ja nicht kommen. acht Uhr, zum Lagezentrum der Nation. tensalat in der Bordnavigation – die Ma- Doch in der Nacht der Nächte werden An den Wänden der Krisen-Herzkam- schine schnürt unbeirrt in einer Höhe von nicht nur die Computer unberechenbar. mer zeigen sechs Uhren die Ortszeiten glo- 11000 Fuß zwischen Frankfurt und Stutt- Eine nicht zu unterschätzende Schwach- baler Metropolen an – von Wellington in gart. „Hurra, wir leben noch“, kommen- stelle bleibt der Mensch, vor allem in sei- Neuseeland, wo das neue Jahr elf Stunden tiert ein Fluggast trocken. ner alkoholisierten, euphorisierten, spreng- früher beginnt, bis Moskau, das zwei Stun- Als bei dem Lufthansa-Testflug drinnen stoffbewehrten Erscheinungsform. den vorausliegt. Auf einer Leinwand in der Kabine bereits das neue Jahrtausend So schlägt am 31. Dezember mitten im flimmern die Nachrichten des Senders anbrach, war es draußen noch Ende Okto- Festlärm die Stunde der Krisenstäbe. Nicht CNN, damit das Auswärtige Amt und ber. Passagiere und Firmenmanager freuten nur in den Nervenzentren der vernetzten der Bundesnachrichtendienst nicht alles sich, dass die Reise mit den vorgestellten Welt bereiten sich die Experten auf den allein machen müssen. Weil auch Bundes- Uhren nach einer sanften Landung in die Fall der Fälle vor. Auch handfester Kata- kanzler Gerhard Schröder auf dem Lau- Gegenwart zurückführte. Auch der Sekt strophenschutz steht auf dem Programm – fenden bleiben soll, wird er von einer war gut gekühlt. vor allem in den Großstädten. In Stuttgart Spezialeinheit der Bundeswehr mittels ei- Doch jetzt wird es ernst. Überall in der übt ein „Stab für außergewöhnliche Ereig- ner Richtfunkstrecke kommunikationsfähig Republik formieren sich, man kann ja nie nisse“ unter Leitung des Oberbürgermeis- gehalten. wissen, Einsatzteams und Notfallketten. ters. In Frankfurt am Main ist die „Ar- Chefin der 200 Bediensteten, die über Versuchsreihen sind gut, vor Ort sein ist beitsgruppe 1999/2000“ vor allem Sache Notstromaggregate und spezielle Telefon- besser, lautet das erste Gebot der Sicher- der Feuerwehr. In München beruhigt der verbindungen abgesichert sind, ist Innen- heit zum großen Datumswechsel. zuständige Kreisverwaltungsreferent die staatssekretärin Brigitte Zypries. Für den Dass mit dem ominösen Y2K (dem „Year Bürger, „so sicher wie immer“ seien Wär- Fall, dass die Sozialdemokratin doch ein two kilo“, also Jahr 2000) die Welt aus al- me, Energie und Wasser. Auge zumachen will, hat sie sich eine Ma- len Fugen geraten könnte, fürchten ernst- Trotzdem kalkulieren sogar Bergwach- tratze bereitgestellt. „Eigentlich ist es ein haft wohl nur ein paar Promille der sechs ten und Rettungsschwimmer mit Megasuff, ganz normales Wochenende“, beteuert sie, Milliarden Erdlinge. Niemand aber kann Massenpanik, exzessivem Geböller und „wir glauben nicht, dass etwas passiert.“

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Wenn aber doch, stehen Prozent mehr Geburten als üblich stehen ganze Bataillone in Alarmbe- bevor. Etliche Schwangere haben bereits reitschaft – landesweit allein darum gebeten, der Doktor möge doch um 11200 Bundesgrenzschützer. Punkt Mitternacht einen Kaiserschnitt aus- Schwerpunkt der Planun- führen, erzählt Hans-Jürgen Kitschke, gen ist Berlin selbst. In der Chefarzt der Offenbacher Frauenklinik. 3,4-Millionen-Metropole soll Aber nicht mit ihm, sagt er: „Aus Jux ma- nicht nur, rund um Sieges- chen wir keine Operationen.“ säule, Brandenburger Tor und Besonders ernst müssen die Energiever- Alexanderplatz, die größte sorger den Datumssprung nehmen, denn Straßenparty der Republik wenn es bei ihnen hakt, beginnt der Domi- abgehen. Auch allerhand Är- noeffekt, der das ganze Land lahm legen ger wird erwartet, sei es von könnte. Nach unzähligen Planspielen Besoffskis aus dem Kiez, sei fühlen sich die Stromer sicher, sagt etwa es von Autonomen aus dem ein Sprecher der Hamburgischen Electri- ganzen Bundesgebiet, die laut citäts-Werke: „Wir haben den Jahreswech-

J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS WISCHMANN / AGENTUR J. Szene-Aufrufen „die neue sel getestet und täglich Silvester gespielt.“ ICE-Triebwagen der Deutschen Bahn Mitte“ der Hauptstadt aufmi- In Thüringen wollen sich die Hobbyfunker schen wollen. vom Deutschen Amateurradioclub in den Mehr als zehntausend Poli- 60 Umspannwerken des Landes zur Nacht- zisten, Feuerwehrleute und schicht einfinden – für den Fall, dass die Grenzschützer müssen nüch- Telefonleitungen kollabieren. tern bleiben, einige Beamte Die strengsten Blicke richten sich auf sollen gar als „lebende Not- die Atomkraftwerke.Wer dem Bundesum- rufsäule“ Streife laufen. Spe- weltministerium und dem Deutschen zielle S-Bahn-Züge stehen in Atomforum vertraut, braucht vor einer nu- Tunneln unter dem Stadtzen- klearen Seuche zum Jahreswechsel keine trum bereit, um Verletzte auf Angst zu haben – alle 19 Meiler seien si- die Krankenhäuser zu ver- cher, beteuern die zuständigen Stellen. teilen. Eine Feier wie jede andere wird es den- Die sind ebenfalls präpa- noch nicht werden, wenn 22 Schlosser, riert. Die Unfallklinik in Ber- Elektriker und andere Techniker zur Sil- lin-Marzahn hat beispielswei- vesternacht ins baden-württembergische

B. BOSTELMANN / ARGUM se 300 Taschenlampen ange- Kernkraftwerk Obrigheim einrücken. Die Finanzhandel (bei der Deutschen Bank in Frankfurt) schafft, um in jeder Situation Familien dürfen mitkommen, allerdings den Überblick zu behalten. herrscht Alkoholverbot. Die Sonderzulage Sollte die Wasserversorgung liegt nach Angaben eines Obrigheim-Spre- zusammenbrechen, würde chers bei „deutlich unter 100 Prozent“ – das Klinikpersonal über Men- immerhin mehr als bei der Polizei, die nur schenketten das Wasser aus 2,50 Mark pro Stunde für den „Dienst zu dem Reha-Schwimmbecken ungünstigen Zeiten“ draufschlägt. „Viele schöpfen. Kollegen sind sauer“, schimpft Polizei-Ge- Auch ein Ausfall der Hoch- werkschafter Ralf Knospe. technologie schreckt die Ärz- Mit ein paar Hundertern und mehr sind te an den rund 2200 deutschen viele EDV-Spezialisten der großen Banken Kliniken nicht. Olaf Schaefer dabei. Die Dresdner Bank beispielsweise vom Krisenstab der Medizini- hält an Silvester 2700 ihrer weltweit 50 000 schen Hochschule Hannover Mitarbeiter auf Trab, am Neujahrstag kom- zeigt sich zuversichtlich: „Es men noch ein paar tausend dazu, die ihren ist das tägliche Brot der In- Computern den Elektropuls fühlen müs-

ARGUS tensivmedizin, dass man im sen. Schließlich sollen am 3. Januar die Ge- Kernreaktor-Steuerung (im Atomkraftwerk Krümmel) Notfall ohne technische Gerä- schäfte laufen, als wäre nichts geschehen. te Hilfe leisten muss.“ Mit einigem Aufwand versucht auch die Der Landesbetrieb Kran- Deutsche Bahn, in der Silvesternacht nicht kenhäuser in Hamburg hat an ihre Pannenserie anzuknüpfen. Die bereits vor drei Jahren be- Leitzentrale steht mit den japanischen Kol- gonnen, die 50000 Apparate legen in engem Kontakt – es könnte ja sein, der acht staatlichen Kliniken dass die Deutschen aus Problemen, die bei zu überprüfen. Einige alte den Fern-Ossis auftreten, etwas lernen. Die Notstromaggregate wurden 420 Personenzüge, die gegen Mitternacht ausgetauscht, die Fahrstühle durchs Land rollen, sollen kurz anhalten, sollen zwischen 23.50 Uhr wenn die Stunde schlägt. Für die Reisenden und 0.10 Uhr außer Betrieb steht Sekt bereit. gehen. Sollte der Jahrtausendwechsel allzu glatt Während planbare Opera- verlaufen, bleibt für Pessimisten eine ge- tionen zum Jahreswechsel un- wisse Hoffnung. Das Jahr 2000 ist ein

F. BERND / BERLINER VERLAG F. terbleiben, rechnen die Gynä- Schaltjahr, Computerexperten malen be- Lagezentrum im Bundesinnenministerium kologen mit einer Fülle von reits muntere Ausfälle am 29. Februar an Millenniumsprobleme der vernetzten Welt Millenniumbabys. 20 bis 30 die Wand. ™

der spiegel 52/1999 49 Deutschland

mand hätte gesagt: Der Mann hat doch kein Motiv! Ein Vater tut so etwas nicht! STRAFJUSTIZ Kein Generalstaatsanwalt und kein Ober- landesgericht hätte sich für eine Aufhe- bung des Lebenslang eingesetzt. Ein Rein- Ohne Pathos: schuldig hard Weimar hätte seine Strafe abgesessen wie jeder Lebenslange. Von Ungerechtigkeit im „Fall Weimar“ lässt sich Doch Reinhard Weimar ist eben nicht, wie seine Ex-Frau Monika Böttcher, „eine nicht länger reden: Das Frankfurter Schwurgericht beschrieb zierliche blonde Frau mit aquamarinblau- eine lückenlose Beweiskette. Von Gisela Friedrichsen en Augen“. So hieß es in einem Plädoyer der Verteidigung in Frankfurt. Er ist ein unattraktiver, schwerfälliger Mann, krank seit der Zeit, als er zur Kenntnis nehmen musste, dass seiner Frau die Tat nachge- wiesen wurde. Es ist, anders als die Bött- cher-Verteidiger glauben zu machen ver- suchen, nicht eine geleugnete Schuld, die auf ihm lastet und ihn krank macht. Reinhard Weimar war auch nicht, wie die Böttcher-Verteidiger ebenfalls immer wieder glauben zu machen versuchen, zur Tatzeit bereits so krank, dass er in einem Anfall rasender, wahnhafter Aggression getötet haben könnte. Seit dem ersten Prozess in Fulda gegen die Mutter be- tont der psychiatrische Sachverständige Willi Schumacher, Gießen, immer wie- der und für einen Teil der Öffentlichkeit vergebens, dass die gesamte Tatsituation nur für einen psychisch gesunden, zielge- richtet und feinmotorisch handelnden

DPA Täter spricht. Angeklagte Böttcher: „Zierliche blonde Frau mit aquamarinblauen Augen“ Es musste dreimal gegen Monika Bött- cher vor einem Schwurgericht (Fulda, reht man die Sache einmal herum: wenn er, ein Mann, nach gründlicher Gießen und Frankfurt) verhandelt werden, Reinhard Weimar kommt nachts Hauptverhandlung und aufgrund eines lo- bis zumindest einem Teil der Medien däm- Dnach einem Schäferstündchen nach gisch begründeten Schuldnachweises zu merte, dass man einem Traum von der Hause, findet seine Frau verstört vor den Lebenslang verurteilt worden wäre? Kein Ungerechtigkeit hinterhergelaufen ist. Dass Betten seiner zwei toten Töchter. Schuld- Mensch hätte an seiner Täterschaft ge- man hereingefallen ist auf Propaganda, gefühle übermannen ihn. Er kann nichts zweifelt. Schwindelei und Verblendung. Dass Le- anderes tun als aus dem Zimmer gehen. Er Niemand hätte sich bemüßigt gefühlt, genden und Märchen als Wahrheit verkauft hört, wie seine Frau die kleinen Leichen eine Wiederaufnahme zu betreiben. Nie- wurden. ins Auto trägt und wegfährt. Er legt sich Der andere Teil der Öffentlichkeit hält ins Ehebett und schläft neben der später an der Ikone der unschuldig Verfolgten, Zurückkommenden bis zum nächsten Vor- der reinen Mutter, die für ihren Mann mittag. büßt, unbeirrt fest. Heribert Prantl, Voll- Er steht auf, fährt zu Post und Sparkas- jurist und Kommentator der „Süddeut- se, dann zu dem Ort, an dem nach Anga- schen Zeitung“, wusste schon am ersten ben seiner Frau die Kinder liegen. Er sieht Verhandlungstag, dass auch der Frank- eines der Mädchen hinter Brennnesseln, furter Prozess wieder mit Freispruch en- besteigt das Auto und fährt heim. den werde. Dort erzählt er seiner Frau, der Mörde- Dem Fan-Club der Angeklagten hat Ver- rin, als Erstes, dass ihm ein Stein gegen die teidiger Gerhard Strate gleich nach der Windschutzscheibe geflogen sei, diese nun Frankfurter Hauptverhandlung das Stich- einen Sprung habe und repariert werden wort geliefert: Eine solch „emotionale“ Be- müsse. Dann sucht er zusammen mit seiner gründung werde keinen Bestand haben. Frau die „verschwundenen“ Kinder und Sie war das genaue Gegenteil, sachlich, präsentiert eine Entführungsstory. Er legt trocken, präzise. Der Vorsitzende Richter falsche Spuren, die von der Frau ablenken, Heinrich Gehrke, 60, ist kein Mann von verwirrt die Ermittler und seine Verwand- verschnörkeltem Pathos. Er hat Tatsitua- ten mit Lügengeschichten. Und so weiter tion und Motiv klar und bestimmt darge- und so fort. Erst vier Wochen später, als stellt wie noch kein Richter vor ihm: die sich der Tatverdacht allein auf ihn kon- öde Gegend, die langweilige Ehe, der zentriert, rückt er mit der „Wahrheit“ her- schwerfällige Mann – und dann der vitale aus: Sie war’s, sie ist die Mörderin. Soldat aus Übersee, eine Lichtgestalt wie

Hätte einem Reinhard Weimar irgendje- K. H. EBERTH von einem anderen Stern, den sie nicht mand eine solche Geschichte abgenom- Kinder Melanie und Karola verlieren durfte. Mit den Kindern mochte men? Hätte irgendjemand aufgeschrien, „Auf persönliches Glück verzichten“ die Angeklagte ihm aber nicht folgen. Und

50 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland der Ehemann sollte die Kinder auch nicht Dabei ist alles Erfindliche getan worden, bekommen. um einen im Fall der Verurteilung erhofften Warum ausgerechnet am Vormittag des Aufschrei vorzubereiten. So wie das erste, 4. August 1986 der Entschluss zur Tötung rechtskräftig gewordene Urteil des Landge- der Kinder fiel, darüber kann lange spe- richts Fulda (1988) gegen Monika Böttcher kuliert werden. Kam ihr plötzlich der Ge- – Lebenslang wegen Ermordung ihrer fünf danke, wie viel einfacher es wäre ohne und sieben Jahre alten Töchter Karola und Kinder? Wurde ihr schlagartig bewusst, wie Melanie – von medienerfahrenen Anwälten sehr sie auf die Betreuung der Kinder und willfährigen Journalisten über die Jah- durch ihre Mutter angewiesen war, die da- re hinweg systematisch in Misskredit ge- mals im Krankenhaus lag? Stand sie vor bracht worden war, so wurden gegen den der Entscheidung, entweder den Gelieb- absehbaren Frankfurter Urteilsspruch be- ten zu verlieren oder die Kinder ihrem reits vor Prozessende die Angriffe formiert. Mann zu überlassen? Der Vorsitzende, ein „ehrgeiziger“ Rich- „Das war keine unzumutbare Entschei- ter, der die Verteidigung kränkte, ja miss- dung“, so Gehrke. „Selbst wenn sie Rein- achtete; der zu oft das Maß des „gesunden hard Weimar verachtete, so war es noch im- Menschenverstands“ anlegte und in atem- mer besser, ihm die Kinder zu überlassen als raubendem Affen-, ja Höllentempo ver- sie zu töten. Eltern müssen, das klingt jetzt handelte; der es wagte, über Anträge der

pathetisch, weil es so selbstverständlich ist, Verteidigung „mit dem Charme eines rus- / ARGUM STOCKMEIER F. auf ihr persönliches Glück verzichten, wenn sischen Reifenpanzers“ hinwegzugehen. Staatsanwälte Sauerwald, Bechtel es um das Wohl der Kinder geht.“ So beantragte die Verteidigung zum Bei- Besondere Schwere der Schuld beantragt Das Frankfurter Gericht hat einen lü- spiel, das T-Shirt, das Melanie zum Zeit- ckenlosen Tatnachweis geführt auf der punkt ihrer Tötung trug, erneut auf Blut un- bereit, Blut oder Speichel zur Verfügung zu Grundlage der Einlassung der Angeklag- tersuchen zu lassen. Alte Fotos vom Auf- stellen – bei Reinhard Weimar möge nach- ten, der Zeugen, die die Kinder am Morgen finden der Leiche zeigen handtellergroße gefragt werden, ob auch er bereit ist.“ des 4. August 1986 gesehen haben, als sie Wischspuren auf dem Hemd. Spuren vom Was nicht vorgetragen wurde: Das T- entsprechend der so genannten Nachtver- Täter? In Fulda wusste man nur, dass es Shirt war im Zuge des Wiederaufnahme- sion schon tot gewesen sein sollen, und sich um Menschenblut handelte, mehr ga- antrags der Verteidigung, als es um das aufgrund von einer ganzen Reihe eindeu- ben die damaligen Untersuchungsmetho- Thema Fasern ging, im Bundeskriminal- tiger Indizien. Es hat sich nicht beirren den nicht her. amt zweimal gewaschen worden, einmal und nicht vom Medientheater beeinflus- Strate mit großer Geste: „Ein sehr ge- mit Lenor, einmal ohne. Naturgemäß gibt sen lassen. wichtiger Antrag! Unsere Mandantin ist es seitdem keine Wischspuren mehr. Die Verteidigung weiß dies seit 1994 (Behör- frau. Er wurde sogar von der Kripo so hart dengutachten Seite 20). Ein Antrag also, bedrängt, dass eine Vernehmung abgebro- ohne jedes Risiko für die Angeklagte, allein chen werden musste. Nach wie vor steht für die Galerie bestimmt, wo er auf frucht- nichts gegen ihn – außer der Behauptung baren Boden fiel. Wie aber hat er auf die seiner Ex-Frau, er sei der Mörder. Berufsrichter gewirkt? Die lange Verfahrensdauer hat die Justiz Oder die Befangenheitsanträge gegen den nur insofern zu verantworten, als das Ober- Vorsitzenden: der eine, verspätet gestellt; landesgericht Frankfurt (nach einer positi- der andere sogar für den Nicht-Juristen er- ven Stellungnahme der Staatsanwaltschaft) kennbar unbegründet. Wollen erfahrene leichtfertig eine Wiederaufnahme anordne- Verteidiger wie Strate und Uwe Maeffert te, die entgegen der Propaganda der Ver- sie ernst gemeint haben? Den Eindruck in teidigung erkennbar unbegründet war. Die der Öffentlichkeit, das Ge- Gründe für die Wiederauf- richt sei voreingenommen nahme waren so dubios, dass gegen die Angeklagte, ver- der noch von jedem Gericht stärkten sie allemal. bisher bezweifelten Nacht- Am 24. Verhandlungstag version dagegen fast eine lu- der Antrag, das für die Ver- zide Selbstverständlichkeit teidigung erstellte Glaub- innewohnt. würdigkeitsgutachten des Das Landgericht Gießen, Berliner Psychologen Max das keinen Anlass für einen Steller über vier von fünf neuen Prozess gesehen hat- Personen in den Prozess ein- te, musste also erneut ver- zuführen, die die Weimar- handeln und kam, es ist Kinder am Morgen noch le- bis heute unwidersprochen, bend gesehen haben wollen: durch die Schöffinnen 1997 Die Beurteilung von er- zu einem Freispruch. Weil wachsenen Zeugen ist ur- der fehlerhaft begründet

eigene Sache des Gerichts. DPA war (oder sein musste), hob Steller hat im Gegensatz zu Vorsitzender Richter Gehrke der Bundesgerichtshof ihn den Richtern in Fulda und auf: ein Versuch, wieder ein Frankfurt die vier Zeugen nie gesehen. Der wenig Rechtssicherheit in dem Lotterie- angeblich vom Bundesgerichtshof so hoch spiel zu vermitteln. geschätzte Experte hat sich für eine Fern- Nun hat Frankfurt geurteilt – nicht über diagnose hergegeben. Und der sollte die eine monströse Verfahrensruine, sondern Frankfurter Kammer folgen? nach den Regeln der Strafprozessordnung. Das Weimar/Böttcher-Verfahren ist seit Das angeblich zusammengeschossene Ful- je mit Etiketten überklebt worden, die es in daer Gebäude steht. Nur der virtuelle Müll der Öffentlichkeit wie ein Zerrbild ausse- rundum wurde weggeräumt. hen lassen. Zwei Tage vor der Urteilsver- Die Staatsanwälte Christina Sauerwald kündung sprach die „Frankfurter Rund- und Thomas Bechtel hatten nicht nur Le- schau“ in ihrem Leitartikel von „der mit benslang, sondern wie schon die Gießener Abstand monströsesten Verfahrensruine in Staatsanwaltschaft auch die Feststellung der Geschichte der bundesdeutschen Straf- der besonderen Schwere der Schuld wegen justiz“. der besonderen Heimtücke gerade ge- Einmalig, ungeheuerlich soll der „Fall genüber den eigenen Kindern beantragt. Weimar“ sein? 1958 wurde in Frankfurt Jo- Das Gericht beließ es „trotz Bedenken“ sef Quintus wegen Mordes an seiner Frau beim einfachen Lebenslang – der einzige zu Lebenslang verurteilt. Er saß acht Jah- Spielraum für Milde, der angesichts des re ab, kam dann durch einen erfolgreichen hartnäckigen Bestreitens der Angeklagten Wiederaufnahmeantrag auf freien Fuß. Bis den Richtern blieb. zur neuen Hauptverhandlung vergingen Die Verteidigung hat hochfahrend und dreieinhalb Jahre, in denen er wieder hei- oft genug nur für die Galerie verhandelt. ratete und einen Sohn bekam. Dann der Strafverteidiger wie Strate und Maeffert Schock: wieder Lebenslang, diesmal noch wissen, dass dies nur höchst selten dem An- besser begründet als zuvor. Nach weiteren geklagten nützt. Wiederholt stellte sich die acht Jahren Haft wurde Quintus begna- Frage, ob der „Wiederaufnahmespezialist“ digt, dann verliert sich seine Spur. Er soll Strate noch ausreichend professionelle Dis- sich umgebracht haben. Das ist nur ein Bei- tanz zu seiner Mandantin hat oder ob der spiel von vielen. „Fall Weimar“ nicht längst zu einem Teil Den notorischen Zweiflern ist entge- seiner eigenen Biografie geworden ist. genzuhalten, dass der „Fall Weimar“ be- Noch am Tag der Urteilsverkündung reits in Fulda lückenlos geklärt war (sonst kündigte er vor den Kameras der Fern- hätte der BGH das Urteil nicht rechtskräf- sehanstalten an, er werde das Urteil mit tig werden lassen). Auch zum Motiv oder einer neuerlichen Revision anfechten. Ob einem Motivbündel hatte sich schon das der Bundesgerichtshof, der das Fuldaer Fuldaer Gericht ausführlich geäußert. Ge- Lebenslang 1989 bestätigt hat, geneigt sein gen Reinhard Weimar wurde seinerzeit er- wird, seine eigene Entscheidung aufzu- mittelt, nicht anders als gegen seine Ehe- heben? ™

der spiegel 52/1999 53 Ausland AP REUTERS Premier Putin mit Parteiführern*, Wähler Jelzin mit Ehefrau Naina: „Antwort auf alle Erwartungen unseres Volkes“

den Kreml-Küchen konstruiert, ein vom RUSSLAND zwielichtigen Finanzmogul und Kreml- Berater Boris Beresowski gestifteter Zu- sammenschluss bankrotter Provinzfürsten: Einer kam, sah und siegte Gouverneure, die ständig auf Moskauer Subventionen angewiesen sind, stellten be- Zum ersten Mal trieb allein das Fernsehen eine neue Partei zum reitwillig die Honoratiorenriege der Hof- Partei. Sieg. Der Gewinner war KGB-Resident in Dresden, spricht Einen davon, den Gouverneur des Ge- gut deutsch und möchte Präsident Jelzin beerben: Premier Putin. biets um Wladiwostok, hatte die Moskauer Zentralmacht einst sogar durch einen Ge- er Gewinner stand in keiner Kan- mehr zu sein als zu scheinen. Geduldig heimdienstgeneral als Zwangsverwalter ab- didatenliste, auf keinem Stimm- schweigend ertrug der Hänfling als Pre- zulösen versucht. Heute sind der System- Dzettel. Wahlversammlungen hatte mier die Ausfälle seines voluminösen Gön- Stütze Jewgenij Nasdratjenko, 50, alle er gemieden, Demonstrationen und auch ners neben ihm, des Präsidenten Boris Durchstechereien und nachgesagten Kon- das in Russland so beliebte Gespräch Jelzin, den er im Amt beerben will. takte zur fernöstlichen Mafia verziehen. mit dem Wähler. Sein Konterfei klebte Die Duma-Wahl stellte die Weichen für 70 Stimmenprozente zur gleichzeitigen an keiner Litfaßsäule, es zierte kein Flug- die nächste Präsidentenwahl im Juni: Nicht eigenen Wiederwahl erheben den Mann blatt. die Vaterlandspartei seines Gegenspielers nun zum lupenreinen Neudemokraten. In dem Ministerpräsidenten Wladimir (und Amtsvorgängers) Jewgenij Primakow, Andere Pleitiers unter Moskaus Pro- Putin, 47, sahen Zeitungen je nach politi- 70, machte das Rennen, sondern die Lis- vinzverwaltern, die sich der Einheitspartei schem Standort die „Schlüsselfigur“ anschlossen, sind kaum besser be- oder den „Drahtzieher“ der Duma- Wahl in Russland Sitzverteilung in der Duma leumdet: Jelzins Vizepräsident a. D., Wahlen vom 19. Dezember. Der Mos- General a. D.Alexander Ruzkoi, der kauer Soziologe Alexander Oslon Vaterland- Union 1993 gegen seinen Chef putschte, ver- rühmte „das Phänomen Putin“ als *In sechs Wahlkreisen Allruss- rechter lor als Gouverneur von Kursk schon wurde kein Kandidat „Antwort auf alle Erwartungen und gewählt, Nachwahl land Kräfte mehrere Stellvertreter wegen Wirt- Hoffnungen unseres Volkes“. Und ein erforderlich; keine schaftsschiebereien ins Gefängnis. eien Jabloko neureicher Wahlparty-Organisator Wahl in Tsche- Part 62 Oder Nikolai Kondratenko, glühen- tschenien eue 29 22 brachte gar einen Toast aus auf „un- n der Antisemit auf dem Gouver- 17 seren Triumphator“, welcher „kam, Einheit Block neurssessel des russischen Krasnodar: Schirinowski sah und siegte“. 76 Sie alle führten die obrigkeitshöri- Der blasse Mann kam vor fünf Mo- ge Landbevölkerung, die sich im- naten aus der Kälte der KGB-Nach- mer noch gern vom Vorgesetzten die folgebehörde FSB an die Regie- Unabhängige Hand beim Kreuzemalen führen rungsspitze. Da kannten ihn selbst Kommunistische und Fraktionslose lässt, ins Lager der neuen Regie- ausgebuffte Polit-Auguren in Moskau Partei Russlands 124 rungspartei. kaum beim Namen. Der Jurist aus 113 Fern der großen Städte, in denen St. Petersburg, der seine Diplom- * Primakows „Vaterland“ entschieden arbeit über die Meistbegünstigungs- besser abschnitt, erwies sich das klausel im Völkerrecht schrieb und fließend te „Einheit“, die Putin stützt, den stillen Fernsehen als kollektiver Organisator: Zum Deutsch spricht, war einmal KGB-Resident Durchgreifer und Regisseur eines popu- ersten Mal in der Mediengeschichte mobi- in Dresden und übte dort die Regel ein, lären Kriegs im Kaukasus. lisierten staatliche und halbstaatliche Sen- Diese Partei ist eine Kunstfigur ohne der, die allein jeden Winkel des Landes er- * Von rechts: Kirijenko, Schirinowski, Schoigu, Prima- Mitgliederstamm, ohne Programm und reichen, binnen Wochen genügend Kunden kow, Sjuganow. ohne Profil. Sie wurde eilig im Oktober in für ein marktfrisches Polit-Produkt.

54 der spiegel 52/1999 Die beiden Kanäle RTR und ORT, Letz- Prompt brachte auch die Rechts-Union, feierten das Wahlergebnis. „Der zweite Teil terer unter Stabführung des umtriebigen Hoffnungsträger aller russischen Reform- der russischen Revolution hat sich vollen- Unternehmers Beresowski, blendeten bis gewinnler, jeden elften Wähler hinter sich. det“, jubelte Beresowski im Kaukasus, wo auf Negativnachrichten alle in Opposition Jungstar Kirijenko, der im vorigen August er ein Duma-Mandat – und damit Immu- zum Kreml stehenden Wahlbewerber be- die von Tschubais mit angerichtete Staats- nität – errang. Er fügte hinzu: „Sie ver- harrlich aus. Stattdessen rapportierten die pleite hatte ausrufen müssen, zeigte sich spricht kolossale Möglichkeiten.“ Staatssender ausführlich jeden Schritt des hochbeglückt über die unverhoffte Reha- Das Morden in Tschetschenien ist durch als Parteichef präsentierten Sergej Schoigu, bilitierung: „Ein gewaltiger Sieg unserer Volkes Stimme approbiert und muss an- 44: ein schöner junger Mann aus der im liberalen Ideologie.“ dauern, soll nationaler Überschwang Putin Zweiten Weltkrieg annektierten Kolonie Schlaukopf Putin schmiedete schon im ins Präsidentenamt tragen. Großmächtig Tannu Tuwa in Zentralasien. Wahlkampf seine Regierungskoalition. zeigte er sich beim Test-Abschuss einer Als Minister für „außerordentliche Si- Von Januar an, nach Konstituierung der Interkontinental-Atomrakete vom Typ To- tuationen“, nämlich Katastrophen, turnt er neuen Duma, kann er sich auf gleich drei pol-M, die Amerika erreichen kann. sowieso beständig durchs Fernsehen. Im te- handzahme Fraktionen stützen: neben Die Korruptionsvorwürfe in Jelzins Um- legenen roten Anorak zog der Gutmensch dem Einheits-Verbund und den Neo-Libe- feld bleiben ungeklärt. Eine Verfassungs- Leichen aus gesprengten Wohnblocks, ralos auch noch auf die Hurra-Patrioten reform, welche Vollmachten des Präsiden- schenkte Ausgebombten und Beschossenen des chauvinistischen Schreihalses Schiri- ten aufs Parlament überträgt, fällt aus. Die im Kaukasus hier einige Sommerzelte, dort nowski. Dessen parlamentarische Trup- Enteignung des Volkes wird fortgesetzt – eine Gulaschkanone: So einer, denkt der penstärke wurde zwar auf ein Drittel re- jene blieben in der Minderheit, die für so- mit staatlichem Beistand nicht verwöhnte duziert – auf 17 Abgeordnete bei sechs ziale Marktwirtschaft und harte Korrektu- ren des wildwüchsigen Räuber-Ka- pitalismus eingetreten waren: Die sozialliberale Jabloko-Partei des Reformökonomen Jawlinski verlor zwar nur 0,9 Prozentpunk- te, hatte aber kräftigen Zuwachs erhofft. Der Wahlblock Vaterland- Allrussland Primakows und des Moskauer Oberbürgermeisters Luschkow, Hauptangriffsziel der Kreml-Kampagne, erreichte lan- desweit knapp zwölf Prozent und zerfällt wieder in zwei Parteien – eine für, eine gegen Putin. Immerhin hatte Russlands großer alter Mann Alexander Solscheni- zyn, 81, wegen „der dreckig-wü- tenden Wahlkampagne der Staats- macht und der hinter ihr stehen- den Finanzmagnaten“ demonstra- tiv für die verfemte Vaterlands-Par- tei gestimmt. Allein die russische KP, von Pu-

AFP / DPA tins Wahlkampf-Technologen auf- Russen vor Grosny, Hubschrauber beim Raketenabschuss: Für Ausgebombte eine Gulaschkanone fällig geschont, hielt ihre Klientel beisammen: Sie erhielt fast ein Bürger, könnte einen guten Premier unter Prozent Stimmenanteil. Doch die standen Viertel der Wählerstimmen und stellt mit einem Präsidenten Putin abgeben. schon bisher Jelzins Regierungen jeder- voraussichtlich 113 der bisher gewählten „Im Westen wählt sich die Parlaments- zeit beflissen zur Verfügung – wie es heißt, 443 Abgeordneten abermals die stärkste mehrheit eine Regierung“, erklärte ein gegen Bares. Duma-Fraktion. ORT-Abteilungsleiter seinen Mitarbeitern Die neue Duma stellt sich auch als re- Die Mehrheit der Russen entschied sich die nationalen Besonderheiten russischer präsentative Vertretung von ehemaligen in einer wirtschaftlichen Existenzkrise, klü- Demokratie: „Bei uns müssen wir einer KGB-Generälen und Mafia-Verdächtigen ger als andere Völker, gegen die Extreme, aufgeklärten und fortschrittlichen Regie- dar, neureichen Kaufleuten und allen fünf für die parlamentarische Mitte. Jelzins ehe- rung zur Duma-Unterstützung verhelfen, Ministerpräsidenten der Jelzin-Ära. Ein maliger Sprecher Pawel Woschtschanow die sie verdient.“ dreimaliger Olympia-Goldgewinner (im hält das für einen furchtbaren Irrtum: Die Für Nachdenklichere ersetzte Putin Ringen) ist dabei, auch Jelzins im Krach neue Duma sei „ein Schritt vorwärts zur das fehlende Wirtschaftsprogramm der geschiedener Leibwächter Korschakow Begründung eines totalitären Systems“. „Einheit“ durch demonstrativen Schulter- und der entschlossene Korruptionsfahn- Dagegen stellen ausgerechnet die Kom- schluss mit einem Amtsvorgänger, mit Ser- der, Polizeigeneral Alexander Gurow. To- munisten diesmal die Opposition. Die gej Kirijenko, Nummer eins der Union talitäre 94 Stimmenprozente erzielte in sei- Eröffnungssitzung der Duma leitet als äl- rechter Kräfte, der Wirtschaftsliberalen. Er nem Moskauer Wahlkreis der Gesangs- tester Deputierter der ehemalige KPdSU- sagte zu, von deren Reformversprechen künstler Iossif Kobson, „Russlands Frank Ideologiechef und Alkoholfeind Jegor möglichst viele in die Tat umzusetzen, und Sinatra“, dem wegen Verdachts enger Kon- Ligatschow, 79, dem im heimischen Tomsk ließ Kirijenkos Kompagnon, Ex-Vize- takte zum organisierten Verbrechen 1995 ein Mandat zufiel. premier Anatolij Tschubais, im eroberten ein US-Visum verweigert wurde. Zu Perestroika-Zeiten rüffelte er sei- tschetschenischen Gudermes feierlich die Magnaten wie Beresowski, die auf die nen Politbüro-Kollegen Jelzin mit dem von den Russen zerstörte Gasversorgung Renaissance des autoritären, nur eben schlichten Urteil: „Boris, du hast nicht wieder in Gang setzen. nichtkommunistischen Staates setzen, Recht.“ Jörg R. Mettke

der spiegel 52/1999 55 Medien

FERNSEHEN „Jeder zeigt, was er kann“ Mit Großaufwand inszenieren die TV-Sender die Millenniumsnacht. Geboten werden Live-Berichte aus allen Zeitzonen und Stars aus heimischer Produktion: Heino, Lou Bega, Harald Juhnke. Kurz vor Mitternacht springt auf RTL Skispringer Dieter Thoma ins neue Jahrtausend.

st Karl Moik wirklich der richtige Mann Unterbrochen wird der schier endlose Le- fürs Millennium? Lebhaft debattierten derhosen-Frohsinn nur durch einige Kor- Idie Oberen der ARD, ob sie dem schun- respondentenberichte, die spotlightartig kelsicheren Volksmusikanten fast fünf Stun- die Millenniumsnacht beleuchten. Im Stadl den Sendezeit ausgerechnet am Silvester- geht es live hin und her, global, lokal und abend 1999 geben sollten. Der 61-Jährige zurück: Wien, Karl Moik, Moskau, Karl steht nicht gerade für Aufbruchstimmung, Moik, Kairo, Karl Moik. gaben die Skeptiker zu bedenken. Den Anfang des ARD-Potpourris macht Sie waren chancenlos. Karl Moik hatte ein Reporter bereits mittags von den Fid- einen (fast) unschlagbaren Verbündeten an schi-Inseln im Pazifik aus. Auch die ande- seiner Seite: die kühle Logik der Ökono- ren TV-Stationen geben am Tag der Tage mie. Denn der fidele Moik, belehrte ARD- und in der Nacht der Nächte so ziemlich al- Programmchef Günter Struve die Runde, les: Große Namen, viele Millionen und ein sorge noch immer treffsicher für hohe Quo- Feuerwerk mutmaßlich origineller Ideen te und koste nicht viel Geld, sei also hoch sollen das Publikum verzaubern. profitabel. Silvester würden ohnehin die Quer durch die Zeitzonen offerieren die Älteren vorm Bildschirm sitzen, der Folk- Anstalten in Champagner-Laune von mor- lorist aus Oberösterreich sei für diese Ziel- gens an schrille Bilder. Wo immer sich auf gruppe eine Attraktion. den Kontinenten gerade der Globus ins So dürfen denn im „Silvesterstadl“ Moik neue Jahrtausend dreht, sind die Kame- und seine Gäste, darunter Heino, die Kas- ramänner und Reporter dabei. Gesucht telruther Spatzen und die Mainzer Hof- werden die schönsten Szenen des Zeiten- sänger, in einer extra langen Sendung ihre wechsels, interessant sind die ersten Küsse, Neujahrsgrüße ins Publikum schmettern. die ersten Tränen, die ersten Babys.

Mit alten Stars ins neue Jahrtausend Das Silvesterprogramm deutscher Sender

Im „Silvesterstadl“ schunkeln Karl Moik, Heino Rock und Pop bietet (Foto), Harald Juhnke und weitere Stars in der Pro Sieben ab 20.15 ARD ab 20.15 Uhr ins neue Jahrtausend. Uhr: Aufzeichnung des

Benefizkonzerts „Net PRESS ACTION Aid: Das Konzert“ vom Popstar Bega Oktober 1999 mit Sting, David Bowie, Exklusiv am Brandenburger Tor Bryan Ferry, Sheryl Crow (Foto) und anderen. In Deutschland werden gut 20 Millionen Menschen, so die Prognose der Fernseh- experten, am Bildschirm die Silvesternacht erleben. Für das historische Ereignis ist den meisten TV-Managern daher nichts zu teu- er. Der eigene Auftritt soll eine riesige Gala sein, eine schöne Empfehlung, eine ge- tanzte Visitenkarte. Allein die deutschen Top-Sender ver- böllern in den 24 Silvesterstunden rund zehn Millionen Mark für zusätzliche Schalt- und Korrespondentenkosten. „Es ist eine Sache des Prestiges“, sagt RTL- Chefredakteur Hans Mahr über die Mate- rialschlacht, „jeder zeigt, was er kann.“ Das ZDF startet seinen Silvester- Der Boulevardexperte aus Wien hat sich FOTOS: CONTRAST/ACTION PRESS,AP, RTL, ACTION PRESS, DPA ACTION RTL, PRESS,AP, CONTRAST/ACTION FOTOS: abend um 20.15 Uhr mit Episo- Sportliches ausgedacht: Fünf Sekunden vor Auf Sat 1 können Comedy-Freunde den aus ZDF-Unterhaltungs- Mitternacht geht auf RTL der Skispringer RTL sendet ab 20.15 Uhr Comedy-Shows den Fernsehabend um 20.15 Uhr mit serien: „Silvester 1999 – reine mit Rudi Carrell (Foto), Mike Krüger und „Die Wochenshow – Extra” beginnen, Nervensache“. Mit der Silves- Dieter Thoma in die Spur der Schanze von Jochen Busse: „7 Tage – 7 Köpfe „Die große Sat-1-Silvesterparty“ tergala „Die Jahrtausendnacht“ Garmisch-Partenkirchen, zum Sprung ins Spezial“, „Witze, Sketche, schräge steigt ab 22.00 Uhr mit Modern Talking wird ab 21.50 Uhr der Millen- nächste Jahrtausend. Der Flug ist exakt auf Töne“ und „Freitag Nacht News“. (Foto), DJ Bobo und anderen. niumswechsel gefeiert. die Stunde null programmiert, die epocha-

56 der spiegel 52/1999 le Tat soll mit einer „kombinierten Schritt- Helm-Kamera“ an Thomas Körper festge- halten werden. Das Zwei-Kilo-Instrumen- tarium ermöglicht es dem Zuschauer, den Flug aus der Gesäß-Perspektive zu sehen – von hinten durch die Beine. So also sieht das Fernsehen 2000 aus. Ansonsten setzt der Marktführer aus Köln an diesem Abend auf Spezialausga- ben seiner Comedy-Erfolge, Jochen Busse und sein „Sieben Tage, sieben Köpfe“- Team sind im Großeinsatz. Für die Reportagen von den Silvester- feten in aller Welt hat sich RTL zusammen mit dem Schwestersender RTL 2 an die öf- fentliche BBC aus angelehnt, die weltweit den größten Aufwand beim Mil- lenniumspektakel treibt. Dank der Koope- ration mutiert selbst der Schmuddelsender RTL 2 („Peep“, „Strip“) für 24 Stunden zum Informationskanal. Die BBC habe das Ziel, sagt ein Spre- cher, „die größte und ehrgeizigste Live- sendung, die es je gab, auf die Beine zu stellen“. Das „2000-Today“-Projekt lassen sich die Briten knapp 40 Millionen Mark kosten, rund um den Globus haben sie 2000 Kameras postiert. So wird eine Verbindung zur Raumfähre der Nasa geschaltet, und Nelson Mandela spricht zu den Bewoh- nern des Commonwealth. Das Programm startet am Silvester- morgen um elf Uhr Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) auf der Südsee-Inselgruppe , einem Flecken auf der Datums- grenze, wo das neue Jahrtausend früher beginnt. Das bis vor kurzem praktisch un- bekannte Eiland, dessen Bewohner als Erste in die neue Ära hineinfeiern, wird für einige Minuten der Mittelpunkt des Fernsehkosmos. Neben der BBC haben sich weitere tech- nisch hoch gerüstete Kamerateams der großen Sender wie ABC aus den USA und NHK aus Japan angesagt, auch Sat 1 aus Berlin entsendet Vertreter. Die Deutschen sind schon ganz begierig, dort um 16.30 Uhr MEZ die ersten Sonnenstrahlen des Jahrtausends einzufangen. Ob die Stammestänze am Kilimand- scharo, Eskimo-Zeremonien in Nordkana- da oder Street life in New York – nichts ist vor den Kameras der TV-Teams sicher. Ge- dreht wird an nahezu allen wichtigen Or- ten der Weltgeschichte. Allein für die Fei- erlichkeiten in Bethlehem meldeten sich dutzende von Fernsehanstalten an. Die Veranstalter haben 2000 Tauben im Schlag, die pünktlich um Mitternacht in den Him- mel fliegen dürfen. In den Vereinigten Staaten ist CBS live bei der präsidentialen Party von Bill und Hillary Clinton in Washington zugegen, in Brasilien überträgt der Populärsender Bandeirantes eine Riesensause an der Copacabana mit rund zwei Millionen Menschen und sechs Tonnen Feuerwerk. Populäre Hüfttänzerinnen des Landes wie Carla Perez werden stundenlang ihre

der spiegel 52/1999 Medien

Hintern (brasilianisch: „bumbums“) krei- filmsender Pro Sieben bescheidet sich fast SPIEGEL TV sen lassen. vier Stunden lang mit der Ausstrahlung ei- Der Nachrichtenkanal CNN fasst in sei- nes Benefizkonzerts von Anfang Oktober, MONTAG ner hundertstündigen Sondersendung alle bei dem Superstars wie David Bowie, Sting 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 wichtigen Ereignisse zum Jahrtausend- und Bryan Adams auftraten. wechsel zusammen. Eventuell übernehmen Das Schwesterunternehmen Kabel 1 gru- SPIEGEL TV REPORTAGE die Strategen aus Atlanta das Gemein- selt zu Mitternacht sogar mit dem deut- „Traumstraße der Welt“ – schaftsprogramm eines japanischen und schen Horrorschinken „Die 1000 Augen Unterwegs auf der Panamericana chinesischen Senders, das – quotenträchtig des Dr. Mabuse“. Ganz auf Hochkultur da- Autor Thomas Schaefer und sein Team – den aktuellen Weltrekordversuch im Um- gegen macht der öffentlich-rechtliche Spar- über die Welt entlang des Panamerican legen von Dominosteinen zeigt. tenkanal 3Sat. Unter dem Motto „24 Stun- Highway. In der letzten Folge geht es Hier zu Lande konzentrieren durch und Argentinien. Durch den sich die Live-Sendungen auf die größten privaten Naturpark der Welt neue alte Hauptstadt. Das ZDF und über die Anden bis zum Endpunkt feiert im Betontempel des Inter- dieser weltumspannenden Straße: nach nationalen Congress Centrums. am Südrand des Kontinents. Moderiert von den Gewohnheits- Spaßvögeln Thomas Ohrner und Ulla Kock am Brink kommen in Saal II Alt-Stars wie Udo Jürgens, Peter Kraus und Graham Bonney zum Einsatz. Die Dieter-Bohlen-Kapelle Mo- dern Talking bringt dabei das Kunststück fertig, fast gleichzeitig auch bei dem partyversessenen Pri- vatrivalen Sat 1 aufzuspielen. Nur Harald Juhnke ist fleißiger, er tritt

SPIEGEL TV am selben Abend dreimal auf, bei Ushuaia Moik, im Dritten der ARD und bei einer Nobelgala im Hotel Adlon. DONNERSTAG Lokalmatador Sat 1 will in die- 22.05 – 23.00 UHR VOX ser Nacht allen zeigen, was ein Heimrecht wert ist – exklusiv darf SPIEGEL TV EXTRA der Sender direkt am Branden- Das große Finale – die Luxusrepublik burger Tor eine Bühne für „Die rüstet zur Jahrtausendwende große Sat-1-Silvesterparty“ auf- Die letzten Tage des Jahrtausends stehen bauen. vor der Tür. Viele Firmen – darunter der Die anderen 30 TV-Teams müs- Edel-Lebensmittel-Lieferant Rungis Ex- sen sich bei ihren Berlin-Bildern press, die Feuerwerksfabrik Nico oder der hingegen mit hinteren Rängen in Münchner Maßschneider Max Dietl – sind der Nähe des Symbolorts abfin- schon seit Monaten mit der Planung die- den, etwa mit Geschäftsräumen

ser außergewöhnlichen Nacht beschäftigt. der Dresdner Bank (ARD) oder ORF einer Privatwohnung am Boule- ARD-Entertainer Moik SAMSTAG vard Unter den Linden (RTL), wo Fünf Stunden Lederhosen-Frohsinn 22.15 – 23.20 UHR VOX Dauerlächler Peter Kloeppel bis zum Neujahrsmittag die Kurzberichte aus den – 24 Komponisten“ bringt er eine Klas- SPIEGEL TV SPECIAL aller Welt moderiert. sikkonserve nach der anderen zur konzer- Zwischen Kiez, Kommerz und Kanzleramt Das Monopol am Standort hat sich Sat 1 tanten Aufführung, mit Ravels „Boléro“ – Aufbruchstimmung in Berlin redlich verdient, immerhin kooperiert der als Höhepunkt. 1999 begann für die Bundesrepublik Bällchensender – bei Kosten von 3,5 Mil- Aber auch zu wirklichen Innovationen Deutschland eine neue Epoche: Berlin, lionen Mark – zum dritten Mal mit der „Sil- hat es gereicht. Der NDR in Hamburg bei- die Metropole an der Spree, ist wieder vester in Berlin GmbH“, die im Auftrag der spielsweise wollte sich mit einem Recycling Regierungssitz. Ein Protokoll über die Stadt Plätze und Straßen vermarktet. des Silvester-Klassikers „Dinner for One“ Stadt im Wandel. Die Moderatoren Jörg Pilawa und Holger nicht begnügen – und so stolpert Butler Speckhahn sollen mit Künstlern wie Mam- James zur Jahrtausendwende erstmals in SONNTAG bo-Mann Lou Bega und Comedy-Star Anke Farbe über den Tigerkopf seiner Miss So- 22.25 – 23.15 UHR RTL Engelke (mit Band) den zehntausenden auf phie entgegen. Eine Spezialfirma aus Los dem Pariser Platz einheizen. Eine Kran- Angeles übernahm die Nachkolorierung des SPIEGEL TV MAGAZIN kamera wird auch kleine Exzesse einfan- Schwarzweißsketches aus dem Jahre 1963. Die Millennium-Metropole – Berlin zwi- gen, hier spontaner Grölgesang, da ein Die Farbversion will der NDR um kurz schen Partytaumel und Chaos-Angst; Der intimes Küsschen. Sat-1-Sprecher Dieter nach eins senden, zu einer Zeit also, in der Fall „“ – Neue Ermittlungen zum Zurstraßen: „Die anderen senden seit 30 viele schon mit glasigen Augen in die Röh- Untergang der Ostseefähre, bei dem 1994 Jahren die gleichen Shows aus den gleichen re schauen. Show-Chef Jürgen Meier-Beer mehr als 800 Menschen starben; Schöne Hallen, wir machen eine frische Party.“ findet allein schon diese Platzierung urko- Aussichten – Wie Blinde mit Computer- Wo die Großen des Gewerbes derart um misch: „Die Leute sollen sich fragen – liegt hilfe wieder sehen können. die Gunst im Puschenkino buhlen, bleibt es an uns, oder liegt es an denen?“ den Kleineren nur die Nische. Der Spiel- Hans-Jürgen Jakobs

58 der spiegel 52/1999 Das Fachmagazin „Buchreport“ berücksichtigt die Platzierungen während des gesamten Jahresbestseller 99 Kalenderjahrs für seine Jahresbestseller-Liste

Belletristik Sachbücher 1 John Irving 1 Waris Dirie Witwe für ein Jahr Wüstenblume Diogenes; 49,90 Mark Schneekluth; 39,80 Mark

Jahressieger Sachbuch: Jahressieger Literatur: Nomadenmädchen und US-Autor John Irving Topmodel Waris Dirie mit mit seinem Roman über ihren schonungslosen eine Schriftstellerin Erinnerungen

2 Henning Mankell Die fünfte Frau 2 Sigrid Damm Christiane und Goethe

Zsolnay; 39,80 Mark Insel; 49,80 Mark

3 Marianne Fredriksson Simon 3 Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark W. Krüger; 39,80 Mark

4 Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! 4 John Grisham Der Verrat Scherz; 46 Mark Hoffmann und Campe; 44,90 Mark 5 Klaus Bednarz Ballade vom 5 Donna Leon Nobiltà Baikalsee Europa; 39,80 Mark Diogenes; 39,90 Mark 6 Jon Krakauer In eisige Höhen 6 Henning Mankell Die falsche Fährte Malik; 39,80 Mark Zsolnay; 45 Mark 7 Tahar Ben Jelloun Papa, was ist 7 Isabel Allende Fortunas Tochter ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark Suhrkamp; 49,80 Mark 8 Marcel Reich-Ranicki Mein Leben 8 Minette Walters Wellenbrecher DVA; 49,80 Mark

Goldmann; 44,90 Mark 9 Jon Krakauer Auf den Gipfeln der 9 Günter Grass Mein Jahrhundert Welt Malik; 39,80 Mark

Steidl; 48 Mark 10 Ruth Picardie Es wird mir 10 Walter Moers Die 13 1/2 Leben des fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 11 Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Scherz; 22 Mark 11 Marianne Fredriksson Hannas Töchter W. Krüger; 39,80 Mark 12 Monty Roberts Shy Boy Lübbe; 49,80 Mark 12 Donna Leon Sanft entschlafen

Diogenes; 39,90 Mark 13 Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität 13 Maeve Binchy Ein Haus in Irland Rowohlt Berlin; 39,80 Mark Droemer; 39,90 Mark 14 Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch 14 Elizabeth George Undank ist der Berlin; 39,80 Mark Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 15 Helmut Schmidt Auf der Suche 15 Martin Walser Ein springender nach einer öffentlichen Moral Brunnen Suhrkamp; 49,80 Mark DVA; 42 Mark

der spiegel 52/1999 59 Kultur

von Toten erscheinen ihm, flehen um Hil- fe und terrorisieren ihn, weil er nicht ver- steht, was sie von ihm wollen. Wie sollte er? Die Toten, die ihm erscheinen (fast alle sind gewaltsam gestorben), können einan- der gegenseitig nicht sehen, und das Merk- würdigste: Die Toten wissen selber nicht, dass sie tot sind. Coles Gegenspieler ist der renommierte Kinderpsychologe Dr. Crowe.Anfangs wird er aus den Spinnereien des Jungen und dessen Neigung zu katholischem Brimbo- rium nicht schlau (was dessen gemurmel- tes „De profundis clamavi“ bedeutet, muss der Doktor im Lexikon nachschlagen), auch in der Diagnose schwankt er zwi- schen Paranoia und Schizophrenie, dann aber taucht er restlos fasziniert in die Er- fahrungswelt des Jungen ein – er will Cole um jeden Preis helfen, um sein Versagen in einem ganz ähnlichen früheren Fall wieder

FOTOS: FILM CONSTANTIN gutzumachen, wo der Patient, vor Angst „The Sixth Sense“-Star Osment: Neigung zu katholischem Brimborium wahnsinnig geworden, auf ihn schoss und dann sich selbst erschoss.

FILM Wenn die Toten erwachen Nach dem „Blair Witch Project“ kommt jetzt die zweite US-Gruselsensation in die Kinos. „The Sixth Sense“ ist ein Horror-Kammerspiel, in dem kaum Blut fließt.

ie Gewissheiten schwinden.Was ist dergeachteten Genre des Gruselfilms zu- mit der Angst? Wird sie auch mor- zurechnen, das sonst nur selten über die Dgen noch bedeuten, was sie uns ges- feste Zielgruppe der kreischlustigen Teen- tern war? Und der Tod? Wird er im dritten agercliquen hinaus Interesse findet – wor- Jahrtausend noch halten, was er im zwei- aus sich aber noch lange kein spiritistischer ten versprach? Wie steht’s mit seinem Ver- oder apokalyptischer Wende-Trend her- Star Willis, Olivia Williams fallsdatum? Braucht er einen Relaunch? ausspekulieren lässt. Endlich einmal Seele zeigen Oder wird man den Tod, wie die Liebe, Das kometenhafte Erscheinen des ersten von Grund auf redesignen müssen, damit Gruselwerks hat, begreiflich, ganz beson- Eigentlich, so meint man, wäre dies eine alles noch einen Sinn hat? ders dem Autor des zweiten Angst und Rolle nach Maß für den bewährten, stets Sogar in Hollywood sind letzte Gewiss- Bange gemacht: Musste er nicht fürchten, mitfühlenden Seelendoktor-Darsteller Ro- heiten abhanden gekommen. Liefen nicht sein eher leises, versponnenes und über- bin Williams gewesen. Doch weil man ihn siegessichere Hit-Strategen ins Leere? haupt nicht krawalliges Werk könnte, wenn vor einem Jahr in „Hinter dem Horizont“ Wurden nicht bewährte Kosten-Nutzen- es nun in die Kinos käme, im mächtigen schon so herzerweichend geschmerzt Rechnungen ad absurdum geführt? Su- Kometenschweif des „Blair Witch“-Phä- durch etliche Totenreiche zwischen Hölle perteuer hochgerüstete und also ver- nomens unbeachtet verglühen? Doch so und Himmel hat taumeln sehen, ist es eine meintlich unfehlbare Showstücke wie kam es nicht: Die Kasseneinnahmen von Wohltat, hier in der Doktorrolle dem pro- „Wild Wild West“ oder „Hinter dem Ho- „The Sixth Sense“ haben in den USA „The fessionell hartgesottenen „Stirb langsam“- rizont“ haben sich durch technologischen Blair Witch Project“ längst überrundet und Star Bruce Willis zu begegnen. Endlich darf Overkill selbst versenkt, sogar das vierte nähern sich der Marke von 300 Millionen er mal Seele zeigen und weinen: Sein oft „Star Wars“-Spektakel ist weit hinter der Dollar. Mit dieser Geschichte von den Ver- tränennasser Blick auf den armen kleinen Erwartung auf einen titanicmäßigen Kas- zweiflungen eines Kindes mit paranorma- Cole ist es, der auch im Publikum die Ta- sensturz zurückgeblieben, während zwei len Sensibilitäten hat der Autor-Regisseur schentücher mobilisiert, und diese Gabe unscheinbare No-Name-Produkte, gera- M. Night Shyamalan einen sechsten Sinn macht Willis zum Idealsekundanten des dezu Irrläufer oder Irrlichter im Big für die Unwiderstehlichkeiten eines großen wirklichen „Sixth Sense“-Stars, des in- Showbusiness, raketenhaft Karriere mach- Rührstücks bewiesen. zwischen elfjährigen, unwiderstehlich ten: die pseudodokumentarische Hexen- Der kleine Kerl namens Cole, um den rührenden Haley Joel Osment. forscherstory „The Blair Witch Project“ sich alles dreht, einziges Kind einer allein Wer aber ist der Autor-Regisseur M. und das Parapsychodrama um einen klei- erziehenden Mutter, achtjährig, überbe- Night Shyamalan, der in einer Nebenrolle nen Jungen, dem das Herumgeistern von gabt, übersensibel, kontaktscheu und des- als Kinderarzt ebenfalls einen besorgten Toten Angst und Bange macht, „The Sixth halb in der Schule als Freak verspottet, hat Blick auf die Wundmale des malträtierten Sense“. allerlei telepathische Talente, vor allem Cole wirft? Shyamalan wurde 1970 in Diese beiden überraschendsten US- aber jenen sechsten Sinn, der ihm alp- Madras geboren, kam aber schon als Baby Kinoerfolge des Jahres sind also dem min- traumhafte Ängste beschert: Die Geister mit seinen Eltern, einem Ärztepaar, in die

60 der spiegel 52/1999 USA nach Philadelphia und tat sich früh SPIEGEL: Wen würden Sie als Nachfolger durch wunderkindliche Schritte hervor – in der Rolle des Kämpfers mit der Waffe allerdings hat, wie er selber sagt, seine bei- „Ich bin halt akzeptieren? den ersten Spielfilme „kein Mensch auf Willis: George Clooney! Er ist gleichzeitig diesem Planeten gesehen“. hart und smart. So wie ich (lacht). Sein von den Eltern finanziertes Erst- SPIEGEL: Nehmen wir an, Sie drehen ei- lingswerk „Praying with Anger“ drehte er ein galanter Typ“ nen Film mit Leonardo DiCaprio – hätten als 21-Jähriger mit sich selbst in der Haupt- Filmstar Bruce Willis über Sie es lieber, wenn DiCaprio den Bösen rolle eines indoamerikanischen Studenten, spielt und Sie den Guten, oder umge- der für ein Jahr in die Heimat der Eltern Action, Geister und „Sixth Sense“ kehrt? nach Madras kommt. Das filmische Selbst- Willis: Da DiCaprio ein guter Schauspie- bildnis fiel immerhin auf Festivals so posi- SPIEGEL: Mr.Willis, ist es wahr, dass Sie kei- ler ist, überlasse ich ihm die Wahl. tiv auf, dass die Disney-Firma Miramax ne Lust mehr auf die Sorte von Actionfil- SPIEGEL: Das ist ein galantes Kompliment seinen zweiten Film finanzierte, „Wide men haben, mit denen Sie berühmt gewor- für den Mann, von dem es heißt, er habe Awake“, der im Rückblick wie ein Entwurf den sind, und in Zukunft nur noch in Charak- mal eine Affäre mit Ihrer Ex-Frau Demi zu „The Sixth Sense“ erscheint. terrollen und Komödien auftreten wollen? Moore gehabt. Schon in „Wide Awake“ steht ein kleiner Willis: Das ist richtig. Willis: Ich bin halt ein ga- Junge im Mittelpunkt, der von einer Todes- SPIEGEL: Was haben Sie lanter Typ. Ein Mann, der Erfahrung nicht loskommt: Der Sohn eines gegen Actionfilme? sich in seiner Freizeit um reichen Kinderärzte-Paares in Philadel- Willis: Prinzipiell nichts. seine Kinder kümmert, mit phia, von katholischen Nonnen erzogen, Bis heute bin ich über- Freunden Bier trinkt und ab der nach dem Tod seines geliebten Groß- zeugt, dass „Stirb lang- und zu aus dem Fenster vaters ein untröstliches „De profundis“ zu sam“ ein guter Film ist, schaut. Gott emporruft – ihm erscheint, um ihm ich verleugne also nichts. SPIEGEL: Und was sehen Sie den Glauben ans Leben zurückzugeben, Das Problem ist nur, dass durchs Fenster? Schließlich ein Engel vom Himmel. In „The Sixth diese Art Actionfilm in- kümmert sich der Psycholo- Sense“, wieder in Philadelphia gedreht, hat zwischen tausendfach ko- ge, den Sie in „Sixth Sense“ diese Rolle ein Toter: So oder so verfügt das piert wurde. Der durch- spielen, um ein Kind, das Jenseits über die stärkeren Bataillone. schnittliche Actionfilm mit Geistern redet. Schon für das Drehbuch zu „The Sixth von heute ist lang, lang, Willis: Quatsch, wenn ich Sense“ zahlte der Disney-Konzern die langweilig. aus dem Fenster schaue, rekordnahe Summe von drei Millionen SPIEGEL: Warum finden dann sehe ich keine Geis- Dollar; das in der Partnerschaft mit Spiel- Sie es plötzlich langwei- ter, sondern Bäume und berg großgewordene Produzentenpaar lig, mit einer Pistole wild Häuser. Kathleen Kennedy/Frank Marshall betreu- um sich zu schießen? SPIEGEL: Sollte sich ein Cha- te dann die Realisierung. Shyamalans voll- Willis: Wenn Sie wie ich rakterdarsteller nicht stär- endetes Werk zeigt eine geradezu altkluge Millionen Statisten ge- ker mit seiner Rolle identi- Stilsicherheit im Umgang mit den Darstel- killt haben, verliert es fizieren? lern wie in der Dosierung der Horror- seinen Reiz. Es ist so Willis: Na gut. Ich sehe einen

momente und eine sehr selbstbewusste, wie eine Achterbahn- CINETEXT grauhaarigen Geist namens sehr konservative Eleganz des Spiels mit fahrt, die man schon tau- Willis in „Stirb langsam I“ (1988) Jimmy, der früher mal Fri- Licht und Schatten. sendmal gemacht hat – es seur war. Um in dieser Kinophantasie angstmäßig gibt keine Überraschungen mehr. Mein SPIEGEL: Und? Spricht Jimmy zu Ihnen? auf seine Kosten zu kommen, muss man na- neuer Film ist dagegen eher eine Art Geis- Willis: Ja, aber seine Geheimnisse darf ich türlich beileibe nicht daran glauben, dass terbahn. natürlich nicht verraten. die Toten mit Flüstern und Schreien, mit SPIEGEL: Was muss mit der Achterbahn pas- SPIEGEL: Wie ist Jimmy umgekommen? Tritten und Schlägen in unserem Leben her- sieren, damit sie wieder spannend wird? Willis: Brutale, schlimme, grausame Sache. umfuhrwerken; was Hamlet recht ist, mag Willis: Sie braucht neue Schienen, Wagen, War nicht Jimmys Schuld. Wäre aber viel- dem kleinen Cole billig sein. Und nächstes Kurven. Gute Geschichten, gute Schau- leicht ein gutes Skript für einen Action- Jahr wird sowieso alles anders. Urs Jenny spieler, gute Regisseure. film. Interview: Marc Fischer Werbeseite

Werbeseite 2000: Die Gegenwart

Die Themen des Millenniums – was kommt, was bleibt. der Zukunft

Titel ...... 64 Sport ...... 192 Wirtschaft ...... 107 Kultur ...... 175

Wissenschaft ...... 157

Deutschland ...... 75

Ausland ...... 129

Medien ...... 121

der spiegel 52/1999 63 Titel DIE ZEITBOMBE CÄSARS Mit einer Glitzerparty, die alle Rekorde sprengt, taumelt das Abendland ins 3. Jahrtausend. Aber feiern wir eigentlich das richtige Datum? Die Geschichte der christlichen Zeitrechnung steckt voller Rätsel. Römische Kaiser und Mönche des Mittelalters fummelten an dem Zählwerk herum.

