Deutschland NATIONAL ARCHIVES NATIONAL ACTION PRESS ACTION Angeklagter Sommer, getötete Italiener in Sant’Anna di Stazzema (1944): „Das ist für mich eine abgeschlossene Sache“

Niedrige SS-Schergen waren es, Unter- NAZI-VERBRECHEN scharführer, Scharführer. In der Wehr- macht hätten sie die Dienstgrade Unterof- fizier oder Feldwebel getragen. Ranghöchs- Unvorstellbare Grausamkeiten ter war der Hamburger , 82. Als Untersturmführer, also Leutnant, Am 12. August 1944 wurden etwa 500 Menschen in einem soll er eine Kompanie befehligt haben – was Sommer leugnet. Zu weiteren Vor- Toskana-Dorf getötet. Nun, 60 Jahre nach dem Massaker, wird würfen wolle er sich nicht äußern, „im Mo- ehemaligen Waffen-SS-Soldaten der Prozess gemacht. ment“ jedenfalls. Er sagt aber auch: „Das ist für mich eine abgeschlossene Sache.“ ant’Anna di Stazzema – klingt nach mentalität, und die Italiener taten so, als Begonnen hatte sie im Sommer 1943. Sonne, Sommer, Seele baumeln las- dürfte die junge, sich wieder aufrüstende Regierungschef Benito Mussolini, Italiens Ssen. Von der kleinen Ortschaft in den Bonner Republik mit den Verbrechen einer Duce und Vertragspartner von Adolf Hit- Apuanischen Alpen geht der Blick auf die Diktatur nicht belastet werden. ler, war im Juli abgesetzt worden, am 8. toskanische Riviera. Da liegt Forte dei Mar- Allerdings ging es den Italienern auch September hatte die neue Führung den mi, der Badeort der Millionäre. Oder Via- darum, Landsleute, die als Hitler-Verbün- Austritt aus dem Kriegsbündnis mit Berlin reggio, die Stadt des Karnevals und der dete vor allem in Jugoslawien und Grie- erklärt. Fortan waren die Deutschen in Ita- ungetrübten Lebensfreude. chenland gewütet hatten, vor Verfolgung lien Besatzer. Ein Traum, diese Gegend in der Mitte zu schützen. Diese Melange aus taktischer Vom Süden her rückten die Alliierten Italiens. Und für viele ein Alptraum. Im- Rücksichtnahme und gebremstem Verfol- heran, und die Deutschen zogen sich nach mer noch und 60 Jahre danach. gungseifer hat nach Einschätzung des Köl- Norden zurück – oftmals heftig bedrängt Damals, am 12. August 1944, löschten ner Historikers Carlo Gentile dafür gesorgt, von Partisanen, die den Kampf gegen die Soldaten der Waffen-SS-Division „Reichs- dass „Hunderte mutmaßliche Kriegsver- führer SS“ das Leben im Dorf aus – min- brecher davonkamen“. destens 457 Menschen, wahrscheinlich so- Aber nicht alle. Im Fall Sant’Anna di ITALIEN gar 560, wurden mit MG-Salven nieder- Stazzema ermittelt die Staatsanwaltschaft gemäht, bei lebendigem Leibe verbrannt Stuttgart derzeit gegen zwölf Beschuldigte, Marzabotto Bologna oder von Handgranaten zerrissen. Die und an diesem Dienstag beginnt vor dem La meisten der Opfer waren Frauen und Kin- Militärgericht in La Spezia der Prozess ge- Spezia der. Hitlers Schergen hatten drei von ihnen, gen sechs Angeklagte – wegen „Mordes Sant’Anna di nicht einmal zwei Jahre alt, zu Tode ge- gegen private Feinde“, wie es im Juristen- Stazzema spießt – „mit einem scharfen hölzernen In- italienisch heißt. Viareggio strument“, sagte später ein Augenzeuge. Keiner der angeklagten Deutschen, die Florenz Das Nazi-Massaker von Sant’Anna di zwischen 79 und 85 Jahre alt sind, wird Livorno Stazzema, das Zeitgeschichtler inzwischen vor dem italienischen Richter erscheinen – mit dem im tschechischen Lidice (Juni weil sie entweder dessen Zuständigkeit be- Mittelmeer 1942) oder dem im französischen Oradour- zweifeln oder die Mordtaten abstreiten. Toskana sur-Glane (Juni 1944) vergleichen, war jahr- Aber alle gehörten nach Überzeugung der zehntelang verdrängt und verschwiegen Ermittler zu jener Einheit, die für die un- Elba worden. Schon bald nach Kriegsende vorstellbaren Grausamkeiten verantwort- 50 km herrschte in Deutschland Schlussstrich- lich war.

