BULGARIEN-JAHRBUCH

Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. 2013

Verlag Otto Sagner Bulgarien-Jahrbuch 2013

Bulgarien-Jahrbuch 2013

Herausgegeben von Helmut Schaller, Sigrun Comati und Raiko Krauß

Verlag Otto Sagner München–Berlin–Leipzig–Washington, D.C. 2015 Das Bulgarien-Jahrbuch wird im Auftrag der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. herausgegeben.

Begründet von Wolfgang Gesemann, Helmut Schaller, Gabriele Schubert und Rumjana Zlatanova Fortgeführt von Wolfgang Gesemann, Rumjana Ivanova-Kiefer und Rumjana Zlatanova

Gefördert aus Mitteln der Dr. Röhling-Stiftung

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Online steht dieses Buch in Kürze als Volltextversion über den Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek München (www.bsb-muenchen.de) zur Verfügung.

Anschrift der Redaktion:

Dr. Raiko Krauß Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Eberhard Karls Universität Schloß Hohentübingen Burgsteige 11 D-72070 Tübingen eMail: [email protected]

Technische Redaktion: Manuel Birker eMail: [email protected]

Manuskripte und Rezensionsexemplare sind bei der Redaktion einzureichen. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen.

© 2015 bei Verlag Otto Sagner, München (http://verlag.kubon-sagner.de) «Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH Alle Rechte vorbehalten Satz: robert jones, marburg Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Printed in Germany

ISSN: 1869-3415 ISBN: 978-3-86688-540-0 ISBN (eBook): 978-3-86688-541-7 Sehr geehrte Leserinnen und Leser des Bulgarien-Jahrbuchs 2013, liebe Freunde Bulgariens!

Seit Jahren schon zeichnet sich die Reihe „Bulgarien-Jahrbuch“ durch eine große thematische Bandbreite und fundierte Beiträge angesehener deutscher und bul- garischer Wissenschaftler aus, die den an Bulgarien interessierten Lesern immer wieder neue Einblicke in seinen Alltag, seine Geschichte und Kultur, Wirtschaft und Politik gewähren. Dabei bezieht die Themenvielfalt ihren Reiz vor allem auch aus der Berücksichtigung scheinbar „abseitiger“ Fragestellungen, die neugieriges Interesse wecken – selbst dann noch, wenn man sich für einen Bulgarien-Experten halten mag. Vor Ihnen liegt ein Buch, das wie seine Vorgängerausgaben eine bunte Vielfalt interessanter Themen diverser Wissenschaftsgebiete im Bulgarien-Kontext be- leuchtet. Es richtet sein Augenmerk in diesem Jahr vor allem auf Naturwissen- schaften und Technik, Archäologie, kultur- und sozialwissenschaftliche Frage- stellungen, Literatur-, Sprach- und andere Geisteswissenschaften. Die Rubriken „Aktuelles“ und „Personalia“ lassen uns Leser darüber hinaus an der jahres- aktuellen Arbeit der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft teilhaben. Wenn wir im Erscheinungsjahr dieses Jahrbuches auf „25 Jahre Mauerfall“ zurückblicken, sollten wir uns in Erinnerung rufen, was einst war und was seit 1989 in unseren Ländern geschehen ist. Die vielfältigen Veränderungen, vor allem in gesellschaftspolitischer Hinsicht, haben auch zu einer Vertiefung der Kenntnis der Menschen übereinander und ihre europäischen Herkunftsländer beigetragen, die sich zuvor aus ideologischen Gründen fremd waren oder sich zumindest zeitweise entfremdet hatten. Seit der Maueröffnung ist allerdings eine stärkere Zugewandtheit und Aufgeschlossenheit vieler Menschen ost- und südosteuropäischer Länder gegenüber dem Westen, insbesondere Deutschland, zu verzeichnen, als es umgekehrt leider nach wie vor der Fall ist. Die Reihe „Bulgarien-Jahrbuch“ der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. bemüht sich seit Jahren sehr engagiert, dieses Ungleichgewicht in der gegenseitigen Wahrnehmung aufzuheben und Leser aus deutschsprachigen Ländern für Bul- garien und seine Vielfalt zu interessieren und zu gewinnen. Insofern ist diesem Jahrbuch eine große Leserschaft und Verbreitung und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre dieses Bandes zu wünschen.

Jörg Schenk Wissenschaftsreferent der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in

Sofia, den 31.10.2014

Inhalt

Grußwort von Jörg Schenk, Wissenschaftsreferent der Deutschen Botschaft in Sofia 5

Beiträge

Helmut W. Schaller Bulgarische Literatur in Deutschland: Von den Anfängen am Ende des 19. und bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts 11

Helmut W. Schaller Die „B©lgarsko knižovno družestvo/Bulgarische Literarische Gesellschaft“ im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1869-1878 49

Beiträge des Symposiums „Wissenschaft und Technik“ in Berlin 2012

Hans-Dieter Döpmann Technischer Fortschritt und Religion 66

Dietmar Linke Ivan Nikolov Stranski (1897-1979), der bulgarisch-deutsche „Großmeister des Kristallwachstums“, und sein Wirken im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik 80

Helmut W. Schaller Aus Gustav Weigands „Bulgarischer Bibliothek“: Geographie, Eisenbahn und Bergbau in Bulgarien 105

Horst Röhling Von Außenzentren zu Eigenzentren und inländischen Interessen der Abonnenten mathematisch-naturwissenschaftlicher Bücher in Bulgarien 1833-1875 119

Beiträge des Symposiums „Bulgarien im europäischen Haus“ in Darmstadt 2012

Sigrun Comati Zum Symposium der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. „Bulgarien im europäischen Haus“ am 15.11.2012 in Darmstadt 131

Ingo-Endrick Lankau Fürst Alexander I. von Bulgarien – ein Darmstädter 135 Denitza Kisseler Die bulgarischen Künstler und München. Kunstbeziehungen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 140

Dilyana Panayotova-Grün Merkmale der bulgarischen Migration am Beispiel von Bayern 156

Corinna Leschber Lateinische und italienische Etymologien im Bulgarischen 175

Ruselina Nicolova Der bulgarische Admirativ und seine Wiedergabe im Deutschen 184

Sigrun Comati Vergleichende Betrachtungen zur bulgarischen und deutschen Sprache im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets 199

Deniza Popova „Die bulgarischen Musiken“ im Spannungsfeld zwischen Verständnis und Selbstverständnis 210

Archäologische Beiträge

Jonas Abele Oberflächenbegehungen und Geländemodellierung des prähistorischen Fundplatzes Džuljunica-Sm©rdeš bei Veliko T©rnovo 233

Marion Etzel Die symbolischen Gräber mit Tongesichtern Nr. 2, 3 und 15 des kupferzeitlichen Gräberfeldes von Varna 249

Raiko Krauß Archäologische Forschungen in Bulgarien 2013 267

Personalia und Aktuelles

Dietmar Endler Norbert Randow zum Gedächtnis 279

Sigrun Comati In memoriam Dr. Kiril Kostov 281

Sigrun Comati Der III. Internationale Bulgaristik-Kongress vom 23. -26. Mai 2013 in Sofia 285

Beiträge

Helmut W. Schaller

Bulgarische Literatur in Deutschland. Von den Anfängen am Ende des 19. und bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts

Norbert Randow (1929–2013) zum Gedächtnis

Wie wenig im Vergleich zu anderen Literaturen aus dem bulgarischen Schrifttum ins Deutsche übersetzt wurde, gibt Kiril Christov in der von Franz Spina und Gerhard Gesemann, den beiden Slavisten an der Deutschen Universität Prag begründeten und herausgegebenen „Slavischen Rundschau“ im Jahre 1929 wieder:

„Aus keiner slavischen Sprache ist so wenig ins Deutsche übersetzt worden wie aus dem Bulgarischen. Ein paar kleine Erzählungen und Gedichte, die in unwichtigen Zeitschriften und hauptsächlich während des Krieges gedruckt wurden, tragen den Charakter der Zufälligkeit und dilettantischer Hand. Solche Übersetzungen verschwinden dann gewöhnlich mit dem Veralten der Zeitschriften, in denen sie erschienen sind. Die paar Bücher bulgarischer Schriftsteller, die von deutschen Verlegern herausgegeben wurden mit dem Be- streben, das Publikum für Bulgarien und die bulgarische Literatur zu interes- sieren, sind bare Ausnahmen, die nur beweisen, dass eine bulgarische Litera- tur in deutscher Sprache streng genommen nicht existiert.“ (Christov 1929, 36) Ganz so negativ ist das Bild der bulgarischen Literatur in Deutschland bis zum Jahre 1930 aber dennoch nicht, denkt man an die noch zu behandeln- den Übersetzungen von Georg Rosen, Gustav Weigand, Georg Adam und Otto Müller-Neudorf, zu denen dann Gerhard Gesemann – nicht zuletzt auch durch Kiril Christov angeregt – als weiterer Übersetzer bulgarischer Literatur kommt. In der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland führenden, von der Deutschen Verlagsanstalt herausgegebenen Zeitschrift Aus fremden Zungen wurde im Jahre 1901 auf das immer mehr zunehmende Interesse an aus- ländischer Literatur hingewiesen, wenn es dort zum Schluss des elften Jahr- ganges hieß:

„…Je mehr die moderne Kulturentwicklung das im deutschen Volke von jeher besonders rege Interesse am fremden Geistesleben steigert, desto mehr sind wir darauf bedacht, dieses Interesse, dem zu dienen unsere Zeitschrift berufen ist, durch eine gediegene Auswahl aus den dichterischen Schöpfungen des Aus- landes zu befriedigen. Dass wir uns dabei nicht auf die deutschen Literatur-

11 freunden auch anderweitig leicht zugänglichen Literaturen beschränken, sondern auch die zum Teil sehr beachtenswerten literarischen Bestrebungen kleinerer, räumlich entfernterer oder ihrer Kultur nach jüngerer Völker nicht unberücksichtigt lassen, bedarf keiner Rechtfertigung.“ (o. A. 1901, o. S.) In einem seinerzeit programmatischen Vortrag zum Thema „Der Slawen- freund Georg Adam und sein Verhältnis zur bulgarischen Literatur“, den Norbert Randow am 16. November 1960 anlässlich der 150-Jahrfeier der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hatte, hatte dieser darauf hinge- wiesen, dass die Frage nach den Rezeptoren einer fremden Literatur, nach den Übersetzern, Rezensenten und Verlegern, die sich eines einzelnen Dichters oder einer ganzen Literatur angenommen hatten, trotz einer Reihe von Einzelstudien immer noch nicht genügend bearbeitet sei. Dabei würde gerade ihre Beantwortung erst ein richtiges Licht auf die konkrete Verwirk- lichung literarischer Wechselbeziehungen werfen, die ja als solche nicht an und für sich existieren, sondern das Ergebnis einer mühsamen Arbeit einzel- ner Persönlichkeiten darstellen. Ohne eine gründliche Kenntnis der Biogra- phie der literarischen Mittlerpersönlichkeiten, so Norbert Randow weiter, sei auch eine tiefergehende Beurteilung der Rezeption, bzw. der Wirkung einer fremden Literatur, in diesem Falle der bulgarischen Literatur auf Deutschland, kaum möglich (Randow 1960, 81).1 Das Interesse für bulgari- sche Literatur, für Bulgarien überhaupt, scheint in Deutschland aber doch, wie sich zeigen wird, von der jeweils aktuellen politischen Situation abhän- gig zu sein. Die Übertragungen bulgarischer Literatur ins Deutsche lassen sich näm- lich vor allem auf drei zeitliche Bereiche beziehen: a So das Interesse an Bulgarien nach dessen Selbstständigkeit im Jahre 1878, dann durch die militärische Verbindung des Deutschen Reiches mit Bul- garien in der Zeit des Ersten Weltkrieges bedingt2, ein Interesse, das sich

1 Zu Georg Adams Biographie vgl. vor allem Zeil 1993a, 24–25. Georg Adam war aufgrund einer 1902 im Druck in Sachsenberg bei Schwerin erschienenen Disser- tation Zum periodischen Irresein von der medizinischen Fakultät der Universität Rostock promoviert worden. In seinem kurzen, dort veröffentlichten Lebenslauf heißt es: „Georg Adam, geboren am 8. Februar 1874 zu Berlin, besuchte, nach auf dem Leibniz-Gymnasium zu Berlin erhaltener Vorbildung, von Ostern 1893 bis Ostern 1899 die Universität Berlin, seit Ostern 1899 die Universität Rostock, bestand an letzterer am 27. März 1901 die ärztliche Staatsprüfung und am 30. März 1901 das Examen Rigorosum.“ 2 Vgl. hierzu den deutschen Bulgarienkenner Karl Kassner, Meteorologen der Univer- sität Berlin, mit seinem Vorwort zur 2. Auflage seines Buches Bulgarien. Land und Volk, erschienen 1918 in Leipzig: „Die starke erste Auflage von 1916 ist jetzt schon vor Beendigung des Weltkrieges und damit vor Festlegung der neuen Grenzen

12 b im Zweiten Weltkrieg weiter fortsetzte, als Bulgarien, wiederum zusam- men mit Deutschland, eine militärische Allianz bildete, in deren Rahmen, trotz nationalsozialistischer Ideologie und den damit direkt zusammen- hängenden Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, auch die Kulturbezie- hungen eine neue Blütezeit erlebten.

c Die dritte Epoche war durch die besonderen Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Bulgarien bedingt, während der sich eine große Zahl von Übersetzungen bulgarischer Literatur in das Deutsche feststellen lassen, eine Epoche, die durch die Ereignisse des Winters 1989/ 1990 ein rasches und auch unwiederbringliches Ende gefunden hat. In dieser Zeit wurden bulgarische Autoren mit der riesigen Zahl von nahezu 280 Titeln übersetzt, deren Verlagsbestände jedoch nach 1990 größtenteils vernichtet wurden, eine aus heutiger Sicht unverzeihliche Tatsache. Erst mit der Leipziger Buchmesse, für die Bulgarien zum literarischen Schwer- punkt erklärt worden war, ist die Aufmerksamkeit deutscher Leser zu- mindest für kurze Zeit erneut auf Bulgarien gelenkt worden ohne dass sich jedoch ein tiefergehendes und dauerndes Interesse für die zeitgenössische bulgarische Literatur entwickelt hätte. Demnach sind Übersetzungen aus einer fremden Literatur, zumindest aus quantitativer Sicht, eindeutig von der historischen Aktualität von Ereig- nissen und einzelnen Ländern abhängig. In Deutschland hat offensichtlich erst sehr spät die Übersetzung bulgarischer Literatur eingesetzt, während dies in England bereits einige Jahre früher der Falle war (vgl. Schaller 2000, 71–96; Schaller 1999, 201–215; Schaller 2013b).3

Bulgariens vergriffen. Zu dem schnellen Absatz hat mitgewirkt, dass das preußische Unterrichtsministerium allen höheren Lehranstalten ein Exemplar sandte, um so Lehrer und Schüler mit dem neuen Bundesgenossen bekannt zu machen, und dass ferner Seine Exzellenz Generalfeldmarschall Mackensen mein Buch nach Prüfung durch seinen Generalstab allen seinen Armeen empfahl.“ Vgl. hierzu Schaller 2013a. 3 Vgl. hierzu auch die bereits vor längerer Zeit von Vivian Pinto herausgegebene Sammlung: Bulgarian Prose and Verse. A Selection with an Introductory Essay by Vivian Pinto, University of London.The Athlone Press. 1957. In den USA erschien im Jahre 2006 als Band 19 der von Donald L. Dyer herausgegebenen Reihe Balkanistika, einer Sammlung bulgarischer Literatur unter dem Titel An Anthology of Bulgarian Literature“ edited by Ivan Mladenov and Henry R. Cooper jr., veröffentlicht für „The South East European Studies Association“. Im Vorwort (S. 6) schreibt H. Cooper: „Bulgarian literature is poorely represented in English translations, both in terms of Bulgarian prose, poetry and drama that has been translated, and also, sad to say, in the quality of some of the translations that do exist. And even the good translations that have been done are often hard to find, because they are out of print, or they appeared in obscure venues, or they were published on inferior paper that has long since scrumbled.”

13 Die literarische Übersetzung hat im deutschen Sprachraum eine sehr lange Tradition. Bereits in der Mitte des 8. Jahrhunderts kam es zu deut- schen Übersetzungen von lateinisch abgefassten kirchlichen Texten, die mit Luthers Bibelübersetzung einen Höhepunkt erreichten. Mit dem 17. Jahr- hundert erfolgte die Übertragung von nichtreligiösen Texten französischer und spanischer Originale. Eine weitere Zunahme von Übersetzungen aus anderen Sprachen in das Deutsche brachte die Epoche des Klassizismus und der Romantik. So wurde in den Jahren 1781 und 1785 Homers Odyssee und die Ilias durch Johann Heinrich Voß übersetzt, es folgten sehr bald die Übersetzungen von Shakespeares Macbeth und Voltaires Mahomet. Sämt- liche Dramen Shakespeares wurden durch August Wilhelm Schlegel, Doro- thea Tieck und Graf Wolf Baudissin ins Deutsche übertragen. Bei solchen Übersetzungen geht es verständlicherweise nicht nur um die Vermittlung des Sinnes, des „Gemeinten“ des Textes, sondern auch um die angemes- sene Übersetzung von stilistischen Besonderheiten, die Deutlichmachung von Sachverhalten, die im Deutschen, wie auch in anderen Sprachen, ent- weder keine oder auch eine andere Rolle spielen. Alle diese Fragen, die zu einer umfangeichen Fachliteratur geführt haben (vgl. Nida 1964; Störig 1969; Hartmann/Vernay 1970; Koller 1979; Stein 1980; Wilss 1981; Stolze 1982), sollen jedoch im Folgenden unberücksichtigt bleiben, es soll hier vor allem der historische Hintergrund der Übersetzungen aus dem Bulgarischen ins Deutsche beleuchtet werden. Was nun die Übersetzung deutscher Literatur in Bulgarien in der Zeit von 1878 bis 1944 anlangt, so waren die Werke der Brüder Grimm bereits 179 mal veröffentlicht worden, die Werke von Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller waren 69 bzw. 48 mal publiziert worden, ge- folgt von Heinrich Heine mit 18, Bernhard Kellermann mit 15 und Gott- hold Lessing mit 16 Übersetzungen. Die Auflagenhöhe war bei den Brü- dern Grimm am höchsten, gefolgt von Schiller und Goethe mit weit mehr als 100 000 Exemplaren, während andere deutsche Schriftsteller mit ihren Auflagenhöhen unter 100 000 lagen. Der Beginn der Übersetzung deutscher Literatur in Bulgarien lag vor dem Beginn der Übersetzung bulgarischer Literatur in Deutschland. Zu nen- nen sind wohl an erster Stelle die Übersetzungen Pen²o Slavejkovs (1866– 1912 in Italien verstorben, 1921 nach Bulgarien überführt) in der bulgari- schen Zeitschrift Mis©l in den Jahren 1892 bis 1907. Im Jahre 1911 erschien ein Sammelband Slavejkovs unter dem Titel Nemski poeti/Deutsche Schrift- steller. 1880 folgte eine Übersetzung von Wilhelm Tell aus dem Serbischen in das Bulgarische durch Z. Talimova, Friedrich Schillers Egmont wurde 1887 von El. Dimitrova, Die Leiden des jungen Werther 1889 von Atanas Dragnev übersetzt, Emilia Galotti von G. E. Lessing wurde 1890 von Kr©stju

14 Kr©stev (1866–1919) übertragen. Der 1. Teil von Goethes Faust wurde 1906 von Aleksand©r Balabanov (1879–1955) übersetzt, doch erst der 100. Todes- tag Goethes im Jahre 1932 brachte eine Reihe neuer Übersetzungen ins Bulgarische. Wilhelm Tell wurde 1910 erneut von Kiril Christov (1875–1944) übertragen, der 1929 eine weitere Übersetzung durch Nikolaj Liliev (1885– 1960) folgte, 1914 wurde Nathan der Weise übertragen. Besonderes Gewicht hatte neuerer Zeit die Übersetzungstätigkeit von Geo Milev (1895–1925), auf den 57 Übersetzungen deutscher Werke zurückgehen, u.a. von Richard Demel, Nikolaus Lenau und Johannes Becher. Viele dieser Übersetzungen finden sich in der 1923 veröffentlichten Anthologie Kr©štenie s org©n i duch. Erich Maria Remarques weltbekannter Roman Im Westen nichts Neues wurde 1929 von Dimit©r Chadžiliev (1896–1960) ins Bulgarische übersetzt. Einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller in Bulgarien wurde jedoch Stefan Zweig, von dem insgesamt 27 Werke von unterschiedlichen Übersetzern ins Bulgarische übertragen wurden. In der großen Zahl von Übersetzungen aus anderen Sprachen in das Bulgarische steht am Anfang die antike Lite- ratur, gefolgt von der russischen bzw. dann auch sowjetischen Literatur, dann Übersetzungen verschiedener slavischer Literaturen, der französischen Literatur, der dann die deutsche Literatur folgte, vor der englischsprachi- gen, italienischen und spanischen Literatur stehend. Einer der allerersten, die bulgarische Dichtung in Deutschland bekannt machten, war der aus Detmold stammende Historiker und Volkskundler Georg Rosen (1820–1891) gewesen, seit 1844 Übersetzer bei der Preußi- schen Gesandtschaft in Konstantinopel. 1852 bis 1875 war Rosen im diplo- matischen Dienst in Jerusalem und tätig. Er studierte seit 1839 in Berlin und Leipzig orientalische Sprachen und hielt sich zu sprachwissen- schaftlichen und ethnographischen Studien im Kaukasus auf (vgl. Zeil 1993b, 326–327; Zeil 1994, 401–405; Röhling 1975; Keipert 1983). In einer 1878 beim Verlag Brockhaus in Leipzig veröffentlichten Studie unter dem Titel Die Balkan-Haiduken bringt Georg Rosen einen Beitrag zur inneren Ge- schichte des Slaventums, wo er zunächst darauf hinweist, dass die Er- eignisse der vorangegangenen Jahre in einem bisher nicht da gewesenen Ausmaße die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Balkanhalbinsel gerichtet hätten. Sowohl geographische, ethnographische wie auch histo- rische Fragen schienen nunmehr zur unumgänglichen Beschäftigung aller Gebildeten geworden zu sein. Vor allem seien es aber die Bulgaren, die bis- her am seltensten genannte slavische Nation, die die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen habe. Rosen bezieht sich bei seinen Aus- führungen neben den bekannten Schriften des ungarischen Ethnographen Felix Kanitz (1829–1904; cf. Kanitz 1862; Kanitz 1864; Kanitz 1868; Kanitz 1870; Kanitz 1875-1879; Kanitz 1892; Kanitz 1904-1909; Kanitz 1904-1914),

15 der mehrfach die slavischen Länder der Balkanhalbinsel bereiste, und des russischen Slavisten Aleksandr Hilferding (1831–1872)4 auch auf eine bisher unbekannt gebliebene englische Veröffentlichung von Stanislav Graham Bower Saint Clair und Charles A. Brophy, die sich zwei Jahre auf bul- garischem Boden aufgehalten haben und sich ausführlich mit den dortigen Bedingungen, dem Charakter, den Gebräuchen und Sprachen der christ- lichen und islamischen Bevölkerung mit Blick auf die Orientfrage befassten (Bower Saint Clair/Brophy 1869). Zu nennen sind hier auch die Veröffentlichungen von Adolf Strausz, vor allem seine von ihm übersetzten, mit Einleitung und Anmerkungen ver- sehenen Bulgarischen Volksdichtungen (Strausz 1895) und seine Darstellung Die Bulgaren mit dem Untertitel „Ethnographische Studien“, erschienen 1898.5 In der Sammlung bulgarischer Volksdichtungen bringt Strausz Über- setzungen von Weihnachts-Liedern, Epen, Heldenliedern, Hochzeits- und Verlobungsliedern, Heiligenliedern, Liedern der mohammedanischen Bul- garen sowie Gelegenheitslieder. In seinen einleitenden Bemerkungen zu dem Buch Die Balkan-Haiduken zeichnet Georg Rosen zunächst ein nicht sehr günstiges Bild von den Bul- garen. Nach den allgemeinen Ausführungen über das „Bulgarenthum“ auf der Balkanhalbinsel werden nach Darlegung des Problems der bulgarischen Haidukenpoesie im ersten Teil eine Reihe von Gedichten im Versmaß des Originals in deutscher Übersetzung wiedergegeben, gefolgt von der ins Deutsche übersetzten Lebensgeschichte des Haidukenführers Panajot Chi- tov, von diesem selbst beschrieben, nebst Nachrichten über damalige und frühere Wojwoden von Georg Rosen aus dem Bulgarischen ins Deutsche übersetzt. Im Vorwort der 1879 im Verlag Brockhaus veröffentlichten Bulgarischen Volksdichtungen, von Georg Rosen gesammelt und ins Deutsche übertragen, führt der Verfasser zur Bedeutung der Volksdichtung u. a. aus:

„Unstreitig aber zählen die Volksdichtungen zu denjenigen geistigen Erzeug- nissen, welche am innigsten in das Gemüthsleben und die Gedankenrichtung einer Nation einführen, und darf ich demnach nur hoffen, dass der Strauß bulgarischer Lieder und Gesänge, den ich hier biete, als eine willkommene Gabe werde betrachtet werden.

4 Hilferding veröffentlichte seine Istorija serbov i bolgar in St. Peterburg 1868. Deutsche Übersetzung: Geschichte der Serben und Bulgaren 1.–2. Aus dem Rus- sischen von J. E. Schmaler (Bautzen 1856–1864); Ungarische Übersetzung: A szerbek és bolgárok története. Irta Hilferding. A. Ford. Kiss Simon (Nagy-Becskerek 1890). 5 Bei Th. Grieben´s Verlag (L. Fernau).

16 Der vornehmlichste Werth, den diese von mir in die deutsche Literatur eingeführten Fremdlinge beanspruchen, ist also der ethnographische, erst in zweiter Linie erwähne ich noch einen andern. Die hohe Bedeutung des echten Volksliedes für die Kunstdichtung, die Bedeutung, welche große Meister wie Goethe, wie Chamisso, wie Heine wohl zu würdigen wussten, solche am wenigsten in einer geist- und formgewandten Epigonenzeit wie die unsere unterschätzt werden; dasselbe lässt uns Blicke in das einfache Urmaterial thun, aus welchem das Menschengeschlecht im Verlaufe der Jahrtausende all seine Poesie aufgebaut hat und welches, wenn auch durch die Zuthaten von Individualität und Schule mehr oder weniger den Blicken entzogen, immer die nothwendige Grundlage jeder dichterischen Schöpfung bleiben muss.“ (Rosen 1879, VI) Mit Bezug auf Bulgarien heißt es bei Georg Rosen weiter:

„Die Schrift, welche ich hiermit dem Publikum übergebe, ist insofern ein Kind der Jetztzeit, als ich an ihre Veröffentlichung schwerlich gedacht haben würde, wenn nicht die Ereignisse der letzten Jahre aller Welt eine Beschäfti- gung mit den früher so wenig beachteten Völkern der Balkanhalbinsel auf- genöthigt hätten. Das „Halbasien“, welches ein vielgelesener österreichischer Schriftsteller von Galizien ab ostwärts gefunden, ist uns durch den greuel- vollsten Krieg unseres Jahrhunderts und durch die Bemühungen Europas um Neugründung gesitteter Zustände mit seinen entlegensten transdanubischen Gebieten näher gerückt: es ist der Mühe werth geworden, zu erfahren, um was für Menschen jene Ströme rothen Blutes und schwarzer Tinte geflossen sind und noch fließen sollen.“ (Rosen 1879, V) Die Veröffentlichung der zahlreichen bulgarischen Volkslieder in deutscher Sprache erfolgte in vier Abschnitten, nämlich beginnend mit Volksliedern, die Nachklänge vorchristlichen Volksglaubens enthalten, gefolgt von kirch- lichen Dichtungen, Bildern und Erinnerungen aus der Balkanhalbinsel und schließlich poetische Erzählungen, Fabeln und Idylle.“ (Rosen 1879, V) Georg Adam, der bereits erwähnte Übersetzer und Kenner bulgari- scher Literatur, bot 1899 eine Einführung in das bulgarische Schrifttum. U.a. heißt es bei ihm:

„Wie bekannt, besteht die nationale Selbständigkeit, diese unerlässliche Be- dingung für eine freie Entfaltung des Geisteslebens eines Volkes, in Bulgarien erst seit wenigen Jahrzehnten, und selbst heute ist sie noch nicht einmal absolut. Eine litterarische Bewegung (die uralte Volkspoesie kommt ja hier nicht in Betracht), ging ihr um einige Zeit voraus. Die Pioniere der Litteratur in dem geknechteten Lande mussten zunächst ihre volle Kraft auf die Ten- denz, die Erweckung des nationalen Selbstbewusstseins im Volke verwenden.

17 Die glänzendsten Namen jener sozusagen vorgeschichtlichen Epoche sind G. St. Rakowski und Boteff. Ersterer, der bis zum Jahre 1893 lebte, musste sich erst selbst aus dem Altslavischen und der bulgarischen Volksprache eine eigene Schriftsprache schaffen, von der allerdings das heutige Bulgarische schon beträchtlich abweicht; doch da ihm die Tendenz das einzige Ziel, so kämpfte er fast ebenso häufig mit dem Schwerte wie mit der Feder. Der Fortsetzer seines Werkes Christo Boteff, der im Jahre 1876 im Alter von 29 Jahren als Führer einer Insurgentenschar im Kampfe gegen die Türken fiel und nicht mehr als zwanzig Gedichte und einige Zeitungsartikel hinterlassen hat, ist heute noch das leuchtende Vorbild der idealistisch und freiheitlich gesinnten Jugend. Aber diese Nationalhelden gehören bereits der Geschichte an, ob- gleich viele, die ihnen in ihrem kampfesmüden Leben und Streben zur Seite gestanden, noch unter der jetzigen Generation weilen und in der Gegenwart eine Rolle spielen. Zu diesen Männern gehört Iwan Wasoff, der noch immer als der gelesenste und bedeutendste Dichter Bulgariens gilt, sein Hauptroman „Unter dem Joch“, der jene Zeit des Kampfes gegen die Türkenherrschaft zu Beginn der siebziger Jahre in treffenden Einzelbildern schildert, ist bereits ins Englische und einige andere westeuropäische Sprachen übersetzt, und einige seiner kleineren Skizzen aus neuerer Zeit sind, wenn auch in nicht gerade sehr glücklicher Auswahl, in deutscher Uebertragung von Popoff erschienen.“ (Adam 1899, 681–682) Nach diesen einführenden Bemerkungen zum bulgarischen Schrifttum Ende des 19. Jahrhunderts geht Georg Adam noch auf zwei damals bereits be- kannte Vertreter der bulgarischen Literatur ein, nämlich Aleko Konstan- tinov (1863–1897) und Pen²o Slavejkov (1866–1912). Bereits 1896 wurde Ivan Vazov (1850–1921) mit seinen Skizzen aus dem bulgarischen Residenzleben durch eine von L. I. Popov veröffentlichte Über- setzung bekannt gemacht (Popov 1896). Vorangestellt wurde ein Vorwort des Übersetzers. 1908 folgte die Übersetzung von Ivan Vazovs Die Bulgarin und andere Novellen von Maria Jonas SzataÚska.6 Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges war auch Ivan Vazovs historisches Schauspiel in fünf Aufzü- gen Borislav aus der Zeit Ivan Asens II (Vazov 1910). bei der Belletristischen Verlagsanstalt „Die Sonne“ erschienen, aus dem Bulgarischen ins Deutsche übertragen von Z. Zobel. Das Werk wurde 1910 in Sofia gedruckt, nach- dem es 1909 dort erstmals aufgeführt worden war. Im 1957 erschienenen „Schauspielführer“ beschreibt Joseph Gregor Ivan Vazovs Borislav wie folgt:

6 Erschienen 1908 als Nr. 5059 in Reclams Universalbibliothek, eine 2. Auflage der Übersetzung folgte 1913 und eine dritte Auflage 1917/18, was auf ein steigendes Interesse im deutschsprachigen Raum an Bulgarien hinweist.

18 „Obgleich Vazov bemüht war, möglichst plastisch die Ereignisse aus der Ge- schichte des Großbulgarischen Reiches in den dargestellten Episoden zum Ausdruck zu bringen, ist das Stück doch im Aufbau der Intrige und der Charakterisierung der handelnden Personen als pseudohistorisch zu bezeich- nen. Der bedeutende Erfolg, den es in Bulgarien erringen konnte, ist wohl da- rauf zurückzuführen, dass Vazov durch volkstümliche Schwarz-Weiß-Malerei und starke patriotisch-chauvinistische Pathetik die Gefühle und Stimmungen seines Zuschauerpublikums geschickt zu lenken verstand.“ (Gregor 1957, 132- 133) Einen anderen Widerhall erfuhren jedoch Ivan Vazovs Erzählungen und Novellen, im Jahre 1917 von Ivan H. Nikoloff in Sofia und Leipzig veröffent- licht. Diese Sammlung war in der von Michail Tichov und Alexander Do- ritsch (vgl. Schaller 1993) neu herausgegebenen Reihe „Bibliothek bulgari- scher Schriftsteller und Dichter“ in Sofia und Berlin veröffentlicht worden, von der allerdings nur dieser eine Band erschienen war. Im Jahre 1919 wurde diese Sammlung von Vazovs Erzählungen und Novellen von Hein- rich Brömse durchaus positiv beurteilt:

„Es lohnt sich in doppelter Weise, diese Erzählungen zu lesen. Man lernt einen Dichter von geistigem Gehalt und feiner künstlerischer Stimmung ken- nen und wird zugleich in ausgeprägt bulgarisches Volkstum eingeführt. Die Landschaft und die Menschen, vor allem die der unteren Schichten, werden eindrucksvoll gezeichnet, die Freiheitskämpfe der Bulgaren mit kraftvoller Eigenart dichterisch gestaltet. Wasow, heute fast siebzigjährig, hat selbst an diesen Kämpfen teilgenommen, auch später noch eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben seines Landes gespielt und gilt, von seinem Volke hoch- geehrt, als Altmeister der bulgarischen Sprache und Literatur.“ (Brömse 1919, 299) Der Erste Weltkrieg und die politische und militärische Verbindung des Deutschen Reiches mit Bulgarien hatte den Übersetzer Otto Müller-Neu- dorf7 offensichtlich veranlasst mit einer Auswahl bulgarischer Gedichte und Erzählungen unter dem Titel Blumen aus dem Balkan an die deutsche Öffentlichkeit zu treten. Otto Müller-Neudorf wurde am 11. Februar 1884 in Berlin geboren, während des Balkankrieges 1912/1913 war er als Bericht- erstatter für deutsche Zeitungen, u. a. für die „Frankfurter Allgemeine

7 Zu Otto Müller-Neudorf vgl. Haralampieff 1982, wo es abschließend heißt: „In Wort und Schrift hat Otto Müller-Neudorf jahrzehntelang für Bulgarien, das Land, das er so sehr liebte, Bahnbrechendes geleistet. Seine Frau, Dorothea Kiefer, befasste sich ebenfalls mit der bulgarischen Kultur und übersetzte bulgarische Prosa ins Deutsche.“

19 Zeitung“ tätig. Otto Müller-Neudorf erlernte das Bulgarische, befasste sich mit der bulgarischen Literatur und unterhielt zahlreiche persönliche Kon- takte mit Vertretern Bulgariens. Für das Jahr 1856 finden sich zuletzt Hin- weise auf ihn im Kölner Raum.8 Otto Müller-Neudorf bulgarisierte sogar seinen Namen als „Stoil M. Novoselski (Neudorf)“ und gab 1948 unter die- sem Namen in München noch eine Gedichtsammlung mit dem Titel Bul- garische Heimat – 24 Lieder heraus, die jedoch nur als Privatdruck bekannt wurde (Novoselski 1948). In seinem, im Sommer 1917 in Sofia verfassten Geleitwort schreibt Otto Müller-Neudorf:

„Blumen aus dem Balkan“, eine Auswahl bulgarischer Gedichte und Erzäh- lungen. – Diese Auswahl will keine Anthologie sein. Sie beansprucht nicht, das Schönste und beste in sich zu enthalten, was das Land des Balkans, der junge Staat Bulgarien, in seinem prächtigen Dichtergarten aufweist. Bei einem kurzen Rundgange wurde Einiges vom Schönen gepflückt, einige duftende Blumen. Sie wurden nicht zu einem farbenschönen Strauße gewunden, son- dern zufällig nebeneinander gereiht und sollen dem deutschen Leser nur sagen: wir sind aus einem prächtigen Garten, den ein noch junges Land mit liebender Hand geschaffen hat und verständnisvoll weiter pflegt.“ (Müller- Neudorf 1917, 5) Eingeleitet wurde der Band mit einer Übersicht über die neuere bulgarische Literatur, verfasst von Michail Tichoff, Direktor der Bulgarischen National- bibliothek in Sofia, der dort eine Wertung bulgarischer Schriftsteller vor- nimmt, wenn er von drei großen Talenten spricht, nämlich Pen²o Slavejkov (1866–1912), Kiril Christov (1875–1944) und P. K. Javorov (1878–1914). Alle drei haben den Wert des Volksliedes für die Kunstdichtung erkannt, aus den Volksliedern schöpften sie nämlich Motive für Gedichte. An erster Stelle der von Otto Müller-Neudorf gebotenen bulgarischen Schriftsteller steht Christo Botev mit seinem Gedicht „Chadži Dimit©r“, gefolgt von Ivan Vazov mit den Gedichten „Jung war ich“, „Liebe ist not“ und „Allons, enfants, de la patrie“, dem sich noch die Erzählung „Kehrt er zurück“ von Ivan Vazov anschließt. Es folgt Nikola Michajlovski (1818–1892) mit dem Gedicht in Prosa „Der Sinn des Leidens“ und Pen²o Slavejkov (1866–1912) mit seinem epischen Gedicht „Die Legende des Balkans“. Es schließen sich die Erzählungen „Letzter Dienst“ und „Zwischen Himmel und Erde“ von Anton Strašimirov (1872–1937) an. Besonderes Gewicht hatte Otto Müller- Neudorf auf die bulgarischen Autoren Kiril Christov und P. K. Javorov gelegt. Von Christov übersetzte er die Gedichte „Deutschland“, „Gottes-

8 Sein Todesjahr war nach den Angaben von K. Haralampieff nicht zu ermitteln.

20 strafe“, „Komm“, „Frauen und Wein – Wein und Frauen“, „An der Wiege meines Sohnes“, „Anbrechen des Feiertages“ und die Erzählung „Totka“. Von Javorov bringt Otto Müller-Neudorf die Gedichte „Flüchtlinge“, „Ar- menier“, „Am Herdfeuer“, „Nimmerfrage“, „Du ängstigst, Mutter, grund- los Dich“, „Wunsch“, „Vermächtnis“, „Auf dem Acker“, „Dich liebe ich“, „In Weiß gekleidet“ und „Zwei Seelen“. Im weiteren Verlauf der gebo- tenen Übersetzungen finden sich Märchen von Petko Todoroff (1879–1916), die Erzählungen „Schnitter“ und “Gevattergäste“ von Elin Pelin, das Ge- dicht „Hymne an die Arbeit“ von Stilijan +ilingirov (1881-1962) und zum Abschluss die Erzählungen „Auferstehung“ und „Der General“ von Dobri Nemirov (1882–1945). In einem Anhang finden sich noch zwei Abhand- lungen, nämlich über das Nationaltheater in Sofia und die Nationalbiblio- thek in Sofia. Mit dem Ersten Weltkrieg und der militärischen Allianz Deutschlands und Bulgariens seit dem Jahre 1915 war auch die bulgarische Literatur für ein breiteres Publikum in Deutschland von Interesse. So erschien von dem damals bekannten Schriftsteller und Publizisten Roda Roda der Sammelband Das Rosenland. Bulgarische Gestalter und Gestalten, erschienen 1918 bei der Verlagsbuchhandlung Gebrüder Enoch in Hamburg und Leipzig. Bei Roda Roda handelte es sich um ein Pseudo- nym von Alexander Sándor Rosenfeld, geboren am 13. April 1872 in Drno- vice/Dirnowitz u Vyškova in Tschechien, verstorben am 20. August 1945 in New York.9 Nach Vorwort und Einleitung wurde eine ganze Reihe von damals lebenden bulgarischen Schriftstellern vorgestellt, so von Petko Slavejkov (1827–1895), Ljuben Karavelov (1837–1879), Christo Botev (1847– 1876), Ivan Vazov (geboren 1850), Stojan Michajlovski (geboren 1856), Ekaterina Karavelova (geboren 1861), Aleko Konstantinov (1863–1897), Pen²o Slavejkov (1866–1912), Mara Bel²eca (geboren 1868), Canko Cer- kovski (geboren 1869), Anton Strašimirov (geboren 1872), Kyril Christov (geboren 1875), Andrej Proti² (geboren 1875), Peju Javorov (1877–1915), Alexand©r Balabanov (geboren 1877), Alexand©r Vojnov (geboren 1878), Elin-Pelin (geboren 1878), Petko Todorov (1879–1916), Trifon Kunev (ge-

9 Roda Roda war aufgrund der Vielzahl und Vielfalt seiner Veröffentlichungen wohl einer der schillerndsten Schriftsteller seiner Zeit. Er war 1892 bis 1902 österreichi- scher Offizier, verfasste während der bosnischen Annexionskrise 1909 Berichte für Zeitungen aus Belgrad. Während der Balkankriege hielt sich Roda Roda in Konstan- tinopel, Athen und Belgrad auf. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitglied des Pressezentrums des Österreichischen Oberkommandos an mehreren Fronten. Roda veröffentlichte zahlreiche Anekdoten, Schwänke und Komödien, auf ihn geht auch ein autobiographischer Roman mit dem Titel „Roda Rodas Roman“ aus dem Jahre 1925 zurück. Seine ausgewählten Werke erschienen 1932/1933 in zwei Bänden.