Sonnenuhr im indischen Jaipur (von 1726)

Hawaii Lauffeuer um den Globus Samstag Peking 1100 Uhr Beginn des neuen Millenniums nach Mitteleuropäischer Zeit Freitag Los Angeles 1700 Uhr Samstag 9 00 Uhr

Moskau Freitag New York London Berlin 2200 Uhr Samstag Samstag 00 Samstag 6 Uhr 100 Uhr 0 00 Uhr Neu-Delhi Freitag Jerusalem 30 Freitag 19 Uhr 2300 Uhr

Rio de Janeiro Samstag 300 Uhr Nairobi Freitag 2200 Uhr

Steinzeitliche Sternwarte Stonehenge

64 der spiegel 52/1999 indestens 60 Milliarden Men- schen sind in ihm herumge- trampelt: Dante und Shake- speare ebenso wie Marika Rökk. Katapulte und Atom- bomben haben es erschüttert. MEs erlebte den Bau der Chi- nesischen Mauer und die Geburt der Quan- tenphysik. Am Ende kam das Tamagotchi. Nun sieht das Millennium ziemlich alt aus. Seit Wochen läuft ein gnadenloser Countdown. Noch rund 400000 Sekunden (ab Auslieferung dieses SPIEGEL-Heftes), dann „brennt der Himmel“ („Bild“). Die große Zeitenwende tritt ein, das ultima- tive Datum, das große Null ouvert. 1,9 Mil- liarden Christen feiern den runden Ge- burtstag des Herrn.Was für eine Nacht der Superlative rückt da heran! 50 Millionen Flaschen Schaumwein ha- ben die Weinbauern der Champagne in Sonderschichten bereitgestellt. In London wurde das größte Riesenrad der Welt (137 Meter hoch) errichtet. US-Dermatologen verkaufen unter dem Namen „Millennium Mud“ die teuersten Schlammpackungen (225 Dollar für knapp vier Kilo). Von Hongkong bis Honolulu soll der Globus im Lichtgewitter von Feuerwerken erstrahlen. Millionen Volltrunkene werden auf den Beinen sein – Bleigießer und Kon- Tokio fettiwerfer, Endzeit-Apokalyptiker und Freitag jene Berliner Rabauken, die – mit illegal im 1600 Uhr Ostblock gemixten – Riesenböllern schon im Vorfeld ganze Telefonzellen gesprengt haben. Republikweit sind THW und Feu- erwehr in Alarmbereitschaft. Europas Hauptstädte hüllen sich derweil Hongkong in pyrotechnischen Glanz. Paris plant einen Freitag

i. u.); AFP / DPA (re. Seite re. u.) Seite re. (re. i. u.); AFP / DPA Triumphzug auf den Champs-Elysées, flan- 1700 Uhr Tonga Freitag kiert von 24 Riesenrädern als Symbolen 1200 Uhr der Zeit. Mit dem großen Gongschlag sol- len 20000 Lichter am Eiffelturm aufleuch- Sydney Freitag ten. Alpinisten haben 20 Kilometer Kabel 1400 Uhr und elektrische Girlanden um die Eisen- träger gelegt. Auch Berlin mischt mit im Konzert Prachtuhr in Straßburg der Großmächte. Punkt null Uhr werden zwischen Brandenburger Tor und Sieges- säule zwölf Heliumballons am Himmel schweben, angestrahlt von 250 Schein- werfern. Für die Polit-Prominenz steht vor dem Reichstag ein Schlemmerpalast bereit (Menü für 1999 Mark). Millenniumsuhr, Doch besteht überhaupt Anlass zum gefüllt mit 2000 Jubel? Auf Geburtsurkunden und Scheck- Diamanten karten wird die Doppelnull stehen, Kün- derin einer großen Leere. Schon den Griechen galt Chronos als Lehrmeister, der seine Schüler umbringt. Diesmal ver- schlingt er ein ganzes Jahrtausend. Seit Monaten schüren Experten zudem Ängste vor Y2K, dem befürchteten Com- puterkollaps beim Datumswechsel. Die Deutsche Bahn stoppt kurz vor 24 Uhr aus Sicherheitsgründen alle Züge. Stummfilmheld Harold Lloyd Auch sonst ist die Grundstimmung eher

FOTOS: (li. u.); / BAVARIA VCL / MAURITIUS (li. o.); TORINO Bild re.); FOCUS / AGENTUR (gr. E. SPIEGELHALTER Seite l (re. KEYSTONE mau. Merkwürdig verzagt und illusionslos

der spiegel 52/1999 65 Titel

Von Stonehenge zur Nanosekunde 4800 v. Chr. Frühe um 3000 v. Chr. Die Sumerer nut-

Chronik der Zeitmessung OCUS Ackerbauern errich- zen die Fließgeschwindigkeit des ten in Mitteleuropa Wassers als Maßeinheit der Zeit.

28 000 v. Chr. Knochentafel mit Einkerbungen GENTUR F monumentale Kreis- aus dem Dordogne-Tal (Frankreich), gedeutet tempel, die auf die 2750 v. Chr. Das Pharaonen- als ältester „Lunarkalender“. SPL / A Sonnenwenden aus- reich führt das Sonnenjahr ein gerichtet sind. For- (365 Tage). 11 000 v. Chr. Adlerknochen von Höhlenmaler von scher deuten die An- Le Placard mit Mondmarkierungen. Lascaux (Zeichnung) lagen als „Kalender- Zeiger einer ägyptischen Sonnenuhr mit Kalender von Le Placard bauten“. Titulatur und Namen von Pharao Thutmosis III. BPK J. OSTER / MUSÉE DE L’HOMME stapft der Bürger ins Futur. „Globalisie- werden. Doch Rühls Flaschenpost stieß auf einer Hochhaus-Uhr. Das Netz von Chro- rung“ und gentechnisch optimierte Men- breites Desinteresse. „Ich hatte 40000 Brie- nometern, mit dem die Menschheit den schen drohen am Horizont, entfesselte fe erwartet“, lamentiert er. Gekommen Erdball überzogen hat, ist zur Bedrohung Shareholder, Cybersex und der Zusam- sind 1000. geworden. Mister Spock drückt es so aus: menbruch der Kleinfamilie. Selbst der Kein Wunder: Homo internet, der Ge- „Zeit ist das Feuer, in dem wir brennen.“ Euro, als Vorbote einer neuen Ära gefeiert, genwartsmensch, ist fest im Hier und Jetzt Die moderne Naturwissenschaft macht ist, kaum geboren, schon weich wie Butter. verkeilt. Ein wütendes Stakkato hat den eine sinnvolle Standortbestimmung der Wie viel vorwärts treibende Kraft und Bürger erfasst. Mit Tunnelblick bewegt er Gegenwart nicht leichter. Unter ihrem Zu- Dynamik hat da frühere Epochen beseelt: sich auf der Zeitachse. Mit 180 beats per griff ist die Zeit längst in alle Richtungen Vor 1000 Jahren, als Kaiser Otto III. die minute bebt die Techno-Szene. In sechs explodiert. Neueste Berechnungen zeigen, erste große Datumswende überschritt, be- Monaten ist heute ein Schwein schlachtreif, dass das Universum 13 Milliarden Jahre deckte sich Europa gerade „mit einem in zwölf Stunden ein Auto gebaut. In der alt ist. Die Lebensdauer von Quarks, in weißen Mantel von Kirchen“, wie ein zeit- Wirtschaft herrsche „die Epidemie des Teilchenbeschleunigern zum Leben er- genössischer Chronist schreibt. In Speyer Zeitwettbewerbs“, schreiben die Ökono- weckt, wird in milliardstel von milliards- und Westminster zogen Maurer himmel- men Klaus Backhaus und Holger Bonus. tel Sekunden gemessen – alles abstrakte strebende Bauten hoch. Untergangsängste, Philosophen nennen das Syndrom „Be- Resultate, aus denen sich kein geschichts- wie vielfach kolportiert, haben den Schritt schleunigungsfalle“. philosophischer Nährwert mehr ziehen ins Jahr 1000 nicht begleitet. Alle derarti- In „Modern Times“ hat Charly Chaplin lässt. gen Berichte seien, so der Mittelalterex- dieses Unbehagen in archetypische Bilder Höhepunkt der Entwicklung ist die „Cä- perte Jan Dhondt, „eine bloße Erfindung gefasst. Harold Lloyd hängt im Film „Aus- siumfontäne“ in der Physikalisch-Techni- von Historikern“. gerechnet Wolkenkratzer“ hilflos am Zeiger schen Bundesanstalt in Braunschweig. Ab- Auch die folgenden Jahrhunderte wur- den von zukunftsweisenden Denkern ein- geleitet. Nach 1500 hob Martin Luther mit seinem Reformationswerk an, 1600 betrat der Geburtshelfer der modernen Natur- wissenschaft, Galileo Galilei, die Bühne. 1800 preschte Napoleon vor. 1900 schrieb Freud seine „Traumdeutung“ und erschloss den Kontinent des Unbewussten. Und jetzt? DDR adieu, Karl Marx ka- putt, und das Kapital zeigt sein schonungs- loses Gesicht. Die alten Sinnbezüge der Ge- schichte sind längst zu Phrasen erstarrt. Apokalyptiker, die am Silvestertag den Messias auf dem Ölberg erwarten, rufen al- lenfalls Gelächter hervor. Und auch die an- gekündigte „Classwar“-Demo, zu der sich die letzten Versprengten des Weltproleta- riats in Berlin versammeln, zehrt vom Glanz verblasster Zukunftsparolen. Ist der Fortschritt zum leeren Ticktack verkommen? So sieht es der Philosoph Peter Sloterdijk. „Optimismusmaschine“ nennt er den Genitron, jene rückwärts lau- fende Sekundenuhr, die 1987 am Centre Pompidou installiert wurde. Ihr Count- down ersticke die Furcht vor der Zukunft in sinnlosem Zahlengerassel. Ins ferne Übermorgen mag des Bürgers Blick nicht schweifen, wie ein Zeitkapsel- Projekt aus Rottweil zeigt. Der dortige Kul- turamtsleiter Johannes Rühl möchte am Silvestertag einen Stahlbehälter vergraben – gefüllt mit „Briefen an die Zukunft“. 2099 soll der Kubus wieder ausgebuddelt Atomuhr in Braunschweig: Der Präzisionsweltrekord liegt bei einer Sekunde Abweichung in

66 der spiegel 52/1999 1450 v. Chr. Älteste erhalte- um 700 v. Chr. Pries- 380 v. Chr. Platon 307 vor bis 150 nach ne Sonnenuhr unter Pharao ter in Babylonien teilen lässt im Garten der Christus goldenes Zeital- Thutmosis III. die Woche in 7 Tage à Athener Akademie ter der Astronomie in 24 Stunden ein. einen wasserbe- Alexandria. Mediziner um 1400 v. Chr. Fertigstel- triebenen Zeitmes- messen den Puls von Fie- lung der „Prähistorischen um 500 v. Chr. Grie- ser aufstellen, der berkranken mit Präzisions- PICTURE PRESS

Sternwarte“ von Stonehenge. / chische Gerichte be- durch Luftkom- Wasseruhren. Der - Theorien zufolge wurde die messen die Redezeit pression Flötentö- nom Hipparch bestimmt

Anlage zur Vorhersage von CORBIS mit Wasseruhren ne erzeugt. die Länge des Sonnenjahrs Mondfinsternissen genutzt. Stonehenge in Südengland („Klepsydra“). auf 6 Minuten genau.

gekühlt durch Laserblitze werden dort Cä- Der christliche Kalender diente dabei wangen formuliert. Der Naturforscher siumatome in einer Mikrowellenfalle ge- gleichsam als Ordnung stiftender Mantel. Roger Bacon nannte die christliche Zeit- messen. Erst vor einigen Wochen hat der Gleichförmig, ohne Hast agierend, sah rechnung ein „Gräuel für die Astrono- Physiker Stefan Weyers die neue Super- sich der Mensch des Mittelalters in einen men“ und einen „Witz aus Sicht der Ma- uhr zusammengebastelt. Ein Vergleichs- heilsgeschichtlichen Prozess gebettet. Am thematik“. apparat in Paris stellte jüngst einen neuen Anfang stand die Schaffung Adams, am Eine Flut von historisch bedingten Rekord auf. Die Uhr geht in 20 Millionen Ende das Jüngste Gericht. Dazwischen Ungereimtheiten schleppt das System Jahren um eine Sekunde falsch. wurde, mit fetten Braten und Pfeffer- mit sich herum. Immer wieder griffen Re- Angesichts solcher Präzisionsmaschinen kuchen, Ostern und Weihnachten ge- genten selbstherrlich ein. Am brutalsten scheint es fast unglaublich, dass noch feiert. ging Kaiser Augustus (63 v. Chr. bis 14 Martin Luther kaum wusste, was die Stun- Vielen Zeitgenossen scheint der Millen- n. Chr.) zu Werke. Er zwackte dem Feb- de schlug. Vor wenigen Generationen niums-Trubel denn auch abgeschmackt. ruar einen Tag ab und hängte ihn dem schwamm der Homo sapiens im „wesen- Rückzugsreflexe, neudeutsch „Cocoo- nach ihm benannten Monat August an. losen und allmächtigen“ Zeitfluss (Thomas ning“, greifen um sich. Von „Zahlenfeti- Seitdem rollt der Kalender mit elf Mona- Mann). Mit den Kühen ging er schlafen, schismus“ ist die Rede. „Ein ten und einem Schrumpfinter- der Hahn weckte ihn. Im 12. Jahrhundert leerer Kult um drei Nullen“ vall durchs Jahr. machte sich der Stamm der Pruzzen Kno- werde da zelebriert, glaubt der Kaiser Ganze Heerscharen von For- ten in den Gürtel, wenn es galt, weit ge- Konstanzer Historiker und Ka- Augustus schern beschäftigen sich mit der spannte Termine einzuhalten. Uhren mit lender-Experte Arno Borst. zwackte dem Geschichte des Zeitmessers, der Sekundenzeigern sind eine Erfindung des 60 Prozent aller Deutschen wie eine Strickleiter in den 18. Jahrhunderts (siehe Chronik). wollen zu Hause feiern oder Februar einen Brunnen der Vergangenheit gar, wie Buchautor Lothar- Tag ab und führt. Doch der Abstieg ist ge- Günther Buchheim, das Ju- fährlich. Der Kalender, heute biläum verschlafen. Die Reise- hängte ihn an an jedem Kiosk als Leporello branche meldet stornierte Flüge seinen Monat erhältlich, steckt voller Rätsel. und leere Hotels.Auch Kanzler Selbst über die Eckpunkte der Gerhard Schröder mischt sich August Jahreszählung sind sich die Ex- unter die Muffel. Er belässt es perten nicht einig: daheim bei „einem gescheiten Rotwein“ π Seit Isaac Newton debattiert die Zunft (Gattin Doris). über das wahre Geburtsdatum des Mes- Versalzen wird die Stimmung aber auch sias. Astronomen, orientiert am Stern durch Neunmalkluge, die das Freudenfest von Bethlehem, nennen die Jahre 7 oder mit – scheinbar – logischen Argumenten 4 v. Chr., Historiker, gestützt auf die Bi- torpedieren. „Eine kurze mathematische bel, favorisieren 2 v. Chr. Überlegung lässt erkennen, dass alle Welt π Bis heute ist unklar, wann sich in Euro- drauf und dran ist, unser turbulentes Jahr- pa die Datierung „Anno Domini“ („im hundert zu früh zu Grabe zu tragen“, gibt Jahr des Herrn“) durchsetzte. die „FAZ“ zu bedenken.Weil ein Jahr Null π Neuerdings behauptet eine Gruppe von nicht existiere, beginne das neue Millenni- „Chronologierevisionisten“ gar, Fäl- um erst am 1. Januar 2001. scherbanden im Mittelalter hätten zur Solche Argumente machen ihre Rech- Geschichte ganze Epochen dazuerfun- nung allerdings ohne den Wirt. Mit dem ra- den. Der Kalender enthalte etwa 300 tionalen Dezimalsystem steht die moder- Jahre „Phantomzeit“. ne Zeitrechnung nur in lockerem Kontakt. Der Siegeszug der modernen Zeitrech- Ungleich springen die Monate durchs Jahr. nung, so viel ist immerhin gewiss, begann Der Tag hat 24 Stunden, die Minute 60 Se- an einem Oktobertag des Jahres 48 v. Chr. kunden. In der Anzahl der Wochentage Damals lief in Alexandria, der Pharaonen- steckt die magische 7 – eine Erblast der metropole am Nildelta, ein kleines Boot abergläubischen Sternenkundler aus Meso- in den Hafen ein. Kleopatra war Tage zu- potamien. vor vom eigenen Bruder entmachtet wor- Nahezu 5000 Jahre lang hat die Mensch- den. Nun lag sie an Bord des Kahns, ver- heit an dieser Chronologie herumgetüf- steckt in einem eingerollten Teppich, und telt. Ägypter, Inder und Araber hinter- näherte sich dem Königspalast. Dort quar- ließen darin ihre Spuren. Das Ergebnis ist tierte Julius Cäsar. Der Feldherr war nach

T. ERNSTING / BILDERBERG T. ein „ziemlich komisches Ding“, wie Ja- Ägypten geeilt, um den Streit im Pharao- 20 Millionen Jahren kob Messerli vom Uhrenmuseum in Furt- nenstaat zu beenden. Kaum war die man-

der spiegel 52/1999 67 Titel G 46 v. Chr. Große Zeitreform unter um 4 v. Chr. Mutmaßliches G AK

AK 354 n. Chr. Am Hof des Papstes wird Julius Cäsar. In allen römischen Geburtsdatum Jesu Christi. der erste Kalender entwickelt, der Provinzen gilt fortan das ägypti- sich auf die Geburt Jesu bezieht. sche 365-Tage-Jahr mit einem 2. Jahrhundert n. Chr. Schalttag alle 4 Jahre. Hoch entwickelte Kalen- dersysteme der Mayas. 800 n. Chr. Karl der Große gibt 10 v. Chr. Kaiser Augustus weiht in den zwölf Monaten althochdeutsche Rom die größte Sonnenuhr der An- 321 n. Chr. Kaiser Kon- Namen. Die Neuerung scheitert. tike ein. Als Schattenwerfer dient stantin erklärt den Sonn- Büste Julius Cäsars ein über 20 Meter hoher Obelisk. tag zum Ruhetag. Kalender der Maya-Kultur, der das Datum 11. Februar 526 darstellt

deläugige Schöne aus dem Vorleger ge- in Edelstein gefasst waren. Mit kompli- wickelt, verfiel Cäsar ihrem Charme und zierten Sonnenuhren, deren Schattenwer- hob sie erneut auf den Thron. Geschmückt fer auf Halbkugeln saßen, peilten sie den mit Perlenketten, so berichtet der Schrift- Sonnenlauf am Horizont bis auf wenige steller Lucan, „die weißen Brüste von Stoff Bogenminuten genau an. aus Sidon umschmeichelt“, das Haar von Mit solchen Instrumenten gelang dem Rosenblüten umkränzt, becircte sie den Astronomiegenie Hipparch um 130 v. Chr. Fremdling. Livrierte Diener servierten eine rationale Wundertat. Exakt fixierte er „Vögel und Getier“ auf goldenen Platten. die die Äquinoktien am 21. März (Früh- Kristallkrüge mit Nilwasser zum Hände- lingsbeginn) und 23. September (Herbst- waschen wurden gereicht, dazu Wein „in beginn), an denen Tag und Nacht exakt großen juwelenbesetzten Bechern“. gleich lang sind. Dann vermaß er die Dau- Doch Kleopatra hatte mehr zu bieten als er des astronomischen Jahres auf sechs Mi- Erotik und kulinarische Genüsse. Ihr Reich, nuten genau – in Europa gelang dieses das schon damals auf eine 3000-jährige Tra- Kunststück erst Nikolaus Kopernikus. dition zurückblickte, verfügte über ein un- Cäsar zeigte sich beeindruckt. Flugs en- geheures astronomisches Wissen. Nach dem gagierte er die Genies aus Alexandria, um Mahl kam Cäsar mit dem alexandrinischen seinem wachsenden Weltreich einen neuen Gelehrten Acoreus ins Gespräch, „der in Kalender zu geben. Angeführt von dem seinem Leinengewand am obersten Platz Meisterdenker Sosigenes machte sich die lag“ (Lucan). Dieser Mann brachte den Truppe ans Werk. In einem jähen Kraftakt Feldherrn erstmals mit der ägyptischen hievte sie den alten römischen Mond- Zeitrechnung in Kontakt: einem Sonnen- kalender auf die neue Zeitschiene und kalender, eingeteilt in 365 Tage. verzahnte ihn mit der Sonne. 46. v. Chr. Alle anderen Kulturen hatten sich bis da- erlebte Rom das „Jahr der großen Verwir- hin mit dem Mond als Taktgeber zufrieden rung“. Es war 445 Tage lang. Fortan galt gegeben. Ob Chinesen, Germanen oder folgende Regelung: Jedes Jahr hat 365 Tage. Mayas – das gesamte Erdenrund blickte Alle vier Jahre wird ein zusätzlicher zum Nachtgestirn, um lange Zeiträume zu Schalttag eingefügt. eichen. Mond, Messen, Meter, Menstruati- Mehr als nur eine Methode, Tage zu on – in all diesen Begriffen steckt das in- zählen, bildete diese Reform ein Symbol für dogermanische Wort menot („wandern, ab- Cäsars unangefochtene Autorität, aber auch schreiten“). Im Psalm 104 der Bibel heißt es für das Selbstbewusstsein eines Imperiums, über Gott: „Du bist es, der geschaffen den das sich von Britannien bis in den heutigen Mond, dass er messe die Zeiten.“ Iran erstreckte. Legionäre in Trier und Waf- Doch das lunare System hat Schwächen. fenschmiede in Palästina lebten nun im glei- Die Mondphase (Dauer: 29,5 Tage) lässt chen Takt. Die Armee konnte Jahresurlau- sich kaum ins Sonnenjahr (365, 2422 Tage) be organisieren, die Wirtschaft ihre Waren- zwängen. Die Babylonier im Zweistrom- ströme terminieren. Erstmals besaß die land feierten nach 12 Mondmonaten (354 Menschheit ein verlässliches Gitternetz aus Tage) einen 11-tägigen Ausnahmezustand. Tagen und Monaten, das sich nahezu pass- Rom rechnete, vor seinem Aufstieg zur genau in den Lauf der Gestirne einfügte. Weltmacht, mit einem abstrusen 304-Tage- Nur beim Ausgangstermin zeigte sich Kalender. Cäsar ratlos.Wann sollte die Jahreszählung Wie erhaben dagegen bewegte sich der beginnen? Recht schwammig datierten die Solarkalender der Ägypter durch die Jah- Römer ihren Kalender „ab urbe condita“ – reszeiten. Bereits 2750 v. Chr., noch vor von der Gründung Roms an. Wann genau dem Pyramidenbau, wurde das System der legendäre Romulus die Stadt auf den neuesten Forschungen zufolge offiziell im sieben Hügeln errichtet hatte, wusste aller- Pharaonenreich eingeführt. dings niemand. Erst im 1. Jahrhundert kam Am Ende seiner Geschichte, unter den ein Kompromiss zu Stande: Die Gelehrten Ptolomäer-Herrschern, hatte das Nilland einigten sich auf das Jahr, das heute als 753 ein Know-how entwickelt, dass den Ex- Ägyptischer Zeitgott Thot vor Christus bezeichnet wird. perten nahezu unbegreiflich erscheint. Die Ähnliches Tohuwabohu herrschte in an- Astronomen von Alexandria verfügten deren Staaten. Krampfhaft suchten die Kul-

über Wasseruhren, deren Austropflöcher AKG turen nach bedeutungsschwangeren Aus-

68 der spiegel 52/1999 nach 1000 n. Chr. Die christliche Zeit- um 1280 Erfindung der 1335 Erste öf- rechnung setzt sich in Europa auf brei- mechanischen Uhr, wahr- fentliche Uhr mit A ESTENSE ter Front durch. scheinlich durch Mönche Stundenschlag. TEC

in Oberitalien. BIBLIO 1092 Der Chinese Su Song baut einen 10 Mittelalterliche Darstellung Meter hohen Uhrturm. Ein Wasserrad einer Uhrmacherwerkstatt dreht einen 15 Tonnen schweren Himmels- 1284 Die Kathedrale von globus. Doppel- und Viertelstunden wer- Exeter () erhält als 15. Jahrhundert Sanduhren in den Universitäten den durch Töne und Bewegung von Pup- erste Kirche Europas eine bemessen die Vorlesungszeit. Glockenschläge

pen angezeigt. SCIENCE & SOCIETY PIC LIB. Turmuhr mit Räderwerk. regeln die Arbeitszeiten der Handwerker. Modell der Su-Song-Uhr

gangsterminen für ihre Chronologien. Die Mayas verlegten den Ur-Zeitpunkt ins Jahr 3113 v. Chr. In Griechenland diente die erste Olympiade (776 v. Chr.) als Startmar- ke. Die Sumerer und Ägypter verzichteten ganz auf einen Anfangspunkt. Sie datierten ihre Urkunden einfach nach den Regie- rungsjahren des jeweiligen Herrschers. Dann jedoch betrat jene Gestalt die Sze- ne, die bis heute die christliche Zeitrech- nung eicht. Dem Evangelisten Johannes zufolge – nur er erzählt die Weihnachtsge- schichte – vollzog sich die Fleischwerdung Gottes zwischen Kühen und Schafen im Stall von Bethlehem. Etwa 30 Jahre später verschied Jesus Christus im römisch be- setzten Jerusalem am Kreuz. Das Vermächtnis dieses Mannes – mög- licherweise ein uneheliches Kind – zog bald Scharen von Gläubigen an.Vor allem in Sy- rien,Ägypten und Palästina, alles römische

Provinzen, fiel die Lehre auf fruchtbaren CINETEXT Boden. Gnadenlos wurden die Sektierer Apokalypse im Film*: Nach einer 1000-jährigen Friedenszeit folgt das Jüngste Gericht verfolgt und gekreuzigt. Doch die messia- nische Religion ließ sich nicht stoppen. ronymus (347 bis 419), Schöpfer der latei- All diese Überlegungen fanden in einer Den Jüngern des Kreuzes galt das heid- nischen Bibelübersetzung („Vulgata“), äußerst bedrohlichen Umgebung statt. Das nische Rom als große Hure Babylon, ein korrigiert den Schöpfungstermin auf 5198 Römische Imperium knirschte an allen Reich, das sich in Gladiatorenkämpfen und Jahre vor Christus. Victorius von Aquita- Grenzen. Zornige Balkan-Völker stießen Vielgötterei suhlte. Mit Jesus aber, so ihre nien wusste es noch genauer: Sein Datum bis nach Italien vor, die ersten Germanen- Vorstellung, war eine prinzipiell neue Ära für den biblischen Big Bang: 25. März 5201. stämme tauchten vor den Toren Roms auf. angebrochen. „Die Vertreter Zugleich wollten die „Com- In dieser dunklen Zeit lebte auch der des frühen Christentums such- putisten“ genannten Urknall- Schöpfer der christlichen Zeitrechnung. ten nach einem sinnvollen Ur- Christliche Mathematiker wissen, wann die Erst im letzten Jahr hat der Historiker sprungsereignis“, sagt der His- Heilsgeschichte ende. Der Pro- Borst den wahren Urheber wieder ent- toriker Borst, „sie wollten ei- Gelehrte phet Johannes hatte das „Jüngs- deckt. 354 n. Chr. schrieb Philocalus, ein nen absoluten Anfangspunkt berechneten: te Gericht“ zwar vorausgesagt, päpstlicher Hofschreiber, einen Kalender, finden.“ einen Termin aber nannte er der die Geburt Christi erstmals mit der Einen ersten Versuch unter- Gott schuf die nicht. Doch auch hier ging den herrschenden römischen Zeitrechnung ver- nahm der in Jerusalem gebore- Welt am Rechnern die Arbeit nach ge- kettet. Ihm zufolge kam die Jungfrau Ma- ne Julius Africanus. Angestellt wohntem Schema schnell von ria im 30. Regierungsjahr des Augustus nie- in der Pantheon-Bibliothek 25. März 5201 der Hand.Wenn Gott sein Groß- der, 753 Jahre nach der Gründung Roms. von Rom, verfasste er um 217 vor Christus werk um 5200 v. Chr. begonnen Zu einer Zeitreform, wie der kraftstrot- n. Chr. eine „Weltchronik“. hatte, musste der 6. Schöpfungs- zende Cäsar sie durchgezogen hatte, war Darin macht der Gelehrte eine tag im Jahr 800 n. Chr. enden. das wackelnde Großreich jedoch nicht verblüffende Rechnung auf: Der Bibel zu- Den Rest stoppelten sich die Leute frei mehr fähig. Im Jahr 321 führte Kaiser Kon- folge schuf Gott die Welt in sechs Tagen.An nach Johannes zusammen. Mit Beginn des stantin zwar den arbeitsfreien Sonntag ein anderer Stelle heißt es, vor Gott seien 1000 7. Weltentags, an dem Gott eine Ruhepau- und erklärte Weihnachten zum staatlichen Jahre wie ein Tag. Demnach, folgerte Ju- se einlegte, werde Satan von den Engeln an Feiertag. Doch dann setzte sich der Herr- lius, habe der Schöpfungsprozess 6000 Jah- die Kette gelegt. Für die Menschheit breche scher Richtung Byzanz ab. Die Stadt am re gedauert. Die Geburt des Erlösers ver- ein „1000-jähriges Friedensreich“ an. Dann, Tiber war ihm zu unruhig geworden. legte er in die Mitte des 6. Schöpfungsta- bei Anbruch des 8. Weltentags, also 1800 Bedrängt von raubeinigen Germanen, ges, also 5500 nach Schöpfung. n. Chr., folge das Jüngste Gericht – und da- krachte das Westreich bald vollständig zu- Das war zwar nur papierene Logik, mit das Ende der Welt. Deshalb die liegen- sammen. 493 kam der Ostgote Theoderich doch die Kollegen zeigten sich angetan. de 8 als Zeichen für die Unendlichkeit. anmarschiert, bekannt als Dietrich von Bald schoben die Frühchristen detaillier- Bern aus dem Nibelungenlied. Der Mann tere Rechnungen nach. Der heilige Hie- * Szene aus „Deep Impact“ (1998). war Analphabet. Kurz danach entwickelte

der spiegel 52/1999 69 Titel

1509 Peter Henlein fertigt in 1582 Kalenderreform unter 1777 Jean Moise Pouzait baut Nürnberg tragbare Uhren. Papst Gregor XIII. Im Kalender Uhren mit Sekundenanzeiger. werden zehn Tage (5. bis 14. 1543 Nikolaus Kopernikus Oktober) übersprungen. Im 1793 Frankreich führt einen Revo- berechnet die Länge des protestantischen Teil Deutsch- lutionskalender auf Dezimalbasis

Sonnenjahrs. Das Ergebnis lands stößt die Reform auf er- G ein, in dem alle christlichen Feierta- AK weicht nur um 43 Sekunden bitterten Widerstand. Nikolaus Kopernikus ge abgeschafft sind. Die Woche hat von der realen Dauer ab. ALER UHRENMUSEUM T 10 Tage, die Stunde 100 Minuten. Um 1770 Gerichte in den Niederlanden versehen Nach 13 Jahren wird das Experi-

„Nürnberger Ei“ WUPPER ihre Folterprotokolle mit Minutenangaben. ment unter Napoleon beendet.

der Skythe Dionysius Exiguus in Rom zwar antiken Sternenkatalogen und tippte auf leuchtenden Digitaluhren, bewegt er sich erneut eine Termintafel, die nach Christus den 21. März, der Westen versteifte sich sicher auf der Zeitachse. Doch stehen die zählte. Nur: Welches Staatswesen hätte sie auf den 25. März. Zeiger still, verliert der Mensch schnell die in Kraft setzen sollen? Rom war zur Ruine Mit diesem Wirrwarr fiel Europa in einen Orientierung. Er hat Augen und Ohren – verkommen, ausgebrannt, geplündert. archaischen Urzustand zurück, der für den ein verlässliches Sinnesorgan zur Wahr- Unter den Hammerschlägen der Banau- Bürger der Gegenwart kaum nachvoll- nehmung der Zeit aber fehlt ihm. sen aus dem Norden ging nahezu das ge- ziehbar ist. Umstellt von Weckdiensten und Eindrucksvoll zeigen Experimente, wie samte astronomische Wissen der Antike schwammig das subjektive Zeitempfinden verloren, Arithmetik-Bücher und natur- ist. US-Studenten wurden mit einem nach- kundliche Werke wurden ein Raub der gestellten Verbrechen konfrontiert, das sich Flammen. Europa verfiel in einen geisti- über 34 Sekunden erstreckte. Den Pro- gen Tiefschlaf, aus dem es fast 1000 Jahre banden erschien die Aktion viel länger. Sie lang nicht erwachte. tippten im Schnitt auf eine Dauer von 81 Die frühen Kirchenväter störte das kaum. Sekunden. Ähnliche Dehn-Effekte stellen Von Sternenkunde und direkter Himmels- sich bei höchster Anspannung ein. Jimmy beobachtung hielten sie nichts. Mit plumpen Connors etwa fühlte sich beim Tennisspiel Sonnenuhren maßen die Kuttenträger die zuweilen in eine Art Slow-Motion-Welt Zeit, manche Klöster orientierten ihr Tag- versetzt: „Der Ball wirkte riesig, als schwe- werk grob an Gebäudeschatten. Die Bauern be er in Zeitlupe übers Netz.“

Europas machten es ihnen nach. Im Som- IFTN Sinkt die Reizung der Sinne unters „op- mer rackerten sie von morgens bis abends. Zukunftsreise im Film* timale Erregungsniveau“ (vulgo: Lange- Im Winter lagen sie 14 Stunden im Bett. „Zeit ist das Feuer, in dem wir brennen“ weile), scheint die Uhr dagegen zu schlei- Einige Mönche betrieben zwar klamm- chen. Das pathologische Extrem dieser heimlich Astronomie. Doch sie mussten auf Empfindung ist die Depression. Schwer- der Hut sein. Wer die Zeit in Stücke zer- mütige fühlen sich in der Zeit wie einge- hackt, so lautete das Motto der frühen froren. Die Sekunden ziehen sich ereignis- Bischöfe und Patriarchen, der verletze die los ins Unendliche. Ewigkeit. Bereits im Jahr 404 hatte der hei- Wenn die Sonne als großes Metronom lige Augustinus (Wohnsitz: bei Karthago) am Himmel verschwindet, ist es mit der seinen Glaubensbrüdern zugedonnert, Orientierung gänzlich vorbei. Vor einigen Zeitrechnerei sei ein niederes Gewerbe. Jahren begab sich der Geologe Michel Gott, wetterte er in einem Brief, „wollte Siffre ohne Uhr in eine 115 Meter tiefe Christen schaffen, keine Mathematiker“. Gletscherhöhle. Anfangs orientierte sich Die Folgen dieser Gesinnung ließen der Franzose am Hungergefühl und an sei- nicht lange auf sich warten. „Um 500 brach nem Schlafrhythmus. Doch bald hatte er die Vernetzung der historischen Ereignisse jedes Zeitgefühl verloren: Nach zwei Mo- zusammen“, erklärt Borst. Herrscher wie naten brachen die oberirdischen Kontrol- die Merowinger datierten ihre Urkunden leure das Experiment ab. Nach Siffres Zäh- nach den eigenen Regierungsjahren, die lung waren da erst 34 Tage vergangen. Chronisten in den Klöstern griffen auf un- Die Verwirrung, die der Höhlenforscher terschiedliche lokale Ereignisse zurück. durchlebte, kann als Symbol für den Zeit- Niemand zählte mehr, wie viele Jahre seit brei stehen, in dem die Menschen des Mit- der Herrschaft des Augustus oder des Kai- telalters lebten. Ganze Heere von Me- sers Diokletian vergangen waren. diävisten sind damit beschäftigt, jene Die Konfusion war so groß, dass die dunkle Zeitspanne zwischen 400 und 1000 Christenheit zwischen Britannien und By- zu ordnen, in der „die Zeit still stand“ (der zanz nicht einmal den Oster-Termin er- US-Kalenderexperte David Duncan). mitteln konnte. Am ersten Sonntag nach Chroniken zufolge wurde Europa damals Frühlingsvollmond sollte die Auferstehung von Hunnenstürmen und Wikingereinfäl- des Herrn gefeiert werden, so hatte es die len geplagt. Gleichzeitig formierten sich Konferenz von Nicäa (in der heutigen Tür- Araber unter der Fahne Mohammeds und kei) im Jahr 325 beschlossen. Doch wann stürmten bis nach Spanien. Zu ermitteln, begann der Lenz? Die Ostkirche kramte in wann sich diese Vorfälle ereigneten, berei-

SCALA tet oft großes Kopfzerbrechen. * Oben: Szene aus „Die Zeitmaschine“ nach H. G.Wells; Kirchenvater Augustinus* Erschwert wird die Arbeit durch Berge unten: Gemälde von Sandro Botticelli (1444 bis 1510). „Gott wollte keine Mathematiker“ von getürkten Dokumenten aus dem 11.

70 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel

1929 bis 1931 Großes Zeit- um 1800 Britische Pferde- 1916 Deutschland führt erst- DHM rennen werden mit Stopp- mals die Sommerzeit ein. experiment in der Sowjetuni- uhren gemessen. on unter Stalin. Die 7-Tage- 1923 Griechenland passt Woche wird abgeschafft. Alle sich als letztes europäisches 19. Jahrhundert Stempel- Werktätigen gliedern sich in STEIN BILDERDIENST Land dem Gregorianischen

uhren in den Fabriken wa- ULL Gruppen, die – fortlaufend ge- Kalender an. Bei der Umstel- chen über den Arbeitstakt. staffelt – jeweils am fünften Stempeluhr in lung müssen 13 Tage über- Tag freihaben. Das System tschechoslowa- sprungen werden. 1884 Einteilung der Welt in kischer Schuh- Josef Stalin führt zu einem Organisations- verbindliche Zeitzonen. fabrik 1932 1928 Erste präzise Quarzuhr. chaos in den Betrieben.

und 12. Jahrhundert. Phantasiebegabte Kle- „1000-jährige Friedensreich“ beginnen. Zu- 4. Jahr einen Schalttag ein (das Jahr dau- riker erstellten rückdatierte Urkunden, sie fall? Illig hat eine radikalere Erklärung pa- erte folglich im Durchschnitt 365,25 Tage). fälschten kaiserliche Unterschriften und rat: „Der Mann hat nie gelebt.“ Das Sonnenjahr dauert aber nur 365,2422 statteten die Falsifikate mit Phantasiedaten Mit derlei abenteuerlichen Theorien Tage. Die Differenz – 11 Minuten und 14 aus. Originaldokumente aus der Zeit sind steht Illig allein. Lehrreich sind sie nur des- Sekunden – klingt nach Peanuts. In Wahr- nur spärlich erhalten. halb, weil sie zeigen, wie spärlich die Do- heit hatte der römische Regent nach sei- Um den Überblick zu behalten, klam- kumente aus der dunklen Epoche sind. Vor nem Techtelmechtel mit Kleopatra eine mert sich die Zunft an den angelsächsi- allem auf archäologischem Gebiet mangelt Zeitbombe scharf gemacht, die erst an der schen Mönch Beda (672 bis 735), der jäh es an Relikten. In Aachen, Karls Residenz, Schwelle zur Neuzeit explodierte. aus dem Zeitsumpf auftaucht. Er datiert konnte nicht ein einziger karo- Jedes Jahr rückte der astro- seine „Kirchengeschichte des englischen lingischer Mauerrest freigelegt nomische Frühlingsanfang im Volks“ ins Jahr 731 und verzahnt diesen werden. Adelshöfe, Kirchen, Haben Mönche Kalender um 11 Minuten in Termin mit weiteren Daten aus Britanniens Handwerkerhäuser sollen in Richtung Winter. Nach 128 Jah- früher Geschichte. Von diesem Orientie- der prunkvollen Hauptstadt ge- im Mittelalter ren war er schon um einen vol- rungspflock hangeln sich die Forscher dann standen haben. Doch wo sind an der Zeit- len Tag zurückgefallen. „Eine weiter zu Karl dem Großen (gestorben die Spuren? „Alle bisherigen winzige Ungenauigkeit“, so 814), dessen Kanzlisten die christliche Aussagen zu Straßensystem, uhr gedreht Borst, „summierte sich langsam Chronologie zumindest bei der Datierung Siedlungsstruktur und Grenzen und 297 Jahre zu einem Riesenproblem.“ kaiserlicher Urkunden übernahmen. dieser Siedlung beruhen allein Die Mönche im frühen Mit- In dieser Dunkelzone haben sich die auf Schriftquellen und theore- Geschichte telalter, sternenunkundig wie sie „Phantomzeit“-Anhänger um den Münch- tischen Überlegungen“, gibt der erfunden? waren, merkten die Verschie- ner Kulturhistoriker Heribert Illig einge- Architekturhistoriker Matthias bung anfangs überhaupt nicht. nistet. Mit gezielten Hieben suchen sie das Untermann zu. Sie türmten scholastische Theo- gesamte Chronologie-Gebäude der Ge- Seit Jahren wogt der Streit mit dem rien auf, hohle Gottesbeweise und Glau- schichtswissenschaft zum Einsturz zu Querdenker Illig.Während der „Fantomas“ bensformeln. Die Natur im Experiment zu bringen. Illigs Kernthese: 297 Jahre der aus München munter spekuliert, plagt sich beobachten, auf diese Idee kam kaum einer. Zeitrechnung (die Spanne von 614 bis 911 die Mehrheit der Forscher mit der alther- Das in Bagdad entwickelte „Astrolab“, ein n. Chr.) haben nie existiert. gebrachten Messlatte. Unbestritten ist, dass Winkelrad, mit dem die Äquinoktie gemes- Vor allem hat er es auf den „Urvater der Kalender über 1600 Jahre humpelte. sen werden kann, galt in Europa lange als des christlichen Abendlandes“ abgesehen. Zwischen Cäsar und Kopernikus war die Teufelswerk. Am 25. Dezember 800, so steht es in Ge- Chronologie von einem schleichenden Dann, 1267, trat Roger Bacon an. Dieser schichtsbüchern, ließ sich Karl der Große Virus befallen. Franziskanermönch hatte sich ein Astro- in Rom zum Kaiser krönen. Exakt mit die- Das kam so: Cäsars Kalenderreform, so lab besorgt.Aufgeregt schickte er eine Ab- sem Datum, so hatten es die frühen End- genial sie anmutet, hatte einen Haken. Das handlung an den Lateranpalast. Sein Fazit: zeit-Computisten vorhergesagt, werde das System schob in den 365-Tage-Zyklus jedes Ohne Kalenderkorrektur werde das Oster- fest bald im tiefsten Winter stattfinden. Doch der Vatikan stellte sich taub. Ba- con, der später als „doctor mirabilis“ (be- wundernswerter Lehrer) in die Geschich- te einging, wurde unter Arrest gestellt: „Meine Prinzipalen und meine Brüder be- straften mich mit Nahrungsentzug und hielten mich unter strenger Bewachung.“ Vom Katheder aus ließ sich das Problem indes nicht wegeskamotieren. Während in Europa die ersten mechanisch ausgelösten Glockenschläge ein neues Zeitalter ein- läuteten, knirschte es im Makrokosmos. Der Himmel lief aus dem Ruder. Der Chris- tenkalender war astronomisch falsch ge- eicht. Er hatte zu viel Schalttage. Erst im 16. Jahrhundert zog Papst Gregor XIII. die Notbremse. Eine Fachtruppe, an- geführt von dem bayerischen Jesuiten Chris-

SCALA toph Clavius, sollte den Missstand beheben. Gregorianische Kalenderkommission (Gemälde von 1582): „Widerwärtiger Irrtum“ Am 4. Oktober 1582 schlug die Kurie zu. Die

72 der spiegel 52/1999 Titel

1947 Der US- 1954 UNO-Vorstoß für 1967 Beginn der Atomzeit: Die Chemiker Willard eine Kalenderreform: Sekunde wird über das Licht an- Frank Libby ent- Ziel sind gleich lange geregter Cäsium-Atome definiert X wickelt die Radio- Quartale und ein Fe- (1 Sekunde entspricht STUDIO karbonmethode bruar mit 30 Tagen. 9192 631770 Schwingungen). / (C-14) zur Mes- Eine Mehrheit der Voll-

sung sehr großer versammlung lehnt 1999 Mit Hilfe des Hubble- GAMMA zurückliegender den Vorschlag ab. Teleskops wird das Alter des Tod eines Sterns Universums auf etwa 13 Mil- (Hubble-Aufnahme) Zeiträume. SA

Hubble-Teleskop NA liarden Jahre datiert. folgenden zehn Tage (vom 5. Oktober bis 14. nach Medina) datieren ihre Handelsströme Rest der Welt zu begrüßen. Die Fidschi- Oktober) wurden übersprungen. Mit einem nach der Geburt Jesu. Inseln konterten mit der Einführung der Riesensatz war der davoneilende Kalender Wie viele Abgründe und Absurditäten Sommerzeit und planen nun ein „Festi- wieder eingeholt. Für die Zukunft ordnete dieser Kalender in sich birgt, wie „lang val des Ersten Lichts“. Dann beulte der der Vatikan an: Die Jahre 1700, 1800 und und steinig“ (Duncan) sein Siegeszug war, Inselstaat Kiribati die Linie zwischen 1900 fallen als Schaltjahre aus. ist dabei den wenigsten bekannt. Für die Heute und Gestern nach Osten aus und Ein Gemälde, das heute in Siena hängt, trunkene Silvesterschar, die in der kom- taufte das nächstliegende Atoll „Millen- hat den großen Augenblick festgehalten. menden Freitagnacht den Erdball erschüt- nium“. Gregor, damals 80 Jahre alt, tern wird, ist Nullenfieber an- Dort, im fernen Pazifik, finden sich auch sitzt in vollem Ornat auf dem gesagt, Knallbumm und gute die wahren Propheten der Zukunft ein. Thron. Um ihn scharen sich die Ein Inselstaat Laune. Der Computer-Tycoon Bill Gates hat auf Mitglieder der Kalenderkom- Hamburger Metzger offerie- den Fidschis 1000 Betten gebucht. Pop-Ho- mission, einige mit fließenden im Pazifik ren Millenniumswürste, die bri- munkulus Michael Jackson zelebriert den Roben und breitkrempigen beulte die tische Post Millenniums-Brief- Jahrtausend-Ausstieg in Honolulu. Hüten. Auf dem Tisch liegen marken. Der Luxusliner „Euro- Bei solch einer Parade an Höchstleistun- Bücher und astronomische Grenze pa“ schaukelt seine Passagiere gen mag die Pornoindustrie nicht hint- Geräte. Der Wortführer bewegt zwischen für 36000 Mark durch die Zeit- anstehen. Sie hat für den jüngsten Tag einen mit der linken Hand einen Him- zonen der Südsee. Die Rock- Orgasmus-Rekord mit der US-Darstellerin melsglobus. Seine Rechte zeigt Heute und Gruppe Pink Floyd wird die Py- Sabrina Johnson angekündigt. 2000 Männer auf das Bild mit dem Tierkreis. Gestern aus ramiden mit „Dark side of the will die Frau in 24 Stunden befriedigen; die So sinnvoll die Zeitraff-Ak- moon“ beschallen. Den Dalai alte Bestmarke steht bei 742. tion war, sie stieß auf breiten Lama treibt es auf eine Dance- Wer angesichts solcher Aussichten ver- Protest. „Ich beiße die Zähne zusammen, floor-Veranstaltung nach Kapstadt. Ein- zagt, dem bietet die Nordelbische Kirche aber mein Verstand ist immer zehn Tage zu schätzung eines ARD-Kommentators: „Die einen „Segenskoffer“ an. Der Survival Set früh“, maulte der Philosoph Montaigne. Welt dreht durch.“ enthält Kerze und Holzkreuz, einen Bron- Praktischere Beschwerden kamen von See- Vor allem an der Datumsgrenze am zeengel sowie Sonnenblumenkerne als leuten,Webern und Schmieden, die in dem 180sten Längengrad herrscht ein schlim- „Zeichen der Hoffnung“. Rumpfmonat weniger Lohn erhielten. Das mes Gerangel. Winzige Pazifikstaaten Also: Bange machen gilt nicht. Mit protestantische Europa lehnte den Da- streiten darüber, wer als Erster die Ziel- Feuerwerk und lautem Jubel begrüßt tumswechsel rundweg ab. „Wir kennen linie 2000 überquert: Erst gab sich Tonga das Abendland das neue Jahrtausend – diesen Lycurgus“, wetterte ein Tübinger eine eigene Ortszeit, 13 Stunden vor wie jemand, der im dunklen Keller Theologe gegen den Papst. Das ganze Greenwich, um das Millennium vor dem pfeift. Matthias Schulz Unternehmen sei ein „abscheulicher und widerwärtiger Irrtum“, ausgedacht vom „römischen Antichrist“. Auch Reformchef Clavius erntete Hohn. Der Mann, dem zu Ehren heute ein Mond- krater benannt ist, wurde als „deutscher Fettwanst“ beschimpft. Seine Landsleute mussten die Suppe auslöffeln: Wer am 1. Ja- nuar im katholischen Regensburg ins be- nachbarte (lutherische) Nürnberg fuhr, kam dort am 21. Dezember an. Nahezu 200 Jahre dauerte es, ehe das zeitgespaltene Deutschland vollständig zu Gregor wechselte. Japan folgte 1873, Rumänien und Jugoslawien erst nach dem Ersten Weltkrieg. Die Kirchen von Jerusalem, Russland und Serbien sowie die Klöster auf dem Berg Athos in Grie- chenland verweigern sich der Gregor-Re- form bis heute. Dennoch hat der Heilige Stuhl letztlich gesiegt. Selbst Israel (das sich im Jahr 5760

nach Schöpfung befindet) und der arabi- AP sche Raum (1420 nach Mohammeds Auszug Millennium-Lasershow in Berlin (Computer-Simulation): „Die Welt dreht durch“

der spiegel 52/1999 73 Werbeseite

Werbeseite Deutschland ANDY WARHOL / FOUNDATION OF VISUAL ARTS OF VISUAL / FOUNDATION WARHOL ANDY CORBIS Einstein Goethe Die Helden der Deutschen Wissenschaftler haben nach Meinung der Bundesbürger die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten am meisten vorangebracht.

s komme nicht darauf an, die Welt zu „Einheitskanzler“, OTTO VON BISMARCK „interpretieren“, schrieb KARL MARX und HELMUT KOHL, marschieren mit. im Jahre 1845: „Es kömmt darauf an, Eine Hitliste, die ihre Reize und Rei- Esie zu verändern.“ Nun liegt er, ab- zungen hat, ein historisches Panorama, geschlagen, aber immerhin, auf Platz 13 das Friedrich Nietzsches Satz widerlegt: der Liste jener Deutschen, die nach einer „Die Deutschen sind noch nichts, aber repräsentativen Umfrage von Emnid für sie werden etwas.“ Sie hatten Zeichen den SPIEGEL den „bedeutendsten Bei- gesetzt und Wege gewiesen, den Himmel trag zur Entwicklung der Menschheit“ erbracht haben.

Unangefochten an der Spitze der BPK deutschen Helden steht ALBERT EIN- Bismarck STEIN; einer, der die Welt veränderte, in- dem er die Physik revolutionierte und damit auch die Voraussetzungen für den Atombombenbau schuf. Der kosmo- logische Umstürzler NIKOLAUS KOPER- NIKUS ist beim Ranking dabei, ebenso der Vater der ersten Medien-Revolution, der Buchdrucker JOHANNES GUTEN- BERG. MARTIN LUTHER, JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, ALBERT SCHWEITZER ha- ben ihren Platz im Herzen der Deut- schen, einer der Wissenschaftspioniere

ging sogar in ihren Sprachschatz ein ( li.); AKG FOTOS: BPK (re.) („Ich werde geröntgt“). Zwei massige Beethoven (Skulptur von Max Klinger), Koch 75 Deutschland Deutsche Größen Welcher Deutsche der vergangenen Die Helden der Deutschen Jahrhunderte hat, Ihrer Meinung nach, den bedeutendsten Beitrag zur Ent- aufgerissen und die Welt verändert, und Im Jahr 1543, drei Jahre vor Luthers wicklung der Menschheit erbracht? Einfälle und Zufälle haben ihnen dabei Tod, erschien in Nürnberg ein Buch, das Albert Einstein 24 geholfen. mehr als sieben Siegel sprengte: Es revo- Physiker Am Anfang war das Wort, und das lutionierte das Weltbild des Menschen, Wilhelm Conrad Röntgen war ungedruckt. Mehr als das Gold habe seine Kosmologie. Das Buch eines gewis- Entdecker der Röntgenstrahlen 12 das Blei die Welt verändert, schrieb Ge- sen KOPERNIKUS hieß „Von den Umdre- Robert Koch Bakteriologe, Arzt, Entdecker 11 org Christoph Lichtenberg: „Und mehr hungen der Himmelssphären“, und es des Tuberkelbazillus als das Blei in der Flinte das Blei im postulierte: Nicht die Erde stehe im Mit- Albert Schweitzer Setzkasten.“ Das Jahr 1440 gilt für das telpunkt des Weltalls und alles kreise um Arzt, Theologe 10 Abendland als das Geburtsjahr des sie; vielmehr lenke „die Sonne, auf dem Johannes Gutenberg Buchdrucks, und einem Johannes Gens- königlichen Throne sitzend, die sie um- Erfinder des Buchdrucks 7 fleisch zur Laden, der sich später Guten- kreisende Familie der Gestirne“. Martin Luther berg nannte, kommt das Verdienst zu, Die kopernikanische Wende, die Ablö- Reformator 7 den Druck mit beweglichen Lettern er- sung des geozentrischen Weltbildes durch Max Planck funden zu haben. das heliozentrische: Luther blieb bibel- Physiker 4 Drei Jahre brauchte bis dahin ein fest beim alten All, Sigmund Freud sah in Mönch, um handschriftlich eine einzige der Wende eine der „schweren Kränkun- Helmut Kohl Einheitskanzler 4 Bibel herzustellen. Im gleichen Zeitraum gen“ des Menschen, und Nietzsche klag- produzierten Gutenberg und seine Helfer Johann Wolfgang v. Goethe 3 180 Bibeln, 40 davon auf Pergament, 140 Dichter auf Papier. Pergament wurde aus Tier- Otto von Bismarck 3 haut hergestellt, und für die Pergament- Reichsgründer Nikolaus Kopernikus Edition mussten rund 5000 Kälber ihr Emnid-Umfrage für den Astronom, Begründer des 2 SPIEGEL vom 10. und 11. Leder lassen. heliozentrischen Weltbildes Dezember; rund 1000 Seine eigene Biografie hat Guten- Ludwig van Beethoven Befragte; Angaben in 2 Prozent; an 100 fehlende berg, ein Handwerksmeister aus Komponist Prozent: andere oder weiß nicht Mainz, nie aufgeschrieben und ge- Karl Marx druckt. Den schönsten Nachruf hielt Philosoph und Nationalökonom 2 ihm, vier Jahrhunderte später, der französische Schriftsteller Victor Hugo: „Die Erfindung der Buch- druckerkunst war das größte Ereig- nis der Weltgeschichte.“ Eine Medienrevolution jedenfalls, die andere Revolutionen nach sich zog. LUTHER wusste, wovon er sprach. Für ihn war die „Truckerey“ das „summum et postremum donum“, das höchste und äußerste Geschenk, „durch welches Gott die Sache des Evan- geliums“ weitertreibe, nämlich den Kampf gegen das korrupte Rom und den Sieg der Reformation. Gedruckte Pamphlete und Flugblätter Kopernikus entfesselten einen Medienkrieg, der auch die Massen bewegte. Und als Luther dar- te: „Seit Kopernikus rollt der Mensch aus

an ging, nach einem guten dutzend deut- dem Zentrum ins X“ – ins Unbekannte, FOTOS: BPK (li. + re.) scher Bibel-Übersetzungen vor ihm, die Unbestimmte, zur Randexistenz des Uni- Schweitzer Heilige Schrift erneut ins geliebte versums, dessen Krone der Schöpfung er Deutsch zu übertragen, schuf er ein vormals gewesen war. Buch, das weit über den religiösen Be- Kopernikus, sein Buch erschien kurz reich hinaus exemplarische Bedeutung vor seinem Tod, hatte für seinen Coup bekam: für die Entwicklung des Hoch- aus antiker Quelle geschöpft: Aristarch deutschen als der gemeinsamen Sprache von Samos (etwa 310 bis 230 vor Chri- der Deutschen. stus) lehrte schon die Bewegung der Erde Wortgewaltig war er, der Doktor Lu- um das Zentralfeuer Sonne. ther, wortschöpferisch auch. Seine Krea- Zweihundert Jahre später ist der Him- tionen leben fort bis auf den heutigen Tag mel klarer, die Aufklärung bringt den und bringen die Sprache zum Leuchten. „Ausgang des Menschen aus seiner selbst „Herzenslust“, „Feuereifer“, „Denkzet- verschuldeten Unmündigkeit“ (Imma- tel“ stammen von ihm, und ohne Luther- nuel Kant), die Wissenschaften spannen Redewendungen kommt keiner aus: „Im die Flügel, ein geistiges Leben ohne Dunkeln tappen“, „Seine Hände in Un- Bücher ist nicht mehr denkbar. Neue

schuld waschen“, „Der Dorn im Auge“ Deutsche, die zur „Entwicklung der M. EBNER / MELDEPRESS und auch „Ein Buch mit sieben Siegeln“. Menschheit“ beitragen, betreten die Kohl

76 der spiegel 52/1999 Zwei Klassiker, die der ganzen Welt Vorstellungen werden aufgelöst“, „alles gehören. MARX, zehn Jahre nach „Faust“ Heilige wird entweiht“, „planmäßige und „Pastorale“ geboren, wurde zu ei- Ausbeutung der Erde“, „Verschlingung nem Klassiker, der die Welt erschütterte. aller Völker in das Netz des Weltmark- Er zitiert in einem Brief an seinen Kom- tes“. Ein Planet wird planiert. pagnon und Mäzen Friedrich Engels den Drei Jahre älter als Marx war ein „Faust“, leicht abgewandelt: „Grau, teu- Mann, der Revolutionen fürchtete, Sozia- rer Freund, ist alle Theorie, und nur das listen verfolgte, Junkertum und Monar- Business ist grün.“ chie verherrlichte, „Blut und Eisen“ im Der einzige Journalist, dem post mor- Vokabular führte. Und der dennoch, als tem eine Weltkirche errichtet wurde, zog junger Ehemann, sehnsuchtsvoll nach zeitlebens mit einem Klingelbeutel um- „Wald, See, Wiese“ verlangte, „alles mit her: Marx schrieb eine klassische Theorie Sonnenuntergang und beethovenscher des Geldes, aber mit Geld umgehen Symphonie vermischt“: BISMARCK, der konnte er nicht. Er machte sich auf, „das „Eiserne Kanzler“, Gründer des „Deut- ökonomische Bewegungsgesetz der mo- schen Reiches“ von 1871. dernen Gesellschaft zu enthüllen“, saß Über Bismarck, über seine „Politik als selbst jedoch fest auf Schulden. „Ein hal- Kunst des Möglichen“ teilen sich die bes Jahrhundert auf dem Rücken“, klagte Geister. Zur „Entwicklung der Mensch- er im Jahr 1868, „und immer noch ein heit“ hat er außer der Epoche machen-

FOTOS: AKG FOTOS: Pauper“, ein Armer. Ein Asylant war er den Sozialversicherung für Arbeiter eher Luther dazu, seit 20 Jahren politischer Flüchtling Zwiespältig-Preußisches beigetragen und das Bild des Pickelhauben-Deut- schen für die Welt geprägt. Als er, grol- lend im erzwungenen Ruhestand in Frie- drichsruh, dem Tod die Hand reichte, pfiff er nicht Beethovens „Pastorale“, sondern „La donna è mobile“, die Lieb- lingsarie seiner Tochter. „Wenn die Reichen sich abwenden von der Not der Armen, triumphieren die Mi- kroben“: Am 24. März 1882 gab der Me- diziner ROBERT KOCH in der Berliner Physiologischen Gesellschaft eine Sensa- tion bekannt, die Entdeckung des Erre- gers einer Weltseuche, der Tuberkulose. Dank einer neuen Färbemethode hatte er den Bazillus unterm Mikroskop dingfest gemacht, Diagnostik, Therapie und Bekämpfung der Tuberkulose konnten beginnen. 1905 erhielt Koch den Nobel- preis. Nobelpreisträger war seit 1901 auch der deutsche Physiker WILHELM CONRAD RÖNTGEN. Bei der Untersuchung von Ka- todenstrahlen hatte er entdeckt, dass die- se Karton, Holz, Glas leicht durchdran- Röntgen Marx gen, Fluoreszenz-Schirme zum Leuchten brachten und fotografische Platten belich- Bühne, GOETHE und LUDWIG VAN BEET- in London, und der mittlerweile vollen- teten. Höhepunkt seiner Untersuchungen HOVEN stehen auf der Liste. dete erste Band des „Kapitals“ erschien war am 22. Dezember 1895 die „Durch- Das Jahr 1808 wird ein Höhepunkt für in einer Auflage von 1000 Stück; die hielt leuchtung“ einer Hand seiner Frau. Der beide. Goethe veröffentlicht seinen fünf Jahre lang vor. Mensch war durchsichtig geworden. „Faust I“, Beethoven seine sechste Sym- Die Weltkirche des Marxismus ist zu- Nobelpreisträger, so zeigt die Hitliste, phonie, die „Pastorale“. „Vom Eise be- sammengebrochen. Aber das Zentral- sind die wahren Helden der Deutschen. freit sind Strom und Bäche“, spricht pamphlet der Dioskuren Marx-Engels, 1918 erhielt den Preis der Physiker MAX Faust bei seinem „Osterspaziergang“. Ein das „Kommunistische Manifest“, ist ein PLANCK für seine Quantentheorie, 1921 „Pastorale“-Satz trägt den Titel: „Erwa- Klassiker geblieben. Ein „Meisterwerk Einstein. Und 1952 ging der Friedens- chen fröhlicher Empfindungen bei der politischer Rhetorik“ heißt es der italie- nobelpreis an den Mediziner, Musiker Ankunft auf dem Lande.“ nische Semiotikprofessor Umberto Eco, und Menschenfreund SCHWEITZER für Musik transportiert Botschaften, Bot- es beginne „mit einem großartigen Pau- sein jahrelanges Wirken in der Urwald- schaften sind wie Musik. Und für die kenschlag wie Beethovens fünfte“, die Krankenstation Lambaréné. Welt tritt ein neuer Typus auf den „Schicksalssymphonie“. Nämlich: „Ein Wissenschaftler und Wohltäter schei- Plan, der „faustische“ Deutsche, der Gespenst geht um in Europa – das Ge- nen den Befragten für Klarheit und Grübler, Gründler. Beethoven, schwer- spenst des Kommunismus.“ Wahrheit zu stehen. So mögen es die hörig und schwermütig, stirbt während Mittlerweile geht ein anderes Gespenst Deutschen. Ihr größter Held EINSTEIN, eines Gewitters und reckt im Todes- um – das der Globalisierung. Die kapitale der als Atheist Gott gut kannte, sagte kampf die Faust; Goethe verlangt „mehr Erdumrundung hatte Marx schwarz vor- mal, dass Gott „nicht würfelt“. Der Licht“. ausgesehen, samt Folgen: „Altehrwürdige Deutsche auch nicht. Fritz Rumler

der spiegel 52/1999 77 Deutschland LEBE WOHL, ALTE BUNDESKEGELBAHN Es wird immer schwieriger, „typisch deutsche“ Eigenarten zu finden. Die Globalisierung hat auch den Volkscharakter erfasst. Dennoch bleibt die Frage: Was ist deutsch? Es folgt eine typisch deutsche Antwort. VON HENRYK M. BRODER