42 der spiegel 17/2004 Okkupanten aufgenommen hatten. Gene- Aber diesmal war es schlimmer. Die Sol- sein Divisionskommandeur. Reder saß bis ralfeldmarschall ver- daten wollten töten, zerstören, Feuer legen. zu seiner Begnadigung 1985 in der Festung sprach deshalb, „jeden Führer zu decken, Es gibt kaum Berichte von Augenzeu- Gaeta. Simon, von den Briten in Padua der in der Wahl und Schärfe des Mittels“ gen. Einer war der damals 43 Jahre alte zum Tode verurteilt, wurde ins Kriegsver- über das übliche Maß hinausgehe. Alfredo Curzi, ein Fischer aus Forte dei brechergefängnis nach Werl nahe Hamm Für den Abwehrkampf schien eine Ein- Marmi. Ihn vernahmen wenige Wochen gebracht, das Urteil 1951 in lebenslängliche heit besonders geeignet – jene Division, nach dem Massaker drei US-amerikanische Freiheitsstrafe umgewandelt. die zu Ehren des SS-Chefs Heinrich Himm- Offiziere. Ein Auszug aus dem Protokoll: Schon bald fanden sich prominente Für- ler dessen NS-amtliche Bezeichnung trug: Wie lange dauerte die Schießerei? sprecher, die um Simons Entlassung baten, „Reichsführer SS“. Viele ihrer Unterführer Ungefähr vier Stunden. darunter der Kölner Erzbischof Josef hatten zuvor der „Totenkopf“-Division an- Wie hoch schätzen Sie die Zahl der Toten Frings. Simons Taten, entschuldigte der gehört, der Zeitgeschichtler eine rück- allein auf dem Dorfplatz? hohe katholische Würdenträger, seien sichtslose, oft sogar kriminelle Kampf- Zwischen 200 und 300. „während der Partisanenkämpfe in Italien führung attestieren. Haben Sie noch andere Tote gesehen? unter dem Einfluss der hierdurch geschaf- Während sich bei der Reichsführer- Ja, viele, viele andere. fenen gesteigerten Erbitterung begangen“ Division „auf Kaderebene ein Typ durch- Wie wurden sie getötet? worden – ohne „verbrecherischen Willen“. setzte, der extrem brutalisierende Erfah- Verbrannt. Schon am 30. November 1954 kam Si- rungen gemacht hatte“ (Gentile), bestand In der Tagesmeldung des Armeeober- mon frei. Es war die Zeit des Kalten Krie- die Mannschaft aus auffallend jungen kommandos 14 ist keine Rede von ge- ges, und die Angst vor dem Kommunismus Soldaten – die meisten zwischen 17 und pfählten Kindern und massakrierten Frau- schweißte zusammen – auch beim kollekti- 19 Jahre alt, unerfahren und entspre- en. Dort steht unter Punkt 4 („Banden- ven Vergessen. In Italien wurden die Akten chend leicht zu beeinflussen. Diese brisan- lage“) knapp: von fast 700 Kriegsverbrecherfällen in einen te Kombination konnte, so Schrank des römischen Pa- Gentile, „jederzeit in tod- lazzo Cesi gepackt, des Sit- bringende Aktionen um- zes vom Generalstaatsan- schlagen“. walt. Der Schrank wurde So wie im August 1944 in mit der Tür zur Wand ge- der Toskana. Tausende Ita- dreht und durch ein Eisen- liener waren wegen der gitter gesichert. Dienstbare Bombenangriffe der Alliier- Geister säuberten alle Re- ten auf deutsche Linien aus gister, und schon bald, for- der Küstenregion in die mulierte später eine Unter- Apuanischen Alpen ge- suchungskommission, habe flüchtet – vor allem in Sied- sich „kein Hinweis auf lungen und Gehöfte, die die Kriegsverbrecherakten“ zum Dorf Sant’Anna di mehr gefunden. Stazzema gehörten. Zu Frie- Erst Mitte der neunziger denszeiten hatten hier gut Jahre wurde der „Schrank 300 Menschen gelebt, viele der Schande“, wie ihn die von ihnen als Bauern. Italiener nennen, wieder Genauso stark war das geöffnet, die archivierten