21 boren 1880), Stilijan +ilingirov (geboren 1881), Teodor Trajanov (geboren 1882), Jordan Jovkov (geboren 1884), Dora Gabe-Peneva (ohne Daten), Ljudmil Stojanov (geboren 1887), Dim²o Debeljanov (1887–1916) und Vla- dimir Peev (geboren 1890). Im Vorwort schreibt der Übersetzer und Heraus- geber des Bandes, dass die bulgarischen Dichtungen von ihm meist getreu, manchmal auch frei wiedergegeben wurden, die Prosastücke hatte er ab und zu gekürzt wiedergegeben. Roda Roda äußert sich in seinem Vorwort auch zur Frage des Übersetzens:

„Man wendet gegen das Übersetzen fremden Schrifttums allerhand ein, vor allem: Die Übersetzung könne das Original nie und nimmer im feinsten wiedergeben, die mache also die Lektüre des Originals nicht entbehrlich. Der Einwurf mag dem Übersetzen aus Weltsprachen gegenüber gelten, wo die Urschrift dem sprachlich geschulten Leser erreichbar ist; die Kunst der klei- nen Völker wird nicht ohne den Übersetzer auskommen. Fragt sich: ob die kleinen Literaturen nicht besser unbekannt blieben? Gar oft sind Übersetzungen Indiskretionen, die Nachdichtung nichtmilitärischer Lan- desverrat. Daas ist des Pudels Kern. Ist das Original einer Übersetzung wert gewesen? Hat die Kenntnis der fremden Literatur uns künstlerisch bereichert? Künst- lerisch bereichert – darauf liegt der Nachdruck; die Wissenschaft von Völkern und Dichtern mag sich füglich um die Originale bemühen. Nun ich meine, mit dieser Sammlung bulgarischer Erzeugnisse einen Fenster- laden aufgestoßen zu haben, und Deutschland werde von dem Ausblick ins Rosenland so freudig überrascht sein, wie ich es war, als ich ihn zum ersten Mal genoss. Ob die Bulgaren politisch mit uns oder gegen uns stehen, muss natürlich bei Beurteilung ihrer Dichtkunst außer Betracht bleiben. Die Auswahl möchte dem Leser eine Vorstellung geben vom gegenwärtigen Stand des bulgarischen Schrifttums. Alexander Balabanoff und Andrej Pro- titsch standen mir mit wertvollen Ratschlägen bei… Ich sagte vorhin: ich hatte mich nicht immer streng an den ursprünglichen Wortlaut der Prosastücke geklammert. Wo ich davon abwich, tat ich´s niemals in der überheblichen Ansicht und Absicht, die Werke zu verschönern; niemals aus einem Leichtsinn, dem des Dichters Wort ein Quentchen wiegt. Ein ge- wisses Maß von Freiheit muss man dem urteilsfähigen Übersetzer aus tau- send Gründen zugestehen – und andre als Urteilsfähige sollen die Hände weg von derlei Arbeit halten. Zu kleinen Änderungen zwingt schon die Ver- schiedenheit von Begriffsschatz und Denkweise des Deutschen hüben, des Balkanmenschen drüben. Ich bin stolz darauf, ohne den Ballast sachverständi- ger Anmerkungen ausgekommen zu sein….“ (Roda Roda 1918, 11–12)

22 Im Rahmen der Einleitung zu seinem Band der Übersetzungen damals zeit- genössischer bulgarischer Schriftsteller gibt Roda Roda auch einen kurzen Überblick über die Entwicklung des bulgarischen Schrifttums:

„Die Bulgaren hatten schon im neunten Jahrhundert ein Schrifttum. Kirchen- bücher. Ihr Alphabet war´s, das sich mit dem Christentum zu Serben, Ukra- inern und Russen verbreitete. Doch Bulgarien geriet 1018 unter die Herrschaft von Byzanz. Befreite sich 1186 daraus – nur, um in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts der ebenso harten türkischen Hoheit zu verfallen. Keine Glocke läutete mehr. Beim eintönigen Hämmern des Symantrons, stöh- nend, endlich stumm, immer tiefer, langsam, langsam beugte sich der bulga- rische Nacken unter das fremde Joch – bis die Rajah, die Herde allmählich ihre Geschichte vergaß, ihr Volksbewusstsein, vegetierte und vertierte. Nichts ist so bezeichnend für die zermalmende Kraft des türkischen Drucks wie dieser völlige, restlose Verlust des bulgarischen Nationalbewusstseins, ja, des bulgarischen Namens: Rumili, die Romäer hießen sie alle, alle, die christ- lichen Völker der Balkanhalbinsel. Erst 1762 verfasste der Mönch Paissij auf dem Athos eine „Slavobulgarische Geschichte“, die sich handschriftlich verbreitete; eine Geschichte, durchfloch- ten mit Irrtum und Legende – in einer Sprache voll altslavischer, kirchen- slavischer Wörter, Wendungen und Schnörkel. Doch der Eifer, der vater- ländische Zorn des Mönchs kochten selbst in diesem hohlen Ton und er- wärmten, entzündeten zuletzt die kalte Menge: die Bulgaren erinnerten sich ihrer glänzenden Vergangenheit, ihres Volkstums wieder. Das Volk war er- weckt und horchte, was ihm die Dichter zu sagen hätten. Nun brauchten die Dichter noch eine Sprache, zum Volk zu reden: Petko Slawejkoff gab sie ihnen.“ ( Roda Roda 1918, 14–125) In das Jahr 1918 fällt auch die erste deutsche Übersetzung von Ivan Vazovs Roman Unter dem Joch in einem ersten Teil mit dem Untertitel „Ein Roman aus der Zeit der bulgarischen Befreiungskämpfe“, aus dem Bulgarischen ins Deutsche übersetzt von Athanas Dimitroff, herausgegeben von Fritz von Philipp, seinerzeit bulgarischer Konsul, beim Verlag Dr. Iwan Parlapanoff in Leipzig.10 Die Übersetzung war in der neuen Reihe „Bibliothek der

10 Zum Verlag Ivan Parlapanoff ist anzuführen, dass der Besitzer des Unternehmens im Jahre 1902 an der Universität Leipzig aufgrund der Abhandlung „Das Utilitäts- prinzip in der Pädagogik vom Auftreten der Reformpädagogen bis Pestalozzi“ promoviert wurde. In der beim Verlag Georg Fock in Leipzig veröffentlichten Ab- handlung findet sich der folgende Lebenslauf: „Ich, Ivan Parlapanoff, orthodox, wurde am 14. September 1874 a. St. in Gradetz, Südbulgarien, geboren und besuchte die mittlere Volksschule meines Heimatsortes. Nach einer kurzen Unterbrechung genoss ich meine weitere Ausbildung in der

23 bulgarischen Literatur“ erscheinen. Das Vorwort zu dieser Jahre nach der englischen Übersetzung des Romans deutschen Übersetzung hatte der Ber- liner Meteorologe Carl Kassner, verfasst, in dieser Zeit einer der führenden Kenner Bulgariens in Deutschland, der bei dieser Gelegenheit auch seiner Verwunderung Ausdruck gibt, dass dieses Werk erst im Jahre 1918 der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt wird:

„Der vorliegende Roman ist eines der bemerkenswerten Werke der neuen bulgarischen Literatur. Es ist nicht nur dichterisch, sondern auch geschichtlich von hohem Werte. Mit seltener künstlerischer Eigenart ist darin das bul- garische nationale Leben am Vorabend der Befreiung Bulgariens geschildert. Der Roman ist bereits in alle europäischen Hauptsprachen übersetzt worden, nur nicht ins Deutsche. Einen Grund dafür kann man wohl schwer angeben – vielleicht das Fehlen eines geeigneten Übersetzers und mangelnde Kenntnis der Bedeutung dieses Werkes bei den Verlegern. Zwar liegt die Zeit, in der die Handlung spielt, nur um vier Jahrzehnte zurück, aber Bulgarien und die damaligen Zustände in diesem Lande waren doch bis vor kurzem noch recht unbekannt. Auf die höchsten, so dramatisch in diesem Roman geschilderten, Anstrengungen der Bulgaren, sich von der politischen Knechtschaft zu be- freien, folgen die großen Ereignisse des russisch-türkischen Krieges und des Berliner Kongresses (1877–1878) so schnell, dass die Erinnerung an die bul- garische Befreiungsbewegung in unserer rasch lebenden Zeit bald verwischt wurde. Deshalb musste man wohl auch früher annehmen, dass eine Schil- derung der bulgarischen Aufstände keinen buchhändlerischen Erfolg haben würde. Jetzt aber, nun Bulgarien unser Bundesgenosse geworden ist, kann jeder Versuch, uns in irgendeiner Richtung mit ihm näher bekannt zu machen, nur lebhaft begrüßt werden. Ein solcher Versuch ist die deutsche Herausgabe

Lehrerbildungsanstalt zu Kazanlik, wo ich im Jahre 1895 die Reifeprüfung ablegte. Nach zweijähriger Thätigkeit als Lehrer bestand ich das Staatsexamen für Volks- schullehrer. Im Oktober 1897 bezog ich die Universität Leipzig. Vorlesungen hörte ich während meines Universitätsstudiums bei folgenden Herren Professoren und Dozenten: Strümpell, Richter, Ratzel, Heinze, Volkelt, Wundt, Wiener, Fricker, Schiller und Brandenburg. Allen diesen Herren Professoren und Dozenten spreche ich hiermit meinen verbindlichsten Dank aus für die Förderung meiner Studien, insbesondere Herrn Professor Johannes Volkelt, dessen pädagogische Vorlesungen mir die Anregung für vorliegende Arbeit gaben und unter dessen gütiger Leitung ich diese Arbeit ausgeführt habe. Leipzig, Juli 1901.“ Ivan Parlapanov veröffentlichte 1917 den „Almanach carstvo B©lgarija. S©stavil s oficialno s©dejstvie Ivan Parlapanov“, das bulgarische Staatsadressbuch, ferner den „Jubiläums-Almanach Königreich Bulgarien. Mit amtlicher Unterstützung heraus- gegeben von Ivan Parlapanoff“ (Leipzig und Sofia 1928). Mit zahlreichen wissen- schaftlichen Fachbeiträgen zu Bulgarien.

24 dieses Buches – eines Hauptwerkes des großen lebenden bulgarischen Dichters Iwan Wasoff. Die Übersetzung ist dem leider im Sommer 1916 gestorbenen jungen Dr. A. Dimitroff, dem Lektor für deutsche Sprache an der Universität Sofia, zu ver- danken. Nach meiner Kenntnis der Bulgaren hat er die einfache Sprechweise der Leute ausgezeichnet getroffen, während die meisterhaften landschaft- lichen Schilderungen des Dichters jeden entzücken müssen, der selbst Bul- garien und zumal die beschriebenen Gegenden bereist hat. So ist zu hoffen, dass dieser ausgezeichnete bulgarische Roman und seine schöne deutsche Übersetzung es ermöglichen werden, dem deutschen Leser einen tiefen Einblick in Land und Leute unseres tapferen Bundesgenossen zu gewähren. Weitere Bände dieser Sammlung von andersartigen Dichtern wer- den diesen Einblick noch verbreitern und vielseitiger gestalten.“ (Wasoff 1918, III-IV) Eine deutsche Übersetzung von Novellen Ivan Vazovs, nämlich „Die Bulgarin“, „Velko im Kriege“, „Kommt er zurück?“ „Der Dickkopf“, „Paul Fertig“, „Naum“, „In den Perignen“, “Djado Joco schaut“… war im Jahre 1908 in Leipzig erschienen. Die Übersetzerin Marya Jonas von SzataÚska schreibt dazu in ihrem Vorwort im Jahre 1908 in Krakau:

„Es gibt wohl keine Form der Poesie, die er (d.h. Ivan Vazov) nicht mit Geist und Glück versucht hätte, und man weiß nicht, was schöner ist: seine gefühl- volle Lyrik oder seine heldenhaften Gesänge und Dramen…, denn Wasow ist auch dramatischer Dichter – sein berühmtestes Schauspiel heißt „Die Ver- schwörer“. Seine Prosa zeichnet sich durch die wundervollste Stimmung aus, die Beschreibungen sind ebenso einzigartig wie farbenreich – hervorragend sind seine Legenden.“ (von SzataÚska 1917).11 Zu Ehren des bulgarischen Dichters Vazov wurde an der Universität Leip- zig auch eine Gedächtnisfeier veranstaltet, bei der Gustav Weigand im Jahre 1921 die Lebensschicksale Vazovs in „fesselnder Rede“ schilderte.12 Auch der 20.Todestag Ivan Vazovs fand im Jahre 1941 seine Würdigung durch Heinrich Stammler, wo dieser darauf hinweist, wie widersprüchlich immer wieder das Urteil über ihn ausgefallen ist:

11 In ihrem Vorwort (S. 8) weist die Übersetzerin auch darauf hin, dass „Bulgarien in Ivan Vazov seinen größten Schriftsteller sieht, der auch alle Eigenschaften besitzt, sich dauernd in dieser Würde zu erhalten.“ In diesem Zusammenhang wurde auch darauf hingewiesen, dass im Jahre 1895 Sofia feierlichst das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der dichterisch-schriftstellerischen Tätigkeit Vazovs begangen hatte. 12 Literarisches Echo 1921/22, 576: Nachrichten. Das genaue Datum der Veranstaltung in Leipzig ließ sich nicht mehr feststellen.

25 „Künstler und Kritiker und ihre Schulen haben Wasov wegen künstlerischer Mängel angegriffen und herbe Worte für ihn gefunden, seine Freunde und Anhänger haben ihn dann mit nicht weniger scharfen Worten verteidigt. Aber uns will scheinen, dass Wasov sowohl über Angriff wie über Verteidigung erhaben ist, weil seine Bedeutung, seine Größe, wenn man will, gar nicht auf dem Felde künstlerischer Vollkommenheit lag, die ihm nur selten beschieden war. Er war der große Lehrer seines Volkes, sein Erzieher, der keinen Augenblick müde wurde, ihm immer aufs neue seine großen Aufgaben zu weisen, es auf die Notwendigkeit harter Arbeit zur Erreichung auch innerer Ausbildung aufmerksam zu machen, es anzuspornen und zu beflügeln. Er hat sich dazu einer machtvoll bewegten, aber immer einfachen, zugänglichen und niemals gesuchten Sprache bedient, die zumal noch als Literatursprache nicht die Ausformung erfahren hatte, die sie heute besitzt. Er hat auch nicht ver- schmäht, fremde Vorbilder anzuerkennen, wenn er damit nur seinen erhabe- nen im Tiefsten nicht ästhetischen, sondern ethischen und – im weitesten Sinne –politischen Zweck erreichte: Sein Volk als Dichter zu verklären, ihm im Worte eine überhöhte Bedeutung zu verleihen, damit alle, die es vernähmen, innerlich an diesem verklärten Bilde emporwüchsen! Diese Aufgabe muss aber eine immerwährende sein. Sie dauert über des Dichters Tod hinaus bis auf den heutigen Tag und sichert ihm ein Fortleben im Herzen seiner Nation bis zu den fernsten Generationen!“ (Stammler 1942, 384–385) Einen grundlegenden Beitrag zur Popularisierung der bulgarischen Litera- tur in Deutschland hatte der Leipziger Romanist, Balkanphilologe und Bul- garist Gustav Weigand (1860–1930) mit seiner „Bulgarischen Biblio- thek“ geleistet, in der u. a. Skizzen und Idyllen von Petko Todorov im Jahre 1919 erschienen waren. Die „Bulgarische Bibliothek“ war im Jahre 1916 begründet worden und wurde von dem Leipziger Verleger Dr. Ivan Parla- panoff herausgegeben. Im ersten Band schreibt der Herausgeber Gustav Weigand u. a.:

„Mit der Bulgarischen Bibliothek, deren erste Nummer mit dem vorliegenden Band in die Öffentlichkeit tritt, beabsichtigen wir, dem deutschen Publikum eine Reihe von Hilfsmitteln zu bieten, die über alle Gebiete des öffentlichen Lebens, über Geschichte, Ethnographie, Volkskunde, kurz über alles spezi- fisch Bulgarische, das einen weiteren Interessentenkreis vermuten lässt, ge- diegene Auskunft geben und die bulgarischen Quellen, die ja für Deutsche der Sprache wegen schwer zugänglich sind, ersetzen sollen. Es lieg uns fern, eine Unterhaltungsbibliothek, hervorgegangen aus dem augenblicklich größe- ren Interesse beider Völker zueinander ins Leben zu rufen, sondern wir erstreben eine wissenschaftliche Leistung von dauerndem Wert, berechnet für den gebildeten Laien und den Gelehrten.“ (Ischirkoff 1916, V.)

26 Mit der „Bulgarischen Bibliothek“ sollte demnach in Deutschland ein grund- legendes Verständnis für Bulgarien, sein Volk, seine Geschichte, sein Wirt- schafts- und öffentliches Leben, überhaupt alles Wissenswerte aus verschie- denen Gebieten ermöglicht werden. Für mehr als 30 Bände hatte Gustav Weigand bereits bulgarische Fachleute als Verfasser in Aussicht genommen, es musste jedoch aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien bei der Veröffentlichung von neun Bänden bleiben, wobei es sich durch- weg um Übersetzungen bulgarischer Originalausgaben handelte. Von be- sonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die zuletzt erschienenen beiden Bände 8 und 9 der „Bulgarischen Bibliothek“, nämlich Petko Todo- rovs Skizzen und Idyllen13 sowie Pen²o Slavejkovs Bulgarische Volkslieder, beide Bände erschienen im Jahre 1919 in Leipzig. Die von Gustav Weigand für die Veröffentlichung in dieser Reihe geplanten Abhandlungen der bul- garischen Literaturwissenschaftler Božan Angelov: „Ivan Vazov, der bul- garische Volksdichter“ und Aleksand©r Balabanov: „Die neue bulgarische Lyrik“ sowie die von Gustav Weigand als Autor selbst geplante Veröffent- lichung „Bulgarische Volksliteratur“ konnten nicht mehr verwirklicht wer- den. Am 15. Juli 1919 schreibt Gustav Weigand im Vorwort zu den von Pen²o Slavejkov gesammelten und von Georg Adam ins Deutsche über- tragenen „Bulgarischen Volkslieder“:

„Nachdem wir durch die Aufnahme von Petko Todoroffs „Skizzen und Idyl- len“ (Band 8 der Bulgarischen Bibliothek) unser ursprüngliches Programm, das das literarische Gebiet ausschließen sollte, umgestoßen hatten, bringen wir nunmehr aus dem reichen Schatze der bulgarischen Volksliteratur eine Auswahl der von Pentscho Slawejkoff zusammengestellten Sammlung. Als Meister der Übersetzung hat auch diesmal Georg Adam uns wertvolle Dienste geleistet, so dass auch im deutschen Gewande das bulgarische Volks- lied die volle Wirkung auf den Leser, der noch Sinn für einfache, natürliche, oftmals naive, aber tiefempfundene Lyrik hat, auszuüben vermag. So hoffen wir durch den vorliegenden Band dem deutschen Volke Einblick in das bulgarische Seelenleben zu geben und dadurch neue Freunde zu den alten zu gewinnen.“ (Adam 1919, 3) Slavejkov, der Sammler der in diesem Band veröffentlichten bulgarischen Volkslieder, schreibt dazu:

13 Dichtungen Petko Todorovs, nämlich „Der Pferdedieb“, „Der Bärenführer“ und „Schäfer“ waren in deutscher Übersetzung bereits vor dem Ersten Weltkrieg von Georg Adam veröffentlicht worden: Adam 1901a, Adam 1901b, Adam 1901c.

27 „Das bulgarische Volk hat bis vor einem Jahrhundert keine eigene Literatur gehabt, die auf dem Weltjahrmarkte der Eitelkeiten ihre Stimme zu seinen Gunsten hätte erheben können. Unser ganzes Schrifttum jenseits des Mark- steins des gestrigen Jahrhunderts, das fremder Eifer in ein altes, mittleres und neues geschieden hat, trägt nur aus Gnade und Barmherzigkeit den Namen Bulgarische Literatur. Außer dem Alphabet ist nichts Bulgarisches daran. Psalter, Gebetbücher, Damaskinen – Damaskinen, Gebetbücher, Psalter, in unabsehbarer Reihe, gleich einer Schar Kraniche, vom Südwinde getrieben, von Byzanz her, flattern sie gen Norden, dem Balkan zu, der sich herzlich wenig kümmert, was für ein Lied sie ihm singen.“ (Adam 1919, 9) Unter dem Titel Unwahrscheinliche Geschichten von einem zeitgenössischen Bulgaren war Baj Ganju von Aleko Konstantinov (1863–1897) in Auszügen bereits 1905 und 1906 von Georg Adam veröffentlicht worden (Adam 1905; Adam 1906), gefolgt von einer Übersetzung Vetter Ganju bei Jiretschek von Roda Roda (Roda Roda 1918, 120–128.) 1908 hatte Gustav Weigand eine Gesamtausgabe von Aleko Konstantinovs Baj Ganju übersetzt und erläutert in im Verlag Ambrosius Barth, Leipzig, herausgegeben, der im Jahre 1928 ein zweiter, durchgesehener Abdruck folgte, wo er in der Einleitung ausführte:

„Ein Bulgare fragte mich, warum ich gerade den Baj Ganju ausgewählt habe, um ihn den Deutschen bekannt zu machen, sie hätten doch viel schönere und wertvollere Werke in ihrer Literatur. Das gebe ich ohne Weiteres zu, aber es gibt in der ganzen bulgarischen Literatur nicht ein zweites Werk, das auch entfernt nur einen so beispiellosen Erfolg und erzieherischen Einfluss auf die Bulgaren gehabt hat, wie Baj Ganju. So populär ist die Gestalt des Baj Ganju geworden, dass der Name selbst zur Bildung von Adjektiv und Substantiv mit eigenartiger Bedeutung geführt hat (ʴʲˇʶʲˑ˪˓ʵ˖ˊˆ, ʴʲˇ-ʶʲˑ˪˓ʵ˧ˆˑʲ). Ein zweiter Grund ist der, dass in dem Werke die Umgangssprache der Gebil- deten mit vielen echt volkstümlichen Wendungen zur Darstellung kommt, während in den meisten anderen literarischen Werken eine mehr oder weni- ger künstliche Literatur-Sprache, die besonders den russischen Einfluss und selbst den deutschen deutlich erkennen lässt, herrscht. Allerdings fehlt es auch nicht im Baj Ganju an Russismen und Germanismen; auch manche Nachlässigkeiten im Stil und Gedankenausdruck sind auf Rechnung der be- quemeren Umgangssprache zu setzen.“ (Weigand 1928, III.) Im Jahre 1973 erschien in Leipzig eine Neuausgabe von Aleko Konstan- tinovs Baj Ganju mit dem Untertitel Der Rosenölhändler. Zugrunde gelegt wurde hier wieder die Übersetzung von Georg Adam in einer Bearbeitung von Hartmut Herboth und Norbert Randow, der zugleich auch als Heraus- geber fungierte (Konstantinov 1974). Erst in jüngster Zeit war auch in den

28 USA eine englische Übersetzung von Konstantinovs Baj Ganju erschienen, herausgegeben von Victor Friedmann (Friedman 2010). Unter dem Titel Bulgarien wurden 1936 Erzähler der Gegenwart ver- öffentlicht (Dragnewa 1936, 171). Eine Sammlung unter dem Titel Neue bulgarische Erzähler wurde im selben Jahr vom Verlag Albert Langen/Georg Müller/München herausgegeben. Die Übersetzungen aus dem Bulgari- schen wurden von Živka Dragneva durchgeführt, wobei es sich um Erzäh- lungen von Jordan Jovkov, Fani Popova-Mutafova, Angel Karalij²ev, Elin- Pelin, Dimit©r Šišmanov, Kiril Christov, Vladimir Poljanov und Svetoslav Minkov handelte. In dem von dem Prager Slavisten und Balkanologen Ger- hard Gesemann (1888–1948) verfassten Nachwort heißt es u. a.:

„Neue bulgarische Erzähler haben wir ausgesucht, nicht damit sie dem deutschen Leser die Entwicklung der bulgarischen Literatur oder etwa die schönsten Novellen darbieten, sondern, wie es dem Sinn dieser Buchreihe entspricht, damit sie uns ganz einfach von ihrer Heimat, von ihrem Volke und Lande, von seinen Schicksalen erzählen. Das und nichts anderes hat die Aus- wahl bestimmt. Solch eine Geschichte soll den Duft unbekannter Ferne zu uns herüber wehen, soll den sonst so schweigsamen Balkan auf eine Weise zu uns reden machen. Das ist keine bloße Exotik, noch weniger Völkerkunde – aus der Periode der Folkloristik ist auch die bulgarische Dichtung schon heraus – wir verlangen, dass sich der Geist des Bodens in seinen Dichtern offenbare. Den Hauch dieses Geistes wollen wir spüren. Am liebsten geht er ins Volkslied ein. Das weiß auch der Erzähler. Darum nimmt er gerne ein Volksliedmotiv, eine Räuberballade, bei deren Klängen jeder Balkaner einen ganz tragischen Roman erlebt, und malt die Schicksale des Rebellen und des Bürgers, des Fremdherrn und des Geknechteten, des Volkshelden und des Volksverräters in ergreifenden Bildern nach, oder er rankt um die epischen Worte einer alten Chronik das Gemälde einer Bauern- hochzeit zur Pestzeit. Auch die Geschichte vom Mädchen, das ein Räuber- hauptmann wurde, ist in den Liedern des ganzen Balkans verbreitet, ebenso klingt in der schrecklichen und doch versöhnlichen Geschichte vom Gebet des Hajduken eine alte düstere Geschichte aus der Balkanepik an: Gewiss der Hajduk ist kein gewöhnlicher Straßenräuber, aber Rebellentum wird schick- salsmäßig oft genug zum „bösen Gewerbe“, wie die Lieder sagen, und ehe er sich´s versieht, ist er in Blut und Sünde verstrickt, die ihm Gott nicht vergibt… ….Es ist also kein Zufall, dass die deutschen Berater dieser Ausgabe aus einer großen Zahl von vorgelegten Erzählungen den ländlichen vor den städtischen den künstlerischen Vorzug geben mussten und dass von den hier vertretenen Dichtern die meisten dem Lande und der ländlichen Kleinstadt entstammen.“ (Dragnewa 1936, 171–173)

29 Jordan Jovkovs „Der Schnitter“, eine Erzählung aus der Dobrudscha, wurde von Gerhard Gesemann selbst aus dem Bulgarischen ins Deutsche über- tragen und 1941 veröffentlicht. Sicher war diese Übersetzung nicht gerade zufällig entstanden, sondern im Zusammenhang mit dem damaligen An- schluss der Süd-Dobrudscha an Bulgarien zu sehen. Mehr und mehr war aber auch der Wunsch Gesemanns zu erkennen, eine möglichst breit an- gelegte Zusammenarbeit mit Bulgarien zu verwirklichen.14 Gerade in den Jahren des Zweiten Weltkrieges hat Gesemann durch aktive Übersetzungs- und Herausgebertätigkeit einen ganz wesentlichen Beitrag zur Vertiefung der deutsch-bulgarischen Kulturbeziehungen geleistet. In schwierigster Zeit, nämlich im Jahre 1944 noch gelang es Gerhard Gesemann in Berlin eine Sammlung von deutschen Übersetzungen unter dem Titel Zweiundsiebzig Liedern des bulgarischen Volkes zu veröffentlichen, Lieder, die von ihm selbst aus dem Bulgarischen ins Deutsche nicht nur übertragen, sondern auch nachgedichtet wurden. Hierbei handelte es sich um mustergültige Nachdichtungen, zum Teil auch unter Beachtung des sil- benzählenden Versmaßes. Zur Kunde vom Wesen eines Volkes, in diesem Falle der Bulgaren, sah Gerhard Gesemann im Volkslied einen wichtigen, aber nur einen Weg von mehreren. In neuerer Zeit ist wohl kaum eine bessere und vor allem einfühlsamere Nachdichtung bulgarischer Lieder vorgelegt worden, wie sie von ihm durchgeführt wurde (Gesemann 1996). Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch eine Abhandlung Gese- manns über Pen²o Slavejkov, ein Gedächtnisvortrag anlässlich der Feier der 25. Wiederkehr des Todestages eines der bedeutendsten Vertreter der neueren bulgarischen Literatur, abgehalten am 21. Mai 1937 vor der „Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft“ in Berlin und veröffentlicht in deren Jahrbuch (Gesemann 1983, 114–132). Hier stellte Gesemann das Epos K©rvava pesen/Das blutige Lied in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Gesemann sah in Pen²o Slavejkov einen Schriftsteller, der zunächst da- durch besondere Beachtung verdiente, dass er sich in Leipzig deutscher Wissenschaft und Kunst zugewandt hatte und seine Kenntnisse und Erfah- rungen dann dem geistigen Austausch, der Vermittlung zwischen Bulga- ren und Deutschen zukommen lässt. Gerhard Gesemann nennt in diesem Zusammenhang die balkanische Landschaft, das bulgarische Volkstum, das nationale Leiden und die Befreiung Bulgariens, aber auch die Uni-

14 „Gesemann hinterließ eine umfangreiche persönliche, bis jetzt nicht untersuchte Korrespondenz mit K. Christov und anderen bulgarischen Wissenschaftlern und Schriftstellern, die Pläne gemeinsamer Arbeiten, den Wunsch zu engeren und fruchtbareren Beziehungen mit Bulgarien, die deutsch-bulgarische Zusammenarbeit enthält“ (Fey 1984, 63).

30 versität Leipzig als die „biographischen Grundelemente“ Pen²o Slavejkovs, die für sein Lebenswerk entscheidend wurden. Die bulgarische Literatur ist für Gesemann zunächst volkserzieherisches Schrifttum zur Erweckung und Festigung des bulgarischen Nationalbewusstseins, in diese Epoche ge- hören nach seiner Auffassung u. a. Karavelov, aber auch Petko Slavejkov, der Vater Pen²o Slavejkovs, während der Lyriker und Revolutionär Christo Botev und der Erzähler Ivan Vazov bereits die nachfolgende Schriftsteller- generation repräsentieren. Wie aus der Korrespondenz Gerhard Gesemanns mit der Südosteuropa- Gesellschaft in Wien hervorgeht, plante er unter dem Arbeitstitel „Bulga- rische Charakterologie“ eine Studie über den Volkscharakter der Bulgaren. In einem Brief nach Wien vom 7. August 1944 schreibt er:

„… Es existiert kein Buch in deutscher Sprache, das den bulgarischen Volkscharakter in einer Weise darstellt, dass die Darlegungen des Buches zur Grundlage sowohl der theoretischen Erkenntnis vom Wesen des bulgarischen Volkes wie zur praktischen Handhabe im politischen und wirtschaftlichen Verkehr dienen können. Die Wissenschaft der völkerpsychologischen Charak- terologie und Soziologie steckt bei den Bulgaren selbst noch in den Anfängen. Ich habe die Absicht, meine mannigfachen Vorarbeiten über diesen Gegen- stand zu einem umfangreichen Buche über die Soziologie und Charaktero- logie des bulgarischen Volkes auszubauen. Das Buch wird ein Gegenstück zu meinem soeben erschienenen Buche „Heroische Lebensform“ bilden, das den patriarchalischen Westbalkan behandelt, über Sinn und Haltung dieses Buches der „Heroischen Lebensform“ nämlich mag eine beigefügte Kritik ge- nügende Auskunft geben. Zur Ausarbeitung des geplanten Buches ist es nötig, alle eigenen Versuche der Bulgaren zu überprüfen, die diese in der Richtung auf eine Selbsterkenntnis ihres eigenen Weges pflegen nicht aus objektiven Gründen, sondern gerade aus subjektiven Gründen, d.h. als Dokumente (nicht als Ergebnisse) von hohem Wert zu sein. Um zu wissen, wie ein Mensch ist, ist es gut, zu wissen, wie er sich selbst gesehen wissen will. Nun gibt es eine ganze Reihe solcher bulgarischer Versuche, zumeist nicht von Wissenschaftlern geschrieben, son- dern von Dichtern, Schriftstellern und Männern des öffentlichen Dienstes und gerade darum als Dokumente wichtig, zumeist auch interessant geschrieben. Ich habe die Absicht, diese Versuche zu einer bulgarischen Volkscharaktero- logie von Bulgaren selbst in ihren besten und anziehendsten Stücken in Über- setzung herauszugeben und mit der notwendigen Einleitung zu versehen, in der ich diese Versuche in einer Gesamtschau des bulgarischen Charakters einbaue, die in ihrer Vorläufigkeit einstweilen meine große Soziologie und Charakterologie des bulgarischen Volkes ersetzt, zugleich aber wird die

31 Sammlung bulgarischer Selbstcharakteristiken ein notwendiges Quellenbuch zu meinem späteren Werke bilden und dieses – das spätere Buch – wird erst im Zusammenhange mit dem Quellenbuche seinen vollen Wert besitzen. Soweit über das Wissenschaftliche des Buches. Das geplante Buch, nennen wir es „Bulgaren über Bulgaren“, überschreitet den Rahmen einer mehr oder weniger privaten Publikation schon dadurch, dass es wichtige Männer des künstlerischen, wissenschaftlichen und öffent- lichen bulgarischen Lebens in deutscher Übersetzung vor die deutsche und europäische Öffentlichkeit stellt, – dass es somit Deutschland ist, dass ihnen den Zugang zu Europa öffnet, – dass ferner hier über ein Volk und sein letztes volkliches Wesen behandelt wird, das mit dem deutschen Volk eng zusam- menarbeitet, – dass es von großer innerdeutscher Wichtigkeit ist, einiges Grundlegende über den bulgarischen Volkscharakter zu erfahren. Auf die Notwendigkeit solcher Aufklärung über fremde Völker brauche ich wohl in den heutigen Zeiten nicht noch besonders hinzuweisen…“15 Zu nennen ist noch Der Lockvogel, die Nachdichtung einer bulgarischen Novelle aus dem Nachlass des 1948 in Bad Tölz verstorbenen Slavisten der Deutschen Universität Prag, herausgegeben von seinem Sohn Wolfgang Gesemann (Gesemann 1986, 33–49).16 Abgesehen von den bereits erwähnten Übersetzungen aus dem Bulgarischen ins Deutsche sind noch die folgen- den drei Abhandlungen Gerhard Gesemanns zu nennen, in denen er sich mit bulgaristischen Themen befasst hat:

„Der bulgarische Roman 1930 vor dem Forum der Philosophie“ (Gesemann 1931, 558–566; Gesemann 1983, 133–143); „Ein bulgarischer Epensänger im Tonfilm“ (Gesemann 1933, 143–155; Gesemann 1981, 431–446)17; „Über das

15 BARCH R 63/113 – Südosteuropa-Gesellschaft in Wien e.V./fol.115–116. G. Gese- mann an die Südosteuropa-Gesellschaft/Dr. Oberacher. Vgl. hierzu Fey 1984, 55–64; Mühlmann 1954, 237–243. 16 Vgl. hierzu Wolfgang Gesemann in den Anmerkungen: „Die Novelle Der Lockvogel, die hier erstmals postum im Druck erscheint, ist eine der von meinem Vater Gerhard Gesemann (1888/1948) als Novellensammlung gedachten, von ihm so genannten „Geschichten aus dem Hinterhalt“. Diejenigen von ihnen balkanischen Inhalts, nämlich Das Lied vom großen Ban, Die Hochzeit, Der Räuber Kariman, Die Nachti- gall und Der brennende Dornbusch habe ich zusammen mit der Novelle Prager Inhalts Herr Fuchs glaubt nicht an Träume postum unter dem Titel Germanoslavica. ’Geschichten aus dem Hinterhalt’ als Band 7 der Reihe Symbolae Slavicae … herausgebracht. Neben Die Nachtigall tritt mit dem Lockvogel eine zweite und letzte Novelle bulgarischen Inhalts“ (Gesemann 1986, 48). 17 Zum ersten Male in der Geschichte der Forschung war es möglich geworden einen bulgarischen Volkssänger ausführlich und unter Benutzung der damals modernsten Aufnahme- und Wiedergabetechnik untersuchen zu können. Nach Auffassung Gesemanns war es nunmehr höchste Zeit, das Volksepos von ganz anderen Gesichts-

32 bulgarische Volkslied“. Nachwort zu „Zweiundsiebzig Lieder des bulgari- schen Volkes“ (Gesemann 1944, 111–141). In das Jahr 1944 fällt auch noch die Veröffentlichung der Bulgarischen No- vellen, übersetzt und herausgegeben von Meli M. Schischmanow als Band 18 in der Reihe „Die hundert kleinen Bücher“ im Karl Bischoff Verlag. Geboten werden dort von Angel Karalji²ev „Die Adler“, „Ein Mädchen flieht…“ und „Unser Pescho“, von Svetoslav Minkov die Novelle „Der Vampir“, von Dimit©r Šišmanov „St. Georgs-Zauber“, von Elin-Pelin „Selt- same Beichte“, von der Herausgeberin Meli M.Schischmanow die Novellen „Zu Widin, 1375…“ und „Zwei an einem Sommertag“. Den Abschluss des Bändchens bildet eine Darstellung von Herta Hofmann-Söllner zum Thema „Die Dichtung der Bulgaren“, wo sie u.a. ausführt:

„Als sich im Jahre 1878 Bulgarien vom Türkenjoch befreite und zur Nation wurde, waren die Freiheitssänger die ersten Dichter des unabhängigen Landes. Der kulturelle Einfluss von Byzanz wurde langsam, unmerklich, aber bis ins letzte abgelegt und es entstanden aus dem unverbrauchten Volk die bäuerlichen Erzählungen, die Balladen und Lieder, auf denen sich das dichterische Schaffen der späten Nachkriegszeit aufbaut. Mit dieser Einigung der Nation war das Land der westlichen Zivilisation des 19. Jahrhunderts aufgeschlossen. Die Technik und der raschere Betrieb ver- langten Aufmerksamkeit und wollten auch vom Künstler erfasst und gestaltet sein. Es war, als käme der Dichter den Strömungen Mittel- und Westeuropas erst dadurch nahe, dass er über sie schrieb. Es war ein Tasten. Da kam der Krieg. Er wurde nicht nur wirtschaftlich verloren. Die Stadt als Verbraucherzentrum bildete ein geistiges Problem. Die innere und äußere Zerrissenheit nahm zu. Die Literatur des Auslandes stellte sich nicht als Heilmittel heraus, als das sie gepriesen wurde. Wie in allen am Kriege arm gewordenen Ländern entstand auch in Bulgarien die „soziale Dichtung“, guten Willens, aber ohne Erfolg und Nutzen. Da besinnt sich der Dichter auf die Erde, von der er kam und die ihn trägt. Und weil er Bulgare ist und sich nie so weit vom Boden entfernte wie der Großstädter anderer Gebiete, erspart er sich viele Irrtümer und Übertreibun- gen. Sein Bauer ist nicht Philosoph mit sorgenvoller Stirn, er ist Pflüger und Erntender, Handwerker, Hirte und Patriarch. Er ist humorvoll und gütig, großmütig und verschlagen, ein Mensch mit Fäusten und gläubiger Seele.

punkten zu betrachten, als dies bisher der Fall war, nämlich von der Vortragsart, von der rezitativen Seite her.

33 Die Schriftsteller bekannten sich zur Selbstverantwortlichkeit und zur Ver- antwortung für die, die sie mit ihrem Wort führten. Aus der Lyrik der Vor- kriegszeit, aus der veredelten, beherrschten Sprache, die in sich selbst den Endzweck und die vollkommene Schönheit sah, wurde gegen Ende der zwan- ziger Jahre schwere, inhaltsreiche Epik. Vor dem Krieg war Aufstand gegen den Zwang, Revolution der Form, Übernationalität Religion gewesen, jetzt gibt es ein sich fügen ins Notwendige und im Begrenzten finden sich un- geahnte Werte. Es ist eine Heimkehr. Scharf getrennt ist „Stadt“- und „Dorf“-Dichtung. Es gibt kaum einen Über- gang und auch das Suchen nach Gemeinschaftszielen ist für den Darsteller des bäuerlichen Lebens aufs Land beschränkt und hält sich beim Schriftsteller, der über die Stadt und ihre Nöte schreibt, eng in ihren Grenzen. Nur dort wird eine Ausnahme von dieser Zweispurigkeit gemacht, wo sich ein Dichter die Aufgabe stellt, die Entwicklung der letzten hundert Jahre als Grundlage der Gegenwart zu erklären. Hier muss er naturgemäß auf die Dorfgemein- schaft als die Zelle des gesellschaftlichen Lebens stoßen. Und noch eines ist beiden Dichtungsarten gemeinsam. Die straffe Dialog- führung, eine Eigentümlichkeit des Bulgarischen. Da die deutsche Sprache eine ähnlich konzentrierte Satzbildung zeigt, eignet sie sich wie wenige an- dere zur Übersetzung. Unter den Schriftstellern, die als charakteristisch für die neue bulgarische Dichtung zu gelten haben, sind fünf ausgewählt, die in Wollen und Wirkung dem deutschen Leser nahekommen.“ (Schischmanow 1944, 93–95) Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich für die Rezeption bulgari- scher Literatur in Deutschland eine völlig veränderte Situation ergeben. Dem sozialistisch ausgerichteten Bulgarien standen seit 1949 zwei deutsche Staaten mit völlig gegensätzlicher ideologischer Orientierung gegenüber, die Bundesrepublik Deutschland, in der sich über viele Jahre hin so gut wie keine Möglichkeiten eines Austausches ergaben und die Deutsche Demo- kratische Republik, wo sich im Rahmen der ideologischen Ausrichtung je- doch weitreichende Möglichkeiten für eine Übersetzungstätigkeit ergaben, die mit dem Namen von Egon Hartmann, Hartmut Herboth, vor allem aber mit Norbert Randow in Verbindung zu bringen sind, die sowohl in DDR- Verlagen aber auch in Verlagen Bulgariens deutsche Übersetzungen bulga- rischer Autoren veröffentlichten. Demgegenüber kam die Übersetzung bul- garischer Autoren im westlichen Teil Deutschlands fast ganz zum Erliegen. Im Verlag und Druck Dr. Herp erschien in München ohne Jahresangabe unter dem Titel Bulgarische Gesänge eine Anthologie bulgarischer Dichtung, übertragen von Sawa Ungerer-Manolova. Gewidmet war die Sammlung allen, denen Dichtung völkerverbindende Kraft bedeutet. Die Auswahl der

34 bulgarischen Schriftsteller war ganz nach dem persönlichen Ermessen der Herausgeberin erfolgt. Beginnend mit Ivan Vazovs Gedichten „An Bul- garien“, „Am Soldatenfriedhof bei Slivnica“, „Die Kirchenklapper“, „Das Unauslöschliche“ und Christo Botevs „An meine Mutter“, „Vasil Levski am Galgen“ und „An meine erste Liebe“, Stojan Michajlovskis Gedichten „Die Sonne und der Staub“, „Gerade aus!“, „Vergebung“ und „Der Adler und die Schnecke“, Pen²o Slavejkovs Gedichten „Unzertrennlich“, „So- lange Jugend“ und „Regentropfen“ wurde Teodor Trajanovs Gedichten besonders großer Raum mit „Zueignung“, „Dem Dichter“, „Dem Ruhe- losen“, „An die Schönheit“, „Der Ritter der Blauen Blume“ und noch eini- gen anderen großer Raum in dieser Sammlung gewährt, gefolgt von wei- teren Übersetzungen von Gedichten von Dim²o Debeljanov, nämlich „Das reissende Böse“, „Weisst du noch..“, „Brief“, „Im Mondschein“ und „Ab- schied“, von Nikolaj Liliev seine Gedichte „An meine Heimat“, „Trauere nicht!“, „Das Vaterhaus“ und „Heimweh“, von Peju Javorov die Gedichte „Die Verbannten“, „Der Schelm Pavleta und seine junge Frau“ sowie „An meine Mutter“ und von Christo Ognjanov (vgl. Petrov-Slodnjak 1991), der 1967 in der Reihe „Kultur der Nationen“ eine Darstellung Bulgariens und eine Geschichte der bulgarischen Literatur in deutscher Sprache veröffent- lichte (vgl. Kronsteiner 1999), die beiden Gedichte „Bistra“ und „Ferne Zeiten“. Dass die Dichtung Trajanovs hier besonders berücksichtigt wurde, begründet die Übersetzerin und Herausgeberin damit, dass bei ihm eine besondere Tiefe und Universalität der Empfindung zu finden sei, die den westlichen Leser besonders ansprechen dürften (Ungerer-Manolova o. J., 4). Im Jahre 1971 veröffentlichte Kyrill Haralampieff (1919–2003), Lektor der bulgarischen Sprache an der Universität München, zusammen mit Jo- hanna Wolf in der Sammlung Diederichs eine Sammlung mit dem Titel Bulgarische Volkslieder. Im selben Jahr legte Vaclav Frolec in Sofia unter dem gleichen Titel Bulgarische Volksmärchen eine Sammlung in deutscher Sprache in Sofia der Öffentlichkeit vor. Bulgarische Erzählungen, ausgewählt von Pen²o Dan²ev, wurden 1960 im Fremdsprachenverlag in Sofia veröffent- licht. Von bulgarischer Seite wurden also auch Übersetzungen in deutscher Sprache gefördert. Zu den wenigen in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten Übersetzungssammlungen aus dem Bulgarischen gehört Sonnenquadrate auf winterlichem Strand, eine Auswahl junger bulgarischer Erzähler, heraus- gegeben von G. H. Herzog und Ljuben Dilov beim Limes Verlag im Jahre 1969. In deutscher Übersetzung von G. H. Herzog, Helga Thomas und Bistra Winkler werden hier geboten „Erster Sommer“ von Dimit©r Paunov (geb. 1942), „Wolfsart“ von Dimit©r V©lev (geb. 1940), „Letzter Kreis über dem Ozean“ von Georgi Veli²kov (geb. 1938), „Sonnenquadrate auf winter-

35 lichem Strand“ von Koljo Nikolov (geb. 1941), „Regentage“ von G. K. Kiri- lov (geb. 1938), „Die Witwe“ von Raško Sugarev (geb. 1941) und „Oberstes Gebot um nicht zu ertrinken ist, den Kopf über Wasser halten“ von Vladi- mir Zarev (geb. 1946). Es handelte sich hier durchgehend um Autoren, die in den Jahren des Zweiten Weltkrieges geboren wurde. Zur Situation der bulgarischen Schriftsteller wird im Vorwort darauf hingewiesen, dass die Erzählung in der bulgarischen Literatur einen besonderen Platz einnimmt. Sie entwickelte sich unter dem Einfluss vor allem russischer Schriftsteller wie Gogol, +echov und Turgenev, aber auch Maupassant. Die Prosa wird als eine Waffe im Kampf für eine gerechte Gesellschaftsordnung gesehen, sie ist nicht gegen das System gerichtet, will es aber funktionsfähiger machen. Erwähnt wird auch die Tatsache, dass im 1913 gegründeten Bul- garischen Schriftstellerverband mit seinen etwa 300 Mitgliedern nur etwa dreißig Mitglieder unter 30 Jahren alt waren. Im Jahre 1978 erschien unter dem Titel Bulgarische Erzähler. Südwind in der Sammlung „Kürbiskern“ beim Damnitz Verlag eine weitere Sammlung von Übersetzungen bulgarischer Autoren, wobei sich hier bekannte Na- men wie Jordan Radi²kov, Nikolaj Chaitov oder Ivajlo Petrov neben eini- gen weniger bekannten Autoren finden. „Bulgarien – das ist mehr als ein Ferienland“, heißt es auf dem Umschlagtext. Im Spätherbst 1978 erschien unter dem Titel Südwinde eine Sammlung neuerer bulgarischer Lyrik, übertragen von Inge Ognjanoff und ausge- wählt und eingeleitet von Christo Ognjanoff beim Glock und Lutz Verlag in Heroldsberg. Geboten werden dort zahlreiche Gedichte von Elisaveta Bagrjana, Dimit©r Panteleev, Atanas Dal²ev, Nikola Furnadžiev, Asen Raz- cvetnikov, Slav²o Krasinski, Christo Ognjanoff, Christo Bojadžieff, Veselin Chan²ev, Konstantin Pavlov und Blaga Dimitrova. Der Sammelband ging zurück auf einen Rezitationsabend, veranstaltet von der Bulgarischen Ge- sellschaft „Dr. Peter Beron“ e.V. am 23. November 1977, eine der ganz seltenen Gelegenheiten, bei denen die bulgarische Literatur im Westen Deutschlands vorgestellt wurde. In einer Ausgabe von 1966 mit dem Titel Bulgaren der alten Zeit wurden vom Buchverlag „Der Morgen“ in Berlin/Ost Erzählungen in deutscher Übersetzung von Egon Hartmann, Hartmut Herboth und Karl Gutschmidt herausgegeben. Wie aus dem Umschlagtext hervorgeht, wird in das „halb- orientalische“ Leben eingeführt, das von familiärer Romantik, Gemütlich- keit und grenzenloser Gastfreundschaft, aber auch von ernsten Streitigkei- ten und Intrigen, von Kämpfen mit tragischen Folgen geprägt ist. Übersetzt wurden hier fünf führende Vertreter der klassischen bulgarischen Litera- tur, nämlich Ljuben Karavelov mit seinem Kurzroman Bulgaren der alten Zeit, nach dem der Sammelband benannt wurde, Ivan Vazov mit seiner

36 Novelle Kleinstädter, während Zachari Stojanov und Konstantin Veli²kov in dramatischen Bildern den Kampf der Balkanvölker um ihre Befreiung von der türkischen Herrschaft beschreiben. Svetoslav Milarov kritisiert mit sei- ner Erzählung „Der Minister, die Falschmünzer und die Höllenmaschine“ die Korruptheit des Osmanischen Reiches. Im Nachwort von Hartmut Herboth heißt es zu dieser Sammlung:

„Ein anschauliches Bild vom Leben im alten Bulgarien, von seinen Menschen, ihren Sitten und Gebräuchen, ihren Problemen und Leidenschaften sowie ihrem Ringen um die nationale Befreiung vom fast 500 Jahre währenden türkischen Joch vermittelt vorliegender Band, der mit seinen ausgewählten Erzählungen mitten hineinführt in eine erregte und an Ereignissen reiche Epoche – in die Zeit der sogenannten bulgarischen Widergeburt, die etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann. Es wäre jedoch nicht exakt, hier von den Anfängen des bulgarischen Schrifttums zu sprechen, denn ein solches gab es schon Jahrhunderte vorher.“ (Hartmann et al. 1966, 439) In den in der DDR veröffentlichten „Bibliographischen Kalenderblättern“ findet sich das 18. Sonderblatt zum Thema „Bulgarien in der Literatur“, in dem der bulgarische Schriftsteller Cvetan Stojanov mit folgendem Aus- spruch zitiert wird, der die ideologische Kongruenz der Literatur in der DDR und im sozialistischen Bulgarien deutlich machen sollte:

„Fast alle bulgarischen Schriftsteller bekannten sich zur Methode des sozia- listischen Realismus. Drei Faktoren in der Hauptsache haben diese Ent- wicklung günstig beeinflusst, der volkstümliche und realistische Charakter der Literatur der Vergangenheit, das starke Vertrauen der Schriftsteller zur illegalen kommunistischen Partei während der Zeit des Kampfes gegen den Faschismus und die fördernden Impulse durch die Sowjetliteratur. Die sozia- listische bulgarische Literatur wurde schnell zu einem Hebel beim Aufbau eines neuen, besseren Lebens.“ (o. A. 1964, 51) Nicht nur die Karl-Marx-Universität Leipzig und die Humboldt-Uni- versität zu Berlin verfügten über besondere vertragliche Möglichkeiten des wissenschaftlichen und kulturellen Austausches mit der Volksrepublik Bulgarien, sondern auch die Deutsche Staatsbibliothek in Berlin stand in Verbindung mit der Bulgarischen Nationalbibliothek „Kyrill und Method“. Beide Bibliotheken hatten 1965 einen Freundschaftsvertrag geschlossen, auf dessen Grundlage es möglich war, Schriftentausch und Leihverkehr zu organisieren sowie Ausstellungen und bibliothekarischen Erfahrungsaus- tausch zu realisieren und auch eine aktive bibliographische Zusammenar- beit zu realisieren. Wie aus bibliographischen Mitteilungen der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, die auf Anregung der Kommission für literatur-

37 wissenschaftliche Bibliographie beim Nationalkomitee der Slavisten der DDR anlässlich des X. Internationalen Slavistenkongresses in Sofia im Jahre 1988 veröffentlicht wurden, hervorgeht, wurden in der Tat ganz bestimmte bulgarische Autoren mit Übersetzungen in der DDR bedacht, so Christo Botev, Nikolaj Chajtov (geb. 1919), Marin Chala²ev (geb. 1933), Vasil Co- nev (geb. 1925), +udomir (= Dimit©r +orbadžijski 1890–1967), aber auch Elin Pelin, Jordan Jovkov, Georgi Karaslavov, Svetoslav Minkov (1902– 1969), Jordan Radi²kov (geb. 1929), Bogomil Rajnov, Emilijan Stanev (1907– 1979), Pavel Vežinov (geb. 1914) und selbstverständlich auch Ivan Vazov (1850–1921) (Kuhnke 1988).18 Die Übersetzungen bulgarischer Literatur in der DDR erstreckten sich auf alle Gebiete des literarischen Schaffens bul- garischer Autoren, so zunächst auf Ausgaben von Erzählungen, dann auch auf Lyrik und Humoristisches:

Bulgarien erzählt. Ein Einblick in die bulgarische Literatur. Ausgewählt und zusammengestellt von Ljubomir Ognjanov und Horst Görsch. Berlin: Verlag Volk und Wissen 1959. Die Verfemten. Bulgarische Erzählungen. Übertragen, herausgegeben und mit einem Nachwort von Egon Hartmann. Leipzig: Reclam 1959. Bulgarische Erzähler. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Norbert Randow. Berlin: Neues Leben 1961. Hierzu schreibt Norbert Randow im Nachwort: „Die sechsunddreißig Erzählungen dieses Bandes, jede von ihnen ein abge- rundetes kleines Kunstwerk, geben einen geschlossenen Überblick über die neuere bulgarische erzählende Literatur, über ihre vielseitige Thematik und ihren progressiven humanistischen Gehalt. Unter den Schriftstellern, die in dieser Auswahl vertreten sind, finden sich auch solche, die großes vor allem auf dem Gebiete der Poesie geleistet haben wie Slawejkow, Jaworow, Chris- tow und Smirnenski“. (Randow 1961, 534) Hier finden sich Übersetzungen nicht nur Norbert Randows, sondern auch Hartmut Herboths, Egon Hartmanns, Karl Gutschmidts, Kiril und Martha Kostovs. Mehrere der in diesem Sammelband vertretenen Übersetzungen

18 Von JUS AUTOR wurde für die Jahre von 1958 bis 1964 eine Übersicht über Über- setzungen aus dem Bulgarischen in Fremdsprachen unter dem folgenden Titel ver- öffentlicht: „Littérature bulgare en langues étrangères“. Dort finden sich Verzeich- nisse der bulgarischen Autoren, der Anthologien, der bulgarischen Volkslieder und Volkserzählungen sowie eine Aufstellung der Übersetzungen nach Sprachen. Dabei stehen Übersetzungen ins Russische an erster Stelle, gefolgt von deutschen Über- setzungen, dann erst folgen Übersetzungen in andere europäische Sprachen, so ins Englische, Tschechische, Polnische, Ukrainische, Slowakische, in das Französische und Ungarische.