78 der spiegel 52/1999 der spiegel der spiegel des BerlinerReichstags Besucher inderKuppel 52/1999

W. BAUER en,asatnoe ikikn was in ausrasten odereinknicken, kennt, pressives dasnurzwei Kollektiv, Zustände einmanisch-de- Mitbürger eingeschlossen, ausländischen die Millionen Teilnehmern, Widerspruchsgemeinschaft mitüber8o weiblichsten Männern. den männlichstenFeministinnen undden bewegung undderfriedlichsten Armee, dermilitantesten Friedens- Urlaubszeiten, den kürzesten Arbeits- unddenlängsten ten StudentenunddenjüngstenRentnern, beantworten. die letzteFrage lässtsichrelativ einfach deren? Undwenn ja:warum? Zumindest Was istdeutsch?Sindwirandersalsdiean- gen sich: Wer sindwir? Was wollen wir? hen dieDeutschenratlos imRaumundfra- Wünsche wahr werden! jüdischen Fluches:Mögen deinegrößten beweisen dieewige Gültigkeit einesalten LessingundLudendorff fahren von Luther, Ausgerechnet dieNach- den Deutschen. aber nichtdasUnglückaus glück holen, habene Gefühlhieltnichtlange vor. Dochdaser- der Welt“ (Walter Momper). nen Momentlang„dasglücklichste Volk unddieDeutschenwaren ei- Dann kamsie, zum Glückfehlte: dienationale Einheit. was ihnen die MenscheninOstund West, dawussten Sozialismus verzichtet hätten, eine Strumpfhosevon Elbeogern aufden Bayerische Trachtengruppe „Das glücklichste Volk der Welt“ A a i idadr l i nee.Eine wir sindandersalsdie anderen. Ja, Deutschland istdasLandmitdenältes- dafürste- Die deutscheFrage istgelöst, Man kanndieDeutschenausdemUn- eine Packung Idee-Kaffee und stellten unddieOstdeutschenfür nachten Kerzen indieFenster drüben schicktenundzu Weih- deutschen ihre Päckchen nach die West- gelöst imRaumstand, diedeutscheFragels nochun- 79

D. SCHMID / BILDERBERG Deutschland der Praxis auf das Gleiche hinausläuft. Mehr noch: Ständig wird Deutschland stellen zu müssen. Kanzler Gerhard Schrö- „Nie geraten die Deutschen so außer sich, aufgefordert, eine „stärkere Rolle zu spie- ders Lieblingssatz „Dazu gibt es keine wie wenn sie zu sich selbst kommen wol- len“ und „mehr Verantwortung zu über- Alternative“ artikuliert nicht den Mangel len“, hat schon Kurt Tucholsky festgestellt. nehmen“ – von der Durchsetzung des Euro an möglichen Optionen, sondern nur die Trotzdem oder gerade deswegen bleibt bis zur Mitsprache bei der Friedensrege- Weigerung, über wirkliche Alternativen die Frage: Was ist deutsch? Versuchen wir lung im Nahen Osten. Für die Armen von nachzudenken. es mit dem deutschen Alphabet: Bangladesch bis Zaire ist Deutschland das Statt die Voraussetzungen für neue Ar- A wie Auschwitz, B wie Bayreuth, C wie Paradies, sie riskieren Leib und Leben, um beitsplätze zu schaffen, wird ein „Bündnis Currywurst, D wie Duden, E wie Eutha- es auf alten Frachtern und in muffigen für Arbeit“ ins Leben gerufen, statt die nasie, F wie Fahrbereitschaft, G wie Containern zu erreichen. letzten NS-Opfer schnell und großzügig zu Gründgens, H wie Hasso, der Schäferhund, Wie in dem Märchen von dem Schein- entschädigen, werden Wettbewerbe für ein I wie Imperativ, kategorischer, J wie Je- riesen erscheint Deutschland umso größer, Holocaust-Mahnmal ausgeschrieben, statt dermann, K wie Karneval in Köln, L wie schöner und begehrenswerter, je weiter die Atomkraftwerke zu schließen, wird über Lustangst, M wie , N wie Betrachter vom Objekt ihrer Begierde po- den Einstieg in den Ausstieg diskutiert. sitioniert sind. Die mögliche Die neue deutsche Anstatt-Kultur hat Schließung der deutschen auch ihre Als-ob-Variante. Die Berliner Goethe-Institute in Reykja- Love-Parade, bei der alljährlich der halbe vik, Palermo und Katmandu Tiergarten verwüstet wird, ist als „politi- bedeutet sowohl für die Is- sche Kundgebung“ anerkannt, weil der länder wie die Sizilianer und Organisator, ein DJ mit dem Namen „Dr. die Nepalesen eine Katastro- Motte“, von Frieden, Liebe und Toleranz phe und löst heftigste Pro- schwafelt, während seine Firma mit Über- teste aus, die wiederum in tragungslizenzen und Werberechten dicke Deutschland als Liebesbe- Geschäfte macht. weise verstanden werden. Wo eine Techno-Party als politische Doch zugleich muss Demo durchgeht, da wird auch eine Fahrt Deutschland erfahren, dass in ein ehemaliges KZ als „Bildungsurlaub“ Liebe nur die softe Version gutgeschrieben. von Angst ist. Dieselben Die Würzburger „Akademie Franken- Freunde und Verbündeten, warte“, eine volkserzieherische Einrich- die von Deutschland „mehr tung der sozialdemokratischen Friedrich- Einsatz“ fordern, warnen zu- Ebert-Stiftung, bietet ein Seminar zum

SIPA PRESS SIPA gleich vor der neuen „Groß- Thema „… ganz normale Männer? Männ- Bundeswehrsoldaten in Auschwitz (1994): Stärkere Rolle? macht“, die in der Mitte Eu- lichkeit und Auschwitz heute“ an. Ziel- ropas heute schon den Ton gruppe sind „Männer jeden Alters, die be- Nürnberg, O wie Otto-Katalog, P wie angibt. Und wenn sich irgendwo ein paar reit sind, sich mit den Folgen von Ausch- Paulskirche, Q wie Quotenfrau, R wie Rast- Kostümnazis zusammenrotten, dann liegt witz und mit sich selbst auseinander zu stätte, S wie Schienenersatzverkehr, T wie nicht ein Versagen der Polizei vor, die ent- setzen“.Was irgendwie dasselbe bedeutet. Trabant, U wie Uhse, Beate, V wie Volks- weder pennt oder wegschaut, dann setzt War Auschwitz eine „typisch deutsche“ wagen,W wie Wagner, X wie Xenophobie, sich sogleich das „Vierte Reich“ in Bewe- Erfindung, schlimmer als jedes Gulag-La- Y wie Yoga und Z wie Zyklon B. gung und bedroht den Frieden in Europa. ger, Endstation eines singulären Plots? Viel- Das müsste reichen, es reicht aber nicht, Nach dieser Logik steckt in jeder Bärbel leicht. Ist der heutige Umgang mit Ausch- denn auch das deutsche Alphabet währt Schäfer eine BDM-Braut und in jedem witz, das Pendeln zwischen der „Sechs- keine 1000 Jahre.A könnte man inzwischen Glatzkopf ein Hitlerjunge Quex. Das Beste, Millionen-Lüge“ für die Revisionisten und wie Aktienoption schreiben, D wie Döner, was man über das Verhältnis der Völker zu K wie Klezmer, M wie Mallorca und Z wie Deutschland sagen könnte, wäre: Es ist am- Zivilgesellschaft. Sind also alle Unter- bivalent. Deutschland soll zwei Erwartun- schiede aufgehoben, sind die Deutschen gen zugleich erfüllen: beweisen, dass es im Zuge der europäischen Integration und ganz anders und doch das alte geblieben ist. der Globalisierung einfach deutsche Eu- Die Deutschen geben sich große Mühe, ropäer oder Weltbürger geworden, die sich die an sie gerichteten Erwartungen im Rah- von den anderen Mitbürgern dieser Erde men ihrer Möglichkeiten zu erfüllen. In nur noch dadurch unterscheiden, dass sie fast jeder deutschen Brust schlagen zwei als Autofahrer kein Tempolimit kennen Seelen, weswegen sich zum Beispiel de- und als Fußgänger auch dann an einer ro- monstrierende deutsche Antifaschisten so ten Ampel stehen bleiben, wenn weit und verkleiden, dass man sie von den Neona- breit kein Auto kommt? zis kaum unterscheiden kann. Und ein Film Man sollte zwischen „den Deutschen“ von und mit Tom Gerhardt, dem letzten und „Deutschland“ unterscheiden. Wann hässlichen Deutschen mit Massenappeal, immer von der „Normalität“ gesprochen heißt „Voll normaaal!“, was so viel wie wird, ist Deutschland gemeint. Die deut- „Vollkommen durchgeknallt“ bedeutet. sche Teilung ist aufgehoben, die deutsche Der altdeutsche Brauch, Probleme un- Souveränität wieder hergestellt, deutsche bedingt lösen zu wollen, statt sich mit Soldaten, die noch vor ein paar Jahren al- ihnen zu arrangieren, hat dem Verlan- lenfalls bei Sturmfluten ihre Kasernen ver- gen Platz gemacht, sich mit allem zu

lassen durften, werden nun zu Friedens- arrangieren, ohne sich einem Problem GAMMA / STUDIO X einsätzen in alle Welt geschickt, die D-Mark ist, bis zur Umwandlung in Euro, in halb Lichterkette in Hamburg (1992) Europa Ersatz- oder Leitwährung. Ganz anders und doch das alte Deutschland

80 der spiegel 52/1999 es in Berlin zu einem kleinen Skandal, nachdem der damalige Innensenator Jörg Schönbohm erklärt hatte, es gäbe Viertel, in denen „man sich nicht in Deutschland“ fühlen würde. Der Vorsitzende der jüdischen Gemein- de, Andreas Nachama, sprach daraufhin von einer „Blut-und-Boden-Ideologie“ und einem „bräunlich angedunsteten Muff von Stammtischen“ – und avancierte über Nacht zum Buhmann, der die Stadt spaltet, während Schönbohm zufrieden Zensuren verteilte: „Das steht auch einem Vorsit- zenden der jüdischen Gemeinde nicht zu. So kann man nicht miteinander umgehen.“ Die Geschichte hatte einen typisch deut- schen Dreh. Indem sich der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde mit den Ausländern solidarisierte und Position gegen den In-

G. MENN / AGENTUR FOCUSG. MENN / AGENTUR nensenator bezog, gab er zu erkennen, dass Deutsche auf Mallorca: Bye-bye Eisbein mit Sauerkraut die Juden sich den Ausländern näher fühlen als der politischen Klientel von Senator einer Fortbildungsstätte für frustrierte Dichter und Denker wussten das schon Schönbohm. So viel Undankbarkeit muss- Männer, eine typisch deutsche Attitüde? immer. te umgehend abgemeiert werden, denn die Ganz gewiss. Man muss schon lange zwi- Für Johann Wolfgang von Goethe zeich- Juden sind das amtlich anerkannte „mis- schen Nordkap und Feuerland hin und her- nete sich der „Charakter der Deutschen“ sing link“ zwischen den Deutschen und den fahren, um eine solche Mischung aus Fri- dadurch aus, „dass sie über allem schwer Ausländern – „jüdische Mitbürger“ eben, volität, Verlogenheit und Wehleidigkeit zu werden und dass alles über ihnen schwer privilegierte Aliens sozusagen. finden, die sich mal abwehrend und mal wird“. Richard Wagner stellte fest: Während es überall sonst in der Welt affirmativ austobt. „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer „Bürger“ und „Fremde“ „Citoyens“ und Auschwitz ist und bleibt das bedeutends- selbst willen tun.“ Heinrich Heine dichte- „Étrangers“ gibt, „Citizens“ und „For- te deutsche Bauwerk des 20. Jahrhunderts, te: „Franzosen und Russen gehört das eigners“, hat man in Deutschland eine drit- Brennpunkt des „deutschen Sündenstolzes“ Land, das Meer gehört den Briten, wir aber te Kategorie erfunden, die „Mitbürger“, (Hermann Lübbe). Inzwischen haben wir besitzen im Luftreich des Traums die Herr- die vor allem an Gedenktagen und wäh- aus der Geschichte gelernt, wir bauen nicht, schaft unbestritten.“ Friedrich Nietzsche rend der „Woche der Brüderlichkeit“ akti- wir lassen bauen: Ein Brite rekonstruiert fasste die Endlosdebatte in einem Satz zu- viert werden, wenn Antisemitismus und den Reichstag, ein polnischer Jude macht sammen: „Es kennzeichnet uns das Jüdische Museum und ein Ameri- die Deutschen, dass bei ih- kaner das Holocaust-Mahnmal. Wir beset- nen die Frage, was ist zen derweil ein paar Nischen und freuen deutsch, niemals ausstirbt.“ uns, dass es immer Deutsche sind, die we- Da liegt es nahe, sich Hil- nigstens als Bösewichter in James-Bond-Fil- fe suchend an das Ausland men eingesetzt werden: zuerst Gert Fröbe, zu wenden. Wenn der un- dann Gottfried John und letztens Claude garische Essayist László Oliver Rudolph, der eigentlich ganz lieb aus- Földényi schreibt: „Der be- sehen könnte, wenn er beizeiten etwas ge- zeichnendste Charakterzug gen Akne unternommen hätte. der Deutschen ist vor allem Alles „typische Deutsche“, während Eich- der, undeutsch sein zu wol- mann, Himmler und Mengele eher atypisch len“, kann er sich der hefti- waren, weil man ihnen nicht ansehen konn- gen Zustimmung all jener si- te, was für Schurken in den Hüllen steckten. cher sein, die er meint. Und

Mit der Phänomenologie allein kommt wenn er dann noch einen BAUER W. man nicht weit. Höchstens bis zum Baller- Schritt weiter geht und den Barbesucher in Berlin: Besonderheit im globalen Einerlei mann 6, wo sich der typische deutsche Tou- deutschen Selbsthass beklagt rist die Hucke voll säuft, während andere – „Paradoxerweise scheint gerade dieser Fremdenfeindlichkeit eine kurze Auszeit typisch deutsche Touristen einen weiten Hass auf viele wie Balsam zu wirken“ –, nehmen – auch dies eine typisch deutsche Bogen um den Platz machen, aus Angst, für dann wirken solche Sätze wie Balsam auf Regelung, die man sonst nirgendwo findet. typisch deutsche Touristen gehalten zu die deutschen Seelen. Dankbar stellen wir also fest, dass es in werden. Deutsche können nicht deutsch Von den Strapazen einer Existenz als dem globalen Einerlei einer formatierten sein, ohne auf ihre Stammeszugehörigkeit Selbsthasser kann man sich nur mit frem- Welt doch noch ein paar deutsche Beson- stolz zu sein oder sich ihrer zu schämen. der Hilfe und am besten in der Fremde er- derheiten gibt, die wir auch im kommen- Und das ist nicht erst seit Auschwitz so, holen, in der Toskana die einen und auf El den Jahrhundert nicht ablegen werden. Un- nur haben die einen seitdem noch einen Arenal die anderen, nur nicht daheim, wo ter anderem die Fiktion, Deutschland sei Grund mehr, sich in Grund und Boden zu jede Begegnung mit dem Briefträger, dem kein Einwandererland, und das Ausländer- grämen, und die anderen noch einen Mühl- Nachbarn oder dem Karten-Kontrolleur in problem ließe sich mit einem Doppelpass stein mehr um den Hals, den sie abwerfen der U-Bahn eine neue Ladung Selbsthass lösen auf Zeit. müssen, um wieder frei atmen zu können. aktiviert. Dass unser deutsches Volk im kommen- Es war noch nie leicht, als Deutscher Die Sache sieht anders aus, wenn Aus- den Jahrhundert rapide schrumpfen wird – durch die Welt zu wandeln. Deutschlands länder näher heranrücken. Mitte 1998 kam jedenfalls in der nationaltypischen Kate-

der spiegel 52/1999 81 Deutschland gorie der Germanisch-Blütigen –, geht al- noch schlimmer als die Vorstellung, die Deswegen kann Fremdenfeindlichkeit, lenfalls in den „demografischen Faktor“ Kohlroulade auf Mallorca auf spanisch be- das Komplementär-Gefühl zum deutschen einer Rentenformel ein – ansonsten wird es stellen zu müssen. Selbsthass, nur gegen und nicht mit Rück- verdrängt. Den europäischen Nachbarn Ende 1997 lebten im neuen Deutschland sicht auf die Paranoiker bekämpft werden. kann es nur recht sein, wenn sich die ver- rund 82 Millionen Menschen, davon knapp Gäbe es überall in Deutschland zehn Pro- mehrungsunlustige Volksgenossenschaft 7,4 Millionen Ausländer, also weniger als zent Ausländer, gäbe es nirgendwo „natio- auf polnisches oder französisches Format zehn Prozent. Darunter waren 1,8 Millio- nal befreite Zonen“, würde es den Deut- dezimiert. nen „Mitbürger“ aus EU-Ländern, 120000 schen besser und nicht schlechter gehen. Als ginge es darum,Adornos Satz zu be- Amerikaner und Kanadier, 300000 Afrika- Und würde man darüber hinaus die Zahl stätigen, die Deutschen könnten gar nicht ner, 800000 Asiaten und 2,1 Millionen Tür- der Deutschen, die ins Ausland fahren dür- anders als an ihre eigenen Lügen zu glau- ken, die größte ethnische Gruppe. Unter fen, kontingentieren, so wie die nach ben, wird die „Ausländerfrage“ so behan- diesen Umständen von einem „Auslän- Deutschland kommenden Flüchtlinge kon- tingentiert werden, weil den Ausländern zu viele Deutsche nicht zuzumuten sind, wäre der Fremdenhass ratz, fatz am Ende. Lieber lässt der Deutsche ein paar Asylan- ten mehr ins Land, als dass er auf seinen Urlaub an der Costa del Sol verzichtet. „Typisch deutsch“ ist nicht der xeno- phobe Rassismus, der ist in der Schweiz, in Frankreich und in Schweden noch stärker. Typisch deutsch ist die Unschuld, mit der fremde Bräuche adaptiert, Döner, Pizza, Falafel, Gyros und Grappa konsumiert werden, während „Ausländerbeauftragte“

W. LANGENSTRASSEN W. die in Deutschland lebenden Ausländer vor Multikulti-Kinder in Deutschland: Schrumpfen der Germanisch-Blütigen der Willkür der Behörden zu schützen ver- suchen. Einige sehen den Sinn ihrer Arbeit delt wie das Importverbot für britisches derproblem“ zu sprechen und die „Aus- auch darin, die Ausländer zur Rückkehr in Rindfleisch. Mal lässt man mehr, mal we- länderfrage“ lösen zu wollen, mutet wie ihre Heimat zu bewegen. niger zu. Das Ausländerproblem hält ei- ein paranoider Witz an. Auch die Liebe zur jüdischen Kultur – nen riesigen bürokratischen Apparat auf Natürlich fühlen sich auch Paranoiker keine Feier ohne Giora Feidman und sei- Trab. Es gibt „Kriegs-“, „Konventions-“ wirklich verfolgt, wollen ernst genommen ne Klarinette – konnte sich erst entfalten, und „Kontingent-Flüchtlinge“ und dazu und getröstet werden, obwohl ihre Leiden nachdem die Träger dieser Kultur ausge- noch Unter- und Zwischenkategorien von imaginiert sind. In Gegenden faktisch ohne rottet wurden. In Berlin gibt es eine Klez- Menschen, die gern in Deutschland leben Ausländer müssen dunkelhäutige und mer-Kapelle, deren Mitglieder – allesamt und arbeiten möchten. Polen zum Beispiel kraushaarige Reisende um ihr Leben fürch- Nichtjuden – untereinander Jiddisch reden brauchen für einen Aufenthalt bis zu drei ten, während in Ballungsräumen mit bis zu und sich beim Trinken „Le ’Chajim!“ (Zum Monaten kein Visum. 20 Prozent Ausländern die deutsche Mehr- Wohle!) zurufen. Richtige Ausländer, die man schon heit sich zivilisiert benimmt, nicht unbe- Diese Form der Mimikry ist in der Tat am Aussehen erkennt, werden dagegen dingt weil sie die Fremden liebt, sondern „typisch deutsch“, deutscher als die Leder- strenger behandelt. Ein Koch aus Asien weil sie keinen Krieg auf den Straßen ris- hosen tragenden Bayern, die wortkargen könnte eine befristete Aufenthaltserlaub- kieren möchte. Aber auch das ist ein guter Friesen, die nuschelnden Sachsen und jede nis bekommen, aber nur wenn sein Ar- Grund, Aggressionen zurückzuhalten. andere Karikatur des typischen Deutschen. beitgeber nachweist, dass es ohne ihn Der typische Deutsche nicht geht. von heute ist ein moderner Der Inhaber einiger Thai-Restaurants Sterbendes Volk? Zeitgenosse, der sich wie wurde von der Ausländerbehörde belehrt, Die deutsche Bevölkerung im 21. Jahrhundert eine Stereoanlage aus ver- solange es tausende arbeitsloser deutscher in Millionen Quelle: „Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft“ schiedenen Elementen zu- Köche gäbe, müssten keine thailändischen sammensetzt. Er bewegt sich Küchenmeister eingeflogen werden. Das 81,8 81 79 wie Dieter Bohlen, spricht 76 Gegenargument, wer eine Kartoffelsuppe bei Zuwanderung von wie Hans Eichel, fährt Auto zubereiten kann, wüsste nicht automatisch, 71 250000 Personen pro Jahr wie Michael Schumacher, wie ein Curryhuhn schmeckt, zeigte keine 66 kocht wie Alfred Biolek, Wirkung. 77 lacht wie Wolfgang Joop und ohne 61 Dem Restaurateur blieb nichts übrig, als 72 58 zeigt Gesinnung wie der Zuwanderung 66 54 die Köche, die er haben wollte, als Touris- 52 letzte bekennende 68er, der ten einreisen zu lassen und sie mit deut- 50 Verleger Klaus Wagenbach, schen Frauen zu verheiraten, „richtig mit 59 indem er demonstrativ rote allem Drum und Dran“, wie er betont, und 51 Socken trägt. nicht wie bei den Scheinasylanten „nur Bye-bye Eisbein mit Sau- 43 pro forma“. erkraut, adieu Lodenmantel, So hat sich der Mann nicht nur um die Die Prognose beruht auf einer Geburten- 37 lebe wohl du alte Bundeske- zahl von durchschnittlich1,25 Kindern je Vielfalt des kulinarischen Angebots, son- 32 gelbahn! Und wer einen ech- Frau bis zum Jahr 2050. Selbst bei der zu 28 dern auch um eine multikulturelle deut- Grunde liegenden Annahme, dass die Zahl 24 ten deutschen Gartenzwerg sche Gesellschaft verdient gemacht: asia- von 2050 bis 2065 auf 1,5 Kinder je Frau haben möchte, der muss tisch aussehende Kinder, die fließend steigt, nimmt die Bevölkerung stetig ab. weit laufen. Die schönsten Deutsch sprechen und mit Stäbchen essen gibt es gleich hinter der – für viele richtige Deutsche ein Alptraum, 1995 2010 20 30 40 50 60 70 8090 2100 Grenze nach Polen. ™

82 der spiegel 52/1999 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland

SPIEGEL-GESPRÄCH „ICH KENNE MEIN ZEITMASS“ Bundeskanzler Gerhard Schröder über die Zukunft Deutschlands in der Europäischen Union, das Vertrauen in die Politik und die Wachstumszentren des kommenden Jahrhunderts

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, am 7. April es sich leisten könnte, nicht eine strategi- 2024 wird ein gewisser Gerhard Schröder, sche Partnerschaft zu Russland aufzubauen. so Gott will, 80 Jahre alt. Kommt dann zu SPIEGEL: Was verstehen Sie darunter? seinem Wiegenfest schon der Regierungs- Schröder: Eine Zusammenarbeit über die chef von Europa? Gibt es dann noch die normalen Kontakte zwischen Ländern und SPD? Völkern hinaus: auf wirtschaftlichem Ge- Schröder: Die SPD wird es auf jeden Fall biet, bei der Herausbildung von staatlichen geben. Ob es schon einen europäischen Re- Strukturen, wobei vielleicht der deutsche gierungschef gibt, das kann ich nicht mit Si- Föderalismus Anregungen geben könnte, cherheit sagen, aber möglich ist das. eine verstärkte Partnerschaft auch im Rah- SPIEGEL: Was erwarten Sie vom neuen Jahr- men der Nato. Ich glaube, dass die Ent- hundert? wicklung in Russland mit über die Frage Schröder: Ich erwarte, dass wir den großen entscheidet, ob wir Frieden und Wohlstand, europapolitischen Wurf von Helsinki voll- wie ich mir wünsche, in Europa hinbe- enden können. Wir müssen Europa vertie- kommen. fen und zugleich erweitern, wobei es wahr- SPIEGEL: Wie sieht dieses vereinte, vertief- scheinlich auf unterschiedliche Geschwin- te Europa aus – ist es ein europäischer Ge- digkeiten hinauslaufen wird. Das meint der samtstaat? Begriff der Flexibilität, der jetzt eine be- Schröder: Ich glaube, dass man langfristig deutende Rolle spielt. die EU-Kommission in Richtung auf eine

SPIEGEL: Eine Garantie für mehr Frieden vom Parlament kontrollierte Regierung OSSENBRINK F. und Wohlstand ist das erweiterte Europa wird entwickeln müssen. Ob das im Jahr Staatsmann Schröder*: „Wir kommen von den nicht. 2024 schon realisiert ist oder länger dauert, Schröder: Aber es bietet ein höheres Maß kann niemand wirklich sagen.Aber ich hal- Hauptstadt, desto mehr muss man den Ge- an Wahrscheinlichkeit, dass wir Europa te das Ziel für wünschenswert. danken der Subsidiarität fruchtbar ma- friedlich erhalten können. Und SPIEGEL: Was bleibt dem deut- chen. In Regionen und Staaten sollte wei- es ist die Voraussetzung für ein schen Kanzler, Ihrem Nachfol- terhin entschieden werden, was dort zu Maß an Wohlstand, wie es je- „Die Men- ger? Ist er eine Randfigur im entscheiden ist. Nur die großen Linien – denfalls diejenigen Länder, die großen europäischen Gesche- Wirtschafts-, Finanz-, Außenpolitik – müs- jetzt hinzukommen wollen, nie schen müssen hen? sen supranational vorgegeben werden. Die gekannt haben. sich auch in Schröder: Nein, auch bei diesem Frage aber, welche Traufhöhe in einer Stadt SPIEGEL: Sind im Jahr 2024 alle zusammenwachsenden Europa gelten soll, nicht. Beitrittskandidaten von heute einem supra- gibt es für die nationalen Regie- SPIEGEL: Wie lange wird es denn dauern, bis dabei? nationalen rungen noch eine Menge zu tun. der europäische Regierungschef ein Deut- Schröder: Ja. SPIEGEL: Was bleibt denn dem scher sein kann? Wird es der erste sein SPIEGEL: Bis an die russische Staat aufge- traditionellen Nationalstaat? oder vielleicht erst der dritte? Grenze? hoben fühlen“ Schröder: Ein supranationaler Schröder: Ich hoffe, dass wir bis dahin ein Schröder: Alle dabei heißt, alle Staat benötigt Gliederungen, in Maß an Normalität in Europa erreicht ha- Kandidaten. Mehr Erweiterung denen Menschen sich aufgeho- ben, dass es sowohl ein Deutscher als auch als in Helsinki beschlossen, halte ich für ben fühlen: in der Kultur, in den Traditio- ein anderer sein kann, wenn ich auch Zwei- verfehlt. nen der Nationalstaaten. Der europäische fel habe, dass es uns wird gelingen können. SPIEGEL: Bleibt Russland denn der Unsi- Staat darf nicht gegen die Nationalstaaten SPIEGEL: Das klingt nach leidgeprüfter Er- cherheitsfaktor für das zusammenwach- gegründet werden, es muss eine Verbin- fahrung. sende Europa? dung geben zwischen der supranationalen Schröder: Ich würde nicht „Unsicherheits- und der nationalen und regionalen Ebene. * Mit Günther Verheugen, Hans Eichel, Joschka Fischer, Rudolf Scharping, Jacques Chirac und Dominique faktor“ sagen. Russland ist viel zu wichtig, Je weiter weg Entscheidungen fallen, al- Strauss-Kahn bei deutsch-französischen Konsultationen als dass Europa, speziell auch Deutschland, so meinethalben in einer europäischen Ende Mai in Toulouse.

86 der spiegel 52/1999 selbst verschuldeten Verhängnissen unserer Vergangenheit so leicht nicht los“

Schröder: Nicht leidgeprüft, aber nehmen ist, diesem Teil der deutschen Geschichte zu den Frauen, die nie eine Chance be- wir als Beispiel die Diskussion um die Ent- immer wieder in konkreten Entschei- saßen, sich mit Kunst, Kultur, Bildung aus- schädigung für Zwangsarbeiter. Da hat sich dungsumständen begegnen. einander zu setzen; in den Kreisen, aus de- für mich sehr plastisch gezeigt, dass man Ich sage noch einmal: Es ist in der Rück- nen sie kam, war das einfach nicht möglich. immer wieder auf deutsche Geschichte schau vielleicht schon deshalb nicht falsch, Diese Frauen zeichnete Aufrichtigkeit und trifft. Wir kommen von den selbst ver- weil es jemanden, der für die Tagespolitik Stabilität aus, mit denen sie ihr Leben in schuldeten Verhängnissen unserer Vergan- zuständig ist, zwingt, sich diese Tatsachen diesem Jahrhundert hinter sich gebracht genheit so leicht nicht los. Wir sollten es immer wieder zu vergegenwärtigen, auch haben. Es gibt viele solche Mütter. Wenn vielleicht auch gar nicht wollen. in Entscheidungssituationen, in denen er es man über Heldinnen spricht, dann muss SPIEGEL: Sind Sie vom Einfluss der deut- eigentlich nicht erwartet. man sie nennen. schen Vergangenheit auf die Gegenwart SPIEGEL: Definieren Sie denn heute den SPIEGEL: Und der Unterschied zwischen überrascht? Begriff „Normalität“ anders als vor einem den Generationen besteht darin, dass die Schröder: Im Zusammenhang mit der Ent- Jahr? Kinder Lebenschancen besitzen, die den schädigung für Zwangsarbeiter nicht. Schröder: Nein, das nicht unbedingt. Ich Eltern vorenthalten waren? Mancher Sohn SPIEGEL: Aber Sie haben ja vor allem am würde jedoch zurückhaltender bei seiner wird sogar Bundeskanzler. Anfang Ihrer Kanzlerschaft von neuer häufigen Verwendung sein. Schröder: Nach dem Krieg hat sich die Ge- Normalität gesprochen, die jetzt gelte. SPIEGEL: Der SPIEGEL hat eine Umfrage sellschaft demokratisiert und den Faschis- Schröder: In anderen Fällen, bei denen uns gemacht, wen die Deutschen als Helden mus mit Hilfe von außen abgeworfen. Sie ist immer mal wieder – „Misstrauen“ ist viel- betrachten. Haben Sie Präferenzen? durchlässiger geworden – was die Chancen leicht übertrieben – Besonderheit entge- Schröder: Sicher auch, aber die wirklichen der Kinder aus der Arbeiterschaft angeht, genschlug, hätte ich die Wirkung der Ver- Helden oder Heldinnen sind jene, die kei- war Deutschland vielleicht die durchlässigs- gangenheit für geringer eingeschätzt, ne Denkmäler haben. Ich habe den Le- te Gesellschaft in Europa überhaupt. manchmal sogar für überwunden gehalten. benslauf meiner Mutter zum Beispiel ver- Die nächste entscheidende Zäsur – das sagt Aber man kann, wenn man sensibel genug folgen können, die jetzt 86 ist. Sie gehörte auch jemand, der nicht zu den Aktivisten

der spiegel 52/1999 87 Deutschland

riellen Entwicklung der Firma zu interes- sieren; sonst kriegt sie nämlich nicht die Besten. Die Firma muss sich intern mög- lichst herrschaftsfrei organisieren. Das alte Modell von oben nach unten funktioniert aus rein ökonomischen Gründen nicht mehr. Alle Kreativität, alle Phantasie der Angestellten soll zu jedem Zeitpunkt prä- sent sein. Sonst ist die SAP nicht das beste Unternehmen auf dem Markt. SPIEGEL: Was aber folgt daraus für die Po- litik? Schröder: Es spricht wenig dafür, dass sich Menschen, die man in dieser Weise in den Betrieben braucht, in der Gesellschaft Teil- habe vorenthalten lassen. Das kann nicht funktionieren. SPIEGEL: Vielleicht interessieren sie sich gar nicht für das große Ganze. Schröder: In keinem Fall aber werden sie sich unterdrücken lassen. Es mag sein, dass sie politische Entscheidungen delegieren;

B. SCHÖNBERGER das sollen sie auch, sonst würde unsereiner Kanzler-Mutter Erika Vosseler, Sohn Gerhard: „Heldinnen brauchen keine Denkmäler“ ja überflüssig.Aber sie sind Mitsprache am Sagen und Haben gewohnt. gehörte – war wohl die 68er-Bewegung mit SPIEGEL: Führt diese Entwicklung nicht SPIEGEL: Wenn die Bürger demokratisch ihrem moralischen-politischen Aufstand ge- zwangsläufig zu größerer Spreizung, zu anspruchsvoller werden, stehen den Politi- gen die Eltern-Generation. Seither ist in größeren Gegensätzen in der Gesellschaft? kern schwere Zeiten bevor. Deutschland, glaube ich, eine Mittelschicht, Schröder: Das muss man, das kann man Schröder: Ja, wir müssen in immer schnel- ein aufgeklärtes Bürgertum etabliert, das es verhindern. Man muss Teilhabe am ma- leren Zeitabfolgen politisch bestimmen, früher so nicht gab. Seither ist die Zutei- teriellen Wohlstand, aber auch an den was Teilhabe in der Gesellschaft ist.Anders lung von Chancen, die ja im Wesentlichen Entscheidungen in der Gesellschaft für ausgedrückt: Was wir uns noch leisten kön- über Bildung laufen, selbstverständlicher möglichst viele realisieren. Dass jeder gleich nen. geworden. viel wert ist, gehört zu den Grundwerten SPIEGEL: Wer bestimmt das? SPIEGEL: Der typische Satz der Eltern aus der Nachkriegsrepublik. Aber dafür gibt Schröder: Das muss im politischen Prozess der Kriegsgeneration lautete: Unsere Kin- es jetzt auch eine ökonomische Notwen- bestimmt werden, da muss die Regierung der sollen es besser haben als wir. Dieser digkeit. handlungsfähig sein. Übrigens: Auch des- Satz aber stimmt heute nicht mehr. SPIEGEL: Können Sie das an einem Beispiel halb ist es gut, dass SPD und Grüne den Schröder: Als Wunsch von Eltern für ihre erklären? Unterschied zwischen Opposition und Re- Kinder stimmt er immer noch. Dass er sich Schröder: Nehmen Sie die SAP, ein Unter- gierung begriffen haben. Von Nutzen sind in der Realität einlösen lässt, wage ich zu nehmen, das in der Software-Entwicklung aber auch Konsensmodelle, wie wir sie ge- bezweifeln. Ich glaube, dass die Erhaltung erfolgreich ist. Nun muss es gelingen, die rade herzustellen versuchen … unseres Wohlstandes – an seiner gerechte- Leute, die zu SAP kommen, an der mate- SPIEGEL: … im Bündnis für Arbeit. ren Verteilung kann man immer noch ar- Schröder: Die Modelle sind viel- beiten – schon Fortschritt bedeutet. Wir leicht besser, weil sie dem Prinzip, werden uns ans Teilen gewöhnen müssen, den Ausgleich der Interessen her- wenn wir Massenwohlstand nicht nur in Auslaufmodell Deutschland? zustellen, angemessen sind. Deutschland, sondern für ganz Europa er- Hat das deutsche Modell der SPIEGEL: Das Bündnis für Arbeit ist reichen wollen. sozialen Marktwirtschaft bis jetzt jedenfalls keine große Er- SPIEGEL: Die Lebenschancen sind schlech- noch eine Zukunft? folgsgeschichte. ter geworden. Ja 59 Schröder: Es existiert erst ein Jahr. Schröder: Die Chancen werden nicht mehr Es entstand auf dem Hintergrund besser. Wir werden sie halten können und Nein 36 unerhörten Misstrauens. Meine Er- organisieren müssen. Die Gesellschaft der fahrung ist, dass sich die Partner Zukunft basiert auf Wissen, und deshalb ist Wird der Wohlstand der noch nicht als Partner begreifen, die Bildungsoffensive heute nicht mehr nur Deutschen weiter steigen? sondern immer noch als Tarifpar- eine Frage von Gerechtigkeit, wie sie es teien, die von mir immer ein Macht- früher war, sondern auch von wirtschaftli- Ja 34 wort erwarten – und zwar jeweils cher Vernunft. Länder wie Deutschland das ihnen genehme Machtwort. Nein 63 können es sich überhaupt nicht leisten, SPIEGEL: Die Theorie hört sich ganz auch nur eine einzige Begabung unausge- Wird es jemals wieder Vollbeschäf- schön an. In der Praxis aber wächst schöpft zu lassen; das wird auch zu einer tigung in Deutschland geben? das Misstrauen, ob Politik überhaupt ökonomischen Frage. die Kompetenz besitzt zur Lösung Wissen gewährt wie eh und je Lebens- Ja 20 der Probleme. Zusätzlich ziehen sich chancen; der Unterschied zu den siebzi- immer mehr Leute von der Politik, ger Jahren liegt aber darin, dass ein aka- Nein 77 von den Parteien zurück. demischer Abschluss nicht automatisch ein Schröder: Dem Rückzug aus der Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 10. und 11. Dezember; rund 1000 Entgelt weit über dem des Facharbeiters Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Parteipolitik, aus den Großorgani- garantiert. Das ist schon nicht mehr sicher. sationen korrespondiert aber eine

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Werbeseite Deutschland AFP / DPA Kosovo-Besucher Schröder, deutsche Soldaten in Prizren: „Den Krieg hätte ich mir gerne erspart“ größere Teilnahme an Bürgerinitiativen, an mal überdeckt werden, so dass sich die tern zwei Dinge auftreten: Man nutzt sel- vielfältigen freiwilligen Zusammenschlüs- Frage stellt: Was war denn eigentlich der ber ab, die Arbeit wird leicht zur Routine, sen, die sich bilden und wieder auseinan- Preis für diese relative Ruhe in der Bonner man ist also nicht mehr wirklich innovativ. der gehen. Deshalb glaube ich nicht, dass Republik? Und bei langer Verweildauer im Amt kann der bürgerschaftliche Gedanke im Schwin- SPIEGEL: Vetternwirtschaft, autoritäre Zü- man sich da keinen anderen als sich selber den begriffen ist, und schon gar nicht an ge, Missachtung von Gesetzen – ist das mehr vorstellen. Entpolitisierung. nicht einfach der Preis, wenn ein Mann zu SPIEGEL: Sie haben für sich ein inne- SPIEGEL: Die institutionellen Angebote der lange regiert? res Zeitmaß gefunden – acht Jahre sind Politik erreichen die Bürger nicht, oder sie Schröder: Die Gefährdung in hohen genug? interessieren sie nicht. Ämtern besteht darin, dass sich beim Schröder: Ich kenne mein Zeitmaß. Schröder: Ich sehe es anders. Die Verfas- Amtsinhaber das Gefühl einstellt: Du SPIEGEL: Lassen Sie uns über Außenpolitik sungsinstitutionen sind intakt und in der bist nicht ersetzbar. Gleichzeitig lässt reden, wieder ausgehend von Ihrem 80. Lage, mit Krisen wie der, die wir jetzt ge- sich beobachten, dass sich die Men- Geburtstag.Wie ist dann das Verhältnis Eu- rade durchmachen, fertig zu werden. schen in der unmittelbaren Umgebung ropas zu Amerika? Wachsam ist auch die Öffentlichkeit. nicht mehr trauen, den Mund aufzu- Schröder: Ich glaube, ein Verhältnis auf der Ich habe gerade eine Umfrage auf den Tisch machen – und wer es wagt, wird weg- Grundlage von Gleichberechtigung. Im bekommen. Da ist gefragt worden: Was hat organisiert. Übrigen könnte dann die Zeit der US-Do- Sie am meisten an der Politik SPIEGEL: Wie lassen sich solche minanz, die etwas mit den unterschiedli- interessiert? 76 Prozent nennen Auswüchse in der Demokratie chen wirtschaftlichen, militärischen und po- die Spendenaffäre der CDU. Es „Es gab ja den verhindern? litischen Fähigkeiten zu tun hat, vorbei sein. versteht sich von selber, dass Schröder: Ich glaube, nur mit Die europäische Sicherheits- und Verteidi- die Menschen sagen, das darf Vorschlag, die Zeitbegrenzungen, die man gungspolitik, die wir jetzt entwerfen und in doch wohl nicht sein. Darin ma- Kanzlerschaft sich selber setzt. die Realität umzusetzen beginnen, bedeu- nifestiert sich ein demokrati- SPIEGEL: Warum nicht ein Li- tet ja europäische Verantwortungsüber- scher Reflex. Ich muss hinzufü- auf zehn Jahre mit durch das Gesetz? nahme. Übrigens wollen das die Amerika- gen: Wenn mir vor einem Jahr zu begrenzen – Schröder: Es gab ja den Vor- ner, entgegen den Unterstellungen, auch. jemand gesagt hätte, dass ich schlag, die Kanzlerschaft auf SPIEGEL: Amerikaner wollen Emanzipation mich Ende 1999 mit dieser Af- eine vernünfti- zehn Jahre zu begrenzen, eine und wollen sie auch nicht. färe beschäftigen muss, jeden- ge Regelung“ vernünftige Regelung. Das Schröder: Die Amerikaner wollen eine Te- falls mittelbar, dann hätte ich wird bei direkt gewählten Po- lefonnummer, wenn es um Europa geht, gesagt: Glaub ich nicht. litikern anderswo auch prakti- wie Henry Kissinger einst gesagt hat, nicht SPIEGEL: Dass Ihr Vorgänger Helmut Kohl ziert. Der amerikanische Präsident – sicher 15 oder 25 oder 27. im Fernsehen zugeben muss, Herr über derjenige, der von allen Regierungschefs SPIEGEL: Aber die Telefonnummer sollte Schwarzgelder gewesen zu sein, überrascht am angespanntesten ist – darf maximal doch wohl kaum die Berliner Vorwahl Sie? acht Jahre amtieren. Ich will nicht über haben. Schröder: Das Epochale besteht darin, dass acht oder zehn Jahre rechten, aber man Schröder: Es sollte eine europäische Num- 16 Jahre Regierungszeit, die ja nicht nur muss sich klarmachen, dass nach einer ge- mer sein, es muss ja keine deutsche sein. von Misserfolgen begleitet sind, auf ein- wissen Zeit in diesen anspruchsvollen Äm- Die Strukturen, die zu einer Identität Eu-

90 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Zukunft ropas in der Sicherheits- und Außenpoli- die finanziell für Russland am meisten leis- beschäftigt. Als Kanzler ist Außenpolitik tik führen sollen, bilden sich langsam her- ten. Wir haben 60 Milliarden Mark Kredi- ein ebenso interessanter wie notwendiger aus. Ernst genommen wird der, der te für die frühere Sowjetunion gegeben, Teil der Arbeit. Meine Kanzlerschaft be- etwas zu bieten hat.Wenn wie in der Koso- wir haben am meisten materiell zur Stabi- gann ja mit der EU- und der G8-Präsi- vo-Krise Europa die notwendigen Maß- lisierung Russlands geleistet. dentschaft. nahmen ohne die Amerikaner nicht zu SPIEGEL: Vielleicht verlagern sich die SPIEGEL: Hatten Sie eigentlich den größten ergreifen vermag, müssen wir uns nicht Hauptschauplätze auch anderswohin. Das Bammel vor diesen Aufgaben? wundern, wenn die USA die erste Geige 20. Jahrhundert war das Jahrhundert Ame- Schröder: Nein, aber natürlich war es in spielen wollen. rikas, ist das 21. Jahrhundert das Jahrhun- meiner Lebensplanung nicht vorgesehen, SPIEGEL: Wir müssen es selbst können, da- dert Chinas? über den Eintritt Deutschlands in einen mit die Amerikaner es nicht ohne unser Schröder: China bleibt ein ganz Wollen tun. wichtiger Faktor, wenn ich auch per- Schröder: Das drücken Sie sehr sophistica- sönlich meine, dass die wirtschaftli- ted aus, aber da ist etwas dran. che Entwicklung nicht so eindimen- SPIEGEL: Aber es kann doch gar nicht an- sional verlaufen wird, wie es die ders sein, als dass eine europäische Ein- angeblichen oder tatsächlichen Chi- greiftruppe, wenn sie einmal existiert, in na-Kenner häufig vermuten. Ich Konkurrenz zur Nato tritt. glaube, das wird bruchhafter ge- Schröder: Nein, die europäische Verteidi- schehen, aber natürlich, China spielt gung ist gedacht als Teil der Nato und wird eine ganz wesentliche Rolle. auch so aufgebaut. Deswegen muss nie- Mindestens ebenso interessant ist mand Angst vor einem einheitlichen, effi- doch Südamerika, Brasilien etwa, wo

zienten, geschlossen auftretenden Europa Präsident Cardoso ernsthaft wirt- M. URBAN haben. schaftliche Entwicklung, Einhegung Schröder beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Russland muss diese Einrichtung des Militärs und Demokratisierung „Mehr Freiheiten, auch mal Nein zu sagen“ zwangsläufig mit Argwohn erfüllen. in Einklang zu bringen versucht. Schröder: Nein, es geht ja darum, dass ein Dieser Kontinent ist unglaublich interes- Krieg entscheiden zu müssen. Ich hätte mir selbstbewussteres Europa nur im Interesse sant, die Wachstumsraten dort sind höher das gerne erspart.Aber nach meiner festen Russlands sein kann. Ich glaube, es wird als in China. Deswegen, denke ich, gibt es Überzeugung gab es zum damaligen Zeit- hilfreich sein, dabei nicht nur in militäri- nicht den einen oder anderen Haupt- punkt zu dieser Entscheidung keine Alter- schen Kategorien zu denken. Ich finde schauplatz, sondern wir werden erleben, native. den Ansatz meines Außenministers, den dass sowohl dort als auch in Asien, Aufse- Es ging ja nicht nur um die Verteidigung zivilen Teil in den internationalen Ver- henerregendes sich vollzieht. von Menschenrechten im Kosovo, das handlungen immer wieder zu betonen, SPIEGEL: Ist das die größte Veränderung, war ja nur ein Teil des Begründungs- durchaus richtig. die im Kanzler Schröder vonstatten ging – zusammenhangs. Es ging auch um Bünd- Ich will da ein Beispiel sagen: Den Deut- die Wandlung zum Außenpolitiker? nissolidarität. Wenn man mit Fug und schen wird ja vorgeworfen, sie würden zu Schröder: Als Ministerpräsident eines Bun- Recht formuliert, dass die Nato Kern- wenig für Sicherheit, für Militär ausgeben. deslandes sind Sie im Wesentlichen mit bestand deutscher Außenpolitik ist, Bei dieser Debatte, die international Wirtschafts-, Finanz- oder Rechtspolitik spielt doch die Frage, ob Solidarität geführt wird und die amerikanische Ver- im Bündnis eine Einbahnstraße sein teidigungsminister bei Besuchen hier in * Oben: mit den Redakteuren Gerhard Spörl, Stefan soll, eine viel größere Rolle als früher. Aust und Jürgen Leinemann in seinem Berliner Amts- Berlin gelegentlich ansprechen, wird die zimmer; unten: am 25. August bei einer Sightseeing- Früher konnte eine deutsche Regierung Tatsache ausgeblendet, dass wir es sind, Tour mit Politikern und Journalisten. einen Scheck unterschreiben und sagen: Entschuldigt, wir können ja nicht mit- machen und auf die Teilung Deutsch- lands verweisen. Das ist vorbei. Heute würde das Fernbleiben keiner mehr ak- zeptieren. SPIEGEL: Aber mussten dann die Deutschen gleich darauf in Osttimor mit von der Par- tie sein? Schröder: Der Außenminister hatte in New York gesprochen. Wir haben dann darüber geredet. Ich habe sofort ge- sagt: Der Außenminister hat vor der Uno gesagt, wir machen das. Jeder, der meint, er könne ihn hängen lassen, kann mit meiner Unterstützung nicht rech- nen. Ich glaube, er hat Recht gehabt. Ich bin ganz sicher, dass diese Entscheidung ihm und uns mehr Freiheiten gibt, auch wieder mal Nein zu sagen in einem ähnlich gela- gerten Fall. SPIEGEL: Jetzt argumentieren Sie ziemlich sophisticated. Schröder: Ja, das kommt gelegentlich vor.

ROPI SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, wir danken Regierungschef Schröder, Ehefrau Doris in Berlin*: „Ans Teilen gewöhnen“ Ihnen für dieses Gespräch.

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Werbeseite Deutschland DER MOTOR FÜR DIE ZUKUNFT Beginnt im kommenden Jahrhundert ein weltweiter Kampf ums Öl, oder werden erneuerbare Energien den Markt erobern? Ausgerechnet die Öl- und Auto-Konzerne investieren schon Milliarden in alternative Techniken.

Die Steinzeit endete nicht, weil der Welt die Brennstoffzelle, die Wasserstoff und Luft- Steine ausgingen. Genauso wird das Ölzeitalter sauerstoff direkt in Elektrizität umwandelt

nicht enden, weil uns das Öl ausgeht. und garantiert unschädliches Abgas aus- FOCUSSPL / AGENTUR Don Huberts, Direktor von Shell Hydrogen stößt – reinen Wasserdampf. Getankt wird Erdwärme-Kraftwerk (an Islands Küste): Binnen bei der örtlichen Düngemittelfabrik, wo ie Zukunft beginnt in Island – ganz das saubere Brenngas ohnehin mit dem mische Presse „Professor Wasserstoff“ leise. Zunächst, ab Herbst 2002, wer- Strom aus Islands Wasserkraftwerken seit taufte. Trotzdem importiere sein Land fast den die Busse des öffentlichen Nah- langem produziert wird. 40 Prozent des Energiebedarfs in Form verkehrs mit ungewohnt niedrigem In vier Jahren dann sollen auch private von umweltschädlichen Ölprodukten. DGeräuschpegel die Straßen der Autofahrer mit dem Umstieg beginnen. Bis „Warum“, so Árnason, „sollten wir nicht Hauptstadt Reykjavik befahren. Ihr An- dahin wollen DaimlerChrysler, aber auch in der Lage sein, dazu Alternativen zu trieb ist ein Elektromotor, aber dessen Ford, General Motors und Toyota die fah- finden?“ Kraftquelle ist keine Batterie. Den Strom renden Kleinkraftwerke als Personenwa- Árnasons Lebensfrage stellt sich welt- liefert ein technisches Wunderwerk, gebaut gen auf den Markt bringen. weit. 140 Jahre nachdem im amerikani- beim Auto-Konzern DaimlerChrysler: eine Bald darauf soll der letzte, der größte schen Pennsylvania erstmals nach Erdöl Schritt folgen: die Umrüstung einer der gebohrt wurde, hängen die wirtschaftli- größten Fischfangflotten der Welt auf Was- chen und politischen Geschicke der Trumpfkarte der Opec serstoffantrieb. Irgendwann zwischen 2030 Menschheit mehr als je zuvor an der Ver- Ölreserven der großen und 2040, so plant die Regierung, wird das fügbarkeit des schwarzen Goldes. Jeden Förderländer Land der Vulkane und Geysire kein Benzin Tag pumpt die global organisierte Ölwirt- in Millionen Tonnen, Stand: Ende 1998 und Dieselöl mehr benötigen und seine ge- schaft fast zehn Millionen Tonnen des be- samte Wirtschaft mit Energie aus heimi- gehrten Safts aus mehreren tausend Quel- schen Quellen betreiben. len von Alaska bis nach Indonesien aus der Mitglieder der Opec „Die Vision ist phantastisch“, Tiefe. Zudem fördert sie so viel Erdgas, Saudi-Arabien 35 800 begeistert sich Forschungsmanager wie es dem Brennwert von sechs Millionen Philip Mok, der beim Vorstand des Tonnen Öl entspricht. Irak 15 100 Stuttgarter Autokonzerns das Island- Allen Energiedebatten der vergangenen Kuweit 13 300 Projekt betreut.Aber sie ist keine Phantas- Jahrzehnte zum Trotz wächst der Durst Ver. Arab. Emirate 12 600 terei. Nicht weltfremde Tüftler treiben das nach Öl und Flüssiggas anscheinend un- Vorhaben an, sondern Global Player aus aufhaltsam. Um 70 Prozent stieg der welt- Iran 12 300 der ersten Liga der Weltwirtschaft. Als die weite Verbrauch an kommerziell genutzter Venezuela 10 500 Iceland Hydrogen Company im vergange- Energie in den vergangenen drei Jahr- nen Februar gegründet wurde, zeichneten zehnten, gedeckt zum größten Teil aus fos- Mexiko 6900 neben der isländischen Regierung und silen Ressourcen. Bleibe es bei der anhal- Russland 6700 DaimlerChrysler auch der Ölgigant Shell tenden Motorisierung der Entwicklungs- Libyen 3900 und der norwegische Stromkonzern Norsk länder, werde der Anstieg in den nächsten Hydro Anteile. Allein Daimler und Ford 20 Jahren fast noch einmal genauso hoch USA 3800 haben bereits über eine Milliarde Mark in sein, prognostiziert die Energy Informa- China 3300 den neuen Antrieb investiert. Island, sagt tion Agency der US-Regierung. Mok, „ist das ideale Land, um die Motoren Doch gerade deshalb wird die Frage, wie Nigeria 3100 der Zukunft zu testen“. und womit die Energieversorgung der südliche Länder 2400 Für Bragi Árnason, Chemiker an der Menschheit im nächsten Jahrhundert be- der GUS Reykjaviker Universität, löst sich damit ein stritten werden soll, zu einer der großen Norwegen 1400 Problem, das ihn schon seit 20 Jahren um- Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Algerien 1200 treibt. Die Natur biete den Isländern in „Wir haben begonnen, auf die letzten Brasilien 1000 Form von Erdwärme und großen Gebirgs- Tage des Ölzeitalters zuzusteuern. Entwe- Quelle: BP Amoco flüssen beinahe unerschöpfliche Energie- der wir akzeptieren den wachsenden Be- quellen, erklärt der Mann, den die hei- darf nach einem breiten Spektrum von

94 der spiegel 52/1999 40 Jahren die gesamte Energieversorgung auf heimische Ressourcen umstellen

Energiequellen, oder wir ignorieren die Der plötzliche Preisschub ermöglichte „Die verfügbare Menge von Öl“, so Yergin, Realität und werden langsam, aber sicher die weltweite Erschließung bis dahin zu werde „allein durch Ökonomie und Tech- zurückbleiben.“ Der Autor dieser Sätze ist teurer Ölquellen. Mit den neuen Feldern in nologie bestimmt“. Das trifft sich mit den kein idealistischer Weltverbesserer. Es war der Nordsee und in Alaska stieg das An- Erwartungen der Manager des weltgröß- Mike Bowlin, Chef des US-Ölkonzerns gebot schneller als die Nachfrage. Die ten Ölmultis Exxon. „Sicher ist, dass weder Arco (heute fusioniert mit BP Amoco), Macht der Opec, der Organisation Erdöl unsere Enkel noch deren Enkel das Ende der bei einem Energiesymposion in der exportierender Staaten, zerbrach so des Ölzeitalters erleben“, verspricht Karl- US-Ölmetropole Houston im vergangenen schnell, wie sie entstanden war. Nie waren Heinz Schult-Bornemann, der beim deut- Februar erstmals offen aussprach, was ihn Öl und Erdgas so billig wie während der schen Exxon-Ableger Esso die Ressour- und seine Kollegen seit langem bedrängt. vergangenen beiden Jahrzehnte. cenfrage bearbeitet. Schon einmal, im Jahr 1973, wurde die Doch wie lange wird das noch so blei- Das sehen viele unabhängige Experten westliche Staatenwelt rüde daran erinnert, ben? Die Antwort ist in der Fachwelt hoch nicht so optimistisch. So warnt der britische dass die Öl-Abhängigkeit die Achillesferse umstritten. Rein rechnerisch ließe sich der Geologe Colin Campbell, der 40 Jahre lang der Industriegesellschaft ist. Als die Herr- Verbrauch auf derzeitigem Niveau mit den für die Ölindustrie tätig war: „Für vier Fäs- scher der Staaten am Persischen Golf im als gesichert geltenden Reserven noch gut ser Öl, die wir verbrauchen, wird derzeit Gefolge des arabisch-israelischen Krieges 40 Jahre fortsetzen, die Gasvorräte reichen nur ein Fass an neuen Ressourcen ent- den Ölpreis durch künstliche Verknappung noch zwei Jahrzehnte länger. deckt.“ Wegen der insgesamt beschränkten versechsfachten, provozierten sie eine Gleichzeitig versichern die Förderkon- Vorräte werde die Weltölförderung schon weltweite Wirtschaftskrise. zerne, dass es ihnen noch immer gelingt, im kommenden Jahrzehnt ihren Höhe- Angestoßen von der Studie des Club of durch neue Technologien die Reichweite punkt erreichen und anschließend unwei- Rome über die Grenzen des Wachstums dieser Lagerstätten weiter auszudehnen. gerlich abnehmen. überschlugen sich die Futurologen mit Vor- Der US-Ökonom Daniel Yergin, Autor des Karl Hiller, Ölfachmann bei der Bun- hersagen über die Endlichkeit der Res- preisgekrönten Klassikers „The Prize“ desanstalt für Geowissenschaften, setzt sei- sourcen und das Ende der Ölzeit noch im über die Geschichte des Erdöls, hält daher ne Reservenschätzung höher an, verschiebt 20. Jahrhundert. Das war ein Irrtum. Knappheitswarnungen für unbegründet. aber Campbells Szenario damit nur um ein Jahrzehnt. „Zwischen 2010 und 2020 ist das globale Potenzial für konventionelles Erdöl zur Hälfte erschöpft.“ Er wolle „kein Kas- sandrageschrei erheben“, so Hiller, „aber wir weisen darauf hin, dass es Preisschübe und Engpässe geben wird“. Das deckt sich mit Campbells Resümee: „Der Welt geht nicht das Öl aus.Was uns bevorsteht, ist das Ende der Ära des billigen Öls.“ Verschärft wird diese Aussicht durch ei- nen weiteren Umstand: Fast zwei Drittel der leicht förderbaren Reserven liegen auf dem Gebiet der fünf Staaten rund um den Persischen Golf. Folglich wird die Markt-

G. LUDWIG / VISUM macht der Scheichs sowie der Herrscher

Ölförderung (in Aserbaidschan) „Wo es Öl gibt, fließt auch Blut“ 95 Deutschland

Irans und des Irak unweigerlich zunehmen, werde, schreibt er in seinem jüngst er- OSZE-Gipfel in Istanbul im vergangenen je näher das Ende der kleineren Lager- schienenen Buch mit dem gleichen Titel, November düpierte er seinen russischen Wi- stätten außerhalb der Opec-Staaten rückt drohe „das wahrscheinlich größte Gemet- derpart Boris Jelzin mit der zeremoniellen (siehe Grafik Seite 94). Schon im Jahr 1999 zel seit Menschengedenken“. Unterzeichnung eines Vertrags, der den Bau wuchs ihr Marktanteil erstmals wieder auf Scheer sieht sich bestätigt durch die pro- einer 2,4 Milliarden Dollar teuren Pipeline rund 30 Prozent, etwa den Stand von 1973. vozierende Geo-Strategie der US-Regie- von den Ölfeldern Aserbaidschans bis zum Was damit durchsetzbar ist, demon- rung bei der Erschließung der Ölressourcen türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan besie- strierte das Kartell der Ölexporteure im ab- rund um das Kaspische Meer, dem „Epi- gelte. So wird das Öl der Aseris durch die gelaufenen Jahr. Binnen sechs Monaten ge- zentrum des letzten Ölrausches“ („Time“). längere Route zwar teurer, aber vorbei an lang es ihnen, durch Kürzung Russland und Iran vermark- ihrer Fördermengen den tet. Prompt schlossen Russen Preis zu verdoppeln, wenn- und Iraner einen Koopera- gleich von einem zuvor sehr tionsvertrag, um „gemeinsa- niedrigen Niveau. „Die Opec me Interessen im Kaspischen redet wieder Klartext“, titel- Meer“ zu verteidigen. te das US-Magazin „Time“. All das geschehe quasi Demgegenüber steht der „vor der Haustür der Mil- gigantische Öldurst des auf- liardenvölker Chinas und In- strebenden Asiens. Die Milli- diens“, empört sich Scheer. ardennation China kann Die logische Konsequenz sei ihren Bedarf erst seit 1993 ein künftiges Bündnis Chinas nicht mehr aus eigenen Quel- und Indiens mit Russland so- len decken, aber die Importe wie Iran und dem Irak, also wachsen mit atemraubender eine neue Block-Konfronta- Geschwindigkeit. Bereits bis tion, „die gleichzeitig ein

zum Jahr 2015 rechnen Fach- ARGUS Nord-Süd-Konflikt wäre“. leute mit einem Anstieg der Autoverkehr (in Bangkok): Asiens Öldurst wächst atemraubend schnell Das könnte so kommen, Öleinfuhren auf US-amerika- aber es muss nicht. Die öko- nisches Niveau. Daraus entstehe eine „sehr Schon der Blick auf die per Website publi- nomischen und ökologischen Bedingungen enge Abhängigkeit zwischen Ostasien und zierte Landkarte des US-European Com- der globalisierten Weltwirtschaft weisen in dem Mittleren Osten“, schließt der Son- mand demonstriert den Machtanspruch: eine andere Richtung. Jenseits der alten derberater der US-Regierung Kent Calder. Die gesamte nichtrussische Kaukasus- Preis- und Kriegsszenarien im Kampf ums Dies werde „die westlich dominierte Welt- region deklarierten Washingtons Militärs Öl bahnt sich von ganz anderer Seite ein ordnung fundamental in Frage stellen“. als ihre „area of responsibility“. verblüffender Wandel an. Solche Perspektiven liefern Stoff für Der gleichen Logik folgt die russische Eines der Symbole dieser anderen Schreckensszenarien. Der SPD-Bundes- Kaukasuspolitik. Der Vernichtungsfeldzug Energiezukunft ist neuerdings in Gelsen- tagsabgeordnete Hermann Scheer, schon gegen die Tschetschenen dient nicht zu- kirchen zu besichtigen: Europas größte lange ein radikaler Kämpfer gegen die „Py- letzt der Sicherung der Transportrouten Fabrik für fotovoltaische Solarzellen. Sei- romanen der fossilen Ressourcenwirt- für kaspisches Erdöl. „Wo Öl ist, gibt es ne eigene Stromversorgung gewinnt das schaft“, zeichnet ein düsteres Bild. auch Blut“, konstatierte Ölminister Wiktor Werk selbst zu erheblichen Teilen aus Schon vor dem absehbaren „Kreu- Kaljuschny lakonisch. Sonnenlicht. Die glitzernde Hightech-An- zungspunkt von Verbrauch und abneh- Den jüngsten Höhepunkt im Kampf um lage ist das Vorzeigeprojekt einer Firma, mender Verfügbarkeit“ des Erdöls, so die Vorherrschaft in der neuen Ölregion, die noch vor kurzem ausschließlich dem Scheer, werde „ein wirtschaftliches Chaos deren Reserven etwa denen der Nordsee- Ölgeschäft verschrieben war: der Royal unausweichlich“. Wenn nicht schnell auf vorkommen entsprechen, markierte US- Dutch Shell. 13 Millionen der beschich- eine „solare Weltwirtschaft“ umgestellt, Präsident Bill Clinton persönlich. Beim teten, Strom produzierenden Silizium-