II. Bataillon des SS-Panzer- LAZZERONI / ROPI PAOLO Verfahren wurden endlich grenadierregiments 35, das Überlebender Mancini, Opferfotos: Erinnerung an ein ausradiertes Dorf bearbeitet – der Prozess in auf das Kommando des La Spezia ist eine Folge. Hauptsturmführers Anton Galler hörte, ei- Bei laufendem Bandenunternehmen N Das Mordermittlungsverfahren der Stutt- nes gelernten Bäckers aus Österreich. Weil 183/45 Ortschaft N 183/30 und 1 km nörd- garter Justiz ist eher ein Zufall. Ein alter sich aus Sicht der Armeeoberen Parti- lich niedergebrannt; 7 Muni-Lager, davon Kamerad hatte vor viereinhalb Jahren ge- sanenangriffe häuften, ordnete Divisions- eines in der Kirche, sind gesprengt. 270 genüber einer Journalistin über den Tag in kommandeur „Säuberungs- Banditen niedergemacht. Sant’Anna di Stazzema gesagt: „Wir waren und Vergeltungsaktionen“ im Rahmen Ortschaft N 183/30 – das war die Ge- ein bissel rücksichtslos.“ eines „Bandeneinsatzes“ an. gend um das kleine Bergdorf Sant’Anna di In dem Ort erinnert heute ein kleines Was, werden die Begriffe richtig ent- Stazzema hoch über dem Meer. Museum an diesen schrecklichen 12. Au- kleidet, schlicht Mord und Brandschatzung Die Blutspur der Division „Reichsführer gust 1944. Verwalter Enio Mancini zeigt bedeutete. Denn für die deutschen Besat- SS“ zog sich weiter durch die Toskana den Besuchern Memorabilien eines ausra- zer galt nur eine Formel: Zivilist ist gleich Richtung Bologna; sie endete erst im Städt- dierten Dorfs – Eheringe beispielsweise, Partisan. chen Marzabotto. Dort wurden im angeb- angesengte Papiere oder das Zifferblatt ei- Der 12. August 1944 war ein wunder- lichen Kampf gegen Partisanen 770 Men- ner Uhr, die genau acht Minuten vor sieben schöner Tag. Einige Frauen sammelten auf schen getötet, auch hier meist Frauen, Kin- stehen geblieben war. den Feldern Kartoffeln, andere bereiteten der und Säuglinge. Mancini war sieben Jahre alt, als die daheim schon das Essen vor. Plötzlich, In nur zwei Monaten, zwischen August Deutschen kamen. Immer noch hat er morgens zwischen sechs und sieben Uhr, und Oktober 1944, hatten die Soldaten der „Schwierigkeiten zu beschreiben, was ich stiegen Leuchtraketen auf – das Zeichen Waffen-SS über 2000 Zivilisten ermordet. dort sah“, sagte er dem Magazin „raum- für Gallers Leute anzugreifen. Historiker schätzen, dass es während der zeit“. Dabei hat sich die Erinnerung un- Die jungen Männer im Dorf flüchteten gesamten deutschen Besatzungszeit etwa erbittlich tief eingefressen: „Ich sah im sofort. Offenbar glaubten sie, die SS-Meu- 10000 zivile Opfer gab. Haus verbrannte Menschen, der Geruch te würde sie verschleppen, zum Ausheben Nur zwei Angehörige der Division wur- von verbranntem Fleisch war extrem.“ von Laufgräben etwa oder zur Zwangs- den je von der Strafjustiz belangt: SS- Nach 60 Jahren gehe es jetzt nicht um arbeit ins Deutsche Reich. So etwas hatte Sturmbannführer , der Ein- Rache, so Mancini, sondern „um Gerech- einen Namen: „Arbeiterfangaktionen“. satzführer in Marzabotto, und Max Simon, tigkeit“. Georg Bönisch

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