38 gehen auch noch auf Georg Adam zurück. Vertreten sind hier die bulgari- schen Autoren Ljuben Karavelov, Ivan Vazov, Todor Vlajkov, Aleko Kon- stantinov und u. a. auch Elin Pelin mit deutschen Übersetzungen.

Baba Tonka und die Kuppler: Erzählungen, mit einem Nachwort und biogra- phisch-literarischen Bemerkungen von Hartmut Herboth. Berlin: Verlag Der Morgen 1964. Der Mandelzweig: Moderne bulgarische Prosa, herausgegeben von Hartmut Her- both. Berlin-Weimar: Aufbau Verlag.1969. Erkundungen, 18 bulgarische Erzähler, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Antkowiak. Berlin: Volk und Welt 1974. Stunden der Bewährung. Erzählungen aus Bulgarien. Berlin: Volk und Welt 1977. Kontaktversuche: Eine Anthologie bulgarischer phantastischer Erzählungen, herausgegeben und mit Nachbemerkungen von Erik Simon. Berlin: Verlag Das Neue Berlin 1978. Elegie: Junge bulgarische Prosa, Deutsch von Herbert Herboth, ausgewählt von Barbara Antkowiak. Berlin-Weimar: Aufbau Verlag 1986. Nicht nur bulgarische Prosa, sondern auch Lyrik aus Bulgarien wurde in der DDR mehrfach veröffentlicht:

Blaue Feuer: Moderne bulgarische Lyrik, herausgegeben von Paul Wien. Berlin: Volk und Welt 1966. Bulgarische Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts: Die Auswahl besorgte der bul- garische Schriftstellerverband in Zusammenarbeit mit Wolfgang Köppe. Aus dem Bulgarischen von Hans Georg Albig u. a. Berlin: Volk und Welt 1984. Bulgarische Dramen wurden von Wolfgang Köppe herausgegeben und mit einem Nachwort von ihm versehen, erschienen 1974 in Henschelverlag, Berlin. Bulgarische Märchen wurden herausgegeben von Elena Ognjanova 1992 in Leipzig (Insel-Verlag). Mehrere Ausgaben bulgarischer Übersetzungen bringen auch Humo- ristisches aus Bulgarien in Übersetzung:

Onkel Dentchos Ideal: Heitere Geschichten aus Bulgarien, herausgegeben von Hartmut Herboth 1965 in Berlin: Eulenspiegel Verlag. Mach dich nicht zum Gürtel fremder Hosen: Ein bulgarischer Spruchbeutel mit 481 bulgarischen Sprichwörtern, herausgegeben, mit einem Nachwort versehen und übersetzt von Norbert Randow 1978 in Berlin: Eulenspiegel Verlag. Landschaft mit Hund: Bulgarische humoristische Erzählungen, ausgewählt von Hartmut Herboth und Jordan Popov, übersetzt von Hartmut Herboth, ver- öffentlicht 1985 in Berlin: Eulenspiegel Verlag.

39 Aus dem Bulgarischen wurden auch Hörspiele übersetzt, die im DDR- Rundfunk übertragen wurden. Im Zeitraum von 1969 bis 1987 wurden von der Abteilung „Internationale Funkdramatik“ des Rundfunks der DDR etwa 50 Hörspiele geboten. Wie aus der Darstellung von Ingrid Kuhnke weiter hervorgeht, zeigt die Chronologie der Erstauflagen von Übersetzungen aus dem Bulgarischen ins Deutsche, dass die Übersetzungstätigkeit in der DDR erst mit dem Jahre 1952 aufgenommen wurde und zwar mit Erzählungen von Elin Pelin und Gedichten von Nikola Vapcarov. Bis zum Jahre 1956 wurden jährlich etwa zwei Übersetzungen veröffentlicht, bis 1971 waren es dann jährlich etwa 5 bis 6 Titel und von 1972 bis 1981 jährlich fast 10 Titel. In den Jahren 1982 bis 1987 waren es wiederum nur 5 bis 6 Titel, die aus dem Bulgarischen ins Deutsche übertragen wurden. Das von Ingrid Kuhnke zusammengestellte Übersetzungsregister verzeichnet 103 Übersetzernamen, von denen nach Georg Adam Egon Hartmann, Hartmut Herboth, Wolf- gang Köppe und Nobert Randow (auch unter dem Pseudonym T. N. Braron) mit den meisten Übersetzungen herausragen. Zu nennen sind als Übersetzer bulgarischer Literatur in der DDR aber auch Hans-Georg Albig, Barbara Beyer, Mechthild Schäfer (geb. Ender), Barbara Antkowiak (geb. Sparnig). Für die Jahre 1952 bis 1956 ist ein zögerlicher Beginn der Über- setzungstätigkeit festzustellen, die ab 1957 dann aber deutlich zunahm, ab 1972 war eine weitere Zunahme der Übersetzungen aus dem Bulgarischen in der DDR zu verzeichnen, ab dem Jahre 1982 nahm die Übersetzungs- tätigkeit wieder ab. Gründe für diese Schwankungen lassen sich nur ver- muten. Insgesamt sind es aber 278 bulgarische Autoren, die in der DDR ins Deutsche übertragen wurden, zu denen die bekannten bulgarischen Schriftsteller wie Christo Botev, +udomir, Atanas Dal²ev, Stojan Daskalov, Dimit©r Dimov, Jordan Jovkov, Angel Karalij²ev, Georgi Karaslavov, Kon- stantin Petkanov, Emilijan Stanev, Dimit©r Talev, Nikola Vapcarov und selbstverständlich auch Ivan Vazov gehören. Deutsche Übersetzungen bulgarischer Autoren wurden in einzelnen Fäl- len auch in Bulgarien veröffentlicht, so Bulgarische Erzählungen, ausgewählt von Pen²o S. Dan²ev, 1960 im Fremdsprachenverlag in Sofia veröffentlicht, oder unter dem Titel Bulgarische Belletristen der Gegenwart, literarische Skiz- zen, übersetzt von Hartmut Herboth und 1970 in Sofia veröffentlicht. 1989 erschienen im Verlag Svjat (Sofia) unter dem Titel Bulgarische Tiergeschich- ten eine Sammlung von Erzählungen, herausgegeben von Simeon Janev, übersetzt von W. Gruhn, K. Papasova, R. Bogdanova, E. Petrova, W. Hanft und Egon Hartmann. 1957 veröffentlichte Norbert Randow Ivan Vazovs Roman Unter dem Joch, gefolgt von weiteren Auflagen in den Jahren 1964 und 1969 in Sofia und 1967 in Berlin, ferner Svetoslav Minkovs Die Dame mit den Röntgen-

40 augen erschien 1959 in Berlin, Aleko Konstantinovs Baj Ganju, der Rosenöl- händler wurde auf der Grundlage der Übersetzung von Georg Adam zu- sammen mit Hartmut Herboth im Jahre 1974 in deutscher Übersetzung in Leipzig veröffentlicht. 1978 folgten unter dem Titel Die brennenden Garben ausgewählte Erzählungen von Ivan Vazov, ebenfalls von Norbert Randow ins Deutsche übertragen. Norbert Randow ist mit seinen Übersetzungen nicht nur auf die zeit- genössische bulgarische Literatur eingegangen, sondern er hat in diesem Band auch einen Ausschnitt aus dem Leben und Leiden des sündigen Sofronij gebracht, womit er auch die ältere bulgarische Literatur einem breiteren Leserkreis in Deutschland zugänglich gemacht hat. Dies gilt auch für seine Übersetzung der Pannonischen Legenden, die 1972, 1973 und 1977 in Berlin und Wien erschienen sind, vor allem aber auch für die Slawobulgarische Geschichte des Paisij Chilendarski aus dem Jahre 1794, die die Epoche der bulgarischen Wiedergeburt einleitete und die Randow in deutscher Über- setzung 1984 in Leipzig veröffentlichte. Eine umfangreiche Sammlung von bulgarischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Norbert Randow im Jahre 1996 in Frankfurt am Main und Leipzig, gefolgt von einer Anthologie neuer bulgarischer Lyrik unter dem Titel Eurydike singt, veröffentlicht 1999 in Köln, womit die Bulgarische Literatur in deutscher Übersetzung auch nach der Wende von 1989/90 weiterhin angemessen vertreten war. Norbert Randow hat am 25. März 2001 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung parallel zum Italiener Claudio Megris er- halten. Die Ehrung erfolgte unter dem Motto „Verständigung ist eine stets bedrohte Brücke“. In der vom damaligen sächsischen Staatsminister für Wissenschaft und Kultur, Hans Joachim Meyer, Wolfgang Tiefensee, Ober- bürgermeister der Stadt Leipzig und Roland Ulmer, dem Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, unterzeichneten Urkunde hieß es:

Norbert Randow erhält den Anerkennungspreis für seine langjährige und vielseitige Tätigkeit als Herausgeber und Übersetzer aus dem Bulgarischen, Russischen, Weißrussischen und Altkirchenslavischen, die ihn als hervor- ragenden Kenner und kompetenten Vermittler dieser Kulturen ausweist. Vor allem mit der Anthologie „Eurydike singt. Neue bulgarische Lyrik“ hat er sich als einfühlsamer Übersetzer bulgarischer Lyrik erwiesen, deren Verständnis zu erleichtern und zu fördern sein hervorragendes Anliegen ist.“ (Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. O. O. O. J., 39)

41 Literatur

Adam 1899 G. Adam, Das bulgarische Schrifttum. Literarisches Echo 1, 1898–1899, 681–682.

Adam 1901a G. Adam, Skizzen von Petko Todoroff. 1. Pferdediebe. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Georg Adam. Aus fremden Zungen 11, 1901, 950–953.

Adam 1901b G. Adam, Skizzen von Petko Todoroff. 2. Der Bärenführer. Aus dem Bul- garischen übersetzt von Georg Adam. Aus fremden Zungen 11, 1901, 1000–1003.

Adam 1901c G. Adam, Skizzen von Petko Todoroff. 3. Schäfer. Aus dem Bulgarischen über- setzt von Georg Adam. Aus fremden Zungen 11, 1901, 1084–1091.

Adam 1905 G. Adam, Der Schließer des Paradieses. Von Petko Todoroff. Aus dem Bul- garischen von G. Adam. Aus Fremden Zungen 15, 1905, 107–110.

Adam 1906 G. Adam, Bulgarische Spruchweisheit. Aus fremden Zungen 16, 1906, 924.

Adam 1919 G. Adam, Bulgarische Volkslieder. Gesammelt von Pentscho Slavejkoff, über- tragen von Georg Adam (Leipzig 1919).

Bower Saint Clair/Brophy 1869 S. G. Bower Saint Clair/C. Brophy, A Residence in . Or Notes on the Resources and Administration of Turkey: The Condition and Character, Man- ners, Questions, and Language of the Christians and Musulman Populations with Reference to the Eastern Question (London 1869).

Brömse 1919 H. Brömse, Besprechung von Ivan Wasovs „Erzählungen und Novellen. Deutsch von A. Doritsch, O. Müller-Neudorf u. a. (Sofia/Leipzig 1917). Deutsche Revue 44, 1919, 299.

Christov 1929 K. Christov, Die bulgarische Literatur in deutscher Übersetzung. Slavische Rundschau 1, 1929, 36–42.

Dragnewa 1936 Z. Dragnewa (Hrsg.), Neue bulgarische Erzähler. Berechtigte Übersetzungen aus dem Bulgarischen. Bücherei Südosteuropa (München 1936).

42 Fey 1984 H. Fey, Gerhard Gesemann und die bulgarische Literatur. In: G. Gesemann (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst. Symposium vom 19. - 24. Mai 1982 in Ellwangen (Neuried 1984) 55–64.

Friedman 2010 V. A. Friedman (Hrsg.), Aleko Konstantinov: Bai Ganyo. Incredible Tales of a Modern Bulgarian. Translated by Victor A. Friedman, Christina E. Kramer, Grace Fielder, Catherine Rudin (Wisconsin 2010).

Gesemann 1931 G. Gesemann, Der bulgarische Roman 1930 vor dem Forum der Philosophie. Slavische Rundschau 3, 1931, 558–566.

Gesemann 1944 G. Gesemann, Zweiundsiebzig Lieder des bulgarischen Volkes (Berlin 1944).

Gesemann 1981 G. Gesemann, Gesammelte Abhandlungen 1. Selecta Slavica 4 (Neuried 1981).

Gesemann 1983 G. Gesemann, Gesammelte Abhandlungen 2. Selecta Slavica 8 (Neuried 1983).

Gesemann 1986 G. Gesemann, Der Lockvogel. Eine bulgarische Novelle aus dem Nachlass des Slavisten an der Deutschen Universität Prag. In: W. Gesemann (Hrsg.), Einund- zwanzig Beiträge zum 2. Internationalen Bulgaristik-Kongress in Sofia 1986 (Neuried 1986) 33–49.

Gesemann 1996 G. Gesemann, Zweiundsiebzig Lieder des bulgarischen Volkes. Übersetzt und nachgedichtet von Gerhard Gesemann. Unveränderter Nachdruck mit einer Ein- leitung von Helmut Wilhelm Schaller. Bulgarische Bibliothek N. F. 1 (Mar- burg/Lahn 1996).

Gregor 1957 J. Gregor, Der Schauspielführer (Stuttgart 1957).

Hartmann et al. 1966 E. Hartmann/H. Herboth/K. Gutschmidt (Hrsg.), Bulgaren der alten Zeit. Er- zählungen (Berlin 1966).

Ischirkoff 1916 A. Ischirkoff, Bulgarien. Land und Leute 1 (Leipzig 1916).

43 Keipert 1983 H. Keipert, Neues über Georg Rosen als Übersetzer slawischer Volksdichtung. In: H.-B. Harder, Studien zur Literatur und Kultur in Osteuropa (Köln 1983) 81–138.

Kanitz 1862 F. Kanitz, Serbiens byzantinische Monumente (Wien 1862).

Kanitz 1864 F. Kanitz, Über alt- und neuserbische Kirchenbaukunst. Ein Beitrag zur Kunst- geschichte (Wien 1864).

Kanitz 1868 F. Kanitz, Serbien. Historisch-ethnographische Reisestudien (Fries, Leipzig 1868).

Kanitz 1870 F. Kanitz, Katechismus der Ornamentik oder Leitfaden über die Geschichte, Entwickelung und die charakteristischen Formen der bedeutendsten Ornament- style aller Zeiten ( Leipzig 1870). Vierte Auflage 1891.

Kanitz 1875-1879 F. Kanitz, Donau-Bulgarien und der Balkan. Historisch-geographisch-ethno- graphische Reisestudien aus den Jahren 1860–1879. 3 Bände (Fries, Leipzig 1875– 1879), 2., neu bearbeitete Auflage (Leipzig 1882).

Kanitz 1892 F. Kanitz, Römische Studien in Serbien: Der Donau-Grenzwall, das Strassennetz, die Städte, Castelle, Denkmale, Thermen und Bergwerke zur Römerzeit im Königreiche Serbien (Wien 1892).

Kanitz 1904-1909 F. Kanitz, Das Königreich Serbien und das Serbenvolk von der Römerzeit bis zur Gegenwart. 2 Bände (Leipzig 1904–1909).

Kanitz 1904-1914 F. Kanitz, Das Königreich Serbien und das Serbenvolk von der Römerzeit bis zur Gegenwart. 1–3.

Koller 1979 W. Koller, Einführung in die Übersetzungswissenschaft (Heidelberg 1979).

Konstantinov 1974 A. Konstantinov, Baj Ganju. Der Rosenölhändler. Reclams Universal-Bibliothek 568 (Leipzig 1974).

44 Kuhnke 1988 I. Kuhnke (Hrsg.), Bulgarische Belletristik in der DDR 1945–1987. Bibliographie deutscher und sorbischer Übersetzungen. Dem 10. Internationalen Slawisten- kongress in Sofia 1988 gewidmet. Bibliographische Mitteilungen 32 (Berlin 1988).

Haralampieff 1982 K. Haralampieff, Otto Müller-Neudorf – sein Wirken für Bulgarien. In: W. Gese- mann/K. Haralampieff/H. Schaller (Hrsg.), 1300 Jahre Bulgarien. Studien zum 1. Internationalen Bulgaristikkongress Sofia 1981. Teil 2 (Neuried 1982) 1–13.

Hartmann/Vernay 1970 V. P. Hartmann/H. Vernay (Hrsg.), Sprachwissenschaft und Übersetzen (München 1970).

Hilferding 1868 A. F. Hilferding, Istorija serbov i bolgar – Kirill i Mefodij – Obzor ²ešskoj istorii (St. Peterburg 1868).

Kronsteiner1999 O. Kronsteiner (Hrsg.), C. Ognjanoffs Geschichte der bulgarischen Literatur. Die erste bulgarische Literaturgeschichte in deutscher Sprache. Die slawischen Sprachen 61 (Salzburg 1999).

Mühlmann 1954 W. E. Mühlmann, Zum Gedächtnis Gerhard Gesemanns. Zeitschrift für Slavische Philologie 22, 1954, 237–243.

Müller-Neudorf 1917 O. Müller-Neudorf, Blumen aus dem Balkan (Berlin 1917).

Nida 1964 E. A. Nida, Toward a Science of translating [Atlantic Highlands (N.J.) 1964].

Novoselski 1948 S. M. Novoselski, Bulgarische Heimat. 24 Lieder (2. Aufl. München 1948). o. A. 1901 o. A., Nachwort. Aus Fremden Zungen 11, 1901, o. S. o. A. 1964 o. A., Bulgarien in der Literatur. Biographische Kalenderblätter der Berliner Stadtbibliothek. Sonderblatt 18 (Berlin 1964).

Petrov-Slodnjak 1991 M. Petrov-Slodnjak, Christo Ognjanoff. Ein Leben für Bulgarien (o. O. 1991).

45 Popov 1896 L. I. Popov (Hrsg.), Ivan Vazov, Skizzen aus dem bulgarischen Residenzleben (Leipzig 1896).

Randow 1960 N. Randow, Der Slawenfreund Georg Adam und sein Verhältnis zur bul- garischen Literatur. Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 11.1, 1960, 81–86.

Randow 1961 N. Randow, Bulgarische Erzähler (Berlin 1961).

Roda Roda 1918 A. Roda Roda, Das Rosenland. Bulgarische Gestalten und Gestalter (Hamburg/ Leipzig 1918).

Röhling 1975 H. Röhling, Studien zur Geschichte der balkanslavischen Volkspoesie in deut- schen Übersetzungen (Köln/Wien 1975).

Rosen 1878 G. Rosen, Die Balkan-Haiduken. Ein Beitrag zur inneren Geschichte des Slawen- thums (Leipzig 1878).

Rosen 1879 G. Rosen, Bulgarische Volksdichtungen. Gesammelt und ins Deutsche Über- tragen von Georg Rosen (Leipzig 1879).

Schaller 1993 H. W. Schaller, Alexander Doritsch und sein Beitrag zur Bulgaristik in Deutsch- land. Linguistique Balkanique 36.1, 1993, 65–70.

Schaller 1999 H. W. Schaller, Bulgarien und Großbritannien. Kulturelle Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. In: 17. Salzburger Slawistengespräch 19.–22. November 1998. Die Euroslawischen Kulturbeziehungen (Salzburg 1999) 201–215.

Schaller 2000 H. W. Schaller, Bulgarien und Großbritannien. Kulturelle Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Bulgarien-Jahrbuch 1998/1999, 71–96.

Schaller 2013a H. W. Schaller, Bulgarische Literatur in deutscher Übersetzung. In: H. Schaller/R. Zlatanova (Hrsg.), Kontinuität gegen Widerwärtigkeit. Festschrift für Norbert Randow zum 80. Geburtstag (München/Berlin/Washington D.C. 2013) 9–14.

46 Schaller 2013b H. W. Schaller, Ivan Vazov in England. Erste Übersetzungen seines Romans „Pod igoto“/“Under the Yoke“. In: H. Schaller/R. Zlatanova (Hrsg.), Kontinuität gegen Widerwärtigkeit. Festschrift für Norbert Randow zum 80. Geburtstag (München/ Berlin/Washington D.C. 2013) 112–125.

Schischmanow 1944 M. Schischmanow (Hrsg.), Bulgarische Novellen (Wien 1944).

Stammler 1942 H. Stammler, Iwan Wasov. Zu seinem 20. Todestage am 22. September 1941. Bulgaria 4, 1942, 383–385.

Stein 1980 D. Stein, Theoretische Grundlagen der Übersetzungswissenschaft (Tübingen 1980).

Störig 1969 H. J. Störig (Hrsg.), Das Problem des Übersetzens (Darmstadt 1969).

Stolze 1982 R. Stolze, Grundlagen der Textübersetzung (Heidelberg 1982).

Strausz 1895 Strausz, A., Bulgarische Volksdichtungen (Wien, Leipzig 1895). von SzataÚska 1917 M. J. von SzataÚska, Die Bulgarin und andere Novellen von Iwan Wasow. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Marya Jonas von SzataÚska. 3. Auflage (Leipzig 1917).

Ungerer-Manolova o. J. S. Ungerer-Manolova, Bulgarische Gesänge. Anthologie bulgarischer Dichtung (München o. J.).

Vazov 1910 I. Vazov, Borislav. Istori²eska drama v 5 dejstvija iz caruvaneto na Ivana Asena II. Vtoro izdanie (Sofia 1910).

Wasoff 1918 I. Wasoff, Unter dem Joch. Ein Roman aus der Zeit der bulgarischen Befreiungs- kämpfe (Leipzig 1918).

Weigand 1928 G. Weigand (Hrsg.), Aleko Konstantinofs Baj Ganju. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Prof. Dr. G. Weigand. Zweiter durchgesehener Abdruck (Leip- zig 1928).

47 Wilss 1981 W. Wilss (Hrsg.), Übersetzungswissenschaft (Darmstadt 1981).

Zeil 1993a W. Zeil, Adam Georg. In: E. Eichler (Hrsg.), Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945. Ein biographisches Lexikon (Bautzen 1993) 24–25.

Zeil 1993b W. Zeil, Georg Rosen. In: E. Eichler (Hrsg.), Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945. Ein biographisches Lexikon (Bautzen 1993) 326–327.

Zeil 1994 W. Zeil, Slawistik in Deutschland. Forschungen und Informationen über die Sprachen, Literaturen und Volkskulturen slawischer Völker bis 1945 (Köln 1994).

48 Helmut W. Schaller

Die „B©lgarsko knižovno družestvo/Bulgarische Literarische Gesellschaft“ im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1869-18781

Drei Jahre werden rückblickend für die neuere bulgarische Geschichte im- mer wieder als entscheidend genannt: 1989 als das Jahr der Wende in Bul- garien, 1944 als das Jahr der kommunistischen Machtübernahme und dem Ende der Monarchie, wenn diese auch erst 1946 aufgrund eines Volksent- scheides abgeschafft wurde, und schließlich 1878 als das Jahr, in dem die osmanische Herrschaft für Bulgarien zu Ende ging. Geht man weiter zu- rück, um den zeitlichen Rahmen für die folgenden Ausführungen abzugren- zen, so ist sicherlich Paisijs Slavenobolgarskaja istorija/Slawisch-bulgarische Geschichte des Jahres 1762 zu nennen, die den Ausgangspunkt für die folgende Epoche der Wiedergeburt, des „nacionalno V©zraždane“ bedeu- tete, die letztlich auch zur Selbstständigkeit Bulgariens führte. Ein weiteres wichtiges Datum in der neueren Geschichte Bulgariens dürfte aber auch das Jahr 1869 gewesen sein, das Jahr, in dem die „Bul- garische Literarische Gesellschaft“, Vorläuferin der späteren Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, aufgrund der damaligen politischen Verhält- nisse nicht in Bulgarien, sondern in Rumänien begründet wurde. Die bei- den Fürstentümer Moldau und Walachei kamen im 16. Jahrhundert unter osmanische Herrschaft, 1859 wurden sie unter türkischer Oberhoheit ver- einigt, regiert von Fürst Cusa. Nach dessen Sturz im Jahre 1866 übernahm Karl von Hohenzollern die Herrschaft, der 1881 bis 1914 dann als Karl I. Rumänien regierte. In Rumänien waren demnach die Bedingungen für eine bulgarische wissenschaftliche Institution nach dem Vorbild anderer euro- päischer Akademien wesentlich günstiger als in Bulgarien, das 1393 unter osmanische Herrschaft kam und erst 1878 mit dem Frieden von San Stefano in der Folge des Russisch-Türkischen Krieges ein selbstständiges Fürsten- tum unter Alexander von Battenberg wurde. Entsprechend diesen Bedingungen hatte sich sowohl in Rumänien, als auch in Russland eine starke bulgarische intellektuelle Emigration zusam- mengefunden, die die Gründung wissenschaftlicher Einrichtungen außer-

1 Erweiterte Fassung eines Vortrages am 8. November 2013 an der Humboldt-Univer- sität zu Berlin im Rahmen des Symposiums der „Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien“: Betrach- tungen zu Kulturtraditionen und Wissenschaft in den bulgarischen Gebieten vor 1878.

49 halb Bulgariens verfolgte. Vorbild waren die anderen, freien Völker Euro- pas, die bereits seit längerer Zeit ihre Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften hatten. Die Bildung einer Akademie auf bulgarischem Bo- den scheiterte grundsätzlich an den Ordnungen des Osmanischen Reiches. Bulgarische Patrioten wie Konstantin Petkovi² und Nešo Stojanovi² plan- ten trotzdem im Jahre 1852 die Herausgabe einer „B©lgarska Matica“ in Konstantinopel, einige Jahre später begründete Dragan Cankov eine „Ob- ština na b©lgarskata knižnina“, eine „Gesellschaft für bulgarisches Schrift- tum“, die Lehrbücher und andere Literatur verbreiten sollte. An dem Unter- nehmen waren führende bulgarische Intellektuelle wie Dimit©r Mutev (1818-1864)2 und der Sprachwissenschaftler Najden Gerov (1823-1900), vor allem durch die Erstellung des bulgarischen Wörterbuches in den Jahren nach 1895 (Gerov 1895) bekannt geworden, beteiligt. Das Vorhaben kam je- doch nicht voran, da es vor allem an materieller Unterstützung fehlte, eben- so fehlten wissenschaftliche Fachkräfte und obendrein wurde das Unter- nehmen von der osmanischen Zensur behindert. In der Zeit des „V©zraždane“, der bulgarischen „nationalen Wieder- geburt“, entstand eine breite, in drei Richtungen verlaufende nationale Befreiungsbewegung:

der Kampf um eine weltliche Bildung und Kultur, der Kampf um die Selbstständigkeit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche und schließlich der politische Kampf um soziale und nationale Selbstständigkeit. In diesem Kampf um die Schaffung eines modernen, der Zeit entsprechen- den Bildungssystems, spielten mehrere Persönlichkeiten eine herausragende Rolle, nämlich Petar Beron (um 1800-1871 Craiova), Neofit Bozveli (eigent- lich Neofit Chilendarski, um 1785-1848, auf dem Athos verstorben), Neofit Rilski (um 1793-1881), Najden Gerov (1823-1900), Vasil Aprilov (1789- 1847), die Brüder Dimit©r und Konstantin Miladinov (1810-1862 und 1830- 1862) und schließlich Marin Drinov (1838-1906) mit der 1869 im rumäni- schen Br©ila gegründeten „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“. Diese und eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten erneuerten das bulgarische Bildungswesen und schufen die ersten Schulen und Gymnasien. Der Kampf um die geistige Erneuerung Bulgariens entwickelte sich zu einer Volksbewe- gung für die Beseitigung der Abhängigkeit nicht nur vom Osmanischen Reich, sondern auch vom griechischen Patriarchat in Konstantinopel, die 1870 schließlich zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche führte.

2 Mutev studierte in Rumänien, Odessa, Bonn und Berlin, er war einer der ersten Aufzeichner bulgarischer Volksdichtung.

50 Wie stark sich während der Epoche der Wiedergeburt auch die gram- matische Beschreibung des Bulgarischen entwickelt hatte, zeigen die Werke von Neofit Rilski (1793-1881) (vgl. Rilski 1984), von Andreas Pásztory (Pásztory 1856)3, Christaki Pavlovi² (1804-1848) (vgl. Pavlovi² 1836), Joakim Gruev (1828-1912) (vgl. Gruev 1858) und Ivan Mom²ilov (1819- 1869) (vgl. Mom²ilov 1868). Mehr oder weniger in Vergessenheit geraten ist der „Klju² b©lgarskago jazyka/Schlüssel der bulgarischen Sprache“ von Georgi Sava Rakovski (1821-1867 in Bukarest), den dieser 1865 in Bukarest niedergeschrieben hatte, nachdem er ihn 1858 in Odessa begonnen hatte. Im Jahre 1880 wurde das Werk von seinem Neffen Kiro Stojanov ver- öffentlicht (Stojanov/Rakovski 1880). Bereits im Jahre 1857 hatte er in Novi Sad seine „Ponjatija o bulgarskomu jazyku“ publiziert. Große Bedeutung für die Wiedergeburt Bulgariens hatte auch eine revo- lutionär ausgerichtete Bewegung der Demokraten Georgi Rakovski (1821- 1867 Bukarest), Vasil Levski, eigentlich Kun²ev (1837-1873, hingerichtet in Sofia), Ljuben Karavelov (um 1834-1879) und Christo Botev (1848-1876, gefallen), die mit dem von 1869 bis 1875 aktiven „Bulgarischen Zentralen Revolutionskomitee“ zum Aufstand von 1876 führten, der trotz seiner Nie- derlage die endgültige Befreiung Bulgariens im Jahre 1878 entscheidend förderte und nunmehr auch die Aufmerksamkeit anderer europäischer Länder, vor allem Englands, auf Bulgarien richtete (vgl. Schaller 2000, 71- 96). Nach Paisij war es vor allem Pet©r Beron (1800-1871), der mit dem Ziel von Schulreformen 1824 die erste bulgarische Fibel in der gesprochenen Sprache vorlegte, die für die weitere Entwicklung des bulgarischen Schul- wesens eine zentrale Rolle einnahm (Stojkov 1949). Beron vertrat die Ein- führung weltlicher Schulen und das Recht der Frauen auf Bildung. Typisch für die bulgarische Bildungsschicht der Wiedergeburtszeit war die Tat- sache, dass sie ihre Bildung außerhalb Bulgariens suchen musste. So stu- dierte Beron zunächst an der Universität Heidelberg Philosophie, später promovierte er auf dem Gebiet der Medizin in München, während Vasil Aprilov, 1789 im bulgarischen geboren, Schulen in Moskau und Braóov/Rumänien besuchte, dann in Wien Medizin studierte und nach dem Jahre 1811 als Kaufmann in Odessa tätig wurde. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts trat er mit seinen Schriften als Wegbereiter des neuen bul- garischen Bildungswesens hervor und gründete 1835 gemeinsam mit N. Palauzov (1818-1872 in Petersburg) in seiner Heimatstadt Gabrovo die erste weltliche bulgarische Schule. Bei Aprilov findet sich auch die Idee

3 Neu herausgegeben München, Berlin, Washington D.C. 2013 von K. Kostov u. K. Steinke m. e. Nachwort von S. Comati.

51 einer bulgarischen Universität, bei Petko Kr©stevi² (1828-1895) erste Über- legungen zu den möglichen Aufgaben einer künftigen bulgarischen Aka- demie, wie sie dann von Marin Drinov mit seiner 1869 gegründeten „Bul- garischen Literarischen Gesellschaft“ zielbewusst weiterverfolgt wurden. In Konstantinopel versuchte Bozveli 1840 eine „Bulgarische Gesellschaft“ zu begründen, dort sollte im Jahre 1852 auch eine „B©lgarska Matica“ entstehen, Vorbild waren die „+eská Matica“, 1830 in Prag begründet, so- wie die „Matica Srpska“, 1826 in Budapest begründet. Zur Zeit der Gründung des ersten bulgarischen Gymnasiums in Ga- brovo im Jahre 1835 gab es 208 bulgarische Schulen, 1870 waren es bereits 1214 und im Jahre 1877 gab es 1504 Schulen in Bulgarien. Nach den Angaben von Constantin Jire²ek aus dem Jahre 1876 gab es zehn Jahre nach der Gründung der Gabrover Schule im Jahre 1845 53 bulgarische Volksschulen, und zwar in Donau-Bulgarien 31, in Thrakien 18 und im nordöstlichen Makedonien 4 (Jire²ek 1876, 543). 1862 und 1868 kamen historische Ereignisse, die die bulgarische Emi- gration vor allem in Rumänien aktivierten, so der griechische Aufstand auf der Insel Kreta im Jahre 1867, die Aktivitäten Vasil Levskis (1837-1873) und nicht zuletzt brachten auch die Ereignisse in Österreich-Ungarn Bewegung in die bulgarische Gesellschaft und wiederum war es der Wunsch nach ei- ner organisatorischen Zusammenführung der bulgarischen Intelligenz, der am 1. Oktober 1869 zur Bildung des „B©lgarsko knižovno družestvo“ in Br©ila führte. Aufgrund der Initiative dreier führender Bulgaren entstand dann 1869 im rumänischen Br©ila die erste bulgarische gelehrte Gesell- schaft (vgl. Härtel/Schönfeld 1998, 99), die in den Jahren 1870 bis 1876 eine Zeitschrift zur Geschichte, Sprachwissenschaft und Literaturkritik heraus- gab (vgl. Mijatev/Dimov 1958; Arnaudov 1966; Christov 1966; Božkov 1969; Istorija 1971, 5-46). Diese Gesellschaft wurde bekanntlich zur Keimzelle der heutigen Bulgarischen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Sofia. Ihre Gründer waren Marin Drinov, Vasil Drumev und Vasil Stojanov, der als „Geschäftsführer“ der Gesellschaft und als Herausgeber des „Periodi²esko spisanie“ besondere Aufgaben übernommen hatte. Die Gründer der Ge- sellschaft standen über Vasil Stojanov auch unter tschechischem Einfluss, da dieser an der Universität Prag studiert hatte. Die neue Gesellschaft entstand damit auch nach dem Vorbild damals existierender tschechischer Gesellschaften mit vergleichbaren Zielsetzungen. Vasil Stojanov und Marin Drinov planten die Gründung gemeinsam in Prag, Hauptziel der künftigen Gesellschaft war die Erforschung und Darstellung der bulgarischen Ge- schichte und Literatur. Ein Jahr vor der Gründung der Gesellschaft waren in Wien und Konstan- tinopel Werke einer eigenständigen bulgarischen Wissenschaft erschienen,

52 darunter von Marin Drinov ein Überblick über die Herkunft des bulgari- schen Volkes und den Beginn der bulgarischen Geschichte sowie ein histo- rischer Überblick der bulgarischen Geschichte von den ersten Anfängen bis in die damalige Gegenwart.4 Um alle für die neue Gesellschaft in Frage kommenden Persönlichkeiten nicht nur in der Emigration, sondern in Bul- garien selbst, erfassen zu können, musste die Gesellschaft sowohl von der rumänischen Regierung, als auch von der „Hohen Pforte“ anerkannt wer- den. Während des Russisch-Türkischen Krieges musste die „Bulgarische Literarische Gesellschaft“ verständlicherweise ihre Arbeit ruhen lassen. Nach ihrer Verlegung nach Sofia zeigte sich ab 1882 eine breite Be- teiligung führender Bulgaren, so von den Schriftstellern Pen²o Slavejkov (1866-1912) und Ivan Vazov (1850-1921) sowie dem Sprachwissenschaftler Aleksand©r Teodorov-Balan (1859-1959). Auf der Jahresversammlung der Gesellschaft am 8. August 1884 wurde beschlossen, die Bulgarische Litera- rische Gesellschaft zu einer wissenschaftlichen Einrichtung europäischen Typs, d. h. zu einer wissenschaftlichen Akademie zu entwickeln. In den Jahren 1884 bis 1898 fanden jedoch keine Versammlungen der Gesellschaft statt, nachdem Marin Drinov nach Charkiw zurückgekehrt war. Am 10. November 1898 wurde Drinov zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ge- wählt und damit offensichtlich ein neuer Anfang für weitere Aktivitäten gemacht. Die führende Persönlichkeit der bulgarischen literarischen Gesellschaft war ohne Zweifel Marin Stefanovi² Drinov, am 20. Oktober 1838 im süd- bulgarischen Panagjurište geboren, gestorben am 28. Februar 1906 im da- mals russischen Charkiw. Drinov hatte zuerst in Bulgarien, dann an der Kiewer Geistlichen Akademie und anschließend in Moskau studiert, wo er an seiner Magister- und Doktordissertation zum Thema „Južnite slavjani i Vizantija prez X vek/Die Südslawen und Byzanz im 10. Jahrhundert“ arbeitete, mit der er 1865 seine Studien abschloss. 1867 hielt sich Drinov in Prag auf, wo er zusammen mit Vasil Stojanov die Gründung der Bul- garischen Literarischen Gesellschaft plante, die dann am 12. Oktober 1869 in Br©ila verwirklicht wurde. Die ersten Jahre an der Universität Charkiw verbrachte Drinov von 1870 bis 1877, wo er mit längeren Unterbrechungen bis zu seinem Tod im Jahre 1906 als Professor an der Historisch-philo- logischen Fakultät lehrte, nachdem er auf Empfehlung des Sprachwissen-

4 Die gesammelten Abhandlungen Marin Drinovs wurden im Jahre 1909 unter der Redaktion von V. N. Zlatarski von der Bulgarischen gelehrten Gesellschaft in drei Bänden herausgegeben: I. Trudove po b©lgarska i slavjanska istorija. II. Trudove po I. B©lgarska c©rkovna istorija; II. Ezikoznanie, literaturna istorija, etnografija i narodni umotvorenija; III. I. Publicisti²ni statii; II. Služebni zapiski, naredbi, i razporedbi; III. Kritiki, o²erki i obzivi; IV. Pomenici.

53 schaftlers A. A. Potebnja für diesen Lehrstuhl bestimmt worden war. Dri- nov erhielt aufgrund seiner Schrift über die Besiedlung der Balkanhalbinsel durch die Slaven, die 1873 in russischer Sprache erschienen war, auch eine Professur für Slavische Philologie an der Universität Charkiw. Im Novem- ber 1876 hielt er in Charkiw einen öffentlichen Vortrag zum Thema „B©l- garija v nave²erieto na pogroma/Bulgarien am Vorabend der Verfolgung“. 1877 verließ Drinov Charkiw und begab sich nach Bulgarien. Drinov war 1878-1879 Kultusminister im selbstständig gewordenen Bulgarien. Er schuf das erste bulgarische Einheitsalphabet und gilt zugleich auch als „Vater der bulgarischen Geschichtswissenschaft“. Drinov war in den Jahren 1869 bis 1882 erster Präsident der Gesellschaft, in den Jahren 1884 bis 1894 nahm er erneut dieses Amt wahr. Drinov erwarb sich große Verdienste um die Gründung des bulgarischen Staates, er war u.a. für die kurze Zeit von 1878 bis 1879 erster Minister für Volksbildung und war an der Ausarbeitung der ersten bulgarischen Verfassung im Jahre 1879 sowie bei der Bearbeitung vieler Gesetze und Verordnungen im Bereich des Bil- dungswesens beteiligt (Burmov 1960). Als Historiker arbeitete er haupt- sächlich auf dem Gebiete des bulgarischen Mittelalters, vor allem mit Blick auf den Ursprung des bulgarischen Volkes und die Anfänge der bul- garischen Geschichte. Ein weiterer Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Forschungen war die Geschichte der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, zu der er 1869 in Wien eine grundlegende Darstellung in bulgarischer Sprache veröffentlichte (Drinov 1869). Drinov war der erste bulgarische Historiker, der alle wissenschaftlichen Grade erreichte. Gleichzeitig war er auch der erste bulgarische Gelehrte, der von allen zu seiner Zeit bestehenden slavi- schen Akademien zum Mitglied gewählt wurde, er war erster Vorsitzender der ersten bulgarischen wissenschaftlichen Gesellschaft und erster Kultus- minister des neuen Bulgarien (Sborni²e 1900). Vasil Drumev war Politiker, Geistlicher und Schriftsteller, geboren um 1840 in Šumen, gestorben 1901 in Sofia. Er studierte in den Jahren 1865 bis 1869 in Kiew Theologie und wurde 1869 einer der Mitbegründer der Bul- garischen Gelehrten Gesellschaft. 1874 wurde Drumev Bischof, 1879 und 1880 wurde er Minister im Fürstentum Bulgarien, 1884 bis 1901 war Dru- mev Metropolit von T©rnovo. Mit seiner romantisch-sentimentalen Erzäh- lung Die unglückselige Familie aus dem Jahre 1860 und dem Schauspiel Ivanko, der Mörder von Asen I. aus dem Jahre 1872 legte Drumev den Grund- stein zur neubulgarischen Epik und Dramatik. Vasil Dimitrov Stojanov, geboren 1839 im bulgarischen Žeravna, Bezirk Sliven, gestorben 1910 in Sofia, ging 1858 nach Prag, wo er seine Aus- bildung am Akademischen Gymnasium fortsetzte und dann an der Karls- Universität Prag studierte. Zusammen mit Marin Drinov plante er 1867 die

54 Gründung der Bulgarischen Gelehrten Gesellschaft, er war sozusagen der erste „Geschäftsführer“ der Gesellschaft, zugleich auch erster Redakteur des „Periodi²esko spisanie“. Stojanov gründete auch die Bibliothek der Ge- sellschaft, 1872 beendete er jedoch seine Tätigkeit für diese und war von 1873 bis 1879 als Lehrer am Gymnasium von Bolgrad tätig. Die „Bulgarische Literarische Gesellschaft“ war eine wissenschaftlich und literarisch ausgerichtete Vereinigung bulgarischer Wissenschaftler, Schriftsteller, Publizisten und sonstiger gesellschaftlich aktiver Persönlich- keiten. Sie wurde im Rahmen einer ersten Zusammenkunft in der Zeit vom 26. bis 30. September in Br©ila/Rumänien von Vertretern der bulgarischen Gemeinden in Br©ila, Galaô, Bukarest, Bolgrad, Kišinev, Wien und Odessa gegründet. Br©ila wurde als erster Sitz der Gesellschaft deshalb gewählt, weil es etwa in der Mitte zwischen Bukarest und Odessa lag und außerdem dort eine starke bulgarische Gemeinde beheimatet war. Die erste General- versammlung der Gesellschaft nahm im Herbst 1869 den „Ustav na B©lgar- skoto knižovno družestvo/Satzung der Bulgarischen Literarischen Gesell- schaft“ an und wählte als erste „wirkliche Mitglieder“ und Leiter der zu leistenden wissenschaftlichen Arbeit Marin Drinov als Vorsitzenden, Vasil Drumev als Mitglied und Vasil Stojanov als Geschäftsführer. Ausführendes Organ der Gesellschaft wurde die jährlich zusammentretende Versamm- lung der Mitglieder. Die Initiatoren der Gesellschaft wurden in ihren Be- strebungen unterstützt von führenden Vertretern des öffentlichen Lebens in Bulgarien. Zu nennen sind hier vor allem Vasil Levski (1837-1873), Ljuben Karavelov (1834-1879) und Christo Botev (1848-1876). Die Gesell- schaft setzte sich zum Ziel, die Verbreitung der Aufklärung des bulga- rischen Volkes zu fördern. Die konkrete Arbeit der Gesellschaft zielte auch auf eine Bearbeitung und Vervollkommnung der bulgarischen Sprache ab, ferner aber auch auf eine Darstellung der bulgarischen Geschichte. Ein weiteres Ziel der Gesellschaft war eine allgemeine Volksbildung, die Er- ziehung der Jugend – beiderlei Geschlechts! – im Geiste des bulgarischen Volkes, angestrebt wurde auch eine Verbesserung der äußeren Bedingun- gen des Schulwesens in Bulgarien. Somit erstreckten sich die Zielsetzungen der Gesellschaft auf die gesamte Wissenschaft und auch auf die Kunst. Eine grundlegende Rolle für Bulgarien vor und nach 1878 hatte der tschechische Historiker Constantin Josef Jire²ek (1854-1918) übernommen, der 1884 bis 1893 als Professor für Geschichte mit Schwerpunkt auf der slavischen Welt an der Universität Prag lehrte. Seine erste wissen- schaftliche Arbeit war nämlich ein Verzeichnis der neueren bulgarischen Literatur für die Zeit von 1806 bis 1870, für die „Bulgarische Literarische Gesellschaft“ 1872 in Wien veröffentlicht, unterstützt von vielen Bulgaren, vor allem auch von Marin Drinov (Jire²ek 1872).