936 696 368 OSTEUROPA Globaler Treibstoff 248 einschließlich GUS Erdölverbrauch in Millionen Tonnen Ölwirtschaft nach Erdölförderung in Millionen Tonnen 1097 493 Weltregionen 1998 319 Exportströme (über 20 Mio. Tonnen) WESTEUROPA 97 255 48 20 USA, KANADA 210 0 JAPAN 22 213 204 315 640 137 45 22 109 365 NAHER OSTEN 518 33 90 360 299 ASIEN, 112 29 AUSTRALIEN, 209 29 PAZIFIK LATEINAMERIKA AFRIKA

Quelle: BP Amoco

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Werbeseite Deutschland scheiben sollen jährlich hier vom Band abhängigkeit umweltfreundlich befriedi- senfertigung könnte den Preis auf rentables laufen. gen soll. Niveau senken. Nur fehlt eben dafür wegen Mit 25000 Kilowatt Leistung entspricht Doch nicht die Endlichkeit ihrer Res- der hohen Kosten der Markt. das nicht einmal einem Promille des deut- sourcenbasis steht bei den Ölgiganten hin- Erstaunlicherweise geben sich gerade die schen Bedarfs. Gleichwohl steht die 50- ter der neuen Investmentstrategie.Als weit notorischen Warner von der Umweltfront Millionen-Mark-Investition für ein neues bedrohlicher für ihr Kerngeschäft schätzen neuerdings trotzdem optimistisch. „Die Phänomen: Ein wachsender Teil des Spitzen- die Ölbosse die engen Grenzen ein, die der technologische Dynamik ist entschei- managements der Ölkonzerne hat begon- Nutzung der irdischen Atmosphäre als glo- dend“, meint Chris Flavin, Vizepräsident nen, die Unternehmen für den Ausstieg baler Abgasdeponie gesetzt sind. „Die Kli- des Washingtoner Worldwatch Institute, aus dem bloßen Ressourcen- dessen Berichte zur Lage der geschäft vorzubereiten. Welt bislang meist wenig Zu- Bei Shell bilden die „er- versicht weckten. Flavin: neuerbaren Energien“ bereits „Die Solarindustrie wird einen der fünf eigenständigen boomen wie die Computer- Konzern-Geschäftsbereiche, branche.“ dem auch die Errichtung von Ein Modell sei die deutsche Windparks und Biomasse- Einspeisevergütung für Wind- Kraftwerken untersteht. Die strom, mit der eine Wachs- Umsätze sind mit bislang 50 tumsindustrie entstanden ist, Millionen Dollar jährlich be- die schon 20000 Menschen scheiden, aber die Pläne sind beschäftigt, weltweite Export- groß: 500 Millionen Dollar erfolge feiert und – nach ähn- will der Konzern binnen fünf lichem Muster – auch in In- Jahren investieren. Allein im dien einen Windstromboom Solarbereich ist eine jährliche ausgelöst hat. Die Solar- Wachstumsrate von 22 Pro- stromvergütung soll nach

zent kalkuliert. / BILDERBERG M. HORACEK dem Willen der rot-grünen Frithjof Kublik, Vizepräsi- Shell-Solarzellenfabrik (in Gelsenkirchen): Ausstieg aus dem Öl Regierung bald folgen und dent bei Shell Solar, bestrei- den gleichen Effekt bringen. tet entschieden, dass der Start in den So- mafrage nehmen wir knallernst“, erklärt Ähnliches kündigt sich mit dem ab 2004 larmarkt vor allem dem Markenimage Peter Knoedel, Vorstand bei BP Deutsch- für zehn Prozent aller Neuwagen in Kali- dient. „Es geht ums Geschäft, nicht um land – das Credo, das BP-Chef John fornien vorgeschriebenen Null-Emissions- PR“, sagt er, und schildert enthusiastisch Browne schon 1997 ausgab. standard an. Dafür entwickeln die Auto- seine Strategie, mittels „Solar Trend Demonstrativ scherte Browne damals konzerne ihre Brennstoffzellenmotoren. Shops“ in den Tankstellen über solarge- zur Überraschung seiner Kollegen aus der Diese politisch geschaffenen Startmärkte triebene Radios und Akku-Lader den Ver- „Global Climate Coalition“ aus, der ehe- können nach Meinung der Umweltschützer brauchern das Produkt nahe zu bringen dem mächtigen Lobby von Öl-, Chemie- wie der Ölmanager der erste Schritt zur und „Energiebewusstsein“ zu erzeugen. und Autokonzernen. Jahrelang hatte sie Überwindung der Kostenlücke sein. Dabei ist Shell nur der Zweite im erfolgreich alle Versuche sabotiert, die Den nächsten Schritt erwarten Flavin Rennen. Die Nase vorn hat die BP-Amo- Emissionen des Treibhausgases Kohlen- und seine Mitstreiter aus der Kombination co-Gruppe, deren Tochter Solarex neben dioxid mit einem globalen Abkommen zu von Politik und Globalisierung. Die Furcht dem japanischen Konzern Kyocera Welt- begrenzen. Shell, Dow Chemical, Ford und vor den Folgen des einsetzenden Klima- marktführer für Photovoltaik ist. Bis 2007 viele andere folgten. wandels werde drastische Politikwechsel soll der Umsatz im Solarbereich bei BP Brownes Signal wirkte wie ein „Weck- erzwingen. „Das physische Klima ver- schon die Milliarden-Dollar-Grenze über- ruf für den Konzern“, sagt Knoedel. Mit ändert das politische“, so Flavin, das schreiten. Und ebenso wie Shell investiert großem Aufwand steuert BP mittlerweile könne zur schnelleren Verbreitung der das Unternehmen parallel zu den Auto- den CO2-Ausstoß der eigenen Betriebe, neuen Technologien führen als bislang konzernen in großem Stil in die Wasser- immerhin so groß wie der von Belgien, um erwartet. stofftechnologie, die dereinst, hergestellt jährlich ein Prozent nach unten und eta- Genauso begründet der frühere Um- mit dem Strom aus erneuerbaren Energien, blierte ein wegweisendes Handelssystem weltsenator und heutige Shell-Vorstand die Sehnsucht nach der automobilen Un- mit Emissionszertifikaten. Fritz Vahrenholt die neue Konzernstrate- Doch kann das Umdenken in den Chef- gie. Es gelte, sich im neuen Jahrhundert etagen der Ölmultis die verhängnisvolle darauf vorzubereiten, „wenn in der zwei- Eigendynamik des globalen Hungers nach ten Dekade die Klimaveränderung mit fossilen Brennstoffen noch umlenken? voller Wucht auch die gemäßigten Zonen Nach wie vor steckt die Solarenergie im erreicht – nicht nur in Form weltweiter Kostendilemma. Zehn Prozent aller Dach- Wanderungsbewegungen“. flächen in Deutschland würden ausreichen, Angesichts solcher neuen Bündnispart- um – bestückt mit Solarzellen und mittels ner gibt sich auch Bill Hare, Direktor für Pumpspeicherwerken und anderen Spei- Klimapolitik bei Greenpeace Internatio- chermedien – den gesamten Strombedarf nal, zuversichtlich. Die Industrie habe nun zu decken. Würden große Fassaden mit Interesse an der Überwindung der fossilen einbezogen, wie es BP plant, ließen sich Energien. „Sie investieren in die neueste auch große Mengen Wasserstoff herstellen, Technik, da spielt jetzt die Musik, darum um eine mit Brennstoffzellen betriebene können wir das Problem lösen.“ Autoflotte zu versorgen. Das sieht BP-Manager Knoedel nicht an-

M. VOLLMER Aber bei den derzeitigen Kosten vom ders: „Wahrscheinlich wird eine Menge Öl Brennstoffzellen-Bus (in Hamburg) Zehnfachen des konventionell erzeugten und Gas im Boden bleiben, es gibt besse- Garantiert unschädliche Abgase Stroms ist das reine Utopie. Erst die Mas- re Alternativen.“ Harald Schumann

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Ende aller Träume Klaus Franke enn der Kanzler vor seinen Wählern zum rhetorischen Auf- wohlgeordnete, auf Vernunft gegründete Gegenwelten – Ideal- schwung ansetzt, blickt er gern visionär in die Ferne: „Zu- staaten ohne Willkür, Unrecht, Kriege und materielle Not. kunftsfähig“ muss Deutschland werden, „modern“, „inno- Nicht selten war es das eigene triste Schicksal, das die Vor- Wvativ“ und „fit fürs nächste Jahrhundert“. Näheres dazu, ruft denker inspirierte. Der Grieche Platon (427 bis 347 vor Christus), er in die neue Mitte, sei dem Schröder-Blair-Papier zu entnehmen. Verfasser der ersten bedeutenden Staatsutopie, war aus Athen ge- Am Kabinettstisch ist der Regierungschef dann wieder nüch- flohen, nachdem sein zum Tode verurteilter Lehrmeister Sokra- tern: Sparkpaket, Kindergeld, Rente mit 60, lauten hier die The- tes den Giftbecher hatte leeren müssen. Auf Sizilien lieferte der men. Der Aufbruch ins neue Millennium beginnt mit der zweiten dort herrschende Tyrann Dionysios den Emigranten an die Spar- Stufe der Ökosteuer – nicht gerade ein Fanal, das unbändigen Ver- taner aus, die ihn als Sklaven verkauften. änderungswillen anzeigt. In seiner Schrift „Politeia“ („Der Staat“) skizzierte Platon das Vorbei die Zeiten, als im politischen Diskurs große Räder ge- Modell eines streng gegliederten Ständestaats, der von einem dreht wurden. Am Ende des Säkulums, das hinlänglich von Re- Kollegium weiser und disziplinierter Gesetzgeber regiert wird. Die volutionslärm und ideologischem abgeklärten Herren gleichen, ver- Kampfgeschrei erfüllt war, sind die steht sich, dem Selbstbild des aris- Visionen radikaler Weltverbesse- tokratischen Autors, der, freige- rer restlos verdunstet. Durchwurs- kauft und nach Sizilien zurückge- teln heißt die Parole zur Jahrtau- kehrt, vergebens versuchte, unter sendwende; wohin die Reise geht, dem Nachfolger des Dionysios sei- ist ungewisser denn je. nen Idealstaat zu verwirklichen. Spätestens seit der Amerikaner Übel mitgespielt wurde auch Francis Fukuyama das „Ende der den Renaissance-Utopisten Tho- Geschichte“ ausrief, den totalen mas More (1478 bis 1535) und Tom- Sieg des Kapitalismus und der li- maso Campanella (1568 bis 1639): beralen Demokratie, drehen sich Der eine, Lordkanzler unter Kö- die westlichen Staatslenker ziem- nig Heinrich VIII. von England, lich ratlos im Kreis. Gehetzt von wurde wegen angeblichen Hoch- den Stürmen der Globalisierung verrats enthauptet; der andere, ein stolpern sie der Entwicklung hin- Dominikanermönch aus Kalabrien terher. Nicht einmal die Linken, und zeitlebens ein sozialrevolu- bislang unermüdliche Lieferanten tionärer Feuerkopf, verbrachte ins- politischer Alternativen, bieten Ori- gesamt 27 Jahre im Kerker, wo er

entierung an. Nach dem Kollaps AKG mehrfach schwer gefoltert wurde. des realsozialistischen Ostblocks Revolutionsallegorie*: Wehen einer schwangeren Gesellschaft More („Utopia“), Campanella sind sie fürs Erste verstummt. („Sonnenstaat“), dazu der Brite Nichts ist geblieben vom „Geist der Utopie“, den der Philosoph Francis Bacon („Nova Atlantis“) wurden zu Gründervätern der Ernst Bloch („Das Prinzip Hoffnung“) einst emphatisch als Mo- utopischen Erzähltradition, die bis ins 20. Jahrhundert nie abriss. tor des gesellschaftlichen Fortschritts gepriesen hatte. In den Fast alle Nachfolger orientierten sich am literarischen Schema Staatsutopien der Renaissance, der Aufklärer und Frühsozialisten der drei Klassiker: Ein Fremder besucht die Utopier auf ihrem ab- erblickte Bloch „Wachträume“ prophetischer Einzelgänger und gelegenen Eiland und berichtet von nachahmenswert vernünfti- zugleich erste Wehen einer „Gesellschaft, die mit einer neuen gem Treiben der Eingeborenen. Die leben bescheiden, aber aus- schwanger geht“. kömmlich, und dienen freudig dem Gemeinwohl. Die Abschaffung Das war einmal, glaubt der Essener Philosoph Norbert Bolz: des Privateigentums sorgt für Verteilungsgerechtigkeit und so- „Als Kompass auf dem offenen Meer der Zukunft“, schätzt er, zialen Frieden. Habgier und Neid sind nirgends zu beobachten, habe das utopische Denken ausgedient. Wer sich im gegenwärtig die Verbrechensrate liegt nahe null. rapiden Weltwandel von sehnsuchtsvollen Wach- und Wunschträu- Noch die grüne Utopie des US-Autors Ernest Callenbach, er- men leiten lasse, werde im nirgendwo landen. „Nie wusste man schienen 1975 unter dem Titel „Ecotopia“ und ein Kultbuch der so wenig von der Zukunft wie heute“, warnt Bolz, sie nach Leit- Alternativen, folgt dem traditionellen Muster. Bei Callenbach ist bildern zu planen, sei ebenso sinnlos wie gefährlich. es ein Zeitungsreporter, der – anno 1999 – den bis dahin isolier- Dass die Forderung nach Utopieverzicht bei Europas Linken ten Öko-Staat bereist und seine Berichte ins smogumnebelte New Entzugssymptome auslöst, ist begreiflich. Seit der Antike rumor- York kabelt. te der utopische Unruhegeist in den Köpfen abendländischer Solange in Europa Verhältnisse herrschten wie in heutigen Ent- Denker. Durch die Jahrhunderte haderte die „klagende Klasse“ wicklungsländern, mochten die Bilder vom bescheidenen Glück (so der Soziologe Wolf Lepenies) unzufriedener Intellektueller mit im utopischen Weltwinkel attraktiv erscheinen. Auf individuali- den jeweils herrschenden Gesellschaftszuständen; immer wieder sierte Wohlstandsbürger wirken die kollektivistischen Visionen entwarfen die frustrierten Wachträumer an ihren Schreibtischen eher beängstigend. Es könne kein Zufall sein, haben Kritiker iro- nisch angemerkt, dass die Utopisten ihre Gesellschaftsexperi- *„Die Freiheit führte das Volk“, Gemälde von Eugene Delacroix (1830). mente mit Vorliebe auf Inseln stattfinden lassen – womöglich lie-

102 der spiegel 52/1999 fen die Teilnehmer sonst in Scharen davon. Ohnedies ist die Vor- In den neunziger Jahren, scheint es, ist die Welt vollends un- stellung, es könne gelingen, in stolzer Isolation eine heile Welt zu berechenbar geworden. „Der Epochenwechsel, der sich vor un- errichten, für Zeitgenossen reichlich absurd. In der Epoche der seren Augen vollzieht“, konstatiert der Mannheimer Historiker Globalisierung, des Massentourismus und des Internet gibt es Rolf Peter Seiferle, „ist so chaotisch, dass sich die Konturen künf- keine geschützten Nischen mehr. Auch Callenbachs „Ecotopia“, tiger Wirklichkeit noch kaum erahnen lassen.“ Ähnlich sieht es der wo Autos und Flugzeuge abgeschafft sind und „nachhaltiges“ Berliner Wissenschaftssoziologe Meinolf Dierkes – seine Dia- Wirtschaften Pflicht ist, wird von Wetterkatastrophen überrollt gnose: „Ordnung nimmt ab und Chaos zu.“ In fast allen Bereichen werden, falls das Erdklima kippt. der Gesellschaft, bemerkt er, schreite die „Erosion fundamenta- Am eigensinnigen Rückzug hinter den Eisernen Vorhang schei- ler und jahrzehntealter Hintergrundgewissheiten, Erfahrungs- terte nicht zuletzt auch die sozialistische Utopie der klassenlosen muster, Denkfiguren und Entscheidungsraster“ immer rascher Gesellschaft. Als er sich schließlich öffnete, zeigte sich dahinter fort. Der Orientierungsverlust bewirke, „dass die Zukunft zu- eine sklerotische Gesellschaft, die bis zum Ende ihre Dogmen ver- nehmend als ein einziges schwarzes Loch erscheint, das jeden teidigte, obwohl sie längst daran erstickt war. Hoffnungsschimmer auf Gestaltbarkeit aufschluckt“. Zwar hatten Karl Marx und Friedrich Engels ihre utopischen In einer Welt, die so komplex geworden ist, dass die Folgen von Vorgänger als Phantasten abgelehnt, die ihre Idealwelten sorglos Entscheidungen kaum mehr abzusehen sind, rät Philosoph Bolz ins Blaue konstruierten. Doch für ganz nutzlos hielten sie deren zu gelassener Bescheidenheit. Besser wäre es, meint er, auf hoch- luftige Gebilde nicht; sie sollten nur auf den Boden der gesell- fahrende Pläne und die Suche nach Perfektion zu verzichten und schaftlichen Realität geholt werden. stattdessen „eine völlig neue Kultur der Fehlerfreundlichkeit“ zu Was bei der Realisierung heraus- entwickeln.Wo Fehler unvermeidlich kam, war mörderisch – und wurde sind, dürfte es vernünftiger sein, gleichwohl von Utopiedenkern wie meint Bolz, sie zu akzeptieren und, Bloch bis über die Stalin-Ära hinaus wenn möglich, auszubügeln; das trai- gerechtfertigt. Als der Nachtmahr niere die dringend nötige Fähigkeit, schließlich vorüber war, begann die sich an Unvorhersehbares anzupas- Abrechnung mit dem vermeintlich sen. „Liebe die Ungewissheit“, pre- wohltätigen Geist der Utopie: Er sei, digt Bolz, der in einer „Politik des schrieb etwa der Journalist und Hit- Sich-Durchwurstelns“ die einzig er- ler-Biograf Joachim Fest, aufs engste folgversprechende Handlungsmaxi- verschwistert mit dem fanatischen me sieht. Geist der Wiedertäufer und deren Kanzler Schröder wird diese Bot- Überzeugung, „dass die Welt zu ih- schaft gern vernehmen, manch an- rer Umgestaltung erst durch eine Ka- derer Genosse nicht. Auf die Frage tastrophe hindurchmüsse, durch ein „Leben ohne Utopie?“ hat der Alt- apokalyptisches Fegefeuer, das die 68er Johano Strasser, Mitglied der Verworfenen austilgen und den Gu- SPD-Grundwertekommission, mit ei- ten die Erlösung bringen werde“. nem bewegten Nein geantwortet. In der Praxis, meint Fest, sei der Zwar hat auch Strasser entdeckt, Tugendterror der Linken vom Nazi- dass die in den überlieferten Staats- Terror kaum zu unterscheiden; er utopien porträtierten Durchschnitts- sieht im Nationalsozialismus eine menschen eher sprachlosen Zombies rechte „Gegenutopie“. Hitlers „Tau- gleichen, die sich mit unbegreiflicher sendjähriges Reich“ mit seiner ver- Heiterkeit intellektuellen Besser- schworenen „Volksgemeinschaft“, wissern unterordnen; auch dass die die in Blut und Boden wurzelt, weist utopischen Traumgestalten stets ir- laut Fest alle jene totalitären Merk- gendwie Maos blauen Ameisen oder male auf, die in seinen Augen den rastlos ackernden Kolchosbauern utopischen Geist seit Platon kenn- ähneln, räumt Strasser ein. Dennoch, zeichnen. beharrt er, „geht es nicht ohne Vi-

Gegen Fests Utopiekritik, die Pla- PRESS FOTOS: / SIPA NOVOSTI (ob.); STAATSBIBLIOTHEK BAYER. sionen einer lebenswerten Zukunft“. tons Idealstaat und die Nazi-Herr- Nazi-, Sowjet-Kundgebung*: Erben von Platon? Eine Zukunft ohne Visionen von schaft über einen Kamm schert, hat einem besseren Leben kann sich der Frankfurter Politikwissenschaftler Richard Sage scharf auch Utopieforscher Sage nicht vorstellen, auch wenn er die Ide- protestiert. Gegenutopien erblickt er eher in pessimistischen alwelten der utopischen Klassiker für eine Fata Morgana hält. Zukunftsvisionen, etwa in George Orwells düsterem Roman Nach den in diesem Jahrhundert so katastrophal verunglückten „1984“ oder Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“. Derlei Hor- Versuchen, den Traum von der vollkommenen Gesellschaft zu ver- rorerzählungen, eine literarische Errungenschaft des 20. Jahr- wirklichen, rät Sage den Utopisten, in sich zu gehen und Selbst- hunderts, sind keine Wegweiser, sondern Warntafeln – beides al- kritik zu üben. Nicht einmal im Traum sollen sie fortan daran den- lerdings hilft wohl nicht viel auf dem Marsch in die Welt von über- ken, eine perfekte Welt zu entwerfen und sie den Mitmenschen morgen. als Leitbild anzupreisen. In der Postmoderne, schätzt Sage, kön- Längst hat die Futurologie, noch vor drei Jahrzehnten ein hoff- ne es nur „offene“ Utopien geben – Wunschbilder, die lediglich nungsvoller Wissenschaftszweig, vor der Aufgabe kapituliert, auch eine von vielen möglichen Zukünften ausmalen. nur halbwegs zuverlässige Prognosen zu liefern. Weder das In- Pluralismus im Reich der Utopien? An ein solches Versprechen ternet noch das Ozonloch, weder die Rinderseuche BSE noch mag der französische Philosoph Paul Virilio nicht glauben. Jede das Handy für jedermann haben die Gelehrten beizeiten an- Utopie, fürchtet er, tendiere dazu, „Modell und Zwangslehre“ zu gekündigt. Mit Sicherheit wird auch der nächste Börsencrash wie- werden, zum „Traum von der schlagenden Idee, die den Ge- der aus heiterem Himmel kommen. schichtsverlauf bändigt“. Das aber sei gleichsam widernatürlich und hindere die Menschheit daran, sich fortzuentwickeln: „Die * Oben: Adolf Hitler beim Erntedankfest auf dem Bückeberg bei Hameln (1937); un- Natur macht Sprünge, der Mensch stolpert; ohne chaotischen An- ten: Parade zur Oktoberrevolution (1988). teil gibt es keine Selbstorganisation unserer Gattung.“ ™

der spiegel 52/1999 103 Werbeseite

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Werbeseite Wirtschaft Heroin als Hustensaft „Alles, was erfunden werden kann, wur- de bereits erfunden.“ Mit dieser Einschät- zung lag der Chef des amerikanischen Patentamts, Charles Duell, 1899 kräftig daneben – und damit voll im Trend: Es begann ein Jahrhundert, das durch spek- takuläre Fehlurteile gekennzeichnet war. So galt Heroin jahrzehntelang als harmlo- ses Hustenmittel, das, so ein Bayer-For- scher zu Beginn des Jahrhunderts, „alle ähnlichen Präparate übertrifft“. Eine Ge- wöhnung, schrieb der Werkarzt, „scheint nicht einzutreten“; sein Unternehmen produzierte sogleich rund eine Tonne Heroin pro Jahr, exportierte es in 22 Län- der und verlor in Deutschland erst 1954 die Verkaufslizenz für den berauschenden Hustensaft. Eine andere Erfindung dage- gen schaffte es gar nicht erst auf den

Markt: Siemens verfügte mit dem „Hell- Bild oben) CINETEXT (gr. Ferdinand Porsche, Hollywood-Film „Ein toller Käfer“ Schreiber“, benannt nach seinem Erfinder Rudolf Hell, zwar über das erste Fax- gerät. Doch die Münchner verkannten dessen Potenzial: Das Geschäft machten Das Käfer-Wunder Als Auto betrachten den Käfer nur noch später die Japaner. Und selbst gefeierte wenige Menschen. Für die meisten ist der mit 21,4 Millionen meistverkaufte Pkw Hightech-Stars können sich irren: „640 der Welt längst ein Stück Geschichte – persönliche, weil der Käfer für eine ganze Ge- Kilobyte sollten für jedermann genug neration ihr erstes Automobil war, oder nationale, weil das Fahrzeug zum Symbol für sein“, befand Microsoft-Chef Bill Gates „made in “ und das deutsche Wirtschaftswunder wurde. Von Adolf Hitler 1981 – ein Spei- als „Kraft durch Freude“-Fahrzeug zur Motorisierung der Massen in Auftrag gegeben cherplatz für nur und von Ferdinand Porsche entworfen, begann der Siegeszug des Autos erst nach 167 DIN-A4-Sei- Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Käfer lief und lief und lief und überholte 1972 mit ten. Ein Standard- 15 Millionen verkauften Fahrzeugen den damaligen Rekordhalter, die „Tin Lizzy“ rechner von 1999 von Ford. Populärer als in Deutschland war der Käfer nur in den USA, dem Heimat- übertrifft die Vor- land der Straßenkreuzer. Dort betrachteten viele den „Beetle“, wie der ehemalige gabe um ein 50fa- VW-Chef Carl Hahn sagte, als ein Familienmitglied, das zufällig in der Garage steht. ches. Auch ein Entsprechend liebevoll befasste sich Hollywood mit dem Käfer und machte ihn zum anderer Compu- Hauptdarsteller einiger Filme. Für viele wurde so aus einer Blechkarosse ein Mythos. termann lag einst Seit kurzem versucht VW, vom Mythos wieder zu profitieren: mit dem neu entwickel- spektakulär dane- ten Beetle, dessen Formen an den Käfer erinnern. ben: „Ich denke, es gibt einen Welt- markt für etwa fünf Computer“, sagte IBM-Chef Geld schlägt Gold Seit tausenden von Jahren schürfen die Menschen nach Watson Thomas Watson Gold, kämpfen um Gold, horten Gold. Der lydische König Krösus prägte vor mehr als 1943; heute ver- 2500 Jahren die ersten Goldmünzen. Als US-Präsident Richard Nixon 1971 den Dollar kauft sein Unternehmen allein in Europa vom Goldwert abkoppelte, ging es zu- über zwei Millionen Stück pro Jahr. We- nächst steil bergauf mit dem Edelmetall – nig besser sieht es mit volkswirtschaftli- bis auf 835 Dollar pro Unze (31,1 Gramm) Goldpreis für eine Unze chen Prognosen aus. Die bekannten am 18. Januar 1980. Danach stürzten die 700 in Dollar* Goldvorräte reichen nur noch für neun Kurse auf rund 300 Dollar und haben sich 600 Jahre, befand 1972 der „Club of Rome“; bisher nicht wieder erholt. Zwar ist das Silber solle für 13, Kupfer und Blei noch mystische Metall immer noch knapp. Alles 500 für 21 Jahre zu finden sein. Weitsichtig Gold dieser Erde passt in einen Würfel mit 400 zeigte sich dagegen der Autor Arthur einer Kantenlänge von 20 Metern. Doch Charles Clark („2001 – Odyssee im Welt- etliche Zentralbanken, weltweit die größ- 300 raum“), der schon 1945 Kommunikations- ten Goldhorter, verscherbeln nun ihre 200 satelliten voraussagte. Allerdings: Mit Reserven: Amerikaner wie Briten, Nieder- dem Satelliten sollte auch das Fräulein länder und Schweizer. Allein die Bundes- 100 vom Amt ins Weltall geschossen werden, bank hält noch knapp 3500 Tonnen über- 0 Quelle: Datastream, *jeweils zum Monatsersten so seine Vision, um vor Ort die Telefon- flüssiges Gold, das sie nach Einführung des verbindungen einzeln zu stöpseln. Euro eigentlich nicht mehr braucht. 1968 73 7883 88 93 99

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Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gieriger Staat Der Staat greift Sozialbeiträge aus. Heute ist der Anteil 58000 Prozent Wachstum sich einen stetig wachsenden Teil des Ein- auf fast 22 Prozent gestiegen. Für das Keine Hightech-Aktie, sondern ein ganz kommens seiner Bürger. 1950, im ersten Hoch in den Staatskassen sorgten beide bodenständiges Papier war die beste Jahr nach der Gründung der Bundesrepu- Volksparteien gleichermaßen. Unter den Geldanlage unter den Dow-Jones-Werten blik, floss nicht einmal ein Drittel der CDU-Kanzlern Adenauer, Erhard und der vergangenen 25 Jahre: Der amerika- Wirtschaftsleistung durch die Kassen von Kiesinger stieg der Staatsanteil von 31 auf nische Einzelhandelskonzern Wal Mart Bund, Ländern, Gemeinden oder Sozial- 39 Prozent. Die SPD-Regierungschefs legte um sagenhafte 342132 Prozent zu – versicherungen. Heute ist es fast die Hälf- Brandt und Schmidt trieben die Quote aus 100 Dollar sind in einem Vierteljahr- te (siehe Grafik). Angeschwollen sind vor noch einmal um rund 11 Prozentpunkte hundert 342000 Dollar geworden. Mit allem die Budgets von Renten-, Kranken- in die Höhe. Einen weiteren Schub brach- deutlichem Abstand folgen die Computer- und Arbeitslosenkassen. Vor 50 Jahren te die deutsche Einheit: 1995 erreichte die Werte Intel und Mi- gaben die Deutschen nicht einmal neun Staatsquote über 57 Prozent. crosoft. Bill Gates allerdings hat sein Unternehmen erst Staatsausgaben und Einnahmen aus 57,4 im März 1986 an die Sozialbeiträgen in Deutschland Börse gebracht, die in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 49,6 49,0 48,0 46,1 48,4* Microsoft-Aktie 50% schaffte in knapp 39,1 Gesamt- 14 Jahren immerhin 40% 37,1 deutschland ein Wachstum von 32,9 31,6 30,4 fast 58000 Prozent. Auch unter den Dax-

30% Werten liegt eine POST INTELLIGENCER SEATTLE STAATSAUSGABEN 21,9* konservative Aktie Gates (1981) 19,4 weit an der Spitze: 20% 16,3 16,9 17,6 16,9 12,6 Die Münchener Rückversicherung stieg 10,6 8,7 8,7 10,3 seit Anfang 1975 um 8440 Prozent, vor 10% Mannesmann mit 5175 Prozent. Den Dow Jones Euro Stoxx 50 führt ein Technolo- EINNAHMEN AUS SOZIALBEITRÄGEN *vorläufig; Quelle: Statistisches Bundesamt gie-Wert an: die Aktie des finnischen Handy-Herstellers Nokia mit 15484 Pro- 1950 55 60 65 70 75 80 85 90 95 98 zent Zuwachs. Die Mega-Pleiten Fast wäre das Jahrhundert des deutschen Wirtschaftswunders noch mit einer her- ben Pleite zu Ende gegangen: Einem Konkurs des Bauriesen Holzmann, der im November schon unabwendbar schien, wären wohl 60000 Arbeitsplätze zum Opfer gefallen – eine Bilanz, die den Absturz des Baulöwen Jürgen Schneider und seines Imperiums noch übertroffen hätte. Bankrotte sind Alltag in Deutschland, vor allem im Baugewer- be: Von fast 34000 Insolvenzen betrafen 1998 mehr als 8100 das Geschäft mit Mörtel und Kelle, dicht gefolgt vom Han- del. Die Zahl der großen Firmen-Zusam- Demonstration der Holzmann-Arbeiter (am 23. November in Berlin) menbrüche in Deutschland hielt sich hin- gegen in Grenzen, mehr als ein Dutzend rei und Kammgarnspinnerei“ in Delmen- Sicht „Peanuts“. Mitte der neunziger sind es nicht gewesen – jeder einzelne horst, die in den Zwanzigern zeitweise Jahre traf es, wieder in Bremen, den Vul- Fall allerdings hatte harte Konsequen- ein Viertel der weltweiten Rohwolle-Ver- kan-Verbund. Auch große Konzerne ha- zen: für tausende Beschäftigte, die betei- arbeitung kontrolliert hatte. Die erste ben Erfahrungen mit Konkursen machen ligten Banken und die Zulieferindustrie. große Insolvenz nach dem Krieg und müssen – Daimler etwa, in Folge seiner Als 1929 mit der Frankfurter Allgemei- dem Wirtschaftsboom der fünfziger Jah- fehlgeschlagenen Diversifizierungsstrate- nen Versicherungs-AG der zweitgrößte re war 1961 der Konkurs der Bremer gie: Mit Fokker und AEG mussten die deutsche Versicherer zusammenbrach, Borgward-Werke – 23000 Menschen ver- Stuttgarter in den Neunzigern gleich schrieben die Zeitungen noch, so etwas loren ihren Job, ein Fünftel aller Indu- zwei ehemalige Riesen abwickeln. Skan- sei in der deutschen Wirtschaftsgeschich- striearbeitsplätze der Hansestadt wurde dalüberschattet waren der Kollaps des te nie da gewesen. Zwei Jahre später traf vernichtet. Und das wegen einer Summe Handels-Konzerns co op, der die Gläubi- es dann die „Norddeutsche Wollkämme- von zehn Millionen Mark, aus heutiger ger-Banken etwa zwei Milliarden Mark

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Kursverhalten von Spekulationsblasen 18000 30 400 40000

15000 25 300 35000 12000 20

9000 15 200 30000

6000 10 100 25000 3000 5

0 0 0 20000 1718 1719 1720 1995 1996 1997 1928 1929 1930 1931 1932 1988 1989 1990 1991 1992 Finanzskandal des John Law Schwindel mit Goldminen Börsen-Crash von 1929 Asienkrise 1990 Compagnie d'Occident in Livres Bre-X-Aktie in Kanadischen Dollar Dow-Jones-Index Nikkei-Index

kulant André Kostolany, „ein Sandkorn genügt“: wie bei der South Sea Company oder der Compagnie d’Occident, auch Mis- Blase aller Blasen Die Börsen melden sissippi-Gesellschaft genannt. Indianer würden Gold gegen Glas- Jubelrekorde, doch für den Aktienguru Ed Yardeni sind es „Spe- perlen eintauschen, erklärte Firmengründer John Law, im Jahr kulationsblasen“. Schon im ersten Halbjahr 2000, orakelt der US- 1720 stürzte der Kurs von 18000 auf 40 Livre. Ganz ähnlich bra- Chefvolkswirt der Deutschen Bank, könne der Dow Jones um chen 1980 die Silber-Spekulation der Hunt-Brüder und 1997 der rund ein Drittel auf 8000 Punkte absacken. Etliche Ökonomen er- Schwindel um die vermeintliche Goldmine der Bre-X zusammen. innern derzeit gern an die Tulpen-Hysterie in Holland. Der Preis Wie sich Spekulationsblasen bilden und wann sie platzen, können für eine Tulpe wurde 1637 bis zum Wert einer Villa hochgepokert, Ökonomen noch immer nicht sagen. Doch inzwischen wird auch danach war die Blume wieder so billig wie eine gewöhnliche Analysten im Höhenrausch bange. Die derzeitige Hightech- Zwiebel. Zumeist blühen Spekulationen kurz, aber heftig. Ent- Euphorie, meint etwa Dave Otto vom Investmenthaus A. G. täuschte Erwartungen lassen Blasen platzen, lehrte Börsen-Spe- Edwards, sei doch wohl die „Blase aller Blasen“.

Handel war, sind heute Software, Inter- Die Superreichen Es begann net und Telekommunikation: Ende der mit einer Tuchfabrik in Pritzwalk, später neunziger Jahre stieß Dietmar Hopp in kamen Batterien (Varta), Chemie (Win- die Truppe der zehn reichsten Deutschen tershall) und rund 200 weitere Unterneh- – fast 30 Jahre nachdem er SAP mitge- men dazu. Aber erst BMW machte die gründet hatte. Durch den Neuen Markt Quandts zur wohl reichsten Familie werden die Karrieren nochmals enorm Deutschlands. Über 100 Jahre nach der beschleunigt: EM.TV-Gründer Thomas ersten Firmenbeteiligung von Emil Haffa und Mobilcom-Chef Gerhard Quandt wird allein der Familienzweig um Schmid zählen schon gut zwei Jahre nach Johanna Quandt auf über 20 Milliarden dem Börsengang ihrer Firma zu den Mark taxiert. Aber nicht alle Vermögen 20 reichsten Deutschen. haben eine lange Ge- schichte. Unter den reichsten Deutschen, die das US-Magazin „Forbes“ regelmäßig

M. URBAN ermittelt, finden sich an der Spitze vor allem die Pioniere der Nach- kostete, und das unrühmliche Ende der kriegszeit, die im Han- Wohnungsbau-Gesellschaft Neue Hei- del ihr Geld machten: mat. Dass auch aus Pleitiers noch was die Aldi-Brüder Theo werden kann, zeigt hingegen das Beispiel und Karl Albrecht, Die- des Brauhauses Amberg. Nach dessen ter Schwarz (Lidl & Konkurs beschloss die Hauptversamm- Schwarz), Metro-Grün- lung die Fortsetzung der Gesellschaft, al- der Otto Beisheim und lerdings mit neuem Geschäftsfeld: Statt der Otto-Versand, wo mit Bier beschäftigt sich das Unterneh- Gründer-Sohn Michael men, das seinen Namen inzwischen in Otto schon 1981 die Ge-

„net.IPO AG“ geändert hat, als Internet- schäftsführung über- DPA Broker mit der Börse. nahm. Was früher der Otto (mit Claudia Schiffer)

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Finanzmetropolen Frankfurt am Main, New York, Hongkong: Weltweit gehen die Konzerne auf Einkaufstour GLOBALES MONOPOLY Mannesmann war nur der Anfang. Die Konzernherren des 21. Jahrhunderts kennen keine nationalen Sentimenta- litäten, internationale Kapitalanleger wollen Rendite sehen. Grenzenlose Märkte, das Internet und ein gigantischer Aktienboom treiben sie zu immer waghalsigeren Fusionen. Die Welt AG entsteht – aber hält sie auch? errat am nationalen Erbe“, riefen tomarke Anfang 1999 aus dem Norden Zumindest die großen Firmenüber- britische Kleinaktionäre, als die aufkaufte. nahmen, von den Investmentbankern als Wolfsburger Volkswagen-Werke vor „0172 bleibt deutsch – Keine Übernah- transnationale Mergers verniedlicht, er- anderthalb Jahren die Nobelmarke me unter dieser Nummer“, giftete die regen noch immer die Nationen. Es geht V Rolls Royce übernahmen. „Bild“-Zeitung, als vor einem Monat schließlich um das Selbstverständnis gan- „Warum lassen wir unseren Volvo den der britische Vodafone-Konzern erstmals zer Regionen, um Heimatsprache und Amerikanern?“, fragten sich empört die die Mobilfunkfirma Mannesmann at- gewachsene Loyalitäten, um Erfahrungen Schweden, als der Ford-Konzern die Au- tackierte. und Zukunftschancen.

110 der spiegel 52/1999 Groß, größer, Merger 3,1* Transaktionsvolumen weltweiter Übernahmen und Fusionen in Billionen Dollar 2,5 Aktientausch beides T. PFLAUM / PLUS 49 / VISUM (li.); NEUMANN / LAIF (M.); DAS FOTOARCHIV (r.) Der Gekaufte empfindet 7% 9% 2,0 Der Schmerz über das abrupte Ende sich als Verlierer im globa- Bargeld einer Firmentradition befällt oft auch 21 % Aktien- len Monopoly, weshalb Bargeld tausch 1,5 die vermeintlichen Gewinner. Denn mit sich die betroffenen Füh- 93% 70% dem Zukauf oder der Fusion löst sich rungskräfte – mit reichlich Finanzierung das Vertraute auf, fremde Manager hal- 1,0 Abfindungsgeld ausgestat- 1989 1999 ten Einzug auf allen Etagen, oft wech- tet – in der Regel sofort ab- selt die Konferenzsprache ins Englische, setzen oder abgesetzt wer- 0,5 selbst der Firmenname ist nicht mehr tabu. den. Rekordverdächtig war *geschätzt Aus Hoechst und Rhône-Poulenc wird da die Übernahme von Quelle: TFSD Aventis, aus vier unterschiedlichen Versi- Bankers Trust durch die 1987 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 cherungen formiert sich Ergo, Mercedes- Deutsche Bank: Der Chef Benz geht erst in Daimler-Benz auf, um in der amerikanischen Investmentbank kas- Öffnungszeiten der Kantine stets beachtet der neuen DaimlerChrysler AG zu ver- sierte 100 Millionen Mark und verschwand werden, zählen im Fall der Fälle nichts. Die schwinden. wortlos. Fusion ist groß und wichtig und damit ih- Weltweit haben sich die Konzerne auf Die übrigen Mitarbeiter bei solchen Fu- rer Einflussnahme komplett entzogen. Einkaufstour begeben, angeführt und an- sionen sind oft weltweit in Sprachlosigkeit So bleibt ihnen oft nur ihr verletzter getrieben von Managern wie Daimler- und Wut vereint. Niemand hat sie gefragt, Stolz, ihr entwerteter Erfahrungsschatz aus Chrysler-Boss Jürgen Schrempp, Vodafo- sie wurden von keinem der Beteiligten in- den Zeiten der Nationalökonomie, als die ne-Chef Chris Gent, den Vorständen der formiert, ihre Mitbestimmungsrechte, die Stammbelegschaft im Stammwerk noch Telefonkonzerne und der Energieunter- beim Kauf einer EDV-Anlage und bei den deutsche Normalität war. nehmen. Ihr Ziel ist immer gleich: Sie wol-

der spiegel 52/1999 111 Wirtschaft len auf allen Kontinenten ver- dem Wettlauf um Investitio- treten sein, setzen auf Domi- nen in neue Techniken mit- nanz durch Marktführerschaft, halten, nur die größten im hoffen auf Einsparung durch erbarmungslosen Preiskampf Synergieeffekte, was wieder- bestehen. um Superprofite ermöglichen Damals bildete sich jene soll. granitharte Kapitalistenklasse, Und: Jeder für sich strebt eine Mischung aus wagemuti- nach einem Stück Unsterb- gen Gründern, reichen Erben lichkeit, zumindest für eine Er- und Finanzartisten, die mit wähnung im Buch der Wirt- ihren weit verzweigten Kon- schaftsgeschichte soll das eige- zernen nach und nach die ne Tun am Ende reichen. Der Weltmärkte eroberten. Unter- New Yorker Fondsmanager nehmen wie Siemens, Krupp David Alger: „Das Ego der und MAN breiteten sich kra- Konzernherren ist eine der kenartig aus und expandier- stärksten Antriebskräfte.“ ten oft rasch auch ins Ausland, Bis Ende November gab es so dass nationalistische Politi- weltweit bereits Firmenzusam- ker in Frankreich die Angst vor

menschlüsse im Wert von GEBHARD / LAIF P. der wirtschaftlichen „Invasion 3,1 Billionen Dollar, im ge- Börse in New York: Ego als Antriebskraft Germanique“ schon bald ge- samten vergangenen Jahr be- zielt zur Stimmungsmache lief sich das Transaktionsvo- nutzten. lumen auf nur 2,5 Billionen. In den USA erreichte der „Newsweek“ spricht von Wert der Fusionen schon da- „mergermania“. mals, kurz vor der Jahrhun- Vor allem die Europäer fie- dertwende, gemessen am Brut- len als fusionsfreudig auf. Im tosozialprodukt, Dimensionen dritten Quartal 1999 lag der wie heute. Innerhalb von nur Wert der Übernahmen auf 20 Jahren kaufte sich der Öl- dem alten Kontinent erstmals baron John D. Rockefeller mit über dem in den USA. seinem Konzern Standard Oil Erleichtert wird die Fusioni- ein Imperium zusammen, das tis durch einen nie da gewese- 90 Prozent des Ölmarktes in nen Zufluss an Kapital. Die den USA kontrollierte. Gleich- Börsen boomen, immer mehr zeitig vereinigte der Finanzier Jüngere pumpen ihr privates J. P. Morgan die kränkelnde Geld in den Kreislauf, aus Stahlindustrie des Landes zu Furcht vorm drohenden Ren- einem gewaltigen Trust. tenkollaps, fasziniert von der Dominierten in Europa an- Aussicht auf steil steigende fangs charismatische Gründer

Gewinne. AFP / DPA die Szene, verbürokratisierten Im Eiltempo hat die Aktie Börse in Hongkong: Aktien ersetzen Bargeld sich die Unternehmen nach das Bargeld ersetzt. Wurden dem Ersten Weltkrieg zuse- Firmen vor 50 Jahren genauso gekauft und Kritiker sehen darin nur weitere Bei- hends. Der angestellte Manager trat an die bezahlt wie Autos und Kaffeemaschinen, spiele für eine aberwitzige Börsenspeku- Spitze von Konzernen, und mit ihm wuchs cash nämlich, hat sich mittlerweile die lation, die schon bald mit einem schmerz- die Abhängigkeit von Staat und Banken. In Aktie als Zahlungsmittel durchgesetzt. haften Crash enden werde. Andererseits Großbritannien und den USA hingegen, Erst sie verleiht der Globalisierung jene sorgen die hoch bewerteten Finanzmärkte wo Unternehmer ein höheres gesellschaft- Wucht, die alle Weltregionen erschüttert: für eine nie da gewesene Dynamik. Ohne liches Ansehen genossen, war der Selb- Mit einem Aktientausch finanzierten die Börsenboom würde die Online-Industrie ständigkeitsdrang kaum zu bändigen – ein Daimler-Bosse die Fusion mit dem Chrys- viel langsamer wachsen, würde sich Zu- Unterschied, der bis heute geblieben ist ler-Konzern, Aktien bietet Vodafone für kunftstechnik viel träger verbreiten. und Ursache für die große Dynamik auch Mannesmann, mit „Cybercash“ (Bertels- Die Sucht nach Macht und Größe treibt der gegenwärtigen amerikanischen Wirt- mann-Chef Thomas Middelhoff) kaufen Gründer und Manager, seit es Unterneh- schaft ist. sich die Online-Pioniere von AOL, Yahoo men gibt.Wann immer neue Techniken die Beschränkten sich die Konzerne anfangs und Amazon weltweit ihre Imperien zu- Märkte durcheinanderwirbelten, wenn auf den Heimatmarkt und benachbarte sammen. Zollschranken fielen und Regierungen Länder, entstanden in den ersten Jahr- Die kleine kalifornische Software-Firma Staatsunternehmen freigaben, kam es zu zehnten dieses Jahrhunderts die multina- Ariba etwa, die Konzernen bei der Kon- großem Geschacher, zur Neuordnung der tionalen Unternehmen – zunächst ange- struktion von elektronischen Marktplätzen Märkte. führt von amerikanischen Konzernlenkern im Internet hilft, erwarb kürzlich eine ähn- In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- wie Henry Ford. Telefon und später Telex, liche Firma – für 1,86 Milliarden Dollar in derts war es die industrielle Revolution, schnelle Bahnverbindungen und Fluglinien Aktien. Der Umsatz von Ariba bis zum die einen gewaltigen Konzentrationspro- ermöglichten die Kontrolle von Tochterfir- September dieses Jahres: magere 28 Mil- zess auslöste. Arbeiteten 1875 nur 23 Pro- men und Niederlassungen selbst in ent- lionen Dollar bei einem fast ebenso hohen zent der Beschäftigten in Großbetrieben fernten Weltgegenden. Verlust. Vor Jahren hätte eine solche über 50 Mann, waren es 30 Jahre später Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg Mickymausfirma keinen Milliardendeal schon fast doppelt so viele. Nur die kapi- kam es zu einer regelrechten Invasion von einfädeln können. talstärksten Unternehmen konnten bei US-Unternehmen, deren Direktinvestitio-

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Werbeseite Wirtschaft nen im Ausland zwischen 1946 und 1970 Chance hat, bekommt auch keine, er wird genießen – jedenfalls solange sie ihren Ak- von 7,2 Milliarden Dollar auf 78 Milliarden geschluckt. tionären Reichtum bringen. Die Firma Vo- anwuchsen. Besonders seit den sechziger Noch krasser wirkt das Gesetz der dafone gab es Anfang der achtziger Jahre Jahren expandierten auch europäische Fir- Größe in der Online-Industrie: Experten noch nicht, der Kommunikationsgigant men zusehends ins Ausland – die Globali- wie Henry Blodget von der amerikani- Worldcom war 1990 noch eine Klitsche im sierung war in Fahrt gekommen. schen Investmentbank Merrill Lynch rech- fernen Mississippi. Und Hightech-Kon- Am Ende des Jahrhunderts gibt es einen nen damit, dass 75 Prozent der neuen In- zerne wie Intel oder Microsoft, beide erst neuen Konzentrationsschub, machtvoller ternet-Unternehmen die nächsten fünf Jah- seit 25 Jahren aktiv, dominieren ihre In- als je zuvor. Das Ende des Kalten Krieges re nicht überleben werden. Die Internet- dustrien bereits so sehr wie damals die öffnete schlagartig den Zugang zu riesigen Ökonomie wird eine Wirtschaft der Kon- Rockefellers und Vanderbilts. Märkten und Millionen von Arbeitskräf- zerne, nicht der Boutiquen. Die Gewerkschaften tun sich schwer mit ten, die konkurrenzlos billig produzieren Amerikanische Investmentbanker, etwa der neuen Zeit. Ihre Gegenmacht, über können. Computertechnik und Roboter von der Firma Goldman Sachs, liefern die Jahrzehnte ausgebaut und in nationalen Ta- verbilligen die Produktion weiter, drücken Ideen, das Geld geben die Börsen, und we- rifverträgen und Gesetzen fixiert, funktio- auf die Preise und drängen Unternehmen, nig später werden Konzerne, die in ihrer niert nicht mehr richtig. Für die Welt AG

sich mit Konkurrenten zusammenzu- Heimat erfolgreich sind, vom anderen mit ihren kulturellen und materiellen Un- schließen. Wer die größte Einkaufsmacht Ende der Erde dirigiert – nicht selten aus terschieden ist das deutsche Gewerkschafts- hat, kann die niedrigsten Preise für Zulie- einer deutschen Stadt: der amerikanische system so wenig geeignet wie das US-ame- ferungen heraushandeln, je massenhafter Buchverlag Random House von Bertels- rikanische. Die Debatte über weltweite Mit- die Produktion, desto geringer die Kosten. mann-Managern aus Gütersloh, die briti- bestimmung und einen länderübergreifen- Neue Techniken wie das Internet und sche Autolegende Rover von BMW-Chefs den Betriebsrat stehen erst am Anfang. Die das Mobiltelefon lassen neue Unterneh- in München, die amerikanische Großbank wohltätige Wärme der alten Solidarge- men entstehen, die sich nun hastig ver- Bankers Trust von Deutsche-Bank-Bossen meinschaft wird nicht mehr wiederkehren. einen. Wohlbehütete Branchen wie die aus Frankfurt. Wenn die Herren der Glo- In etlichen deutschen Chefetagen geht Telefonindustrie stehen nach ihrer Pri- balökonomie ihre Feldzüge planen, sind ebenfalls die Angst um. Früher sorgten vatisierung plötzlich im globalen Wett- Staatsgrenzen kaum mehr als Linien auf ei- befreundete Aufsichtsräte, genügsame bewerb, bedroht von der Marktmacht ner Landkarte. Großaktionäre und um ihren Ruf besorg- großer ausländischer Konzerne. Wer die In kaum mehr als zehn Jahren bildeten te Banken dafür, dass die Wogen der Glo- meisten Mobilfunkkunden hat, kann die sich so Dutzende von neuen Imperien, de- balisierung nicht bis in die deutschen Kon- billigsten Tarife anbieten. Wer nicht die ren Herrscher nahezu unbegrenzte Macht zerne schwappten. Doch mit rheinischem

114 der spiegel 52/1999 Die Herrscher Kapitalismus lässt sich der glo- Risikoausgleich in breit ge- senwert in Europa seit einigen Jahren nicht bale Wettkampf im 21. Jahr- der neuen fächerten Konzernen gesucht mehr an der Spitze. Bei einer Übernahme hundert nicht gewinnen, sagen Imperien wurde. Also werden ganze Fir- durch europäische Konkurrenten wie die nun viele. „Unfreundliche men verkauft, die Investment- britische Lloyds Bank oder die spanische Übernahmen können kein genießen banken machen als Berater Banco Santander Central Hispano wäre sie Tabu sein“, mahnt Henning nahezu glänzende Geschäfte. Trotzdem nur Juniorpartner. Schulte-Noelle, Vorstandschef entstehen immer mächtigere Doch der Zwang zur Größe ist kein der mächtigen Allianz. Der unbegrenzte Konzerne, weil gleichzeitig der Naturgesetz. Immer deutlicher zeigt sich, Versicherungsmann erwartet Macht Marktanteil weltweit durch dass viele der multinationalen Konzerne neue feindliche Übernahmen. Übernahmen möglichst ausge- nicht zu beherrschen sind. Die Vorteile der Deutschland bewege sich hin baut werden soll. Fusion bleiben in der Realität oft hinter zu einer „wettbewerbsintensiveren Form Deutsche Unternehmen haben da noch den Erwartungen zurück. des Kapitalismus“, sagt er. Nachholbedarf, auch wenn dies viele Poli- Die amerikanische Unternehmensbera- Den Politikern ist diese Entwicklung tiker und Gewerkschafter nicht wahrhaben tung Mercer Management Consulting er- nicht ganz geheuer, nirgendwo auf der wollen. Im Vergleich zu amerikanischen mittelte, dass etwa die Hälfte aller Zusam-

Welt. Was ist ihr Wählervotum eigentlich Unternehmen gelten sie noch als Schnäpp- menschlüsse in den neunziger Jahren Ak- dann noch wert? Wie viel Verantwortung chen. Selbst Prestigekonzerne wie Siemens, tienvermögen vernichtete, statt es zu er- können sie noch übernehmen, wenn die heute mit einem Börsenwert von 135 Mil- höhen. Eine Studie der Beratungsfirma wichtigen Entscheidungen in den Kon- liarden Mark, sind nicht mehr sicher. KPMG kam kürzlich zu einem ähnlichen zernzentralen fallen? Braucht die Staaten- Obwohl Siemens-Chef Heinrich von Ergebnis. Lediglich 20 Prozent der Zu- gemeinschaft nicht vielleicht doch neue Pierer in den vergangenen Monaten den sammenschlüsse hatten den Aktionären Regeln, zusätzliche Institutionen, eine Aktienkurs seiner Firma gezielt nach oben eindeutigen Gewinn gebracht. Weltkartellbehörde oder weltweite Ban- trieb – er verkaufte Verlust bringende Unternehmensberater prophezeien sich kenaufsicht? Abteilungen und warb vor Investoren in und ihrer Branche daher rosige Zeiten. Aus Angst vor einer Übernahme ver- London wie New York –, hat seine Firma Ein New Yorker Investmentbanker: „Vie- suchen die deutschen Unternehmen, sich nur ein Siebtel des Börsenwerts seines les, was wir jetzt zusammenschmieden, der Herrschaft der internationalen Ka- großen Konkurrenten General Electric aus werden wir morgen wieder auseinander pitalanleger anzupassen. Zurzeit in Mo- den USA. schweißen.“ de ist die Konzentration auf Kerngeschäfte, Die Deutsche Bank, das größte Kredit- Mathias Müller von Blumencron, nachdem noch in den achtziger Jahren der institut der Welt, liegt gemessen am Bör- Christoph Pauly

der spiegel 52/1999 115 Wirtschaft

quasimilitärischen Hierarchien des Fabrik- Schicht von Händlern und Unternehmern zeitalters. Der Vollzeitangestellte stirbt aus, Erfindungen wie die Dampfmaschine oder es lebe der selbständige Arbeitnehmer-Un- den mechanischen Webstuhl systematisch Ende des ternehmer. zur Steigerung der Produktion einsetzte. Eine Entwicklung geht zu Ende, die Eu- Die neuen Werkstätten und Fabrikhallen, ropas Wirtschaftsgeschichte während des die nicht selten aus ehemaligen Zuchthäu- vergangenen Jahrtausends geprägt hat. Die sern hervorgegangen waren, boten kärgli- Proletariers allmähliche Umwandlung der agrarischen chen Unterhalt für eine rasch wachsende Feudal- in kapitalistische Marktgesell- Bevölkerung: für landlose Bauern und Be- schaften brachte zugleich eine neue Klas- schäftigung suchende Gesellen, ehemalige In der Arbeitswelt kündigt sich se hervor: den Lohnarbeiter, der anfangs Handwerker und Kleingewerbetreibende. eine Revolution an. Das wenig mehr besaß als seine Arbeitskraft, Die neue Klasse, prophezeite Karl Marx Zeitalter des Arbeitnehmers formal frei, aber wirtschaftlich abhängig im „Kommunistischen Manifest“, werde von den Stahlbaronen, Textilunternehmern „in immer größere Massen zusammenge- ist vorbei, die Zukunft und Eisenbahnmagnaten der frühen In- drängt“, ihr Lohn „fast überall auf ein gehört den neuen Selbständigen. dustrialisierung. gleich niedriges Niveau herabgedrückt“. Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Tatsächlich machte die industrielle Re- hatten die Menschen ihren Lebensunter- volution immer größere Teile der Bevölke- ein ganzes Leben hat Walter Riester halt fast ausschließlich in der Landwirt- rung zu Lohnabhängigen, als Angestellte dem Wohl der Arbeitnehmer gewid- schaft verdient, persönlich gebunden an im Büro oder als Arbeiter in der Werkhal- met. In den siebziger Jahren küm- ihre Lehnsherren, ohne Chance auf sozia- le. Doch die vorausgesagte Verelendung Smerte er sich als DGB-Sekretär in len Aufstieg oder materiellen Fortschritt. blieb ein vorübergehendes Phänomen der Stuttgart um Auszubildende und Jugend- Auch die wenigen Arbeiter, die im Schiff- ersten Industrialisierungsjahrzehnte. Im vertreter. In den achtziger Jahren verhan- bau, bei der Herstellung von Glas, Papier ständigen Kampf um Marktanteile und Ge- delte er als Tarifexperte der IG Metall oder Seife und in Bergwerken Beschäfti- winn steigerten die Unternehmer unabläs- wichtige Lohnabschlüsse, Abkommen zu gung fanden, waren einbezogen in die tra- sig die Effizienz der Herstellungsverfahren Arbeitszeitverkürzung und Weiterbildung. ditionellen Regeln der mittelalterlichen und entwickelten schließlich jene Form der Doch seit sich der gelernte Fliesenleger Feudal- und Zunftordnungen. Massenproduktion, die den Arbeitnehmer in seinem neuen Amt als Arbeitsminister Das änderte sich erst, als in England nicht nur als Produzenten von Fahrzeu- um seine langjährige Klientel müht, kann Ende des 18. Jahrhunderts eine neue gen,Waschmaschinen oder Fernsehgeräten er seine Zielgruppe in der Realität oft kaum noch wiederfinden. „In einer wach- senden Grauzone entstehen immer neue Formen der Beschäftigung“, hat Riester er- kannt. Viele neue Berufe würden „nicht mehr erfasst“, das Arbeits- und Sozialrecht passe nicht mehr „auf die moderne Ent- wicklung“. Für den Minister höchste Zeit zu han- deln. „Wenn wir das laufen lassen“, sagt der frühere IG-Metall-Vize, „zahlt am Ende die Allgemeinheit.“ Riester stemmt sich einem Prozess ent- gegen, der die entwickelten Gesellschaften ähnlich tiefgreifend verändern wird wie die industrielle Revolution vor 200 Jahren. Un- angefochten prägte das Bild des Standard- arbeitnehmers, mit Facharbeiterbrief und Achtstundentag, Lohnfortzahlung und Ge- werkschaftsausweis, die Massen- und Sozi- alkultur der vergangenen Jahrzehnte. Doch nun, an der Schwelle zum nächsten Jahr- tausend, wird der über Generationen vor- herrschende Typus des vollzeiterwerbstäti- gen Familienernährers abgelöst durch eine Vielzahl neuer Beschäftigungsformen: Mini- jobber und Franchise-Unternehmer, selb- ständige Software-Entwickler und Online- Designer, Halbtagskräfte und Leiharbeiter. „Normalarbeit als Regelfall, soziale Identität und Sicherheit qua Job – das ist Geschichte“, sagt der Münchner Soziologe Ulrich Beck. Das neue Motto lautet, so das Stuttgarter Fraunhofer-Institut: „Arbeite mit wem, wo und wann du willst“. Zugleich ersetzen die neuen Informa- tions- und Kommunikationstechniken die

* Bei Siemens in Bocholt (1973). Fließbandproduktion*: Der Arbeitnehmergesellschaft bricht die Basis weg

116 der spiegel 52/1999 Form der Wissens- tel. Im nächsten Jahrzehnt, prognostiziert ökonomie, deren die sächsisch-bayerische Zukunftskommis- Jobs weniger von sion, wird bereits jeder Zweite in einem der Ansammlung Nichtnormarbeitsverhältnis sein Geld ver- großer Kapitalmen- dienen. Zugleich arbeiten immer mehr Ver- gen als vom ge- sicherungsvertreter, Makler oder Lehrer als zielten Einsatz von Einpersonenunternehmen. Seit 1991 wuchs Informationen ab- die Zahl der Selbständigen um gut 550000, hängen. In den neu- die der (Lohn zahlenden) Arbeitgeber en Berufsfeldern nahm dagegen um über 23000 ab. des Internet, bei Die Entwicklung setzt die traditionelle Software-Ingenieu- Beschäftigung gleich von zwei Seiten unter ren,Web-Designern Druck. Am unteren Ende der Lohnskala oder Browser-Ent- verschwinden die wenig qualifizierten Bil- wicklern nehmen ligjobber. Am oberen Ende flüchten die die Bindungen an Gutausgebildeten in die Selbständigkeit, den Betrieb im sel- weil sie sich die Abgabenlast nicht mehr

E. KASHI / AGENTUR FOCUS / AGENTUR E. KASHI ben Maße ab, wie leisten wollen. Internet-Café*: Lockere Zusammenarbeit freier Cyber-Produzenten die Verdienstchan- Die Folgen sind dramatisch, vor allem cen steigen. für die Sozialkassen. Sinkt der Anteil der benötigte, sondern auch als Käufer. In den Schon entwerfen Zukunftsforscher das Normbeschäftigten, muss eine schrump- vergangenen 120 Jahren erhöhte sich das Bild einer virtuellen Wirtschaftswelt, in der fende Basis von Versicherten für die Leis- Durchschnittseinkommen in Deutschland es keine festen Unternehmen mehr gibt, tung aufkommen. real um das 10fache, die Arbeitsprodukti- sondern nur noch die lockere Zusammen- Auch die Arbeitnehmerorganisationen vität um das 16fache. arbeit freier Cyber-Produzenten, die sich spüren die neue Wirklichkeit. Als der DGB Der Wohlstand brachte dem wachsen- zeitlich befristet zu Projekten und Netz- im Oktober sein 50-jähriges Bestehen den Arbeitnehmerheer ein neues Selbst- werken zusammenschließen. Die kleinste feierte, konnten die Festgäste nachlesen, bewusstsein. Die Gewerkschaften, die Einheit dieser Zukunftsökonomie, sagen wie sehr die traditionsreiche Großorgani- während des industriellen Aufstiegs zu Forscher des Massachusetts Institute of sation vom Wandel der Arbeitswelt ge- machtvollen Interessengruppen heran- Technology voraus, werde „nicht die Ka- beutelt wird. Seit 1991 schrumpfte die Zahl wuchsen, erkämpften den Achtstundentag pitalgesellschaft sein, sondern das Indivi- der Mitglieder um 3,5 Millionen. Der ty- und die Lohnfortzahlung, Mindestlöhne duum“. Sei der Arbeitsauftrag erledigt, löse pische DGB-Beitragszahler von heute ist und das Weihnachtsgeld. Zugleich schuf sich das Netz wieder auf und die Mitglie- männlich, Facharbeiter und älter als 40. der Staat ein sich ausdehnendes System der „werden wieder unabhängige Akteure, Jeder Fünfte ist Rentner.Wenn sich nichts von Sozialkassen und Verteilungsbüro- die durch die Wirtschaft zirkulieren auf ändere, warnte der Soziologe Wolfgang kratien, die den abhängig Beschäftigten der Suche nach der nächsten Aufgabe“. Streeck, werde der DGB „zum Bauern- bald vor nahezu allen Wechselfällen des Der Abschied vom traditionellen Voll- verband des nächsten Jahrhunderts“. Lebens abschirmten. Der Aufstieg des zeitbeschäftigten ist längst eingeläutet. Kein Wunder, dass die Funktionäre die Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Welt- Noch in den sechziger Jahren zählte erst ein neue Arbeitswelt noch immer vorrangig krieg ersparte den Gesellschaften des Zehntel der Arbeitnehmer zu den so ge- als Bedrohung sehen. In den neuen Selb- Westens zwar die Diktatur des Proleta- nannten „dauerhaft vorübergehend Be- ständigen wittern sie unlautere Konkur- riats, nicht aber die Gängelung durch neue schäftigten“. Heute ist es bereits ein Drit- renten für ihre Traditionsklientel, in den Beglückungsbürokratien. Minijobbern sehen sie eine Ge- Jetzt aber, wo die Deutschen mehr als fahr für mühsam erkämpfte Tarif- ein Drittel ihres Bruttoinlandsprodukts für standards. Soziales ausgeben, bricht der Arbeitneh- Die Macht der Multis Verwundert mussten die Funk- mergesellschaft die Basis weg. Und wieder Sehen Sie im weltweiten Kapitalis- tionäre mit ansehen, wie im ver- sind es technologische Entwicklungen, die mus eine Bedrohung? gangenen Jahr die von ihnen initi- den Wandel vorantreiben.Waren es in den Ja 39 ierten Reformen bei Scheinselb- vergangenen zwei Jahrhunderten der Ei- ständigkeit und 630-Mark-Jobs zum senbahnbau, die Elektrizitätserzeugung Nein 58 Streitfall gerieten. Statt sich für die oder die Chemie, die die jahrhundertealte gesetzlich verordnete Rückkehr in Vorherrschaft der Landwirtschaft beende- Wird die Wirtschaft in Zukunft die heile Welt der Sozialversiche- ten, machen heute die Fortschritte in der von wenigen transnationalen rung zu bedanken, entfachten die Computer- und Informationstechnik der Großkonzernen beherrscht? Betroffenen einen regelrechten traditionellen Fabrik- und Bürobeschäfti- Aufstand gegen die vermeintlichen Ja 80 gung den Garaus. Wohltaten. Entnervt ließ Bundes- In den Werkhallen lässt die Elektroni- Nein 16 kanzler Gerhard Schröder die um- sierung immer mehr Hilfs- und Handlan- strittenen Gesetzentwürfe mehr- gertätigkeiten überflüssig werden, Kollege Wie viel Einfluss haben die Aktio- fach wieder ändern. Roboter erledigt den Rest. Viele Einfach- näre auf die Unternehmen? Sogar Arbeitsminister Riester arbeitsplätze rechnen sich für die Unter- denkt langsam um.An weitere Ver- zu viel nehmen nur noch, wenn die Entlohnung 26 suche, Selbständige unter das Dach unter den heutigen Tarif- und Sozialbe- angemessen 33 der Sozialversicherung zu zwin- dingungen liegt. gen, sei „nicht gedacht“, ließ er Emnid-Umfrage für den SPIEGEL Zugleich schaffen Computertechnik und zu wenig 23 vom 10. und 11. Dezember; schon vor Monaten wissen. Die weltweite Vernetzung eine völlig neue rund 1000 Befragte; Angaben Entwicklung, zeigt sich Riester ein- keinen in Prozent; an 100 fehlende 8 Prozent: keine Angabe sichtig, „lässt sich nicht zurück- * Im South Park von San Francisco. drehen“. Michael Sauga

der spiegel 52/1999 117 Werbeseite

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Werbeseite Medien Prinzessin für Milliarden lympische Spiele, Kreuzzüge, Kriege – cer Prinz Charles 1981 ihr Ja-Wort gab. Odie Mega-Events vergangener Jahrhun- Rund doppelt so hoch war 1985 dann die derte fanden faktisch unter Ausschluss Einschaltquote beim von Bob Geldof or- der Öffentlichkeit statt. Die Zahl der Au- ganisierten „Live Aid“-Konzert im Lon- genzeugen war überschaubar, und bis die doner Wembley-Stadion, wo ein Chor in Kunde vom Geschehenen sich verbreite- Starbesetzung den Titel „We are the te, vergingen Monate – mitunter gar Jah- World“ vortrug. Und das Fernsehpubli- re. Erst mit dem Siegeszug von Radio kum wuchs weiter: 1996 saßen 3,5 Mil- und Fernsehen konnten Millionen Men- liarden Menschen, rund 60 Prozent der schen plötzlich an Großereignissen teil- Weltbevölkerung, gerührt vor ihren Fern- haben, ohne vor Ort zu sein. So wurde sehgeräten – Muhammad Ali, von seiner das vergangene Jahrhundert durch die Krankheit schwer gezeichnet, entzündete Medien zu einem Jahrhundert der Mas- im Stadion von Atlanta das Olympische sen – der gemeinsamen Bilder und der Feuer und eröffnete die 26. Olympischen geteilten Erfahrungen. Rund 600 Millio- Spiele der Neuzeit. 1997 wurde dann ge- nen Menschen weltweit bestaunten etwa meinsam getrauert: Wie schon ihre Hoch- die Mondlandung 1969 – das bis dahin zeit war auch die Beerdigung von Diana größte Fernsehpublikum aller Zeiten. ein globales Medienereignis – 2,5 Milliar-

Zwölf Jahre später wurden 750 Millionen den Menschen nahmen übers Fernsehen PRESS SIPA zu TV-Trauzeugen, als Lady Diana Spen- Abschied von der Prinzessin. Diana (1996)

„Sex sells“, die alte Medien-Weisheit, ist „Das war Spitze“ So viel Sex wie nie offenbar ein Jahrtausendrezept. So viel Sex war noch nie: am Kiosk von den ls das öffent- ie sexfreie Zeit dauerte nur eine Wo- „St. Pauli-Nachrichten“ bis zu „Pent- Alich-rechtli- Dche. Nach einer Meldung, dass die house“, im Fernsehen auf allen Kanälen – che Fernsehen „Bild“-Zeitung (Springer) das anonyme vom Arte-Themenabend „Erotik“ bis zu noch im Monopol Pin-up-Girl auf Seite eins als „nicht mehr „Strip!“ beim Schmuddelsender RTL 2. sendete, schafften sei- zeitgemäß“ abschafft, hagelte es Proteste Magazine wie „Playboy“ und „Max“ lie- ne Klassiker immer bei Deutschlands größtem Boulevard- fern sich einen Wettlauf um die nächste wieder Traumquoten. blatt. Als neben den Lesern auch Sprin- Prominente, die nackt ihr Cover ziert. Wenn in den Sechzi- ger-Manager das Ende der launigen Ru- Viele neue Medien sind erst mit Schlüpf-

T. K. SCHUMANN / S.E.T. T. gern bei Vico Torriani brik monierten, reagierte „Bild“-Chef rigem richtig groß geworden – von den die Zuschauer per Udo Röbel sofort: Nach einer Umfrage ersten Bildplatten über Super 8, Video, Telefon eine Armbrust kehrten die Mi-Ma-Mausesack-Miezen CD-Rom und Bildschirmtext bis zur Vi- zum „Goldenen schnellstens wieder ins Blatt zurück. deo-CD. Und auch dem Mega-Medium Schuss“ auf ein Äpfel- Internet half erst Seichtes so richtig auf chen dirigierten, fieber- die Sprünge: Auf den ersten Websites, die ten bis zu 20 Millionen kommerziell erfolgreich waren, gab es vor mit, Einschaltquote: allem viel Busen und Bein. Und auch 77 Prozent. Den Bil- heute noch könnte das „E“ in „E-Com- dungskick holten sich merce“ für Erotik stehen: Statistisch gese- die Deutschen bei hen ist jeder dritte Surfer im Netz auf der Rosenthal Quizonkel Hansjoachim Suche nach Sex, entsprechende Sites (1981) Kulenkampff („EWG“), machten laut Forrester Research 1998 ei- den freitäglichen Horror nen Umsatz von einer Milliarde Dollar. bei Ganovenschreck „Ede“ Zimmermann Längst ist das Netz zum Sex-Seller der („Aktenzeichen XY ungelöst“). Lächer- Superlative geworden: von sinnlich bis lich niedrig war der Gewinn bei „Was bin hardcore, vom Hochglanz-Produkt bis zu ich“-Rateleiter Robert Lembke (maximal Amateur-Aufnahmen, von einschlägigen 50 Mark), monoton die Begeisterung von Diskussionsforen bis zum Sex-Spielzeug- „Dalli, Dalli“-Showleiter Hans Rosenthal Versand – es gibt nichts mehr, das es nicht („Das war Spitze“). Die Marktanteile gibt. Und den Deutschen gefällt’s: Mehr dieser Formate lagen oft bei 70 Prozent. als die Hälfte aller auswärtigen Besucher Dann aber kam das Privatfernsehen – die von US-Sex-Seiten wählen sich aus Zielgruppen zersplitterten, die Tabus fie- Deutschland ein, und es sind nicht nur die len. Selbst Hits wie „Tutti Frutti“ (RTL) üblichen Verdächtigen – rund ein Viertel hielten sich nur kurze Zeit. Playboy-Cover mit Pamela Anderson der Sex-Surfer sind Frauen.

der spiegel 52/1999 121 Medien

zu definieren, schaffen Schwierigkeiten. Unsterblichkeit wozu? Der Kultursender Artrix widmet dem Hinterm Hirsch Komplex „Unsterblichkeit wozu?“ einen eit die Genforschung den natürlichen Themenabend. Zunächst gibt es unter Lei- u den hammerharten Fügungen der STod besiegt hat, beschäftigen sich im- tung der Moderatorin Bärbel Pastorix ei- ZGegenwart gehört die Gemeinheit, mer mehr Menschen mit den Perspektiven nen Talk mit Todessehnsüchtigen unter dass es immer noch Orte gibt, an de- eines ewigen Lebens. Vor allem der Über- dem Titel: „Da wär’s auf einmal still“. nen man keinen Blick auf den Bild- druss an immer den gleichen Problemen Zum Schluss zeigt der Sender einen Film schirm werfen kann. des Jungseins, an den Dauerdiskussionen aus der Frühzeit: „2001“, in dem ein Männer werden von unbarmherzigen über die rechte Partnerwahl und die müh- Computer den Menschentraum von der Frauen zum Beziehungsgespräch in samen Versuche, sich als Generation neu Unsterblichkeit zunichte macht. einen Coffeeshop einbestellt, während sich vielleicht gerade die Unterha- chinger den FC Bayern zur Brust neh- men. Theater-Masochisten sitzen auf hartem Parkettgestühl, während ein Jungdramatiker in einem Stück na- mens „Foppen & Flippen“ erklärt, dass es außer Fernsehen sowieso kei- ne anständige Wirklichkeit gibt, aber es ist unmöglich, kurz mal auf einem Schmuddelsender zu gucken. Natur ist herrlich, der Sonntagsspaziergang auch, aber was, wenn Schumi von den Silberpfeilen abgeschossen wird, und du hast’s nicht gesehen? Die Gegenwart ist gemein – wie gut, dass es die Zukunft gibt. Chip, Chip,

hurra – Flüssig- CINETEXT kristalle, Miniaturi- Szene aus „2001: Odyssee im Weltraum“ sierung und andere technische Raffines- sen eröffnen neue Perspektiven: Das SPIEGEL: Was werden Sie mit dem Mate- Fernsehen wird „Es ist ein Rätsel“ rial anfangen? flach und mobil, Young: Wir werden es mit den heutigen die Glotze im Ever Young, historisches Alter 289, Techniken bearbeiten – die Dreidimen- Wohnzimmer verliert ihren Altar- genetisches Alter 20, Experte für histori- sionalität hineinkopieren, die Geschich- status. sche TV-Rekonstruktion, über einen ten dem heutigen Tempo anpassen und Tolle Aussichten: Beim Beziehungsge- alten Fund, der die Phantasien der Bild- 200 Folgen auf 45 Minuten zusammen- spräch und im Theater hilft der ver- schirmarchäologie beschäftigt ziehen. Mit der elektronischen Verdop- stohlene Blick auf die Taschenuhr: pelungs-Spiegelungstechnik wollen wir Auf dem Zifferblatt laufen keine Zei- SPIEGEL: Herr Young, Ihnen ist ein jahr- versuchen, dieses archaische Material ger, sondern schöne bunte Bilder vom hundertealter Fund aus der TV-Frühzeit für heutige Ironie zu öffnen. Und wir runden und vom sündigen Leder. An gelungen. Die Serie heißt „Derrick“. Was haben aus dem Kulturcomputer noch der Wand hängt ein Gemälde zum hat es damit auf sich? ältere Vorlagen aus der Vorfernsehzeit Thema „Zigeunerin reitet auf röhren- Young: Ganz etwas Merkwürdiges – zwei herausgeholt und mit „Derrick“ ver- dem Hirsch“. Ein Knopfdruck, und Helden, die über Jahre ihr Äußeres kaum glichen. auf der Fläche erscheinen Hans Mei- verändern, als hätte man zu damaliger SPIEGEL: Mit welchem Ergebnis? ser und all seine Talktöchter – auf Zeit schon die Möglichkeit gehabt, auf Young: Don Quijote und Sancho Pansa diese Weise vertieft der Flachbild- genetischem Weg das Altern zu stoppen. weisen mit den Protagonisten Derrick schirm die Kultur. Und der Siegelring, SPIEGEL: Und der Inhalt? und Harry verblüffende Ähnlichkeiten heute nur ein funktionsloses Acces- Young: Die Ästhetik wirkt archaisch. Der- auf. soire, gewährt den Miniaturblick ins rick schaut mit starrem Blick. So entlarvt TV-Leben. Wozu am Revers das Par- er die Mörder, der Assistent dient erge- teiabzeichen oder den Orden tragen, ben. Mehr geschieht nicht. wenn es auch ein Minischirm mit ei- SPIEGEL: Und das hat die Altvorderen nem Homevideo drauf sein kann: Soll fasziniert? doch die Welt sehen, wer man ist. Jog- Young: Erstaunlicherweise. Es muss einen gen ist gesund, aber langweilig. Die Kult um die Sendung gegeben haben. In Läufer der Zukunft setzen die Mütze den schriftlichen Zeugnissen aus dieser auf, an deren Schirm ein Kleinstfern- alten Zeit wird immer der Derrick-Satz seher ins Gesichtsfeld ragt, der exoti- zitiert: „Harry, hol schon mal den Wa- sche Welten zeigt. Da gilt dann die gen.“ Wir haben den Satz in den Filmen neue Wilhelmina-Feldbusch-Devise: jedoch nie entdeckt. Es ist ein Rätsel. Schön ist es in Idaho, und hier jogg SPIEGEL: Wagen? Meint Derrick Kutschen? ich sowieso. Die Zukunft wird be- Young: Nein, Autos. Sie hatten die Kut-

stimmt schön. schen abgelöst, bevor sie vor 50 Jahren M. MARHOFFER verschwanden. Fundstück „Derrick“

122 der spiegel 52/1999 AP Geplante Millenniumsfeier am Frankfurter Mainufer (Fotomontage)

nahmung des Daseins. Total-TV-Ver- Fernsehen im nächsten weigerer lernen in Gruppen die Wie- derentdeckung des natürlichen Raums. Zugleich kommt die nostalgische und Jahrtausend zugleich ironische Aneignung vergan- gener TV-Epochen in Mode. Millennium ge der Spezialisierung durch unzählige 2000 Spartenkanäle – Wünsche nach Kontak- Revival des körperbetonten TV-Sex Das Fernsehen am Beginn des dritten ten: „Spezialist für die dritte türkische 2090 Jahrtausends. Große Erwartungen und Liga sucht Gleichgesinnten“. Längst vergessene sexuelle Vorlieben Befürchtungen begleiten das Medium. werden wieder entdeckt. Nachdem Was wird aus der Wirklichkeit? Hat das Baukastenfernsehen sich – mit dem Ende der genitalen Fi- Projekt der Aufklärung ausgedient? 2050 xierung – die Lust immer mehr von Gestiegene Computerleistungen machen den Geschlechtsorganen abgelöst hat- Sport nur noch im Pay-TV vollkommen neue Kombinationen mög- te und Leidenschaften in den Gefilden 2008 lich. Mit einem speziellen Programm lässt elektronischer Zeichen erlebt wur- Mit Formationsschwimmen, Radball sich ein Stoff wie „Hamlet“ zur Komö- und Gehen sind die letzten Sportarten die umrechnen. Besonders beliebt: die vom freien ins Bezahlfernsehen abge- Happy-Ending-Software – das Uralt- wandert. Kinostück „Titanic“ dient auf diese Wei- se sogar in der Antidepressionstherapie. Rettet die Vollprogramme! Vergebens warnen Experten vor der 2020 Mode, große Politik in handliche Seifen- Besonders ältere Menschen, die vor der opern umzurechnen. Jahrtausendwende geboren sind, tun sich schwer mit dem Vordringen der Immer weniger deutschsprachige Spartenkanäle. So ist – besonders zahl- Programme reich auf dem deutschen Gebiet des Eu- 2058 rostaats – eine mächtige Bürgerbewe- Deutsch als Sprache im Fernsehen ver- gung entstanden, die die Rückkehr der schwindet immer mehr. Der Übergang alten Vollprogramme fordert. „Mein ge- zum Weltenglisch geschieht ohne politi-

regelter Tagesablauf mit der guten alten sche Probleme, denn für Ältere stehen RTL ARD“ heißt ein nostalgischer Bestsel- elektronische Übersetzungsprogramme Fundstück „Tutti Frutti“ ler. „Sinn finden mit RTL“ ein anderer. bereit. Der Markt reguliert sofort: Ein neuer den, entdeckt das Fernsehen nun Spartenkanal bietet die Simulation des Bildschirmloses Fernsehen den nackten Körper wieder. Besonde- historischen Vollfernsehens an. 2062 ren Kultstatus hat ein Uralt-RTL-Pro- Die Versuche mit Direktübertragungen von gramm namens „Tutti Frutti“. Lieb- Ende der Programme Daten auf die Hirnzellen sind abgeschlos- lingssport der TV-Archäologen ist das 2045 sen. Mittels einfacher Kopfsonden lassen Grübeln über die Fragen: Nach wel- Weltweit verfügen 90 Prozent aller sich innere Bilder erzeugen. Eine neue chen Regeln funktionierte das Spiel? Haushalte über eine rechnergesteuerte Programmsparte blüht auf: die Traum- Wann und wofür gab es einen Länder- Fernsehanlage. Sender laden Spielfil- übertragung. Experten sehen Gefahren punkt? me, TV-Movies, Serien und alles übri- für die innere Würde des Individuums. ge nicht aktuelle Material einmal pro Jahrhundertfeier Halbjahr in den heimischen Computer. Wirklichkeitsschutz – 2100 Außerdem bieten sie für alle selek- eine neue Bewegung Mit einer Diskussion zur Zukunft des tionsmüden Empfänger tages- und jah- 2070 Fernsehens: Was wird aus der Wirk- reszeitbezogene Programm-Cocktails Immer mehr Menschen leisten Wider- lichkeit? Dient das Fernsehen der Auf- an. Im Internet mehren sich – eine Fol- stand gegen die elektronische Verein- klärung?

der spiegel 52/1999 123 Medien „WINKE-WINKE, TINKY WINKY“ „Wir amüsieren uns zu Tode“, prophezeite der amerikanische Medien- pädagoge Neil Postman schon 1985 den Fernsehzuschauern – doch der Amüsierbetrieb läuft bis heute auf Hochtouren. Schmuddel-TV, Brüll- Fernsehen und Talkshows als sinnfreie Zone: Die Fernsehmacher senken das Niveau immer weiter ab. Nur vereinzelt hat ein Umdenken begonnen.

ind sie nicht süß, die kleinen Racker? oder Verona Feldbusch, ob Sabine Christi- Wie sie da sitzen, mit weit aufgeris- ansen oder Ingolf Lück – das Hirn fernse- senen Kulleraugen, versunken in eine hender Versuchspersonen gibt immer die geheimnisvolle Welt? Der mollige gleichen Impulse ab: langwellige Alpha- RTL-2-Show „Strip“ (Moderator Drews, Kandidatin, TV- SKiefer hängt schlaff nach unten, die und Deltawellen, die normalerweise in kleine Zunge verkeilt sich fest hinter den Tiefschlaf, Trance und Hypnose auftreten Schneidezähnen, und im Mundwinkel – völlig unabhängig vom Inhalt der jewei- hängt ein feiner Speichelfaden, der sich ligen Sendung. langsam den Weg auf das bunt bedruckte „In diesem Phasenzustand ist kein or- T-Shirt bahnt. ganisiertes Denken möglich“, zitiert das So sitzen sie also vor dem Fernseher, die Fachblatt „Psychologie heute“ den russi- kleinen Zuschauer, und lauschen gebannt schen Psychiater und Hirnforscher Alexan- den Dialogen der Teletubbies, die selbst der R. Luria und fasst die Ergebnisse der Einjährige intellektuell nicht überfordern. Untersuchungen zusammen: „Vor der „Ah-oh!“, sagt Laa-Laa, und aus dem Off Glotze entspannen wir und schalten das tönt ein beherztes „Winke-Winke, Tinky zielgerichtete Denken zeitweise ab.“ Winky!“ Die niedlichen Knubbelwesen se- Fernsehmacher wissen das schon lange. hen aus, als seien sie unlängst einem Konsequent setzen sie seit der Erfindung durchgeknallten Gentechniker beim Frei- der Flimmerkiste auf die Zerstreuung des landversuch entwichen. Publikums.Anfangs zwar noch relativ zag- Nein, es bedarf haft – schließlich hatte es der öffentlich- keiner aufwendigen rechtliche Rundfunk als Monopolist nur Hirnstrommessun- bedingt nötig, um die Gunst der Zuschau- „Wer im gen, um TV-konsu- er zu buhlen. flachen mierenden Kindern Doch spätestens seit Mitte der achtziger ihren Trance-Zu- Jahre, mit dem Beginn des Privatfernse- Wasser stand nachweisen hens, liefern sich Öffentlich-Rechtliche und badet, zu können. Der Au- Private einen erbitterten Wettlauf um die genschein genügt. Unterhaltungshoheit auf den bundesdeut- kann nicht Und die Erwach- schen Bildschirmen. Denn Unterhaltung untergehen“ senen? Ihnen muss gilt unter TV-Managern bisher als Garant man Elektroden an hoher Marktanteile. Und nur wer hohe die Kopfhaut flan- Quoten vorzuweisen hat, kann auch die schen, um ihre ze- entsprechenden Werbegelder kassieren. RTL-Show „Veronas Welt“ (Gäste Ferch, Appelt, Nielsen, rebralen Ströme mit einem Elektroenze- Als der US-Medienpädagoge Neil Post- Quotenhit Fernsehunterhaltung: „Vor der Glotze phalogramm (EEG) sichtbar zu machen. man 1985 publikumswirksam jammerte: Langsam und unbestechlich zieht dann der „Wir amüsieren uns zu Tode“, kaufte man als Informationsmedium – wenn nicht in Drucker Linien auf weißem Endlospapier, zwar pflichtschuldig den Bestseller, ließ ihn diesem, so doch spätestens im nächsten während im Fernsehen Susan Stahnke auf dann aber ungelesen im Regal verstauben. Jahr. Aber dann endgültig! Sat 1 vor Killerbakterien aus der Zahn- Kaum jemand wollte sich zu Tode lang- Die dicken Krokodilstränen in den Au- bürste warnt oder Ellen Arnold in der „Ta- weilen. gen verschleierten ihnen dabei den Blick gesschau“ die dritte Stufe der Gesund- Nur wenige Intellektuelle beklagten im- auf das, was das Fernsehen wirklich ist: ein heitsreform erklärt. mer wieder lautstark die „zunehmende Medium, das bei seinen Nutzern vor allem Vor dem EEG sind alle Sendungen gleich Verflachung“, erregten sich über „Verblö- Gefühle auslöst. Die Information steht erst – das ist das Überraschende. Ob Gerd Ruge dung“ und „Inhaltsleere“ und prognosti- an zweiter Stelle – das unterscheidet es oder Jürgen Drews, ob Maria von Welser zierten den „Niedergang“ des Fernsehens von anderen Medien.

124 der spiegel 52/1999 SAT 1 SAT U. BAATZ / LAIF BAATZ U. Manager Tibursky, Ramona Drews) Sat-1-Show „Voll Witzig!“ (Comedy-Stars Profitlich, Lück, Nontschew) ACTION PRESS ACTION OBS Moderatorin Feldbusch) „Jerry Springer Show“ (im US-Fernsehen) entspannen wir und schalten das zielgerichtete Denken ab“

Das Publikum hatte es dagegen schon das Radio verkündete, sollte später auch Medium zum ersten Mal vor einem grö- immer begriffen. Untersuchungen zeigen: für das von ihm gegründete Fernsehen gel- ßeren Publikum getestet. In Berlin, Leip- Seit Anfang der sechziger Jahre denken ten: Es sei, so zitieren Tageszeitungen den zig und Potsdam saßen jeweils 25 bis die Zuschauer beim Thema Fernsehen kon- Propagandaminister, „kein Beweis für die 30 Zuschauer wie in einem kleinen Ki- sequent immer nur an zwei Dinge: Unter- politische Haltung eines Senders, wenn er no in „Fernsehstuben“ vor einem TV- haltung und Krimis. jeden Tag zwei oder drei so genannte poli- Gerät. Eine gewaltige elektronische Fern- Schon Hitlers Chefpropagandist Joseph tische Vorträge“ bringe. Der Rundfunk die- sehkamera nahm im Berliner Olympia- Goebbels hatte die Möglichkeiten des Fern- ne der Auflockerung des Alltags. stadion die Bilder auf, die dann per sehens als Zerstreuungsmedium erkannt. 1936, bei den Olympischen Sommerspie- Funk auf den Fernseher übertragen wur- Was der berüchtigte Demagoge 1935 für len in Berlin, wurde das neu entwickelte den. Die Resonanz war enorm, doch das

der spiegel 52/1999 125 Medien

Interesse flaute schnell ab, als die Spiele Programms, mehrmals am Abend hin und vorbei waren. her. Anstatt sich mit anspruchsvollen Zwar bauten die Nazis bis zum Kriegs- Fernsehspielen und experimentellen Pro- beginn einen Fernsehbetrieb auf, dessen grammformen auseinander zu setzen, so Programm aus einem kleinen Teil Indok- der Anstaltschef, laufe das Publikum seinen trination und einem großen Teil Unterhal- Lieblingen hinterher: Willy Millowitsch, tung bestand. Doch der Krieg verhinderte dem Ohnsorg-Theater, Spielfilmen, Krimis, die Massenfertigung von Fernsehern, und Sport und Unterhaltung. so blieb das TV zunächst eine Veranstal- Er konnte nicht wissen, was dem deut- tung für eine winzige Minderheit, das nie schen Fernsehen noch bevorstehen sollte: an die Bedeutung der (Kino-)Wochen- die Fernbedienung – und Helmut Thoma. schauen und des Radios heranreichte. Die Einführung des Privatfernsehens 1984 1941 wurden die meisten der wenigen revolutionierte das Medium wie kein an- TV-Geräte aus den Fernsehstuben geholt deres Ereignis zuvor. Seitdem ist die Quo- und in 40 Lazaretten aufgestellt. Mit Un- te der alleinige Maßstab des Erfolgs. Und terhaltungssendungen wie „Wir senden niemand verkörperte dieses neue Denken Frohsinn, wir spenden Freude“ sollten die perfekter als der promovierte Kirchen- verwundeten Soldaten mental wieder auf- rechtler Thoma, der seine Karriere zu- gerüstet werden. nächst als Molkereilehrling gestartet hatte. Nach dem Krieg startete der Nordwest- „Wer im flachen Wasser badet, kann deutsche Rundfunk Weihnachten 1952 sein nicht untergehen“, verkündete der RTL- Fernsehprogramm („Der Doktor hat Ih- Chef munter und machte sich in den acht- nen was zu sagen …“). Wenige Tage zu- ziger Jahren mit Macht und Lust daran, vor war das DDR-Fernsehen pünktlich zu Stalins 73. Ge- burtstag versuchsweise auf Sendung gegangen. Von Anfang an dominier- ten im Westen Unterhal- tungssendungen das Pro- gramm. Der frühere Kabaret- tist Peter Frankenfeld hatte in der Kriegsgefangenschaft die amerikanische Radioun- terhaltung kennen gelernt. Schnell gelang es ihm, zu dem Fernsehentertainer der fünfziger und frühen sech- ziger Jahre aufzusteigen.

Die immer wiederkehrenden AKG Elemente seiner Sendungen Deutsches Familienidyll (1960): Unterhaltung und Krimis („Wer will – der kann“, „Bit- te recht freundlich!“) machten ihn zum alle Niveaugrenzen nach unten zu durch- Kult: seine stets groß karierten Jacken und stoßen. der (echte) Briefträger Walter Spahrbier Thoma hatte früh den inneren Zusam- aus Hamburg-Lokstedt, der die Zuschau- menhang zwischen hormoneller Stimula- erpost brachte. tion und Quote erkannt und konsequent in 1955 gaben bei einer Umfrage auf dem seiner Programmplanung berücksichtigt. Gebiet des Süddeutschen Rundfunks zwei Nachts rackerten sich langhaarige Klemp- Drittel der Befragten an, ihr Gerät vor al- ner in Schlaghosen durch die Schlafzimmer lem wegen der Unterhaltungssendungen liebestoller Hausfrauen, während am spä- angeschafft zu haben. Nur 12 bis 13 Pro- ten Abend Hugo Egon Balder in „Tutti zent hatten sich den Apparat gekauft, um Frutti“ – quotensteigernd, aber sinnfrei – besser über das Zeitgeschehen informiert große und kleine Busen freilegte. RTL habe zu werden. Wurde das Programm zu an- das Duale System im Fernsehen einge- strengend, wechselte man – selbst abends führt, schrieb die „taz“: „Aus dem, was – zum Radio. So schalteten nach einer Stu- auf den Müll gehört, machen die Kölschen die des Instituts für Demoskopie Allens- Klötenschaukler neue Sendungen.“ bach im April 1959 viele Zuschauer das Die private Konkurrenz konnte da un- Fernsehspiel „Minna Magdalena“ von möglich im Abseits stehen bleiben. Bald Curt Goetz aus, um die Radiosendung schon schickte sie junge Talkshow-Re- „Heitere Noten“ zu hören. dakteurinnen mit Maßbändern durch die Wacker wollten sich die öffentlich-recht- Provinz auf der Suche nach dem Mann, lichen Fernsehmacher um die Volksbildung der von sich behauptete: „Ich habe den verdient machen, doch das Volk verwei- Längsten.“ gerte sich dem wohlgemeinten Tun. 1969 Auf Pro Sieben, das zum Reich des be- klagte Klaus von Bismarck, Intendant des kennenden Katholiken Leo Kirch gehört, WDR, das Publikum schalte, ohne Rück- schaffte es Arabella Kiesbauer im Frühjahr sicht auf die inneren Zusammenhänge des 1996, die Grenzen des Geschmacks deut-

126 der spiegel 52/1999 zählweise spricht auch die Gefühle des Publikums an. Kein Wunder, dass er von der ARD besonders herausgestellt wird. So wie es der amerikanische Nachrichtenka- nal CNN mit seiner Star-Kriegsreporterin Christiane Amanpour schon lange macht. Regisseure wie Dieter Wedel („Der Kö- nig von St. Pauli“) feiern mit aufwendigen Geschichten Quotenerfolge. Ohne sein Mit- wirken ließ Sat 1 „Die Rote Meile“ produ- zieren, um von Wedels St.-Pauli-Saga zu profitieren. „Die Rechnung auf die Geilheit der Zuschauer ist nicht aufgegangen“, sagt Wedel voller Befriedigung, „denn es ist ein Unterschied, ob sich in meinem Film eine phantastische Schauspielerin wie Sonja Kirchberger mit all ihren Nöten auszieht oder nur irgendein hübsches Mädchen mit dicken Möpsen – wie in der ‚Roten Meile‘.“ Schlägt das Pendel also zurück? Ist „Un- terhaltung total“ als Konzept am Ende? Haben Drews und Konsorten ausgedient? Dürstet das Publikum wieder nach An-

SIPA PRESS SIPA spruch? CNN-Reporterin Amanpour*: Zögernd wenden sich TV-Manager wieder den Inhalten zu Trash-Sender wie RTL 2 werden sich weiter ins kulturelle Nichts steigern – so lich tiefer zu legen. Hinter einer transpa- Auch das Tempo der Sendungen lässt unwahrscheinlich das erscheinen mag. renten Wand durfte Tierliebhaber Andy bei sich kaum noch steigern. Irgendwann hat Noch warten Prügel-Events wie die ame- „Arabella Night“ vor einem Millionen- man die Zeit zwischen zwei Schnitten oder rikanische „Jerry Springer Show“ auf ihre publikum von den „großen, weichen Ge- Einstellungen so stark verkürzt, dass die germanische Zweitverwertung. Noch gibt schlechtsteilen des Pferdes“ schwärmen. Reaktionsfähigkeit der Zuschauer über- es zwischen Lüneburg und Biberach an der Frage der Moderatorin: „Sag mal, hast du fordert wird. Riß genügend unentdeckte Dackelschän- eigentlich Sex mit wechselnden Pferden, Selbst das Steigerungsmuster der Ver- der, die ihre Leidenschaft medial nicht oder bist du deiner Stute treu?“ einfachung sei inzwischen an einem Ende verkündet haben. Lange schon ist jeder Swinger-Club der angekommen, meint Schulze und schildert Aber es gibt auch erste Indizien für eine Republik abgefilmt. In ihrer Not suchen die eine TV-Szene, die an einem Samstagabend Renaissance der Qualität. Masse allein ist Programm-Macher bereits im deutschspra- im ZDF zu sehen war: Der Showmaster kein Wert mehr an sich, haben die Werbe- chigen Ausland nach unbekannten Perver- wendet sich an einen Jungen in Rennfah- planer inzwischen erkannt. Für Qualitäts- sen, die ihre Leidenschaften bisher noch rerkleidung mit den Worten: „Und da ha- produkte kann man schlecht in einem nicht öffentlich gemacht haben. Kein The- ben wir also den elfjährigen Rennfahrer Trash-Umfeld werben. Also drängen die ma, das nicht schon totgequasselt worden Bernd. Sag mal Bernd, wie alt bist du ei- Werber auf anspruchsvollere Sendungen. wäre, ob bei Hans Meiser („Vor meinen gentlich?“ „Elf Jahre.“ „Und was machst Die Botschaft ist angekommen. Brüsten haben alle Männer Angst“) oder du so? Bist du Rennfahrer?“ „Ja, ich mache So will WDR-Intendant Fritz Pleitgen der Trash-Spezialistin Birte Karalus („Ver- bei Gokart-Rennen mit.“ „So.Warum? Ge- die Tradition der Fernsehspiele wieder liererin! Mein Mann ist besser als deiner!“). fällt dir das?“ „Ja!“ „Und was gefällt dir beleben. Nach Jahren der Dürre musste Das Niveau – so scheint es – ist nicht daran?“ „Ich find’s einfach super!“ Pleitgen feststellen: Der Hunger der Zu- mehr weiter abzusenken. „Das letzte Tabu Der wackere Professor aus Bamberg ist schauer auf gut erzählte Geschichten ist des deutschen Fernsehens ist der Schach- Optimist: „Zwangsläufig konkurrieren die gewaltig. Konstantin von Hammerstein telsatz“, resignierte der Hamburger Me- Anbieter nun nicht mehr durch dienkritiker Bernd Gäbler unlängst – gegenseitiges Übertrumpfen auf natürlich in einer Talkshow. Steigerungspfaden wie Reizin- Das Fernsehen ist in einer Sackgasse an- tensivierung, Vereinfachung und Welt am Draht gekommen, konstatiert auch der Bamber- Zeitverkürzung, sie konkurrieren Werden in Zukunft Online- ger Sozialforscher Gerhard Schulze. Jah- durch Erfindung, Argument und Informationen aus dem Internet die relang hätten sich die Fernsehmacher auf Information.“ Und tatsächlich: Es Tageszeitungen verdrängen? der Jagd nach Marktanteilen einem erbar- gibt erste Hinweise, dass sich die Ja 23 mungslosen „Steigerungswettlauf“ hinge- TV-Manager zögernd wieder den geben, doch jetzt? Jetzt gibt es nur noch Inhalten zuwenden – zumindest Nein 75 wenig, was man steigern kann! einige. So ist die vom Fernsehen mit Macht vor- So ist in den Chefetagen der Glauben Sie, dass in Zukunft ein angetriebene sexuelle Reizintensivierung deutschen Fernsehgewaltigen der großer Teil des Handels über das längst einer gewissen Ratlosigkeit der Ver- Erfolg eines Gerd Ruge nicht un- Internet abgewickelt wird? antwortlichen gewichen. Was soll man bemerkt geblieben. Der öffent- noch Aufreizenderes zeigen, wenn die lich-rechtliche Veteran schafft mit Ja 87 Nacktheitssteigerung durch das völlige seinen Reportagen aus Russland Bloßlegen des Körpers buchstäblich aus- oder den USA etwas, wovon an- Nein 11 gereizt ist? dere nur träumen können: Ruge Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 10. und 11. Dezember; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende gilt bei den Zuschauern als glaub- Prozent: keine Angabe * In Vitez, Bosnien, 1993. würdig, seine ruhige, gelassene Er-

der spiegel 52/1999 127 Werbeseite

Werbeseite Ausland

1999 Ein Knick in der Kurve lässt hoffen 6 Mrd. Mit wachsender Schnelligkeit vermehrte sich die Weltbevölkerung bis in die neunziger Jahre. Jetzt haben sich die Zuwachsraten erstmals abgeschwächt. m 12. Oktober begrüßte Uno-Gene- völkerung bereits Jahre früher auf die ralsekretär Kofi Annan den sechsmil- Sechs-Milliarden-Marke hochgeschnellt. Uno-Generalsekretär Kofi Annan mit Aliardsten Erdenbürger: Adnan Meviƒ, Die Zahl der Erdenbewohner ist im- dem sechsmilliardsten Menschen der Sohn eines muslimischen Ehepaares, mer rascher gewachsen. Fast zwei Millio- 1987 war kurz nach Mitternacht in Sarajevo nen Jahre benötigte die Menschheit, bis mehrt sich die Mensch- geboren worden. Die Entscheidung für sie 1804 die Kopfzahl von einer Milliarde heit zu Tode“. 5 Mrd. das Bosnien-Baby war symbolisch. An- erreichte. Pestepidemien im 14. Jahr- Neuerdings aber regis- nan befand sich gerade in dem Balkan- hundert und der Dreißigjährige Krieg trieren die Demografen land, in dem während des Kriegs tausen- (1618 bis 1648) hatten die Bevölkerung einen Knick in der Kurve. de Kinder umgekommen waren. Die ganzer Landstriche dahingerafft. Erstmals haben sich die Sechs-Milliarden-Grenze, so schätzen Doch wer immer überlebte, gehorchte Zuwachsraten leicht ab- Demografen, war wahrscheinlich bereits dem christlichen Gebot: „Seid fruchtbar geschwächt. In Industrie- im Juli überschritten worden. und mehret euch.“ Von 1804 bis 1927 ver- staaten wie Deutschland Nie zuvor war die Zahl der Menschen doppelte sich die Weltbevölkerung auf und Japan liegt die Fort- 1974 so schnell von einer Milliarde zur nächs- zwei Milliarden; schon 33 Jahre später, pflanzungsrate schon seit ten gestiegen, ganze zwölf Jahre hatte es 1960, wurde die dritte Milliarde erreicht, Jahren unter der Erhal- 4 Mrd. gedauert. Und hätte nicht China (Ein- 1974 die vierte, 1987 die fünfte – hygieni- tungsmarke von 2,1 Kin- wohnerzahl 1,25 Milliarden) seit Ende scher und medizinischer Fortschritt dern pro Einwohnerin. der siebziger Jahre eine strikte Ein-Kind- machten es möglich. Aufgebracht emp- In etlichen Entwick- Politik vorangetrieben, wäre die Weltbe- fahl der amerikanische Biologe Paul lungsländern sind Eltern Ehrlich den Regierungen der davon überzeugt wor- Die Entwicklung der Welt, „das Krebsge- den, dass ein Verzicht Weltbevölkerung seit schwür des Bevöl- auf viele Kinder den der Bronzezeit kerungswachs- Wohlstand mehrt. tums heraus- 1960 zuschnei- 3 Mrd. den“, sonst „ver-

1927 Mao Tse-tung, junge Chinesen 2 Mrd.

1804 1 Mrd.

Frühe Zivilisation — ägyptische Pharaonendarstellung Gehenkte im Dreißigjährigen Krieg

Bronzezeit Mittelalter Neuzeit Eisenzeit

Pest- und Cholera- etwa 0,3 Mrd. Epidemien

2000 v. Chr. 1000 v. Chr. Christi Geburt 1000 n. Chr. 2000 n. Chr. LANDESMUSEUM, AP X(2), WESTFÄLISCHES INC., GAMMA/STUDIO SPACESHOTS FOTOS:

der spiegel 52/1999 129 P. MENZEL / AGENTUR FOCUS MENZEL / AGENTUR P. AP Lagos Bombay (Mumbai) Schanghai NIGERIA INDIEN CHINA

Einwohner in Millionen *Prognose; Einwohner in Millionen Einwohner in Millionen 10 1995 25 2015* Quelle:Uno 15 1995 26 2015* 14 1995 18 2015*

Doch statt der erträumten Befreiung von Armut und sozialen Fesseln bringt die Verstädterung oft nur neues Zeitbombe Stadt Elend. Gerade im Zeitalter der Glo- balisierung finden viele Zuwanderer Auf der Suche nach einem besseren Leben ziehen Millionen Menschen keine Arbeit und enden mit ihren Fami- lien in Slums ohne Strom und Kanalisa- vom Land in urbane Ballungsräume, die oft nicht mehr regierbar sind. tion. Es gibt keine Schulen, niemand transportiert den Müll ab. Die ver- inst war die Stadt das Symbol einer Im Jahr 2025 werden es zwei Drittel schmutzte Umwelt macht die Menschen ganzen Welt. Heute ist die ganze Welt sein. Denn die Stadtbevölkerung nimmt krank. Eim Begriff, eine Stadt zu werden.“ viermal so schnell zu wie die Landbevöl- Verbittert schauen die Slumbewohner Diesen Trend im Zusammenleben der kerung. Und die größten Wachstumsraten auf überall entstehende Ghettos der Menschen beschrieb der US-Historiker melden die am wenigsten entwickelten Reichen, die von privaten Sicherheits- Lewis Mumford bereits 1961: Zum Beginn Länder. In Dörfern Afrikas, Asiens und diensten bewacht werden müssen. Denn unseres Jahrhunderts hatte sich nur ein Lateinamerikas gilt die Parole aus dem die Kluft zwischen Wohlhabenden Zehntel der damaligen Weltbevölkerung Europa des Mittelalters: „Stadtluft macht und Habenichtsen erzeugt Gewaltkrimi- von 1,6 Milliarden in Städten niedergelas- frei.“ Tag für Tag verlassen 170000 Men- nalität, gegen die kommunale Behörden sen. Heute lebt dort schon fast die Hälfte schen in der Dritten Welt ihre Felder und nicht ankommen. Polizisten wagen von sechs Milliarden Menschen. ziehen in wuchernde Metropolen. sich nicht mehr in von Banden be- A. YAMASHITA / AGENTUR FOCUS

Tokio Japan Einwohner in Millionen 27 1995 29 2015* BENITO / GAMMA STUDIO X BENITO S. SALGADO / AGENTUR FOCUS / AGENTUR S. SALGADO SIPA PRESS SIPA Mexiko-Stadt Kairo MEXIKO ÄGYPTEN Einwohner in Millionen Einwohner in Millionen 17 1995 19 2015* 10 1995 14 2015* herrschte „No go areas“. Angesichts der Nach Plänen der Stadt soll es Ausgangs- Polarisierung in vielen Mega-Citys war- BOMBAY ist von indischen Nationa- punkt für ein „Silicon Valley von Schang- nen Experten vor der sozialen „Zeit- listen nach einer Hindu-Göttin in Mum- hai“ werden. bombe Stadt“. bai umgetauft worden. Die Metropole an der Küste nennt sich größte Textilstadt der Welt: Pariser Designer und C&A las- LAGOS Weil die Lagunen-Stadt im TOKIO Im größten Ballungsraum der sen in Bombay Kleider nähen; unter 84 Verkehr erstickte und von Stromausfällen Welt wehrt sich die Stadtverwaltung ge- TV-Sendern im Kabelnetz gibt es einen und Straßenräubern heimgesucht wurde, gen Pläne, Regierungssitz und Parlament „Fashion Channel“. Weil zur florieren- zog Nigerias Regierung 1991 ins nördliche aus dem 27-Millionen-Moloch in einen den Textil- und Filmindustrie eine expan- Abuja um. Dennoch strömen unvermin- anderen Landesteil zu verlagern. Tokio dierende Computerbranche kommt, soll dert Menschen in die alte Hauptstadt. Un- ist hoch verschuldet, weil es in den ver- Bombay nach Expertenprognosen im ter ihren Brücken haben sich in Wohnboo- gangenen Jahren etliche Prestigebauten 21. Jahrhundert schneller wachsen als ten Fischer aus dem benachbarten Benin hochziehen ließ – von einem 48 Stock- jede andere globale Mega-City. angesiedelt. Sie werfen ihre Netze in der werke hohen Rathaus bis zum Tokyo Me- Dem Ruf der Stadt, den ein Kranz von Lagune aus, in die Fäkalien und Abfälle tropolitan Contemporary Art Museum. Slumvierteln umgibt, schadet freilich der Stadt entsorgt werden. Ihren Fang ver- Um Geld in die Kassen zu holen, eine Welle von Erpressungen, Entführun- kaufen die Fischer auf Märkten mit einem möchte Gouverneur Shintaro Ishihara gen und Morden. Bombays Wohlhabende grenzenlosen Warenangebot: japanische das Wetten bei den Radrennen im „To- lassen sich deshalb von 1200 privaten Videorecorder und Affenköpfe, Pfeffer- kyo Dome“ einführen. Er weiß, dass sich Sicherheitsfirmen schützen – und zau- schoten und gefälschte Führerscheine, die Bürger (Durchschnittsalter 40,8 Jah- dern neuerdings, ihren Reichtum zur französisches Parfum und Schlangenhäu- re) Freizeitvergnügen etwas kosten las- Schau zu stellen: Das Journal „Society“ te, Satellitentelefone und Vogelfedern ge- sen. Im Alltag erleben sie schon die Me- findet kaum noch Kandidaten für seine gen nachbarlichen Neid. Lagos hat die Le- tro-Reise vom Wohn- zum Arbeitsplatz Serie „Wie ich meine erste Million bensqualität einer tropischen South Bronx als schlimme Strapaze: In den drei Tokio- machte“. – und wächst und wächst. ter Zentrumsbezirken halten sich tags- über 2,5 Millionen Menschen auf; nachts reduziert sich die Zahl auf 240000. SCHANGHAI In der Stadt drehen KAIRO Ägyptens Metropole muss sich mehr Baukräne als in Berlin. jährlich über 300000 zusätzliche Bewoh- Dabei haben Architekten – darunter ner verkraften – Folge von Geburten- MEXIKO-STADT ist berüchtigt für Stars aus dem Westen wie Richard boom und Zuzug vom Lande. Da können seine Luftverschmutzung – Folge der Rogers und John Portman – schon über die Friedhöfe nicht den Toten überlassen Hochlage (2200 Meter über dem Meeres- 400 Wolkenkratzer fertig gestellt. Seit bleiben: Zwischen Grabsteinen und in spiegel) zwischen noch höheren Bergen. Chinas Regierung Schanghai 1990 zur Gruften einer ausgedehnten Totenstadt Fabriken und Autos verpesten die Atmo- Sonderwirtschaftszone erklärte, herrscht siedeln tausende von Familien. Deshalb sphäre. Der Smog kann nicht abziehen. Goldgräberstimmung in der Stadt. 16000 vibriert der Riesenfriedhof fast so sehr Regierungen raten ihren Diplomaten ab, Unternehmen aus aller Welt errichteten wie der Rest der Stadt, die den stolzen nach Mexiko-Stadt zu ziehen, wenn sie Niederlassungen. Alle lockt das Geschäft Beinamen „Mutter der Erde“ trägt. Kinder haben. Die leiden besonders an mit dem Milliardenvolk. Hupende Autos schieben sich auf Bronchialerkrankungen. In den Armen- Den Boom im Land nennen Chinas Hochstraßen an tausend Jahre alten Mo- vierteln atmen die Leute praktisch ihre Funktionäre „sozialistische Marktwirt- scheen und der vor hundert Jahren er- eigenen Fäkalien: Weil es keine Kläranla- schaft“. In Schanghai erinnert der Auf- bauten Oper vorbei; sie war das erste gen gibt, wird der getrocknete Kot vom trieb eher an frühkapitalistische Grün- westliche Musiktheater der Region. Heu- Wind über die Stadt geblasen. derjahre: Während modisch gekleidete te verkehrt die erste Untergrundbahn Mexikos Metropole wirkt trotz ihrer Yuppies in feinen Restaurants dinieren, Afrikas und des Nahen Ostens in der Nil- Nöte liebenswürdiger als andere latein- drängen sich vor Garküchen in Bretter- Stadt. In der verübten islamistische Ter- amerikanische Monsterstädte, weil viele verschlägen zerlumpte Landflüchtlinge. roristen in den vergangenen Jahren eini- historische Gebäude erhalten sind. Der Sie sind für Arbeit in der Zukunftsindu- ge Anschläge, die einen falschen Ein- Sinn der Bewohner für ihre Vergangen- strie nicht qualifiziert: Im November druck hinterlassen haben: Tatsächlich ist heit, für Farben und Formen bewahrt sie eröffnete der älteste Sohn des Präsiden- Kairo nach Tokio die sicherste Mega-City davor, das Alte niederzureißen. ten Jiang Zemin ein Hightech-Zentrum. der Erde. Hans Hielscher

der spiegel 52/1999 131 Ausland PLANET AMERIKA Amerikanische Technologie, amerikanische Kultur und amerikanische Wertvorstellungen sind bis in die hintersten Winkel der Erde vorgedrungen. Doch gegen den Hegemonieanspruch der letzten Supermacht erhebt sich auch weltweiter Protest.

Amerika regiert die Welt – Gott sei Dank. Von lästigen staatlichen Auflagen befreites US-Kommentator Charles Krauthammer Kapital, das sich als riesiger Investitions- strom rund um den Globus auf die Suche er sollte denn verhindern, dass nach Anlagemöglichkeiten begeben hat, auch das 21. Jahrhundert ein lässt sich mit Vorliebe dort nieder, wo Län- „amerikanisches Jahrhundert“ der dem amerikanischen Wirtschaftslibe- wird? Russland? Nur wenn das ralismus folgen. W kranke Riesenreich eine uner- Der US-Historiker Paul Kennedy spricht wartete Renaissance erfährt. China? Noch von „kreativen Stürmen des internationa- nicht. Europa? Schon eher, wenn sich der len Kapitalismus“, die seit dem Zusam- alte Kontinent zusammenraufen könnte. menbruch des Kommunismus ungehindert Die islamische Welt? Nicht mächtig genug. über nahezu jedes Land der Erde brausen Wo ist sie also, die Herausforderung, – und die Windmaschine mit der einzigar- welche die zum Bersten selbstbewusste tigen Power sind die USA. Hegemonialmacht USA, „das erste wirkli- Was immer geschieht auf der Welt, vie- che Weltreich seit dem Imperium Roma- le sehen es mit amerikanischen Augen. Die num“ (US-Politologe Stephen Walt), zum Bilder von CNN bestimmen den Takt der Einknicken brächte? Nachrichten und die Wahrnehmung der Nichts und niemand ist zu erkennen. Im Zuschauer. Die Videos von MTV vibrieren Gegenteil: Die Fundamente sind gelegt für im selben Rap auf den Fernsehschirmen ein weiteres Jahrhundert amerikanischer von Malaysia bis Brasilien. Vorherrschaft.Von außen betrachtet, etwa Kultur- und Zivilisationsstandards wer- von dort, wo US-Astronaut Neil Armstrong den in „Gottes eigenem Land“ geformt. am 20. Juli 1969 im Mond-Meer der Ruhe Nicht, dass eine derart fromme Herkunft das Stars-and-Stripes-Banner einpflanzte, erkennbar wäre: In unnachahmlicher Mi- sieht die Erde aus wie ein Planet Amerika. schung aus Tabubruch und Prüderie ver- Bis in die abgelegensten Winkel ist sprach Hollywood neue sexuelle Freiheiten spürbar, wer die Welt regiert: Dow- und bestätigte gleichzeitig die alten Ver- Jones-, Nasdaq- und Dollarno- haltensnormen. Noch im Nahen Osten, wo tierungen bestimmen mit ihren radikale Islamisten dem „großen Satan Frequenzen den Puls der Weltwirt- Amerika“ Tod und Verderben wünschen, schaft. In Asien, Afrika, Latein- entstammt die Heldenpose der Kämpfer amerika ist Globalisierung gleich- nicht selten den Rollenklischees des bedeutend mit Amerikanisierung. Action-Kinos. Madonna und Bart Simp-

son, Barbie und Luke Skywalker, was ver- PRESS RICHARD / SIPA F. ehrt wird und nachgeahmt, Trends setzt Konfettiparade für heimkehrende US-Soldaten Freiheits- und weltweit gekauft wird, kommt meist statue aus den USA. Das, wovon wir leben, eben- weltweit als Maßstab des Fortschritts: Mo- Unilaterales falls – wie 26 McDonald’s in Moskau, 113 biltelefon, Computersoftware und das In- Durch- im Stadtstaat Singapur, 780 „Macdos“ in ternet haben rund um den Erdball eine setzungsver- Frankreich und 3800 Filialen der Klops- Kommunikationsrevolution ausgelöst. mögen Kette in Japan bezeugen. Das globale Dorf ist verkabelt, das Mo- Auch das Wissen konzentriert sich in den dem regiert. Mit zunehmend selbstver- besten Universitäten der Welt zwischen ständlichem Mausklick zappen sich die Er- Harvard an der Ost- und Stanford an der denbürger durch die Knotenpunkte des Westküste der USA. Die Forschungszen- Internets – und nicht nur dessen Lingua tren von Bell und IBM sind weltweit franca kommt aus Amerika, auch die Ob- führend, genau wie die Labors der Pharma- jekte des „E-Commerce“ bestimmt der und Biotechnologie-Konzerne. Die Domi- US-Markt. Zwölf Prozent aller US-Bürger nanz amerikanischer Nobelpreisträger bla- orderten ihre Weihnachtsgeschenke bereits miert den Rest der Staatengemeinschaft. bei dotcom & co. US-Technologie, einst zur Eroberung des Wirtschaftliche Macht findet ihre Ent-

P. STEFFEN / PLUS 49 VISUM P. eigenen Kontinents eingesetzt, gilt heute sprechung in politischer Macht, die ausge-

132 der spiegel 52/1999 nach dem Golfkrieg (1991): Die martialischen Schöpfer einer angeblich neuen Weltordnung wie Erlöser gefeiert

prägter sei als die jeder anderen Hegemo- Vorstellungen von Menschenrechten, De- men: „Wenn du ein konkurrenzlos schwe- nie zuvor, schreibt Kennedy. Weder Spa- mokratie und freier Marktwirtschaft zu rer 800-Pfund-Gorilla bist, konzentrierst nier noch Briten konnten ihre Staatsräson, übernehmen. Desgleichen hinderten die du dich auf deine Bananen, und alle ande- ihre Wirtschaftsform und ihre Werte zum USA andere Staaten – Nordkorea etwa, ren konzentrieren sich auf dich.“ Maßstab setzen für den Rest der Welt. Das Irak, aber auch Russland – daran, sich mi- Auch über militärische Potenz, letztli- erste amerikanische Jahrhundert jedoch, litärische Kapazitäten zuzulegen, welche che Absicherung sowohl politischer als das mit der Inbesitznahme der Philippinen die Überlegenheit der eigenen Streitkräfte auch wirtschaftlicher Macht, verfügen die 1898, der Eröffnung des Panamakanals 1914 womöglich gefährden könnten. Sogar Ver- Amerikaner im Überfluss. Spätestens seit und dem Eingreifen im Ersten Weltkrieg bündeten gegenüber erklärten die USA ei- dem Golfkrieg hat die Supermacht gezeigt, 1917 eher unmerklich begann, endete nach genes Recht für verbindlich und drohten wie man mit technologischem Vorsprung dem Zusammenbruch der Sowjetunion in ausländischen Firmen, die vorwitzig mit und smarten Waffen Verbündete um sich einer einzigartigen Machtdemonstration: Kuba Handelsbeziehungen aufnahmen, schart und Kriege gewinnt. Vom eigenen Hinterhof in Mittelameri- Sanktionen an. Eine Welt ohne US-Primat wäre eine ka bis zu den neuen Staaten Ost- und Süd- So viel unilaterales Durchsetzungsver- Welt „mit mehr Gewalt und mehr Unord- osteuropas konnten die USA erfolgreich mögen fasste der amerikanische Politologe nung“, glaubt deshalb der Politologe Sa- andere Länder zwingen, amerikanische Michael Mandelbaum in dem Satz zusam- muel Huntington. Ohne amerikanisches

der spiegel 52/1999 133 Ausland

Krisenmanagement oder militärisches Ein- Die ersten imperialen greifen wird kaum noch ein Konflikt gelöst. Mächte der Neuzeit litten Die Verhandlungen von Dayton beende- nämlich, wie etwa Spanien ten die Bosnien-, B-2-Bomber die Kosovo- oder , chronische Fi- Katastrophe – selbstverständlich in strikter nanznot. Zu viel Geld floss in Aufgabenteilung mit den europäischen ihre Streitkräfte. Die zahlrei- Alliierten: Die USA liefern die Bomben, chen kontinentalen Krisen Europa zahlt für den Wiederaufbau. leerten die Haushaltskassen, Die einzig verbliebene Supermacht, die auch die kolonialen Abenteu- sich so gern als „gutmütige Vormacht“ er in Übersee waren kostspie- oder in den Worten von US-Außenminis- lig. Das änderte sich erst mit terin Madeleine Albright als „unverzicht- der industriellen Revolution. bare Nation“ feiert – so, als ob es auf alle Briten und, mit geringer anderen nicht so ankäme –, sichert ihre Verzögerung, die anderen eu- Erster Weltkrieg: Deutsche Matrosen in Flandern 1916 Überlegenheit mit großem Aufwand ab: ropäischen Mächte wie Preußen, Frankreich Anfang 1999 waren US-Truppen rund um und das Habsburger Reich setzten die ma- den Globus stationiert; im Jahr zuvor be- schinelle Warenproduktion unter Volldampf Kriege des teiligten sich 35000 Soldaten der U. S. Ar- und dominierten den aufkeimenden Welt- my Special Operations Forces an 2500 handel – eine unübersehbare Demonstra- 20. Jahrhunderts Einsatzaufträgen in 112 Ländern. In den tion der Stärke ihres marktwirtschaftlichen Zwischen Staaten gibt es keine vergangenen sieben Jahren gab es 27 mi- Systems. Die Auswanderer jenseits des Freundschaft, sondern allenfalls litärische Aufmärsche und Interventionen großen Teichs brauchten dieses Modell nur mit Gesamtkosten von 20 Milliarden Dol- nachzuahmen. Die erforderlichen Ressour- Interessen – und in ihrem Innern lar. Durchschnittlich jeden dritten Tag be- cen hatten sie allemal, das nötige Know- jede Menge ethnischen und fahl US-Präsident Bill Clinton den Ab- how brachten sie aus der Heimat mit. religiösen Zündstoff. schuss einer „Cruise Missile“. Aus der Summe europäischer Geschich- Ein Graffito im albanischen Ort Vla∆tica te und Erfahrungen filterten die Vereinig- aus der Zeit des US-geführten Kosovo- ten Staaten von Amerika ihr Staatsziel: ERSTER WELTKRIEG Kriegs war zwar falsch buchstabiert; in- eine demokratisch organisierte Gesell- Rivalitäten im europäischen Staatensystem und haltlich brachte es die Lage am Ende des schaft, die ihren freien und gleichberech- Autonomie-Bestrebungen im österreichisch- Jahrhunderts auf den Punkt: „Klinton – tigten Mitgliedern (so sie keine Schwar- ungarischen Vielvölkerstaat lösen den ersten in- you are king of the world“. zen waren) ein größtmögliches Maß an terkontinentalen Krieg (1914 – 1918) aus. Waffen Die beispiellose Stärke der Selbstverwirklichung garantiert bisher ungekannter Potenz kommen zum Einsatz, USA reicht zurück bis in jene und die entsprechende Eigen- darunter U-Boote, Flugzeuge, Granaten, Maschi- nengewehre, Minen und Giftgas. Opfer: 8 bis 12 Zeit, in welcher der amerikani- Die USA initiative auch erwartet. Millionen Tote; 20 Millionen Verwundete.* sche Kontinent entdeckt und Kein Zweifel, welcher Art das *Alle Angaben geschätzt erobert wurde. Und sie zeigt liefern Fundament sein musste: Kapita- die Mechanismen, die den Auf- die Bomben, lismus – Erfolg durch Geschäft. stieg, aber auch den Niedergang Schon 1830 waren die USA zur ZWEITER WELTKRIEG von Weltmächten bestimmen. Europa sechstgrößten Industriemacht Der Expansionismus des Dritten Reichs und seiner Zu Beginn der Neuzeit, im der Welt aufgestiegen. Verbündeten Italien und Japan, gepaart mit Rassen- bezahlt wahn, mündet in einer globalen Vernichtungsorgie 16. Jahrhundert, erlebte das den Der transatlantische Riese (1939–1945). 53 Staaten aller Kontinente sind merkantile Europa einen enor- blieb allerdings lange Zeit in- zeitweise allein mit Deutschland im Kriegszustand. men Technologieschub, beson- Wiederaufbau trovertiert.Auf See hatte Groß- Die Nazis setzen Raketen ein, die USA die ultimati- ders bei der Entwicklung von britannien im 19. Jahrhundert ve Waffe des 20. Jahrhunderts, die Atombombe. Kriegsgerät. Mit Kanonen be- nahezu ein Machtmonopol; pro Gesamtbilanz: 55 Millionen Tote, darunter mehr als stückte Segelschiffe schossen den Weg frei Kopf war es die reichste Nation der Welt, 5 Millionen Juden; 35 Millionen Verwundete; 3 Mil- zu den Schatzkammern jenseits des Atlan- nur das Deutsche Reich zeigte noch bes- lionen Vermisste. tiks. Dort fanden die Konquistadoren der sere Wachstumsraten. Spanien, die Vor- spanischen Krone nicht nur Gold und Sil- macht des 16. Jahrhunderts, war längst ber, sondern auch Kartoffeln und Tabak. zweitrangig, das französische 17. Jahrhun- Sechstagekrieg 1967: Israels Armeechef Mosche Dajan (M.) Die kostbaren Edelmetalle sowie die dert vorbei. Und das russische Zarenreich exotischen Lebens- und Genussmittel ent- hatte den Anschluss verpasst, obwohl aus- fachten erst recht die Jagd nach Rohstoffen ländische Kapitalströme in den unwirtli- und Handelsgütern aus Übersee. So par- chen autokratischen Staat flossen, der An- zellierten Armeen aus der Alten Welt die fang des 20. Jahrhunderts zum weltgrößten kaum erforschten anderen Kontinente im Auslandsschuldner wurde. Namen ihrer Herrscherhäuser. Die Erde war um das Jahr 1800 zu Daheim wuchs der Wohlstand, Handel 35 Prozent kolonialisiert, 1878 schon zu und Kreditwesen erblühten. Der Wettlauf 67 Prozent und 1914 zu mehr als 84 Pro- um die Aufteilung der Welt sowie die an- zent. Allein Großbritannien kontrollierte, haltenden Kriege in Europa heizten die auf dem Höhepunkt der Kolonialzeit, 30 Rüstungsspirale weiter an. Das Aufbruchs- Millionen Quadratkilometer, die dreifache fieber beflügelte nicht nur Entdecker, son- Fläche der USA, und ein Viertel der Welt- dern später auch Tüftler wie den Engländer bevölkerung. Über die Vorherrschaft in Eu- James Watt. Dessen Dampfmaschine wur- ropa war damit aber nicht entschieden. de zur Grundlage der industriellen Revo- Als machthungriger, gleichwertiger Ri- lution – ein weiterer Vorsprung durch vale hatte sich das wilhelminische Deutsch-

Technik, und diesmal ein Quantensprung. land herausgeschält, und es brauchte den REUTERS X, L. GAMMA/STUDIO GILBERT/CORBIS/SYGMA, N.UT/AP, FOCUS, DPA, SÜDDEUTSCHER VLG., R.KAPPA/MAGNUM/AGENTUR FOTOS:

134 der spiegel 52/1999 Spanischer Bürgerkrieg: Tod eines Soldaten 1936 Zweiter Weltkrieg: US-Soldaten im befreiten Konzentrationslager Buchenwald 1945 Vietnamkrieg: Flucht vor Napalm-Bomben 1972

SPANIEN General Franco wird nach dem BALKAN Putsch gegen die linke Volksfront- Der Zerfall des Ostblocks hat für Jugoslawien verheerende Wir- Regierung von Italien, Portugal kung. Die ethnisch- religiöse Zersplitterung des Landes und der und Deutschland unterstützt. serbische Kampf um Vorherrschaft 1991–1995 kosten 250000 Der folgende Bürgerkrieg Menschenleben, etwa 3 Millionen fliehen. Im Kosovo-Konflikt KOREA 1936–1939 fordert 300000 bis 1999 emanzipiert sich die Nato erstmals von ihrer Verteidi- Nordkorea findet sich mit der seit 1945 beste- 500000 Tote. Deutsche Flieger gungsdoktrin und greift Serbien militärisch an. henden Teilung nicht ab und marschiert 1950 zerstören am 26. April 1937 die in den Süden ein. Die Uno wird militärisch ak- baskische Stadt Guernica. tiv, vor allem mit US-Kontingenten, ebenso AFGHANISTAN das maoistische China. Angeblich werden Im Bürgerkrieg zwischen Muslim- bakteriologische Waffen verwendet. Rebellen und Kommunisten seit 1978 in- Bilanz bis 1953: 2 bis 3 Millionen Tote. terveniert die UdSSR. 1,5 Millionen Tote.