55 1876 veröffentlichte Jire²ek eine Geschichte der Bulgaren in tschechi- scher Sprache, im selben Jahr erschien eine deutsche Fassung dieser Dar- stellung (Jire²ek 1876)5, 1878 folgte eine russische und selbstverständlich mehrere bulgarische Ausgaben, jedoch erst nach 1878, nämlich 1886 (Ire²ek 1886), 1888 und 1929 (Ire²ek 1929; Hierzu Verbesserungen und Ergänzungen Ire²ek 1939). Hierbei handelte es sich um die erste wissenschaftliche Ge- samtdarstellung der Geschichte Bulgariens überhaupt. In den Jahren 1879 bis 1884 lebte Jire²ek in Bulgarien, war 1879 bis 1881 erster Sekretär im Bil- dungsministerium und 1881/82 bulgarischer Bildungsminister, 1884 war Jire²ek Direktor der Bulgarischen Nationalbibliothek in Sofia. Im Jahre 1888 erschienen seine Berichte über Reisen in Bulgarien (Jire²ek 1888), 1899 in bulgarischer Übersetzung sowie 1891 seine Abhandlung über das Fürsten- tum Bulgarien (Jire²ek1891), 1899 in bulgarischer Übersetzung veröffent- licht (Ire²ek 1899). Zu Beginn der 30er Jahre erschien Jire²eks bulgarisches Tagebuch in bulgarischer Übersetzung aufgrund einer tschechisch ge- schriebenen handschriftlichen Vorlage (Ire²ek 1930-1932). Bis in die jüngste Zeit hinein wurde das Andenken an Jire²ek und seine damals epoche- machenden Schriften in Bulgarien stets wachgehalten.6 In seiner oben bereits erwähnten Bibliographie zum neubulgarischen Schrifttum, die als Beilage zum „Periodi²esko spisanie na B©lgarskoto kni- žovno družestvo“ im Jahre 1873 erschienen war, hatte Jire²ek ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Beginn des neubulgarischen Schrifttums erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts anzusetzen sei. Bis zum 15. Jahr- hundert war nach Jire²ek in Bulgarien ausschließlich das Altbulgarische gebräuchlich und für die Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert seien nach seiner Aussage nur wenige Handschriften überliefert worden, wo sich ein starkes Schwanken zwischen „Altem“ und „Neuem“ beobachten ließe, d. h. ein Schwanken im Gebrauch von Kirchen- und Volkssprache. Jire²ek hat eine Aufzählung von insgesamt 537 Titeln von Büchern, Zeitschriften und Broschüren zusammengestellt, der er noch eine kleine Ergänzung von

5 1889 erschien auch eine ungarische Übersetzung dieses Werkes unter dem Titel: A bolgárok törtenete. Nagybecskbek. 6 Jire²ek hat eine ganze Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt, die über den Themenbereich Bulgarien hinausgehen, sich mit anderen Ländern der Balkanhalb- insel befassen so u. a: Die Heerstraße von Belgrad nach Konstantinopel und die Balkanpässe. Eine historisch-geographische Studie (Prag 1877); Das christliche Element in der topographischen Nomenklatur der Balkanländer (Wien 1897); Die Bedeutung von Ragusa in der Handelsgeschichte des Mittelalters. Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 31. Mai 1899 in Wien; Albanien in der Vergangenheit (Wien 1914); La civilisation serbe au moyen-age (Paris 1920); Geschichte der Serben. 1-2 (Gotha 1911–1918).

56 19 Titeln hinzufügte. Dort schließt sich an eine Ordnung nach Sachgebie- ten, nämlich Sprachwissenschaft, Poetik und Prosa, Geschichte und Geo- graphie, Mathematik, Naturwissenschaften, Medizin, Philosophie sowie periodisch erschienene Zeitschriften, Pädagogik und theologische Literatur. Im Anschluss an diese Bibliographie findet sich die bulgarische Über- setzung von Nikolaj Gogols Taras Bulba von Nešo Bon²ev, die mit weiteren Folgen ihre Fortsetzung fand.7 Die „Bulgarische Literarische Gesellschaft“ sollte, wie bereits 1869 in Br©ila festgelegt worden war, zu einer Bulgarischen Akademie der Wissen- schaften weiter entwickelt werden und zwar als die höchste wissenschaft- liche Institution Bulgariens, aus der in Br©ila gegründeten Gesellschaft hervorgehend, wie sie 1878 nach Sofia verlegt wurde und 1911 dann den Status einer wissenschaftlichen Akademie nach europäischen Maßstäben mit drei Klassen erhielt, nämlich einer „Historisch-philosophischen Klasse“, einer „Philologisch-gesellschaftswissenschaftlichen“ und einer „Naturwis- senschaftlich-mathematischen Klasse“. Die Voraussetzungen hierfür waren im ersten Heft des „Periodi²esko spisanie na B©lgarskoto knižovno dru- žestvo“, das 116 Druckseiten umfasste, 1870 bereits klar ausgedrückt wor- den, wenn dort als die Hauptanliegen der Gesellschaft mit der Bearbeitung und Vervollkommnung A. der bulgarischen Sprache und der Volksdichtung des bulgarischen Volkes, B. der Bulgarischen Geschichte formuliert wurden. Der „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ wurden in diesem Zu- sammenhang die folgenden Aufgaben zugewiesen:

1. Erziehung der Jugend beiderlei Geschlechts im Geiste des bulgarischen Volkes; 2. Verbesserung und Fortschritt der bulgarischen Schulen, mit männlichen und weiblichen Schülern, entsprechend dem Geist der Zeit und den Be- dürfnissen des bulgarischen Volkes; 3. Verbesserung und Bearbeitung von Schrifttum, das sich als Lehrmittel für bulgarische Schulen eignet. Gedacht war hier auch an Übersetzungen aus anderen Sprachen in das Bulgarische, Schrifttum, das für alle Schichten des Volkes geeignet erschien, ganz besonders aber für das weibliche Ge- schlecht;

7 Nešo Bon²ev (1839-1878) war einer der ersten bulgarischen Literaturkritiker, er studierte in Kiew und Moskau, wo er auch als Lehrer tätig war. Seit 1871 war er auch Mitglied der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft.

57 4. Schrifttum zu den Pflichten des Menschen gegenüber sich selbst und gegenüber den Nächsten, gegenüber der Gesellschaft, dem Volk, Vater- land und gegenüber dem Staat; 5. Schrifttum zur Bildung der bulgarischen Geistlichen sowie allgemeines Schrifttum über deren Verdienste, die auf Ehre, Ruhm und Größe der Bulgarischen Orthodoxen Kirche ausgerichtet sind; 6. Schrifttum zum Studium bulgarischer Volksbräuche und überhaupt auch aller den Bulgaren benachbarten Völker; 7. Schrifttum zum Studium des bulgarischen Vaterlandes; 8. Schrifttum zu berühmten Persönlichkeiten, insbesondere solchen, die durch hohe Bildung und umfassende Kenntnisse herausragten. Persön- lichkeiten, die dauerhafte Verdienste um das bulgarische Volk und das Vaterland, überhaupt für die Menschheit haben; 9. Schrifttum über Leben und Werke aufgeklärter Völker; 10. Schrifttum über alle Wissenschaften, Künste und Technik. Darüber hinaus wollte die Gesellschaft versuchen, nach Möglichkeit auch Kenntnisse zu verbreiten, die einem wesentlichen Zuwachs für den materi- ellen Reichtum und den technischen Fortschritt des bulgarischen Volkes förderlich waren. Allen diesen Zielen sollten die Veröffentlichungen der Gesellschaft, sowohl das „Periodi²esko spisanie“ als auch der „Sbornik“ dienlich sein. Das „Periodi²esko spisanie“, das monatlich erscheinen sollte, wurde vom Inhalt her in drei Abteilungen gegliedert, nämlich eine literarische, eine wissenschaftliche und eine kritische. Die literarische Abteilung sollte belletristische Werke in Versen und in Prosa bringen, ferner sowohl bul- garische Originaltexte als auch Übersetzungen von Literatur in anderen Sprachen. Die wissenschaftliche Abteilung sollte Beiträge aus verschie- denen Zweigen der Wissenschaft veröffentlichen. Die kritische Abteilung sollte bibliographische Nachrichten publizieren, ebenso auch Rezensionen und kritische Analysen aller möglichen Neuerscheinungen der bulgarischen Literatur, dazu aber auch über ausländische Veröffentlichungen berichten soweit diese Bulgarien berührten. Sobald es die finanziellen Mittel möglich machten, sollte auch ein „Sbor- nik“ erscheinen, der sich mit neu aufgefundenen Denkmälern der bul- garischen Geschichte und mit Materialien zum Studium der bulgarischen Sprache auseinandersetzen sollte. Erklärtes Ziel der Gesellschaft war es, ihre Schriften bei allen Schichten des bulgarischen Volkes zu verbreiten. Dementsprechend war der erste Artikel des „Spisanie“ von 1870 dem Studium und der Bearbeitung der damaligen Sprache der Bulgaren sowie ihrer Nationalliteratur gewidmet worden, ohne dass ein Verfasser genannt

58 wurde. Es folgte in diesem ersten Heft ein Beitrag zur Abfassung von Biographien ohne Angabe eines Verfassers, neue schriftliche Denkmäler zur Geschichte der Bulgaren und ihrer Nachbarn von Marin Drinov, ein Ge- dicht von Rajko Žinzifov (1839-1877)8 und bulgarische Volkslieder, mitge- teilt von R. Žinzifov und M. Vasilov. Bereits im ersten Heft des „Spisanie“ findet sich ein literaturkritisches Werk und als Beilage eine Übersetzung der Räuber von Friedrich Schiller durch Nešo Bon²ev, die in weiteren Folgen in den nächsten Heften des „Spisanie“ fortgesetzt wurde. „ʍː ˢʲ˕˙ʵʲ – ˙ː ˕˓ʴ˙ʵʲ (Um caruva – um robuva)“ – „Der Geist herrscht – der Geist leistet aber auch Sklavenarbeit“, dieses bulgarische Sprichwort findet sich auf jedem Titelblatt der einzelnen Ausgaben des „Periodi²esko spisanie“ der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft. Das Hauptaugenmerk Marin Drinovs lag auf dem „Periodi²esko spisanie“, von dem in den Jahren 1869 bis 1876 zwölf Hefte erschienen, die alle dem ersten Jahrgang zugeordnet worden waren. Von dem geplanten „Sbornik“ konnte dagegen kein einziger Band erschienen. Es waren verschiedene Gründe, die den Druck der von der Gesellschaft geplanten Veröffentlichungen behinderten, u. a. die Situation der Druckereien und sicher auch finanzielle Umstände. Im 1871 veröffentlichten vierten Heft des „Periodi²esko spisanie“ findet sich eine von Marin Drinov verfasste Abhandlung zu Otec Paisij, seiner Zeit, den historischen Bedingungen und seinen Schülern, gefolgt von einer bereits im dritten Heft begonnenen Abhandlung von Nešo Bon²ev zum bulgarischen Schulwesen. Ebenfalls als eine Fortsetzung von Heft III findet sich R. Korolevs Abhandlung zum Bogomilentum. In jedem Heft der „Spisanija“ wurden Sammlungen von bulgarischen Volksliedern veröffent- licht, so nach der Sammlung von Cani Gin²ev9 im Dialekt von T©rnovo, gefolgt von Rätseln, Sprichwörtern und Volkserzählungen, ebenfalls von Gin²ev zusammengestellt. Es schließt sich hier an eine Abhandlung über die Gesellschaft der Freunde der bulgarischen Gelehrsamkeit in Kióinev sowie ein Nekrolog auf Pet©r Beron, der 1871 im rumänischen Craiova verstorben war. Im 1873 veröffentlichten siebten und achten Heft des „Spisanie“ findet sich eine weitere Abhandlung von Nešo Bon²ev, und zwar über die klassi- schen europäischen Schriftsteller in bulgarischer Sprache und den Nutzen

8 Rajko Žinzifov (1839-1877), korrespondierendes Mitglied der Bulgarischen Litera- rischen Gesellschaft, seit 1856 Lehrer in Prilep, wo er die Brüder Miladinov unter- richtete. 9 Cani Gin²ev (1835-1894) ordentliches Mitglied der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft seit 1875, hatte 1860 bis 1862 naturwissenschaftliche Studien in Kiew betrieben, war Mitarbeiter am „Spisanie“.

59 für den bulgarischen Leser beim Studium ihrer Werke. Anlass zu dieser Abhandlung war die Erzählung Taras Bulba von Nikolaj Gogol, dessen Leben und literarisches Werk vom Autor ebenfalls behandelt werden. In diesem Heft des „Spisanie“ finden sich auch drei Urkunden, die der byzantinische Kaiser Basileus II. dem damaligen bulgarischen Erzbischof Joann von Ochrid um das Jahr 1020 übergeben hatte. Die Frage der bul- garisch-orthodoxen und serbisch-orthodoxen Kirchen vor dem Konzil von Lyon im Jahre 1274 wurde von Marin Drinov behandelt. Dass das „Spisanie“ mit seinen Rezensionen sich keineswegs nur auf bulgarische Neuerscheinungen beschränkte, zeigen die Hefte VII, VIII sowie XI und XII, erschienen 1873 und 1876 in Br©ila. Dort wird die Abhandlung Die geologischen Verhältnisse des östlichen Theiles der europäischen Türkei. Nebst einer geologischen Karte in Farbendruck. Mit 20 Holzschnitten, verfasst von Ferdinand von Hochstetter veröffentlicht.10 Ebenso sei die Reise in Süd-Serbien und Nord-Bulgarien (mit 5 Tafeln und Karte), ver- öffentlicht 1868 in Wien von Felix Kanitz11 genannt, ferner die Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen, Band II: Stammbildungslehre und die 1874 in Wien erschienene Altslovenische Formenlehre in Paradigmen mit Texten und glagolitischen Quellen des Wiener Slavisten Franz Miklosich.12 Rezensiert wurde ferner das 1875 in Berlin von Vatroslav Jagi°13 begründete und herausgegebene „Archiv für Slavische Philologie“. Besprochen wurde auch Konstantin Jire²eks Geschichte der Bulgaren, erschienen 1876 in Prag, wo es auf S. 543 heißt:

10 Ferdinand von Hochstetter (1829-1884, geadelt 1860), Mitglied der Novara- Expedition, Forschungsreisen nach Neuseeland, 1860 Professor der Mineralogie und Geologie am Polytechnischen Institut in Wien, 1876 Intendant des Naturhistorischen Hofmuseums und Direktor des Hofmineralien-Kabinetts. Veröffentlichungen u. a.: Neu-Seeland. 1863; Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde. Geo- logischer Teil. Of mineralien-Kabinetts. 11 Felix Kanitz (1829-1904), Archäologe und Ethnograph, bereiste in den Jahren 1858 bis 1889 die slavischen Balkanländer. Veröffentlichungen u. a.: Die römischen Funde in Serbien. 1861; Serbiens byzantinische Monumente. 1862; Serbien, Historisch-ethno- graphische Reisestudien. 1868. Donau-Bulgarien und der Balkan. 2. Aufl. in drei Bänden 1882. 12 Franz Miklosich (1813-1891, 1869 geadelt), 1850 bis 1886 Professor an der Universität Wien. Sein Hauptwerk ist die vierbändige Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen. 1852-1875, Neudruck 1926, Etymologisches Wörterbuch der slavischen Sprachen. 1886; Lexicon linguae slovenicae veteris dialecti. 1850, umgearbeitet als „Lexicon palaeoslovenico-graeco-latinum (Wien 1862-1865). Neudruck 1922. 13 Vatroslav Jagi°, kroatischer Slawist, der in Berlin, Odessa, Petersburg und Wien lehrte.

60 „So war die Wiederbelebung des bulgarischen Volkes binnen einem Men- schenalter mit einer Raschheit vollzogen, die Bewunderung verdiene. Noch am Anfang unseres Jahrhunderts konnte man zweifeln, ob die Bulgaren im Stande seien, sich je wieder aufzuraffen; vierzig Jahre später fehlte es nirgends an patriotischen Kaufleuten, Lehrern und Geistlichen, bulgarische Schulen entstanden in allen Städten, und bulgarische Bücher wurden in Tausenden von Exemplaren selbst unter dem Landvolke gelesen. Nicht mit Waffengewalt und Blutvergießen, sondern durch Bücher und Schulen war diese tiefgrei- fende Revolution in aller Stille bewirkt worden. Die nationalen Bestrebungen gewannen eine so große Macht, dass es nicht mehr möglich war, dieselben einzudämmen“. (Jire²ek1876, 543) Nach der Befreiung Bulgariens war es selbstverständlich, dass die Bulga- rische Literarische Gesellschaft ihren Sitz nach Sofia verlegte. Am 4. März 1878 war ein entsprechender Vorschlag von Nikolaj Cenov gemacht wor- den, Besitz und Tätigkeit der Gesellschaft auf das Gebiet des nunmehr be- freiten Bulgariens zu verlegen, wenngleich dieses auch weiterhin noch einige Jahre unter der Souveränität des Osmanischen Reiches stand. Im Ergebnis einer in der Zeit vom 25. bis 28. Oktober 1878 in Br©ila abgehal- tenen Generalversammlung wurde beschlossen, den Sitz der Gesellschaft in die neue Hauptstadt Bulgariens zu verlegen.14 Im Jahre 1907 wurde der lange gehegte Plan der Umwandlung der „Bulgarischen Literarischen Ge- sellschaft“ in eine Akademie nach europäischen Maßstäben aktuell. Auf der Jahresversammlung des Jahres 1907 wurde dieser Plan geprüft und auf der nächsten Jahresversammlung im Jahre 1908 darüber berichtet. Gebildet wurde u. a. eine Kommission, die Anfragen an verschiedene Aka- demien der Wissenschaften machte. Im Laufe der Jahre war auch der Kreis der korrespondierenden Mitglieder der Gesellschaft bedeutend erweitert, u. a. durch die Wahl des Balkanologen und Bulgaristen Gustav Weigand in Leipzig, der mit seinen Arbeiten zu den Sprachen und zur Ethnographie der Balkanvölker weit über Deutschland hinaus bekannt geworden war. Dies gilt auch für den tschechischen Slawisten Lubor Niederle, Archäologe und Ethnograph mit grundlegenden Forschungen zur Herkunft der Slaven und speziell auch zur makedonischen Frage. Auch im beginnenden 20. Jahr- hundert erzielte die Gesellschaft wesentliche Erfolge in den Bereichen der Geistes- und Naturwissenschaften, wenngleich auch die Arbeitsbedingun- gen aufgrund zu geringer finanzieller Zuwendungen seitens der bulgari- schen Gesellschaft und der bulgarischen Regierung sehr beschränkt waren.

14 Dokumenti za istorijata na B©lgarsko knižovno družestvo. Band II: 1878-1911. Sofija 1966, 15.

61 Die Verbindung zu den damals international bedeutendsten Slavisten, Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Historikern und Ethnographen wie Vatroslav Jagi°, Konstantin Jire²ek, Aleksandr Sobolevskij und Jiìi Polívka, Michail Speranskij sowie dem französischen Byzantinisten Louis Ptis wurde weiter ausgebaut. Auf die Bitte des rumänischen Historikers Nicolae Iorga wurde auch ein regelmäßiger Schriftentausch mit Rumänien eingeleitet. Die Redaktion des „Srpski književni glasnik“ brachte, beginnend mit dem Jahr 1905, regelmäßig Berichte über die Tätigkeit der „Bulgarischen Ge- lehrten Gesellschaft“. Auch das von dem amerikanischen Großindustriel- len Andrew Carnegie 1902 begründete „Carnegie Institute of Washington“ nahm Verbindung mit der „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ auf. Die Statuten der neuen Akademie wurden nach dem Muster der Gelehrten Gesellschaften in Petersburg, Berlin, Wien, Paris, Brüssel, Budapest, Kra- kau und London gestaltet. Am 6./18. März 1911 wurde in Sofia die letzte feierliche Sitzung der „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ durchge- führt, während der zugleich auch die Überleitung in die neue „Bulgarische Akademie der Wissenschaften“ erfolgte. Im Jahre 1911 kam es demnach nach der vollständigen staatlichen Sou- veränität Bulgariens als Königreich zur Gründung einer wissenschaftlichen Akademie, die gleichberechtigt neben anderen europäischen Akademien bis zum heutigen Tag ihre Bedeutung bewahrt hat.15 Die Akademie wurde in drei Klassen aufgeteilt, eine historisch-philosophische, eine philosophisch- gesellschaftliche und eine naturwissenschaftlich-mathematische Klasse. Nach 1944 wurde die Struktur der Akademie mehrfach verändert. Sie leitete und koordinierte die Grundlagenforschung in den Bereichen von Gesellschafts- und Naturwissenschaften, wobei auch neue Hauptorganisa- tionsformen mit wissenschaftlichen Instituten, neuen Zentren und selbst- ständigen Sektionen geschaffen wurden. Zur Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gehörten seitdem die Zentren für Mathematik und Mecha- nik, Physik, Chemie, Geowissenschaften, Biologie, Philosophie, Soziologie, Staats- und Rechtswissenschaften, Sprache und Literatur sowie ein Zen- trum für Bulgaristik. Entwickelt wurde eine umfassende Zusammenarbeit auf internationaler Ebene nicht nur mit sozialistischen Ländern, an erster Stelle der UdSSR, sondern auch mit den USA, Großbritannien, Frankreich, der BRD, Italien und Österreich.

15 Vgl. hierzu den deutschen Bulgarienkenner Karl Kassner (1864-1945): „Den Mittel- punkt des bulgarischen Bildungswesens bildet die Akademie der Wissenschaften, die sich aus der 1869 in Braila (Rumänien) von Bulgaren gegründeten „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ allmählich entwickelt hat. Ihre Zeitschrift „Periodische Zeitschrift“ genießt ein hohes Ansehen im In- und Auslande“ (Kassner 1918, 93).

62 Im Jahre 2004 wurde in Sofia das 135jährige Jubiläum der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften begangen. Anlässlich dieses Datums wurde auch die handschriftlich von Vasil Drumev niedergeschriebene Satzung der „B©lgarsko knižovno družestvo“, unterzeichnet von den am 29. Sep- tember 1869 in Br©ila anwesenden Mitgliedern, als Faksimile veröffentlicht (vgl. Nau²en archiv 2005). Die dreibändige Darstellung der Geschichte der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften wurde von ihrem damaligen Präsidenten Ivan Juchnovski mit dem folgenden Motto eingeleitet, welches zugleich auch in die weitere Zukunft der Akademie weist:

„ʃʲ˙ˊʲ˘ʲ ʺ ˖ˏ˨ˑˢʺ ˄ʲ ˄˕ˮ˧ˆ˘ʺ. ɸ˖˘˓˕ˆˮ˘ʲ ˑʲ ˣ˓ʵʺˣʺ˖˘ʵ˓ ˔˕ʺ˄ ˔˓˖ˏʺʹˑˆ˘ʺ ʶ˓ʹˆˑˆ ˔˓ˊʲ˄ʵʲ, ˣʺ ˓ˑʺ˄ˆ ʹ˨˕ʾʲʵˆ, ˊ˓ˆ˘˓ ˖˨˄ʹʲʹ˓ˠʲ ˙˖ˏ˓ʵˆˮ ˄ʲ ˕ʲ˄ʵˆ- ˘ˆʺ˘˓ ˑʲ ˑʲ˙ˊʲ˘ʲ ˆ ˄ʲˏ˓ʾˆˠʲ ˑʲ ˑʺˮ ˖ʲ ˑʲ˔˕ʺʹˑʲˏˆ ˑʲˇ-ːˑ˓ʶ˓ ʵ ːʲ˘ʺ˕ˆ- ʲˏˑ˓, ʹ˙ˠ˓ʵˑ˓ ˆ ˖˓ˢˆʲˏˑ˓ ˓˘ˑ˓˦ʺˑˆʺ“ (Nau²en archiv 2005).

„Die Wissenschaft ist die Sonne für die Sehenden. Die Geschichte der Mensch- heit hat in den letzten Jahren gezeigt, dass die Staaten, die die Bedingungen für die Entwicklung der Wissenschaft geschaffen hatten und darauf den Fortschritt im höchsten Maße in materieller, geistiger und sozialer Beziehung gebaut haben.“

Literatur

Arnaudov 1966 M. Arnaudov: Bălgarskoto knižovno družestvo v Braila. 1869-1876 (Sofia 1966).

Božkov 1969 St. Božkov: Bălgarska akademija na naukite. Kratăk oþerk. 1869-1969 (Sofia 1969).

Burmov 1960 V. A. K. Burmov (Hrsg.), Issledvanija v ²est na Marin S. Drinov (Sofia 1960).

Christov 1966 Chr. Christov (Hrsg.), Dokumenti za istorijata na Bălgarskoto knižovno družestvo 1878- 1911 (Sofia 1966).

Drinov 1869 M. Drinov, Istori²eski pregled na b©lgarskata c©rkva ot samoto i na²alo do dnes (Wien 1869).

Gerov 1895 N. Gerov, Re²nik na bl©garskij jazik 1.-6. ( 1895-1908) Neuausgabe 1975.

Gruey 1858 J. Gruev, Osnova na b©lgarska grammatika (B»lgrad 1858).

63 Härtel/Schönfeld 1998 H.-J. Härtel/R. Schönfeld, Bulgarien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Regens- burg 1998).

Ireþek 1886 K. Ireþek, Istorija na Bălgarite. Săþinenie na Konst. Jos. Ireþka. Prevod ot red.-izd. N. D. Rajnov i Z. Bojadžiev (Tărnovo 1886).

Ireþek 1899 K. Ireþek, Knjažestvo Bălgarija. Negovata povărchnina, priroda, naselenie, duchovna kul- tura, upravlenie i novejša istorija. ýast 1: Bălgarskata dăržava. S 20 kartini i 1 karta. Pre- vela ot nemski Ek. Karavelova. ýast 2: Pătuvanija po Bălgarija. S 23 kartini i 1 karta. Prevel ot þeški St. Argirov (Plovdiv 1899).

Ireþek 1929 K. Ireþek, Istorija na Bălgarite. Pod red. na V. N. Zlatarski. Prev. A. Diamandiev i I. Raev (Sofia 1929).

Ireþek 1939 K. Ireþek, Istorija na bălgarite. Popravki i dobavki ot samija avtor. Po răkopisnite negovi beležki sistematizira, prevede i stăkmi za izdanieto Stojan Argirov. Posmărtno izd. Pod red. na St. Mladenov (Sofia 1939).

Istorija 1971 Istorija na B©lgarskata akademija na naukite. 1869-1969 (Sofia 1971).

Jire²ek 1872 K. Jire²ek, Bibliographie de la littérature bulgare moderne 1806-1870/Knigopis na novob©lgarskata knižnina 1806-1870 (Wien 1872).

Jire²ek 1876 K. Jire²ek, D»jiny národa Bulharského (V Praze 1876).

Jire²ek 1888 K. Jire²ek, Cesty po Bulharsku (V Praze 1888).

Jire²ek 1891 K. Jire²ek, Das Fürstenthum Bulgarien. Seine Bodengestaltung, Natur, Bevölke- rung, wirtschaftliche Zustände, geistige Cultur, Staatsverfassung, Staatsverwal- tung und neueste Geschichte (Wien 1891).

Jire²ek 1930-1932 K. Jire²ek, B©lgarski dnevnik: 30. oktomvrij 1879 – 26. oktomvrij 1884 g. T. 1-2. Prevel ot ²eskija r©kopis Stojan Argirov (Plovdiv-Sofia 1930-1932).

64 Kassner 1918 K. Kassner, Bulgarien. Land und Volk (2. Aufl. Leipzig 1918).

Mijatev/Dimov 1958 P. Mijatev, G. Dimov (Hrsg.), Dokumenti za istorijata na B©lgarskoto knižovno družestvo v Braila 1868-1976 (Sofia 1958).

Mom²ilov 1868 I. Mom²ilov, Gramatika za novob©lgarskija ezik. V pe²atnicata na Dunavskata oblast (Rus²uk 1868). o. A. 1870 O. A., Njakolko dumi za izu²avane i obrabotvane na b©lgarskij segašen ezik i za narodnata ni knižnina v©obšte. Spisanie 1, 1870, 8-12.

Nau²en archiv 2005 Nau²en archiv na B©lgarskata akademija na naukuite, f.1, op.1., p. 3. B©lgarska akademija na naukite. +lenove i r©kovodstvo (1869-2004). Spravo²nik (Sofia 2005).

Pásztory1856 A. Pásztory, Brevis Grammatica Bulgarica pro usu lingvam latinam intelli- gentium (Philipopoli 1856).

Pavlovi² 1836 Chr. Pavlovi², Grammatika slavenobolgarskaja (Budim 1836).

Rilski 1984 N. Rilski, Bolgarska gramatika sega pervo so²inena v Kraguevc» 1835. U knja- žesko-serbskoj tipografii (Neudruck Sofia 1984).

Schaller 2000 H. W. Schaller, Bulgarien und Großbritannien. Kulturelle Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Bulgarien-Jahrbuch 1998/1999, 71–96.

Sborni²e 1900 Sborni²e za jubileja na profesora Marin S. Drinov 1869-1899. Naredi i izdade B©lgarskoto knižovno družestvo v Sofija (Sofia 1900).

Stojanov/Rakovski 1880 K. Stojanov/G. S. Rakovski, Klju² bolgarskogo jazyka (Odessa 1880).

Stojkov 1949 S. Stojkov (Hrsg.), D-r Pet©r Beron, Bukvar s razli²ni pou²enija: Riben bukvar (Sofia 1949).

65 Hans-Dieter Döpmann†

Technischer Fortschritt und Religion

Unser heutiges Symposium erweist sich mit dem Bezug zur Naturwissen- schaft und Technik als eine beachtliche inhaltliche Erweiterung unserer kontinuierlichen Arbeit. Die einzelnen dankenswerten Beiträge lassen er- kennen, dass die traditionelle Unterscheidung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften bei aller Berechtigung nicht als Aufspaltung ge- sehen werden kann, sondern beides, sich ergänzend, einen jeweiligen Be- zug zu unserer Lebenswirklichkeit hat. Und dies ist bei den Bulgaren in gleicher Weise bewusst, wie auch bei uns. Wir tagen in den Räumen unserer 1810 gegründeten Berliner Universität, benannt nach den beiden Brüdern Alexander und Wilhelm von Humboldt, bei denen sich Natur- und Geistes- wissenschaft unmittelbar ergänzten. Traditionell gehört dazu auch an un- serer Universität die Theologische Fakultät, seit ihrem Anfang geprägt von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (gest. 1834), der als protestantischer Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchen- politiker, Pädagoge und Soziologe in seiner Zeit gewirkt hat. Schon in seiner Studie von 1799 „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern” wollte er die Notwendigkeit religiöser Besinnung aus der Situation des Gebildeten heraus aufzeigen: Dem vernünftig Denkenden sollte gerade in seiner Vernunft die zentrale Bedeutung des Christentums nachgewiesen werden. Und erst am 20./21.4.2012 hatten wir eine wissen- schaftliche Konferenz zum Thema: „Wozu Theologie? Über Ort und Auf- gabe der Theologie an der Universität”. Technischer Fortschritt und Religion. Beides sind an sich getrennte Phänomene. Und doch zeigt sich gerade in unserer Zeit, wie beide auf- einander zu beziehen sind. Christlicher Glaube befasst sich mit der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Technischer Fortschritt hat seine Grundlage in der dem Menschen gegebenen Erkenntnismöglichkeit, Neues zu schaffen und zu entwickeln. Aber das kann nicht nur aus religiöser Sicht zu einer Gefahr werden, wenn die Verantwortung gegenüber Gott und dem Mit- menschen dabei aus den Augen verloren wird. Und hier hat die Religion eine bleibende Bedeutung, die Richtung des menschlichen Denkens und Forschens mitzubestimmen. Die Stellung der Kirche in der aufbrechenden Neuzeit gegenüber den einsetzenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die Prozesse um Giordano Bruno und Galileo Galilei sind vielfach unvergessen und haben das Verhältnis der Disziplinen lange Zeit hinweg belastet.

66 In der Neuzeit wurden zahlreiche Naturwissenschaftler immer wieder zu Fragen der Religion sowie des Glaubens geführt. Dazu gehören z. B. die Physiker Albert Einstein, Otto Heckmann, Werner Heisenberg, Pascual Jordan sowie Max Planck. Im Verständnis des heutigen Weltbildes sowie der Entwicklung der Physik spielen diese Gelehrten eine entscheidende Rolle. Ihre Arbeiten bildeten vielfach die Basis für ein Neuverständnis der Physik und leiteten eine neue Herangehensweise in der physikalischen und verwandten Forschung ein. In der Menschheitsgeschichte wurden leider beim Entwickeln von In- strumenten zum Töten anderer Menschen am konsequentesten Fortschritte erzielt. Denken Sie an die furchtbaren Folgen des Einsatzes der ABC- Waffen am Ende und nach dem 2. Weltkrieg im 20. Jahrhundert. Und denken Sie an die gegenwärtige Angst vor der Entwicklung neuer Atom- waffen. Aber dazu gehört auch unsere Sorge um die Produktion und die Waffenlieferungen insgesamt, darunter die Problematik, dass Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist. Der römische Papst hat in der diesjährigen Osternacht zu einem kriti- schen Umgang mit dem technischen Fortschritt ermahnt.

„Wir wissen und können in den materiellen Dingen unerhört vieles, unser Wis- sen und unsere technischen Leistungen sind Legion, aber was darüber hinaus- geht, Gott und das Gute, vermögen wir nicht mehr zu identifizieren.“ Solange Gut und Böse aber nicht unterschieden werden könnten,

„sind alle Erleuchtungen, die uns ein so unglaubliches Können ermöglichen, nicht nur Fortschritte, sondern zugleich Bedrohungen, die uns und die Welt gefährden.“ Unser evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg, Markus Dröge, for- derte zu Ostern die Rückbesinnung auf „eine Kultur des Lebens.“1 Die Frühjahrsynode unserer Evangelischen Kirche in Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz befasste sich auf ihrer zweitägigen Beratung am 20./21.4.12. mit Fragen zur Bewahrung der Schöpfung, auch damit, was jeder Einzelne zum Klimaschutz beitragen kann. In dem dazu von der Kirchenleitung vorgegebenen „Votum zu Perspektiven der Energiewende“ heißt es, dass die Landeskirche den erneuerbaren Energien den eindeu- tigen Vorrang gibt und beispielsweise der Braunkohleverstromung nur noch eine kurzzeitige Brückenfunktion zugesteht. Der neue theologische Referent für Umweltfragen, Hans-Georg Baaske, sagte dazu:

1 Berliner Morgenpost, 8.4.12.

67 „Es geht um Umweltschutz im Sinne von Schöpfungsverantwortung. Ich sehe meine Aufgabe darin, die theologischen und ethischen Fragestellungen zur Schöpfungsbewahrung in die Gesprächsprozesse einzubringen. Wir haben viele Kirchengemeinden auf dem Land. Da geht es um Kriterien für die Vergabe von Pachtverträgen. Die Nichtverwendung von genmanipuliertem Saatgut ist ja bereits beschlossene Sache. Wie aber stehen wir zu „Energiepflanzen“, Solaranlagen und Windparks auf Ackerflächen? Und noch ein weiteres span- nendes Thema: Wie positionieren wir uns zum freiwilligen Verzicht auf immer mehr Konsum? Aus der Bibel können wir hierzu viele Impulse bekommen. Ich möchte helfen, diesen Schatz zu heben.“2 Von den vielen weiteren Aktivitäten in unseren eigenen Kirchen sei hier lediglich als ein Beispiel erwähnt: Die Evangelische Akademie Villigst in Schwerte/Westfalen, Arbeitskreis Naturwissenschaften und Theologie mit ihrem Dialog zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie. Auf einer dortigen Konferenz wurde erklärt: Die Naturwissenschaften haben unsere moderne, nun weltweit sich ausbreitende „Fortschrittsgesell- schaft“ erst möglich gemacht. Sie prägen unser Weltbild, die Einschätzung des Lebens und unser menschliches Selbstbild. Sie revolutionieren aber auch unsere Lebenspraxis. Die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften, wie die Einsichten der Quantentheorie, der Genetik oder der Informatik und ihre technischen Anwendungen haben binnen weniger Jahrzehnte unsere Lebenswirklichkeit grundlegend verändert. Zugleich wachsen die Gefährdungspotentiale. Grund genug, das, was in den Wissenschaften geschieht, aufmerksam nachzuvollziehen, zu analysieren, zu diskutieren und in seinen Konsequenzen für unsere Weltsicht und Lebenspraxis zu reflektieren. Naturphilosophische, technische, anthropologische, ethische, soziologische, wissenschafts- und kulturhistorische Horizonte müssen einbezogen werden; insbesondere aber religionsphilosophische und theo- logische Perspektiven. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft leistet einen erheblichen Bei- trag zum Ausgleich zwischen Gerechtigkeit und Freiheit. Langfristig trag- fähig ist ein solches Modell nur, wenn neben den sozialen auch öko- logische und kulturelle Aspekte integriert werden und wenn der Staat seine politische und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit behält, bzw. wie- dergewinnt und die Märkte verantwortungsbewusst reguliert.3 Kirchlicherseits wird die Bedeutung moderner Forschung nicht über- sehen, sondern unterstützt. Das zeigen z. B. die Äußerungen des EKD-

2 Die Kirche 22.4.12, 3 u. 8. 3 www.kircheundgesellschaft.de

68 Präsidenten Nikolaus Schneider über Präimplantationsdiagnostik im Blick darauf, dass Gentests dem Leben dienen können.4 Auch orthodoxer Glaube – und damit denken wir hier auch an Bulgarien – beschränkt sich nicht auf das eigene Seelenheil. In einem Interview vom 19. Februar 2012 weist der Abt des Rila-Klosters, Bischof Evlogij, auf die Probleme des Werteverfalls hin: Eine Gesellschaft ohne Normen verfällt in Anarchie. Jeden Gottesdienst, sagt er, beginnen wir mit dem Gebet für den Frieden und das Wohlergehen des ganzen bulgarischen Volks.5 Was vielen bei uns als konservative Äußerlichkeit erscheint, ist für die Orthodoxen mit Inhalt erfüllt. Dabei geht es nicht nur ums Hören, sondern auch ums Schauen, werden alle menschlichen Sinne einbezogen. Hier im Gottesdienst geht es weniger um ein Reden über Gott, als um das Reden mit Gott im Gebet. Hier im Gotteshaus als dem Hause Gottes hat der Gläubige teil an der Gemeinschaft mit dem Herrn im Wort und im Sakra- ment der Eucharistie, weiß sich verbunden mit den auf den Ikonen Dar- gestellten, versteht sich in der Gemeinschaft mit den im Gottesdienst Versammelten, wird erfüllt von einer spirituellen Erfahrung, die auf sein Dasein in dieser Welt und auf die Welt draußen ausstrahlt. Dieses ausge- prägte Gemeinschaftsbewußtsein blieb auch in sozialistischer Zeit tragend. Und von da aus läßt sich die heutige Skepsis gegenüber einem übersteiger- ten westlichen Individualismus verstehen. Sehr zutreffend erläuterte anläßlich des diesjährigen Osterfestes Metro- polit Gavriil von Love² was es bedeutet, in der Osternacht aus der Kirche die brennende Osterkerze in die Wohnung zu bringen und damit das Evangelium ins alltägliche Leben zu tragen.6 Es hat mich, ebenso wie in anderen orthodoxen Ländern, auch in Bulgarien immer sehr beeindruckt, wie selbst in sozialistischer Zeit Gottesdienstbesucher sich sogar im Taxi mit der brennenden Kerze nach Hause fahren ließen. Denn es geht darum, von der Botschaft der Auferstehung, von der Botschaft: „Siehe, ich mache alles neu!“7 und vom Erleuchtetwerden durch Christus als „das Licht der Welt“8 her das eigene Leben zu Hause und auf allen Gebieten erfüllt sein zu lassen. Es hat mich früher immer wieder beeindruckt, mit welcher hohen An- erkennung man in Bulgarien von Deutschland und den Deutschen sprach:

4 Berliner Zeitung 24./26.12.10, 6. 5 Dveri.bg 24.2.12. 6 Dveri.bg 14.4.12. 7 Offb. 21, 5. 8 Joh. 8, 12.

69 Sauberkeit des Landes, Ordnung, Disziplin, Fleiß. Und all dies war ja auch Grundlage für die bei uns auf allen Gebieten erzielten Leistungen. Nach dem Kriege berichteten mir wiederholt staunend Bulgaren aus ihrer eige- nen Erfahrung: Die Deutschen arbeiteten ja sogar, ohne dass jemand auf- passte! Davon ist leider vieles verloren gegangen. Denken Sie heute an die besprayten Wände und S-Bahn-Wagen, an die an Bus-Haltestellen herum- liegenden Zigaretten-Kippen, an die täglichen Meldungen über brutale, blutige und nicht selten tödliche Messer-Attacken, die Zunahme von Ein- brüchen in Wohnungen und Einfamilienhäuser, an die Angst vieler Men- schen, abends noch das Haus zu verlassen. Und wer hätte es früher für möglich gehalten, dass auch in Deutschland die Mafia Einfluss nehmen kann! Konkurrenzdenken und Egoismus führen nach Erkenntnis der Opferschutzorganisation Weißer Ring dazu, dass Gewalttäter immer bru- taler werden.

„In der Gesellschaft kommt immer mehr eine Ellenbogenmentalität auf“, sagte der Vorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring Sachsen- Anhalt, Wolfgang Kummerländer, in einem Gespräch mit der Nachrichten- agentur dpa in Halle.9 In unseren Schulen bemängeln Lehrer mangelnde Disziplin und nach- lassende Konzentrationsfähigkeit ihrer Schüler sowie die Realitätsferne der Bildungspolitik.10 Es zeigt sich ein falsches Verständnis von Freiheit und Individualismus, wenn Schüler heute ausführlich über ihre Rechte in- formiert werden, nicht aber auf die damit verbundenen Pflichten. Der- artige Probleme bestehen für die Menschen in Bulgarien durchaus in ähn- licher Weise. Dazu kommen die Folgen der jüngsten Finanzkrise, die sich zugleich als eine Krise der Werte und Tugenden erweist. So die in vielen Ländern hohe Jugendarbeitslosigkeit, d. h. die Unter-25-Jährigen, mit einem kürzlich für Bulgarien angegebenen relativ hohen Wert von 29,3%.11 Dagegen ist Bulgarien eines der am wenigsten verschuldeten Länder Europas (16,2 % des BSP).12 Wenn man falsche Entwicklungen korrigieren will – und das gilt in meinen Augen auch für die demographische Entwicklung, den Kinder- mangel in Deutschland und das schwach gewordene Familienbewusstsein als eine Voraussetzung gesamtgesellschaftlicher Entwicklung – kommt es

9 Mitteldeutsche Zeitung 24.4.12. 10 Berliner Zeitung 25.4.12, 1. 11 Berliner Zeitung 30.4.12, 2. 12 http://www.staatsverschuldung.de/ausland.htm 2011.