KAMBODSCHA Auf den „Killing Fields“ NAHER OSTEN fallen 1975 –1979 rund CHINA Die Existenz des am 14. Mai 1948 gegrün- 2 Millionen Menschen Der Bürgerkrieg zwischen Kuomintang und deten Staates Israel destabilisiert die Regi- den ideologisch moti- Kommunisten 1946 –1949 sowie die an- on und löst eine Reihe von Grenzkonflikten vierten Säuberungen Pol schließenden Säuberungen der Sieger um aus, darunter den Sechstagekrieg 1967 Pots zum Opfer. Mao Tse-tung kosten jeweils eine Million und den Jom-Kippur-Krieg 1973. Die Kurden, Menschen das Leben. Während der Kultur- Volk ohne Staat, werden seit 1961 achtmal revolution 1966 –1976 sterben schätzungs- Ziel militärischer Feldzüge, über 4 Millionen weise 4 bis 10 Millionen. werden vertrieben. Der Bürgerkrieg im Liba- non 1975 –1990 fordert 150000 Tote. VIETNAM 900000 Menschen fallen im ersten Indochina- krieg 1946–1954 gegen Frankreich und im fol- GOLF-KRIEGE INDISCHER SUBKONTINENT genden Bürgerkrieg 1957–1964. Die USA stüt- Konkurrenz ums Erdöl, islamischer Funda- Religiöse Spannungen zwischen zen das Regime in Saigon, 1964 treten sie, in mentalismus und die Machtambitionen Muslimen und Hindus nach der Tei- Sorge eines „Domino-Effekts“, direkt in den Saddam Husseins bedrohen die labile Kräfte- lung Britisch-Indiens 1947 sowie die Krieg ein und bombardieren massiv die kommu- balance der arabischen Welt. Im iranisch- gewaltsame Abspaltung Ostpaki- nistischen Vietkong — unter anderem mit Na- irakischen Krieg 1980–1988 sterben 500000 stans von Pakistan 1971 kosten 1,3 palm. Weitere 2 Millionen Tote bis zum endgülti- Menschen. Nach Saddams Besetzung Kuweits Millionen Menschenleben. Zweimal gen Zusammenbruch Südvietnams 1975. 1990 führen die USA den zweiten Golfkrieg führen Indien und Pakistan Krieg unter Einsatz von Hightech-Waffen an. um Kaschmir (1947–1949, 1965).

AFRIKA INDONESIEN Nach der Kolonialära stürzen viele der neuen, willkürlich definierten Staaten ins Chaos. Allein die Unruhen nach der Besetzung Osttimors Die blutigsten Krisenherde: 1975 kosten, bis zum Unabhängigkeitsreferendum Sudan Bürgerkrieg 1955 –1972 und seit 1983, etwa 2,4 Millionen Tote 1999, mehr als 200000 Menschen das Leben. Nigeria Krieg um die Provinz Biafra 1967–1970, über eine Million Tote Uganda Militärdiktatur Idi Amins 1971–1979 und Bürgerkrieg 1981–1988, über 600000 Tote Angola Bürgerkrieg seit 1975, bis zu 1,5 Millionen Tote Ruanda Völkermord der Hutu an den Tutsi 1994, rund 800000 Tote

Golfkrieg 1991: Raketen über Bagdad Bürgerkrieg in Ruanda 1997: Flüchtlinge in einem Sammellager Kosovo-Krieg 1999: Opfer eines Nato-Angriffs

135 Ausland

Solana, den EU-Außenminister. Und eine Art gemeinsames „Staatsgebiet“ bildet der Binnenmarkt schon jetzt – Die Brüsseler Republik ohne Grenzen für Personen,Waren und Dienstleistungen. Dass die Nationen auf den Kern ih- Im 21. Jahrhundert wächst der europäische Bundesstaat heran. rer Souveränität, die eigene Währung, Er wird ein Multikulti-Staatsvolk von wenigstens 440 Millionen zu Gunsten des Euro verzichteten, war der entscheidende Schritt hin zum eu- Menschen umfassen. ropäischen Bundesstaat. Die Europäi- sche Zentralbank in Frankfurt lenkt in- ean-Claude Juncker ist ein pfiffiger Es werden sich, das lehrt der Blick zwischen ohne größere Probleme die Kopf. „Wir beschließen etwas, stellen zurück, die bundesstaatlichen Struktu- gemeinsame Geldpolitik im Euroland Jdas dann in den Raum und warten ren im neuen Jahrhundert verfestigen, der Elf; Briten, Schweden, Dänen und einige Zeit ab, was passiert“, verrät mal schleppend, mal in Schüben wie Griechen werden früh im neuen Jahr- der Premier des kleinen Luxemburg bisher. Aus der Montanunion, der aus hundert im Interesse ihrer Wirtschaft über die Tricks, zu denen er die Staats- den Schrecken zweier Weltkriege ge- dazustoßen. und Regierungschefs der EU in der borenen Friedensallianz zwischen den Die EU ist in ihren Strukturen und Europapolitik ermuntert. „Wenn es Deutschen, Franzosen, Belgiern, Ita- Kompetenzen nicht versteinert, son- dann kein großes Geschrei gibt und lienern, Luxemburgern und Nieder- dern beweglich geblieben. Deshalb keine Aufstände, weil die meisten gar ländern, wurde die Europäische Wirt- auch wird sie mit der Erweiterung nach nicht begreifen, was da beschlossen schaftsgemeinschaft und dann die Osten und Süden fertig werden. Ob zur wurde, dann machen wir weiter – Europäische Union der derzeit 15 – EU 375 Millionen Menschen oder bald Schritt für Schritt, bis es kein Zurück stets ging es in Richtung Bundesstaat. 440 Millionen oder eines Tages 540 Mil- mehr gibt.“ So wurde bei der Einführung des Euro verfahren, als tatsächlich kaum jemand die Tragweite der ersten Be- schlüsse 1991 zur Wirtschafts- und Währungsunion wahrnehmen mochte. So ähnlich lief es jetzt wieder beim EU-Sondergipfel im finnischen Tam- pere, wo komplizierte Entscheidungen zur Justiz- und Rechtspolitik fielen. In wenigen Jahren werden die Mitglied- staaten die Folgen spüren. Brüssel gibt dann die Mindeststandards für die Asylpolitik vor. Und das Geschrei in Bayern und anderswo wird groß sein, wenn die Ermittlungsaufträge von Eu- ropol an deutsche Sicherheitsbehörden

die Polizeihoheit der Bundesländer DPA durchlöchern. Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs: Als nächstes eine eigene Armee Nach derselben Methode soll der Bau des Bundesstaates Europa weiter- Ein zunehmend mächtigeres Eu- lionen gehören, ist mehr ein Organisa- gehen. ropäisches Parlament (EP) nimmt sich tionsproblem – wenn nur die strengen Eigentlich gibt es den bereits – auch mit wachsendem Selbstbewusstsein Beitrittsbedingungen der EU bei De- wenn das Karlsruher Bundesverfas- neue Rechte. Ohne Widerspruch aus mokratie, Menschenrechten und Wirt- sungsgericht das nicht wahrhaben will Paris, London oder Berlin nennt schaft nicht missachtet werden. und lieber von einem Staatenverbund Präsident Romano Prodi, vom EP als Die Erweiterung zwingt die EU, sich spricht. Die Europäische Union weist Quasi-Kanzler gewählt, seine EU- selber zu reformieren. Der Ministerrat die entscheidenden Merkmale auf: Als Kommission eine „Art europäische muss besser funktionieren – weniger Rechtsgemeinschaft mehrerer Staaten Regierung“. einstimmige Beschlüsse, mehr Mehr- entscheidet sie wie ein Bundesstaat Der Ministerrat der EU, das Legisla- heitsentscheidungen. Damit wächst zu- über jene Fragen, die für den Bestand tivorgan der Mitgliedstaaten, ist eine gleich die Macht des Parlaments, da bei des Ganzen wesentlich sind, während Art Bundesrat, in dem die Regierungs- Mehrheitsentscheiden des Rates in der die Gliedstaaten ihre Staatlichkeit be- vertreter eine entscheidende Rolle in Regel seine Zustimmung nötig ist. halten und an der Willensbildung des der Gesetzgebung spielen. Der Bundesstaat Europa wird so- Ganzen entscheidend beteiligt sind. Eine eigene Armee hat die Brüsseler gar eine Art Multikulti-Staatsvolk auf- Das bundesstaatliche Phänomen in Republik bald auch. Der Aufbau einer weisen. Hielten die Leute 2002 erst Brüssel ist noch ziemlich unfertig, funk- modernen, EU-geführten Streitmacht einmal die Banknoten und Münzen tioniert aber. Mindestens 60 Prozent von 150000 Mann ist eine der Haupt- des Euro in den Händen, sagt Luxem- der deutschen Innenpolitik, sagt sogar aufgaben für den neuen Hohen Reprä- burgs Juncker voraus, „dann bildet sich Europaskeptiker Edmund Stoiber, wer- sentanten der Gemeinsamen Außen- bald ein neues Wir-Gefühl: wir Eu- den heute in Brüssel gemacht. und Sicherheitspolitik (Gasp), Javier ropäer“. Dirk Koch

136 der spiegel 52/1999 Ersten Weltkrieg, um das Kräfteverhältnis Macht nicht immer ein hundert- zu klären – der Eintritt der USA gab den prozentiger Erfolg beschieden war. Ausschlag, der deutsche Griff nach der Vor- Amerikas wichtigste Buhmänner der herrschaft scheiterte, die alte europäische vergangenen Jahre, Fidel Castro, Sad- Ordnung lag in Scherben. dam Hussein und Slobodan Mi- Zwar votierte der amerikanische Kon- lo∆eviƒ, halten sich noch immer im gress 1919 wieder für eine isolationistische Amt. Früher, sagt der britische His- Politik, doch damit war es 1941, zwei Jah- toriker Eric Hobsbawm im SPIEGEL- re nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Gespräch, „war es ein Kinderspiel, endgültig vorbei. Der Verleger Henry Luce riesige Teile der Welt zu besetzen und („Life“) begleitete das US-Engagement mit mit sehr wenig Kosten zu verwalten. der enthusiastischen Formulierung vom Das ist halt nicht mehr so“ (siehe „amerikanischen Jahrhundert“, und sie- Seite 142). ben Jahre nach Kapitulation der Achsen- Da können dann auch kleinere mächte machte sein Präsident Harry Tru- Staaten gern mal eine große Lippe man die Sache amtlich. riskieren.Von allen EU-Ländern ist in Die Sowjetunion war als großer Gegen- Frankreich der Unmut über den spieler auf den Plan getreten, auch sie be- transatlantischen Partner am ausge- saß die Kraft, Kriege mit der Atombombe prägtesten. Der sozialistische Außen- ultimativ zu entscheiden. Und sie hatte zu- minister Hubert Védrine ist der dem ein Gesellschaftssystem, das die USA Schöpfer des Begriffs von der „Hy- nicht dulden konnten, lief es doch ihren permacht“ Amerika, was seine US- Grundsätzen zuwider. So trat Truman 1952 Kollegin Albright anregte, sich bei vor sein Volk und verkündete, ganz im Sin- ihm seither mit einem freundlichen: ne der Gründerväter, Amerika habe end- „Hi, Hubert, hier spricht Hyper- lich „die Führungsrolle auf sich genom- Madeleine“ zu melden.

men, die uns Gott der Allmächtige anver- FOTEX Frankreich fühlt sich als letztes eu- traute“. Marilyn Monroe (1953): Freiheiten versprochen ropäisches Bollwerk gegen die ame- Die wird das Land nun einstweilen be- rikanische Vorherrschaft und stilisiert halten, ungefährdet durch andere Staaten einer angeblichen neuen Weltordnung, mit sich zur „exception française“. Ende No- oder Koalitionen. Der einzige Staatenbund einer Konfettiparade in New York be- vember kündigte Staatspräsident Jacques (neben dem vergleichsweise kurzlebigen grüßt wurden, als hätten sie die Welt er- Chirac im anhaltenden Kulturkampf eine Warschauer Pakt), der allen gegenteiligen löst? Oder war es, als der Dow-Jones-Index „Schlacht“ und einen „Kreuzzug“ gegen Beteuerungen zum Trotz ein anti-hegemo- die 10 000er Marke durchbrochen hatte? die Dominanz von Hollywoods Illusions- niales Bündnis ist, entstand, als sich auf Möglicherweise erst, seitdem amerikani- industrie an. In einem deutschen TV-Inter- dem Höhepunkt amerikanischer Macht sche B-2-Bomber von ihrer Basis in Mis- view erklärte Chirac: „Kein Volk, wie nach dem Zweiten Weltkrieg sechs west- souri aufstiegen, um ihre Bombenlast nach stark, wie dynamisch oder modern es auch europäische Staaten zur Europäischen einem Nonstopflug über dem Kosovo ab- sei, darf der gesamten Welt sein Gesetz Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschlos- zuwerfen, perfektes Sinnbild eines nicht aufzwingen.“ sen. Einer ihrer Führer, der französische mehr angreifbaren Weltpolizisten, der nach Auch in Russland wich die Amerika- Staatschef Charles de Gaulle, verhinder- eigenem Gutdünken Strafzettel verteilt? Trunkenheit der frühen Reformjahre so te 1963 die Aufnahme Großbritanniens, Vielleicht erhob sich der Widerspruch rasch wie die Benebelung eines russischen weil er das Vereinigte Königreich – nicht gegen Amerikas Vormachtstellung aber Kopfes nach einer Überdosis Wodka. Das zu Unrecht – als Agenten Amerikas ver- auch erst, als klar wurde, dass den De- einfache Volk jedenfalls brachte alsbald die dächtigte. monstrationen politischer und militärischer Amerikanisierungswelle auf einen ver- Doch nicht einmal die Schaffung einer einheitlichen Wirtschaftszone und einer ge- meinsamen Währung reichte für eine wirk- same Herausforderung. Brüssel kann das Heraufdämmern des zweiten amerikani- schen Jahrhunderts nicht mehr verhindern. Es kommt ganz sicher, aber bleibt es auch? Zwischen dem Beginn des ersten und dem des zweiten US-Jahrhunderts gibt es einen fundamentalen Unterschied: Als das erste begann, erkannte kaum jemand die Dimension amerikanischer Machtfülle. Die ist zu Beginn des zweiten unüberseh- bar – und ruft rund um den Globus ge- reizte Reaktionen hervor. In den Worten eines britischen Diplomaten: „Über das Verlangen der Welt nach amerikanischer Führung liest man eigentlich nur in den Vereinigten Staaten. Überall sonst liest man von amerikanischer Arroganz.“ Ab wann also ging amerikanischer Triumphalismus der Staatengemeinschaft

über die Hutschnur? Seitdem die siegrei- CORBIS SYGMA chen Golftruppen, kriegerische Schöpfer US-Astronaut Edwin Aldrin auf dem Mond (1969): Maßstab für den Rest der Welt

der spiegel 52/1999 137 Ausland

Volk hat ihm den Dank versagt, weil es ihn wieder für einen deutschen Agenten hielt: Auf seine Perestroika folgte – dies- mal von hurtigen Amerikanern belehrt – ein Manchester-Kapi- talismus, der alle sowjetischen Propaganda-Schablonen be- stätigte. Statt dem Volk endlich die Betriebe zuzueignen oder we- nigstens das neue deutsche Muster einer Sozialpflicht des Kapitals zu prüfen, ließen die neuen Regierenden unter Boris Jelzin eine Rotte von Hyänen los. Die bemächtigten sich der profitablen Rohstoffe und ver- schoben die Erlöse ins Ausland.

AP Sie stießen das gemeine Volk in Moskauer Kreml: Zerrbild einer besonderen Neigung zur Gewalt die allgemeine Armut. Der nun ganz schwache Staat blieb Lohn und Rente schuldig, letztere deckte er 1999 mit Krediten aus den USA und Verratene Hoffnungen der EU ab. Statt die Vorteile des Ausscheidens fremder Völkerschaften aus dem Die Verlierer des Jahrhunderts sind die Russen. Mit dem Reichsverband wahrzunehmen und Potenzial der Superreichen ausgestattet, wurden sie von Kommunisten, sich auf die Entwicklung der russischen Deutschen und Kapitalisten beraubt und gedemütigt. Lande zu werfen, führte am Ende des Jahrhunderts der Kreml seinen Kolonialkrieg gegen die Tschetsche- ie Babuschki, die sich erinnern nen, getrieben auch von der Furcht, konnten, erzählten es immer schon, deren Freigabe ließe die ganze Fö- Ddie Kommunisten schrieben die deration auseinander fallen. Wieder Geschichte um: Unter dem letzten Za- wächst das Zerrbild einer besonderen ren begann das 20. Jahrhundert für russischen Neigung zur Gewalt. Russ- Russland, die höchst verspätete Na- land scheint sich von der moder- tion, mit einem wirtschaftlichen Auf- nen Zivilisation abzukoppeln, und nie- schwung, dem Eintritt in das Industrie- mand im Westen hindert es an diesem A. BRUTMANN zeitalter, mit mehr Rechtsstaatlichkeit / GAMMA STUDIO X LASKI W. Rückfall. und auch Volksbildung. Herrscher Jelzin, Befreier Gorbatschow Niemand lehrt die Russen, Schmerz All das, und den Zaren und das und Wunden ebenso wie Schuld und ganze Reich ruinierte bald der Erste Das überdehnte Imperium war bis Scham aus der Vergangenheit in eine Weltkrieg mit den Deutschen, die her- zur Elbe ausgeweitet, das Land aber Produktivkraft zu verwandeln. Kraft nach ihren Agenten Lenin schickten. von der Außenwelt abgeschlossen. Die seiner natürlichen Ressourcen im Mit ihren Rezepten von Marx (und Volkswirtschaft diente fast nur noch Übermaß, seiner erstklassigen Wissen- Ludendorffscher Kriegswirtschaft) res- der Rüstung gegen den Konkurrenten schaftler und seiner ausgebildeten, taurierte der das Reich, allerdings in um die Weltmacht, die USA, und die disziplinierten Arbeiter bleibt Russland einem furchtbaren Bürgerkrieg und mit Russen mussten sich mit einem er- ein Kandidat für den Club der Super- den ersten Konzentrationslagern: Alle bärmlichen Lebensstandard begnügen. reichen im neuen Jahrhundert – wenn Erwartungen auf ein besseres Leben Ein Sozialhilfeempfänger in West- es denn gelänge, das Potenzial zu nut- nach der Oktoberrevolution von 1917 deutschland lebte besser. zen, seine Energien zu entfalten und erwiesen sich als Trug. Mit dem Ende der Sklaverei unter Talente zu beflügeln. Wenn denn die Lenins Schüler aus Georgien trieb es Stalins Erben kam das, was heute als Herrschenden das eigene Fortkommen noch weiter: Per Bauernenteignung, eine goldene Zeit empfunden wird: so- hintanstellten, um Rechtssicherheit zu Gulag und mit weiteren Millionen Men- ziale Sicherheit, wenn auch auf nied- etablieren, ausländische Investoren an- schenopfern suchte Stalin die UdSSR rigstem Niveau, dafür die Siege im Kos- zulocken, das Fluchtkapital zurück- auf den nächsten Krieg mit den Deut- mos und die erhebende Furcht der zulenken. schen vorzubereiten. Der Sieg ver- Nachbarn – obschon die Wirtschaft Dem einfachen Bürger des größten söhnte das Volk mit seinen Kommunis- kaum für die Massenbedürfnisse pro- Landes der Welt bleibt nur, wie ge- ten, obschon es mit weiteren 20 Millio- duzierte und der Staat nicht aufhörte, wohnt, sich in seinem anarchischen nen Toten bezahlt hatte. Die fälligen seine Bürger zu bevormunden. Umfeld einzurichten. Und wieder hofft Freiheiten jedoch blieb das Regime sei- Bis Michail Gorbatschow, der Be- er, nicht als Verlierer auch des nächsten nen Untertanen wiederum schuldig. freier, das ganze Kartenhaus fällte. Das Jahrhunderts zu gelten. Fritjof Meyer

138 der spiegel 52/1999 ächtlichen Begriff: Snickerisazija. Schoko- ladenriegel und Büchsenbrause eroberten noch das letzte sibirische Dorf. Aber der American Way of Life war und blieb dem Durchschnittsbürger rätselhaft. Er interpretierte fremdländische An- nehmlichkeiten wie das Verlustieren im Moskauer Schickeria-Etablissement „Pla- net Hollywood“ oder die Fleischbeschau im Nachtclub „Manhattan Express“ durch- aus richtig als Zeitvertreib der eigenen herrschenden Klasse. Nachdenkliche Amerikaner mit Russ- land-Erfahrung versuchen inzwischen die Frage zu lösen, warum Russland für west-

liches Demokratieverständnis denn verlo- PRESS SIPA ren ging trotz hoffnungsvoller Anfänge Russische Soldaten in Moskauer McDonald’s: Nahrungsaufnahme im globalen Dorf Ende der achtziger Jahre. Und sie glauben die Antwort zu kennen: Weil die US-Poli- dings vorerst gescheitert: Einst stolze Au- In den Nachwehen der Asienkrise wur- tik zu sehr, zu eng, zu lange auf die neu- tofirmen wie Mazda und Nissan lassen sich de es jedoch stiller um die asiatischen Wer- reichen Cliquen gesetzt hat, welche jahre- von westlichen Managern nach Rezepten te. Auffällig ist nämlich, dass Länder wie lang ihre zusammengestohlenen Milliar- amerikanischer Business-Schools sanieren. Südkorea oder Taiwan, die westlichen De- den mit Hilfe amerikanischer Banken in Amerikanische Investment-Häuser kaufen mokratiemodellen gefolgt waren, die Kri- sichere Häfen schafften. marode japanische Banken auf. Rechte Po- se schneller bewältigt hatten als die Dikta- Das hat Russlands Sapadniki, den West- litiker wie Shintaro Ishihara, der Gouver- toren in Indonesien und Malaysia. lern aus Überzeugung, einen schweren neur von Tokio, sprechen schon von einer So bleibt es dem Riesenreich China, das Stand beschert. Die politischen Beziehun- „zweiten Kriegsniederlage“. sich noch immer als sozialistische Macht gen zwischen Russland und den Vereinig- Sogar in Südostasien hat der wirtschaft- definiert, trotz aller Öffnung zum Westen ten Staaten, urteilt der Politologe Wja- liche Einbruch zum Umdenken geführt und vorbehalten, die Herausforderung an die tscheslaw Nikonow, „befinden sich nicht die Debatte um „asiatische Werte“ einst- USA am lautesten zu artikulieren. Der nur in einer Krise – sie verschwinden ein- weilen leiser werden lassen. „Verwurzelt in US-Einfluss, Folge der Reformen Deng fach“. Die liberale Moskauer Tageszeitung den eigenen Werten von Konfuzianismus Xiao-pings, habe einen „fundamentalen „Sewodnja“ kommentierte mit einer trau- und Islam, gehorchen die Länder Asiens Wandel im Wertesystem“ vor allem jun- rigen Schlagzeile: „Good bye, Amerika“. eigenen Gesetzen“, hieß die Kernthese, die ger Leute bewirkt, behauptet Zhu Shida, Auch in Ost- und Südostasien, wo der Singapurs langjähriger Regierungschef Lee Professor am Pekinger Institut für Ameri- Ärger über die Hegemonialmacht USA be- Kuan Yew und Malaysias Premier Mahathir kastudien: „Sie laufen nicht mehr der sonders ausgeprägt ist, sind die Staaten in Mohamad verfochten. Die beiden hatten Gruppe nach, sondern sind Individualis- dem Dilemma verfangen, dass sie einer- zwar westliches Wirtschaften in rapides ten, sie sind keine Idealisten mehr, sondern seits mit Verachtung auf die westliche Vor- Wachstum umsetzen können, amerikani- Pragmatiker.“ macht herabblicken, andererseits auf gute sche Lebensart aber wollten sie nicht über- So sehen sich Pekings Regenten bestätigt Beziehungen zu ihr auch künftig nicht ver- nehmen. Jahrelang wetterten die beiden in der Furcht, dass mit Fast Food, Hol- zichten können. Kaum eine Nation hatte Autokraten gegen westliche Dekadenz und lywood-Stars und amerikanischen Wagen die USA so besessen nachgeahmt wie Ja- heuchlerische Moralvorstellungen. sich auch schädliches demokratisches Ge- pan. Für Nippon symbolisiert dankengut verbreitet. Noch immer schnap- Amerika zweierlei: das Vorbild, pen Funktionäre zornig nach Luft, wenn sie dessen Stärke sich das Land zu Ei- an die „Göttin der Demokratie“ erinnert gen machen will, und den Riva- Amerikanische Übermacht? werden, die Pekinger Kunststudenten 1989 len, den es übertrumpfen will. Finden Sie, dass die USA als einzig nach dem Modell der Freiheitsstatue Und doch ist die Amerikani- verbliebene Supermacht zu arrogant wenige Tage vor dem Massaker auf dem sierung nur an der Oberfläche und übermütig geworden sind? Tiananmen-Platz errichteten. geblieben. Japans Politiker unter- Ja 57 Die Amerikanisierung ihrer Gesellschaft warfen sich zwar äußerlich der de- haben die Pekinger Gerontokraten deswe- mokratischen Verfassung, die ih- Nein 39 gen immer misstrauisch beäugt. Doch nach nen die amerikanischen Sieger dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1946 fast wortwörtlich diktierten. Haben Sie Angst vor und spätestens nach der Bombardierung Aber am liebsten kungeln Nip- den Russen? der chinesischen Botschaft in Belgrad ist pons Schatten-Shogune ihre poli- Ja 20 Peking davon überzeugt, dass die USA eine tischen Deals noch immer in Gei- „autoritäre Welt nach ihrem Muster“ an- sha-Bars bei Sushi und Sake aus. Nein 78 streben. Nun will die Regierung in einer Japans Wirtschaftsordnung lässt massiven Anstrengung das eigene Land mi- sich auf den ersten Blick kaum Fürchten Sie, dass es eine Ausein- litärisch aufrüsten, wirtschaftlich stärken von westlichen Formen unter- andersetzung mit radikalen Kräften und den Ausbau des 1,25-Milliarden-Ein- scheiden. Tatsächlich aber prakti- der islamischen Welt geben wird? wohner-Staats zu einer Supermacht vor- ziert das Land eine bizarre Mi- Ja 55 antreiben. schung aus staatlich gelenkter Die „strategische Partnerschaft“ mit den Wirtschaft und Kapitalismus. Nein 40 USA, die Präsident Clinton angeboten hat, Seit dem Ende der Hochkon- ist längst keine Option mehr. Die Falken Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 10. und 11. Dezember; rund 1000 Befragte junktur Anfang der neunziger Jah- in Deutschland; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe unter Chinas Politikern und Militärs reden re ist das japanische Modell aller- inzwischen offen darüber, auf welche Wei-

der spiegel 52/1999 139 XING DANWEN / AGENTUR FOCUSXING DANWEN / AGENTUR Chinesinnen bei Taijiquan-Übung in Schanghai: Herausforderung an die USA am lautesten erhoben se ihr Land zum strategischen Rivalen und koreanische Nachrichtenagentur. Und die lassen sich Devisen für Hightech-Know- zur nuklearen Bedrohung für die Ameri- Kollegen von der Pekinger Xinhua urteil- how verdienen, das notwendig ist, um Be- kaner werden kann. ten knapp: „Nichts als Hegemonie- triebe und Militär zu modernisieren. Pekings Waffenaufkäufer durchkämmen anspruch hinter humanitärer Fassade.“ So dürfte sich die amerikanische Vor- auf der Suche nach Festtreibstoff für ihre Und so nähern sich asiatische Staaten herrschaft bis weit ins nächste Jahrtausend Interkontinentalraketen auch das marode einander an, die noch vor kurzem nichts erhalten. Als sich in den fünfziger Jahren Moskauer Riesenreich.Wie im Kaufrausch voneinander wissen wollten – China und das Bild ihrer bis dahin kaum vorstellbaren erwerben sie dabei alles andere Kriegs- Indien beispielsweise oder China und Machtfülle entfaltete, wollte der berühm- gerät, dessen sie habhaft werden können. Thailand. Selbst Japan, Weltkriegsgegner te Kommentator Walter Lippman die USA Entsetzt kabeln westliche Diplomaten nach für große Teile Asiens, gilt nicht einfach darauf verpflichten, eine Macht des Guten Hause, mit welcher Selbstverständlichkeit mehr als Musterknabe Amerikas. Und in zu sein, „also damit zu leben, dass wir zwar chinesische Generale über die Möglichkeit Tokio hat sich eine revisionistische Ge- stärkste Kraft, aber keineswegs allwissend eines Krieges mit den USA reden. schichtsschreibung breit gemacht, nach oder allmächtig geworden sind, weder Füh- Allianzen gegen die Weltmacht zeich- der keineswegs japanischer Ex- rer der Menschheit noch Welt- nen sich ab – und mit dieser Hypothek pansionsdrang den pazifischen polizist“. müssen die Amerikaner ihr zweites Jahr- Krieg entfacht haben soll. Der Nippons Heute ist solche Bescheiden- hundert beginnen.Auf der gerade beende- Konflikt mit den USA war viel- heit nicht mehr modern. Auf ten siebten Indira-Gandhi-Konferenz in mehr ein asiatisches Aufbegeh- Schatten-Sho- dem Wellenkamm eines seit Neu-Delhi war zu erleben, mit welcher ren gegen westliche Dominanz gune kungeln mehr als einem Jahrzehnt an- Verbitterung vor allem die asiatischen Län- – so jedenfalls der Tokioter haltenden Wirtschaftswachs- der auf die USA schauen. Gouverneur Ishihara in einem ihre Deals tums und unangefochten in ih- Amerika wird der Griff zur Weltherr- mit Mahathir herausgegebenen noch immer in rer politischen Führungsrolle, schaft unterstellt. Dass die USA den Atom- Buch. blicken die Nachfahren purita- Teststopp-Vertrag nicht ratifizieren wollen, Alle asiatischen Versuche, den Geisha- nischer Einwanderer selbstzu- dass sie nächstes Jahr voraussichtlich den sich gegen die ungeliebte west- Bars aus frieden vom Gipfel ihrer Bör- Raketenabwehr-Vertrag mit Moskau auf- liche Vormacht zu verbünden, sennotierungen herab. Das Ein- kündigen werden, belegte für viele Redner haben jedoch den gleichen zige, was sie noch schrecken die finstren Absichten der Supermacht. Grundsatzfehler: Ohne enge Verbin- könnte, glaubt der Washingtoner Soziolo- Der Bombenkrieg der von den USA an- dung zur amerikanischen Wirtschaft und ge Norman Birnbaum, ist die „Angst, dass geführten Nato gegen Jugoslawien, des zum amerikanischen Markt können die die Geschichte auf einmal irgendwie nicht einstigen Führers der Blockfreien, fügte asiatischen Volkswirtschaften nicht aus- mehr den Regeln des Sozialdarwinismus sich da bruchlos ins Bild. Indische Politiker kommen. folgen würde“. fürchten, mit dem Argument des Schutzes Ohne Kontakte in die USA wäre bei- Das wäre dann das Ende des zweiten von Minderheiten könnte Washington ei- spielsweise Chinas expandierende Wirt- amerikanischen Jahrhunderts. nes Tages auch im Vielvölkerstaat Indien schaft am Ende. Denn nur mit dem Wa- Rüdiger Falksohn, Hans Hoyng, Andreas eingreifen. „Niemand weiß, welches Land renexport in die USA, der im vergange- Lorenz, Jörg R. Mettke, Stefan Simons, als nächstes dran ist“, protestierte die nord- nen Jahr 61 Milliarden Dollar erreichte, Wieland Wagner

140 der spiegel 52/1999 Werbeseite

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SPIEGEL-GESPRÄCH „DER TRAUM GEHT NICHT UNTER“ Der Historiker Eric Hobsbawm über das Jahrhundert von Auschwitz und Disneyland, die Zukunft des entfesselten Kapitalismus und das Scheitern der USA in der Rolle als Weltpolizist

SPIEGEL: Professor Hobsbawm, das 20. Jahr- hundert ist von einem seltsamen Para- doxon geprägt: Es war das grausamste der Geschichte, mit weit über 100 Millionen Kriegstoten, trotzdem geht es den meisten Menschen heute besser als je zuvor. Sie nennen es das Jahrhundert von Auschwitz und Disneyland. Wie passt das alles zu- sammen? Hobsbawm: Es gibt keinen gemeinsamen Nenner. Trotz ungeheuren Fortschritts – technisch, wirtschaftlich und sozial – kenn- zeichnet auch beispiellose menschliche Barbarei dieses Jahrhundert der Extreme – es ist eine der schwärzesten Epochen in der Geschichte. Im 19. Jahrhundert glaub- te man, es ginge mit der Zivilisation lang- sam, aber stetig immer vorwärts, alles in die gleiche Richtung. Im 20. Jahrhundert wurde klar: Der Fortschritt war nicht ho- mogen, die Barbarei war wieder auf dem Vormarsch. SPIEGEL: Sie setzen die Zäsur beim Ersten Weltkrieg an und sprechen vom „Kurzen 20. Jahrhundert“. Warum? Hobsbawm: Ich sehe das 20. Jahrhundert nicht als chronologische Einheit. Die Zeit zwischen 1914 und den neunziger Jahren stellt eine kohärente Periode dar. Sie en- dete mit einer doppelten Krise – einerseits mit dem Kollaps des Experiments namens

Das Gespräch führten die Redakteure Rüdiger Falksohn INTER-TOPICS und Olaf Ihlau. Parade in Disneyland: „Wohltaten nur für eine Minderheit“

Eric Hobsbawm ist einer der letzten großen Universalge- lehrten und der be- deutendste Neuzeit- und Wirtschaftshisto-

P. MARLOW / MAGNUM / AG. FOCUS / AG. / MAGNUM MARLOW P. riker der englischspra- chigen Welt. Der 1917 in Alexandria geborene Sohn eines Engländers und einer Österreicherin erlebte als Schüler 1933 in Berlin Hit- lers Machtergreifung. Bis zu seiner Emeritierung 1982 lehrte der aufge- klärte Marxist an der University of London. Zu seinen Werken gehört die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts SIPA PRESS SIPA „Das Zeitalter der Extreme“. PWE VERLAG Atombombe auf Hiroschima, zerstörtes Dresden (1945); Warschauer Ghetto (1943): „Eine

144 der spiegel 52/1999 Sozialismus, andererseits mit dem ge- scheiterten Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg den Kapitalismus irgendwie menschlicher und sozial zu gestalten. SPIEGEL: Wieso gescheitert? Liberale De- mokratie und Marktwirtschaft sind heute doch geradezu Weltnorm. Hobsbawm: Es wäre für den Kapitalismus angemessener, sich nicht länger an der Lei- che des Sowjetkommunismus zu weiden und sich mehr mit den eigenen Defekten zu beschäftigen. Das eigentliche Problem mit der Demokratie und dem Markt scheint mir, dass beides auf lange Sicht ge- geneinander steht. SPIEGEL: Was bedeutet das? Hobsbawm: Demokratie beruht auf dem Begriff des Bürgers, der freie Markt auf dem des Kunden. Aber nur als Bürger übernimmt der Mensch kollektive Verant- wortungen, auch wenn es sich nur von Zeit zu Zeit um eine symbolische Abstimmung oder Wahl handelt. SPIEGEL: Dieses politische Engagement geht in den Ländern Westeuropas und den USA offenkundig zurück. Hobsbawm: Auch wenn es gänzlich abstür- be, bliebe noch eine Art Regierung übrig. Nur hätte sie mit der heutigen Demokra- tie sehr wenig zu tun. SPIEGEL: Ist Marktfundamentalismus, über- spitzt gesagt, das Ende der Demokratie? Hobsbawm: Sicherlich. Er kennt nur eine Sorte Wahl – die des Konsumenten zwi- schen verschiedenen Gütern oder Dienst- leistungen. SPIEGEL: Das Internet, der virtuelle Kon- sumtempel der Zukunft, könnte also die Demokratie vollends beerdigen? Hobsbawm: Nicht gänzlich. Was eventuell abgeschafft wird, ist die Politisierung der Bürger. SPIEGEL: Sie sind in Ihrem wissenschaftli- chen Denkansatz Marxist. Karl Marx sagte vor 150 Jahren, Konsumtion und Produk- tion organisieren sich kosmopolitisch … Hobsbawm: … genau das ist jetzt passiert. SPIEGEL: Dennoch gilt Marx seit dem Zusammenbruch des Sozialismus als La- ROGER-VIOLLET beispiellose Barbarei“

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das ist meiner Ansicht nach kein Dauerzu- stand. Es werden sich wieder Tendenzen einstellen, etwas offen zu sagen und Be- stehendes in Frage zu stellen. Die große Gefahr besteht darin, dass es rechte Demagogen sein könnten. SPIEGEL: Die Linke – ist sie zu marode oder diskreditiert? Hobsbawm: Sie ist zertrümmert. Durch die Entpolitisierung der Bürger ist sie viel är- ger in Mitleidenschaft gezogen worden als andere Organisationen, denn sie war stär- ker an die Mobilisierung der gewöhnlichen Menschen gebunden. SPIEGEL: Die Vereinigten Staaten sind die eigentlichen Herren der Erde. Dennoch nehmen Kriege und Gemetzel am Ende dieses Jahrhunderts eher noch zu. Kann oder will die einzige verbliebene Super- macht sie nicht kontrollieren? Hobsbawm: Sie will schon, aber sie kann nicht. Selbst ihr unglaublicher militärtech- nischer und wirtschaftlicher Vorsprung genügt nicht. Sie müsste ihre eigenen Be-

D. MEHTA / CONTACT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / CONTACT D. MEHTA grenzungen erkennen, um zur Stabilisie- Slum in Bombay: „Keine Landkarte ohne die Insel Utopia“ rung der Welt beizutragen. Bis jetzt tut sie das nicht im Geringsten. Auch die Inter- denhüter. Hat er noch irgendeine Be- dukt von ganz China. Oder: Heute gibt es ventionen der Nato haben die Welt nicht deutung? in Kanada mehr Telefone als in ganz Afri- stabilisiert. Im Gegenteil. Hobsbawm: Die Existenz der Sowjetunion ka, und 91 Prozent aller Internet-Nutzer SPIEGEL: Immerhin haben Nato und USA und der anderen sozialistischen Länder befinden sich in den wohlhabenden Län- klargestellt: Wenn wir wollen, können war wirklich kein besonders starkes Argu- dern der OECD, in denen bloß ein Fünftel wir an jedem Konfliktherd dieser Erde ment für den Marxismus.Was sich dort ab- der Menschheit lebt. durchgreifen, sei es im Irak, sei es im spielte, hatte wenig damit zu tun. SPIEGEL: Der nicht sonderlich links enga- Kosovo. SPIEGEL: Kann man von einer Perversion gierte Sozialdemokrat und Ex-Bundes- Hobsbawm: Aber was erreichen sie? Was der Marxschen Ideen sprechen? kanzler Helmut Schmidt spricht bisweilen geschieht dann? Hobsbawm: Marx träumte von einer Wirt- von „Raubtierkapitalismus“. SPIEGEL: Sie könnten Staaten dieser Kate- schaft ohne Markt, in der Verteilung nur Hobsbawm: Die Marktfundamentalisten gorie besetzen und die Despoten vom Hof zum geringfügigen Teil vorkommt. Diese glauben, die einzige Lösung sei es, den Ka- jagen. Utopie wurde von Bolschewiken und an- pitalismus von der Leine zu lassen. Jetzt ist Hobsbawm: In der Vergangenheit genügte deren auch übernommen. Insofern kann zwar klar, dass das nicht funktioniert, nur das. Die Engländer konnten mit 70 000 man Marx nicht gänzlich exkulpieren. An- trauen sich weder Intellektuelle noch Poli- Mann mehrere hundert Millionen Inder dererseits ist bei Marx kein Modell des tiker an eine Reform. Niemand. in Schach halten. Es war ein Kinderspiel, Sozialismus vorzufinden und schon gar Aber nicht mehr Wachstum, sondern so- riesige Teile der Welt zu besetzen und mit nicht das im Grunde kriegswirtschaftliche ziale Umverteilung wird die Politik des sehr wenig Kosten weiter zu verwalten. des Bolschewismus. Übrigens gingen die neuen Jahrtausends bestimmen. Hinzu Das ist halt nicht mehr so. alten Sozialisten davon aus, die Welt lebe kommen muss eine scharfe Beschränkung SPIEGEL: Was hat sich geändert? im Zeitalter der Notwendigkeit. Das der marktwirtschaftlichen Ressourcen, soll Hobsbawm: Praktische Macht genügt nicht. Wichtigste sei, dass jeder genug Brot zu es- eine ökologische Katastrophe vermieden Die Leute sagen heute einfach: „Na und? sen hat. werden. Wenn die Menschheit eine Zu- Wir sind nicht gezwungen, klein beizuge- SPIEGEL: Jetzt leben wir im Zeitalter des kunft haben soll, kann der Kapitalismus ben, bloß weil wir mal besiegt wurden.“ Überflusses … der Krisenjahrzehnte keine haben. SPIEGEL: Heißt das, die Macht ist nur nicht Hobsbawm: … und zwar, seit Mitte des SPIEGEL: Erwarten Sie eine Renaissance der konsequent genug eingesetzt worden, sie 20. Jahrhunderts, zum ersten Mal in der sozialistischen Idee? Die Demonstrationen hat zwar ihre Folterinstrumente gezeigt, Geschichte. Zumindest in unseren Län- während des WTO-Gipfels in Seattle waren ist aber auf halbem Weg vor Bagdad, vor dern. Wer wirklich Ferien auf den Male- womöglich ein Signal. Belgrad stehen geblieben? diven machen will, der kann das auch. Hobsbawm: Ganz klar, dass die meisten Hobsbawm: Wenn man diese Länder be- SPIEGEL: Singt der Marxist jetzt das Hohe Menschen sich eine bessere Gesellschaft setzt, muss man auch dort bleiben. Das Lied auf die Segnungen des Kapitalismus? vorstellen können. Der Traum geht nicht wird dann noch teurer. Hobsbawm: Ganz gewiss nicht, denn diese unter. Oscar Wilde sagte einmal, es dürfe SPIEGEL: Und es existiert offenkundig kein wirtschaftlichen Wohltaten sind nur einer keine Landkarte geben ohne die Insel Uto- Interesse an diesen Staaten. Wird die Be- kleinen Minderheit der Menschen zugäng- pia darauf. deutung solch kleiner Nationen im 21. Jahr- lich. Die Kluft zwischen Arm und Reich SPIEGEL: Die haben selbst deutsche und bri- hundert weiter schwinden? vergrößert sich rapide. Der Reichtum der tische Sozialdemokraten aus ihrem Atlas Hobsbawm: Etwa seit Ende der sechziger heutigen Multimilliardäre ist unvorstellbar: gestrichen. Jahre wird die Allmacht vieler offizieller Die reichsten 200 Personen auf unserem Hobsbawm: Ziemlich traurig, dass nur der Regierungen einfach nicht mehr anerkannt. Planeten verfügen über einen kollekti- Papst, als einzige Person von wirklich in- Theoretisch können sie ihre ganzen Oppo- ven Vermögenswert von 1000 Milliarden ternationalem Einfluss, klar sagt, es gebe sitionellen schlicht einsperren, aber dazu Dollar, also ungefähr das Bruttosozialpro- „etwas Besseres als Kapitalismus“. Doch würde ein Stalin gehören. Und die Stalins

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ihre gewaltige Flotte eines Tages Konkur- renz bekommen würde. Die Pax Britannica beruhte auf den kleinen Kolonien, die Groß- britannien besetzt hatte und zum Teil noch hält, den Stützpunkten. Die Amerikaner ha- ben sich aber nie auf Kolonien verlegt, son- dern auf Satellitenstaaten. Von Anfang an. SPIEGEL: Also hängen sie zum Großteil von Bündnissen ab? Hobsbawm: Sie können ihre Verbündeten natürlich zwingen mitzumachen. Aber ge- setzt den Fall, die Italiener hätten vor ein paar Monaten gesagt: „Bitte, ihr könnt von unserer Adriaküste aus nicht das Kosovo bombardieren.“ Das wäre sehr heikel ge- wesen. Was hätten die Amerikaner tun können? Alle ihre Stützpunkte sind auf den guten Willen anderer Regierungen an- gewiesen. SPIEGEL: China ist ein möglicher Gegen-

R. BAKER / KATZ PICTURES / AGENTUR FOCUS PICTURES / AGENTUR / KATZ R. BAKER spieler der USA. Was ist mit Indien und Picknick in Ascot: „Unvorstellbarer Reichtum“ dem übrigen Asien? Hobsbawm: Man sollte nicht unbedingt in laufen heutzutage Gott sei Dank nicht SPIEGEL: Manche Europäer haben sich nie diesem alten Muster denken. Das Problem mehr so herum. damit abgefunden – vor allem die Franzosen. ist eher, dass die Welt nahezu unkontrol- SPIEGEL: Stattdessen nehmen separatisti- Hobsbawm: Völlig zu Recht. Denn der Ge- lierbar geworden ist, dass es keine inter- sche, regionalistische Tendenzen zu. Oder danke, dass politische, soziale, kulturelle nationale Ordnung mit einem Beziehungs- supranationalistische, wie jetzt in Europa. Belange einfach dem Marktpreis unter- geflecht so genannter Großmächte mehr Auf was für eine Zukunft steuern wir zu? geordnet werden können, erscheint mir gibt. Heute wird mehr denn je gekämpft Hobsbawm: Ich glaube, was den Staat be- unannehmbar. In diesem Sinne sind die und gemetzelt. Auch das Prinzip, die Kri- trifft, kommt die wirkliche Gefahr nicht Europäer auf Seiten der Dritten Welt. Ob- terien der westlichen Zivilisation, die Men- daher, dass er zwangsläufig sein Macht- jektiv vertreten auch sie eine Opposition schenrechte weltweit einzufordern, funk- monopol langsam verliert. Das zählt nur gegen die Amerikaner. tioniert nicht. Das Nettoresultat all dieser dort, wo er gänzlich zusammenbricht oder SPIEGEL: Welchen Stellenwert wird China Interventionen ist bis jetzt gleich null. zusammengebrochen ist. Etwa in großen einnehmen? SPIEGEL: Demnach wären die USA als Teilen Afrikas … Hobsbawm: Ganz klar, dass China poli- Weltsheriff nicht tauglich? SPIEGEL: … deren Zustand Sie als „Mutter- tisch eine Supermacht sein könnte. Es ist Hobsbawm: Nicht einmal dann, wenn sie Courage-Landschaften“ bezeichnet haben, sogar nicht auszuschließen, dass sich im sich wieder daran gewöhnen könnten, dass als Regionen, zerstört wie Mitteleuropa chinesisch-amerikanischen Gegensatz der der Weltpolizist auch mal angeschossen während des Dreißigjährigen Kriegs. Kern eines neuen Weltkriegs entwickelt. werden kann. Eine Art Regulierung dieser Hobsbawm: In diesem Jahrhundert hatten Nicht, weil das in der Logik der Dinge liegt, Lage ist möglich, aber erstens nur durch wir viele Dreißigjährige Kriege. Nehmen sondern wegen der amerikanischen Ver- Aufgabe des amerikanischen Größenwahns Sie nur Angola, das ist also schon ein 26- pflichtung gegenüber Taiwan. Das wird ein und zweitens, indem man die Notwendig- jähriger Krieg. Wir haben uns an solche sehr, sehr großes Problem werden. keit versteht, zwischen den drei oder vier Zustände gewöhnt, unseren Vätern und SPIEGEL: US-Vizepräsident Al politischen Mächten ein Welt- Großvätern wären sie unverständlich ge- Gore sagte gerade im Wahl- konzert aufzubauen. Das kann wesen. Die große Gefahr ist der Wider- kampf: „Wir sind die natürli- „Entweder natürlich nicht alle Konflikte spruch zwischen einer globalisierten Wirt- chen Führer der Welt.“ Dort vermeiden, aber doch dazu bei- schaft und einer nicht globalisierten Poli- glaubt man, auch das kommen- kommt es zu tragen, dass sie nicht ausarten. tik, die immer den Widerstand gewisser de Jahrhundert werde ein ame- einem Kern- SPIEGEL: Wo bleibt Europa? Nationalstaaten brechen will. Es existiert rikanisches sein. Wird nicht die Hobsbawm: Wenn Europa mal keine der wirtschaftlichen Globalisierung ganze Welt – zumindest kultu- europa, oder auf 28 Staaten hingeht, wird es entsprechende Tendenz in der Politik. rell – amerikanisiert werden? es kommt zu so ähnlich ausschauen wie die SPIEGEL: Steuern wir auf eine multipolare Hobsbawm: Amerika wird wei- Vereinten Nationen. Entweder Welt zu – trotz der Supermacht USA? ter die bei weitem größte Mi- überhaupt kommt es zu einem Kerneuro- Hobsbawm: Die Uno umfasst 188 offizielle litärmacht der Welt bleiben. Ich nichts“ pa, einer Übermacht der wich- Staaten, von denen aber nur sehr wenige glaube nicht, dass es möglich tigen Staaten, oder es kommt zählen. 25 Staaten haben mehr als 50 Mil- ist, den riesigen technologi- zu überhaupt nichts. Europa lionen Einwohner und repräsentieren 75 schen Vorsprung der Amerikaner in ab- wird dann aufhören, politische Ambitio- Prozent der Menschheit. Aber praktisch, sehbarer Zeit einzuholen. Und ihre Haupt- nen zu haben … wie die Verhandlungen in Seattle beweisen, kraft für das 21. Jahrhundert gründet dar- SPIEGEL: … und als Block zur wirtschaft- sind nur drei Gruppen relevant – die USA, auf, dass sich die globalisierte Weltwirt- lichen Verteidigung gegen Amerika oder die EU und Japan. Die ganze Dritte Welt schaft zum großen Teil am amerikanischen auch als Festung gegen Einwanderer fort- wurde marginalisiert. Muster orientiert. bestehen? SPIEGEL: Sie hat in den Europäern noch am SPIEGEL: Wer soll die USA in absehbarer Hobsbawm: Die große Schwäche Europas ehesten einen Partner. Zeit herausfordern? ist, dass bis jetzt keine einheitliche Politik Hobsbawm: Allerdings. Die Idee einer rei- Hobsbawm: Die Engländer vor hundert Jah- existiert oder auch nur in Sichtweite ist. nen Marktwelt dient ja im Augenblick auch ren wussten, dass sie zu klein waren, um die SPIEGEL: Professor Hobsbawm, wir danken nur den Amerikanern. Welt zu dominieren. Sie wussten, dass selbst Ihnen für dieses Gespräch.

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Werbeseite Ausland Alle Macht dem Volk des Segens Um die letzte Jahrhundertwende war das britische Empire noch die Nummer eins auf der Welt. Doch dann begann der unaufhaltsame Abstieg.

achts im südafrikanischen Busch rüttelte Cecil Rhodes seinen Zelt- Ngefährten plötzlich wach. Was war los? Feuer, Löwen, Zulu-Attacke? Nein. „Ich wollte dich bloß fragen, ob du weißt, was für ein Glück du hast, als Engländer geboren zu sein“, sagte Rhodes. „Es ist ein Glück, das so viele Millionen Menschen nicht haben.“ Damals war Imperialismus noch kein Schimpfwort, und „The world was Eng- land’s oyster“, wie es der Historiker Eric Hobsbawm nannte – frei übersetzt: Die Welt war Englands Spielball.

Queen Victoria hatte fast eine halbe Mil- GETTY HULTON liarde Untertanen. Und im britischen Welt- Militärparade in London*: „Was für ein Glück, als Engländer geboren zu sein“ reich ging die Sonne nicht unter. Und zwar nicht, weil der liebe Gott den Engländern aus ein Naturrecht, wenn nicht die Pflicht nicht im Dunkeln begegnen wollte, wie zur Weltherrschaft ergab. Er glaubte aber Kontinentaleuropäer witzelten. nicht, dass der Fortbestand des Empire Um die Jahrhundertwende umfasste das allein durch die so genannten Sterling qua- britische Empire über 600 Territorien, die lities und durch einen historischen Auto- insgesamt fast 100-mal so groß waren matismus gesichert war. „Wir leben in einer wie das Mutterland, darunter den austra- rasanten Zeit“, schrieb er ahnungsvoll vor lischen Kontinent, Indien, Kanada und der Jahrhundertwende. „Und wir müssen Südafrika. Die Supermacht Großbritan- uns ins Zeug legen.“ nien war damals unumstritten die Num- Young Winston hatte im Burenkrieg mer eins auf der Welt. So wie heute die erfahren, dass es für Macht und Machter- Supermacht USA. halt keine verlässlichen Formeln gab. Und Dem Imperialisten Cecil Rhodes war das dass Materialüberlegenheit keine Garan- riesige Imperium aber noch immer nicht tie für militärische Erfolge war. Die Ame- groß genug. Er wollte auch den verwert- rikaner machten gut 60 Jahre später in baren Rest der Erde unter die Botmäßig- Vietnam die gleiche Erfahrung. keit seiner Königin zwingen. Die Vereinig- Großbritannien war 1899 mit brachialer ten Staaten von Amerika seien ebenfalls Wucht über die rebellierenden südafrika- zurückzuerobern, nicht zuletzt im Inter- nischen Siedler hergefallen: hunderttau- esse der Amerikaner. Denn: „Wir sind das sende Soldaten, schwere Artillerie, Pan-

überlegenste Volk. Je mehr uns von der LIBRARY THE BRIDGEMAN ART zerwagen. Diese hergelaufenen weißen Welt gehört, umso besser für die mensch- Queen Victoria (1897) Wilden sollten das englische Herrenvolk liche Rasse.“ Fast eine halbe Milliarde Untertanen kennen lernen. Einer der wenigen aus dem Kreis der Doch der Krieg dauerte fast drei Jahre. Erlauchten, den die Rule-Britannia-Droge Churchill war ein guter, aber kein be- Der Widerstand der burischen Raurei- nicht besoffen gemacht hatte, war Winston sinnungsloser Patriot. Er glaubte daran, ter brach erst zusammen, als der briti- Spencer Churchill, Enkel des 7. Herzogs dass die englische Rasse die Hoffnung der sche Oberkommandierende, Lord Horatio von Marlborough und Kolonialkriegs- Welt verkörperte und dass sich für sie dar- Kitchener, den Oranje-Freistaat und das berichterstatter der Londoner „Morning südliche Transvaal mit Stacheldraht in Post“. * 1897 zum „Diamond Jubilee“ der Queen Victoria. eine monströse „Burenfalle“ verwandelte,

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30000 Höfe niederbrennen und Frauen und Wirtschaftlich war es schon lange vorher Daheim in Old England lebte „das Volk Kinder in Konzentrationslager treiben ließ. bergab gegangen. Gegen Ende des 19. Jahr- des Segens“ (Shakespeare) überwiegend Seit den großen Schlachten des 18. Jahr- hunderts steckte England tief in der Glo- von Brot, Bohnen, Kartoffeln. Fast jeder hunderts gegen Franzosen, Spanier und balisierungsfalle. Amerikaner, Argentinier zweite Wehrpflichtige musste 1910 bei der Amerikaner hatte sich die britische Welt- und Australier setzten mit billigen Agrar- Musterung abgewiesen werden, weil er für macht nirgendwo auf der Welt mehr so hef- exporten der Landwirtschaft, die Japaner den Dienst am Vaterland zu schwach war. tig für ihre Hegemonialansprüche schla- mit billigen Baumwollprodukten den Tex- Dass die Herrschaft über entlegene Welt- gen müssen. Den indischen Subkontinent tilmanufakturen in Großbritannien hart zu. teile dem Vereinigten Königreich so wenig hatte sie über 150 Jahre lang mit rund Die veralteten Industrien in den Midlands materiellen Nutzen brachte, lag auch dar- 70000 Mann in Schach gehalten. Um 80000 waren der Hightech vor allem an, dass ihre liberalen Traditio- struppige „Burger“-Soldaten in Oranje und aus Deutschland und den USA nen die Briten daran hinderten, Transvaal zu disziplinieren, brauchte sie nicht mehr gewachsen. „Je mehr die unterjochten Völker eben- fast eine halbe Million Mann. Der Yale-Historiker Paul so ungezwungen auszubeuten, Der Sieg brachte den „Hensoppers“ – Kennedy hat die Machtver- uns von der wie dies Franzosen, Belgier und wie die Briten verächtlich genannt wur- schiebungen in Europa um die Welt gehört, Portugiesen taten. Für einige den, weil sie immer gleich die Hände hoch Jahrhundertwende durch die Teile der Welt, vor allem in nahmen – keinen Segen. 1908 gelang den Eisen- und Stahlerzeugung de- umso besser Afrika, war die britische Kolo- Buren die Übernahme der politischen finiert. Die deutsche Produk- für die nialherrschaft weit weniger ver- Macht in der Kapkolonie. Seiner Majestät tion stieg laut Kennedy zwi- heerend als die folgende staat- Gouverneure waren fortan nur noch Titu- schen 1890 und 1913 von 4,1 menschliche liche Unabhängigkeit. larregenten am Kap. Das war der Einstieg Millionen auf 17,6 Millionen Rasse“ Freiheit ist nicht alles, aber in den schleichenden Paradigmenwechsel. Tonnen, gleichzeitig sank die ohne Freiheit ist alles nichts. „Wir kämpfen für ungeborene Genera- britische von 8 Millionen auf Nach dem Burenkrieg begann tionen, um ihnen das Empire mit seinem 7,7 Millionen Tonnen. Während der briti- die Überzeugung ins breit britische Be- vollen Glanz zu übergeben, so, wie wir es sche Anteil an der Weltindustrieprodukti- wusstsein einzusickern, dass dieses Credo geerbt haben“, gelobte in einem Geleit- on von 1880 bis 1913 von 22,9 auf 13,6 Pro- nicht nur für Briten galt. wort zur Jahrhundertwende die Londoner zent zurückging, stieg der deutsche Anteil Der sinnlose und unmoralische Kolo- „Daily Mail“. Doch der Abstieg des Global von 8,5 auf 14,8 und der amerikanische nialismus begann zu verröcheln, als liberale Player Number one hatte schon begonnen. von 14,7 auf 32 Prozent. Politiker in London anfingen, ihn mit Sinn Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (The Der öffentliche Glanz des Vereinigten und Moral zu befrachten. Spätestens 1918 Great War) übernahmen die Briten noch Königreichs, musikalisch verdichtet vom war Großbritannien der Juniorpartner der ein paar deutsche Kolonien, aber eher wi- Komponisten Edward Elgar zum pompö- Vereinigten Staaten von Amerika, die Pre- derwillig und weil man sich noch nicht vor- sen Marsch „The Land of Hope and mier William Gladstone in den achtziger stellen konnte, dass Farbige sich auch selbst Glory“, stand im krassen Widerspruch zum Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mal eines würden regieren können. grauen Elend der Massen. Sie hatten an regulären Botschafters für würdig befun- den Segnungen des kolonialen Reichtums den hatte, weil er sie zu unbedeutend * Schlacht bei Spioenkop, 1900. nur wenig Anteil. Ruhm macht nicht satt. fand. Erich Wiedemann THE BRIDGEMAN ART LIBRARY THE BRIDGEMAN ART Britische Truppen im Burenkrieg*: Die Weltmacht brauchte eine halbe Million Mann, um 80000 „Burger“-Soldaten zu disziplinieren

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Flugzeug- und Raumschiffhafen über den Bergen von Arizona (Illustration aus „Unsere Welt im All“ von Isaac Asimov und Robert McCall)

ihnen leben hunderte von Menschen, die kein anderes Zuhause mehr kennen. Doch Erfinder auf Abwegen allzu häufig scheitert der Erfindergeist an In seiner Sehnsucht nach Fortschritt beschreitet der Mensch kuriose Pfade den Vertracktheiten der irdischen Naturge- setze: Das Perpetuum mobile – eine Ma- schine, die arbeitet, ohne Energie zu fressen ie Kunst der Ingenieure und Erfinder sionen des Science-Fiction-Autors Isaac Asi- – ist bis heute nicht gebaut. Andere Tüfte- kennt keine Grenzen – zumindest in mov werden die Menschen im anbrechen- leien waren zwar machbar, erwiesen sich Dder Phantasie der Menschen. Von Ko- den Jahrtausend den Mond urbar machen. aber bald als unpraktisch oder absurd. Doch lonien im All und schwebenden Häfen hie- Asimov lässt gigantische Kugelstädte durch im Kabinett der kuriosen Erfindungen ha- nieden träumen die Erdlinge. Nach den Vi- die Weiten des Weltraums manövrieren. In ben sie bis heute ihren Ehrenplatz behalten.

Jagdwesen Im 15. und 16. Jahrhundert trugen die Damen kleine Pelze oder hielten Schoßhunde, um sich die damals zahlreichen Flöhe vom Leib zu halten. Dass einige der sprunggewaltigen Blutsauger dennoch immer wieder ihren Weg ins Dekolleté fanden, führte schließ- lich zur Erfindung einer Vorrichtung, welche durch die 1727 erschienene Schrift „Die Neu-erfundene Curieuse Floh-Falle zu gäntzlicher Ausrottung der Flöhe“ bekannt wurde. Die Falle war eine durchlässige Büchse. Im In-

nern befand sich ein mit Honig bestrichener Stempel, an BÖER F. Frau mit Flohfalle (1739) welchem der Lästling kleben blieb. Schafe mit Stachelpanzer

Tierschutz Um Schafe gegen die Kalkhülle eines Überfälle durch Wölfe und wildernde Küchentechnik Hühnereis zu durchbohren Hunde zu schützen, entwickelte ein Als die „überaus praktische und festzuhalten. Die Erfinder anno 1880 Schutzschilde für Eierzange“ Ende des 19. Konstruktion, so schien es, große und kleine Tiere. Die Schilde Jahrhunderts zum Patent werde den Umgang mit waren mit Zähnen und Zacken bewehrt angemeldet wurde, weich gekochten Eiern bis und sollten an jenen Stellen befestigt prophezeite man ihr einen ins nächste Millennium werden, an denen Raubtiere am liebsten Welterfolg. Sie galt als sicher revolutionieren. Tatsächlich zubeißen: an Hals und Hinterbeinen. Die im Gebrauch, da die beiden aber scheiterte die Eierzange Ausrottung des Wolfs in Zentraleuropa Zangenschalen mit kleinen an simpler Konkurrenz: dem und der Rückgang wildernder Hunde Dornen versehen waren, um Patentierte Eierzange Eierbecher. machten die Stachelpanzer überflüssig.

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Hörgeräte Vor Erfindung des Radars waren Schallsignale das einzige Mittel, andere Schiffe vor dem Sicht- kontakt auszumachen. Doch aus welcher Richtung tutet das Nebelhorn? Das „Topophon“ sollte helfen: Der Kapitän oder Lotse trug zwei Hörmuscheln, von denen Schläuche zu den Ohren führten. Vernahm er einen Ton, so drehte er sich, bis das Signal in beiden Ohren gleich laut zu hören war. Weil das jedoch allzu lange dauerte, hat sich das Topophon von 1880 nie durchgesetzt. Transrapid, Vorläufer Schienenverkehr Schneller, leiser und billiger sollte sie sein, die Einschienenbahn auf Stelzen. So, wie sie rechts gezeichnet ist, wollte sie der Erfinder E. S. Watson einstmals aufs Gleis bringen: Die Räder hatten einen

gerillten Kranz, mit dem sie AP (FOTOS: ob.); BÖER (u.) F. auf dem Schienenstrang auflagen. Spätere Tüftler Magnetschwebebahn Transrapid. Er fuhr wollten fahren, aber nicht rollen. Sie nur auf einer Teststrecke in Deutschland

F. BÖER F. bauten die 450 Stundenkilometer und galt Ende des 20. Jahrhunderts als „Topophon“ zum Orten von Nebelhörnern schnelle und Milliarden teure das letzte Fossil des Erfinderzeitalters.

Kondom mit eingebautem Musik-Chip Putzwesen Ein Staubsauger, der ohne Strom auskommt, erhielt im Jahre 1908 Durch Druck ein Patent (Deutsches Patent DRP 215169). „Der Mann sitzt sein Käseblättchen lesend wird das in einer Art Schaukelstuhl und erzeugt durch Wippen den notwendigen Unterdruck, Schaltelement aktiviert mit dessen Hilfe Muttchen dann den guten Perser vor dem pompösen Kamin mit Hilfe von Vatis gern gespendeter Bewegungsenergie säubert“, erläutert der Patentanwalt und Autor Werner Koch in seinem Buch „Erfindergeist auf Abwegen“. Die umwelt- freundliche und geräuscharme Apparatur wurde allerdings nie gebaut; gegen den elektrischen und ungleich wendigeren Beutelsauger war sie von vornherein chancen- los. So blieb die Frage offen, ob moderne Frauen und Männer den vom Schaukelstuhl betriebenen Staubsauger auch mit vertauschten Rollen eingesetzt hätten.

Unterhaltung Ein Kondom, das Singen, Sprechen und Musik spielen kann, will Paul Lyons aus Southbridge (US- Bundesstaat Massachusetts) auf den Markt bringen. Mit seiner Innovation möchte er mehr Männer als bisher für den Gebrauch von Präservativen begeistern. Die Erfindung (US-Patent 5163447 vom November 1992) besteht aus einem herkömmlichen Gummischutz, an dessen Ende ein Soundchip eingearbeitet ist. Wenn beim Geschlechtsverkehr mechanischer Druck auf das elektronische Schaltgerät ausgeübt wird, dann fließen Ströme: Der Chip gibt Laute und Melodien von sich, die zuvor einprogrammiert worden sind. Wie aus der Patentschrift hervorgeht, eignet sich das Kondom mit Soundchip als „spaßiges

F. BÖER F. Geschenk“. Es mehre die Lust und bürge Patentierter Staubsauger mit Schaukelstuhl-Antrieb überdies für „Überraschungseffekte“.

158 der spiegel 52/1999 Rettungswesen „Den Porzellanbus fahren“ – so nennt es der Ire, wenn er späten Abends im Pub die Kloschüssel beidhändig umfasst und sich kniend in sie entleert. Diese im Gälenvolk beliebte Freizeithaltung mag den Amerikaner William Holmes, einen Nachfahren irischer Auswanderer, auf die besoffene Idee gebracht haben, dass das Ganze wohl auch umgekehrt funktioniert und man aus einem Toilettenbecken auch etwas zu sich nehmen kann – Atemluft etwa, wenn der Sauerstoff allmählich knapp wird, weil die Bude rundum in Flammen steht. Bedarf sieht der Erfinder vor allem in großen Hotels, in denen allzu häufig Brände ausbrächen. Der Gefährdete nimmt Mr. Holmes Erfindung mit der US-Patentnummer 4320756, die von gälischer Schlichtheit ist und daher Schiffsverkehr im Jahr 2000 (Zukunftsvision auf Schokoladen-Reklamebildchen, um 1895) lediglich aus einem Schlauch besteht. Diesen hüsert er mit der Hand durch das wassergefüllte Knie des Beckens Futurologie Auf Reklamebildchen eines Schokoladenfabrikanten wagte ein hindurch, bis die Spitze des Zeichner um 1895 einen Blick in die ferne Zukunft: in das Jahr 2000. Unterseeische Schiffe hatten in seiner Vorstellung nichts mit jenen fensterlosen Stahlmonstern ge- Restluft-Nutzung aus dem Toilettenrohr im mein, wie sie heutzutage vorwiegend nur zu militärischen Zwecken tauchen. Ihm Falle eines Brandes schwebten rundum verglaste Boote vor, von denen aus Passagiere die wundersame Welt des Meeresgrundes bestaunen. Andere reisen mit einer Art Wasserrad umher.

Kreuzfahrt Für ein Sofa gegen Wetterschießen Das Abfeuern Seekrankheit erhielt der Erfinder von Mörsern, um aufkommende Lorenzo D. Newell ein Patent. Der Unwetter zu vertreiben oder zumindest Entwurf von 1870 zeigt den Blick in eine unschädlich zu machen, wurde gegen Schiffskabine – bei Windstärke 10. Der Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Sohn schläft, der Vater liest gemütlich Gegenden Europas aufgenommen. einen Roman. Beide fühlen sich „Der Erfolg war im Allgemeinen kein Gummiröhrchens das mit der augenscheinlich pudelwohl. Die Schale günstiger“, berichtete der Berliner Kanalisation verbundene Fallrohr um das Sofa ist wie ein Kompass Technikautor Franz Feldhaus 1915. erreicht. Aus diesem kann der Mensch kardanisch aufgehängt: Sie macht alle Wissenschaftliche Untersuchungen dann, das zumindest hofft William Bewegungen des Schiffs mit, ohne aus ergaben, dass die Geschosse nicht hin- Holmes in seiner Patentschrift aus dem der horizontalen Lage zu geraten. Das auf zu den Wolken reichten. Den- Jahr 1982, so lange rauchfreie Luft noch hielten viele Bauerngemeinden schnorcheln, bis ihn die Feuerwehr lange an dem Brauch fest und ballerten schließlich aus seiner in jeder Hinsicht unbeirrt weiter. verzweifelten Lage befreit.

Meldewesen Eine Alarmanlage für Taube oder Menschen mit tiefem Schlaf hat der New Yorker Arnold Zukor 1912 ersonnen (US-Patent 1046533). Wenn Einbrecher das Fenster

F. BOER F. hoch schieben, lösen sie – Kardanisches Sofa gegen Seekrankheit über eine Vielzahl von Stangen und Bolzen – Sofa wurde nie gebaut. Man fürchtete, einen Wasserstrahl in des den Passagieren werde übel, wenn sie Schläfers Gesicht aus. Mit vom Sofa aus die Wände um sich herum 60 Teilen erschien die Bettdusche als Alarmanlage auf- und niedergehen sähen. Anlage allzu komplex. für taube Menschen

der spiegel 52/1999 159 Wissenschaft

GEDRÄNGEL IM SCHATTENREICH Sie zerstörten Weltreiche und rafften mehr Menschen dahin als alle Kriege und Massenmorde: Die Mikroben existierten Milliarden Jahre vor dem Homo sapiens und werden bestehen, solange sich die Erde dreht. Im Kampf gegen die Erreger von Krankheiten und Seuchen stößt der medizinische Fortschritt an Grenzen.

160 der spiegel 52/1999 ie sind überall. In der tiefen See und hoch oben in der Atmosphä- re, in den Tränen, auf den Tau- sendmarkscheinen, im Blut, unter dem Bett. Im Schattenreich der Kleinstlebewesen herrscht Ge- Sdrängel. Fast so alt wie die Erde ist die unsichtbare Welt der Bakterien, Viren, Einzeller und Parasiten – der Mikroben. Manche der Keime sehen aus wie Ku- geln, Stäbchen oder Schrauben; andere haben Greifer, Saugnäpfe oder gleichen äußerlich Ufos. In jedem Gramm Kompost- erde leben mindestens eine Milliarde von ihnen, in jedem Milliliter Speichel auch. Die Formenvielfalt der Viren – kleinster Strukturen auf der Grenze zwischen be- lebter und unbelebter Natur – ist in Zah- Unter dem len nicht auszudrücken. Von den Bakte- Elektronen- rien – für das bloße Auge gleichfalls un- mikroskop wird sichtbar – zählt die Wissenschaft rund eine sichtbar, wie Million Arten. Manche Mikroben teilen zwei HI-Viren sich alle 20 Minuten, nach acht Stunden ist ein weißes die Bakterienkultur dann auf 16 Millionen Blutkörperchen angewachsen. Ganz unvorstellbar ist die entern. Zahl nach weiteren acht Stunden unge- störten Wachstums: 563 Billionen. Still und völlig bedürfnislos können ei- nige Bakterienarten jahrelang überleben, auch unter extremen Bedingungen. Die Viren sind so winzig, dass ihre Struktur nur durch Elektronenmikroskope aufzuklären ist: im Hochvakuum, wenn sie tot sind. Kein einziger Mensch hat bisher einen lebenden Aidserreger (HIV) zu Gesicht be- kommen. Dabei bringt er Millionen Men- schen den Tod (und hunderttausenden von Aidshelfern Arbeit und Brot). Das HI-Virus ist so klein, dass, wäre es groß wie ein Mensch, der Mensch das Volumen der ganzen Erdkugel hätte. In das Schattenreich hat erst die Erfin- dung des Mikroskops allmählich Licht ge- bracht. Lange Zeit blieb verborgen, wie viele Tricks Mutter Natur den Kleinstlebe- wesen mitgegeben hat. Ihre Überlebens- strategien sind Legion, ihre Anpassungs- fähigkeit ist gewaltig: Mikroben überleben in kochenden, schwefligen Quellen ebenso wie im Schrott von Satelliten, im engli- schen Rinderhirn, im deutschen Hühner- ei und im wohlschmeckenden Käse. Zwei- SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Forschung mit gefährlichen Bakterien

OKAPIA Peinlich, lästig, schmerzvoll, tödlich der spiegel 52/1999 161 Wissenschaft

Gastritis als Substrat von Ehrgeiz und Auf- stiegswillen zu deuten. Auch den Fachärzten für Gemütskrank- heiten geht ein Teil der Klientel verloren: Neuere Forschungen beweisen, dass manch manisch-depressive Erkrankung durch eine Infektion mit dem Borna-Virus zu Stande kommt. Eine antivirale Therapie hellt das Gemüt auf und vertreibt die Schwermut. Ob auch die chronische Müdigkeit und der große Hunger, der zu Fettleibigkeit führt, Folgen von Virusinfektionen sind, ist noch umstritten – möglich wäre auch das. Als richtige Bombe, die große Teile des medizinischen Wissenschaftsgebäudes demolieren könnte, erwies sich eine an- dere Theorie. Sie sagt, dass die gefürch- tete Adernverkalkung (Arteriosklerose) nicht durch gute Kost, zu viel Stress

M. ENDE / BILDERBERG und Bluthochdruck, auch nicht durch die Aidspatient in Brasilien: „Lautlose Explosion in Zeitlupe“ Menschheitsfeinde Nikotin und Choles- terin verursacht werde, sondern durch tausend Jahre ehe die Mikroben erstmals So dauerte es 45 Jahre, von 1938 bis eine Mikrobe namens Chlamydia pneu- unter einem Mikroskop gesichtet wurden, 1983, bis die Entdeckung des Magenkeims moniae. Chlamydien sind bakterien- hatte der römische Schriftsteller Marcus Helicobacter pylori von der Fachwelt be- ähnliche Mikroben, die als Zellparasiten Terentius Varro die richtige Vermutung. Er stätigt wurde; die Akzeptanz in den Arzt- leben, am liebsten in den Wänden der warnte vor „den kleinen Tierchen, die mit praxen brauchte nochmals ein Jahrzehnt. Schlagadern. bedrohlichen Stacheln bewaffnet in dichten Die winzigen, spiralförmigen Mikroben Dort bewirken sie eine chronische Lo- Schwärmen gegen uns fliegen“ – gemeint siedeln in den kleinen Falten der Magen- kalinfektion, die zur Bildung dichter Ge- waren die Anophelesmücken, die Malaria schleimhaut, direkt unter dem Schleim- webe, Fett- und Kalkablagerungen führt. übertragen –, und, visionär, vor den „ganz film und in einem sauren Milieu, das die Die Plaques engen den Durchmesser der kleinen Tierchen, die dem Auge unsichtbar, allermeisten anderen Keime keine fünf Gefäße ein, Mangeldurchblutung ist die vermittels der Luft durch Nase und Mund Minuten überleben. Deshalb galt es als Folge. Die damit einhergehende Sauer- in den Körper gelangen und schwere ausgemacht, dass im Magen kein Helico- stoffnot führt zum Absterben des Gewebes. Krankheiten verursachen“. bacter haust – es kann nicht sein, was nicht Je nach dem Sitz der Gefäßverkalkung Die Medici schlugen die Warnung in den sein darf. drohen Herzinfarkt und Schlaganfall so- Wind. Sie schworen auf das giftige „Mias- Inzwischen wissen die Mediziner, dass wie mangeldurchblutete Beine, Nieren ma“ – eine gelbgrüne Wolke, die nachts die kleinen Mikroben Magenschleimhaut- oder Netzhäute. herbeischwebt und die Menschen krank entzündung (Gastritis), Geschwüre (Ulcus) In den letzten 30 Jahren ist die Häufig- macht – und auf die Macht der Sterne. Für und sogar Magenkrebs bewirken können. keit der Arteriosklerose in den wohlha- die Pest machte die berühmte Medizini- Nun geht es dem Helicobacter mit drei Gif- benden Ländern zurückgegangen. Diesen sche Fakultät der Pariser Sorbonne 1348 ten ans Leben. Nur die Psychotherapeuten Erfolg haben sich ärztliche Fraktionen an eine fatale Dreierkonstellation aus Saturn, machen lange Gesichter, denn etliche ha- ihre Fahne geheftet: die Ernährungsbera- Jupiter und Mars verantwortlich. An- ben gut davon gelebt, die schmerzhafte ter, die Sportärzte, die Apotheker, auch die steckend sei die Pest nicht. Noch 1846 wur- de diese Theorie verfochten: Die Erkennt- nis von gestern war nicht nur dieses eine Mal der Irrtum von morgen. Die egozentrische Vorstellung des Men- schen, die Mikroben hätten es vor allem auf ihn abgesehen, ist erfreulicherweise Un- sinn. Den allermeisten Kleinstlebewesen ist das Großtier Mensch gleichgültig. Aus dem Riesenfundus des Mikroben- reiches bleiben trotzdem genug Heimsu- chungen übrig: Die Infektionskrankheiten, allesamt durch Kleinstlebewesen verur- sacht, sind nicht nur peinlich (wie der Trip- per), lästig (Schnupfen) oder schmerzvoll (Gürtelrose), sie sind gelegentlich auch auf den Tod gefährlich, ob Aids oder Ebola, Hepatitis C, Cholera und Lassa-Fieber, um nur einige zu nennen. Die Heilkunst hat, das beweist die Ent- wicklung der letzten Jahre, keineswegs alle Auswirkungen der Keime auf die mensch- liche Gesundheit erkannt – trotz Licht-

und Elektronenmikroskopie spezialisierter M. FURRER / SABA Labors und der Fachärzte für Hygiene. Ebolakranker in Zaire (1995): Ängste und Gefahren kehren zurück

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Werbeseite Wissenschaft

Naturheilkundler und selbstverständlich die Internisten. Es kann aber auch sein, dass nicht die Verringerung von Risikofaktoren den Er- folg brachte, sondern ein Nebenbei-Effekt der Antibiotikatherapie: Die weit verbrei- tete Behandlung mit keimtötenden Arz- neimitteln hat auch vielen Chlamydien im Herzkranzgefäß oder den Arterien des Kopfes den Garaus gemacht. Wie auch immer: Seit der Mensch den Planeten Erde besiedelt, seit hunderttau-

Alte und neue Ängste Was fürchten Sie in der Zukunft am meisten? Atomkrieg 49

Klima- FOCUSSPL / AGENTUR 43 katastrophe Pockenimpfung in England*: Netz der Medizin zum Schutz vor Mikroben Umweltgifte 36 send Jahren also, haben die Mikroben – es land alle. „Seuchen machen Geschichte“ Reaktorunglück 35 gibt sie seit rund drei Milliarden Jahren – ist seither eine fundierte Wahrheit. Geklonte Menschen unter den relativ neuen Erdenbewohnern Selbst der ungarische Geburtshelfer Ig- 28 mehr Opfer gefordert als alle Kriege, Erd- naz Semmelweis, der „Retter der Mütter“ Killerbakterien 26 beben, Massenmorde, religiöse Opfergän- vor den Bakterien, erlag 1865 einer eitrigen aus dem Genlabor ge, Vergiftungen, Wetterstürze. Infektion. Seit dieser Zeit hat die moder- Waldsterben 23 Die unsichtbaren Mitbewohner entzün- ne Medizin zum Schutz des Menschen vor den die Gewebe des Menschen (Pocken, den Mikroben ein dichtmaschiges Netz ge- Ausrottung von Arten 17 Pest und Cholera), sie ruinieren sein Ab- spannt: Seine Knoten sind Hygieneregeln, wehrsystem (Aids), lassen seine Blutkör- Schutzimpfungen, Meldepflichten, Schäd- 7 Ölknappheit perchen platzen (Malaria), zerstören die lingsbekämpfung, Trinkwasser- und Le- Informationsüberflutung 5 Nervenzellen des Gehirns (Schlafkrank- bensmittelüberwachung und, wenn es ernst heit) und die Bindehaut des Auges (Tra- wird, keimtötende Arzneimittel (Antibio- Meteoriten-Einschlag 3 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL chom), das Rückenmark (Sy- tika). Deren erstes, das inzwi- Invasion von vom 10. und 11. Dezember; philis) und die Lunge (Tuber- schen ruhmreiche Penizillin, 1 rund 1000 Befragte; Außerirdischen Angaben in Prozent kulose). An Infektionskrank- Werden auch steht der Allgemeinheit seit heiten starben die Maler Raffa- Ende des Zweiten Weltkriegs el und Hans Holbein, die Kom- Depressionen, zur Verfügung. Hoffnungsträger ponisten Franz Schubert und Fettsucht und Doch der immer wieder ver- Medizin Wolfgang Amadeus Mozart, der sprochene Sieg über das Schat- Worauf hoffen Sie am Übermensch-Denker Friedrich chronische tenreich der Mikroben wurde meisten? Nietzsche und Müdigkeit von niemals wahr. Im Gegenteil: der Philosoph Ängste und Gefahren kehren Sieg über den Krebs 83 Karl Marx, der Mikroben zurück. Die tödliche Seuche schadstofffreie Motoren 55 seine Tuberkulo- übertragen? Aids hat die Welt umrundet, se vergeblich im Wüstenklima ohne dass Ärzte, Politiker oder Solarwirtschaft 39 Nordafrikas zu kurieren suchte. die Weltgesundheitsorganisa- Medizinische In der frisch gegründeten Sowjetunion tion Barrieren dagegen hätten aufrichten Lebensverlängerung 19 rief Lenin im Namen des Sozialismus zur können. „Vernichtung der Laus“ auf, weil sonst die Aids ist eine „lautlose Explosion in Zeit- Fusionsenergie als Löser 18 des Energieproblems Laus, Wirtstier des Fleckfieber-Erregers, lupe“, so der schwedische Epidemiologe „den Sozialismus besiegt“. Er wusste: In Michael Koch bereits 1988. Schon sind min- Gedächtnispille 8 den Jahrhunderten zuvor hatten Mikroben destens 50 Millionen Menschen mit dem Entdeckung von ganze Weltreiche zerstört. tödlichen HI-Virus angesteckt, jeden Tag 7 Leben im All „La mortalega grande“, das große Ster- kommen 16000 weitere hinzu. genetisch verbesserte 4 ben, nannten die Italiener ehrfürchtig die Gegen diese – in Afrika und Indien nach Menschen Pestzüge im Mittelalter. Die Erreger wirk- wie vor apokalyptische Virusseuche – gibt Haushaltsroboter 3 ten so schnell, dass mancher abends ge- es keine Schutzimpfung. Arzneimittel (die sund ins Bett ging und starb, bevor der sich arme Länder ohnehin nicht leisten Urlaub auf dem Mond 3 Morgen graute. Die „Geißel Gottes“ holte können) vermögen das Ende nicht abzu- Mehrfachnennungen möglich sich jeden dritten Europäer. In Lübeck star- wenden, sondern es bestenfalls hinauszu- virtuellen Sex 2 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL ben neun von zehn Einwohnern, in Grön- zögern. Trotz der deprimierenden Fakten vom 10. und 11. Dezember; offerieren Laien dem Publikum immer wie- fliegende Autos 1 rund 1000 Befragte, Angaben in Prozent * Darstellung von 1802, sechs Jahre nachdem Edward der Illusionen. „Eine HIV-Infektion ist kein Jenner erstmals eine Impfung erfolgreich getestet hatte. Todesurteil mehr“, behauptet der „taz“-

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Werbeseite Wissenschaft G. WESTRICH / PLUS 49 VISUM G. WESTRICH Indische Landbevölkerung am Ganges: Die weltweite Seuchenlage hat sich zu Ungunsten des Menschen verändert

Kommentator Jan Feddersen Kess zum Der Schrecken: Vor hundert Jahren starb Das globale Bevölkerungswachstum, die diesjährigen Welt-Aids-Tag. Schön wär’s. in Europa jeder achte Mensch weit vor der hohe Mobilität der Menschen und die Weil die Lage ernst ist, hat auch die Zeit an Tuberkulose; waren die Säuglings- Migration großer Bevölkerungsgruppen deutsche Bundesregierung im Herbst ein mortalität 40-mal, die Müttersterblichkeit führen … dazu, dass sich alte Krankheits- neues „Infektionsschutzgesetz“ beschlos- sogar 70-mal größer als gegenwärtig; gab es erreger auch in den Industriestaaten wie- sen. Es soll das alte „Bundesseuchenge- keine Antibiotika; konnte selbst ein kleines der ausbreiten können. Neu auftretende, setz“ ablösen. Der neue Name suggeriert Furunkel in der Nase den Tod bringen. Die gefährliche Krankheitserreger können Zuversicht und vermeidet das unbeliebte Hoffnung: Wissenschaftler und Patienten große Teile der Bevölkerung bedrohen. Wort „Seuche“. Auch die Para- glaubten einhellig an den Fort- Das Auftreten und die Ausbreitung von grafen schmiegen sich eng dem schritt der Heilkunst. Dass die Aids ist hierfür ein erschreckendes Bei- Zeitgeist an. Bei jeder Pocken 1977 weltweit als erste – spiel … Zudem zeigt sich, dass Krankheits- Der gute alte Tripper kommt und bisher einzige – Infek- erreger zunehmend gegen Antibiotika re- im neuen Gesetz überhaupt vierten tionskrankheit ausgerottet wur- sistent werden. nicht mehr vor, für die Syphilis Diagnose in den, galt als Signal großer Ta- ist die Meldepflicht aufgeho- ten. Ausmerzung (Eradikation) Derzeit handelt es sich in Deutschland ben, HIV und Aids werden so Deutschland war damals die Parole. 1969 bei 25 bis 30 Prozent aller Diagnosen und abgehandelt, als seien sie vor geht es um erklärte der ranghöchste Ge- Behandlungen, sowohl in den Praxen als allem psychosoziale Probleme. sundheitsbeamte der Vereinig- auch in den Krankenhäusern, „um Infek- „Über das neue Infektions- Infektions- ten Staaten, Surgeon General tionskrankheiten oder infektiöse Kompli- schutzgesetz können die Keime krankheiten William Stewart, nun sei es „an kationen bei anderen Krankheiten“, teilte nur lachen“, kommentiert das der Zeit, das Buch der Infek- das Bundesgesundheitsministerium im Ok- Fachblatt „Medical Tribune“. tionskrankheiten zu schließen“. tober mit.Von der Eradikation ist nur noch Das „Ärzteblatt“ kritisiert unterdessen, Daraus wurde nichts, im Gegenteil: Die leise die Rede. Bei Malaria und Frambösie dass die „wesentlichen Infektionsquellen“ weltweite Seuchenlage hat sich zu Unguns- (einer Syphilis-Schwester) ist sie bereits von Salmonellen und anderen Keimen, die ten des Menschen verändert. Seine Ver- gescheitert. Kinderlähmung, Lepra und Magen-Darm-Entzündungen hervorrufen, letzlichkeit nimmt zu, aus vielen Gründen. Masern stehen jetzt auf dem Programm, „seit Jahren bekannt, aber mitnichten Die Bundesregierung sieht es so: doch die Hoffnungen sind gedämpft. Trotz- trockengelegt“ werden: „Bauern, Schlacht- dem liest sich das neue Gesetz so, als sei- höfe, das System Biotonne-Komposthof en nun ausgerechnet die Masern der größ- und Gaststätten“ seien immer noch „weit- te Feind der Menschheit. gehend tabu“. Mikroben, alle Mikroben, sind Lebens- Energische Interventionen der Gesund- künstler.Viel, viel schneller als der Mensch heitsbehörden – etwa die Kontrolle der passen sie sich wechselnden Lebensbedin- gesetzlich vorgeschriebenen Frischluft- gungen an. Die evolutionäre Entwicklung zufuhr in Innenräumen, um die Atem- vom allerersten Primaten zum Homo sa- wegsinfektionen zu vermindern – treffen piens dauerte rund 80 Millionen Jahre, auf wenig Sympathie. Weder die über- Bakterien durchlaufen eine vergleichbare wachten Bürger noch die öffentliche Mei- Entwicklung in nur 60 Jahren. nung wollen repressive Maßnahmen hin- Das unsichtbare Reich der Mikroben nehmen. existierte lange vor dem Menschen. Es Das war zu den wilhelminischen Zeiten wird bestehen, solange sich die Erde dreht. der gesetzlichen Pockenschutzimpfung und So gut sieht es für den großen Fleisch- des Chlor-Streuens, auch später im DDT- klumpen Mensch, den Homo sapiens, nicht

Zeitalter anders. Damals waren aber auch N. ENKER / LAIF aus. Irgendwann könnten die Kleinst- der Schrecken und die Hoffnung größer Katheterbehandlung sklerotischer Gefäße lebewesen ihm doch noch den Garaus als in der Gegenwart. Parasiten in den Arterienwänden machen. Hans Halter

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mals frei auf dem einstigen Wüstenplane- ten bewegen und ihn allmählich koloniali- sieren. Am Ende des dritten Jahrtausends könnte der Mars mit großen Wasserflächen und grünen Ebenen bereits 100 Millionen Menschen neuen Lebensraum bieten. Ist für zivilisiertes Leben aber überhaupt ein Planet erforderlich? Nicht unbedingt. Freifliegende Weltraumkolonien wären ebenfalls möglich. Die entstünden natürlich nicht aus dem Nichts heraus. Einen be- scheidenen Anfang macht die Internatio- nale Raumstation ISS, die frühstens ab März 2000 dauerhaft mit einer Crew be- setzt werden soll. Kommerzielle Hotelun- ternehmen planen bereits,Weltraumhotels in der Nähe der ISS zu errichten. Nach den Erfahrungen mit der ISS und eventuellen Nachfolgern könnte die Menschheit um das Jahr 2069, also 100 Jah- re nach der ersten Mondlandung, eine ers- te freischwebende Raumkolonie, das so ge- nannte Insel-Eins-Habitat, installieren. Die bis heute technisch ausgereifteste

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Studie hierfür stellte in den siebziger Jah- Künstler-Vision einer Station auf dem Mars: „Lebensraum für 100 Millionen Menschen“ ren der Physiker Gerard O’Neill vor: Seine Raumkolonie sieht aus wie ein rotierender Autoreifen, hat einen Durchmesser von 130 Metern und bietet im Inneren Platz für 10 000 Weltraumpioniere. Auf fast zwei neuen Welt Quadratkilometer verschachtelter Fläche Arche zur wird gewohnt und Landwirtschaft betrie- ben. Trotz ihrer Größe hinge eine solche Astronaut Ulrich Walter über die Besiedlung der Milchstraße Raumkolonie versorgungstechnisch noch am Nabel der Erde. Vor sechs Jahren flog der Physiker Wal- könnten, eine Atmosphäre geschaffen, die Dies würde sich erst bei den ebenfalls ter, 45, mit der US-Raumfähre Columbia über den damit in Gang gebrachten Treib- von O’Neill entworfenen größeren Kolo- zehn Tage lang um die Erde. Derzeit hauseffekt das an den Polkappen befindli- nien für etwa 150000 Personen, folgerich- arbeitet er für den Computerkonzern che Eis zum Schmelzen brächte. Infolge tig „Insel-Zwei-Habitate“ genannt, ändern. IBM in Böblingen. des abtauenden Kohlendioxid-Eispanzers „Insel-Zwei-Habitate“ wären vollkommen entstünde nach etwa 40 Jahren eine rei- autonom.Alles was sie zum Leben brauch- ein Mensch kann heute mit Bestimmt- ne Kohlendioxid-Atmosphäre mit einem ten, könnten sie auch selbst produzieren. heit sagen, ob es die Menschheit mor- Druck von 0,3 Bar, in der Astronauten Die Rohstoffe dafür lägen sozusagen di- K gen noch geben wird.Vor 65 Millionen ohne Schutzanzug in ganz normaler rekt vor der Haustür: In unmittelbarer Jahren schlug ein Asteroid mit zehn Kilo- Straßenkleidung herumlaufen könnten; sie Nähe kreisen Planetoiden, Gesteins- meter Durchmesser und der gigantischen müssten nur zusätzlich eine Sau- Wucht von fünf Milliarden Hiroschima- erstoff-Flasche auf dem Rücken Bomben in Mittelamerika ein und löschte tragen. alle Dinosaurier und mit ihnen auch bei- Nach etwa 100 Jahren wären nahe alles höhere Leben auf der Erde aus. die Verhältnisse so weit gedie- Diese und gar noch größere Katastrophen, hen, dass sich die Wassermengen so die Wissenschaftler, können sich immer des ehemaligen Urozeans, die als wieder ereignen – nur wann, das vermag Permafrost vermutlich etwa ein niemand vorherzusagen. Meter unterhalb der Oberfläche Wird die Menschheit folglich irgend- lagern, verflüssigen und erste wann gezwungen sein, die Erde zu verlas- Flüsse und Seen bilden. Der da- sen? Angesichts der möglichen Vernich- mit zugleich einsetzende Regen tung durch einen Asteroideneinschlag schüfe die Voraussetzungen für könnte es in Zukunft durchaus Gründe ge- ein erstes Ökosystem, in dem ro- ben, sich einen anderen Ort in unserem buste, von der Erde importierte Universum zu suchen, um zu überleben. Pflanzen die reine Kohlendioxid- Welches Ziel läge da näher als der Mars, Atmosphäre langsam in eine unser planetarer Nachbar? Sauerstoff-Atmosphäre verwan- Um den unwirtlichen Planeten bewohn- deln. Unter erdidentischen Sau- bar zu machen, müsste man den Mars öko- erstoff-Verhältnissen könnten logisch umformen. Zunächst würde aus ei- sich nach 500 Jahren Umfor- nem Mix von wirkungsstarken Treibhaus- mung die Marsbewohner erst-

gasen, die auf dem Mars von einem che- NASA mischen Kraftwerk produziert werden * An Bord der US-Raumfähre „Columbia“. Astronaut Walter*: „Drohende Zerstörung der Erde“

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Werbeseite Wissenschaft brocken von teilweise über 150 Kilometer agentur Esa bereiten sich schon heute in ei- gisches Leben eignen, wahrscheinlich in Durchmesser. ner Art Wettlauf darauf vor, in etwa zehn einem mittleren Abstand von 14 Lichtjah- Weil die Bahn dieser Habitate aber be- Jahren mit riesigen Infrarot-Spiegeltele- ren, und solche, die erdähnliche Verhält- reits außerhalb der so genannten solaren skopen im Weltall die ersten bewohnba- nisse bieten, in einem mittleren Abstand Ökosphäre liegen würde – jenem Bereich ren Planeten ausfindig zu machen. So be- von 32 Lichtjahren über die Milchstraße zwischen Venus und Mars, in der die Son- absichtigt die Esa unter dem Projektnamen verteilt sind. Die Menschheit müsste sich ne nicht zu kräftig, aber auch nicht zu „Infrared Space Interferometer“, etwa im also über einen langen Zeitraum in einer schwach scheint – müsste zusätzlich Ener- Jahr 2010 fünf Teleskope im All zu einem Schritt-für-Schritt-Strategie über die Gala- gie erzeugt werden. Dies wäre erst mit der freifliegenden Ring von 100 Meter Durch- xis ausbreiten. frühstens Mitte nächsten Jahrhunderts an- messer zusammenzuschließen. Dieses Te- Dass dies durchaus menschlichem Ver- wendungsreifen Kernfusion möglich. Als leskopsystem soll jenseits der Marsbahn halten entspräche, zeigt die Besiedlung Brennstoff könnte der überall im Weltraum positioniert und mit einer 1000-mal besse- der weit verstreuten Inseln im zentralen vorhandene Wasserstoff dienen, der sich un- ren Auflösung als das heutige Hubble-Welt- Pazifischen Ozean. Vorfahren der heuti- ter Abgabe enormer Energiemengen zu raumteleskop in einer Umgebung von min- gen Polynesier, ein erfahrenes Seefahrer- Helium verschmelzen lässt. destens 50 Lichtjahren um die Erde erd- volk vom Bismarck-Archipel, begannen Damit wäre die Zeit reif für die „Insel- ähnliche Planeten aufspüren. um 1500 vor Christus, sich von den Fi- Drei-Habitate“, auch Raum-Archen ge- Raum-Archen müssten sich mit relativ dschi-, Tonga- und -Inseln über die nannt. Mit 10 Millionen Individuen an Bord kleinen Geschwindigkeiten von maximal Gesellschafts-Inseln bis hin zu den entle- könnten sie Jahrhunderte lang absolut zehn Prozent Lichtgeschwindigkeit be- genen Pitcairninseln und der Osterinsel autark existieren. Die Zylinder wären 32 gnügen. Ein solches Riesenraumschiff wäre auszubreiten. Um 900 nach Christus, also Kilometer lang, hät- nach 2400 Jahren, ten einen Durchmes- hatten sie schließ- ser von 6,4 Kilome- lich den gesamten tern und böten einen mittleren und öst- Lebensraum von je- lichen Pazifischen weils 1300 Quadrat- Ozean koloniali- kilometern. Bei sol- siert. Dies entspricht chen Dimensionen einer mittleren Be- würde die künstliche siedlungsrate von Atmosphäre bereits etwa 40 Jahren pro einen blauen Him- 100 Kilometer. Da mel mit Wolken- die mittlere Entfer- schichten erzeugen, nung zwischen den also erdähnliches Inseln um die 200 Wetter, und Ozon Kilometer beträgt, zum Schutz vor kos- fand eine Auswan- mischer Strahlung. derungswelle nach Autark und mit jeweils etwa vier praktisch unbe- Generationen statt, grenztem Material- eine gut nachvoll- vorrat von den Pla- ziehbare Besied-

netoiden und As- ISST lungsdynamik. teroiden könnten Vision eines Weltraumhotels*: „Lebensbedingungen wie auf der Erde möglich“ Basierend auf sich Raumkolonien diesen Erfahrungen nahezu beliebig stark vermehren. Tatsäch- damit einschließlich Beschleunigungs- und lässt sich die Besiedlungszeit der Milch- lich scheinen ihrer Anzahl keine Grenzen Abbremsphase etwa 200 Jahre zu einem 20 straße abschätzen. Raum-Archen würden gesetzt. Allein im Asteroidengürtel zwi- Lichtjahre entfernten Stern unterwegs. nach etwa 200 Jahren auf einen 20 Licht- schen Mars und Jupiter ließe sich über vie- Man mag sich fragen, ob es angesichts jahre entfernten bewohnbaren Planeten le Jahrtausende hinweg im Prinzip ein Le- dieser übermenschlichen Zeitspannen wirk- treffen. Die Raumreisenden würden ihn bensraum mit der 4000fachen Größe der lich Leute gäbe, die spinnert genug wären, kolonialisieren, und ihre Nachkommen Erdoberfläche schaffen. ihr Leben als reine Fortpflanzungsmaschi- würden sich nach spätestens 2000 Jahren Nach jahrhundertelanger Erfahrung mit ne zu geben, nur damit Generationen nach der Regeneration auf eine erneute Reise dem Leben in Raum-Archen und der Be- ihnen einen anderen Stern bevölkern könn- begeben. siedlung von Nachbarplaneten wie des ten. Dazu sollte man bedenken, dass Raum- Unter diesen Umständen würde sich die Mars und womöglich einem Auslöser wie Archen mit ihren zehn Millionen Aussied- Menschheit mit einer Geschwindigkeit von der drohenden kosmischen Zerstörung der lern keine unmenschlichen Technikmonster 2200 Jahren pro 20 Lichtjahre ausbreiten. Erde, wäre es geradezu ein natürlicher wären. Sie böten Lebensbedingungen fast Unsere Milchstraße hat einen Durchmes- Schritt für die Menschheit, das Sonnensys- wie auf der Erde. Für die Reisenden würde ser von 100000 Lichtjahren und wäre da- tem zu verlassen und sich einen neuen be- es keinen Unterschied machen, ob sie ihr her nach etwa 10 Millionen Jahren voll- wohnbaren Heimatplaneten zu suchen, der Leben auf einer Arche verbrächten oder ständig besiedelt – ein kleiner Bruchteil einen anderen Stern umkreist. Diesen ris- auf einem Planeten. jener etwa 3800 Millionen Jahre, die die kanten Schritt würde jedoch kein Reisen- Hat die Menschheit erst einmal die ers- Natur von der Entwicklung der ersten ir- der eingehen, wäre nicht zuvor die alles ten fremden Welten erreicht, liegt die Fra- dischen Lebensformen hin zur technolo- entscheidende Frage beantwortet: Gibt es ge nahe, ob unsere Milchstraße nicht voll- gischen Zivilisation heutigen Datums überhaupt einen für die Besiedlung geeig- ständig kolonisierbar ist und wie lange benötigte. neten Planeten in der näheren Umgebung dies dauern würde. Berechnungen haben Der Menschheit mag nur ein relativ kur- des Sonnensystems? gezeigt, dass Planeten, die sich für biolo- zes Leben auf der Erde beschieden sein; Die amerikanische Raumfahrtbehörde ihre Lebensaussichten in unserer Milch- Nasa und die europäische Raumfahrt- * Links im Bild: Internationale Raumstation ISS. straße hingegen sind überwältigend. ™

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Werbeseite Wissenschaft

füllt? Der amerikanische Multimillionär und Maschinenbauer Paul Moller, der seit über 30 Jahren der Idee des fliegenden In- dividualverkehrsmittels nachjagt, glaubt sich dem Ziel nahe. Den ersten Prototyp seines jüngsten „Skycar“, eine Art Bat-Mo- bil fürs Volk mit vier Sitzen und acht Wan- kelmotoren, will er demnächst der realen Flugerprobung unterziehen. Dank Schubumlenkung soll das Fiber- glas-Vehikel senkrecht starten und auf einem Fleck in der Luft verharren können. In Vorwärtsrichtung strebt Moller eine Höchstgeschwindigkeit von über 600 Stun- denkilometern an. Die ersten Exemplare will er für je eine Million Dollar feilbieten, nach angelaufener Serienproduktion je- doch bald das Preisniveau von Luxus- limousinen erreichen. Der Käufer brauche dann nicht einmal eine Fluglizenz, da die

MOLLER INTERNATIONAL Steuerung von einer satellitengestützten „Skycar“-Prototyp, Konstrukteur Moller: Bat-Mobil fürs Volk Navigationsautomatik übernommen wer- den soll. tragen, mit der Geschwindigkeit eines Die US-Weltraumbehörde Nasa ent- Rennpferds hoch über der Menge dahin- wickelt bereits ein Leitsystem für solche glitt“, sagte ein Beobachter Otto Lilien- Zwecke. Einer ihrer leitenden Wissen- Hoch über thals. An die 2000 Gleitflüge mit baum- schaftler, Dennis Bushnell, sieht darin wollbespannten Bambus- und Weiden- „technisch kein großes Problem“. Solange drachen hatte der deutsche Muster-Aero- es jedoch noch nicht einmal gelingt, das naut unternommen, ehe er 1896 im märki- Verspätungschaos an völlig überlasteten der Menge schen Stölln von einer Turbulenz zu Bo- Flughäfen zu lösen, wird sich ein Millio- den gerissen wurde, sich das Genick brach nenheer umherschwirrender Himmels- Maschinen eroberten den Luftraum, und starb. autos erst recht nicht beherrschen lassen. Sieben Jahre später glückten die ersten Fliegen ohne Grenzen und Zwänge ist der Mensch selbst jedoch nicht. Motorflüge der Gebrüder Wright, zunächst keine Option für jedermann. Es bleibt ein Wird mit dem „Skycar“ der kümmerliche Hüpfer von wenigen hundert poetischer Traum, eine „himmlische Kraft, Menschheitstraum vom Flugmobil Metern, pünktlich zur philosophischen die nur der Genius übt“ (Bettina von Ar- Ortung der Moderne: Gott tot, Mensch nim). Einzig Verliebte scheinen von dieser für jedermann Wirklichkeit? am Himmel. Kraft zuweilen ergriffen, wenn sie sich, „Wenn der Mensch fliegen kann, kann er etwa am „Titanic“-Bug, in Schwerelosig- it dem Geist der Aufklärung, der alles“, konstatiert der amerikanische His- keit wähnen. Keimzelle von Demokratie und toriker John Gillikin. „Und wissen Sie Dampfmaschine, festigte sich bald was? Er kann fliegen.“ Meine erhabene Gewissheit: Nichts Er kann es nicht. Die Erschließung würde den Menschen länger am Boden hal- des Luftraums mit Maschinenkraft ten. „Durch Übung gewitzigt“, prophezei- gab ihm die Freiheit, Regenwälder te Jean-Jacques Rousseau, „werden wir uns mit chemischen Kampfmitteln und gleich Adlern in die Lüfte schwingen und Urlaubsinseln mit Ballermann-Bri- das kindische Gehabe der unten auf der gaden zu kontaminieren. Zum Engel Erde kriechenden Menschlein belächeln.“ fehlt es weit. Besonders originell war die Vision des Dem Wunsch, unabhängig von französisch-schweizerischen Freidenkers Flugplänen und -plätzen an jedem Ort nicht. Mehr als zwei Jahrhunderte zuvor und zu jeder Zeit abheben und da- hatte Leonardo da Vinci die Flugfähigkeit vonfliegen zu können, kommt der

seiner Gattung wissenschaftlich beglaubigt: Hubschrauber am nächsten. Auch er GAMMA / STUDIO X „Ein Vogel ist ein Instrument, das nach ma- existierte bereits als Leonardo-Ent- Olympia-Raketenmensch (in Los Angeles, 1984) thematischen Gesetzen funktioniert, und wurf, wird jedoch niemals zum Mas- „Kann er fliegen, kann er alles“ der Mensch ist fähig, dieses Instrument ge- senverkehrsmittel taugen. Baukosten nau nachzuahmen.“ Bisher ist er es nicht, und Energieverbrauch sind viel zu hoch. Selbst im Reich der Imagination unter anderem deshalb, weil der Renais- Gleichwohl arbeiten Ingenieure unver- währt die Fähigkeit zum Fliegen als Meta- sance-Visionär laut Flughistoriker Court- drossen an preiswerten Individual-Flug- pher einer höheren Daseinsform nicht landt Canby „die Kraft und Ausdauer der geräten. Rieseninsekten ähnelnde Gestelle ewig. So wendet sich im Kinofilm „Hook“, menschlichen Muskeln überschätzte“. mit Auftriebsventilatoren und Raketen- der Hollywood-Apotheose des Luftikus- Leonardos Logik folgend erlebten zahl- Rucksäcke dokumentieren das so beharrli- Märchens Peter Pan, ein Weggefährte und reiche Flugpioniere wenig Heroisches, ver- che wie bislang erfolglose Streben nach früherer Flugbegleiter des fabelhaften loren jedoch viel – meist ihr Vermögen und dem erschwinglichen Menschenflug, der Flattermanns verwirrt an einen Poli- ihr Ansehen, nicht selten das Leben. alle Stauprobleme in Luft auflösen könnte. zisten: „Ich habe vergessen, wie man „Ich werde nie das Bild des Mannes ver- Wird nun zum Jahrtausendwechsel auch fliegt.“ „Das“, erwidert der Beamte un- gessen, der, von großen weißen Flügeln ge- diese letzte Sehnsucht des Menschen er- gerührt, „kommt vor.“ Christian Wüst

172 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur Verkannte Genies des Jahrtausends Zu Lebzeiten missachtet, heute gefeiert: späte Größen, stille Stars Herman Melville 1. August 1819 bis 28. September 1891 Der Autor habe „schlicht einen Dachscha- den“, schrieb 1852 ein Kritiker über den Roman „Pierre“. Herman Melville, der Autor, war erst 33 Jahre alt, und „Moby Dick“, sein Großwerk über den Walfang, hatten die Kritiker ein Jahr zuvor als „schlampig hergestellte Mixtur“ ebenso abgetan. Mit grandioser Konsequenz schaffte er es, zum vergessenen Schriftstel- ler zu werden: Er erfand Archetypen der

Weltliteratur wie den Kanzlisten Bartleby PRESS ACTION („Ich möchte lieber nicht“), aber absetzen „Carmen“-Inszenierung in Stuttgart (1995) ließen sich seine Bücher nicht mehr. So gab er das unprofitable fiel auch die „Carmen“ bei der Urauf- Schreiben fast völlig Georges Bizet führung am 3. März 1875 in der Pariser auf und wurde 1866 25. Oktober 1838 bis 3. Juni 1875 Opéra Comique durch, drei Monate spä- Zollinspektor im New ter starb Bizet, 36 Jahre jung. Erst dann Yorker Hafen. Erst in Mit wiegenden Hüften tritt sie auf, stolz, kam der Erfolg, und sogar ein großer den zwanziger Jahren gereizt, verführerisch: Carmen ist eine Nihilist schwärmte über „Carmen“: begann eine Melville- der erotischsten Opernfiguren überhaupt, „Diese Musik scheint mir vollkommen. Renaissance; seither weltweit bürgen ihre Lockrufe für aus- Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. gilt die Prosa des gro- verkaufte Häuser. Doch Georges Bizet Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft

AKG ßen Seelen-Seefahrers hat vom Ruhm seiner Sirene nicht profi- auf zarten Füßen.“ Also sprach Friedrich Melville (um 1880) als klassische Literatur. tiert. Wie etliche Werke des Tonkünstlers Nietzsche. Die Nachwelt pflichtet bei.

Johannes Gutenberg um 1400 bis 3. Februar 1468 François Villon um 1431 bis nach 1463

Sein Lebensprojekt brachte ihm den Ruin: Jahrelang hatte der Die Lebensbeschreibungen klingen nach Steck- Mainzer Patriziersohn Henne Gensfleisch – so sein ursprüngli- brief: „Wildes Studentenleben in schlechter cher Name – von großen Plänen gewispert, aber als sein auf- Gesellschaft“, heißt es im Lexikon. Und wei- wendiges Druckverfahren mit beweglichen Lettern endlich ter: „Tötete im Streit einen Priester“, „nach zum Einsatz gekommen war, musste er zurückstecken: 290 Messerstecherei zum Tode verurteilt“, „be- verschiedene Typen hatte er für die große Bibelausgabe gegos- gnadigt, seitdem fehlt jede Spur“. Aber sen, 20 Helfer waren beim Druck be- „der bedeutendste spätmittelalterliche schäftigt, doch dann konnte Guten- Dichter Frankreichs“ war er eben auch: Er

berg ein Darlehen nicht zurückzahlen machte seine schwierige Persönlichkeit AKG und musste mit ärmlicheren Mitteln zum Thema der Dichtung, mischte Obszö- weitermachen. Zwar behielten ihn ei- nes mit Frommem – all das war für mittel- nige in Erinnerung. Doch im 19. Jahr- alterliche Maßstäbe ungeheuerlich, galt hundert glaubten manche Experten, als Chuzpe, kaum als Kunst. Erst Haude- der holländische Drucker Coster sei gen späterer Zeiten erkannten in Villon der erste gewesen. Heute sind die den Mit-Gauner im Geiste: Bert Brecht Kontroversen abgetan, und der Me- übernahm für seine „Dreigroschenoper“ Villon dien-Innovator, um 1400 geboren und Teile aus Balladen, der Schauspieler Klaus daher im Jahr 2000 wieder Jubilar, ist Kinski rezitierte Villons Verse mit leidenschaftlichem Ingrimm.

vom US-Magazin „Life“ zum „Mann BPK Die Balladen erzählen so viel vom Menschendasein, dass sie des Jahrtausends“ gekürt worden. Gutenberg als „Testament“ überliefert worden sind.

der spiegel 52/1999 175 AKG Neapel zur Zeit Vicos (Gemälde von Gaspare Vanvitelli, um 1700)

Weltgeschichte auch ohne Mitwirkung ihm das Buch gezeigt wurde. Erst um Giambattista Vico Gottes, als menschliche Epochen-Schöp- 1900 wurde aus dem Geheimtipp weniger 23. Juni 1668 bis 23. Januar 1744 fung verstehen könne, fand er kein Publi- Gelehrter ein Klassiker: Geschichtstheo- kum. Vicos Werke, vor allem die verwin- retiker entdeckten Vico neu, weil er die Kümmerlich musste sich der Buchhänd- kelt formulierten „Prinzipien einer neu- Wandelbarkeit von Kulturen und die lersohn aus Neapel als Hauslehrer, dann en Wissenschaft über die gemeinschaftli- poetische Wahrheit der Mythen erkannt als schlecht besoldeter Rhetorikprofessor che Natur der Völker“, blieben ohne hatte; Philosophen würdigten, dass Den- und Hofpoet in der Vaterstadt durch- Echo; selbst Goethe, 1787 in Neapel zu ken und Handeln des Menschen für ihn schlagen. Für seine Einsicht, dass man die Besuch, erkannte nur Orakelsprüche, als nur zwei Seiten einer Medaille waren.

Nick Drake Anna Amalia 24. Oktober 1739 bis 10. April 1807 19. Juni 1948 bis 25. November 1974 Für die Tochter des Herzogs von Zwei Nächte, einen Tontechniker und Braunschweig war es ein materiel- nicht viel mehr braucht der britische Mu- ler und geistiger Abstieg, als sie siker, als er seine dritte Platte aufnimmt. 1756 ins Fürstenhaus von Sachsen- Anfang 1972 kommt „Pink Moon“ heraus Weimar und Eisenach einheiratete: – und floppt wie zuvor „Five Leaves Kaum ein Ländchen ringsum war Left“ (1969) und „Bryter Layter“ (1970). so heruntergekommen wie das Nick Drake, Sänger und Gitarrist, Dich- winzige Fürstentum. Doch die zier- ter und Komponist, zieht zurück zu sei- liche Welfin, hellwach und ener- nen Eltern. Am 25. November 1974 findet gisch, brachte nach dem frühen seine Mutter ihn quer auf dem Bett lie- Tod ihres Mannes nicht nur die gend, tot: Drake hatte eine Überdosis Finanzen leidlich in Ordnung, sie seines Antidepressivums geschluckt. holte auch Kultur ins Ilm-Nest Wei- Neben dem Bett lag Albert Camus’ Buch mar: Der Dichterstar Wieland wur- „Der Mythos von Sisyphos“. Erst in de als Erzieher ihres Sohns Carl den achtziger Jahren wurden Drakes August engagiert, und 1776 bekam Platten mit ihrer Mischung aus Folk, Jazz Goethe – trotz heftigen Wider- und Klassik neu entdeckt. Seither zählt stands der Hofbeamten – einen er zu den Legenden der Pop-Geschichte. Posten in der Verwaltung. Der Rest ist Literaturgeschichte. Anna Ama- lia förderte weiter Wissenschaften und Künste und inszenierte geselli- ge Amüsements, aber sie lernte auch selbst Sprachen, reiste bis nach Neapel und Apulien, dichtete,

übersetzte, malte, komponierte AKG und begründete die heute nach ihr Anna Amalia (Porträt von J. H. W. Tischbein, 1789) benannte Bibliothek. Lange wegen ihres Rokoko-Geschmacks belächelt, ist treibende Kraft eines „Musenhofs“, der

REDFERNS / K. M. / FOTEX die weit blickende Dame in der Achtung sich aus Salon-Anfängen zur klassischen Drake (1972) der Historiker immer weiter gestiegen: als Mitte Deutschlands entwickelte.

176 der spiegel 52/1999 Kultur

und vitale Werke. Nach Gideon Klein fast drei Jahren in The- 6. Dezember 1919 bis Ende Februar 1944 resienstadt wurde der „traumhaft schöne Es waren Weltklassekonzerte: Hochbe- Mensch“, so eine Mit- gabte Komponisten ließen ihre neuen gefangene, ins KZ Werke von Spitzeninterpreten spielen. Auschwitz gebracht. Er Aufführungsort: das Lager Theresien- Klein (um 1941) starb in einem kleine- stadt. Dorthin waren sie abtransportiert ren schlesischen Ne- worden, die jüdischen Tonkünstler Pavel benlager, kurz vor der Befreiung, wenige

Haas, Hans Krása, Viktor Ullmann und Wochen nach seinem 25. Geburtstag. AKG Gideon Klein, und ihre Aufgabe war ma- Laut Experten wäre Klein, „hätte er Sévigné kaber. Sie sollten sich, so der zynische überlebt, nach dem Krieg zu einer der NS-Jargon, um die „Freizeitgestaltung“ leitenden Persönlichkeiten des Musik- kümmern. Häftling Klein komponierte lebens geworden“. Seine erschütternd Madame de Sévigné unermüdlich, Chorstücke, Lieder, auch radikalen Stücke sind erst vor wenigen 5. Februar 1626 bis 16. April 1696 eine Sonate und ein Streichtrio – trotzige Jahren neu entdeckt worden. Ihre Briefe waren Kunstwerke. Im klassi- schen Französisch formuliert, schilderte die Marquise geistreich und witzig Men- Paula Modersohn-Becker schen, Begebenheiten und die Skandale 8. Februar 1876 bis 20. November 1907 und Sensationen ihrer Epoche – ein Por- trät der höfischen Gesellschaft zur Zeit Früh spürte sie, „dass alle Menschen sich Ludwigs XIV. Empfängerin der meisten an mir erschrecken“. Und doch war ihr Episteln war ihre geliebte Tochter, die klar: „Ich darf nicht zurück.“ So studier- Gräfin von Grignan, die fernab in der te Paula Becker gegen den Widerstand Provence lebte. „Ich hätte die Tochter des Vaters Malerei, fasste Fuß in der geheiratet, um die Briefe der Mutter zu Künstlerkolonie Worpswede und heirate- bekommen“, bekannte ein späterer Be- te den arrivierten Kollegen Otto Moder- wunderer. Denn die Briefe der Markgrä- sohn. Doch der fand ihre Bilder primitiv fin gehören erst seit ihrem Tod zur Welt- („Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, literatur. Und noch heute wird Madame Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cre- von ihren Landsleuten zitiert. Ein auslän- tins“). Mehrfach floh sie deshalb nach discher Fahrgast brach einmal auf der Paris, wollte sich scheiden lassen, kehrte Pariser Place de la Concorde über das dann doch zurück – und starb kurz nach unerwartet schöne Wetter in einen Freu- der Geburt einer Tochter. Vier Bilder hat- denruf aus. Der Taxifahrer erwiderte un- te sie bei Lebzeiten verkauft; das zaghaf- gerührt: „Man darf nie die Hoffnung auf- te Interesse der zwanziger Jahre erstick- geben. Ich gehöre, wie Frau von Sévigné, ten die Nazis mit dem Prädikat „entar- ,zu den Beharrlichsten an ihrem Hof‘.“ tet“. Erst nach 1945 fand die Eigenstän-

AKG digkeit ihres überraschend umfangrei- Modersohn-Becker-Selbstbildnis (1905/06) chen Werks verdiente Bewunderung. Friedrich Hölderlin 20. März 1770 bis 7. Juni 1843 der Grundform entschied sich der Meis- Francesco Borromini ter gegen das übliche Kreuz und für ein In der Turmstube des Tübinger 27. September 1599 bis 2. August 1667 Oval. Schreinermeisters Zimmer verbrachte er seine letzten „Borromini goes Bilbao“, hieß es jüngst Jahrzehnte, geistig so verwirrt, auf einer Internetseite – Jubel und Trubel dass er nur zuweilen rätselhaft allerorten zum 400. Geburtstag des Bau- präzise Verse reimte und gele- künstlers. Dabei war der Ruf des Italie- gentlich mit „Scardanelli“ un- ners zu Lebzeiten miserabel. Er fühlte terschrieb. Dabei war Hölder- sich verfolgt, stritt unentwegt mit seinen lin theologischer Elite-Zögling römischen Auftraggebern und brachte gewesen, hatte mit späteren sich schließlich um. Seine Biografen läs- Geistesgrößen wie Schelling terten, Borromini, der „unfähige Goti- und Hegel die Stube geteilt Hölderlin (1823) ker“, habe nur „Verrückheiten“ hervor- und philosophisch-revolutio- gebracht. Doch inzwischen gelten seine näre Pläne geschmiedet. Auf Hauslehrer- Arbeiten, wie die Kirche San Carlo alle stellen angewiesen, vom Mentor Schiller Quattro Fontane in Rom, als Schlüssel- fallen gelassen, suchte er für sich weiter werke des Barock – gerade weil ihre ge- nach der Einheit von Dichten, Denken wagte Form Modernismen wie Frank und Handeln – wie sein Romanheld, der O. Gehrys bizarres Guggenheim-Haus Freiheitskämpfer Hyperion. Aber 1806 in Bilbao vorwegzunehmen scheint: Die brach er zusammen. Erst über 100 Jahre Wände schwingen vor und zurück; bei danach wurden seine gewaltigen Spät- Hymnen herausgegeben und ihr Autor

Borromini-Kirche San Carlo in Rom AKG als visionärer Poet anerkannt. 177 Kultur VON NIETZSCHE ZU NADDEL Am Ende des ablaufenden Jahrhunderts steht ein Sieger, der das kommende erst recht bestimmen wird: die Massenkultur aus Pop-Event und Endlos-Talk, effektvoll, aber ohne Ziel.