70 nach meiner Überzeugung zuerst einmal darauf an, deren Ursachen ein- gehend zu untersuchen, statt lediglich – wie es üblich geworden ist – rein äußerlich heutigen Folgen abhelfen zu wollen. Selbst in Bulgarien hat ja das einst so ausgeprägte Familienbewusstsein spürbar nachgelassen. Auch der leider im Jahre 2010 zurückgetretene Bundespräsident Horst Köhler hatte dies wiederholt und in seltener Konsequenz gefordert. Bis heute sind die Verantwortlichen – nicht nur in Deutschland – dem ausgewichen. Aber die Aufgabe besteht weiter. Man spricht heute viel und durchaus berechtigt von notwendiger Bildung. Und dies ist in allen unseren Ländern eine ganz wesentliche Vor- aussetzung für erfolgreiches Forschen und wissenschaftliche Erkenntnisse. Aber es ist traurig, dass in Deutschland, z. B. durch die 68er, die notwen- dige Erziehung in Misskredit gekommen ist. Einer der führenden, aus den 68ern hervorgegangenen Pädagogen sagte einmal: „Wir glaubten damals an die Selbstverwirklichung der Jugend.” Maßnahmen gegen Randale, Verrohung, Vandalismus, jugendliche Brutalität ist auch eine der Aufgaben religiöser Erziehung: Vom Glauben her kann man zu einem rechten Ver- hältnis zum Mitmenschen, zum Nächsten, erziehen. In den westlichen Medien wird kaum zur Kenntnis genommen, in welch hohem Maße sich in den vordem sozialistischen Ländern im Zusammen- hang mit den neuen Freiheiten und Möglichkeiten das Bewusstsein der notwendigen Bewährung von Liebe und Barmherzigkeit in der sozialen Funktion der Kirche in der Gesellschaft neu entfaltet hat. Die diakonische Fürsorge für Arme, Kranke, Notleidende und Gefangene nahm in den östlichen Gemeinden und Klöstern ihren Anfang. Zu allen Zeiten haben orthodoxe Kirchen, wo es die gesellschaftlichen Verhältnisse erforderten bzw. erlaubten, diese Aufgaben im Blick behalten. Insbesondere die Klöster waren stets Mittelpunkt geistlichen, kulturellen und vielfach auch sozialen Wirkens. Jedem Besucher des Rila-Klosters wird das deutlich. Heute bemühen sich die orthodoxen Kirchen in ihren jeweiligen Ländern, die in den Jahren des Totalitarismus verhinderte Wohltätigkeitsarbeit in erwei- tertem Maße fortzuführen. Und dies nicht zuletzt, weil sich die sozialen Verhältnisse in vieler Hinsicht bisher nicht gebessert haben. Zur Abwen- dung von das Leben bedrohenden Gefahren wird seit der Wende von 1989 auch Fragen der Ökologie, der Menschenrechte und neuerdings auch der Bedrohung durch Armut und Hunger zunehmend Bedeutung geschenkt. In Bulgarien gab es, wie ich es auch schon in anderen Vorträgen er- wähnt habe, vor 1945 in den einzelnen Gemeinden etwa 700 Bruder- schaften. Sie unterhielten auch Waisen- und Altersheime, unentgeltliche Speisehallen und Nachtquartiere, Tagesräume und Kindergärten, Sommer- kolonien. Für die Zeit seit der „Wende” sei, stellvertretend auch für andere,

71 die Tätigkeit der 1994 entstandenen Pokrov Foundation (Fondacija „Po- krov Bogorodi²en“) in Sofia erwähnt (Pokrov = Mariä Obhut, am 1. Ok- tober Fest des »Schutzmantels unserer Allerheiligsten Herrin, der Gottes- mutter und Immerjungfrau Maria«). Sie geht zurück auf das von Jordanka Filaretova in Anlehnung an ihre Erfahrungen bei der Russischen Ortho- doxen Kirche, den dortigen Armenhäusern (bogadel’ni) für Notleidende und Bedürftige, 1909 in Sofia begründete Wohlfahrtskomitee und dessen Heim für Bedürftige, neben dem 1929 die Pokrov-Kirche entstand. Ziel der Pokrov Foundation ist die Förderung einer lebendigen, geistlich-geistig und karitativ tätigen Orthodoxie in Bulgarien, deren Arbeit Familien, Kindern und Notleidenden gilt. Seit 2002 wird ein eigenes Medizin- Zentrum unterhalten.13 Ansätze zu einer orthodoxen Soziallehre haben sich allerdings erst in der Gegenwart herausgebildet. Denn der Orthodoxie geht es nicht um Gesellschaftstheorien. Sie versteht sich vielmehr als eine vor allem durch die Teilhabe an der Eucharistie verwandelte und geheiligte Gemeinschaft, als einen Sauerteig, der die ganze Schöpfung durch seine heiligende Gegenwart durchwirkt. Seitdem Gott Mensch wurde, gibt es eine Gemein- schaft zwischen Gott und Mensch:

„Weil Gott Gott ist, weil er in Jesus Christus Mensch wurde und weil Gott in den Menschen hineinkommt, kann der Mensch nur Mensch sein, Träger des Bildes Gottes und berufen Ähnlichkeit mit ihm, wenn er von der Menschlich- keit Gottes bestimmt wird“ (Metropolit Damaskinos Papandreou). Dazu wurde erstmals in der Russischen Orthodoxen Kirche auch der lehr- mäßigen Entwicklung, dem systematischen Durchdenken, wesentliche Auf- merksamkeit geschenkt. Im Moskauer Patriarchat hat als Arbeitsergebnis einer Kommission unter Leitung von Metropolit Kirill von Smolensk und Kaliningrad, dem heutigen Patriarchen, die Moskauer Bischofssynode im August 2000 ihre umfassenden „Grundlagen einer Sozial-Konzeption“ verabschiedet.14 Inzwischen erschien 2007 auch eine serbische Übersetzung „Das Leben der Kirche“. Dieses Werk bringt zum Ausdruck, was die orthodoxen Kirchen insgesamt, und damit auch die mit der Russischen seit jeher eng verbundene Bulgarische Orthodoxe Kirche, in ihrem Bezug zu den aktuellen Lebensfragen und -aufgaben beschäftigt. In Hinblick auf entsprechende Gemeinsamkeit im Denken beider orthodoxen Kirchen sei auch verwiesen auf den Besuch des Moskauer

13 Döpmann 2006, 99; Döpmann 2010, 261. 14 Deutscher Buchtitel lautet unkorrekt übersetzt: J. Thesing/R. Uetz (Hrsg.), Die Grund- lagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (Sankt Augustin 2001).

72 Patriarchen Kyrill in Bulgarien vom 27.–29. April 2012 mit einer 40 Teilnehmer umfassenden Gruppe. Erstes Ergebnis des Besuchs war der Abschluss eines Vertrags über die Zusammenarbeit der Sofioter Uni- versität mit der Moskauer Orthodoxen Universität „Hl. Johannes der Theo- loge” über höhere theologische Bildungsarbeit, unterzeichnet russischer- seits vom Rektor der Moskauer Orthodoxen Universität, Igumen Petr Eremeev, der nach mehrjährigem Studienaufenthalt an der Sofioter Theo- logischen Fakultät seine Doktordissertation in Sofia 2003 in bulgarischer Sprache verteidigt hatte.15 In jenen „Grundlagen einer Sozial-Konzeption“ wird eingangs gesagt, der Auftrag,

„zu dem jeder Mensch gerufen ist, bedeutet den unablässigen Dienst an Gott und den Menschen.“16 […] „Die Kirche erfüllt den Heilsauftrag am mensch- lichen Geschlecht nicht nur durch unmittelbare Predigt, sondern auch durch gute Werke, die die Verbesserung des spirituell-moralischen sowie materiel- len Zustands der Welt zum Ziel haben. Mit Blick darauf tritt sie in Beziehun- gen zum Staat, auch wenn er keinen christlichen Charakter trägt, sowie zu ver- schiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen und einzelnen Menschen, selbst wenn sie sich mit dem christlichen Glauben nicht identifizieren.“17 In 16 Kapiteln werden Haltung und Aufgaben der Kirche im Bezug zu den verschiedenen Lebensbereichen behandelt, z. B.: Die Arbeit und ihre Früchte, die Gesundheit der Person und des Volkes, Fragen der Bioethik, die Kirche und Fragen der Ökologie, weltliche Wissenschaft, Kultur und Bildung, die Kirche und die weltlichen Massenmedien, internationale Beziehungen, Probleme der Globalisierung und des Säkularismus. So heißt es im 6. Kapitel

„Die Arbeit und ihre Früchte”: „Die Vervollkommnung der Arbeitsgeräte und -methoden, die Teilung der Arbeit in verschiedene Berufe sowie der Über- gang von einfachen zu komplizierten Formen der Arbeit tragen zur Verbesse- rung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen bei. Allerdings liegt in den Errungenschaften der Zivilisation auch die Verführung der Menschen, sich vom Schöpfer zu entfernen, führen sie doch zum scheinbaren Triumph einer Vernunft, die das Leben auf der Erde ohne Gott zu regeln bestrebt ist.”18

15 Dveri.bg. 25.4.12. 16 Thesing/Uetz 2001, 3. 17 Thesing/Uetz 2001, 4. 18 Thesing/Uetz 2001, 55–56.

73 Das 11. Kapitel, „Die Gesundheit der Person und des Volkes”, geht aus von der Feststellung:

„Die geistige und körperliche Gesundheit des Menschen ist ein traditioneller Gegenstand kirchlicher Fürsorge. Nach Auffassung der Orthodoxie stellt je- doch die physische Gesundheit allein ohne Beziehung zur geistigen keinen unbedingten Wert dar.”19 Ferner heißt es:

„Die Kirche ist berufen, in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden sowie den interessierten gesellschaftlichen Kreisen sich an der Ausarbeitung einer solchen Konzeption der Gesundheitsfürsorge der Nation zu beteiligen, nach der jedem Menschen ermöglicht werden soll, sein Recht auf geistige, physische und psychische Gesundheit sowie auf soziales Wohlergehen bei längst möglicher Lebensdauer in Anspruch zu nehmen.”20 Im Einzelnen bedeutet dies auch:

„Der Hauptgrund der Flucht unserer Zeitgenossen in das Reich der durch Al- kohol oder Drogen hervorgerufenen Illusionen besteht in der seelischen Ver- wüstung, der Sinnentleerung des Lebens sowie dem Schwinden moralischer Leitlinien.”21 Doch äußert man im Kap. 12, „Fragen der Bioethik”, auch tiefe Besorgnis:

„Der Versuch der Menschen, durch eine nach Belieben vorgenommene Ände- rung und ‚Verbesserung‘ seiner Schöpfung Gott gleich zu werden, birgt die Gefahr, der Menschheit neue Bürden und neues Leid aufzuerlegen.”22 Die Frage des Klonens, d. h. die Frage nach der Geburt eines Lebewesens, das nicht auf natürliche Weise unter Verschmelzung spezieller Zellen von Vater und Mutter gezeugt wurde, sondern auf künstlichem Wege der Transplantation von Genen, wird von den Orthodoxen ebenso kritisch aufgegriffen wie im Westen. Auch von Regierungsseite her finden wir Beispiele des Bezugs von Religion und Gesellschaft. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes- republik Deutschland empfing ihr Bundespräsident Christian Wulff im November 2011 im Berliner Schloß Bellevue eine Delegation orthodoxer Hierarchen. Dazu gehörte der bulgarische Vikarbischof Antonij des bul-

19 Thesing/Uetz 2001, 88. 20 Thesing/Uetz 2001, 90. 21 Thesing/Uetz 2001, 94. 22 Thesing/Uetz 2001, 95.

74 garischen Metropoliten für West- und Mitteleuropa, Simeon. Anwesend war für die bulgarische Seite auch der Berater der Metropolie und Spezi- alist für Kirchenrecht Christo Berov. Die Begegnung lässt erkennen, welche Bedeutung Glaubensfragen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zugemessen wird und somit natürlich auch für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik.23 Eine Offenheit gegenüber der Kirche bezeigte auch Bulgariens neuer Präsident Rosen Plevnevliev in Gestalt seines Besuches am 16. und 17. April 2012 auf dem Athos, insbesondere auch dem Zograph-Kloster.24 Und von besonderer Bedeutung waren die Gespräche des Präsidenten und auch des Premierministers Bojko Borisov mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill bei seinem Besuch in Sofia im April 2012. Betont wurde nicht nur die traditionelle Freundschaft zwischen beiden Völkern, sondern behandelt wurden auch Fragen wie das christliche Verständnis von Freiheit, die Notwendigkeit, die christlichen Wurzeln der gesamteuropäischen Zivili- sation im Auge zu behalten, die Bedeutung der christlichen Identität für die Zukunft des europäischen Kontinents sowie das Aufgreifen von päda- gogischen Erfahrungen Russlands.25 All dies erfordert ein Höchstmaß an Bildung. Die Notwendigkeit der Bildung prägt auch das Denken im heutigen Bulgarien. Am 23. April 2012 veranstaltete man an der Theologischen Fakultät der Sofioter Universität „St. Kliment Ohridski” eine internationale Konferenz und einen Runden Tisch zur Thematik „Theologie und Gesellschaft: Die Liebe fürchtet sich nicht vor dem Dialog”, geleitet von Dr. Stojan Danev aus Dänemark und unter Teilnahme namhafter orthodoxer Theologen aus verschiedenen Län- dern, darunter den USA und Kanada.26 Bei seiner Begrüßung im Namen des Patriarchen betonte der Protosingel der Metropolie Sofia, prot. Angel Angelov, die Tagung sei notwendig und aktuell, denn die heutige Ge- sellschaft braucht Gott. Dazu referierte eingangs Metropolit Gavriil von Love² über die „Aufgabe der geistlichen Bildung in der gegenwärtigen weltlichen und kirchlichen Unterweisung“, unterstützt durch Hinweise von Prof. Božidar Andonov von der Sofioter Theologischen Fakultät über das notwendige Zusammenwirken von Universitätstheologie und Gemeinde- praxis.

23 dveri.bg 12.11.11. 24 dveri.bg 17.4.12. 25 http://www.mospat.ru/ru/2012/04/29/news62491/ 26 dveri.bg 24.4.12.

75 Als ein Beispiel erwähnt sei der Vortrag des Kirchenhistorikers Dr. Joost van Rossum vom Orthodoxen Theologischen St. Sergius-Institut in Paris zum Thema „Theologie und Säkularismus.” Dabei betonte er:

„Säkularismus ist nicht unbedingt ein Synonym für Atheismus.” Auch müsse sich „die Theologie nicht vor der Wissenschaft fürchten.” Er verwies auf die großen Kirchenväter wie Johannes Chrysostomos und Basilios den Großen, welche die Errungenschaften der Wissenschaft ihrer Zeit anerkannten und für ihre Theologie nutzbar machten. Er widersetzte sich einem Fundamentalismus als einer „Theologie der Angst”, die den Dialog mit der Wissenschaft ablehnt.

„Die Grund-Sünde ist der Stolz, der Wunsch Gott gleich zu sein und damit un- abhängig von ihm. Somit kann man den Säkularismus als Grund-Sünde (nach Alexander Šmeman die Grund-Häresie) unserer Zeit sehen.” Entsprechend zeigt er sich auch offen für ökumenisches Denken, sofern dieses sich abgrenzt von prinzipienlosem Synkretismus. Dr. Georgi Dragas von der Schule „Hl. Kreuz” in den USA verwies auf den nicht ungefährlichen Einfluß, den die Medien auf das Denken und Handeln der Jugend ausüben. Hier ergibt sich für die Kirche eine große Aufgabe, jungen Menschen zum rechten Lebensweg zu verhelfen, einem rechten Verhältnis zum Mitmenschen, zum Leben in der Gemeinde wie der gesamten Gesellschaft. Beim Runden Tisch wurde auch auf die kirchen- feindlichen Äußerungen mancher Journalisten eingegangen. Dabei sollten wir nicht übersehen, dass es in Bulgarien von jeher eine Art des Zusammenlebens gegeben hat, deren Erfahrungen wir innerhalb der EU nutzbar machen können. Im November 2005 erklärte der ameri- kanische Botschafter John Beyrle anläßlich der Eröffnung der Konferenz über „Ethnische Integration und Toleranz”:

„Bulgarien erweist sich von jeher als ein Modell für ethnische Toleranz auf dem Balkan.“ Hervorheben möchte ich hierzu den ersten „Religionsgipfel” in Sofia, das Treffen von hochrangigen Repräsentanten der in Bulgarien vertretenen Glaubensbekenntnisse, Christen verschiedener Konfessionen, Muslimen und Juden, der am 28. März 2006 im Palais des Hl. Synods der BOK mit Metropolit Kiril von Varna und Groß-Preslav als Gastgeber stattgefunden hat. In deren gemeinsamer Erklärung heißt es: Wir

„erklären als Staatsbürger unseren unbeugsamen Willen, den Frieden zwischen Religionen und Volksgruppen zu unterstützen und zu bewahren.” […] „Kate-

76 gorisch verurteilen wir jede Verbreitung von Hass und stellen uns jeder Aufhet- zung entgegen, die den religiösen und ethnischen Frieden im Staat gefährdet.” Aufgerufen werden besonders die Massenmedien,

„über die Gefahren der Radikalisierung zu informieren und sich eindeutig von allen Aussagen zu distanzieren, die die religiösen Gefühle der Menschen be- leidigen könnten. Von neuem erinnern wir, dass die Freiheit des Wortes uns verpflichtet, die religiösen Gefühle der Menschen zu respektieren.“ Gerade unter dem Gesichtspunkt unserer heutigen Thematik möchte ich abschließend erwähnen: Wenn heute von der DDR gesprochen wird, betont man berechtigt die Kritik gegen die SED-Diktatur und die Stasi. Aber das war nur ein Teil der damaligen Wirklichkeit, über deren Vielfalt zu informieren sich lohnen würde. Es gab gerade im Blick auf unsere heu- tige Thematik in der DDR – nicht seitens des Staates, sondern im Rahmen der Kirche – sogar wegweisende Bemühungen um den Bezug von Glauben und Wissenschaft in der Arbeit unserer in vorbildlicher Weise von den westlichen Kirchen und Wissenschaftlern unterstützten Evangelischen Forschungsakademie (EFA). Die Evangelische Forschungsakademie (EFA, nicht zu verwechseln mit den Evangelischen Akademien der jeweiligen Landeskirchen) – heißt es in ihrer Selbstbeschreibung – ist eine Einrichtung der Union Evangelischer Kirchen (UEK). Sie vereinigt Wissenschaftler christlichen Glaubens, die verbunden sind durch die ihnen gemeinsamen Fragen von christlichem Lebensverständnis und wissenschaftlichem Arbeiten. Die Evangelische Forschungsakademie (EFA) wurde im Oktober 1948 in Ilsenburg/Harz gegründet. Ziel war es, in Deutschland nach dem Ende der nationalsozia- listischen Herrschaft eine Neubesinnung für das menschliche Leben und damit auch für die wissenschaftliche Arbeit zu fördern. Oskar Söhngen, der Begründer und erste Direktor der EFA, zitierte bei der Eröffnung der Gründungstagung aus einer Denkschrift der Evangelischen Akademie Bad Boll u. a.:

„Es genügt nicht, den modernen Menschen das Fundament eines persönlichen Glaubenslebens zu vermitteln. Eine evangelische Akademie muss aufzeigen, wie die einzelnen Gebiete des weltlichen Lebens und Denkens sachgemäß auf diesem Fundament gegründet werden können.“ Dementsprechend hat der Leipziger Theologe Alfred Dedo Müller in sei- nem grundlegenden Referat „Die Erkenntnisfunktion des Glaubens“ auf der Eröffnungstagung die Arbeitsweise der EFA visionär zum Ausdruck gebracht:

77 „Bei der ungeheuren Verbreiterung der Weltkenntnis in den letzten Jahrhun- derten kann nur die Anerkennung des Begegnungs- und Gesprächscharakters der Wahrheitserkenntnis und nur die organisierte Gemeinsamkeit die Bemü- hung darum aus der gegenwärtigen Aufsplitterung der nach außen immens erweiterten Erkenntnis und der erschreckenden Einengung aller ihrer inneren Horizonte herausführen. Diese Erkenntnis ist es ja auch, die zur Begründung der Evangelischen Forschungsakademie Ilsenburg geführt hat.“ Auch nach dem Bau der Berliner Mauer ist es der in der DDR ange- siedelten EFA als Einrichtung der Evangelischen Kirche der Union (EKU) gelungen, den Freiraum zum interdisziplinären Gespräch von Wissen- schaftlern aus Ost und West gegen die staatlich angestrebte ideologische Einengung des wissenschaftlichen Diskurses zu erhalten und damit zum Zusammengehörigkeitsgefühl beider deutscher Staaten während der Teilung beizutragen. Seit der deutschen Einheit im Jahr 1990 stellt sie sich den neuen globalen Herausforderungen im Prozess einer fortschreitenden europäischen Säkularisierung. Mit ihrer Gründung setzte sich die For- schungsakademie das Ziel, Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen zusammenzuführen, um die jeweils neuesten Erkenntnisse und Entwick- lungen in Wissenschaft und Gesellschaft zu diskutieren. Die Erkenntnis- funktion des Glaubens und die ethische Verantwortung des Wissen- schaftlers und akademischen Lehrers sind dabei besondere Anliegen. Unter dem Motto „Glaubend erkennen – erkennend glauben – verantwort- lich handeln” stellt sie sich den Herausforderungen unserer Zeit zur zukunftsfähigen Gestaltung von Lehre, Bildung und Forschung in christ- lich-ethischer Verantwortung. Dazu veranstaltet sie in der Regel zwei jähr- liche Tagungen, die einer allseitigen Bereicherung dienen und bei denen wir Theologen nur als eine Minderheit vertreten sind. Die jeweilige Januar- tagung in Berlin dient der Behandlung eines Generalthemas, inter- disziplinär durch Vorträge und ausführliche Diskussionen aus der Sicht der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, während die Pfingst- tagung – in der DDR-Zeit in Buckow/Märkische Schweiz, neuerdings im Evangelischen Zentrum Drübeck – mit der Vorstellung und Diskussion von aktuellen Entwicklungen der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche zu einer Erweiterung des Kenntnishorizontes aller Teilnehmer beiträgt.27

Unsere heutige Tagung veranlaßt mich, darüber nachzudenken, ob und inwieweit wir in diese Art des wissenschaftlichen Arbeitens auch Bul- garien mit einbeziehen können.

27 Hoffmann et al. 1998; Tröger/Opitz 1998.

78 Literatur

Döpmann 2006 H.-D. Döpmann, Kirche in Bulgarien von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bul- garische Bibliothek. N. F. 11 (München 2006).

Döpmann 2010 H.-D. Döpmann, Die orthodoxen Kirchen in Geschichte und Gegenwart. 2. über- arbeitete und ergänzte Aufl. Trierer Abhandlungen zur Slavistik 9 (Frankfurt/M. 2010).

Hoffmann et al. 1998 E. Hoffmann/H. Opitz/K.-W. Tröger, Glaubend erkennen – erkennend glauben – verantwortlich handeln. Geschichte der Evangelischen Forschungsakademie 1948– 1998 (Berlin 1998).

Thesing/Uetz 2001 J. Thesing/R. Uetz (Hrsg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Ortho- doxen Kirche (Sankt Augustin 2001).

Tröger/Opitz 1998 K.-W. Tröger/H. Opitz (Hrsg.), Forschung und Glaube. Beiträge zu ethisch ver- antworteter Wissenschaft und Politik. Festgabe der Evangelischen Forschungs- akademie aus Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens im Auftrag des Kuratoriums (Berlin 1998).

79 Dietmar Linke

Ivan Nikolov Stranski (1897–1979), der bulgarisch-deutsche „Großmeister des Kristallwachstums“ und sein Wirken im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik

Schlägt man in Lexika nach, dann ist Ivan Nikolov1 Stranski in Deutsch- land ein „deutscher Physikochemiker bulgarischer Herkunft“ (Brockhaus 1994), in Bulgarien ein „bulgarischer Gelehrter, Begründer der bulgari- schen Schule der Physikochemie und 'Vater des Kristallwachstums'“2 (ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013a). Für die eine Version spricht das über 30jährige Wirken von Stranski in Deutschland, zugunsten der anderen seine dominierende Rolle als Hochschullehrer in Sofia bei der Stimulierung und allmählichen Herausbildung einer noch heute etablierten wissenschaftlichen Schule.

Abb. 1: Porträt Stranski

1 So die korrekte Transliteration zu ɸʵʲˑ ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ. In der deutschen Litera- tur meist Iwan Nikola S., so z.B. im Schriftverkehr des Fritz-Haber-Instituts; ge- legentlich auch mit Akzent 'Nikolá', sehr selten 'Nikolaus'. 2 Der Titel 'The Father of Crystal Growth' wurde ihm 1971 auf der 3. Tagung der Inter- national Conference on Crystal Growth (ICCG) in Marseille zugesprochen.

80 Biographisches – Herkunft und Werdegang

Ivan Nikolov Stranski wurde in Sofia am 2. Januar 1897 (21.12.1896 alter Stil) geboren, als drittes Kind des Hofapothekers Dr. Nikola Ivanov Stran- ski (1854–1910) und dessen deutschbaltischer Frau Maria, geb. Krohn3 (1860–1918). Die Stranskis waren ein einflussreiches altes Geschlecht aus , einem Zentrum der bulgarischen Wiedergeburt nordöstlich von Plovdiv. Durch Stranskis Großvater väterlicherseits wurde der türkisch- stämmige Familienname Jabandžiev (von yabancÍ – Ausländer, Fremder) rebulgarisiert.4 Auch Brüder des Vaters waren einflussreich im jungen bulgarischen Nationalstaat bzw. bei den vorgelagerten Kämpfen (ʍˆˊˆ- ˔ʺʹˆˮ 2013b): Vidul Stranski (†1878) war Mitstreiter des Nationalhelden Stefan Karadža (1840–68). Der Arzt Dr. Georgi Stranski (1847–1904) nahm am Krieg 1877–78 teil, wurde Vorsitzender der provisorischen Regierung von Ostrumelien und 1887–90 bulgarischer Innen- bzw. Außenminister. Ein Cousin von Ivan, Ivan Todorov Stranski (1886–1959), war als namhaf- ter Agronom gleichfalls Mitglied der Bulgarischen Akademie der Wissen- schaften (BAN).

Abb. 2: Detail Hauptgebäude Uni Sofia

3 In der Literatur häufig fälschlich als 'Korn' angeführt. 4 ˖˘˕ʲˑˑˆˊ – Wanderer, Fremdling; ˖˘˕ʲˑ˖˘ʵʲː – wandern, reisen.

81 Jahr(e) Tätigkeit bzw. Ereignis 1915 Abitur am 1. Sofioter Knaben-Gymnasium, Zweig 'halbklassische Abteilung' bis 1917 Beamter der Bulgarischen Nationalbank 1917/18 Wegen der zeitlebens großen gesundheitliche Probleme (Knochentuberkulose!) kurzzeitig Medizin-, dann Chemiestudium in Wien 1918–22 Chemiestudium in Sofia bis zum Diplom Assistent bei dem Physikochemiker Paul Günther (1892-1969), 1922–25 Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, dort 1925 Promotion zum Dr. phil. mit „Beiträgen zur Röntgenspektralanalyse“ 1925 Habilitation an der Universität Sofia 1926 Ordentlicher Dozent und erster (!) bulgarischer Hochschullehrer für Physikalische Chemie 1929 Außerordentlicher Professor 1937 Ordinarius (nach mehrjähriger Laufzeit des Berufungs-Verfahrens)5

Tab. 1: Stranskis Weg zum Hochschullehrer an der Universität Sofia

1926 heiratete Stranski Martha Pötschke (1893–1974), geboren in Guben (Niederlausitz), die später gleich ihrem Manne auf lange Jahre Zugehörig- keit zum Fritz-Haber-Institut verweisen konnte. Die Ehe blieb kinderlos. Ab September 1930 war Stranski wieder in Deutschland, für ein Jahr als Rockefeller-Stipendiat bei Max Volmer (1885–1965) an der TH Berlin- Charlottenburg (Lacmann 1987), der späteren Technischen Universität Berlin (TUB). Zeitgleich nahm sein später bekanntester Schüler, Rostislav Atanasov Kaišev (1908–2002), ein Humboldt-Stipendium bei Franz Simon (1893–1956) wahr, der in dieser Zeit von Berlin nach Breslau wechselte, nunmehr als Ordinarius für Physikalische Chemie. Von Dezember 1935 bis Dezember 1936 war Stranski auf Einladung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR als Abteilungsleiter am Physi- kalisch-Technischen Institut des Ural in Sverdlovsk tätig.6 Wiederholt war er Präsident der Chemischen Gesellschaft von Sofia, 1939 dann Präsident des Verbandes Bulgarischer Chemiker. Trotz seiner gesundheitlichen Probleme war Ivan Stranski – nomen est omen! – stets ein ausgesprochen mobiler Mensch, so von 1930–40 ständig einige Monate bis zu einem Jahr

5 Durch Mitbewerber vorgebrachte Zweifel an Stranskis Befähigung wurden letztlich durch zusätzliche Gutachten, unter anderen von Kossel und Volmer sowie durch eine sehr umfangreiche Darstellung (ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1934/35) seiner Ergebnisse durch Stranski selbst ausgeräumt; vgl. auch (ʊ˓˦ʺʵ 1997a) und (ʃʲˑʺʵ 2012). 6 Heute wieder Jekaterinburg.

82 im Ausland. Rechnet man die Zeit bis 1943 dazu, nutzte er die halbe Zeit zur Spezialisierung, als Gastwissenschaftler und Dozent. Das starke deutsche Interesse an Stranski führte zur Einladung durch die Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG), am 25. November 1939 einen Kolloquiumsvortrag über seine Arbeiten zum Kristallwachstum zu halten. Der entsprechende Vorschlag kam vom Direktor des Staatlichen Forschungsinstituts für Metallchemie Marburg, dem Physikochemiker und Mineralogen Prof. Rudolf Friedrich Schenck (1870–1965), der im Januar 1939 geschrieben hatte (Archiv GDCh 1939a):

„...Endlich ist es mir gelungen, über Herrn Stranski einige Nachrichten ein- zuziehen; insbesondere von Herrn Prof. Bodenstein7, der ihn genauer kennt. Dabei habe ich folgendes feststellen können: Dass Herr Stranski im Gebiet des Kristallwachstums arbeitet und dort sehr gute Ergebnisse gezeitigt hat, dass er glänzend deutsch spricht und eine deutsche Frau hat. Herr Bodenstein meint, dass es gar nicht dumm sein würde, ihn durch eine Einladung nach Deutschland als international beachtlichen Mann abzustempeln. Es würde seine Position in Sofia voraussichtlich günstig beeinflussen....“ Nachdem sich Stranski für die Einladung bedankt hatte, galt es, die Be- denken der DChG-Geschäftsstelle auszuräumen (Archiv GDCh 1939b),

„unter den derzeitigen Verhältnissen die Sitzung stattfinden zu lassen. Es fehlt für eine größere Veranstaltung an geeignetem Luftschutzraum. Ebenso kann das übliche Abendessen nicht stattfinden...“ Der Vortrag kam dennoch zustande.8 Er bewirkte ein Schreiben an die DChG von General a. D. und SS-Gruppenführer Ewald von Massow (1869– 1942), dem Präsidenten der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft e.V. (Archiv GDCh 1939c):

„Die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft erlaubt sich hiermit anzuregen, dass in Beantwortung des Besuches des bulgarischen Chemikers Prof. I. N. Stranski ... ein führender deutscher Chemiker zu einigen Vorträgen nach Sofia im Laufe des Winterhalbjahres 1939/40 fährt. Es wäre wünschenswert, wenn zum Aus- bau der deutsch-bulgarischen Beziehungen auf dem Gebiete der chemischen Forschung einige führende Herren der Deutschen Chemischen Gesellschaft ... nach Sofia fahren würden. ...“

7 Max Ernst August Bodenstein (1871–1942), deutscher Physikochemiker. 8 Sogar einschließlich der Nachsitzung mit einem „trockenen Gedeck“ für 5 Reichs- mark!

83 Im Oktober 1941 trat Stranski eine Gastprofessur an Universität und TH in Breslau an, zunächst für ein Jahr. Mit Hinweisen auf die Kriegswichtigkeit9 seiner Arbeiten in Deutschland gelang es, die bulgarischen Genehmigun- gen zur zweimaligen Verlängerung des Aufenthalts bis Oktober 1944 zu bekommen.

Zur wissenschaftlichen Bedeutung seiner Arbeiten

Die Vielzahl der Arbeitsgebiete von Stranski kann hier nur angedeutet werden. Am bekanntesten wurden seine fundamentalen Untersuchungen und Berechnungen zum Auf- bzw. Abbau von Kristallen. Da die grund- legende Arbeit (ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1927/28) zuerst auf Bulgarisch erschien und die deutsche Fassung (Stranski 1928) erst nach der sehr ähnlichen (Kossel 1927) des Physikers Walther Kossel (1888–1956), wurde die Priorität oft diesem zugesprochen. Nach einem bei ʃʲˑʺʵ (2012) zitierten, ausführlichen bul- garischen Gutachten (1937/38) wäre bei gleichzeitiger Publikation der beiden Stranski-Versionen unstrittig ihm die Priorität zugekommen, an- gesichts der umfassenderen und tiefergehenden Bearbeitung. Dass Stranski in vielen Punkten über Kossel hinausging, betonte auch M. Volmer in einem Widmungsheft zum 60. Geburtstag von Stranski (Volmer 1957). Zunächst galten die Überlegungen ideal gebauten Ionenkristallen10, z. B. dem als Kochsalz bekannten Natriumchlorid. Danach lagern sich die Bausteine des Gitters, z. B. Ionen, dort an Kristallflächen an, wo es ener- getisch am günstigsten ist. Trotz des zunächst starken Näherungscharak- ters der Rechnungen ergaben sich aus den – in die Literatur als Kossel- Stranski-Theorie eingegangenen – Vorstellungen wertvolle Erkenntnisse für die Praxis der Kristallzüchtung und für das Verständnis der dabei vorzugsweise gebildeten Kristallformen. Die Veröffentlichung von Stranski und Kr©stanov11 zum Mechanismus des epitaktischen Aufwachsens12 wird noch heute sehr häufig als grund-

9 Höchstens Stranskis Untersuchungen zum Verhindern des Flugzeug-Vereisens kämen in Frage. Befunde zur Eiskristall-Bildung wurden spät publiziert (Lacmann et al. 1972). 10 Also ohne Fehlstellen oder sonstige Defekte, wie sie Kossel als „unmoralisch“, der Schweizer Kristallograph Paul Niggli (1888–1953) gar als „pathologisch“ verdammte. 11 Ljubomir Kr©stanov Kr©stanov (1908–1977) wurde später vor allem als Meteorologe und Geophysiker bekannt (ɫ. ʂˆˏ˓˦ʺʵ 2009). 12 Hierbei wachsen Kristalle kompakt oder in Schichten auf anderen auf, sofern pas- sende kristallographische Orientierungen zwischen den beiden kristallinen Phasen vorliegen.

84 legend zitiert (Stranski/Kr©stanov 1938) oder – da allgemein bekannt – einfach vorausgesetzt. Die Arbeiten von Stranski und Rudolf Suhrmann (1895–1971) zur Elektronenemission aus Metallen wurden wichtig für die feldionenmikro- skopischen Untersuchungen von Erwin W. Müller (1911–77), der 1947–50 bei Stranski in Berlin-Dahlem tätig war. Mit seinem Mikroskop gelangen seinerzeit sensationelle atomar aufgelöste Bilder, z. B. von einer Wolfram- Spitze. Als unmittelbar praxisrelevant können Stranskis Befunde zum Ver- halten von gelösten Elementen in flüssigem Eisen genannt werden, die zur Gefügeoptimierung und zu Qualitätsverbesserungen bei Stählen führten. Die damit auch ökonomisch bedeutsamen Vorteile wurden seinerzeit von der Hüttenwerk Oberhausen AG durch die Benennung des – im September 1965 beschlossenen und im Juli 1967 übergebenen – Industrieforschungs- Instituts als „I.-N.-Stranski-Institut für Metallurgie“ anerkannt.13 Ein vollständiges Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichun- gen von Stranski in Deutsch, Bulgarisch, Englisch und in weiteren Sprachen liegt wohl noch nicht vor. Wesentliche Teile lassen sich aus Sammelwerken, wie Poggendorff (1961)14, aber auch aus Publikationen von Stranski und über ihn erschließen. Etwa 100 Arbeiten sind in dem im Aufbau befindlichen Verzeichnis (Archiv FHI 2013) des Fritz-Haber-Insti- tuts erfasst.14 In ʃʲˑʺʵ (2012) wird von insgesamt etwa 150 Titeln ge- sprochen, verschiedentlich auch von über 200.15 In den 40er Jahren mehrten sich Zweifel an den für Idealkristalle geltenden Aussagen der Kossel-Stranski-Theorie, da sich immer häufiger Abweichungen von vielen Zehnerpotenzen gegenüber den Erwartungen ergaben. Frederick Charles Frank (1911–1998) formulierte auf einer Ta- gung, zunächst als Hypothese (Frank 1949), bald darauf auch experi- mentell bewiesen, dass das Wachstum von Realkristallen durch die zahlreichen Baufehler dominiert wird, besonders durch die sogenannten Spiralversetzungen.16 Stranski, Teilnehmer der genannten Tagung, beharrte – wie auch andere – zunächst darauf, dass es sich bei solchen Kristallen nur um unsaubere, eben „pathologische“ Proben handeln könne! Hierauf kann

13 Ab 1971 noch einige Jahre unter dem Dach der Thyssen-Niederrhein-AG Ober- hausen. 14 Allerdings werden kyrillisch geschriebene Titel weggelassen! 15 Hier sind wohl auch einige Kurzreferate berücksichtigt. 16 Noch heute wenig bekannt ist, dass die Franksche Hypothese durch Beobachtungen von Georgij Glebovi² Lemmlein (1901–1963) an Carborund (Siliciumcarbid SiC) be- reits durch dessen Vortrag 20.03.1945 vor der Akad. Wiss. UdSSR vorweggenommen war (Šaskolskaja 1978).

85 man wohl – wie so oft in der Wissenschaft – den sarkastischen Kommentar von Thomas Henry Huxley17 (1825–1895) anwenden:

„Die große Tragödie in der Wissenschaft ist, dass die schönsten Hypothesen von hässlichen Fakten erschlagen werden.“ Einige Jahre später finden sich aber doch Belege, die Stranskis Anerken- nung der Rolle von Störstellen im Kristallgitter beweisen, erleichtert durch die Feststellung von Frank selbst, dass

„die Wachstumstheorie für reale Kristalle auf den am idealen Kristall er- arbeiteten Erkenntnissen aufbaut“ (Honigmann 1972). Auch Kaišev, der 'Meisterschüler' von Stranski, und seine Mitarbeiter be- legten in Sofia nach vieljährigen Versuchen (1949–66), dass durch Elektro- kristallisation so perfekte Silberkristalle erhältlich sind, dass die Stranski- Theorie der zweidimensionalen Keimbildung als Grenzfall weiterhin berechtigt blieb, auch als Basis für die genannten Schraubenversetzungen. Also statt des „Entweder ... Oder!“ nunmehr ein „Sowohl ... als auch!“, entsprechend der Bemerkung von Friedrich Schiller (1759–1805) in seinen „Philosophischen Briefen“:

„Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit.“ Auch bei Goethes „Aphorismen zur Naturwissenschaft“ finden wir ein passendes Zitat zur 'Ehrenrettung' von Stranski:

„Bei Erweiterung des Wissens macht sich von Zeit zu Zeit eine Umordnung nötig; sie geschieht meistens nach neueren Maximen, bleibt aber immer pro- visorisch.“ Der 'Vater des Kristallwachstums' wäre stolz, könnte er die Perfektheit der heutigen – für uns unverzichtbar gewordenen – Einkristalle erleben, z. B. die des Siliciums mit einer Reinheit von mehr als 99,9999 %! In Übersichtsarbeiten zum Erkenntnisstand auf dem Gebiet des Kristall- wachstums wird – seit vielen Jahren bis heute – der große Anteil von Stranski an der Entwicklung dieser Fachdisziplin hervorgehoben, z. B. bei Heyer 1966; Kern 1967; Kaišev 1981a; Kaišev 1981b; R. Lacmann 1981; Platikanov 1996/97; Markov 1996/97; ʂʲ˕ˊ˓ʵ 1997; Gutzow 1997; ʊ˓˦ʺʵ 1997b; Tassev/Bliss 2008; ʃʲˑʺʵ 2012; Linke 2013.

17 Englischer Naturforscher und Philosoph.

86 Stranski ab 1944: Ausgegrenzt in Bulgarien, hochgeschätzt in Berlin a) Bulgarien Aufgrund seiner Gastprofessur in Deutschland ab 1941 war Stranski die Rückkehr in seine Heimat18 nach dem 9. September 1944 faktisch unmög- lich. Zunächst wurden im Januar 1945, auf der Grundlage einer Verfügung zur Säuberung und 'Defaschisierung' des Lehrkörpers der Universität Sofia, drei Professoren, unter ihnen Stranski, für immer von der Sofioter Universität verwiesen.19 Nachfolgend kamen weitere 'unzuverlässige Gelehrte' ins Visier, unter ihnen Kaišev und sein Anorganiker-Kollege Dimit©r Hristov Balarev (1885–1964); nicht alle wurden dann aber relegiert, auch Kaišev nicht. b) Stranski am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie, dem späteren Fritz-Haber-Institut (1944–1967) Noch in Breslau tätig, wurde Stranski am 27. Januar 1944 vom Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) aufgrund eines Antrages von Prof. Peter Adolf Thiessen (1899–1990), Max von Laue (1879–1960), Otto Hahn (1879–1968) und Wilhelm Eitel (1891–1979) für die Zeit ab 11/1944 zum Wissenschaftlichen Mitglied (WM) des Instituts in Berlin-Dahlem berufen (Archiv MPG 1943).20 Eine solche Ehrung entsprach im Rang etwa einer Ernennung zum Akademie-Mitglied! Bis zum Kriegsende 1945 hatten zahlreiche führende Wissenschaftler Berlin in Richtung Westen verlassen, so die Nobelpreisträger Max Planck (1858–1947), Max von Laue, Werner Heisenberg (1901–76), Peter Debye (1884–1966), Adolf Butenandt (1903–95) und der 'Nobelpreis-Anwärter' Otto Hahn21. Ihre Rückkehr ließ Jahre auf sich warten oder blieb ganz aus. Von den Instituten der KWG galt nur noch das für Physikalische Chemie und Elektrochemie als nahezu arbeitsfähig, wenn man vom fehlenden Personal und von der Demontage der Einrichtungen absieht. Thiessen als Direktor erhielt am 12.05.1945 vom Bezirksbürgermeister Berlin-Zehlen- dorf den Auftrag „für die einstweilige Leitung der KWG“ (Archiv MPG

18 Nunmehr war Bulgarien Kriegsteilnehmer an der Seite der UdSSR gegen Deutsch- land. 19 In einer Bewertung dieser Vorgänge (ʈ˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2000) heißt es, dass Anlass der Ent- lassungen häufig – neben oder gar statt unerwünschter politischer Betätigung – persönliche Differenzen zwischen den 'Entscheidern' und den Relegierten waren. 20 Dass er, wie manchmal zu lesen ist, vor der näherkommenden Front nach Berlin auswich, ist also nicht richtig. 21 Der Preis wurde 1945 für 1944 verliehen und 1946 überreicht.

87 1945).22 Zu den wenigen in der Stadt verbliebenen prominenten Chemikern zählte auch Stranski. Mehrfach belegt ist sein „tatkräftiger Einsatz in schwieriger Nachkriegszeit“ 23, seine mutige und uneigennützige Hilfe in den Wirren des Kriegsendes, z. B. bei den ersten – naturgemäß besonders kritischen – Verhandlungen mit sowjetischen Offizieren24 im Dahlemer Institut (Florek 2003) oder bei dem Sichern von Büchern und Möbeln für den Physikerkollegen Josef Mattauch (1895–1976) aus dessen ausgebomb- ter Wohnung. Auch für Stranski selbst war der Neubeginn nach Kriegs- ende alles andere als einfach: Das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft belegt die Mühen des Alltags, etwa Anfang 1946 die Anträge Havemanns an den Bezirksbürgermeister Zehlendorf auf einen Bezugsschein für ortho- pädische Schuhe für Stranski oder für Bescheinigungen zur Vorlage beim Ernährungsamt für angemessene Lebensmittelrationen für die Wissen- schaftler.25 Jahre später, in Vorbereitung auf die zum 01.07.1953 anstehende Über- führung des offiziell noch als „Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie“ firmierenden Hauses in die Max-Planck- Gesellschaft (MPG) unter dem Namen „Fritz-Haber-Institut“ (FHI) stellte der Direktor Max von Laue (Amtszeit 1951–1959) mit Schreiben vom 20.10.1952 an Otto Hahn den Antrag, Stranski zum stellvertretenden Direk- tor zu ernennen. Er sei

„nach Lebensalter und Dienstzeit der Älteste der Abteilungsleiter, seine Ab- teilung ist die größte des Institutes, und er hat seine Verwaltungsfähigkeiten als Rektor der TU glänzend bewährt. Zudem kommt er nicht selten in die Lage, mich vertreten zu müssen“ (Archiv MPG 1952). Stranski wurde dann bis 1963 „Direktor am FHI“26, ständiger Stellvertreter des Institutsdirektors und Leiter der großen selbstständigen Abteilung für Physikalische Chemie des FHI. Seine Abteilung untersuchte Kristall- struktur und -wachstum, z. B. von Arsenik-Modifikationen, sowie auch die katalytischen Eigenschaften von Zeolithen. Der Briefwechsel Laue/Hahn

22 Anfang Juli 1945 wurde dann Robert Havemann (1910–1982) in dieses Amt berufen. 23 So im Schreiben von Butenandt, MPG-Präsident, zum 75. Geburtstag von Stranski. 24 Ähnlich hatte sich Nikolaj Vladimirovi² Timofeev-Resovkij (1900–1981), WM am KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch, für seine Mitarbeiter verbürgt, was ihnen zwar half, aber seine eigene lange Lagerhaft in der UdSSR nicht verhinderte. 25 Das Ernährungsamt solle mindestens 10 Std. täglicher Arbeitszeit berücksichtigen. 26 Nach Ansicht von Stranski – auf Anregung von Laues danach befragt – war dieser Titel für ihn höherwertig als der eines „stellvertretenden Direktors“. Publikationen zu Stranski interpretieren aber „Direktor am Institut“ oft missverständlich als „Direktor des Instituts“.

88 (Archiv MPG 1955) bezeugt das langjährige gute Verhältnis von Stranski mit von Laue: Als die Freie Universität Berlin (FUB) Stranski auf das Ordinariat für Physikalische Chemie holen wollte27, gab von Laue zu verstehen, dass Stranski damit rechne, sein Nachfolger zu werden. Diese Nachfolge kam aber nicht zustande (Zeitz 2006).

Abb. 3: Fritz-Haber-Institut Berlin-Dahlem (FHI): Historischer Eingang aus der Zeit des Kaiser-Wilhelm-Instituts

Eine ausführliche Darstellung des Instituts als KWG- bzw. MPG-Einrich- tung erschien zum Jahrhundert-Jubiläum des Hauses (Steinhauser et. al. 2011). Sehr instruktiv, besonders im Hinblick auf die Einbindung des Insti- tuts in die Wissenschafts-Domäne Dahlem, sind auch frühere Darstellun- gen (Engel 1984; Henning/Kazemi 2009). Ab 1963, nach der Emeritierung an der Technischen Universität Berlin (TUB), konnte sich Stranski stärker auf die Tätigkeit am FHI konzentrieren. Die beantragte Verlängerung

27 Dort war Stranski seit 1949 Honorarprofessor; er blieb es dann auch bis 1963.

89 seines Dienstverhältnisses bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres wurde genehmigt. Sein Arbeitsplatz blieb ihm erhalten, Planstellen für je einen wissenschaftlichen und technischen Assistenten wurden bereitgestellt, ebenso eine halbe Sekretärinnen-Stelle. Die Weiterführung des Arbeits- gebietes von Stranski war allerdings – im Bemühen um eine Neuaus- richtung des FHI nach dem Ausscheiden von Max von Laue – nicht mehr vorgesehen. Anfang 1967 wurde Stranski offiziell in den Ruhestand ver- setzt. Auch sollte er seine repräsentative Sechs-Zimmer-Dienstwohnung28 freiziehen, worauf man dann aber wegen der Körperbehinderung von Stranski nicht bestand. So blieb sie seiner Frau und ihm bis zu seinem Ableben erhalten.29

Abb. 4: Direktorenvilla des FHI: Dienstwohnung von Stranski im 1. Stock mit Balkon und Veranda (Foto 2009) c) Stranski an der Technischen Universität Berlin30 (1945–1963) Im Herbst 1945 – noch vor der am 12.12.1945 für März 1946 beschlossenen Wiedereröffnung – wurde Stranski Professor für Physikalische Chemie und Institutsdirektor, zunächst als kommissarischer Vertreter, dann als Nachfolger des in die UdSSR verpflichteten und dort fast zehn Jahre

28 200 m2 im 1. Stock der Direktorenvilla, Faradayweg 8. 29 Als zweite Ehefrau – die erste starb 1974 – wird 1978 die Bulgarin Stoika (Toni) S. erwähnt; sie verstarb am 07.10.1999. 30 Bis zur Wiedereröffnung am 15.03.1946 noch „TH Berlin-Charlottenburg“

90 tätigen Max Volmer (1885–1965).31 In die schwere Nachkriegszeit fallen seine Ämter als Dekan der Fakultät für allgemeine und Ingenieur- wissenschaften (1948/49, 1953/54), als Prorektor (1949/50) sowie zwei Amts- perioden als Rektor (1951–53).32 Bedingung für die Einstellung Stranskis war 1945 für die britische Behörde eine ‚Unbedenklichkeitserklärung‘, die der kommissarische Rektor, Prof. Schnadel (1891–1980), abgab:

Stranski „ist politisch einwandfrei, da er als Bulgare eine Aufforderung der deutschen Regierung, sich der nationalsozialistischen Gegenregierung für Bul- garien anzuschließen, abgelehnt hat.“33

Abb. 5: Grab von Ivan und Martha Stranski auf dem Waldfriedhof Berlin-Dahlem (Foto 2009)

Der von Stranski verfasste Lebenslauf vom 25.07.1945 (Archiv TUB 1945) enthält auch folgende Aussagen:

„Keine Mitgliedschaft in NSDAP, SA, SS; keine Funktion in DAF (Deutsche Arbeitsfront), NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), NSD-Dozenten-

31 Nach ihm erfolgte später die Namensgebung als „Max-Volmer-Institut für Physika- lische und Biophysikalische Chemie“ an der TUB. 32 Fotos der TUB (Internet) zeigen den Rektor mit hohen Gästen, wie Konrad Adenauer (1876–1967) und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897–1977). 33 Um welche 'Gegenregierung' es sich bei den vielen faschistoiden Splittergruppen in Bulgarien gehandelt haben mag, bleibt im Dunklen.

91 bund (Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund); nicht politisch organi- siert vor 1933, nicht politisch gemaßregelt, nicht teilgenommen an antifaschis- tischer Arbeit, nicht bekannt geworden durch antifaschistische Einstellung.“ Ausführlich eingegangen auf den erheblichen Anteil Stranskis am Wieder- aufbau der stark zerstörten TH/TU34 wurde auf der Festveranstaltung zur Verleihung der selten vergebenen akademischen Würde eines Ehren- senators an ihn am 15.07.1963 (Kölbel 1963). So wurde die Wiederherstel- lung der Südfront des Universitätshauptgebäudes bis 1953 mit einem Mittelaufwand von 8 Millionen DM wesentlich auf sein organisatorisches Geschick im Umgang mit den Behörden zurückgeführt. Für die Zeitgeschichte der TUB bedeutsam ist auch der Aufruf Stranskis vom 11.05.1953 an die Dekane, Professoren und Emeriti, alles Wissens- werte für das durch den Krieg weitgehend zerstörte Archiv der Hoch- schule zu bewahren.

Stranski als Persönlichkeit

Anlässlich seines 70. Geburtstages wird Stranski in den – unter Chemikern als 'Blaue Blätter' bekannten – „Nachrichten aus Chemie und Technik“ unter der Überschrift „Wer ist's?“ nicht nur als bedeutender Wissen- schaftler geschildert, sondern auch als Kenner der schönen Literatur, die er in Deutsch, Bulgarisch, Russisch und Englisch liest, als brillanter Gesell- schafter, der gutes Essen und gutes Bier liebt (Anonym 1967). Zahlreiche persönliche Erinnerungen an Stranski sind in den Reden zu den zahlreichen Jubiläums-, bzw. Gedenkveranstaltungen für ihn in Deutschland, bzw. Bulgarien enthalten, auch in fach- wie populärwissen- schaftlichen Publikationen über ihn; nicht zu vergessen der feinsinnige Humor, der sowohl aus den Reden Stranskis spricht, als auch aus seinen für einen breiteren Leserkreis bestimmten Veröffentlichungen (z.B. Stranski 1963). Zum Schmunzeln auch die Anekdote (ʂˆˏˣʺʵ 2006), wie er voller Mitgefühl die Publikation eines im Ausland kaum bekannten jungen Kollegen – nach mehrfacher Zurückweisung – doch bei dem gestrengen Gutachter durchsetzte. Über die vielfältige Anerkennung, die Stranski für sein wissenschaft- liches Wirken und für sein sonstiges Engagement erfuhr, gibt die Tabelle Auskunft.

34 Danach war 1945 im Hauptgebäude nur das Rektorzimmer (zugleich Senats-Sitzungs- saal) durch ein Kanonenöfchen – mit Schornstein durch das Fenster! – notdürftig zu beheizen.

92 Jahr Ereignis 1938 Galvani-Medaille der Universität Bologna 1939 Silberne Hofmann-Medaille der Deutschen Chemischen Gesellschaft; Akademiemitglied Göttingen; Bulgarischer Zivildienstorden 4. Klasse 1940 Akademiemitglied Göteborg; Dr. h. c., Breslau 1954 Dr. h. c., Freie Universität Berlin 1955 Akademiemitglied New York 1957 Mineral Stranskiit (CuZn2[AsO4]2), triklin, cyanblau (Namibia) 1962 Akademiemitglied München 1963 15.07. Ehrensenator der Technischen Universität Berlin 1964 Dr. techn. h.c., TH Wien; Dr. Ing. E.h., TUB; Dr. Ing. E.h., RWTH Aachen; Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD 1966 Mitglied der Leopoldina (Halle), Sektion Physik; 09/1966 Ausländisches Mitglied der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften (BAN) 1967 Namensgebung für das 1965 eingerichtete II. Phys.-Chem. Inst.: „Iwan-N.-Stranski-Institut für Physikalische und Theoretische Chemie“ der TUB; „I.-N.-Stranski-Institut für Metallurgie“, Hüttenwerk Oberhausen AG 1972 Carl-Lueg-Denkmünze des Verbandes Deutscher Eisenhüttenleute 1975 Dr. h. c., Universität Aix/Marseille 1977 Kyrill-Methodius-Orden 1. Klasse für Wissenschaft der BAN (insgesamt dreimal Kyrill-Methodius-Orden, zuerst 1940)

Tab. 2. Ehrungen von Stranski (Auswahl35)

War Stranski auch Schulenbildner?

Was die Einschätzung eines Gelehrten als Begründer einer „wissenschaft- lichen Schule“ betrifft, so ist das bei Ivan Nikolov Stranski nicht einfach. Natürlich ist er – siehe Einleitung – als „Begründer der bulgarischen Schule der Physikochemie“ anerkannt; dennoch plädieren auch bulgarische Au- toren dafür, dass trotz zahlreicher prominenter Schüler von ihm nicht er selbst, sondern sein Schüler Kaišev der eigentliche Schulenbildner in Sofia sei (Mischeva 1991). Wie kommt man eigentlich zur Schulenbildung? Kaišev hatte dafür ein ganz einfach erscheinendes Rezept. In der ganzsei- tigen Darstellung einer Tageszeitung zu den „Beherrschern der Kristalle“ (ʇʲʴ˓˘ˑˆˣʺ˖ˊ˓ ʹʺˏ˓ 1989) lautet es:

35 Nicht enthalten sind mehrere weitere Ehrungen zu Jubiläen, bzw. zum Gedenken an Stranski durch die TUB, z.B. 03.01.1967, 07.01.1972, 10.01.1977, 18.06.1980, 24.01.1997, auch nicht die Benennung eines Boulevards in Sofia nach ihm.

93 „ɼʲˊ ˖ʺ ˖˨˄ʹʲʵʲ ˑʲ˙ˣˑʲ ˦ˊ˓ˏʲ? ʊ˕ˮʴʵʲ ʹʲ ˖˨ʴʺ˕ʺ˦ ˘ʲˏʲˑ˘ˏˆʵˆ ˠ˓˕ʲ, ʹʲ ʶˆ ˑʲ˖˓ˣˆ˦ ˊ˨ː ˆˑ˘ʺ˕ʺ˖ˑʲ ˆ ˔ʺ˕˖˔ʺˊ˘ˆʵˑʲ ˘ʺːʲ˘ˆˊʲ ˆ ʹʲ ˆː ˖˨˄ʹʲʹʺ˦ ˙˖ˏ˓ʵˆˮ ʹʲ ˕ʲʴ˓˘ˮ˘.“36

Abb. 6: Straßenname in Sofia zu Ehren von Stranski (Foto 2009)

Einer Schulenbildung besonders förderlich war Stranskis Wirken weder in Deutschland noch in Bulgarien. In deutsche Institutionen war er vor dem 2. Weltkrieg nicht kontinuierlich oder gar langfristig genug eingebunden, nach dem Krieg war er drei Institutionen zugleich verpflichtet. Zur Vielzahl seiner Ämter und Verpflichtungen kam darüber hinaus die Be- schäftigung mit wirtschaftsnahen angewandten Arbeiten. Gegenläufig zu einer Schulenbildung wirkte und wirkt in Deutschland auch die tradi- tionelle Praxis an Hochschulen und an KWG-/MPG-Einrichtungen, dass der Amtsnachfolger von außerhalb in der Regel ein neues Arbeitsgebiet mitbringt.37 Für eine Stranski-Schule in Bulgarien käme höchstens die Zeit

36 Deutsch: „Wie gründet man eine wissenschaftliche Schule? Du musst talentierte Leute zusammenführen, sie auf eine interessante und perspektivische Thematik orientieren und ihnen die Bedingungen zum Arbeiten schaffen.“ 37 So formte der unmittelbare Nachfolger Stranskis an der TUB, Prof. Horst Tobias Witt (1922–2007), aus dem Institut ein Zentrum für biophysikalische Studien zur Photo- synthese.

94 zwischen Mitte der 20er und Ende der 30er Jahre in Frage; danach war er lange abwesend, erzwungen de jure ab 1944, de facto aber schon ab Herbst 1941 wegen der langen Gastprofessur in Deutschland.

Abb. 7: Akademiemitglied (BAN) und Humboldt-Preisträger ɸʵʲˑ ʈ˘˓ˮˑ˓ʵ ɫ˙ˢ˓ʵ (Gutzow), einer der Schüler von Stranski (Foto 2010)

Zu den Eigenschaften von Schulenbildnern meinte Nobelpreisträger Max Delbrück (1906–81):

„Wenn Schüler ihre Lehrer nicht überflügeln, dann hat jedenfalls auch der Lehrer nichts getaugt“. Ein anderer Nobel-Laureat, Ernest Rutherford (1871–1937), fand,

„dass es das Wichtigste für einen Lehrer sei, zu lernen, nicht auf die Erfolge seiner Schüler neidisch zu sein“. Diesen Prämissen wird Stranski im Rahmen der ihm gegebenen Möglich- keiten sehr weitgehend gerecht; der „Vater des Kristallwachstums“ ist er in jedem Fall.

95

Abb. 8: Zwei – inzwischen emeritierte – Nachfolger von Stranski auf dem Lehrstuhl für Physikalische Chemie der Universität Sofia, Prof. Dimo Platikanov (li.; 2002-2006 Vorsitzender der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bulgarien) und Prof. Borislav Tošev (Foto 2009)

Die heutige hohe Wertschätzung von Stranski in Kreisen der bul- garischen Wissenschaft ist dementsprechend über jeden Zweifel erhaben. In einer Festschrift zum 120. Jahrestag der Universität Sofia „Sveti Kliment Ochridski“ (2008) werden im Kapitel „Namen des 20. Jahrhunderts“ lediglich vier der vielen Hochschullehrer ausführlich gewürdigt, neben Stranski ein weiterer Chemiker, ein Physiker und ein Genetiker. Am 15. Januar 2007 lief ein vielbeachteter 30-min-Film über Stranski im bulgarischen Fernsehen (ʈ˘ʺ˟ʲˑ˓ʵ 2006). Im Rahmen eines Projekts 2001– 2004 sammelte N. Sretenova von der Bulgarischen Akademie der Wissen- schaften Material für eine umfassende Stranski-Biographie in 18 Archiven in Deutschland, Bulgarien, Großbritannien und in den USA (C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2005; C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2006).38 Zurück zu der Rehabilitierung Stranskis, die eigentlich aufgrund seiner auch in Bulgarien stets anerkannten Leistungen schon in den 50er Jahren überfällig war. Sie erfolgte erst 1967, nach der Ernennung zum 'Aus- ländischen Mitglied' der BAN; sie wurde durch seine Schüler in hohen

38 Mangels weiterer Finanzierung harren nun leider schon seit Jahren mehrere tausend Blatt an Dokumenten und Sekundärliteratur der weiteren Bearbeitung.

96 Ämtern bewirkt, durch Krӽstanov als Akademiepräsident (1962–68) und Kaišev als Vizepräsident (1961–68). Die Übergabe der Urkunde erfolgte an der TUB durch Kaišev zum Fest-Colloquium für Stranski am 03.01.1967. Nun konnte Stranski beruhigt wieder die alte Heimat besuchen, was er wiederholt tat, erstmals 1969 zu einem BAN-Jubiläum. Anhaltende gesundheitliche Beschwerden veranlassten ihn auch im Jahr 1978 zu einem Kuraufenthalt in Bulgarien. Dort verstarb er nach fast neun Monaten am 19. Juni 1979. Seine letzte Ruhe fand der stete „Wanderer“ am 09.07.1979 auf dem Waldfriedhof Berlin-Dahlem, Hüttenweg. Die TUB bewahrt im Archiv Traueranzeigen zum Ableben von Stranski, darunter auch von den Mitarbeitern ihrer beiden Einrichtungen „Iwan-N.- Stranski-Institut für Physikalische Chemie und Theoretische Chemie“ und „Max-Volmer-Institut für Physikalische Chemie und Molekularbiologie“. Eine ausführliche Würdigung erfolgte am 18.06.1980, auf dem Col- loquium des Fachbereichs 17/6 der TUB zum 1. Todestag von Stranski. Den Gedenkvortrag hielt Kaišev als Gast aus Sofia, Fachvorträge kamen von den ehemaligen Berliner Schülern Stranskis, den Professoren Ludwig von Bogdandy (Klöckner-Werke AG Duisburg), Otmar Knacke (RWTH Aachen), Rolf Lacmann (TU Braunschweig), sowie von Dr. Bertold Honig- mann (BASF Ludwigshafen). Als Ausklang möge die Einschätzung Stranskis dienen, die Kaišev in seinen Erinnerungen gibt (ʂˆˏˣʺʵ/ʈ˘˓ˮˑ˓ʵ 2003, 58):

„Ivan Stranski war ein bemerkenswerter Mensch. Er verfügte über eine benei- denswerte wissenschaftliche Intuition und Fantasie, wie auch über die Fähig- keit, das Wesentliche in den ihn beschäftigenden Problemen zu sehen und den einfachsten Weg zu ihrer Lösung zu finden. Seine wertvollste Eigenschaft war, dass er es verstand, junge Leute zu begeistern. ... Mit einigen von ihnen bearbeitete er Probleme, die dauerhaft in die Wissenschaft eingingen, so zum Beispiel den heute breit genutzten Stranski-Krӽstanov-Mechanismus des iso- morphen Aufwachsens auf Kristallen, oder seine Arbeit mit Totomanov zur sogenannten Ostwaldschen Stufenregel.“

97

Abb. 9: Gebäude der Chemischen Fakultät der Universität Sofia (Foto 2009)

Danksagung

– dem Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, insbesondere Frau Dr. M. Kazemi, – dem Archiv der Technischen Universität Berlin, insbesondere Frau Dr. I. Schwab, – zahlreichen bulgarischen Kollegen von der BAN und der Universität Sofia für Gespräche und für die Überlassung von Sonderdrucken ihrer Arbeiten, – Herrn Ralf Hahn, Berlin, für Materialien aus dem Archiv der GDCh, Frank- furt/Main, zum Kolloquiumsvortrag von Stranski 1939.

Literatur

Anonym 1967 Anonym, Wer ist‘s? – Iwan N. Stranski. Nachr. Chem. Technik 15.1, 1967, 5.

Archiv FHI 2013 Archiv FHI, Prof. Dr. Iwan N. Stranski, List of Publications (17.02.2013).

98 Archiv GDCh 1939a Archiv GDCh, R. F. Schenck, Brief an Prof. Weidenhagen/DChG, 12.01.1939.

Archiv GDCh 1939b Archiv GDCh, Geschäftsstelle DChG an Prof. R. Kuhn, Heidelberg, 20.09.1939.

Archiv GDCh 1939c Archiv GDCh, E. von Massow, Brief an DChG, 02.12.1939.

Archiv MPG 1943 Archiv MPG, Niederschrift über die Sitzung des Senats der KWG zur Förderung der Wissenschaften, 11.11.1943. In: Niederschriften von Sitzungen des Senats der KWG 1933–43.

Archiv MPG 1945 Archiv MPG, Bezirksbürgermeister Berlin-Zehlendorf an Thiessen, 12.05.1945

Archiv MPG 1952 Archiv MPG, Brief v. Laue an Hahn, 20.10.1952.

Archiv MPG 1955 Archiv MPG, Briefwechsel v. Laue 02.05.1955/Hahn 16.05.1955.

Archiv TUB 1945 Archiv TUB, Lebenslauf Stranski vom 25.07.1945.

Brockhaus 1994 Brockhaus Enzyklopädie, XXV (1994), 921.

Engel 1984 M. Engel, Geschichte Dahlems (Berlin 1984).

Florek 2003 D. Florek (geb. Thiessen), Erinnerungen an die Jahre 1944-45 im Kaiser-Wilhelm- Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie. Dahlemer Archivgespräche 9, 2003, 174–197.

Frank 1949 F. C. Frank, The Influence of Dislocations on Crystal Growth. A General Discus- sion on Crystal Growth, 1949, April 12–14, Bristol University. Disc. Faraday Soc. 5, 1949, 48–54.

Gutzov 1997 I. S. Gutzov, In Memoriam Prof. Dr. Ivan N. Stranski (1897–1979): One of the Founders of Present-day Theory of Crystal Forms, Crystal Nucleation and Growth. Cryst. Res. Technol. 32.6, 1997, 753–758.

99 Henning/Kazemi 2009 E. Henning/M. Kazemi, Dahlem – Domäne der Wissenschaft. Ein Spaziergang zu den Berliner Instituten der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft im „deut- schen Oxford“. Veröff. Archiv MPG 16.1, 2009, 93–119; engl. Ausgabe 16/II, 93–118.

Heyer 1966 H. Heyer, Neuere Untersuchungen zur Kinetik des Kristallwachstums. Angew. Chem. 78, 1966, 130–141.

Honigmann 1972 B. Honigmann, Kristallkeim kontra Schraubenversetzung. In: Akademisches Festkolloquium anlässlich der Vollendung des 75. Lebensjahres von Prof. Dr. Dres. h. c. I. N. Stranski am 7. 1. 1972, TUB. Univ.-Archiv, Biographische Samm- lung, 2–11.

Kaischew 1981a R. Kaischew, Gedenkvortrag. In: J. Starnick (Hrsg.), Gedenkkolloquium anläss- lich des 1. Todestages von Prof. Dr. phil., Dr. h. c. mult. Iwan N. Stranski (Berlin 1981) 17–32.

Kaischew 1981b R. Kaischew, On the history of the creation of the molecular-kinetic theory of crystal growth. Honoring the memory of I. N. Stranski. Journ. Crystal Growth 51, 1981, 643–650.

Kern 1967 R. Kern, Zu Problemen der Kristallographie. Humanismus u. Technik 11.3, 1967, 82–84.

Kölbel 1963 H. Kölbel (Hrsg.), Verleihung der akademischen Würde Ehrensenator an Herrn Professor Dr. phil. habil. Johannes Erich Heyde und Herrn Professor Dr. rer. nat. h. c. Dr. rer. nat h. c. Dr. phil. Iwan N. Stranski durch die Technische Universität Berlin, 15. Juli 1963. TUB Akad. Reden 24, 1963, 1–11; 29–36. Kossel 1927 W. Kossel, Zur Theorie des Kristallwachstums. Nachr. Ges. d. Wiss. Göttingen, Math.-phys. Klasse 1927, 135–143.

Lacmann 1972 R. Lacmann, I. N. Stranski. The Growth of Snow Crystals. Journ. Cryst. Growth 13, 1972, 236–240.

Lacmann 1981 R. Lacmann, Iwan N. Stranski, 2.1.1897–19.6.1979. Z. Kristallographie 156, 1981, 167–175.

100 Lacmann 1987 R. Lacmann, Max Volmer und Iwan N. Stranski. In: W. Ribbe (Hrsg.), Berlinische Lebensbilder. Naturwissenschaftler (Berlin 1987) 329–342.

Linke 2013 D. Linke, Stranski, Ivan Nikolov, Physikochemiker. Neue Dt. Bibliographie 25, 2013, 475–476.

Markov 1996/97 I. Markov, The scientific legacy of Professor Ivan Stranski. Bulgar. Chem. Comm. 29.3/4, 1996/97, 383–397.

Mischeva 1991 V. Mischeva, Wissenschaftliche Schulen und wissenschaftliche Organisation – Die Begründung der bulgarischen physikalisch-chemischen Schule durch I. Stranski und R. Kaišev. Wissenschaft und Schulenbildung, Alma mater jenensis, Studien zur Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte 7, 1991, 97–103.

Platikanov 1996/97 D. Platikanov, Prof. Ivan Stranski (1897-1979). Bulgar. Chem. Comm. 29.3/4, 1996/97, 379–382.

Poggendorff 1961 R. Zaunick/H. Salié, Stranski, Iwan N. In: J. C. Poggendorff (Hrsg.), Biographisch- literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften VIIa, Teil 4: S-Z (I) (Berlin 1961) 564–566.

Šaskolskaja 1978 M. P. Šaskolskaja, O²erki o svojstvach kristallov (Moskau 1978).

Starnick 1981 J. Starnick (Hrsg.), Gedenkkolloquium anlässlich des 1. Todestages von Prof. Dr. phil., Dr. h. c. mult. Iwan N. Stranski (100 Seiten, Berlin 1981).

Steinhauser et al. 2011 T. Steinhauser/J. James/D. Hoffmann/B. Friedrich, Hundert Jahre an der Schnitt- stelle von Chemie und Physik: Das Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesell- schaft zwischen 1911 und 2011 (Berlin 2011; zeitgleich auch engl. Ausgabe).

Stranski 1928 I. N. Stranski, Zur Theorie des Kristallwachstums. Zeitschr. physik. Chem. 136, 1928, 259–278.

101 Stranski/Kr©stanov 1938 I. N. Stranski/L. Kr©stanov, Die orientierte Ausscheidung von Ionenkristallen aufeinander vom Standpunkte der Kristallwachstumstheorie. Neues Jahrbuch f. Mineralogie, Geologie und Paläontologie A74, 1938, 305–317.

Stranski 1963 I. N. Stranski, Eine Plauderei über das Schaffen in der Kunst und in den exakten Wissenschaften. Humanismus und Technik 9.1, 1963, 21–25.

Tassev/Bliss 2008 V. Tassev/D. Bliss, Stranski, Krastanov and Kaischew and their influence on the founding of crystal growth theory. J. Crystal Growth 310, 2008, 4209–4216.

Volmer 1957 M. Volmer, Widmungsheft für Iwan N. Stranski zum 60. Geburtstag. Zeitschr. Elektrochemie 61.1, 1957, 1–2.

Zeitz 2006 K. Zeitz, Max von Laue (1879–1960). Seine Bedeutung für den Wiederaufbau der deutschen Wissenschaft nach dem 2. Weltkrieg (Stuttgart 2006).

ʂʲ˕ˊ˓ʵ 1997 ɸ. ʂʲ˕ˊ˓ʵ, ʃʲ˙ˣˑ˓˘˓ ˑʲ˖ˏʺʹ˖˘ʵ˓ ˑʲ ˔˕˓˟. ʹ-˕ ɸʵʲˑ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ ˆ ˑʺʶ˓ʵ˓˘˓ ʵˏˆˮˑˆʺ ʵ˨˕ˠ˙ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑʲ˘ʲ ˘ʺ˓˕ˆˮ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˑˆˮ ˕ʲ˖˘ʺʾ. ʈ˔ˆ˖ʲˑˆʺ ˑʲ ɩ˨ˏ- ʶʲ˕˖ˊʲ˘ʲ ʲˊʲʹʺːˆˮ ˑʲ ˑʲ˙ˊˆ˘ʺ 110.2, 1997, 22–28.

ʂˆˏ˓˦ʺʵ 2009 ɫ. ʂˆˏ˓˦ʺʵ, ɳˆʵ˓˘, ʹʺˇˑ˓˖˘ ˆ ˑʲ˙ˣˑ˓ ˑʲ˖ˏʺʹ˖˘ʵ˓ ˑʲ ʲˊʲʹʺːˆˊ ʁ˭ʴ˓ːˆ˕ ɼ˕˨˖˘ʲˑ˓ʵ. ʃʲ˙ˊʲ 19.1, 2009, 75–79.

ʂˆˏˣʺʵ/ʈ˘˓ˮˑ˓ʵ 2003 ɧ. ʂˆˏˣʺʵ/ʈ˘. ʈ˘˓ˮˑ˓ʵ (Hrsg.), ɧˊʲʹʺːˆˊ ʇ˓˖˘ˆ˖ˏʲʵ ɼʲˆ˦ʺʵ, ɳˆʵ˓˘, ˔˓- ˖ʵʺ˘ʺˑ ˑʲ ˑʲ˙ˊʲ˘ʲ, (ʈ˓˟ˆˮ 2003, ʵ˘˓˕˓ ʹ˓˔˨ˏˑʺˑ˓ ˆ˄ʹʲˑˆʺ 2011).

ʂˆˏˣʺʵ 2006 ɧ. ʂˆˏˣʺʵ, ɯʹˑʲ ˆ˖˘ˆˑ˖ˊʲ ˆ˖˘˓˕ˆˮ ˖ ˊ˓ːʺˑ˘ʲ˕. ʈ˔ˆ˖ʲˑˆʺ ˑʲ ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ˘ʲ ʲˊʲʹʺːˆˮ ˑʲ ˑʲ˙ˊˆ˘ʺ 119.2, 2006, 76–78. ʃʲˑʺʵ 2012 ʒ. ʃʲˑʺʵ, ʆ˕˓˟ʺ˖˓˕ ɸʵʲˑ ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ – ˔˓˄ʲʴ˕ʲʵʺˑˆˮ˘ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ˑʲ- ˙ˣʺˑ ʶʺˑˆˇ. Chemistry, Bulgarian Journal of Science Education/ʆ˕ˆ˕˓ʹˑˆ ˑʲ- ˙ˊˆ ˆ ˓ʴ˕ʲ˄˓ʵʲˑˆʺ, 21.4, 2012, 601–620.

ʇʲʴ˓˘ˑˆˣʺ˖ˊ˓ ʹʺˏ˓ 1989 ʇʲʴ˓˘ˑˆˣʺ˖ˊ˓ ʹʺˏ˓, ɪˏʲʹʺ˘ʺˏˆ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˆ˘ʺ. 12.01.1989, 3.

102 C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2000 ʃ. C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ, ʍˑˆʵʺ˕˖ˆ˘ʺ˘˨˘ ˆ ˟ˆ˄ˆˢˆ˘ʺ. ʃʲˣʲˏ˓ (Sofia 2000).

C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2005 ʃ. C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ, ɸʵʲˑ ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ: ɯʹˑ˓ ʵ˨ˏˑ˙ʵʲ˧˓ ˔˨˘˙ʵʲˑʺ ˊ˨ː ʲˊʲʹʺːˆˣ- ˑˆˮ ʵ˕˨ˠ. ɸˑʹˆʵˆʹ˙ʲˏʺˑ ˑʲ˙ˣʺˑ ˔˕˓ʺˊ˘ (2001-2004) (78 Seiten, unveröffent- lichtes Manuskript).

C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2006 ʃ. C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ, ɸʵʲˑ ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ: ɯʹˑ˓ ʵ˨ˏˑ˙ʵʲ˧˓ ˔˨˘˙ʵʲˑʺ ˊ˨ː ʲˊʲʹʺːˆˣ- ˑˆˮ ʵ˕˨ˠ. ʒˆːˆˮ 14.4, 2006, 311–328.

ʈ˘ʺ˟ʲˑ˓ʵ 2006 ʈ. ʈ˘ʺ˟ʲˑ˓ʵ, ʆ˨˕ʵ˓ːʲˇ˖˘˓˕˨˘ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˑˆˮ ˕ʲ˖˘ʺʾ. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʃʲˢˆ˓- ˑʲˏˑʲ ʊʺˏʺʵˆ˄ˆˮ, 2006.

ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1927/28 ɸ. ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ, ɪ˨˕ˠ˙ ˕ʲ˖˘ʺʾʲ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˆ˘ʺ. ɫ˓ʹˆ˦ˑˆˊ ʈ˓˟. ˙ˑˆʵ., ʑˆ˄.- ːʲ˘. ˟ʲˊ. 24.2, 1927/28, 297–315.

ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1934/35 ɸ. ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ, ʅ˘ʶ˓ʵ˓˕ ˑʲ ʹ˓ˊˏʲʹʲ ˑʲ ʶ-ˑ ɮ. ɩʲˏʲ˕ʺʵ ʵ˨˕ˠ˙ ˖˘˓ˇˑ˓˖˘˘ʲ ˑʲ ˑʲ˙ˣˑˆ˘ʺ ːˆ ˘˕˙ʹ˓ʵʺ ˔ˆ˖ʲˑ ˓˘ ˑʺʶ˓ ˊʲ˘˓ ˕ʺˢʺˑ˄ʺˑ˘ ˆ˄ʴ˕ʲˑ ˓˘ ʈ˨ʵʺ˘ʲ ˑʲ ʑˆ˄ˆˊ˓-ːʲ˘ʺːʲ˘ˆˣʺ˖ˊˆˮ ˟ʲˊ˙ˏ˘ʺ˘. ɫ˓ʹˆ˦ˑˆˊ ʈ˓˟. ˙ˑˆʵ., ʑˆ˄.-ːʲ˘. ˟ʲˊ. 31.2, 1934/35, 355–412.

ɩ. ʊ˓˦ʺʵ 1997a ɩ. ʊ˓˦ʺʵ (Hrsg.), ʈ˓˟ˆˇ˖ˊˆ ˙ˑˆʵʺ˕˖ˆ˘ʺ˘, ɼʲ˘ʺʹ˕ʲ ˔˓ ˟ˆ˄ˆˊ˓ˠˆːˆˮ, ɩˆʴˏˆ˓- ʶ˕ʲ˟ˆˮ 1925-1961 (ʈ˓˟ˆˮ 1997).

ɩ. ʊ˓˦ʺʵ 1997b ɩ. ʊ˓˦ʺʵ, ʆ˕˓˟. ʹ-˕ ɸʵʲˑ ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ. ʒˆːˆˮ 6.1–2, 1997, 68–73.

ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013a ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013a, ɸʵʲˑ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ (˟ˆ˄ˆˊ˓ˠˆːˆˊ) (16.02.2013).

ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013b ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013b, ʇ˓ʹ˨˘ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ, ɮʵ˓˕ˢ˓ʵʲ ˖ʵˆ˘ʲ ˔˕ˆ ʹʵ˓˕ˑ˓˘˓ ˓ʴ˧ʺ˖˘ʵ˓ ˑʲ ʊ˕ʺ˘˓˘˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊ˓ ˢʲ˕˖˘ʵ˓, (16.02.2013)

103 Verzeichnis der Abkürzungen

BAN Bulgarische Akademie der Wissenschaften/ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ɧˊʲʹʺːˆˮ ˑʲ ʃʲ˙ˊˆ˘ʺ BASF Badische Anilin- & Soda-Fabrik DChG Deutsche Chemische Gesellschaft FHI Fritz-Haber-Institut FUB Freie Universität Berlin GDCh Gesellschaft Deutscher Chemiker KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft KWI Kaiser-Wilhelm-Institut MPG Max-Planck-Gesellschaft RWTH Rheinisch-Westfälische Hochschule TH, TU Technische Hochschule, Technische Universität TUB Technische Universität Berlin WM Wissenschaftliches Mitglied

Abbildungsnachweis

Abb. 1: o. A., „Wer ist's? - Iwan N. Stranski“. Nachr. Chem. Technik 15.1, 1967, 5. Abb. 2 bis Abb. 9: Fotos D. Linke.

104 Helmut W. Schaller

Aus Gustav Weigands „Bulgarischer Bibliothek“: Geographie, Eisenbahn und Bergbau in Bulgarien

Betrachtet man die Lehr- und Forschungstätigkeit sowie die zahlreichen herausgeberischen Aktivitäten des Leipziger Romanisten, Balkanologen und Bulgaristen Gustav Weigand (1860-1930) zunächst aus allgemeiner Sicht, so war diese ganz offensichtlich darauf ausgerichtet, der deutschen und der Weltöffentlichkeit die Lage der Balkanvölker vor und nach dem Ersten Weltkriege von wissenschaftlichen Positionen aus zur Kenntnis zu bringen. Sein Interesse für die Balkanvölker, so auch für die Bulgaren, war kein Ergebnis einer zufälligen Regung, wie der bulgarische Historiker Konstantin Kosev schreibt (Kosev 1973), sondern gerade zu seiner Zeit war der Balkan als Urheber von Unruhen und nationalen Zusammenstößen zum neuralgischen Punkt der europäischen Politik geworden. Wie der Ost- und Südosteuropahistoriker Georg Stadtmüller 1942 ausführte, hatte Gu- stav Weigand während zahlreicher Studienaufenthalte und Studienreisen auch in Bulgarien Land, Leute und Sprache in einzigartiger Weise, wie ein Einheimischer, kennengelernt. Zu Fuß und mit dem Maultier durchreiste er die innerbalkanischen Berglandschaften, immer in unmittelbarer Be- rührung mit der Bevölkerung, deren Sprache er beherrschte, deren Sinnes- art ihm wohl vertraut war (Stadtmüller 1962, 86). Es überrascht daher nicht, dass sich Gustav Weigands Interessen nicht nur auf Sprache und Volkskultur der Balkanvölker beschränkten, sondern er als Herausgeber der „Bulgarischen Bibliothek“ auch die Kenntnis des Eisenbahnwesens und des Bergbaus Bulgariens aktiv förderte. Im Jahre 1916 begründete Gustav Weigand seine „Bulgarische Biblio- thek“, die die „Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur Förderung der Be- ziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien“ seit 1997 in „Neuer Folge“ fortsetzt und die seinerzeit von dem bulgarischen Verleger Ivan Parlapanoff in Leipzig verlegt wurde. Die Planung für diese Reihe ging schon mit ihrem ersten Band weit über den philologisch-historischen Bereich der Bulgaristik hinaus, der mit dem Titel Bulgarien. Land und Leute von Anastas Ischirkoff (= Iširkov), Professor der Geographie an der Uni- versität Sofia, verfasst worden war. Für die Weigandsche „Bulgarische Bibliothek“ zeichnete ein Ehrenausschuss mit dem Leipziger Slavisten August Leskien, dem Berliner Meteorologen Karl Kassner, dem Wiener Osteuropahistoriker Otto Uebersberger sowie dem Budapester Slavisten

105 U. von Asboth verantwortlich. Hinzu kam ein Redaktionsausschuss in Sofia mit dem Geographen Anastas Iširkov, Professor Mollov, Ministerial- direktor Herbst und Andrej Proti². In der Vorrede zum ersten Band seiner Reihe schreibt Gustav Weigand:

„Mit der Bulgarischen Bibliothek, deren erste Nummer mit dem vorliegenden Band in die Öffentlichkeit tritt, beabsichtigen wir, dem deutschen Publikum eine Reihe von Hilfsmitteln zu bieten, die über alle Gebiete des öffentlichen Lebens, über Geschichte, Ethnographie, Volkskunde, kurz über alles spezifisch Bulgarische, das einen weiteren Interessentenkreis vermuten lässt, gediegene Auskunft geben und die bulgarischen Quellen, die ja für Deutsche der Sprache wegen schwer zugänglich sind, ersetzen sollen. Es liegt uns fern eine Unter- haltungsbibliothek, hervorgegangen aus dem augenblicklich größeren Inte- resse beider Völker zueinander ins Leben zu rufen, sondern wir erstreben eine wissenschaftliche Leistung von dauerndem Wert, berechnet für den gebildeten Laien und den Gelehrten. Aus diesem Grunde lag es nicht in der Absicht des Herausgebers dem Ganzen einen streng wissenschaftlichen Anstrich zu geben, aber die Wissenschaft soll darin zu ihrem vollen Rechte kommen, und deshalb sind nur durchaus erprobte Mitarbeiter gewonnen werden, die das ihnen ge- läufige Gebiet behandeln werden. Allerdings wird ja, was unausbleiblich ist, der eine Mitarbeiter den wissenschaftlichen Charakter mehr, der andere weni- ger hervorheben. Es war notwendig die Verfasser anzuhalten, den Umfang ihrer Arbeiten auf fünf bis sieben Druckbogen zu beschränken, was die Fach- kritik berücksichtigen möge, wenn sie bei dem einen oder anderen Werke nicht genügende Ausführlichkeit findet“ (Iširkov 1916, V–VI). Gustav Weigand weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass das Zustandekommen der Reihe „Bulgarische Bibliothek“ auch dem Sofio- ter Redaktionskomitee zu verdanken sei. An erster Stelle werden A. Išir- kov, Professor Mollov, A. Proti² und Direktor Herbst genannt, denen es gelungen war, die große Zahl von bulgarischen Autoren für Weigands Plan zu gewinnen. Erwähnt wird von Gustav Weigand auch die Unter- stützung der Reihe durch den bulgarischen Ministerpräsidenten Rado- slavov. Die ersten beiden Bände der „Bulgarischen Bibliothek“ wurden von Anastas Iširkov unter dem Thema „Bulgarien. Land und Leute“ bearbeitet. Weigand hatte über 30 bulgarische Fachleute vorgesehen, die zu verschie- denen Themen des bulgarischen Lebens Monographien verfassen sollten, die aus dem Bulgarischen in das Deutsche zu übersetzen waren, ein Vorhaben, das alleine schon aufgrund seines Umfanges, vor allem aber auch durch die schwierigen Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit nur zu einem Teil verwirklicht werden konnte. Die folgenden, von Gustav

106 Weigand geplanten Bände, konnten aufgrund der Kriegs- und Nachkriegs- verhältnisse nur zu einem kleinen Teil veröffentlicht werden. Die folgenden Bände der „Bulgarischen Bibliothek“ konnten veröffent- licht werden:

– Ing. Dantschoff (= Dan²ov), Sektionschef im Eisenbahnministerium: Das Eisen- bahnwesen in Bulgarien; – Prof. Dr. Arnaudoff (= Arnaudov): Die bulgarischen Festbräuche; – Prof. Dr. Slatarski (= Zlatarski): Geschichte Bulgariens bis zur Unterwerfung Bulgariens unter die türkische Herrschaft 1492. Vorgesehen waren als weitere Bände:

– Prof. Dr. Miletitsch (= Mileti²): Makedonien. Land und Leute; – Prof. Danailoff (= Danailov): Der bulgarische Bauer, eine volkswirtschaftliche Studie. Die folgenden, von Gustav Weigand vorgesehenen Bände konnten da- gegen nicht erscheinen:

– Progymnasialdirektor Staneff (= Stanev): Geschichte Bulgariens von 1492 bis 1914; – Prof. Dr. Filoff (= Filov), Direktor des Nationalmuseums: Antike Kunst in Bulgarien; – Prof. Dr. Noikoff (= Nojkov): Das Bildungswesen in Bulgarien; – Dr. Sakaroff (= Sakarov): Die bulgarischen Staatsfinanzen; – Kir. Popoff (= Popov), Direktor des Königlichen Statistischen Amtes: Volks- wirtschaftliche Entwicklung Bulgariens von 1879-1914; – Prof. Mischaikoff (= Mišajkov): Die Bevölkerung Bulgariens, statistische Studie; – Prof. Dr. Romansky (= Romanski): Ethnographie Bulgariens; – Prof. Michaltscheff (= Michal²ev): Der Marxismus in Bulgarien; – Prof. Mladenoff (Mladenov): Die Bulgaren im Kreise der Indogermanen; – Oberstleutnant Nikoloff (= Nikolov) vom bulgarischen Generalstab: Die Wehr- macht Bulgariens, Entwicklung und jetziger Zustand; – Prof. Molloff (= Mollov): Zivilprozeßordnung in Bulgarien; – Dr. Girginoff (= Girginov): Die bulgarische Verfassung; – A. Nikoloff (=Nikolov): Die bulgarische Gerichts- und Verfassungsorganisation; – B. Angeloff (= Angelov): Iwan Wasoff (= Vazov), der bulgarische Volksdichter; – Dr. Stojanoff (= Stojanov): System der bulgarischen Handelsvertragspolitik; Erschienen ist im Jahre 1919 dagegen die Buchveröffentlichung des Inge- nieurs Radoslawoff (= Radoslavov), Sektionschef im Handelsministerium: Der Bergbau in Bulgarien.