Love-Parade an Berliner Siegessäule: „Menschsein als reine Körperlichkeit, als Trivialität des Genießens“

178 der spiegel 52/1999 REUTERS

lles fing mit diesem wild wu- chernden Knallerbsenstrauch des Nachbarn an, der sich un- aufhaltsam durch den Maschen- drahtzaun auf das Grundstück von Frau Regina Zindler vor- A kämpfte. Ein klarer Fall für Fern- sehrichterin Barbara Salesch, die im Kom- merzsender Sat 1 jeden Tag für Recht und Ordnung rund um Wohnzimmer und Jä- gerzaun sorgt. Unglückseligerweise sprach Klägerin Zindler im Streit wider den bös- artigen Übergriff von Nachbars Strauch ein breites Sächsisch, das den rund um die Uhr fahndenden Mitarbeitern der Come- dy-Sendung „TV Total“ im Konkurrenz- sender Pro Sieben nicht entgehen konnte. Als der Moderator Stefan Raab, von dem Smash-Hits stammen wie „Hier kommt die Maus“, zum ersten Mal den audiovisuellen O-Ton-Miniclip in seiner Sendung präsen- tierte, war allen Experten klar: Das wird „Kult“. Und es wurde Kult. Aus dem Wort „Maschendrooahtzauun“, unzählige Male wiederholt und immer wie- DPA Startenöre Domingo, Carreras, Pavarotti

S. ZUDER / BILDERBERG Monströses „O sole mio“-Geplärre der spiegel 52/1999 179 Kultur der in andere Sinnzusammenhänge mon- offenbar nichts mehr zu sagen, weil das In- tete: „Anything goes“ – alles ist erlaubt. In tiert, wurde ein mehrstrophiger Country- dividuum, das über diese Kultur jahrhun- ihr wurden nicht mehr nur, wie bei Warhol, Song in englischer Sprache, gesungen von dertelang die eigene Unersetzlichkeit, den Medien-Ikonen und Suppendosen, sondern Stefan Raab und der Band Truck Stop, eine je eigenen Schmerz und Triumph definier- auch die großen Bilder, Säulen und Erzäh- CD, ein Mega-Hit, ein Coup, ein Event. Im te, schon längst im Koma liegt. lungen der Vergangenheit ästhetisch ver- ZDF-Jahresrückblick „Menschen ’99“ mit Nur so lässt sich verstehen, dass seit dem ramscht. Johannes B. Kerner trat Raab neben Dadaismus der zwanziger Jahre die Kunst Was heute als „Crossover“-Kultur, als Rudolf Scharping (Kosovo-Krieger) und vor allem damit beschäftigt ist, die eigenen kreative Vermischung unterschiedlichster Lothar Matthäus (Rente mit 60) auf. Frau Genre- und Harmonie-Regeln, ja sogar die Bild-, Ton- und Sprachwelten gefeiert wird, Zindler, die mit zehn Pfennig pro CD am eigene Existenzberechtigung in Frage zu ist nichts als eine Fortsetzung dieser Ge- Verkaufserlös beteiligt ist, wurde derweil stellen – am folgenreichsten bei Marcel schichte von Dekonstruktion und Entzau- für einige Tage in eine Nervenklinik ein- Duchamp, der seine Attacken auf den „Ge- berung, die mit Dada begann. Immer wie- geliefert. Wochenlang hatte sie die Hänse- schmack“ damit krönte, dass er ein indu- der, mit fast schon anrührender Hartnä- leien ihrer Mitdörfler erdulden müssen. striell hergestelltes Urinoir zum Kunstwerk ckigkeit, werden dabei Heiligtümer und „Irgendwie genial, dieser Maschendraht- erklärte. Tempelbezirke gestürmt und geschändet, zaun“, hört man Robert Musil spöttisch aus Der amerikanische Popstar Andy Warhol die längst zerfallen sind – und deren „bür- dem Grabe rufen. Eine Geschichte wie fürs war ein Epigone von Duchamp. Warhol, gerliche“ Gemeinden, die es immer neu zu Systemtheorie-Seminar über die Re- dundanzen der Mediengesellschaft: Postmoderne pur, Dada, Pop und Ironie. Das Medium, pardon: der Maschendrahtzaun ist die Botschaft. Die Vita wird zur Virtualität. Da steht es nun, das Individuum an der Schwelle zum 21. Jahrhun- dert. Es bemüht sich um Persön- lichkeit und Charakter, wehrt sich und beschwert sich, versucht, sich vom Nachbarn abzugrenzen, und kämpft um sein Recht – doch im Handumdrehen wird es eingespeist in die große, alles zermahlende Maschine der Massenkultur, vor- wärts und rückwärts, gnadenlos und rückstandsfrei: Material, das ver- wertet wird; mehr noch: das sich selbst verwertet. Das ist sie, die Dialektik zwi- schen Individualisierung und Glo- balisierung, zwischen Wohnzimmer und Wall Street, zwischen Knall-

erbsenstrauch und dem Kosmos der MOSES STEFAN Massenkommunikation: Alles wird Kulturkritiker Strauß: „Die telekratische Öffentlichkeit macht die Köpfe überflüssig“ zum Zeichen. Der Mensch, zugleich total vereinzelt und total angepasst, wird der stets totenbleich geschminkte, aus „schocken“ gilt, eigentlich schon vor hun- zum Zitat. der Werbung zur Kunst übergelaufene Se- dert Jahren, angesichts der Anti-Spießer- Spitzwinklig, schräg, labyrinthisch, rien-Maler farbenfroher Marilyn-Monroe- Attacken eines Flaubert oder Nietzsche, bizarr, ein gebauter Schmerz, ein Beton- Köpfe und Campbell’s-Suppendosen, be- kein kompakter Gegner mehr waren. tempel der Ausweglosigkeit, expressionis- kannte in den sechziger Jahren: „Ich möch- Crossover ist ein Symptom für den Über- tisch schreiendes Monument, ein Symbol- te, dass jedermann gleich denkt.“ Und: gang von der alten, intim und individualis- gebäude des unbehausten Menschen – so „Ich glaube, dass jeder eine Maschine sein tisch grundierten Hochkultur, in deren wirkt das vor Jahresfrist zugänglich ge- sollte.“ ernstem, forderndem Grundakkord ein wordene Jüdische Museum in Berlin, ent- „All is pretty“ – unter dieses Motto stell- jahrtausendealter Totenkult nachhallte, zu worfen von Daniel Libeskind. Obwohl es te er den von ihm ironisch-provokativ be- einem endgültigen Triumph der Massen- erst im Jahr 2001 offiziell eröffnet wird, jahten Triumph der Massenkultur, den Sieg kultur. Zahlenmäßig und kommerziell be- konnte es jüngst den hunderttausendsten des Immergleichen über die esoterische herrschen deren auffälligste Protagonisten Besucher begrüßen. Abweichung, des Banalen und – Popstars, Filmschauspieler, Ein phänomenaler Erfolg, den niemand Einförmigen über den Traum Talkmaster – schon heute die vorausgesehen hat. Kein Zweifel: Das Mu- vom unverwechselbaren und Der Sieg des Künste. Aber solange „E-Mu- seum wurde zum „Event“, es ist „in“, sich darum ewig rätselhaften Indi- sik“ und „U-Musik“, Theater in ihm verirrt zu haben. Dass es außer der viduum. Neu und zukunfts- Immergleichen und Klamauk, Literatur und eigenen Hülle nichts ausstellt, stört nie- trächtig daran war nicht die über die Unterhaltungsserie, Nietzsche manden, ja es macht vielleicht die beson- Diagnose, sondern der unver- und Naddel überhaupt noch un- dere Magie des Ganzen aus. Pompös in- schämt optimistische Tonfall, in Abweichung, terschieden werden, gibt es zu- szenierte Leere – ist das die Botschaft der dem sie vorgetragen wurde. des Banalen mindest die Erinnerung an eine Kultur nach dem Tod Gottes und dem Ver- Alles ist nett – damit war ästhetische Höhenluft, die dem enden linker wie rechter Utopien? schon die Postmoderne der über das Rezipienten eher kontemplative Die anspruchsvolle Kultur, die von der achtziger Jahre eingeläutet, de- Rätselhafte Einsamkeit als wohlige Massen- Institution des Museums gehütet wird, hat ren Variation des Themas lau- zugehörigkeit bescherte.

180 der spiegel 52/1999 Der womöglich unaufhaltsame Sieg der Massenkultur wurde nach Nietzsche be- sonders eindrucksvoll von dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset be- schworen. Die „Überfüllung“ der Erde, so Ortega y Gasset in seinem 1930 erschiene- nen Buch „Der Aufstand der Massen“, werde mehr und mehr – auch dank De- mokratie und Industrialisierung – zu einer kulturellen Qualität; diese sanktioniere ei- nen humanen Typus, dem der Respekt vor dem Vergangenen ebenso abhanden ge- kommen sei wie die Achtung jeglichen An- dersseins. Ortega y Gasset vergleicht die- sen uns sehr vertraut erscheinenden Typus mit einem verwöhnten Kind, das „alles darf und zu nichts verpflichtet ist“, ohne Kenntnis jener Grenzen, die nur das Er- lebnis fremder oder vergangener Überle- genheit verschaffen kann: Man ist „von sich selbst entzückt“. In der akuten Mediengesellschaft gilt: Prätentiöse Stilisierung ersetzt die reale Aktion, der handelnde Mensch wird zur selbstverliebten Monade, die mit anderen im virtuellen Single-Chatroom „Herz- schmerz“ via Internet kommuniziert: „Hallo, ist da wer?“ Unfrei flottierende „Elementarteilchen“ (Michel Houelle- becq), wohin man blickt. Die wachsende Unfähigkeit, zwischen dem eigenen Ich und der Welt überhaupt noch zu unterscheiden, führt in eine halb- autistische Ego-Höhle. Der rastlos nach Bewunderung suchende Narziss verabso- lutiert die Gegenwart allein um der Sehn- sucht willen, selbst gegenwärtig, unüber- sehbar in der Welt, wichtig und bedeutend zu sein. Da wird jedes Jetzt zum popkul- turellen Ich-Ich-Ich. Ein Spiel ohne Gren- zen, die Tyrannei der Infantilität.

DPA Auch andere Denker des Jahrhunderts Pop-Performance (mit Michael Jackson, 1996): Das Individuum ist aufgelöst in Funktion sahen die orientierungslose Masse Mensch im Gleichschritt die Zukunft erobern. Max Im Unterschied zu den sechziger Jahren stadion als in eines jener Opernhäuser, de- Horkheimer und Theodor W. Adorno for- braucht sich der Bürger heute nicht mehr ren Tempelfassaden noch stets den Ab- mulierten bereits 1944 in ihrem berühmten vor Filz, Fett und Comic-Witz zu ekeln, er stand zum kruden Alltag markierten. Werk „Dialektik der Aufklärung“: „Der darf die Wonnen des Banalen und Ordi- „Man wird die Schönheit leben, nicht Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist nären offen genießen. „Shoppen & Ficken“ mehr vorstellen“, schrieb Albert Camus die unaufhaltsame Regression … Kultur ist bühnenreif, lustvoll heulen Intellektuelle 1967. Die Einheit von Kunst und Leben, schlägt heute alles mit Ähnlichkeit.“ angesichts von Hollywood-Melodramen von der auch Joseph Beuys geträumt hat, Der Philosoph Karl Jaspers schrieb 1931 wie „Titanic“ und „Pferdeflüsterer“ in die könnte wirklich werden – aber nicht als über „Die geistige Situation der Zeit“: Tücher, während die avancierte Literatur Aufschwung des Lebens zu einer ästheti- Das Individuum ist aufgelöst in Funktion. von marktbewussten Drehbuchschreibern schen Vision seiner idealen Möglichkeiten, Das Menschsein wird reduziert auf das gleich mit dem Blick aufs große Publikum sondern als lärmende Dauerparty der Ent- Allgemeine: auf Vitalität als leistungsfähi- orchestriert wird; in Talkshows mutiert sublimierung. Die grellbunte Verwurstung ge Körperlichkeit, auf die Trivialität des jede Dumpfbacke in Trainingshosen zum der Historie seit Noahs Arche zum Film- Genießens. In der Auflösung zur Funktion Bekenner ihres innersten Antriebs – „Ur- filmfilm gehört dazu, präsentiert von wird das Dasein seiner geschichtlichen Be- laub, Stimmung,Alkohol, dann kannste wie „Yogurette“. Fun, Fun, Fun, bis man nicht sonderheit entkleidet; bis zum Extrem der ein Stier“ (Wolfgang, 43), und die „Drei mehr kann: Wird jedermann zum Baller- Nivellierung der Lebensalter. Da … Sach- Tenöre“ Carreras, Pavarotti und Domingo mann? lichkeit die Verständlichkeit für jedermann mixen hemmungslos Arien von Verdi und Es wäre die Epoche des „letzten Men- durch Einfachheit verlangt, führt sie zu ei- Puccini, gewürzt mit „O sole mio“-Ge- schen“, die Nietzsche im „Zarathustra“ ner Weltsprache aller menschlichen Ver- plärre, zum erfolgreichsten Serienauftritt vorausgesagt hat – „die Zeit, wo der haltensweisen. Nicht nur Moden, auch Re- seit dem „Raumschiff Enterprise“ – kein Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehn- geln des Umgangs, Gebärden, Redewei- Zufall, dass diese monströse Gesangs- sucht über den Menschen hinaus wirft“, sen, Weisen des Berichtens werden ein- attacke auf den guten Geschmack bei einer wenn auf der „klein gewordenen“ Erde heitlich. Fußball-Weltmeisterschaft begann. Verdi der letzte Mensch „hüpft“, der „alles klein Das Idiom dieser „Weltsprache“ ist als Pop-Event passt besser ins Fußball- macht“. längst gefunden: die anglo-amerikanischen

der spiegel 52/1999 181 Kultur

Unterhaltungsmuster, die die komplexe Hilfe flexibler „Bastelbiogra- Bei den ganz Jungen etwa, Wirklichkeit auf einfache, möglichst „gro- fien“ neue Arten von „Selbst- Die US-Kultur den „99ern“ (SPIEGEL 28/ ße“ Stimmungen und klare Gegensätze verantwortlichkeit“ zu entwi- 1999), hat sich gezeigt, dass He- reduzieren – und die englische Sprache, ckeln, hält Hondrich den ist ein Export- donismus, Techno-Ekstase und die nicht nur die Show-Welt, die Compu- Befund für ein Phänomen der Schlager, weil Love-Parade gleichberechtigt tertechnik und die Naturwissenschaften Oberfläche. Am Beispiel der neben altmodischen Vorstel- dominiert, sondern auch deutschen Tou- steigenden Ehescheidungsrate sie so viele lungen von Treue, beruflichem ristikmanagern abzuverlangen scheint, deutet er auf zwei exakt gegen- Einwanderer- Engagement und familiärem Wandern im Schnee als „Winter-Walking“ läufige Tendenzen, deren Kräf- Glück existieren. anzupreisen. teverhältnis über die Zukunft Eigenheiten Eine ähnliche Gleichzeitig- Die US-Dominanz ist kein Zufall: Das im 21. Jahrhundert mitbestim- integriert keit mag für jene Kunstformen Freiheits- und Glücksstreben des Indivi- men wird: Auf der einen Seite der Ironie und des Zynismus duums ist der oberste Verfassungswert der wird der Bund fürs Leben im gelten, auf deren spaßabge- amerikanischen Kultur. Unter der Schirm- Namen des individuellen Glücks und der wandter Seite immer noch der ernsthafte, herrschaft dieses Postulats gelang die absoluten Gegenwart, im Geiste emanzi- aber desillusionierte Drang zu spüren ist, Integration vieler unterschiedlicher Ein- piert romantischer, „moderner“ Selbstver- der Welt trotz alledem den schon so fürch- wanderergruppen, doch ihre kulturellen wirklichung geschlossen; auf der anderen terlich ramponierten Spiegel der Aufklä- Besonderheiten wurden dabei zugleich Seite aber auch, weil die kulturelle Norm rung vorzuhalten. abgeschliffen und gesellschaftlich verwer- einer harmonischen Dauerbeziehung im- Walter Benjamin, der verzweifelte Op- tet – bis sie zum Exportprodukt taugten: mer noch Gültigkeit und Ausstrahlung timist, sprach im Vorwort zu seinem „Pas- Eine ethnisch-kulturelle „Kreolisierung“ besitzt, Bedürfnis und Vorstellung einer sagen-Werk“ noch von jenem Traum, in der afrikanischen, asiatischen, indiani- unbefragbaren, gleichsam vormodernen dem „jeder Epoche die ihr folgende in Bil- schen und hispanisch-europäischen Ein- Sicherheit und Geborgenheit. dern vor Augen tritt“. In ihm, so meinte er flüsse. An diesem Spannungsverhältnis schei- 1935, „erscheint die letztere vermählt mit Die kulturelle Vielfalt wird dabei zwar tern nicht ohne Grund viele Paare: Es ist Elementen der Urgeschichte, das heißt ei- anerkannt, zugleich aber zum folkloris- der haarfeine Riss, der überall durch die ner klassenlosen Gesellschaft“. tisch-populären Reiz verflacht, der das An- Gesellschaft geht. Leitfrage: Wie viel Frei- Das 21. Jahrhundert könnte sich an die- derssein des jeweils Fremden effektvoll heit nehm ich mir? Und wie viel lass ich ser hoffnungsvollen Prophezeiung, wie in überspielt. Ein Kulturmodell, das von Ame- mir nehmen? einer Farce, die auf die Tragödie folgt, bit- rika aus die Welt erobern dürfte. So funktionieren zahlreiche Individuali- terböse rächen: Die klassenlose Gesell- Dem widerspricht nur scheinbar, dass sierungsschritte als „Durchgangsstationen“ schaft als Sieg der Massenkultur – schreck- der wahre „melting pot“, der „Durchlauf- (Hondrich) für unerkannte Kollektivie- lich bunt und einfältig, grelldumpf blöde erhitzer“ der Moderne die immer weiter rungsprozesse. Bindungen an Lebenspart- und eindimensional, Klassen und Gene- fortschreitende „Individualisierung“ der ner werden zwar häufiger gelöst als früher, rationen übergreifend auf Teletubbie- Lebensverhältnisse ist, wie der Soziologe doch setzen sich diese individuellen Ver- Niveau, eine einzige Simulation von Le- Karl Otto Hondrich formuliert. Die Bin- haltensweisen zugleich als kollektive Nor- ben, hin und her geworfen zwischen End- dungen an nationale, lokale, kulturelle und men wie „Selbstverwirklichung“, „Spon- los-Talk, Dauersex und Gewaltexzessen, religiöse Traditionen lockern sich. Ehe, Kir- taneität“ oder „Konsumglück“ durch – primitivster politischer Skandalgier und che, Staat verlieren ihre normative Kraft eine komplexe Dialektik zwischen Indi- ungebremstem Exhibitionismus bis ins und verblassen zu Rahmenveranstaltungen vidualisierung und Massenkultur, Avant- letzte Futonbett. individueller Glückssuche. garde und Mainstream, die stets zu neuen Keine ästhetischen Regeln oder norma- Während der Gesellschaftstheoretiker Kombinationen von Lebensstil und Werte- tiven Grenzen hindern das – hier und da Ulrich Beck darin eine Chance sieht, mit system führt. geniale – Individuum am rasanten Cross- over von Erhabenem und Vulgärem, Rest- geist und Schwachsinn. Zugleich wird die Herrschaft der Unterhaltungsindustrie übermächtig.Verona Feldbusch wird Groß- mutter sein und ihren Enkeln davon er- zählen, wie es war, als man im Fernsehen noch ganze Sätze sprechen durfte, bevor man sich auszog. „Die Transzendenz ist in tausende von Fragmenten zerborsten“, sagt der franzö- sische Philosoph Jean Baudrillard. Und der deutsche Dramatiker und „Bocksgesang“- Prophet Botho Strauß fügt hinzu: „Das Re- gime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zu- gleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig.“ Werden solch düstere Sätze im kom- menden Jahrhundert noch wahrer, als sie es heute schon sind? Oder gibt es doch eine Gegentendenz, Überlebenschancen für Individualität und Differenz, Würde und kreative Autonomie des Subjekts?

B. UZZLE / WOODFIN CAMP / AGENTUR FOCUS / AGENTUR B. UZZLE / WOODFIN CAMP Wir wissen es nicht. Ehrlich. Woodstock-Festival (1969): Heiligtümer gestürmt, die längst zerfallen sind Reinhard Mohr, Mathias Schreiber

182 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur

Elke Heidenreich Die Schrift- stellerin und Kritikerin, 56 („Kolonien der Liebe“), wurde zunächst populär als „Reif wie Beethoven“ Rundfunk- und TV-Journalistin. Verfallsdatum 2000: Die Zeitenwende könnte viele Gegenwartskünstler π O Gott, könnte das denn passieren? Ich bald alt aussehen lassen. Der SPIEGEL fragte elf Prominente nach ihren bin noch nie auf die Idee gekommen, dass ich im nächsten Jahrhundert nicht so wahn- Ängsten und Hoffnungen. sinnig wichtig sein könnte wie in diesem – was kann ich bloß tun? Ich könnte mir ein π Wie wollen Sie verhindern, dass Sie von Januar an bloß noch Ohr abschneiden, das hat schon mal einem als Künstler des letzten Jahrhunderts gelten? geholfen, unvergessen zu bleiben. Oder soll ich nicht lieber gleich den Becher Schier- π Wird nach Ihrer Einschätzung die Kultur im nächsten Jahrhundert lingssaft leeren? Ich bin verzweifelt. Ich wichtiger oder unwichtiger? glaube, ich lasse mich einfach von Christo verpacken. Dann werde ich einerseits blei- bend berühmt und muss andererseits das ganze Elend nicht mehr sehen.

π Was für eine Frage! Wir sehen doch, dass die Kultur das Allerwichtigste überhaupt ist – im Fernsehen: fast nie Sport, immer nur Kultur. Fußballspiele werden einfach abgebrochen, wenn „Aspekte“ kommt. Kultur auf den ersten Seiten aller Zeitun- gen, und erst die Streitkultur der Abge- ordneten! Die Kulturbeflissenheit unserer Politiker ist ja schon sprichwörtlich, neulich sah ich gleich zwei Herren aus der CDU auf einmal in einer Theaterpremiere, und ich bin sicher, so was gibt es in anderen Städten auch. Wirtschaft, Geld, Verteidi- gung – nichts ist in diesem Land so wich- tig wie die Kultur, vom Kunsthonig bis zur Expo, und jeder Politiker weiß seit die- sem Jahr, was für ein wunderbarer Kom- ponist Goethe war. (Oder war es Schiller? Egal.) Darauf wollen wir stolz sein, so soll

W. WESENER W. es bleiben.

ken erzeugte, die nichts bedeuten. 1951 Gerhard Merz Der 1947 geborene meinte José Ortega y Gasset im Gespräch Bildhauer und Raumkünstler gestaltete mit Octavio Paz, dass die einzig mögliche 1997 den deutschen Pavillon auf der Bien- Tätigkeit in der modernen Welt das Denken nale in Venedig. sei, und er schließt hart und apodiktisch: „Alles andere können Sie vergessen.“ π Ich bin ein Künstler des 21. Jahrhunderts. Der Laden hat dichtgemacht, auch wenn die es in New York noch nicht wissen. π 1908 endete das 1. futuristische Manifest mit dem Ruf „Kopf hoch! … Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Ster- nen zu!“ Bernhard Schlink Der Jurist Jetzt habe ich die Hoffnung, dass diese und Schriftsteller, 55, Sterne endlich die Funktion von Kunst in hat mit seinem Ro- die rechtmäßigen Bahnen lenken mögen, man „Der Vorleser“ nämlich dorthin, wo die Philosophen und einen Welterfolg er- die reinen Wissenschaftler die Welt der zielt. Ideen und nicht die Welt der Sinne erfor- schen. Schluss mit dem Spiel der Kunst- π Ein Jahrhundert ist formen, Kunst ist nichts für große und klei- für einen Schriftstel- ne Kinder, und Kultur ist schon gar nicht ler genug. gemeint, sondern eine Trennlinie zwischen „allem anderen“ und der Kunst als radi- π Die Kultur wird im kale Ausnahme. nächsten Jahrhundert Im 21. Jahrhundert wird man erkennen, so wichtig bleiben, dass die Anarchie der individuellen An- wie sie immer war – AGENTUR FOCUSAGENTUR strengungen nur eine Staubwolke von Wer- was sonst? PRESS ACTION

184 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur

Harald Schmidt Mit der 1995 ge- starteten „Harald Schmidt Show“ ist der bühnenerfahrene Entertainer, 42, zum TV- Star der Intellektuellen aufgestiegen.

π Das Schicksal will es, dass ich als Brückenkünstler das 20. mit dem 21. Jahr- hundert verbinde. Vergleichbar mit Krea- tiven wie Beethoven und Napoleon wird es meine Aufgabe sein, als Klassiker das Tor zur Moderne aufzustoßen, gewissermaßen taub von Elba aus weiterzuregieren. Ver- einfacht: Mein Spätwerk kommt noch! Als letzten Bildschirmkünstler, der noch in der „Peter-Alexander-Show“ aufgetreten ist und dennoch Einzug ins Internet gehalten hat, fällt mir die Aufgabe zu, im Gegensatz zu den Frühvollendeten durch ein reifes, heiteres und von Weisheit durchdrungenes Alterswerk die Menschheit mit den Irr-

F. ROGNER / NETZHAUT F. tümern eines Kopernikus oder Newton zu versöhnen. Mein gesamtes bisheriges die mehr oder weniger geschickt das riesi- Schaffen dient dem Zweck, die Schwer- Georg Ringsgwandl Der Lie- ge Loch zu füllen versuchen, das entstand, kraftlüge zu entlarven. Ich bin kurz davor. dermacher („Das Letzte“), Kabarettist als in Deutschland zwischen 1933 und 1945 und Arzt, 51, wurde früh als „Punk-Qual- Geist, Kunst und Kultur vernichtet oder π Natürlich wird Kultur im nächsten Jahr- tinger“ bekannt. vertrieben wurden. Unsere Errungen- hundert viel wichtiger, allerdings nur für schaften sind die Liebe zu Allergien, die eine sehr kleine Elite. Durch Börsenspe- π Der Gedanke, man könnte im neuen Umwelt- und Verarmungsangst sowie eine Jahrtausend eventuell zum alten Eisen gewisse Unschlüssigkeit im Umgang mit gehören, kann ja nur ein ganz besonders Amokschützen und Neonazis.Wir werden verzicktes Gehirn umtreiben. Der recht- als Privilegierte in die Geschichte einfah- schaffende Kunstgewerbler geht am besten ren, denen Sonnenfinsternis und Jahrtau- seinem Tagwerk nach und kümmert sich sendwende in einem Jahr beschert war. nicht darum, ob und wie seine Erzeugnis- Nicht unbedingt bedeutend, aber als die, se später noch jemand kratzen. denen es gut ging. Zur Zeit sieht es nämlich so aus, dass uns die Archivare als jene abheften werden, π Heute, wo schon jedes Kaff seinen Kul- die auf den Katastrophen der vorherigen turreferenten hat, wo an jeder Ecke Mu- Generation herumkauen. Als diejenigen, seen gebaut werden und Ausstellungen stattfinden, wo sogar die Kaf- feefahrten Goethes Geburts- haus nicht auslassen, kann In der Zukunft lesen man Kunst und Kultur gar Glauben Sie, dass die deutsche nicht mehr weiter aufblasen. Sprache das nächste Jahrtausend Gott sei Dank ist es bei uns überleben wird? nicht mehr so, dass Diktatur Ja 78 und Armut die Entwicklung künstlerischer Talente ver- Nein 20 hindern. Ganz im bösen Ge- genteil. Das einzige, was die Werden Sie im nächsten Jahr- Kunst bei uns noch töten hundert noch Bücher lesen? kann, sind viel Geld und ge- Ja 91 ebnete Wege. Jeder kreativ noch so Nein 8 Schmächtige wird an die Öf- fentlichkeit gezerrt. Es gibt Was lesen Sie lieber: eher er- zwar nicht mehr Künstler,

zählende Literatur oder eher aber das Marketing wird im- FOCUS SCHIRNHOFEN / AGENTUR PLUS P. Sachbücher bzw. Zeitschriften? mer besser. Die Explosion der Medienwelt sollte nicht dar- kulation im Internet steinreich geworden, Literatur 20 über hinwegtäuschen, dass die wird sie in ihren Bibliotheken ihren pri- Sachbücher, 52 kreative Substanz im Volke vaten Symphonieorchestern lauschen, Zeitschriften nicht zu vermehren ist. Wal- während in den Nebengebäuden das Ge- Beides 24 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom dorf-Schulen und Drehbuch- sinde – dank Gentechnologie steinalt mit Lese überhaupt 10. und 11. Dezember; rund 1000 workshops machen keinen den Körpern von Twens – sich alles run- 4 Befragte; Angaben in Prozent; an nicht 100 fehlende Prozent: keine Angabe einzigen Nabokov oder Spiel- terlädt, was der „Mensch“ so braucht, für berg. Märkte und Erlöse. Prosit Neujahr!

186 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Zukunft G. KREWITT / VISUM

10, die ja noch unter uns sind, quasi von π Wenn wir uns erst an das Verfallsdatum Walter Kempowski Der Schrift- Natur aus unsereinem überlegen sind. Ab- 00 gewöhnt haben und mit 02 oder 03 uns steller, 70, hat als Romancier („Heile gesehen davon, dass man ja hoffentlich bereits auf dem Weg befinden, werden wir Welt“) und Stimmensammler („Echolot“) nicht noch im Jahre 99 sterben wird, mag feststellen, dass sich die Kultur wie eh und das Jahrhundert durchmessen. gerade die Tatsache, dass man noch in die je um uns ausbreitet. Da sie dann älter ist, Weimarer Republik hineinreicht, dazu bei- wird sie reicher werden. Zu hoffen ist, dass π Es geht ja schon damit los, dass man als tragen, dass man auch im nächsten Jahr- man sich mehr mit den Schätzen der Ver- Jahrgang 29 von Geburt an aus einer an- hundert der Menschheit noch etwas zu gangenheit beschäftigt. Apropos Kultur: deren Zeit stammt. Ein 20er zu sein ist, sagen hat. Hauptsache ist: nicht locker- Wenn recht viele Ausländer eingebürgert wenn man alles überstanden hat, etwas Be- lassen, Hauptsache überhaupt Künstler und werden, kann es mit der Kultur ja nur auf- sonderes, so wie die Herren des Jahrgangs Hauptsache überhaupt gelten. wärts gehen. Zukunft GERDES / THOMAS & THOMAS GERDES / THOMAS M. WITT

Hannelore Elsner Die Schau- Karen Duve Gleich mit ihrem De- spielerin, 55, ist seit den Sechzigern eine büt, dem „Regenroman“, hatte die Er- der wenigen deutschen Stars; die bekann- zählerin, 38, durchschlagenden Erfolg – teste ihrer TV-Rollen ist die der so sinnlichen inzwischen folgte eine Sammlung mit wie energischen ARD-„Kommissarin“. Erzählungen („Keine Ahnung“). DPA π Ich verhindere dies, indem ich mich im- π Ich werde ständig darauf hinweisen, dass mer wieder neu erfinde. Eleanor Roose- das neue Jahrhundert erst mit dem Jahr velt hat mal gesagt: „Die Zukunft gehört Loriot (Vicco von Bülow) Die Auf- 2001 beginnt. jenen, die an die Schönheit ihrer Träume tritte und Sketche des Karikaturisten, Au- glauben.“ Da hat sie Recht. tors und Regisseurs, 76, beglücken seit 1967 π Wichtiger. Zumindest in Europa. Der Ma- die deutsche Fernsehnation. terialismus bröckelt ja bereits. Gleichzeitig π Die Kultur im nächsten Jahrtausend wird es in der Kultur eine weitere Niveau- muss wichtiger werden, weil sie die einzi- π Dumme Frage. Ich freue mich darüber, Verschiebung Richtung Stella-Musical ge- ge Sprache ist, die die Menschen immer kein Künstler des völlig unbekannten drit- ben. Kurzer Lyrik-Boom zwischen 2008 wieder verbindet. ten Jahrtausends zu sein. und 2011. Dann wieder Stella-Musical. Kultur

Für die einen handelt es sich um Inseln der Durs Grünbein Der 1962 in Dres- Philharmonie, für die andern ums große Franz Xaver Kroetz Die Thea- den geborene Lyriker („Schädelbasislek- Ganze als Goldgrund und Vorwand für blu- terstücke des Schriftstellers, Schauspielers tion“), der auch glänzende Essays schreibt, mige Reden. Daneben gibt es die Skeptiker, und Regisseurs, 53, wurden seit 1971 in erhielt 1995 den Georg-Büchner-Preis. die sich vielleicht noch zu einem Lob der mehr als 40 Ländern aufgeführt. Sanitäranlagen herbeilassen, sonst aber ab- π Warum sollte ich das denn verhindern winken. Keiner bestreitet, dass Kultur, wie π Sollte ich überhaupt zu den Künstlern wollen? Weil es eine Schwäche ist, gewesen sie sich heute geschäftstüchtig und festi- gehören, die man so wichtig findet in Zu- zu sein, ein Übel wie Krätze oder Inkonti- valhaft darstellt, auf Breitenwirkung an- kunft, dass man fragt, wann haben denn die nenz? Als hätte alles Gewesene den Haut- gelegt ist. Allem Anschein nach ist sie das gelebt, kann ich zufrieden sein: 1946 ge- gout des Verwesenden. Dabei riecht alles Reich der Gleichheit. Kunst dagegen war boren, Anfang der Neunziger abgeschrie- Werdende schließlich auch nur nach fri- lange Zeit eine Sache der Höherentwick- ben, weil ausgeschrieben. Ich werd doch scher Erde. Wir schreiten von Grab zu lung. schon seit Jahren nur noch mit toten Kol- Grab, gravitätisch wie Landvermesser, und Geniale Alpinisten kümmerten sich dar- legen in einem Atemzug genannt, wenn hoch hebt ein jeder sein Schild mit der Auf- um, dass die lieben Flachlandbewohner mein Name auch vorkommt zwischen schrift Zukunft. aus dem Staunen nicht mehr herauska- Brecht und Fleißer, Nestroy und Fassbin- Die Slogans wechseln, aber die Zuversicht men. So fühlten sich alle Beteiligten reich der, um mal letzte Nennungen, die ich hier bleibt: gnadenlos. Einmal heißt es Neuland beschenkt, und manch einem war das auf Teneriffa mitbekommen hab, zu er- unterm Pflug, ein andermal Märkte ohne Flügelrauschen Befreiung aus ärmlicher wähnen. Jaja, wie ein Schafott wird die Grenzen. Existenz. Schublade zugestoßen, da biste drin, da Vielleicht war ich ja schon in diesem Jahr- Der Blick war bergauf gerichtet, es ging bleibste drin, du bist arriviert und archi- hundert von gestern. Dann werde ich dem- um Meisterwerke und Gipfelleistungen. viert, tot und im Lexikon; das ist genug, nächst also von vorgestern sein. Das Neue, Doch eines Tages sank die Menschheit er- halt’s Maul. Ich hab mich daran gewöhnt. weit entfernt, sich zu kennen, ist aber das mattet zurück, schlief ein und begann, das- Lieber im Lexikon als vor dem Arbeitsamt, Unendlich-Langweilige, wenn auch in auf- selbe noch einmal zu spielen, auf nieders- lieber zurückgelehnt mit den toten Kolle- regender Form. Das Alte, denkbar unauf- ter Warte diesmal, dafür umso entspannter, gen in der Zeitung als im Nassen stehen. Es geregt und bestens mit sich bekannt, ist in einer Art Opiumdämmer. ist auch mein Lebensweg: Ich hab ganz das Endlich-Langweilige, wenn auch oft Seither ist Kultur als das gewisse Etwas im süß wie Sirenengesang. Schwange, dicht auf den Fersen der leicht Ich nehme an, dass ich den größten Teil verkäuflichen Künste. Aus einer Daseins- meines Lebens, die Zeit, die mich geprägt berechtigung, dem absoluten Surplus des hat, im zwanzigsten Jahrhundert verbracht Lebens, wurde die schönste Nebensache haben werde. Was kommt, muss nicht von der Welt. Ein Heer von Kulturangestellten schlechteren Eltern sein. ist zur Stelle, wann immer es einen Rest Wissen werde ich das aber erst, wenn ich Kunst zu verwalten gilt. Und so wird es 74 bin. Bitte fragen Sie mich dann noch wohl weitergehen. Kultur schafft Arbeits- einmal. plätze und nimmt Visionen. Kein Künstler muss mehr ins Armengrab, π Alles wird immer wichtiger, warum nicht Gott sei Dank, die Beteiligten gehen, ein auch die Kultur? Leider lässt sich, von ei- wenig gelangweilt, aber gut bezahlt, abends

nem, der auszog, im zwanzigsten Jahrhun- nach Hause, wo das Dessert sie erwartet: in PEITSCH P. dert das Fürchten zu lernen, schwer sagen, Form eines kulinarischen Fernsehpro- was Kultur eigentlich ist. Ich habe aber ei- gramms. Die Zeiten des totalen Kulturka- schön hart gegen die Gesellschaft, die mich nen Verdacht, der mit dem Unterschied pitalismus brechen eben erst an. Kultur, umgibt, gekämpft. Und das hat nichts zwischen Mozart und Mozartkugeln zu- das lässt sich voraussagen, hat eine große genutzt. Da hab ich eine Wut auf mich sammenhängt. Zukunft. bekommen und mich vorgeführt und öffentlich fix und foxi geschrieben. Hat auch nichts genutzt, aber ist eben „Fatwa bajuwaris“.

π Solang der Turbo-Kapitalismus mit der neoliberalen Schmier dröhnt, wird Kultur immer kleiner geschrieben werden. Ich denk, dass sie noch ganz unsichtbar wird, deshalb ist sie aber nicht fort, bloß nicht zu sehen. Wenn Joop und Co. in ihren Kla- motten, von ihrem Fressen und geweih- räuchert mit ihren Parfums sich totgelebt haben, seh ich auf’m abgelatschten Kul- turtablett wieder ’n bisschen grün. Grün für Kultur. Wobei das arme Schnei- derlein ein Beispiel ist.Von „Schlafes Bru- der“ bis „Sofies Welt“ reicht der Mehltau in meiner Zunft. Fazit, ganz claro: Erst wenn das Credo „zerstört die Welt, sie braucht es“ maximal verwirklicht ist, dann, ja dann wird’s morgenlüftig für ’ne neue Kultur. Und dat erleb ick nicht mehr, wie

T. SANDBERG / OSTKREUZ T. der Bayer sagt.

190 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Sport ES LEBE DIE SHOW Je populärer der Sport in diesem Jahrhundert wurde, desto mehr nutzten ihn Politik und Wirtschaft für ihre Zwecke. Der dreimalige Olympiasieger Michael Groß schreibt über den Wandel der Athleten zu Ikonen der Unterhaltungsbranche.

Box-Weltmeister Muhammad Ali (1965 bei seinem K.-o.-Sieg über Sonny Liston) Symbol der Emanzipation

192 der spiegel 52/1999 lympische Spiele 2076. In vielen Wettkämpfen fallen Weltrekor- de. Denn die erste Generation „gezüchteter“ Athleten geht an den Start. Geklont von skrupel- losen Wissenschaftlern, die von Ogeldgierigen Managern und re- nommeegeilen Politikern angetrieben und gestützt werden. Das Publikum reagiert mit Gleichgültigkeit. Einige Medien jubeln: „Endlich! Doping durch kontrollierte, ge- sunde Manipulation ersetzt!“ Dicke Muskeln und perfekte Ausdauer von Geburt an. Horrorvision oder realisti-

sches Szenario? AP Die Wahrscheinlichkeit ist hoch: Irgend- Olympia-Profiteur Hitler (1936) wo und irgendwann werden Menschen ge- klont werden – ob verboten oder nicht. Und der Sport, in dem meist der Körper ent- scheidet, drängt sich als Spielfeld mit her- vorragender Erfolgskontrolle geradezu auf. Der Sport würde damit zu einem Trend- setter. Im zu Ende gehenden Jahrhundert hat er sich mit der Rolle eines verlässli- chen Nachzüglers begnügt. Denn ob Kom- merzialisierung, Politisierung oder Betrug – welche Phänomene sich in anderen Be- reichen der Gesellschaft auch etablierten, der Sport spiegelte sie bald wider. Warum sollte es hier auch anders zuge- hen als im übrigen Leben, sind doch gera-

de im Sport der Konkurrenzdruck und das L. PERENYI Leistungsprinzip elementar. Doping-Sünder Ben Johnson (3. v. l., 1988) In diesem Sinne setzte ein Marathon- läufer aus Italien den ersten Meilenstein des Jahrhunderts. Denn von Olympia 1908 ist vor allem Dorando Pietri in Erinnerung geblieben. Nicht weil er gewonnen hätte. Er lieferte die beste Show. Er hatte meilenweit geführt, torkelte dann über die Ziellinie, gestützt von Helfern. Daher die Disquali- fikation. Dann das Gerücht, er soll gedopt gewesen sein, mit Strychnin. Leistung und Erfolg um jeden Preis. Und das 1908. Machen wir uns nichts vor. Doping ist ein Teil des Sports. Das Problem ist nicht, dass Sportler – auch in Zukunft – künstlich nachhelfen. Sollen sie doch! Sie schaden sich selbst! Wie der gewohnheitsmäßige Einbrecher, der über kurz oder lang im Gefängnis landet. Doping wäre erst ein Problem, wenn der

Betrug als hoffähig betrachtet und als Ka- SIMON SVEN valiersdelikt eingestuft würde. Doping- Tennis-Idole Boris Becker, Steffi Graf (1989) kontrollen sind deshalb genauso notwendig wie die Aufsicht gegen den Insiderhandel an der Börse. Aber, wie der Umgang mit Dieter Baumann zeigt, ist beim Thema Do- ping sehr viel Politik im Spiel.Vielfach be- hindern die Einzelinteressen von Funk- tionären,Verbänden oder sogar Ärzten, ob gewollt oder nicht, den Kampf gegen die Manipulation aus der Apotheke. Kann es die vielbeschworene Trennung von Politik und Sport geben? Wie sollte es.

Der Sport, und besonders Olympia, ist per SIMON SVEN se ein Politikum.Weil er ein Podium bietet Fußball-Weltmeister Deutschland (1954) für Demonstrationen von Stärke und weil Sportliche Meilensteine des Jahrhunderts

N. LEIFER / SPORTS ILLUSTRATED N. LEIFER / SPORTS er den Mächtigen Symbole liefert. Man Spiegelbild der Gesellschaft

der spiegel 52/1999 193 Sport denke nur an den Beginn der Politisierung, 1984: Erstmals wurden in Los Angeles Der Staat, Stiftungen und Enthusiasten Hitlers Olympia 1936 in Berlin, das bis heu- Olympische Spiele privatwirtschaftlich an der Basis engagieren sich im „freien“ E- te wichtige Rituale hinterlassen hat, allen organisiert und zum betriebswirtschaft- Sport: Rudern, Hockey, Schwimmen. Die- voran den Fackellauf. lichen Erfolg. Dank eines US-typischen se freie Sportbetätigung müsste genauso Die sechziger Jahre waren das Dezen- Kostenmanagements, des Verzichts auf eine hoheitliche Aufgabe sein wie die Mög- nium von Aufruhr und Emanzipation. Und Prunkbauten und des Diktats der Medien lichkeit des Museums- oder Theaterbe- was passiert 1968 im Olympiastadion von als den entscheidenden Investoren. suchs zu sozialverträglichen Preisen. Mexiko? „Black Power“: Tommie Smith Der Sport selbst wusste nicht so recht, Die rührenden Versuche von Verbänden, und John Carlos recken auf dem Sie- wie ihm geschah. Vom Verkauf der Spiele sich mit Regeländerungen den Massenme- gerpodest ihre schwarz behandschuhten war die Rede. Aus heutiger Sicht sympa- dien und anderen Geldgebern anzudienen Fäuste in den Himmel. Amerikaner de- thisch naiv.Genauso wie der verlogene Aus- und von Athleten wie Hand- und Volley- monstrieren gegen Amerika – und werden schluss Karl Schranz’ von Olympia 1972 in ballspielerinnen mit Nacktfotos aus Sei- vom eigenen Team nach Hause geschickt. Sapporo wegen Verstoßes gegen den Ama- fenkisten einen Formel-1-Boliden zu ma- Vier Jahre darauf springt der Nahost- teurparagrafen. Von 53 des Professionalis- chen, schaden eher. Man vergleicht sich, konflikt auf die friedlichen Spiele von mus beschuldigten Skirennläufern sperrte ohne je den Vergleich aushalten zu können – und wird von den Umwor- benen zwangsläufig in einen Topf geworfen. Spiel, Satz und Sieg... Mancher Athlet muss ak- Wer ist der größte deutsche zeptieren, dass es ihm nicht Sportler des Jahrhunderts? anders geht als Goethe und Schiller: gesellschaftlich be- Steffi Graf, Tennis 64 deutend schon zu ihrer Zeit, aber kommerziell irrelevant. Boris Becker, Die niemals konkurrenzfä- Tennis 44 higen Sportarten stellen sich Max Schmeling, 39 einem übermächtigen Geg- Boxen ner, der alle Trümpfe in der Michael Schumacher, 33 Hand hält: das Publikum, das Formel 1 Fernsehen und die Spon- Franz Beckenbauer, 32 soren. Fußball Der Sport muss endlich ler- Katarina Witt, 17 nen, Zukunftsmodelle zu ent- Eiskunstlaufen wickeln, statt nur reaktiv den Fritz Walter, Alltagskrisen zu begegnen. 16 Fußball Reines Lamentieren, dass Hans Günter Winkler, bald „geklonte“ Athleten die Springreiten 10 Arenen betreten, führt da- Mehrfachnennungen möglich Armin Hary, zu, sie als Sieger zu fei- 6 Leichtathletik Emnid-Umfrage für den SPIEGEL ern – und sich seinen Teil zu Kristin Otto, vom 10. und 11. Dezember; denken. 3 rund 1000 Befragte; Schwimmen Angaben in Prozent Rechtzeitiges Handeln er-

AP spart dem Sport die Ent- „Black Power“-Protestler Smith, Carlos (1968): Dezennium von Aufruhr schuldigung und dem Publi- kum von 2076 das peinliche München über, eine Olympiade später das IOC nur einen, Schranz. Ein Exempel Schauspiel, wie man den neuesten „Klon- heißt das politische Thema Rassismus: wurde statuiert, das letztlich kein Jahrzehnt Sünder“ bewerten soll. Denn: Im Rea- Schwarzafrikaner boykottieren das Fest später, welche Dialektik, zur Aufgabe des genzglas geschaffene Athleten sind für ihr der Welt. Zugleich gerät der Sport in den von Coubertin erfundenen Amateurgedan- Stigma ja nicht verantwortlich – und kön- längst in der gegenseitigen Abschreckung kens durch das IOC selbst führte. nen daher auch nicht bestraft werden. erstarrten Kalten Krieg: Es folgen die Boy- Los Angeles war aber nur Auftakt für kottspiele in Moskau 1980, denen der Wes- einen schwerwiegenden Strukturwandel Michael Groß, 35, gewann zwischen 1982 ten fernbleibt, und in Los Angeles 1984, im Sport, der akut abläuft: die Aufspaltung und 1991 dreimal Olympia-Gold und fünf die der Osten meidet und bei denen der in Arme und Reiche, die Organisation nach Weltmeistertitel. Der promovierte Litera- Schwarze Carl Lewis zum weltweiten Idol Angebot und Nachfrage, Sport als Teil des turwissenschaftler ist als Kommunika- wird. Aber nicht, weil der Sport Vorreiter Showbiz. tionsberater tätig. der Emanzipation war, sondern weil er sich Wie die U- und E-Musik wird es im angepasst hatte. nächsten Jahrhundert auch im Sport das Das gilt auch für das IOC, das zwar neu- klar getrennte Unterhaltungsgenre und den lich auf Druck von außen einige Reförm- „ernsten“ Teil geben. chen beschlossen hat, von der absolutisti- Medienkonzerne managen den profita- schen Herrschaftsform aber nicht lassen blen U-Sport: Formel 1, Fußball, Boxen. will. Marqués de Samaranch sei Dank. Die Die Verwertungskette wird kontinuierlich Kungelei um Mandate sowie Olympia- und perfektioniert, Marken werden aufgebaut, WM-Orte wird so schnell kein Ende finden. der Fan als Konsument abgeschöpft. Diese Wahre Reformen wurden nicht vom Entwicklung ist gut, nützt dem Sport, wenn

Sport selbst, sondern durch den Kommerz er es nur endlich wahrhaben wollte. Die L. PERENYI forciert. Auf dem Meilenstein des wirt- andere Option wäre: Absinken in die Be- Schwimmer Groß schaftlichen Wandels steht die Jahreszahl deutungslosigkeit. Wann siegt der erste geklonte Athlet?

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Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Wer- Hefte bekomme ich zurück. gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, ner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Pe- Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Antje Klein, ter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow,Thomas Riedel, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schier- Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. 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Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 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198 der spiegel 52/1999 Werbeseite

Werbeseite Register

Gestorben ne Schallplatten. Sein Mix aus Jazz, Robert Bresson, 98. Er war ein Filmema- Soul und Pop cher und hatte doch mit dem Remmidem- repräsentiert das mi des alltäglichen Kinogewerbes nichts zu Genre der Fusion tun; seine Werke, rar und von spröder Ele- Music. Der Saxo- ganz, erhoben den Anspruch des Beispiel- fonist, Komponist haften; ihrer minimalistischen Nüchtern- und Produzent heit entsprang Magie. Seit Jahrzehnten war verstand es, sein der Franzose Bresson, ursprünglich Maler technisches Kön- und Schöpfer von insgesamt nur 14 Filmen, nen und sein Jazz- eine einsam überragende, aus scheuer Dis- Feeling mit einem tanz bewunderte Erscheinung in der Ge- ausgeprägten Sinn

schichte der Kinema- für den kommer- AP tografie, ein Künstler, ziellen Sound zu der sich aus Stolz rar verbinden. Sein gewiss bekanntester – machte, ein Meister wenn auch nicht musikalischster – Büh- der asketischen Kon- nenpartner war Bill Clinton, der im Wei- zentration, dem die ßen Haus ein paar Takte mit ihm spielte. einfachste als die Grover Washington Jr. starb am 17. De- vollkommenste Form zember in New York nach einem Herz- erschien. „Das Tage- infarkt. buch eines Landpfar- rers“, „Ein zum Tode Roger Frison-Roche, 93. Wenige Monate

Verurteilter ist entflo- / CORBIS SYGMA THIERRY O. vor dem Ende dieses französischen Jack hen“, „Pickpocket“, London gab die Natur dessen unermüdli- „Mouchette“ waren die großen Bresson- chen Warnungen vor Raubbau – „Berge Filme der fünfziger und sechziger Jahre, sind Wesen, die geboren wurden und ster- die ihn als Gefährten der zerrissenen Gott- ben“ – eine dramatische Rechtfertigung: sucher Bernanos und Dostojewski zeigten: In der Wahlheimat Chamonix töteten An- Das Spiel von Licht und Schatten auf der fang des Jahres Lawinenabgänge in Wohn- Leinwand, so hoffte er, könnte eine spiri- gebieten zwölf Menschen. Der gebürtige tuelle Kraft gewinnen. Sein Lebenstraum – Pariser Frison-Roche war einer der großen ein Jesus-Film – blieb unerfüllt. Robert Abenteurer dieses Jahrhunderts, der seine Bresson starb am 18. Dezember bei Paris. Erlebnisse wissenschaftlich, spannend und literarisch anspruchsvoll einem Millionen- Desmond Llewelyn, 85. Sein echter Na- Publikum zugänglich machte. Seit 1935 lei- me ist den wenigsten bekannt, denn sein tete der zeitweilige Chefreporter eines al- Repertoire beschränkte sich im Grunde gerischen Blattes 17 Sahara-Expeditionen, auf eine einzige Rolle. Als genialer waf- durchforschte die Arktis, lebte mit Lappen fennärrischer Tüftler „Q“ erlangte er Welt- und widmete sich – diplomierter Bergfüh- ruhm: Er half James rer seit 1930 – schließlich ganz der Alpen- Bond 17-mal, die welt Savoyens. Bücher und Filme wie „Bi- Menschheit zu ret- wak unter dem Mond“, „Erster am Seil“ ten. Vier verschiede- (Auflage: drei Millionen) oder „50 Jahre ne 007-Agenten-Dar- Berge“ machten den Hünen zu einer Kult- steller wurden in 36 figur – und zu einem Ahnen der Öko-Be- Jahren von „Q“, der wegung. Roger Frison-Roche starb am 17. im wahren Leben Dezember in Chamonix. angeblich nicht ein- mal einen Videorecor- Hank Snow, 85. Weil im Musikgeschäft der programmieren die meisten Manager von Musik nichts ver-

konnte, mit den alles R. SIMONEIT stehen, wollte seinen Song „I’m Movin’ entscheidenden Spe- on“ zuerst niemand haben. Es wurde Hank zialwaffen versorgt. Desmond Llewelyn starb Snows größter Hit. Mit zwölf Jahren ging am 19. Dezember bei einem Autounfall. er als Schiffsjunge zur See, später schlug er sich als Holzfäller und Versicherungsver- Grover Washington Jr., 56. Sein Vater, treter durch. Mit seiner markigen Stimme selbst leidenschaftlicher Saxofonist, er- und einem unverwechselbaren Gitarren- munterte ihn früh, zum Instrument zu grei- stil wurde er einer der Größten der ameri- fen – 1959 begann seine Karriere.Washing- kanischen Country-Music, gefeiert in der tons größter Erfolg war 1980 das Album Grand Ole Opry in Nashville, dem Mekka „Winelight“, das über eine Million Mal ver- der Country-Szene, und von Fans in aller kauft wurde und einen Grammy erhielt; Welt. Er hat mehr als 900 Songs aufge- der von Bill Withers gesungene Song „Just nommen. Hank Snow starb am 20. De- the Two of Us“ kletterte auf Platz 2 der US- zember auf seiner „Rainbow Ranch“ in Charts. Er erhielt insgesamt fünf Golde- der Nähe von Nashville.

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Werbeseite Personalien

Charlotte Church, 13, singendes Wun- eltern zu verbringen“, so Charlotte derkind aus Wales („Voice of an Angel“), Church, die den Papst, die Königin und gab sowohl dem Papst, der Queen als auch den Präsidenten schon mal in ihrem dem US-Präsidenten einen Korb. Die kurzen Leben getroffen hat: „Ich sagte Berühmtheiten hatten die junge Dame, die auf die nettest mögliche Art ,Nein‘.“ in den Klassik-Charts ganz oben steht und Doch Silvester wird sie gleichwohl nicht von ihrer ersten Platte über zwei Millionen hinter dem warmen Ofen verbrin- gen. Sie geht an diesem Abend, so ist es geplant, zu einem Konzert ihrer Lieblingsband, den „“.

Corina Ungureanu, 19, rumänische Turnerin, hat mit einem „Playboy“- Auftritt das Internet in Wallung und sich selbst um eine mögliche Ehrung gebracht. Als bekannt wurde, dass die Spitzensportlerin sich für die rumä- nische Januar-Ausgabe des Herren- magazins ausgezogen hat, strichen die Verbandsfunktionäre sie von der Kan- didatenliste der Sportlerinnen des Jah-

BULLS PRESS BULLS res. Begründung: Der Nacktauftritt Church habe dem rumänischen Turnsport Scha- den zugefügt. Die bislang unveröffent- Stück verkauft hat, zu einem Ständchen lichten Bilder sorgen indes im Internet am Silvesterabend an drei verschiedenen für einen bizarren Wettbewerb: Der Be- Orten gebeten. Das schier unlösbare Eti- treiber einer kostenpflichtigen Seite, kette-Problem, eine der drei Einladungen auf der regelmäßig freizügige Bilder anzunehmen, ohne die anderen Gastgeber von Prominenten veröffentlicht wer- zu beleidigen, löste die Arien trällernde den, hat einen lebenslangen kostenlo- 13-Jährige elegant. Sie verweigerte sich al- sen Zugang ausgelobt, für denjenigen,

len dreien. „Ich entschied, Weihnachten der als Erster die „Playboy“-Fotos von ROMANIA / PLAYBOY D. AMARIUCAI und Neujahr mit meinen Eltern und Groß- Ungureanu ausfindig macht. Ungureanu im rumänischen „Playboy“

Claire Marienfeld, 59, Wehr- Mat Collishaw, 33, britischer Künstler, hat in der beauftragte des Bundestags, Londoner Tate Gallery den alljährlich fälligen Weih- zeigte wenig Herz für Soldaten nachtsbaum installiert. Der Baum ist traditionell ge- im Ausland, die nach Hause te- schmückt mit einem Engel auf der Spitze, mit Glas- lefonieren wollen. Als beim Be- kugeln und sonstigem Christbaum-Tand. „Relativ such des Bundespräsidenten bei zahm“, wie die „Times“ schreibt, nach all den auf den deutschen Sfor-Truppen in dem Kopf stehenden Tannen und der Zurschaustellung Bosnien-Herzegowina ein Feld- von Behältern mit Festtagsmüll in den Vorjahren. Doch webel bat, der Präsident möge den Beschauer mag es dennoch schaudern, wenn er sich um billigere Telefonge- den Berg Geschenkpakete am Fuß der Tanne mustert. legenheiten für die Soldaten Auf einem Videoschirm zwischen all den Päckchen bemühen, ging die Christdemo- wuseln Ratten und naschen Minzplätzchen. „Es ist als kratin Marienfeld, die Rau be- ob die Ratten zwischen den Präsenten hin und her gleitete, beherzt dazwischen. huschen, sie bilden einen starken Kontrast zum idylli- Sie verstehe ja, dass die junge schen Christbaum“, freut man sich in der Tate Gallery: Generation mit Handys aufge- „Die Ratten erinnern an das, was sich unter der glän- wachsen sei und deshalb kein zenden Oberfläche von Weihnachten verbirgt.“ Colli- Verhältnis mehr habe zum Brie- shaws rattenscharfer Christbaum ist noch bis zum Hei- feschreiben. Aber, mahnte sie ligedreikönigstag zu besichtigen. den Soldaten, „versuchen Sie es mal mit dieser Form der Kom- munikation. Sie werden sehen, das beschert Ihnen ganz neue Erlebnisse.“ Beim Briefeschrei- ben, schwärmte die kosten- bewusste Wehrbeauftragte wei- ter, „müssen Sie Ihre Gefüh- le überdenken, bevor Sie sie niederschreiben. Und das

FOTOS: PA / DPA / DPA PA FOTOS: Schönste ist: Wenn Sie Briefe Collishaw-Werk Tannenbaum mit Video-Ratten schreiben, bekommen Sie auch welche“.

202 der spiegel 52/1999 Wolfgang Clement, 59, Ministerpräsi- terhöfen abgestellten Statuen aus der So- dent von Nordrhein-Westfalen, wusste Rat, wjet-Ära. Die in Stein und Bronze gefass- als ihm Wirtschaftsminister Peer Stein- ten „Helden“, die Stalins, Lenins, Marx brück, 52, sein Silvester-Leid klagte. Er, und Engels, sind in seinem Disney-artigen Steinbrück, werde „Leninland“ gegen Eintrittsgeld zu an diesem Abend besichtigen. Der Champignon-Ex- in Düsseldorf sein, perte hofft damit, seinen Lands- denn die Jahres- leuten bei „der Vergangenheitsbe- umstellung bei den wältigung“ zu helfen. „Hundert Computern sei „ei- Millionen Menschen starben auf ne sehr heikle Sa- Grund der Ideen von Marx“, sagt che. Wir gucken Malinauskas, der seinen Vater und uns das ab 16 Uhr andere Familienmitglieder in Sibi- unserer Zeit erst rien verlor, wohin fast 350000 Li- mal bei den Ja- tauer von den Sowjets deportiert panern an, weil worden waren. „Wenn das Volk die ja acht Stunden nicht an die grausamen Zeiten er-

voraus sind, und OSSENBRINK F. innert wird“, begründet Malinaus- wenn dann alles zu- Steinbrück, Clement kas sein Projekt, „dann neigt es sammenbricht …“ zum Vergessen, und in 20 oder 30 Steinbrück brach ab. „Ja was dann?“, woll- Jahren haben wir wieder neue Figuren, die te Clement wissen. „Dann muss ich wohl uns in der alten Weise manipulieren.“ oder übel zusehen, dass ich mich aus dem Staub mache, damit mich keiner findet.“ Theodor Eschenburg, im Juli mit 94 Jah- Vorschlag des praktisch denkenden Minis- ren in Tübingen gestorbener Politikwis- terpräsidenten: „Dann fahr doch ins Sau- senschaftler, erinnert sich in seinem nach- erland, da entdeckt dich bestimmt keiner.“ gelassenen Werk „Letzten Endes meine ich doch“, das im Februar 2000 bei Siedler er- Vilimius Malinauskas, 67, millionen- scheint, auch an seinen ehemaligen Stu- schwerer Geschäftsmann aus Litauen, will denten Helmut Kohl. Eschenburg hatte seinem Heimatland eine Geschichtslektion Kohl „in einer Übung über Parteienfinan- verpassen. Malinauskas, der sein Vermögen zierung kennen gelernt. Anfang der sieb- mit dem Export von Champignons ge- ziger Jahre auf einem Sommerfest von Wil- macht hat, sammelt in seinem 30 Hektar ly Brandt hat mich Kohl, damals Minis- großen Park die bislang auf Litauens Hin- terpräsident von Rheinland-Pfalz, darauf angesprochen: ,Kennen Sie mich noch von Ihrem Seminar über Par- teienfinanzierung vor 20 Jahren?‘ ,Und ob‘, antwortete ich, ,Sie ha- ben leider, wie sich gezeigt hat, nichts daraus gelernt‘“.

Hans Eichel, 57, Bundesfinanz- minister, fand für sein jüngstes po- litisches Werk eine ausgefallene Begründung. Befragt, warum er denn das überraschende Vorziehen der großen Steuerreform von 2002 auf 2001 noch vor Weihnachten be- kannt gegeben habe, antwortete der Hesse trocken: „Damit ich mir das Geschrei von Frau Scheel während der Feiertage nicht an- hören muss.“ Die grüne Vorsit- zende des Finanzausschusses Christine Scheel hatte Kassenwart Eichel per Interviews immer wie- der zu einer mutigen Reform trei- ben wollen. Um sich keinem Chau- vinismus-Verdacht auszusetzen, hatte Eichel der Parlamentarierin den Scherz schon mitgeteilt, bevor er ihn in Berlin verbreitete. Die grüne Finanzexpertin konterte kühl: „Hauptsache, der Minister

K. CONOLLY steuert in finanzpolitischen Fragen Malinauskas, Lenin-Denkmal auf grünem Kurs.“

der spiegel 52/1999 203 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Main-Post“: „Der gänzliche oder Zitate teilweise Verzicht auf die Vollstreckung von Straftaten sei allein wegen eines bestimm- Das Branchenblatt „Kress Report“ über ten Datums nicht zu rechtfertigen, erklär- SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein: te der Bund.“ Suchen wir einen Verleger des Jahrhun- derts, so ist dies sicher Rudolf Augstein, 76. Wie kein Zweiter hat der Verleger Augstein im Zweifelsfall als Journalist gehandelt, an Aus den „Ostfriesischen Nachrichten“ die Leser noch vor den Anzeigenkunden gedacht, und vielleicht gerade damit die umsatzstärkste, erfolgreichste und wich- Aus der „Saarbrücker Zeitung“: „Bisher tigste deutsche Zeitschrift geschaffen. Ei- war der Glanz des Altkanzlers, des Vaters nen Verleger wie ihn wird es nach ihm nicht der deutschen Einheit und Motors der eu- mehr geben. ropäischen Einigung, eine sichere Bank für die Union. Jeder Wahlkämpfer sonnte sich Die österreichische Tageszeitung „Der im Schatten des schwarzen Riesen.“ Standard“ über Helmut Kohl:

Kohl hatte Statur, Persönlichkeit,Autorität. Er war und ist der Überzeugung, dass sein Ehrenwort ungleich mehr Gewicht haben müsse als der Bericht eines Untersu- chungsausschusses, mehr Kraft als die Er- mittlungen der Staatsanwaltschaft, mehr Überzeugung als jeder Bericht des SPIEGEL. Lange im Zentrum der Macht, hat Kohl die Welt nach seiner Fasson inter- pretiert.

Aus der „Nordwest Zeitung“ Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGEL-Bericht „CDU – Fünf Millionen – wofür?“ (Nr. 24/1995):

Merkwürdig: Die Geschichte um die ver- deckten Konten der CDU war in Teilen schon 1995 im SPIEGEL zu lesen und damit Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ auch der Parteiführung bekannt. Erst jetzt aber ist der Schneeball zur Lawine ge- wachsen. Sie fliegt Kohl zu einem Zeit- Aus dem „Sonntags Kurier“: „Heute legt punkt um die Ohren, da er nicht mehr im er die Arme eng an den Körper, schiebt Amt ist. 1995 war der Kanzler unangreifbar. mürrisch den Unterkiefer vor und streicht Jetzt ist er verletzbar. Die Widerhaken par- sich dezent mit Daumen und Unterkiefer teiinterner und journalistischer Attacken über die Nase. Die Macht hat Kanzler Ger- greifen; die Zeit ist reif für einen Skandal hard Schröder verändert.“ mit Kohl als Hauptperson.

Der „Mannheimer Morgen“ zur SPIEGEL-Meldung „Panorama – Lösch- trupp im Kanzleramt“ (Nr. 41/1998):

Aus der „Honnefer Volkszeitung“ In Bonn war es im Herbst 1998 – also im Monat zwischen dem rot-grünen Wahlsieg und dem Einzug des neuen Regierungs- chefs Gerhard Schröder ins Kanzleramt – ein offenes Geheimnis, dass in Kohls Haus Akten und Aufzeichnungen stapelweise Aus den „Ostfriesischen Nachrichten“ durch den Reißwolf gejagt wurden.Als der SPIEGEL den Plan aufdeckte, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auch die Fest- Aus dem Ars-edition-Adventskalender: platten sämtlicher Computer zu löschen, „Entkerne einen Apfel so, dass ein mög- protestierte der Personalrat, und Bohl bat lichst großes Loch entsteht. Das Loch füllst zum Krisengespräch. Daraufhin wurde es du mit ein paar Mandeln und Rosinen, den Abteilungsleitern freigestellt, zu lö- dann gibst du etwas Honig, Butter und schen, was sie für nötig hielten. Da die Ab- Zimt darauf. Den Apfel bäckst du zusam- teilungsleiter überwiegend treue CDU-An- men mit einem Erwachsenen auf 160 Grad hänger und Kohl-Diener waren, ist offenbar 60 Minuten lang. Guten Appetit.“ ziemlich viel Material vernichtet worden.

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