107 Nicht erschienen sind die zwei letzten von Gustav Weigand genannten Buchveröffentlichungen, nämlich:

– Dr. Balabanoff (= Balabanov): Die neuere bulgarische Lyrik; – Prof. Dr. Weigand: Bulgarische Volksliteratur. Als weitere mögliche Autoren der „Bulgarischen Bibliothek“ wurden von Gustav Weigand genannt: Prof. Dr. Schischmanoff (= Šišmanov), A. Protitsch (= Proti²), Prof. Dr. Zankoff (= Cankov), Prof. Dr. Ganeff (= Ganev), Dr. Chr. Tschakaloff (= +akalov), Prof. Dr. Fadenhecht (Iširkov 1916, VI–VII). Weigand schließt seine an Pfingsten 1916 in Leipzig verfasste Vorrede für den ersten Band mit dem folgenden Satz:

„Möge das Werk als erstes der Bibliothek freundliche Aufnahme finden und mit dazu beitragen, unsere jüngsten Bundes- und Kampfgenossen und ihr Land genauer kennen und schätzen zu lernen“ (Iširkov 1916, VIII). Der erste Band der „Bulgarischen Bibliothek“ mit Anastas Iširkovs Bul- garien. Land und Leute ist ausgesprochen naturwissenschaftlich ausgerich- tet, indem hier zunächst Allgemeines, dann die Paläogeographie Bulga- riens, die Oberflächengestaltung des Landes, das Klima, das Pflanzenleben und die Tierwelt behandelt werden. Der Verfasser, Anastas Iširkov, hatte zunächst an der Universität Sofia Geschichte studiert, war dann nach Leipzig gegangen, wo er vor allem Geographie bei Ratzel studierte und mit einer geographischen Abhandlung zu Südbulgarien im Jahre 1895 pro- moviert wurde. Weitere Studien führten ihn nach Berlin, u.a. zum dortigen Geographen von Richthofen, nach Wien sowie nach Paris. In Sofia be- gründete er das Geographische Institut der Universität und war in den folgenden Jahren mit zahlreichen geographischen, nach dem Ersten Welt- kriege auch politisch ausgerichteten Schriften hervorgetreten. Iširkov ver- öffentlichte nicht nur in bulgarischer und deutscher, sondern auch in russischer, ungarischer und tschechischer Sprache. Mit einer Beschreibung des „Zartums Bulgarien“ ging Iširkov im ersten Band seiner 1916 erschienen Darstellung zunächst auf Name, Grenzen, Lage und Größe Bulgariens ein, gefolgt von einem paläogeographischen Überblick und einer Darstellung der Oberflächengestaltung. Hier werden die „Rhodopenmasse“ behandelt, dann das Balkangebirge, die Übergangs- zone im westlichen Mittelbulgarien, das Tundža-Massiv, das dem Balkan vorgelagerte Tal, die Maricaniederung, das Übergangsgebirge im west- lichen Mittelbulgarien, die bulgarischen Ebenen und das Donautafelland. Drei weitere Abschnitte behandeln das Klima, das Pflanzenleben und die Tierwelt Bulgariens. Iširkov vertritt in seiner Darstellung des Klimas die Auffassung, dass Bulgarien hier „stiefmütterlich“ bedacht wurde:

108 „Im Verhältnis zu seiner Breitenlage hat es eine zu niedrige Temperatur; be- züglich der Regenmenge und deren Jahresverteilung, muss man es mehr zu dem kontinentalen Ost-Europa, als zu den Mittelmeerländern oder zentral- europäischen Ländern rechnen, mit denen es sonst in mancher Beziehung eng verbunden ist“ (Iširkov 1916, 99). Zum Pflanzenleben Bulgariens führt Iširkov aus, das Bulgarien als „kleines Land“ mit den anderen Bereichen der Balkanhalbinsel und den benach- barten Teilen Europas und Asiens eng verbunden ist und deshalb nicht als ein selbstständiges Pflanzengebiet betrachtet werden kann, in Bulgarien finden sich Pflanzen die sowohl zur Mittelmeerflora als auch zur mittel- europäischen und osteuropäischen Flora gerechnet werden können (Išir- kov 1916, 103–104). Zur Tierwelt Bulgariens führt Iširkov aus, dass Bul- garien ein noch mäßig besiedeltes Land sei, in dem zahlreiche Raubtiere Unterschlupf fänden, die den Menschen schädigten, indem sie dessen Haustiere bedrohen und das Wild vernichten. Als das schädlichste Tier wird von ihm der Wolf angeführt, gefolgt vom Fuchs, ebenso auch der Schakal. Besonders reichhaltig sei die Vogelwelt Bulgariens, von F. Christo- witsch und O. Reiser werden Hunderte von Vogelarten beschrieben. Der zweite Band von Anastas Iširkovs Bulgarien. Land und Leute, er- schienen 1917, behandelt die bulgarische Bevölkerung, die Volkswirtschaft sowie die Siedlungsverhältnisse. Beigegeben ist diesem Band eine damals aktuelle Eisenbahnkarte. Mit der „Bulgarischen Bibliothek“ sollte in Deutschland ein gründlicheres Verständnis für Bulgarien, überhaupt alles Wissenswerte aus den verschiedensten Gebieten ermöglicht werden. Bei den neun veröffentlichten Bänden handelt es sich um Überset- zungen bulgarischer Originalausgaben, so auch beim ersten und zweiten Teil von Anastas Iširkovs Band drei der „Bulgarischen Bibliothek“ mit dem Titel Das Eisenbahnwesen in Bulgarien mit 24 Bildtafeln und einer Eisenbahn- karte, verfasst von Dr. Jordan Dan²ov , geboren im Jahre 1871 in Sliven, seinerzeit „Ingenieur-Inspektor“ im bulgarischen Eisenbahnministerium. Dan²ov hatte Mathematik in Gand/Belgien und Leipzig sowie Ingenieur- wesen in Zürich studiert. Lange Zeit war Dan²ov Leiter des Eisenbahn- und Eisenbahnstationenbaus in Bulgarien, er war auch für die Gesetz- gebung des Wege- und Verbindungswesens zuständig. Dan²ov hat zahl- reiche Abhandlungen zu Fragen der Verkehrsverbindungen veröffentlicht, u. a. in der „Revue générale des chemins de fer“. Seine 1917 in Leipzig veröffentlichte Darstellung „Das Eisenbahnwesen in Bulgarien“ wurde von Gustav Weigand mit einem Vorwort versehen, das dieser am 6. Januar 1917 verfasst hatte:

109 „Der dritte Band der Bulgarischen Bibliothek soll zunächst den Fachmann über das bulgarische Eisenbahnwesen unterrichten, doch hat der Verfasser es verstanden, das Ganze in einer Weise darzustellen, dass auch das Interesse des Laien gefesselt wird, was vor allem bei dem ersten Teile der Fall ist, in dem die Geschichte der bulgarischen Bahnen mitgeteilt wird. Wie scharf tritt bei dem Verkauf der Linie Rustschuk-Warna, die von einer englischen Gesell- schaft erbaut worden war, das rücksichtslose Eintreten der englischen Regie- rung für ihre Staatsangehörigen hervor! Und was musste sich der bulgarische Staat von der durch die internationale Hochfinanz gestützten Orientbahngesell- schaft gefallen lassen! Macht geht vor Recht, das zeigt auch die Geschichte der bulgarischen Bahnen; doch trotz aller Schwierigkeiten politischer und finanzi- eller Natur hat sich das Bahnnetz mächtig ausgebreitet und wird sich, wie das Kapitel über Zukunftspläne zeigt, weiter entwickeln zur Hebung von Land- wirtschaft, Handel und Industrie. Zwei Linien schneiden bereits den Balkan, die eine folgt dem Iskerdurchbruch, die andere übersteigt den Balkan in einer vielgewundenen Linie über den Bäsowetzberg…“ (Dantschoff 1917, V). Das Inhaltsverzeichnis von Dan²ov Darstellung zeigt, dass zunächst in einem großen Abschnitt unter dem Titel „Eisenbahnbaupolitik und Ent- wicklung des Staatsbahnwesens“ an erster Stelle die Eisenbahnen aus der türkischen Zeit behandelt werden, gefolgt von einer Darstellung des Ausbaus des inneren Bahnnetzes Bulgariens, den Eisenbahnverbindungen mit benachbarten Staaten und den damals aktuellen Zukunftsplänen. Im zweiten Abschnitt der Darstellung zum Thema „Das Staatsbahnnetz und Betriebsergebnisse“ wird nach allgemeinen Ausführungen über die bul- garischen Staatsbahnen, über die Betriebsergebnisse, die Einrichtung und Ausgestaltung des Tarifwesens sowie die Verwaltung des bulgarischen Bahnwesens berichtet. Der dritte und abschließende Abschnitt berichtet über die bulgarischen Industriebahnen. Jordan Dan²ov weist darauf hin, dass das Fürstentum Bulgarien nach der Befreiung im Jahre 1878 nur über eine einzige Eisenbahnlinie verfügte, nämlich die damals in privater Hand befindliche Linie Rus²uk–Varna mit einer Länge von nur 224 Kilometern. Dan²ov schreibt dann, dass

„dem in jeder Beziehung volkswirtschaftlich wie kulturell rückständig geblie- benen jungen Fürstentum daher eine fast unbezwingbare Aufgabe zugefallen sei, nämlich die für die Zukunft unumgänglich notwendigen Grundlagen zur wirtschaftlichen Hebung und staatlichen Wohlfahrt zu schaffen, worunter das wesentlichste und nächstliegende ein rationelles Eisenbahnnetz war“ (Dan- tschoff 1917, 1).

110 Eine schwere Belastung in dieser Anfangszeit des freien Bulgarien war durch den Berliner Vertrag gegeben, der in Bezug auf die verbliebenen Eisenbahnen sowie den Neubau von Eisenbahnen Verpflichtungen auf- erlegt hatte, die in den Artikeln 10 und 38 des Vertrages festgelegt waren. So wurde Bulgarien verpflichtet, die von der Türkei übernommenen Ver- bindlichkeiten gegenüber Österreich-Ungarn oder der Betriebsgesellschaft der Orientbahnen zur Verbindung Konstantinopels mit Westeuropa durch die Eisenbahn zu erfüllen. Diese Verpflichtungen erstreckten sich auf die Verbindlichkeiten der Türkei gegenüber der konzessionierten Gesellschaft der Eisenbahnlinie Rus²uk-Varna. Ein Jahr nach dem Regierungsantritt von Fürst Ferdinand, dem bekanntlich die Förderung des Eisenbahn- wesens ein ganz besonderes Anliegen war, wurde in der bulgarischen Nationalversammlung eine Gesetzesvorlage eingebracht, die die Errich- tung der folgenden Eisenbahnlinien vorsah: Kaspi²an – Šumen – Farnovo – Sevlievo – Love² – Pleven – Sofia – Kjustendil – Jambol – Burgas sowie eine Eisenbahnverbindung zwischen den beiden bulgarischen Schwarzmeer- häfen Varna und Burgas. Geplant wurden in dieser Zeit auch Eisenbahn- verbindungen mit den benachbarten Staaten Bulgariens, so mit Make- donien und Rumänien. Das Gesetz für den Bahnbau im Jahre 1894 sah noch weitergehende Pläne zur Erweiterung des Bahnnetzes vor, nämlich Radomir – Dupnica – Džumaja, mit einer Länge von 75,2 km, Dupnica – Bobov Dol mit einer Länge von 16,1 km, Samovit – Nikopol mit einer Länge von 13 km, Pleven – Love² – Sevlievo – Gabrovo mit einer Länge von 145 km, Sofia – Samokov mit 58 km, Šumen – Smedovo – Sinnica oder Karnobat mit einer Länge von 122 bzw. 104 km, +erven Breg – Orechovo mit 79 km, Eski Džumaja – Osman Pazar mit 26 km, Philippopel – Karlovo mit 65 km sowie Jambol – Kasal Aga² bis zur türkischen Grenze mit 744 km. Damit war ein Gesamtnetz der bulgarischen Bahnen mit 686 km geplant worden. Ergänzt wird in der Darstellung noch das Netz der Indus- triebahnen. Im Abschnitt über die Staatsbahnen und die Betriebsergebnisse wird Allgemeines über die Staatsbahnen, die Betriebsergebnisse, Einrich- tung und Ausgestaltung des Tarifwesens sowie die Verwaltung der bul- garischen Bahnen berichtet. Dass dem Buch von Jordan Dan²ov über das Eisenbahnwesen in Bul- garien auch militärisch-strategische Bedeutung beigemessen wurde, zeigt ein Vermerk im Exemplar der „Library of Congress“ in Washington:

„This volume as Property of the Library of Congress Washington, is lent to the Department of State for Use at the Peace Conference”.1

1 Library of Congress Washington/Class HE 3235, Book: D 3.

111 Bei späterer Gelegenheit, nämlich anlässlich des 50jährigen Jubiläums des bulgarischen Staates im Jahre 1928 hatte Jordan Dan²ov angeführt, dass während des Ersten Weltkrieges die Leitung des bulgarischen Eisenbahn- wesens in den Händen des bulgarischen Generalstabes lag (Dantschoff 1928). Dieser war bestrebt, die Versorgung der bulgarischen Armee mit Munition, Lebensmitteln u. a. unbedingt notwendigem Material herzu- stellen. So baute die bulgarische Heeresleitung sogar während des Krieges noch weitere Eisenbahnlinien aus, die 1919 zum staatlichen Eisenbahnnetz hinzukamen. Der Friede von Neuilly hatte für Bulgarien ein unvollendetes und zerrissenes Eisenbahnnetz zur Folge. So wurde die weitere Förderung des bulgarischen Bahnnetzes nach dem Ersten Weltkrieg eine der wich- tigsten Aufgaben, die jedoch durch die schlechte Finanzlage des Landes und die zerstörte Volkswirtschaft stark behindert wurde. Zusammen- fassend führt Dan²ov in seinem Jubiläumsbeitrag aus:

„Allgemein betrachtet hat sich seit 1919 die Lage der Eisenbahnen, soweit Ver- kehr und Einnahmen in Frage kommen, gebessert, und zwar fast gleichmäßig so bis einschließlich 1924, in dem der Personenverkehr, nach Personenkilo- metern gerechnet, sich gegen das Jahr 1911 – das günstigste vor dem Kriege – um das 2,45fache und der Güterverkehr um das 2,03fache vermehrt hat… Man braucht nicht erst auf die große Bedeutung hinzuweisen, welche das Eisenbahnnetz für die Entwicklung der Volkswirtschaft gehabt hat und noch hat, und welche Rolle es im wirtschaftlichen Ausbau Bulgariens noch spielen wird. Das sind Wahrheiten, die jeder kennt und die keines beson- deren Beweises bedürfen“ (Dantschoff 1928, 329).

„Das Innere unserer Erde ist die Urquelle sämtlicher Güter der Menschheit. Schön und reich ist unser Land! Neben den prächtigen Wäldern und Bergen, fruchtbaren Feldern und Tälern, verbirgt unser Land in seinem Erdinnern große und reiche Mineralschätze“, schreibt Bogomil Radoslavov in einer vom Königlichen Bulgarischen Ministerium für Handel, Gewerbe und Arbeit anlässlich der Tausendjahr- feier des Zaren Simeon des Großen und der Fünfzigjahrfeier der Befreiung Bulgariens im Jahre 1931 auf Deutsch abgefassten Darstellung über das Bergwesen Bulgariens unter besonderer Berücksichtigung der Steinbrüche und Mineralquellen (Radoslavov 1931).2

2 Vgl. dort das am 12. Juli 1931 in Sofia von Prof. Dr. Carl Kassner verfasste kurze Vor- wort: „Trotz seines geringen Umfanges bringt das vorliegende Buch in knapper, klarer Dar- stellung eine außerordentliche Fülle von Belehrung über die reichen bulgarischen

112 Als Band 7 der „Bulgarischen Bibliothek“ veröffentlichte Gustav Weigand bereits im Jahre 1919 diese Darstellung mit dem Titel Der Bergbau in Bul- garien, verfasst von Radoslavov, späterem Diplom-Bergingenieur und Di- plom-Ingenieur Markscheider, zugleich Chef der Bergwerksabteilung beim Königlichen Bulgarischen Handelsministerium. Die Übersetzung des Wer- kes aus dem Bulgarischen ins Deutsche war von Gustav Weigand durch- geführt worden (Radoslavov 1919). Am 10. November 1918 schrieb Gustav Weigand das folgende Vorwort zu diesem Band seiner „Bulgarischen Bibliothek“:

„Dank dem Umstande, dass ich in meiner Jugend als eifriger Sammler von Stufen viel in Bergwerken umher gekommen bin und dadurch mit den techni- schen Ausdrücken des Bergbaues vertraut wurde, sah ich mich in der glück- lichen Lage, die vorliegende Arbeit des Herrn Dr. Radoslavov über den bul- garischen Bergbau ins Deutsche übersetzen zu können, ohne die Hilfe eines Fachmannes in Anspruch zu nehmen. Ja nicht einmal war es möglich, dem Ver- fasser die Übersetzung zur Durchsicht vorzulegen, da wir durch die Zeitver- hältnisse gänzlich von Bulgarien abgeschlossen sind. Aus demselben Grunde erklärt es sich auch, dass die Mineralquellen, die der Verfasser noch bearbei- ten wollte, nicht mit aufgenommen sind. Dadurch ist der Umfang des Werkes kleiner als gewöhnlich, aber dennoch sehr inhaltsreich und belehrend und wird, wie wir hoffen, allen interessierten Kreisen sehr zustatten kommen, wes- halb wir auch glaubten, trotz der Ungunst der Verhältnisse mit der Heraus- gabe des Werkes nicht zögern zu sollen.“ Das Werk gliedert sich in drei Abschnitte, nämlich

I.: Der geologische Bau Bulgariens, II.: Geschichte des alten Bergbaus in Bulgarien und III.: Die Jüngstvergangenheit und die jetzige Lage des Bergbaus in Bulgarien. Im ersten Teil werden das archäische Gebiet, Silur, Steinkohle, Dyas-Trias- Formation, Trias, Kreide, Tertiärformation, Siluvium und Alluvium be- handelt. Im zweiten Teil wird eine Geschichte des alten Bergbaus in Bul- garien, beginnend mit den Römern, dann mit den Sachsen, alten Erzgruben

Bodenschätze. Hierzu kommt der besondere Vorzug, dass der Verfasser selbst seit vielen Jahren an leitender Stelle mitwirkt und somit die zuverlässigsten Angaben zur Hand hat. Ausführliche Tabellen ergänzen den Text ebenso vortrefflich, wie ihn die Profile und Diagramme übersichtlich erläutern. Überall zeigt der Verfasser, wie großes schon geleistet wurde und was noch ausbaufähig ist. Dabei geht er auch an vorhan- denen Mängeln nicht stillschweigend vorüber, und gerade hierdurch erweckt der Verfasser Vertrauen zu seinen Ausführungen. Solches Vertrauen aber ist das beste Lob eines Buches.“

113 und der Epoche der Türkenzeit geboten. Der dritte Teil mit der jüngsten Vergangenheit und der Anfang des 20. Jahrhunderts aktuellen Situation bringt eine Darstellung der Schurfsteine, der Mutungen sowie ein Ver- zeichnis der damals in Betrieb befindlichen Gruben und zwar für Braun- kohle, Steinkohle, Anthrazitkohle, bituminöse Schiefer, Naphtha, Kupfer- erze, Bleierze, Zinkerze, Eisenerze, Manganerze, Silbererze, Silber-Bleierze, Kupfer-Bleierze, Blei- und Zink-Kupfererze, Zinkbleierze und Talk. Radoslavov weist einleitend darauf hin, dass der geologische Aufbau Bulgariens äußerst mannigfaltig sei. In Bulgarien trifft man Schichten und Ablagerungen des größten Teils aller vorkommenden Formationen, von den ältesten bis zu den jüngsten, unabhängig davon gibt es in Bulgarien kleine und große Massive alter und junger vulkanischer Gesteine, die zusammen mit den sehr verschiedenen Sedimentärgesteinen dem ganzen Gebiet einen überaus vielgestaltigen und interessanten petrographischen Charakter geben. Nach Darstellung von Radoslavov ist auch der tek- tonische Aufbau Bulgariens nicht weniger interessant. Es gibt alle Arten von Faltungen, Brüchen, Überschiebungen, Verschiebungen usw., die man verfolgen kann und zwar sowohl bei großen Schluchten, wie auch bei großen verschobenen Schichten, nicht selten sind auch zufällige Vorkomm- nisse, durch die auf ziemlich große Strecken hin die Lagerungen sichtbar werden (Radoslavov 1919, 1). Bogomil Minkov Radoslavov wurde am 4. Juli 1881 in T©rnovo geboren, studierte bis 1904 Bergbau in Freiberg/Sachsen und war dann 1904 bis 1908 erster Direktor des Bergbaugebietes von Pernik. Die Leitung dieses Unter- nehmens hatte er nach dem Ersten Weltkrieg nochmals in den Jahren 1923 bis 1925 inne. 1908 bis 1919 war er Inspekteur und Leiter der Bergbau- abteilung im Bulgarischen Ministerium für Handel, Industrie und Arbeit. Radoslavov förderte die Mechanisierung der Kohleförderung in den An- lagen von Pernik und war auch mit der Grube „Marica“ offiziell befasst. Er starb am 12. Januar 1933 in Sofia. In zwei im Jahre 1928 erschienenen Veröffentlichungen befasste sich Radoslavov mit den Einflüssen der Erderschütterungen im Frühjahr 1928 auf die Mineralquellen und Thermen in Bulgarien (Radoslavov 1928a), der bulgarische Reichtum an Mineralien war Thema einer weiteren Veröffent- lichung (Radoslavov 1928b). In seinem 1931 erschienenen Werk führte Radoslavov aus, dass die Natur sehr großzügig mit Bulgarien verfahren sei, diese Großzügigkeit würde durch die Mannigfaltigkeit des Bodens in geologischer und petro- graphischer Beziehung erklärlich, ebenso auch durch die Verschiedenartig- keit einer komplizierten Dynamik und Tektonik. In der Tat sei der Boden Bulgariens in geologischer Beziehung sehr mannigfaltig. Es finden sich Ab-

114 lagerungen fast sämtlicher Formationen und von diesen wiederum viele ihrer Stufen und Unterstufen. Nicht weniger abwechslungsreich zeigt sich der Boden Bulgariens in petrographischer Hinsicht, wo neben ausgedehn- ten Sedimentärablagerungen verschiedenste Eruptiv- und Tiefengesteine jüngeren und höheren Alters zu finden sind. Auch in dynamischer und tektonischer Hinsicht sei der Boden Bulgariens im Verlaufe verschiedener Zeitalter von größeren und kleineren Faltungen, Verwerfungen, Verschie- bungen und Überschiebungen gekennzeichnet. Besonders stark dürften nach Auffassung Radoslavovs diese Veränderungen in der Mitte und am Ende des Tertiärzeitalters gewesen zu sein, als sich nämlich das Balkan- gebirge, die Sredna Gora, die Rhodopen und andere bulgarische Gebirgs- züge entwickelt hatten. Wichtig erschien Radoslavov die Tatsache, dass diese Prozesse noch bis vor kurzem angehalten hatten, in manchen Gegen- den Bulgariens noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts (Radoslavov 1931, 5). Über die Geschichte des Bergbaus in Bulgarien, insbesondere in der Zeit der Türkenherrschaft, liegen nur sehr wenige Informationen vor. Einiges wenige berichtet 1652 der türkische Reisende und Forscher Ewlia Tsche- lebi. In neuerer Zeit besuchten mehrere Wissenschaftler Bulgarien, sei es auf Einladung der türkischen Regierung oder auf Anregung der Wiener Akademie der Wissenschaften hin, so Franz Toula, Amie Boué, Hoch- stätter, Felix Kanitz. Ihre Forschungsergebnisse hielten sie in den Jahr- büchern der Wiener Akademie der Wissenschaften oder auch in Einzel- veröffentlichungen fest. Zur Zeit der Befreiungskriege 1876 bis 1878 war der Bergbau in Bulgarien aus verständlichen Gründen noch in einem sehr primitiven Stadium. Mit Ausnahme einer sehr eingeschränkten Eisen- gewinnung gab es fast nichts, was als Bergbau beschrieben werden konnte. Auch nach der Befreiung war das Interesse am Bergbau zunächst nur sehr schwach ausgeprägt. Erst als ausgebildete Bergleute auftauchten, wurden sie von den Bulgaren als „imanjari“, nämlich „Schatzsucher“ bezeichnet. Nach der Befreiung Bulgariens gab es für die Führung der Bergwerke, Steinbrüche und Mineralquellen auch keine eigenen Verwaltungen. Diese wurde erst mit der Gründung der Bergwerksabteilung im Jahre 1890 ein- gerichtet, die im Jahre 1912 dem neuen Ministerium für Handel, Gewerbe und Arbeit zugeordnet wurde. Im Jahre 1931 gab es bei dieser Abteilung dann auch eine Sektion für Bergwerke und Steinbrüche, eine weitere Sektion für Mineralwässer, Bäder und Kurorte, eine Sektion für geo- logische, montanistische und geophysische Forschungen, eine metallur- gische, hüttenmännische und Aufbereitungssektion, eine Markscheider- sektion und schließlich auch noch eine Bausektion.

115 Was den Bergbau in Bulgarien in neuerer Zeit betrifft, so war aus wirt- schaftlicher Sicht die Eröffnung des Kohlewerks „Pernik“ im Jahre 1891 von größter Bedeutung. Den größten Abnehmer der Braunkohle stellten nämlich die bulgarischen Staatseisenbahnen dar. Lange Jahre galt es als sicher, dass gerade die Braunkohle aus Pernik für den Eisenbahnbetrieb besonders geeignet war. In der ersten Zeit nach der Befreiung Bulgariens hatte man ausländische Kohle, insbesondere aus England, Deutschland und der Türkei für die Eisenbahnen eingeführt. Nach dem Ersten Welt- krieg konnte die bulgarische Eisenbahn aber auf die Braunkohle von Per- nik zurückgreifen, zu der dann noch andere staatliche und auch private Kohlegruben kamen. Radoslavov erwähnt weiter, dass die Kohleberg- werke in Pernik ausschließlich aufgrund inländischer, bulgarischer Mittel begründet und entwickelt wurden und betont dabei die wirtschaftliche und auch kulturelle Rolle, die sie für das Land gespielt haben. Sie haben am meisten die Entwicklung der bulgarischen Industrie und auch das Eisenbahnwesen gefördert. Auch vom militärischen Standpunkt aus kam den Kohlebergwerken von Pernik eine sehr große Bedeutung zu. So haben in der Zeit des Balkankrieges 1912/13 und auch im Ersten Weltkrieg, als Bulgarien von allen Seiten isoliert war und keine ausländische Kohle ein- geführt werden konnte, die Bergwerke von Pernik mit ihrer, wenn auch damals noch ungenügenden, Kohleförderung den allernotwendigsten Be- darf an Steinkohle decken können und spielten damit aus bulgarischer Sicht eine wichtige militärische Rolle. Die Grube „Pernik“ war übrigens auch das erste technische Unternehmen in Bulgarien, das mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet wurde. An staatlichen Gruben in Bulgarien sind für die Jahre 1879 bis 1884 zu nennen die Grube „Mošino“ und für die Jahre 1891 bis 1925 die Grube „Pernik“, die mit dem 1. April 1925 aufgrund eines besonderen Gesetzes autonom verwaltet wurde. Zu nennen ist ferner die Grube „Bobovdol“ für die Jahre 1890 bis 1928, die Grube „Marica“ für die Zeit von 1917 bis 1931 sowie die Grube „Belnovr©ch“ für die Jahre 1892 bis 1898 bzw. 1915 bis 1919. Die Ausgaben für das Personal und für die in Anwendung gebrach- ten Materialien waren in den Jahren von 1891 bis 1930 stetig gestiegen, lediglich seit dem Jahre 1925/26 waren durch die Selbstständigkeit des Kohlebergwerks „Pernik“ die Beträge für Personal und Materialien zu- rückgegangen. Zu erwähnen ist auch die Tatsache, dass in Bulgarien kaum technisches Personal für den Bergbau zur Verfügung stand, so dass eine größere Zahl von ausländischen Fachkräften nach Bulgarien geholt werden musste. Erst in den dreißiger Jahren waren von den 69 aktiven Bergingenieuren 59 bulgarischer Herkunft, zehn waren russische Staatsangehörige. Von diesen

116 Bergingenieuren hatten 32 ihre Ausbildung in Deutschland erhalten und zwar 19 in Freiberg in Sachsen, neun in Berlin und vier in Aachen. 15 bul- garische Bergingenieure hatten ihre Ausbildung in Leoben/Österreich er- halten, drei in Belgien, einer in der Tschechoslowakei, sechs in Russland, einer in Polen und ein weiterer in den USA. Die ersten Pioniere des bulgarischen Bergwesens nach der Befreiung waren Professor G. Zlatarski, Professor L. Vankov sowie die Berginge- nieure Jordanov, Chr. Andrej²ev, St. Karavelov, T. Cankov, T. Michaj- lovski, Iv. Simeonov, S. Toškov, G. Ivanov, K. Bojadžiev, T. Theodorov und noch manch andere. Zu erwähnen ist hier auch die Tatsache, dass nach der Gründung der bulgarischen Bergwerksabteilung eine entsprechende Berggesetzgebung ausgearbeitet wurde, die von der Nationalversammlung bereits im Jahre 1891 angenommen wurde. Erst im Jahre 1910 trat ein neues Gesetz in Kraft, wobei nunmehr die Nutzung aller Bodenschätze dem Staat vorbehalten wurde. Der Abbau der Bodenschätze konnte in den verschiedenen Regierungs- bezirken Bulgariens als Bergwerkskonzession weitergegeben werden. In Bulgarien ging es bis 1930 nach den Feststellungen Radoslavovs um die folgenden Mineralsubstanzen, wobei an erster Stelle die Kohleförderung stand, gefolgt von Kupfer-, Eisen- und Manganerzen, auch Gold und Silber wurden gefördert, Aluminium, Steinsalz und eine Salzquelle in Varna werden von ihm genannt. Zu erwähnen sind schließlich noch die zahl- reichen Mineralquellen Bulgariens. Nach den Feststellungen Radoslavovs gibt es in Europa kein anderes Land, das auf einer verhältnismäßig geringen Fläche so viele Mineralquellen verschiedener Temperatur, Mineralgehalte, Radioaktivität und Heilkraft besitzt. Bereits die Römer hatten die bulgarischen Heilquellen genutzt, worüber eine ganze Reihe von Ruinen römischer Bäder und Quellenfassungen, so z. B. in Sofia Zeugnis ablegt. Mit diesen Ausführungen konnten nur einige wenige Aspekte des Bergbaus in Bulgarien behandelt werden. Ganz offensichtlich wurde mit dem systematischen, technisch und wissenschaftlich ausgerichteten Berg- bau erst nach der Befreiung Bulgariens begonnen. Eine nicht geringe Rolle spielten dabei die technisch-wissenschaftlichen Beziehungen zu anderen europäischen Ländern, wobei Deutschland mit seinen damaligen wissen- schaftlichen Einrichtungen wohl an erster Stelle zu stehen kommt.

117 Literatur

Dantschoff 1917 J. Dantschoff, Das Eisenbahnwesen in Bulgarien. Bulgarische Bibliothek 3 (Leip- zig 1917).

Dantschoff 1928 J. Dantschoff, Das Eisenbahnwesen. In: I. Parlapanoff (Hrsg.), Jubileen Almanach Carstvo B©lgarija/Jubiläums-Almanach für das Königreich Bulgarien (Leipzig/ Sofia 1928) 327–329.

Iširkov 1916 A. Iširkov, Bulgarien. Land und Leute 1. Allgemeines, Paläogeographie, Ober- flächengestaltung, Klima, Pflanzenleben, Tierwelt. Bulgarische Bibliothek 1 (Leip- zig 1916).

Kosev 1973 K. Kosev, Gustav Weigand (1860-1930) und die Bulgaren. Études historiques 6, 1973, 175–187.

Radoslavov 1919 B. Radoslavov, Der Bergbau in Bulgarien. Bulgarische Bibliothek 7 (Leipzig 1919).

Radoslavov 1928a B. Radoslavov, Influence des tremblements de terre survenues au printemps de l’année 1928. Sur les sources minerals et thermals en Bulgarie (Sofia 1928).

Radoslavov 1928b B. Radoslavov, Mineral wealth of Bulgaria (Sofia 1928).

Radoslavov 1931 B. M. Radoslavov, Das Bergwesen Bulgariens unter besonderer Berücksichtigung der Steinbrüche und Mineralquellen (Sofia 1931).

Stadtmüller 1962 G. Stadtmüller, Dr. Gustav Weigand. In: 200 Jahre Paisij 1762–1962 (1962).

118 Horst Röhling

Von Außenzentren zu Eigenzentren und inländischen Interessen der Abonnenten mathematisch- naturwissenschaftlicher Bücher in Bulgarien 1833-1875

Hildegard Schroeder (1914-1978) in dankbarer Erinnerung

Mehrfach hat der Verfasser bereits auf die hervorragenden Leistungen der bulgarischen Lexikographie aufmerksam gemacht. Ein Speziallexikon zur Erhellung und Verstehensmöglichkeit der bulgarischen Wiedergeburt1 ge- hört dazu. Es erlaubt tiefes Verstehen von Leben, Leiden, Streben und Wir- ken des bulgarischen Volkes im 19. Jahrhundert. Es zeigt an persönlichen Schicksalen, wie Herkunft, Krankheit, Vermögensverhältnissen, Stipendien, Studien, Verhaftung, Gefängnis, Todesstrafen, Unsicherheiten, auch feh- lende Lebensdaten, national wie konfessionell wechselhafte Lebensläufe, internationale Verbindungen und breite Lebenswirklichkeit. Für Fragen der Bildung, Studien und Wissenschaft ist dabei das Zusammenspiel von Außenzentren und Inland2 von besonderer Bedeutung. Dass dabei auch die Frauenbildung bemerkenswert und erstaunlich bedeutsam ist 3, verdient hervorgehoben zu werden. Wissenschaftsgeschichtlich von grundlegender Bedeutung ist der sich verbreitende Anteil von Bulgaren am wissen- schaftlichen Leben unter dem Einfluss des Positivismus, der sich auch die Geisteswissenschaften um naturwissenschaftliche Exaktheit bemühen ließ. Der Verfasser hat versucht, bulgarische Auslandsdissertationen unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands und deutschsprachiger Länder zu analysieren.4 Für die Gesamtheit bulgarischer Wissenschaftsbemühun- gen ist das aber nur die Spitze eines Eisberges. Mit Hilfe des soeben ge- nannten Lexikons, das alle Studiengänge ohne fachliche Begrenzung und sogar auch ohne Abschluss erfasst, lässt sich nicht nur die Herausbildung einer bulgarischen Akademikerschaft präzisieren, sondern auch in die Tiefe wissenschaftlicher Interessen und ihrer Förderung eindringen. Dabei ist

1 Bâlgarskata v©zroždenska inteligencija. Sofija 1988 2 E.Turczynski: Konfession und Nation. Düsseldorf 1976. S.185, 214, 247 und 257f. 3 J.Deimel: Bewegte Zeiten. Frauen in Bulgarien gestern und heute. München 1998. 4 In: Publikationsformen als verbindendes Element buch- und einzelwissenschaftlicher Forschung an slavischen Beispielen. Frankfurt a.M. u.a. 1992. S.163ff.

119 die Entwicklung naturwissenschaftlicher Bemühungen zweifellos ein wich- tiges Eigenkapitel. Zur Tiefe und Breite entsprechender Studien gehört, noch spezieller und entsprechend schwer zu erfassen, das Vorhandensein von naturwissenschaftlichen Interessen. Dies zu verdeutlichen kann ein Aspekt der Buchwissenschaft, den das Lexikon höchst dankens- und schätzenswerter Weise berücksichtigt, helfen. Es handelt sich um die Er- wähnung der Abonnenten5 für bulgarische Bücher jeglicher Art. Die damit gegebene Förderung des bulgarischen Buchdrucks ist von hoher Bedeu- tung für die bulgarische Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Der vorstehende Aufsatz widmet sich den Abonnenten mathematisch- naturwissenschaftlicher Bücher. Sie verraten einerseits das bulgarische Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften, andererseits sind sie ein buchgeschichtlicher Aspekt ihrer Förderung und damit ein Hinweis auf wissenschafts- und geistesgeschichtliche Spezifika. Eine erste entsprechende Analyse gilt zunächst den bulgarischen Drucken der Zeit zwischen 1833 und 1875, unter denen Mathematik und Physik besonders berücksichtigt sind.

I

Hinter 162 Abonnenten naturwissenschaftlich relevanter Veröffentlichun- gen stehen geringfügig mehr Abonnements, weil es einige Abonnenten gibt, die zwei Abonnements eingegangen sind. Allerdings begegnet auch selten die Angabe „abonnierte viele Bücher“ ohne Nennung der Titel. Ein Überblick über die durch Abonnements geförderten Drucke ist thematisch wie zeitlich interessant und aufschlussreich. In zeitlicher Reihenfolge ergibt sich dabei folgendes Bild: Aritmetika 1833 (35 Abonnenten) Aritmeti²esko rukovodstvo 1835 (12 Abonnenten) Stichijnaja aritmetika 1843 (26 Abonnenten) Bolgarska aritmetika 1845 (1 Abonnement) Izvod ot fizika 1849 (33 Abonnenten) Sredstva za predvarane za zaravanie na minimumrelite 1858 (25 Abonnenten) Opitna ²islenica 1857 (9 Abonnenten) Kratka estestvena istorija 1861 (5 Abonnenten) P©lna matematika i fizi²eska geografija 1865 (3 Abonnenten) Sobranie aritmeti²eski zadatâci 1869 (2 Abonnenten)

5 Zur Bedeutung von Abonnenten, Praenumeranten und Subskription im Verlags- und Buchhandelswesen. 2.LBG 2.Aufl., I,10: VI, 81, VII, 298 f.

120 Geometrija pravolinejna 1873 (2 Abonnenten) Fizi²eska geografija 1873 (2 Abonnenten) Kosmografija 1873 (1 Abonnent) R©kovodstvo k©m fizika 1874 (2 Abonnenten) Selskijat lekar 1875 (1 Abonnent) Thematisch zeigt der Überblick ein durchgängiges Interesse an Mathe- matik/Arithmetik. Die Medizin, die im Gesamt des bulgarischen Interesses auf dem Studiensektor einen hervorragenden Platz einnimmt, ist wenig, aber sowohl bulgarisch-spezifisch mit dem „Dorfarzt“ und im internatio- nalen Zusammenhang mit dem „Scheintod“6, einem heute in der Medizin nicht mehr gebräuchlichem Begriff, vertreten. Das Schwanken der Abonne- mentszahlen erklärt sich zum Teil aus der zeitlich dichten Folge ein- schlägiger Veröffentlichungen, wie z.B. Arithmetik 1833 und 1835, die dann 1843 wieder steigt, 1865 drastisch zurückgeht. Hoch ist die Abonne- mentszahl am Anfang, wie auch der Auszug aus der Physik zeigt. Schließ- lich dürften auch die finanziellen Möglichkeiten der Abonnenten eine Rolle spielen. Das Ausgreifen in die physikalische Geographie, aber auch die Beachtung von Naturgeschichte und Kosmographie verdienen Beachtung. Zweifellos ragt das mathematisch-physikalische Interesse von 72,2% aller Abonnenten heraus. Aufschlussreiche Ergebnisse bietet der Blick auf alle Abonnenten, die jetzt in der Abfolge der Drucke vorgenommen wird.

II

Bereits die „Arithmetik“ von 1833 zeigt in ihren Abonnenten ein ein- drucksvolles Bild von den Trägern bulgarischer Bildungsbemühungen im 19.Jahrhundert. Neben einem Lehrer taucht ein zweiter Lehrer in einer Metohie auf, der 1834 Archimandrit und später Igumen wurde. Zwei wei- tere Archimandriten schließen sich an. Alle übrigen Abonnenten sind Pfar- rer, 31 an der Zahl. Zwei von ihnen abonnierten außer der „Arithmetik“ von 1833 auch das Arithmetik-Handbuch von 1835 bzw. die Elementar- arithmetik von 1843. Die Schwierigkeit, genaue Daten für ein Lexikon der Wiedergeburtszeit zu sammeln, zeigt sich darin, dass genaue Lebensdaten von allen 35 Abonnenten fehlen. Wesentlich besser sieht es mit Angaben zu den Orten ihrer Tätigkeit aus, sodass eine Art bulgarischer „Bildungs-

6 Einen heiter.makabren literarischen Reflex findet man bei Werner Bergengruen: Der Tod von Reval. 1965. – Zur Medizin des gesamten Raums jetzt: Theodor Daniela Sechel (Hrsg.): Medicine within and between the Habsburg and Ottoman Empires 18th-19th centuries. Bochum 2011.

121 geographie“ der Wiedergeburtszeit möglich wird. Es begegnen Gabrovo 6 Mal, das Gebiet von Elena 6 Mal (Zlatarica 2, Bebrovo 2 Mal), Drjanovo 4, das Gebiet von Târnovo 4 (Kapinovo 1, Kadi +iflik 2, Debelec 1), Svištov 3, Samokov 3, Pleven 2, Trjavna 2, je einmal Kazanl©k, Kovanl©k, das heute zu Rumänien gehörende Braila und einmal fehlt eine Angabe. Bei sehr eindeutigem Ergebnis der Berufe der Abonnenten zeigt sich in der geo- graphischen Breite ihrer Tätigkeit eine Schwerpunktbildung mit Gabrovo, Elena, Drjanovo und Târnovo, die 20 von 35 Abonnenten betreffen, also 57,1%. Der Verfasser der „Arithmetik“ hatte theologisch-klösterlichen Bildungshintergrund, war Mönch und Lehrer. Er gründete auch eine Schule mit Bedeutung für ganz Bulgarien7. Christaki/Christo/Chrisant lebte von 1804 bis 1848. Die „Arithmetik“ wurde in Serbien (Belgrad) gedruckt, in gewisser Weise ein Hinweis auf Außenzentren. Die gleichen Fragen sind nun an die Abonnenten der weiteren Drucke zu richten, bevor am Ende eine Zusammenfassung erfolgt.

III

Das bereits zwei Jahre nach der „Arithmetik“ erschienene „Arithmetische Handbuch“ des Jahres 1835 bringt es auf 12 Abonnenten, darunter einen, der bereits oben mit einem Abonnement für die „Arithmetik“ von 1833 erwähnt wurde. Das „Handbuch“ 1835 wurde ebenfalls in Serbien ge- druckt. Sein Autor ist ein Großer der bulgarischen Wiedergeburtszeit, Neofit Chilendarski-Bozveli (ca.1785-1848)8, der nun wieder ganz dem kirchlich-klösterlichen Leben zuzuordnen ist. Unter den Abonnenten des Handbuches sind 8 geistliche, 3 Igumene und ein Archimandrit. Partiell vergleichbar mit den entsprechenden Angaben bei der „Arithmetik“ sind die geographischen Bezüge beim „Handbuch“ mit vier Mal Svištov, 3 Mal T©rnovo (darunter einmal mit Fragezeichen), je einmal Pleven, Trojan, Stara Zagora, Karlovo und Sopot (mit Fragezeichen). In allen zwölf Fällen sind die Lebensdaten unbekannt.

IV

Zwischen dem Erscheinen des „Handbuchs“ 1835 und der in Smirna gedruckten „Elementarmathematik“ von 1843 liegen immerhin acht Jahre. Das bewirkt wohl auch den Anstieg der Abonnenten auf 26, die das Buch

7 B©lgarska v©zroždenska inteligencija. S.448f. 8 Ebda. 461f.

122 des griechischen Autors At. Geraki, übersetzt von dem Diakon und Lehrer Radulov, Sava (ca.1817-1887) durch ein Abonnement förderten. Die beruf- lichen Tätigkeiten der Abonnenten zeigen im Prinzip das Bild, das bereits gewonnen wurde, es ist aber eine leichte Differenzierung zu bobachten. Neben die dominierende Position der Pfarrer mit 19 Abonnenten tauchen die Lehrer mit 5, darunter ein „Zellenlehrer“ auf und zwei Mal erscheint die Berufsangabe Pfarrer und Lehrer. Eine weitere Differenzierung ist bei den Orten zu beobachten, an denen die Abonnenten wirkten. Bei zwei von ihnen fehlen die entsprechenden Angaben. An der Spitze steht Panag- jurište und sein Gebiet (Strelca) mit 5 Nennungen, gefolgt von Karlovo (3), Vraca bzw. sein Gebiet (Vlasotnica) mit zwei, Samokov zwei, Klisura zwei, Kostenec zwei und je einer Nennung von Pleven (der Abonnent wirkte auch in Vraca und ist dort schon mit erwähnt), Rilakloster, Trojankloster, Koprivštica, Svištov, Ljaskowec, T©rnovo, dem Gebiet von Pazardžik (Patilenica) und Elenea (Zlatarica). Mit der Ausnahme von Nenov, Nestor (1796-1876) fehlen alle anderen Lebensdaten.

V

Die geographische Verbreitung ist als Verbreitung von Interessen und Bildung zu sehen, weil die Abonnenten durchweg als Multiplikatoren zu bezeichnen sind. Das gilt auch, wenn zu beobachten ist, dass sich für die nur zwei Jahre später erschienene bulgarische Arithmetik nur ein Abonne- ment nachweisen lässt. Wie oben bereits beobachtet, geht die Zahl der Abonnenten zurück, wenn zu wenig zeitlicher Zwischenraum zwischen den Publikationen besteht. Die „bulgarische Arithmetik“ wurde in Buka- rest von Kostovi² Si²an-Nikolov, Christodul (1808-1889)9, einem Mit- arbeiter von Neofit Rilski10 und späteren Mitarbeiter eines protestantischen Verlags in Istanbul verfasst. Ihr Abonnent war in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts Pfarrer und Klosterverwalter (Ikonom) in Galac. Seine Lebensdaten sind genauso wenig bekannt wie die der Abonnenten für die unter IV behandelte „Elementararithmetik“, von denen nur Nenov, Nestor (1796-1876) eine Ausnahme ist. Sehr wichtig aber ist das Auftauchen von Bukarest11 im Zusammenhang mit dem naturwissenschaftlichen Buch- druck, weil Bukarest als Studienort für eine heranwachsende bulgarische Akademikerschicht eine große Bedeutung hat.

9 Ebda., 359f. 10 Ebda., 459f. 11 E. Sjupjur: B©lgarskata emigrantska inteligencija v Rum©nija prez XIX vek. Sofija 1972.

123 VI

Mit Najden Gerovs (1823-1900)12 in Belgrad 1849 erschienenem „Auszug aus der Physik“ kommt außer einem Großen der bulgarischen Bildungs- bemühungen im 19.Jahrhundert ein neues mathematisch-naturwissen- schaftliches Fach in den Blick. Dieses erklärt hinlänglich den Anstieg auf 33 Absolventen. Die wechselnden Erscheinungsorte Belgrad, Bukarest, Istan- bul weisen auf das Phänomen der Außenzentren der bulgarischen Kultur- und Wirtschaftsentwicklung im 19.Jahrhundert, aber die Abonnenten auch auf das Zusammenspiel zwischen Außenzentren und Inland. Die Abon- nenten teilen sich in zwei Gruppen, wie bereits bekannt. 28 Pfarrern stehen fünf Lehrer zur Seite. Unter den Lehrern befindet sich ein Zellenlehrer. Unter den Pfarrern wiederum begegnet ein Dorfpfarrer und ein Pfarrer, der zwischen 1873 und 1875 Bischofsverweser war. Mit Ausnahme von D.S.Malinkov (1815-1878)13 und Nestor Nenov (1796-1876)14 fehlen bei allen Abonnenten die genauen Lebensdaten. Bemerkenswert ist eine breitere Differenzierung der Wirkungsorte der Abonnenten. Hier zeigen sich mit Koprivštica (7), Pirot (5) und Orten, die heute in Serbien liegen (4) Schwer- punkte. Mit je zwei Abonnenten in Sopot und Pazardžik, und je einmal Dupnica, Tuiden, Panagjurište, Carobrod, +irpna, Chas`koj (Dobrotica/ Sikistra); Dobri Dol (Kjustendil), Prokuple, Chaskovo, Belovo (Pazardžik), Gradišnica (Vraca), Osmakovo, Kalofer aber ist eine breite geographische Streuung angedeutet, die die Abonnenten, die man auch als Multiplika- toren begreifen kann, erreichen und damit die Verbreitung naturwissen- schaftlichen Interesses und ihrer Kenntnisse.

VII

Ein bemerkenswertes Interesse verraten 25 Abonnenten für ein Thema, das in die Medizin führt, in der es heute nicht mehr unter diesem Namen bekannt ist: Der Scheintod. Ein literarischer Reflex des Interesses, das es einmal genoss, kann bei Bergengrün nachgelesen werden15. Mit Russland kommt dabei ein für die bulgarische Bildungs- und Wissenschafts- geschichte außerordentlich wichtiges Außenzentrum in den Blick, mit dem Erscheinungsort Istanbul ein schon bekannter Bezug. Aus dem Russischen

12 B©lgarska v©zroždenska inteligencija. S.154 f. 13 Ebda., 389 14 Ebda., 457 15 Siehe Anm.6

124 übersetzte es Zacharaij Knjažeski (=Žeko Petrov Rusev 1810-1877)16. In die Phalanx der Abonnenten von Pfarrern (14) und Lehrern (10), darunter eine Lehrerin und ein Lehrer für Griechisch und Türkisch, bricht, vom Thema her erklärlich, ein Apotheker als Abonnent ein. Man kann damit nicht von einer beruflichen Differenzierung sprechen, wohl aber fällt der größere Anteil der Lehrer auf. Erneut weisen die geographischen Bezüge auf Schwerpunkte und wachsende Verbreitung. Haskovo und Kazanl©k sind je vier Mal vertreten, wobei das Gebiet von Kazanlâk mit fünf Mal M©gliž und ein Mal Dolno Sachrane eine auffällige Verstärkung erfährt, hinter der wohl auch persönliche Beziehungen stehen. +irpan und Kara Terzilevo in seinem Umfeld tauchen je zwei Mal auf. Zu den acht Orten mit je einem Abonnenten gehören Žeravna, Love², Gabrovo, Kilifarevo, Šumen, Kanlij und Arabadžievo im Gebiet von Stara Zagora, Charmandi (Panagjuriste und, hervorzuheben, Kubanka in Bessarabien). Bei allen Abonnenten feh- len die genauen Lebensdaten, eine Ausnahme bietet ein Todesjahr 1868.

VIII

Mit der sechs Jahre vorher erschienenen „Opisna ²islennica“ kehrt der naturwissenschaftlich-mathematische Buchdruck zur Mathematik zurück, die es allerdings nach ihrem dominanten Start nur auf neun Abonnenten bringt. Das soll aber nicht hindern, auf diesen Druck betont hinzuweisen, einmal, weil sein Übersetzer mit Bukarest, Athen, Pisa einen bemerkens- werten Bildungshintergrund aufwiese und alte Sprachen, Französisch, Deutsch, Rumänisch, Bulgarisch lehrte, zum anderen der ausgesprochen pädagogische Bezug auffiel. Er übersetzte die 3.Auflage seines Lehrers Ch.Vafa als erste bulgarische und brachte sie 1852 in Carigrad heraus. Aus dem Titel sei zitiert: Opitna ²islennica za upotreblenie na tjach, koito sja u²at na naj-dolnite ²inova na elenskite u²iliste… pervo preveden na blago- slavjanskij jazik ot spisatelen u²enik. Griechische Beziehung, Pädagogi- sches, bulgarioslavische Sprache,. Alles ist von Bedeutung. Vom Über- setzer Zlatev/Zlatevi², Zlatiev/, Christo/Christofor, Christaki/Michajlov17 wissen wir zwar auch die Lebensdaten nicht. Es ist aber genügend bekannt über seine Leistungen und Lebensstationen. Bei den Abonnenten werden erst mal die Lehrer (5) zahlreicher als die Pfarrer (4). Bei den Lehrern ist auch ein Lehrer des Griechischen. Nicht verwundert die Herkunft der Abonnenten aus Šumen (4) und seinen Bezirk (1), weil der Übersetzer in

16 Bâlgarska vâzroždenska inteligencija, 338 17 Ebda., 256

125 Šumen wirkte, hiermit wohl eine gewisse Kollegialität gewirkt haben dürfte. Damit deutet sich das Risiko damaliger Veröffentlichungstätigkeit an. Die vier anderen Abonnenten kommen aus Razgrad (2), Kotel und G. Orjachovica. Letzterer lebte zur Zeit der Veröffentlichung der „Opisna cislennica“ an ihrem Erscheinungsort. Genaue Lebensdaten fehlen erneut.

IX

Die „Kurze Naturgeschichte“, die neben B. Damjanovi² Petâr Kostov Arnaudov, Lehrer und Pfarrer mit Bildung am Moskauer Seminar18 über- setzt hat, erschien 1861 in Wien, einem bedeutenden Außenzentrum der bulgarischen Kultur und Wissenschaft. Das Buch findet fünf Abonnenten, die sich auf Pfarrer (3) und Lehrer (2) verteilen. Ihre Wirkungsorte stim- men mit den Berufen überein. Die Pfarrer wirkten in Elena, die Lehrer in Ruse. Eine hinlängliche Erklärung dafür bietet das Leben des Übersetzers Arnaudov, der in Elena geboren wurde und in Ruse lehrte. Lebensdaten der Abonnenten sind nicht bekannt.

X

Nur drei Abonnenten findet die „Vollständige mathematische und phy- sische Geographie“ von Spiridon Petrov Gramadov, einem Lehrer und späteren Justizbeamten aus Arbanasi19. Als Druckort erscheint in unserem Zusammenhang erstmals mit Ruse ein bulgarischer Ort. Damit zeigt sich der schrittweise Übergang von den Außenzentren ins Inland an. Die drei Abonnenten sind Pfarrer (2) und einmal begegnet, ganz symbolträchtig ein Lehrer, der später Pfarrer wurde. Zwei Mal begegnet dabei als Wirkungs- ort Debrovo/Elena und einmal Senovo/Razgrad, das auch in der Vita S.P. Gramadovs eine Rolle spielt. Genaue Lebensdaten fehlen.

XI

Die Zahl der Abonnenten geht auf zwei zurück für die „Sammlung arith- metischer Aufgaben“20, die der Lehrer und vielfältig tätige Markov Demi- rev, Nestor (1836-1916) herausgegeben hat. Dennoch ist mit diesem Druck

18 Ebda., 46 19 Ebda., 162 20 Ebda., 404f.

126 bedeutendes verbunden, weil mit Chr. Gruev Danov (1828-1911)21 eine sehr bedeutende Gestalt des bulgarischen Verlagswesens als Anreger ins Blickfeld gerät, und mit ihm Buchhandelsfilialen in Bulgarien verbunden sind. Als Druckort erscheint hier wieder Rus²uk. Wie gehabt verteilen sich die beiden Abonnenten beruflich auf Pfarrer und Lehrer, geographisch auf Love² und Pleven, ohne Angabe von Lebensdaten.

XII

Wissenschaftsgeschichtlich Bedeutsames ergibt sich aus der wieder mit N.D.Markov verbundenen und wieder in Ruse gedruckten und von ihm übersetzten und herausgegebenen „Geometrija pravolinejna“. Hinwen- dung zur Geometrie taucht hier erstmals auf und bringt es auf eine leicht gestiegene Zahl von neun Abonnenten. Diese Abonnenten bereiten eine auffällige Überraschung im Vergleich zu bisher Gefundenem. Es sind vier Schüler am Gymnasium in Tabor/+echien und fünf Studenten an der militärmedizinischen Schule in Istanbul, die für die bulgarische Mediziner- ausbildung große Bedeutung hatte. Genaue Lebensdaten fehlen bei allen. Besondere Bedeutung kommt dem Buch aber zu, weil es wichtige Vertreter des Fachs im internationalen Maßstab vermittelt.

XIII

Mit der „Physischen Geographie 1833“ und der „Kosmographie 1873“ ist nicht nur der durch langen Bildungsgang in Istanbul und Russland aus- gezeichnete Dimitâr Poptonev En²ev (1841-1882)22 als Herausgeber und Übersetzer verbunden, der das Werk zweier seiner russischen Kollegen – A.Malinin und K.Burenin, Lehrer am 4.Moskauer Gymnasium, – den Bul- garen zugänglich macht, sondern mit der in T©rnovo und Ruse ansässigen Buchhandlung Mom²ilov23,einer weiteren bulgarischen für das Buchwesen wichtigen Firma. Die Außenzentren verlieren etwas an Bedeutung, die Verbindung zur russischen Wissenschaft bleibt. Bleiben kann auch die Angabe für die wieder ohne genaue Lebensdaten bekannten Abonnenten. Ein Lehrer und ein Pfarrer, beide aus dem Gebiet von Stara Zagora für die

21 Christo D. Brâzicov: B©lgarski knigoizdateli. Sofija 1976. S.11ff. Osnovopoložnik Christo G. Danov. 22 B©lgarskata v©zroždenska intelegencija. S.237. 23 Ebda., 437f.

127 „Physische Geographie“ und ein Lehrer ohne Lebensdaten aus dem Gebiet von Vodica für die „Kosmographie“.

XIV

Mit dem „Handbuch der Physik“ 1874, kehrt Chr. G. Danov als Verleger und Buchhändler mit Filialen nun schon in Plovdiv, Rus²uk, Veles, Prag zurück. Der Verfasser Gjuzelev, Ivan Nedev (1844-1916) lehrte mit breitem Bildungshintergrund in Griechenland und Russland. Nicht überraschen- derweise sind seine beiden Abonnenten Pfarrer ohne genaue Lebensdaten aus Kazanl©k und aus dem Gebiet von Pazaradžik24.

XV

Den Schluss des Überblicks über Abonnenten bulgarischer naturwissen- schaftlicher Bücher des 19.Jahrhunderts bildet die Medizin, die in der allgemeinen akademischen Bildung von Bulgaren in der Wiedergeburtszeit eine große Bedeutung hatte. Bezeichnenderweise ist es eine Schrift des berühmten bulgarischen Gelehrten Ivan Andreev Bogorov (1818-1892)25 und wiederum, bezeichnenderweise auf die bulgarischen Verhältnisse bezogen, eine Schrift über den „Dorfarzt“. Hier kommt noch einmal eine Verbindung von Außenzentrum und Inland zum Zug, weil das Buch zwar in Wien erschienen ist, jedoch in der bulgarischen Druckerei von Janko S.Kova²ev26 (1852-1926) aus Svištov entstanden ist, dessen enge Zusam- menarbeit mit Danov hervorzuheben ist. Der Abonnent des Buches ist ein Archimandrit aus Vidin ohne Lebensdaten, signifikant wie ständig gehabt.

+

Bei Berücksichtigung nur der Orte, die in Bulgarien liegen, also ohne Ser- bien, Rumänien Bessarabien und +echien, ist das Ergebnis im Blick auf die Abonnenten eindeutig. 76,5% sind Pfarrer oder Vertreter von Kirche und Mönchtum, 21,4% Lehrer. Mithin stellen diese Berufe 96,9% aller Abon- nenten. Ein weitgespanntes Netz von 50 Orten, aus denen die Abonnenten

24 Ebda., 173 f. Als Übersetzer und Kürzer hat er auch mitgewirkt an der 1973 in Prag erschienenen „Elementargeometrie von A. Davidov. 25 Ebda., 77 F. D. Endler (Hrsg.): Deutsch-Bulgarische Begegnungen in Kunst und Lite- ratur während des 19. und 20.Jahrhunderts. München 2006. S.10ff.: H.Walter: Ivan Bogorov und Leipzig. 26 B©lgarskata v©zroždenska intelegencija, 34of.

128 kamen, Städte und Dörfer, bietet rein statistische 3,5 Abonnenten pro Buch für die 15 untersuchten Veröffentlichungen. Real reicht das Abonnement von 1 bis 13 Orten. Spitzenpositionen nehmen Elena und Svistov mit je 13, T©rnovo mit 12 und Panagjurište mit 11 Abonnements ein. Da Pfarrer und Lehrer als Multiplikatoren zu bezeichnen sind, kann von einer im Ein- zelnen unterschiedlich gewichtigen Wirkung dieser mathematisch-natur- wissenschaftlichen Literatur gesprochen werden und zwar bei grundsätz- lich breiter geographischer Verbreitung, unter der die Mathematik eine zahlenmäßig besondere Rolle spielt. Eine weitere Studie ist für alle bul- garischen Studenten geplant. Sie wird, da bereits vorhandene Vorstudien dies zeigen, die große Rolle der Medizin verdeutlichen, die in der vor- stehenden Studie, die vor allem Schulfächer betraf, gerade zweimal zu Wort kam. Durchaus in ein positivistisches Wissenschaftsverständnis passt die Tatsache, dass Abonnenten für unterschiedslos Bücher natur- und geisteswissenschaftlichen Inhalts wählten. Die Abonnenten, die mehrmals abonnierten, haben Natur- und Geisteswissenschaften bedacht. Die hier untersuchten Drucke sind zwischen 1833 und 1875 erschienen und ver- raten durchaus eine Entwicklung wissenschaftlicher Interessen und geo- graphischer Verbreitung, zweifellos wegen vorwiegend pädagogischer Zielsetzungen und schulischer Förderung. Bedeutend ist, dass in diesem Zeitraum die Entwicklung von den Außenzentren nach Bulgarien einsetzt und mit Danov und Mom²ilov27 deutlich greifbar wird. Man kann von einem Zusammenspiel zwischen Außenzentren und inländischen Abon- nenten sprechen. Der Verfasser gedenkt, mit einem gewagten Aspekt theo- logischen Denkens zu schließen. Die hohe Zahl kirchlicher Abonnenten für naturwissenschaftliche Veröffentlichungen zeigt eine theologische Un- befangenheit gegenüber den Naturwissenschaften, Geistes- und Natur- wissenschaften werden gleichermaßen gefördert. Gelegentlich wird, auch seitens von Orthodoxen, das Fehlen der Aufklärung bedauert. Hier deutet sich aber eine Gnade der späten Geburt an. Erspart wird eine gelegentlich auch unfruchtbare Auseinandersetzung mit Aufklärung und Naturwissen- schaften. Man übernimmt problemlos Wissenschaft der Aufklärung und steigt in ein positivistisches Wissenschaftsverständnis ein. Theologisch scheint das möglich zu sein, weil eine massive Inkarnationstheologie der Orthodoxie den Weg frei macht für ein ganzheitliches Verständnis des

27 Die bulgarische Buchforschung hat sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts aufmerksam einschlägigen Themen gewidmet. Konstantin Punev: Dragan Man²ov, Sofija 1989; Angel Dimitrov: Apostoli na knigata. -2. Sofija 1984 und 1986. Christo D,. Br©zicov: B©lgarski knigoizdateli. Sofija 1976.

129 geheiligten Menschen und der geheiligten Materie auf dem Weg der Welt zur Vergöttlichung und Alleinheit. Ein Hinweis auf Solov‘ev28 genügt. Dieser Gedanke klingt an in den berühmten Versen des Divan: „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände.“29

28 LThK 9, 2009, p.714f., RGG 4.Aufl. 2004, Sp.1431f. 29 Buch des Sängers, Talismane.

130 Sigrun Comati

Zum Symposium „Bulgarien im europäischen Haus“ am 15. November 2012 in Darmstadt

Es ist zur Tradition der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland e.V. geworden, dass in jedem Jahr ein bis zwei Symposien zu deutsch-bulgarischen The- men abgehalten werden. Im Jahr 2012 fiel die Wahl für den Veranstaltungs- ort auf die geschichtsträchtige Stadt Darmstadt. Dieser Ort spielte für die historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien bereits im 19. Jahrhundert eine ganz große Rolle. Denn Alexander von Battenberg (1857–1893), der Sohn Großherzog Ludwigs II. von Hessen und bei Rhein, wuchs in Darmstadt auf und war ein Zögling des Darmstädter Ludwig- Georg-Gymnasiums. Er schlug eine militärische Laufbahn ein und war von 1879 bis 1886 der gewählte und regierende Fürst von Bulgarien. In der heutigen Zeit hat Darmstadt für Bulgarien wieder eine wichtige Bedeutung erlangt, und zwar aufgrund einer relativ hohen Anzahl von Bulgaren, die im Rhein-Main-Gebiet leben, studieren, arbeiten und ihre Firmenniederlassungen in Hessen haben. Aus diesem Grunde wurde in Frankfurt am Main ein bulgarisches Konsulat eröffnet. Doch von bulga- rischer Seite wurde ganz bewusst Wert darauf gelegt, dass in Darmstadt, wo sich auch der Sitz des Regierungspräsidiums für Südhessen befindet, ein bulgarisches Honorarkonsulat eingerichtet wurde. Das Regierungspräsidium Darmstadt unterstützte dieses Symposium und stellte in seinen repräsentativen Räumlichkeiten am Luisenplatz zwei Säle für die beiden Tagungssektionen dieser Veranstaltung zur Verfügung. Die zahlreichen Gäste wurden vom Regierungspräsidenten, Herrn Jo- hannes Baron, in einer Begrüßungsansprache herzlich willkommen ge- heißen. Danach wurde ein Grußwort des Botschafters der Republik Bul- garien, S. E. Radi Najdenov, vorgetragen. Im Anschluss daran sprach der Honorarkonsul der Republik Bulgarien in Hessen, Herr Ingo-Endrick Lankau, zu den Gästen und hob in seiner Rede die Bedeutung Bulgariens für Darmstadt und Hessen ganz besonders hervor. Und schließlich ergriff Helmut Schaller, als Präsident dieser Gesellschaft, das Wort und begrüßte die Gäste im Namen der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland. Die Organisation dieses Symposiums oblag der Bulgaristin Sigrun Comati. Sie dankte im Namen der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft dem Regierungspräsidium

131 Darmstadt und dabei ganz besonders der Pressereferentin Frau Nicole Ohly-Müller, der Stadt Darmstadt und dem Honorarkonsul der Republik Bulgarien in Hessen, Herrn Ingo-Endrick Lankau, für die freundliche Unterstützung dieser für Darmstadt so wichtigen Veranstaltung. Es folgte eine interessante Präsentation über das Schloss Heiligenberg, den Landsitz der Familie Battenberg, die von Joachim Horn, dem Vor- standsvorsitzenden der Stiftung Heiligenberg Jugenheim vorgetragen wurde. Danach begann die Arbeit in den beiden Sektionen des Symposiums, wobei insgesamt sechzehn Vorträge gehalten wurden. Die Sektion I be- trachtete Geschichte und historische Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland, wobei besonders sprachliche und literarische Aspekte Beach- tung fanden. Hier kamen folgende Vorträge zu Gehör und wurden disku- tiert: Lupold von Lehsten sprach über die Bedeutung der bulgarischen Fürstenwahl 1879 für das Haus Battenberg. Daran schloss sich thematisch sehr gut der Vortrag von Bianca Wieland zu Prinzessin Marie zu Erbach- Schönbergs Reise nach Bulgarien im Jahre 1848 an. Als langjährig tätiger Wissenschaftler referierte Helmut Schaller über die kulturellen und wis- senschaftlichen Beziehungen zwischen Italien und Bulgarien im 20. Jahr- hundert, während Gisela Lindner das Thema der Beziehungen zwischen Bulgarien und Frankreich in Vergangenheit und Gegenwart beleuchtete. Der Vortrag der bekannten bulgarischen Germanistin Emilia Staitscheva von der Universität „St. Kliment Ohridski“ in Sofia hatte den großen Dichter Bulgariens, Ivan Vazov, zum Thema. Hierbei wurde der bisher noch unbekannte Dialog dieses Schriftstellers mit der deutschen Literatur vorgetragen und wissenschaftlich kommentiert, wobei ein Teil dieser Forschungsergebnisse im Jahre 2014 in einer Helmut Schaller gewidmeten Festschrift (Staitscheva 2014) bereits veröffentlicht wurde. An diesen Vor- trag schloss sich der Beitrag des Kenners der bulgarischen Literatur, Diet- mar Endler an, er brachte dem Publikum interessante Ergebnisse seiner Studien zu intertextuellen Zusammenhängen in der bulgarischen Belletris- tik nahe. Beispielsweise erörterte er die Frage zum Auftreten von Phileas Fogg in der Oberthrakischen Ebene (natürlich nur in der bulgarischen Literatur!). Dieser Beitrag wurde bereits im Bulgarien-Jahrbuch 2012 ver- öffentlicht (Endler 2012). Ein weiterer Beitrag der kenntnisreichen und international beachteten bulgarischen Sprachwissenschaftlerin Ruselina Nicolova von der Universität „St. Kliment Ohridski“ in Sofia betrachtete den bulgarischen Admirativ und seine deutschen Entsprechungen. Sigrun Comati referierte über das aktuelle Thema der bulgarischen Sprache im Zeitalter des Internets und der Digitalisierung im Vergleich mit anderen europäischen Sprachen. Abschließend trug in dieser Sektion der Lehrstuhl-

132 inhaber für Südslawistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Thede Kahl, Beobachtungen zum interkulturellen Thema der Bulgarischsprechen- den in Rumänien vor. Die Sektion II widmete sich vorrangig deutsch-bulgarischen Beziehun- gen auf schöngeistigen Gebieten wie Kunst, Musik und Tanz, doch auch zu Themen wie Religion und Migrationsfragen wurde referiert. Der erste Vortrag dieser Sektion von Dilyana Panayotova-Grün war den Merkmalen der bulgarischen Migration in Deutschland am Beispiel von Bayern gewid- met. Es folgte ein Beitrag von Denitza Kisseler zu bulgarischen Künstlern in München, wobei sie diese Kunstbeziehungen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts beleuchtete. Rumjana Zlatanova schloss sich mit einem Vortrag über das Leben und Wirken der bulgarischen Tänzerin Emilia Andonova an. Dieser interessante Beitrag wurde in wesentlich er- weiterter Form bereits veröffentlicht (Zlatanova 2014). Der herausragende Bibliothekswissenschaftler und Publizist auf dem Gebiet der Slavistik und der Ostkirchen, Horst Röhling, thematisierte in seinem Beitrag Bulgarien im Spiegel britischer Hochschulschriften von 1907–2006. Leider war Herr Röhling aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend, deshalb hatte er im Vorfeld der Veranstaltung seinen Beitrag der Organisatorin des Sym- posiums zukommen lassen, so dass der Beitrag verlesen werden konnte. Danach sprach die bulgarische Sprachwissenschaftlerin Radka Vlahova- Rujkova von der Universität „St. Kliment Ohridski“ Sofia zum Merkmal „deutsch“ in der Wertungsskala der bulgarischen Politik und der bul- garischen Politiker. Die Musikwissenschaftlerin Deniza Popova ließ, be- gleitend zu ihrem Vortrag zu „bulgarischen Musiken“, auch interessante Hörbeispiele erklingen, wobei sie auf das Spannungsfeld zwischen Ver- ständnis und Selbstverständnis einging. Der sowohl in der orthodoxen als auch in der evangelischen Kirche bekannte Theologe Hans-Dieter Döpmann hatte seinen Vortrag über die Bulgaren und das Zograf-Kloster ebenfalls vorab an die Organisatorin ge- schickt, mit der Bitte, den Text vortragen zu lassen, da er aus gesund- heitlichen Gründen nicht in der Lage war, zum Symposium nach Darm- stadt zu kommen. Auch dieser Beitrag wurde bereits an anderer Stelle veröffentlicht (Döpmann 2013). Im Anschluss an die Tagung stand für alle Teilnehmer eine sachkundige Führung durch das Schloss Darmstadt auf dem Programm, wobei ganz besonders auf die Familiengeschichte des Alexander von Battenberg ein- gegangen wurde. Für die Abendveranstaltung hatte die Darmstädter Deutsch-Bulgarische Gesellschaft unter der Leitung von Nadezhda Büse herzlich in das Kennedy- Haus eingeladen. Dort klang bei einem Klavierkonzert, dargeboten von

133 Nikolaj Zahariev, und bei einer anschließenden bulgarischen Weinprobe mit Weinmarketing Bossev, dieser ereignisreiche Tag aus. Am nächsten Tag war im Rahmen der Veranstaltung eine Führung durch das Hessische Staatsarchiv anberaumt. Einen solchen Einblick in die Stadtgeschichte wussten alle Teilnehmenden sehr zu schätzen und dankten Archivoberrat Rack für seine Erläuterungen. Die Mitgliederversammlung der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. im Regierungspräsidium Darmstadt bildete den Abschluss dieser gelungenen Veranstaltung. Der Dank an die Organisatoren und Veranstalter war mit dem Wunsch verbunden, in dieser Region in naher Zukunft wieder ein Symposium mit bulgarischer Thematik durchzuführen.

Literatur

Döpmann 2013 H.-D. Döpmann, Die Bulgaren und das Zograf-Kloster. Forum Bulgarien 1(Berlin 2013) 11–20.

Endler 2012 D. Endler, Phileas Fogg in der Oberthrakischen Ebene. Intertextuelles bei Ivan Vazov. Autoren – Figuren – Zitate. Bulgarien-Jahrbuch 2012, 22–40.

Staitscheva 2014 E. Staitscheva, Ivan Vazov im Dialog mit der deutschen Literatur. In: J. Kristoph- son/R. Zlatanova (Hrsg.), Non solum philologus. Vorträge vom 5. November 2010 anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Wilhelm Schaller. Bulgarische Bibliothek begründet von Gustav Weigand, Band 20 (Verlag Otto Sagner München-Berlin-Washington, D.C. 2014) 154-162.

Zlatanova 2014 R. Zlatanova, Eine Bulgarin in Terpsichores Tempel. In: J. Kristophson/R. Zlata- nova (Hrsg.), Non solum philologus. Vorträge vom 5. November 2010 anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Wilhelm Schaller. Bulgarische Bibliothek begründet von Gustav Weigand 20 (München-Berlin-Washington D.C. 2014) 172–193.

134 Ansprache von Ingo-Endrick Lankau, Honorarkonsul der Republik Bulgarien für das Land Hessen, anlässlich des Symposiums der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. „Bulgarien im europäischen Haus“ am 15.11.2012 im Regierungspräsidium Darmstadt

Fürst Alexander I. von Bulgarien – ein Darmstädter

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident Baron, sehr geehrte Mitglieder und Gäste der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. aus ganz Deutschland, liebe Freundinnen und Freunde Bulgariens,

Mit großer Freude darf ich Sie als Honorarkonsul der Republik Bulgarien in Hessen und gleichzeitig auch als zweiter Vorsitzender der Deutsch- Bulgarischen Gesellschaft Darmstadt begrüßen und meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie Ihr diesjähriges Symposium und Ihre Jahresmitgliederversammlung bei uns in Darmstadt durchführen. Die be- grüßens- und unterstützenswerten Aktivitäten der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. und damit auch ein solches Symposium und eine Jahres- mitgliederversammlung haben den Sinn, den in Deutschland lebenden Bulgaren eine Verbundenheit zu geben, kulturellen und wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen und, bei Bedarf, auch Heimweh nach Bulgarien zu bekämpfen. Und auf der anderen Seite sollen Deutsche für Bulgarien, seine geschichtliche, politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung interessiert und eingeladen werden, in einer solchen kulturel- len Vereinigung mitzuwirken und damit auch die Verbundenheit zu Bul- garien als europäischem Mitgliedsstaat zu fördern. Die Veröffentlichungen dieser Gesellschaft tragen in einem hohen Maße dazu bei, die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien zu pflegen. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass jede und jeder von Ihnen möglichst viel Gewinn aus diesen Veranstal- tungen mitnimmt und nach Hause bringt. Wenn wir uns hier treffen, sollte nicht unterlassen werden, darauf hinzuweisen, dass wir uns in Darmstadt und in Südhessen an einem Ort befinden, der für die geschichtliche Entwicklung Bulgariens von ganz

135 herausragender Bedeutung ist. Der erste frei gewählte Fürst von Bulgarien nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft war Alexander Prinz von Battenberg, Fürst Alexander I. von Bulgarien. Fürst Alexander entstammte als Prinz aus hessischem großherzoglichem Haus dem regierenden europäischen Hochadel. Er wuchs auf Schloss Heiligenberg im Ortsteil Jugenheim der heutigen Gemeinde Seeheim- Jugenheim südlich von Darmstadt auf und besuchte mehrere Jahre lang das auch schon damals bedeutende historische Ludwig-Georgs-Gymna- sium in Darmstadt, wo wir seitens der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft Darmstadt e.V. in Gegenwart der damaligen bulgarischen Botschafterin Dr. Meglena Plugtschieva eine Erinnerungstafel an Fürst Alexander enthüllt haben. Vor allem ʲbʺr in Jugenheim, auf Schloss Heiligenberg mit seiner Gedenkstätte, wird die Erinnerung an Fürst Alexander liebevoll aufrecht erhalten, die hierbei tätigen Kreise nennen ihn „Sandro“. Zwar wurde der Fürst 1857 in Verona geboren, ʲbʺr ʺr war von seiner Herkunft tatsächlich ein echter Darmstädter, denn ʺr entstammte unmittel- bar der Familie der Großherzöge von Hessen und bei Rhein und gehörte dadurch zum europäischen Hochadel der regierenden Häuser. Die hessi- schen Landgrafen haben jahrhundertelang von Marburg aus regiert, der Bedeutendste war Philipp der Großmütige, der 1527 in Marburg die erste protestantische Universität gründete und überhaupt der erste protestan- tische Fürst war. Nach der Teilung Hessens auf vier seiner Söhne entstand die Landgrafschaft Darmstadt und Landgraf Ludwig ʒ. wurde 1806 Groß- herzog Ludwig I. Der Vater unseres bulgarischen Fürsten Alexander hieß Alexander von Hessen und bei Rhein und war Bruder des regierenden Großherzogs Ludwig III. Die Schwester der beiden, Marie, heiratete 1840 den späteren russischen Zaren Alexander II. und hieß als Zarin Maria Alexandrovna. So haben wir es in unserer „Fürstenrunde“ mit drei Fürsten Alexander zu tun: Unserem bulgarischen Fürsten Alexander I., dessen Vater Prinz Alexander von Hessen und bei Rhein sowie dessen Schwager und dem Onkel unseres bulgarischen Fürsten, Zar Alexander II. Der Vater unseres Fürsten nun begleitete seine Schwester nach St. Petersburg an den dortigen Zarenhof und machte eine beachtliche militärische Karriere im Dienste des Zaren. Und dort, am Zarenhof, traf ihn der scharfe Pfeil der Liebe: ɯr verliebte sich in eine Hofdame seiner Schwester, was für den Angehörigen eines regierenden europäischen Hauses und des Schwagers des Zaren ein un- erhörter Skandal war, so dass er den russischen Dienst quittieren musste. Er, der Vater unseres bulgarischen Fürsten, ließ sich aber durch nichts von der Liebe zu dieser Hofdame abbringen und entschied sich, sie zu heiraten,

136 was er auch tat. Weil diese Eheschließung aber aus Hochadelssicht nicht ebenbürtig war, die Hofdame Julia Hauke gehörte lediglich niedrigem polnischem Ernennungsadel an, war es die konsequente Folge dieser Ehe- schließung, dass der hessische Prinz seine Thronrechte verlor und von der Erbfolge in Hessen ausgeschlossen wurde. Der Skandal wurde auch nicht dadurch kleiner, dass die beiden auf der Reise von St. Petersburg nach Südhessen heirateten und die Gemahlin dabei schon Mutterfreuden entgegensah. Das änderte natürlich nichts an den engen blutsverwandtschaftlichen Beziehungen. Nur: Die Kinder aus dieser Ehe konnten nicht den Namen des großherzoglichen Hauses Hessen tragen, dem sie entstammten. Der Bruder des hessischen Prinzen, Großherzog Ludwig III., ernannte seine Schwägerin Julia Hauke wenige Tage nach der Eheschließung mit seinem Bruder zur Gräfin von Battenberg und sieben Jahre später zur Fürstin von Battenberg. Von da an hat der Prinz Alexander, der Vater unseres bul- garischen Fürsten, der bis dahin Alexander Prinz von Hessen und bei Rhein hieß, selbst auch den Namen „Fürst von Battenberg“ geführt und mit seiner Frau auf Schloss Heiligenberg gewohnt, das er neben den er- forderlichen Lebenshaltungskosten von seinem Bruder überlassen bekam. Die Familie Battenberg lebte dort mit fünf Kindern. Das dritte dieser Kinder war der spätere Alexander I., Fürst von Bul- garien. Nur zur Abrundung: Das zweite Kind dieser Ehe war Ludwig von Battenberg, der spätere Louis Mountbatten, der die Dynastie der Mount- battens in Großbritannien begründete, so dass in Jugenheim auch die Er- innerung an Louis Mountbatten und seine Nachkommen wach gehalten wird. Unser Alexander schlug ebenso wie sein Vater eine militärische Lauf- bahn ein und nahm in russischen Diensten am Russisch-Türkischen Krieg in Bulgarien teil, der zur Befreiung Bulgariens führte. Und als Ergebnis der geopolitischen und geostrategischen Überlegungen der Großmächte über die Zukunft des Balkan, insbesondere Bulgariens, wurde auf dem Kon- gress 1878 in Berlin, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss des russischen Zaren, entschieden, den Angehörigen eines europäischen hochadeligen Hauses zum ersten bulgarischen Fürsten zu bestellen, der ʲbʺr keinem regierenden Haus angehören sollte, um insoweit Interessenkollisionen auszuschließen. Und so wurde Alexander am 29.04.1879 von der bulgari- schen Nationalversammlung einstimmig zum ersten Fürsten des Fürsten- tums Bulgarien gewählt. Die weitere Entwicklung Bulgariens ist bekannt und würde den Rah- men meines kleinen „Einführungsvortrages“ sprengen. Nur: Durch eine ganz besondere Leistung ist Fürst Alexander den Bulgaren im besonderen

137 Bewusstsein, die bis heute zu seiner breiten Anerkennung führte: Die Vereinigung der unter osmanischem Einfluss gebliebenen autonomen Region Ost-Rumelien mit dem Fürstentum Bulgarien am 06.09.1885 wurde von Fürst Alexander am 08.09. in einem Manifest offiziell vollzogen, so dass das heutige Bulgarien entstand. Und das führte dazu, dass bis heute gerade durch diese Tat die Erinnerung an Fürst Alexander in Bulgarien bei allen unauslöschlich anerkannt ist. In diesem Zusammenhang ist ihm das Zitat zugeschrieben:

„Ich riskiere meinen Thron und mein Leben, doch was soll ich machen? Ich liebe Bulgarien!“ In der Tat führten die von ihm vollzogene Vereinigung und die damit verbundene erhebliche Vergrößerung Bulgariens im Ergebnis zu Putsch- versuchen gegen ihn und letztlich dazu, dass ʺr zur Abdankung gezwun- gen wurde. Nach sieben Jahren war seine Herrschaft auf dem Thron Bul- gariens wieder beendet, und der Fürst hatte im jugendlichen Alter von 29 Jahren seine Zeit als Herrscher schon wieder hinter sich. Überliefert ist ʲbʺr seine tiefe Liebe für „sein“ Bulgarien. Er hat für Bulgarien hohe Opfer gebracht, es ist ihm gelungen, trotz erheblicher ʇr˓blʺmʺ und Widerstände in dieser ersten Entstehungszeit Bulgariens, die entscheidenden und rich- tigen Weichen zu stellen, insbesondere auch mit der Vereinigung von Fürstentum und der Provinz Ost-Rumelien. Interessant ist sein weiteres Schicksal: Immerhin verlobte ʺr sich – übrigens während seiner Zeit als Fürst von Bulgarien – mit der preußi- schen Prinzessin Viktoria, der Tochter von Kaiser Friedrich III., dem so genannten 99-Tage-Kaiser, der seinen Vater Kaiser Wilhelm I. wegen seines Kehlkopfkrebses nur diese wenige Zeit überlebte. Immerhin war Prinzes- sin Viktoria die Enkelin der britischen Königin Viktoria. ɧbʺr der Groß- vater, Kaiser Wilhelm I., und Fürst Bismarck haben aus politischen Grün- den das Verlöbnis missbilligt und die Heirat verboten. Daran erkennt man, in welchen höchsten Adels- und Herrscherkreisen Europas unser Fürst sich anerkanntermaßen bewegte. Fürst Alexander heiratete dann eine Opernsängerin, nahm mit dieser die Namen Gräfin und Graf von Hartenau an und zog sich damit sozu- sagen unauffällig aus der Öffentlichkeit zurück. ɯr trat in den Dienst der Kaiserlichen und Königlichen Armee Österreichs und wohnte mit seiner Familie in Graz, wo ʺr 1893 unerwartet und viel zu früh, im Alter von nur 36 Jahren starb. Die dankbaren Bulgaren haben ihn nach Überführung nach Sofia prunk- voll in einem Mausoleum als bulgarischen Fürsten begraben. Und die Namen seiner Kinder aus dieser Ehe signalisieren seine Liebe zu Bulgarien,

138 der Sohn hieß Asen Ludwig Alexander, Graf von Hartenau und die Tochter Marie Therese Vera Zwetana, Gräfin von Hartenau. In der Gedenkstätte in Heiligenberg ist eine Gedächtniskapelle zugun- sten unseres bulgarischen Fürsten eingerichtet und seine Eltern, der hes- sische Prinz Alexander und seine Ehefrau Julia Hauke, liegen nicht etwa in Darmstadt in der Erbbegräbnisstätte der hessischen Landgrafen und Groß- herzöge, sondern ebenfalls in der Gedenkstätte Heiligenberg, auf eigenen Wunsch „unter freiem Himmel“. Diese Gedenkstätte und seine Herkunft aus Darmstadt, bzw. dem hessi- schen großherzoglichen Haus, sind die enge Verbindung zwischen Hessen und Bulgarien, die wir hier in Darmstadt ganz bewusst pflegen und weiter- entwickeln wollen.

139 Denitza Kisseler

Die Bulgarischen Künstler und München. Kunstbeziehungen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

Die große repräsentative Ausstellung „Die bulgarischen Künstler und München. Die neue Kunstpraxis von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahr- hunderts“ in der Städtischen Galerie Sofia vom 14.12.2008–22.02.20091, deren Anlass das 200jährige Jubiläum der Kunstakademie in München war, thematisierte das für die bulgarische Kunstgeschichtsschreibung wichtige Thema der Anziehungskraft Münchens auf die bulgarischen Künstler, die Auswirkungen interkultureller Beziehungen und Kontakte in Bulgarien und das Verhältnis der bulgarischen Kunst zu den europäischen Kunsttraditionen. Die Ausstellung präsentierte zum ersten Mal gemeinsam die bedeutendsten bulgarischen Künstler, die sich im Zeitraum von ca. 1850 bis 1950 in München aufhielten und ergänzte und präzisierte die bisherigen Untersuchungen zur Rolle und Bedeutung Münchens in diesem Zusammenhang (vgl. Dobrianowa-Bauer 1999; Angelov 2001; Dinova- Russeva 1984; Marinska 1999; Georgieva 2000). In diesen rund 100 Jahren hatten mehrere Generationen bulgarischer Künstler in München aus ver- schiedenen historischen, politischen und wirtschaftlichen Motiven heraus gelebt und gearbeitet. Im Rahmen der Ausstellung konnte auch erstmals die Vita von sieben ehemaligen Schülern der Münchner Akademie auf- gearbeitet werden. Der russisch-türkische Krieg 1877–1878 brachte Bulgarien die Un- abhängigkeit vom Osmanischen Reich. Nach den Beschlüssen des Berliner Kongresses (1878) wurde das bulgarische Territorium in das souveräne Fürstentum Bulgarien und in das weiterhin osmanische, aber autonome Ostrumelien aufgeteilt, bis sich diese Landesteile 1885 vereinten. Die Ent- wicklung der so genannten „neuen bulgarischen Kunst“ begann in Bul- garien mit der Gründung des Nationalstaates. Der entscheidende Unter- schied zwischen den Vertretern der Moderne in Bulgarien und ihren Vor- gängern war die akademische Ausbildung, die anfangs mangels eigener Einrichtungen nur im Ausland zu erhalten war. Bevorzugte Studienorte waren neben München auch Wien, Florenz, Turin und später Rom und Paris. Diese europäischen Kunstzentren blieben ständige Ziele für einen Aufenthalt, auch nach der Gründung der Staatlichen Zeichenschule in

1 Kuratoren Anelia Nikolaeva und Denitza Kisseler.

140 Sofia im Jahre 1896, die 1909 in ‚Kunstindustrieschule‘ und schließlich, 1921, in ‚Kunstakademie‘ umbenannt wurde.2 Diese Institutionalisierung der Kunstausbildung war ein prägendes Merkmal der Modernisierung und bedeutete für die damaligen Verhältnisse einen großen Fortschritt. Im Gefolge von Nikolai Pavlovi² (1835–1894), der als erster (und einziger) Bulgare Mitte des 19. Jahrhunderts an der Münchner Kunstakademie studierte, wurde ein großer Teil der ersten Lehrkräfte an der Zeichenschule in Sofia in München ausgebildet. Ivan Angelov (1864–1924) und die ge- bürtigen Tschechen Ivan Mrkvi²ka (1856–1938) und Jaroslav Vešin (1860–1915), die die Staatsbürgerschaft Bulgariens annahmen und dann als bulgarische Künstler ausstellten, repräsentierten die erste Generation dieser neuen Kunst. Sie waren vor allem Genremaler, die als Vertreter einer realistischen Kunstauffassung angesehen werden können. Zu den in München ausgebildeten Lehrern der Zeichenschule zählen auch die Bild- hauer Žeko Spiridonov (1867–1945) und Marin Vasilev (1867–1931). Sie legten die systematische Grundlage für eine an europäischen Vor- bildern orientierte Kunstpraxis.3 Mit der Möglichkeit, in Bulgarien Kunst zu studieren, wurde es auch üblich, zur Weiterbildung in eine Kunstinstitution oder zur „Horizont- erweiterung“ auch außerhalb einer solchen ins Ausland zu gehen. Dafür gab es neben Privatinitiativen auch kunstpolitisch gesetzte Anreize, wie staatliche Ausschreibungen von Stipendien.4 Meistens hatten die bulga- rischen Künstler ihren Auslandsaufenthalt von vornherein als zeitlich begrenzt und als Vorbereitung auf ihr weiteres Wirken in der Heimat be- trachtet. Sie waren bestrebt, das nach ihrem Verständnis „Beste“ der euro- päischen Kunst aufzunehmen und in ihrem Heimatland zu implemen- tieren. Die Begegnung mit der Kunst des Auslandes war vielfältig, geprägt von großem Respekt gegenüber den „Alten Meistern“ und auch einem kritischen, zuweilen skeptischen Blick auf die zeitgenössische Avantgarde, aber im Prinzip offen und zugleich selbstbewusst. Aus den Arbeiten der

2 Das erste Projekt aus den 1860er Jahren für eine Kunstschule in Bulgarien stammt von Nikolai Pavlovi² (1835–1894). Sein Programm wurde bei der Gründung der Staat- lichen Zeichenschule 1896 zum Vorbild genommen. 3 Bis zu diesem Zeitpunkt bestanden bloß Traditionen mit regional abgrenzbaren Merkmalen in der religiösen Malerei, dem Kirchenbau und im Kunsthandwerk. Nur einzelne Elemente der westeuropäischen bildenden Kunst, wie die Linearperspek- tive bei den Landschaftshintergründen mancher Ikonen oder barocke Ornamente bei Holzschnitzereien an Ikonostasen oder auch bei den einzelnen Ikonen wurden über- nommen. 4 Das Ministerium für Volksbildung vergab seit 1878 21 Stipendien für ein Studium an ausländischen Kunstakademien. Ohne staatliche Unterstützung schlossen im Zeit- raum von 1898 bis 1909 23 Studierende eine Ausbildung an einer Kunstakademie ab.

141 Künstler während des Auslandsaufenthalts und unmittelbar danach lässt sich genau beobachten, welche Einflüsse sie zugelassen haben. Die An- regungen und Aneignungen waren jedenfalls deutlich spürbar, haben den weiteren persönlichen Weg mit gestaltet und in ihrer Umsetzung die Kunstentwicklung in Bulgarien mitgeprägt. Im Vergleich zu Studenten anderer Nationen kamen bulgarische Stu- denten erst mit etwas Verspätung in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahr- hunderts vermehrt nach München. Wie die Studenten der anderen Länder wurden sie nicht nur von der glanzvollen Vergangenheit und dem hervor- ragenden Ruf der Kunstakademie angezogen, sondern auch von der Stadt- atmosphäre. Für viele Bulgaren bedeutete München eine – oft die erste – Begegnung mit der facettenreichen europäischen Hochkultur und die Stadt beeindruckte durch die vielen Sammlungen und Museen, die Intensität des Kunstlebens und den gesellschaftlichen Status, den ein Künstler dort zu erreichen vermochte. Die große Lyrikerin Elisaveta Bagrjana, die Anfang der 1920er in München weilte, beschrieb ihre Erfahrungen:

„Beim Schlendern durch die Ausstellungen fingen wir mit den Klassikern an. Dann gingen wir weiter zu den Modernisten, um die man viel Lärm machte und viel diskutierte...“5 Der Maler De²ko Uzunov äußerte sich über dieselbe Zeit:

„...Dann, als ich nach München kam, hat sich die Tür ganz geöffnet. Wenn ich von meinen eigentlichen Lehrern sprechen soll, ihre Bilder hingen an den Wänden in den Kunstgalerien in München, wo ich studierte, in Wien, Paris, Amsterdam“.6 Bedeutsam für die bulgarische Kunstentwicklung Anfang des 20. Jahr- hunderts war der im Jahr 1903 ins Leben gerufene Künstlerverein „S©vre- menno izkustvo“ (Zeitgenössische Kunst), in dessen Statut proklamiert wurde, man beziehe sich auf die Bewegung der Münchner Sezession, im Sinne eines Bruchs mit der akademischen Tradition. Die Gründungs- mitglieder des Künstlervereins zählten größtenteils zu den ersten Absol- venten der Zeichenschule in Sofia und stammten aus der Klasse von Jaroslav Vešin, der selbst in München neben der Kunstakademie auch die

5 „ʆ˕ˆ ˓ʴˆˊʲˏˮˑʺ˘˓ ˑʲ ˆ˄ˏ˓ʾʴˆ˘ʺ ˄ʲ˔˓ˣˑʲˠːʺ ˖ ˊˏʲ˖ˆˢˆ˘ʺ. ʈˏʺʹ ˘˓ʵʲ ˔˕˓ʹ˨ˏ- ʾˆˠːʺ ˖ ː˓ʹʺ˕ˑˆ˖˘ˆ˘ʺ, ˄ʲ ˊ˓ˆ˘˓ ˖ʺ ʵʹˆʶʲ˦ʺ ːˑ˓ʶ˓ ˦˙ː, ˖˔˓˕ʺ˦ʺ ˖ʺ...”. Fileva/ Genova 2003, 236. 6 „ɸ ˊ˓ʶʲ˘˓ ˄ʲːˆˑʲˠ ˔˓˖ˏʺ ˄ʲ ʂ˭ˑˠʺˑ ʵ˕ʲ˘ʲ˘ʲ ˖˨ʵ˖ʺː ˖ʺ ˓˘ʵ˓˕ˆ. ... ɧˊ˓ ˘˕ˮʴʵʲ ʹʲ ʶ˓ʵ˓˕ˮ ˄ʲ ˆ˖˘ˆˑ˖ˊˆ˘ʺ ˖ˆ ˙ˣˆ˘ʺˏˆ, ˘˓ ˘ʺˠˑˆ˘ʺ ˊʲ˕˘ˆˑˆ ʵˆ˖ˮˠʲ ˔˓ ˖˘ʺˑˆ˘ʺ ˑʲ ˠ˙ʹ˓- ʾʺ˖˘ʵʺˑˆ˘ʺ ʶʲˏʺ˕ˆˆ ʵ ʂ˭ˑˠʺˑ, ˊ˨ʹʺ˘˓ ˙ˣʺˠ, ɪˆʺˑʲ, ʆʲ˕ˆʾ, ɧː˖˘ʺ˕ʹʲː ....”. Fileva/Genova 2003, 290.

142 private Schule von Józef Brandt besucht hatte. Als Vertreter einer moder- neren Ästhetik war Vešin die wichtigste Autorität, geachtetes Vorbild und Inspirator, der die junge Generation in ihrem Bestreben unterstützte. Folgerichtig wurde er auch Vorsitzender des neuen Vereins. Sein künst- lerischer Einfluss setzte im bulgarischen Kontext einen neuen Modernitäts- maßstab, der den Anschluss an die europäischen Tendenzen bewirkte. Von 1890 bis 1920 kamen über dreißig weitere bulgarische Künstler nach München. Die meisten haben sich an der Kunstakademie immatriku- liert, und zwar überwiegend, wie aus deren Laufbahn zu sehen ist, weil sie das solide traditionelle Unterrichtsprogramm schätzten. Mit dieser Aus- bildung waren besagte Künstler später in verschiedenen Städten Bulga- riens als Kunstlehrer tätig und nahmen auch mit traditionell akademischen Werken an regionalen Ausstellungen teil. Beispiele dafür sind Nikola Kanov (1864–1939), Christo Kazandžiev (1874–1952), Alexand©r Obretenov (1878–1945), Sergej Ivanov (1882–1967), Stefan Egarov (1882–1973) und Georgi Atanasov (1874–1950). Ein anderer Teil der im Folgenden näher beschriebenen Künstler jener Zeit aber übernahm eine wegweisende Funktion für das bulgarische Kunstleben und zwar auf den verschiedensten Gebieten. Die Freilichtmalerei der ersten bedeutenden bulgarischen Künstlerinnen war eng mit der Münchner Kunstszene verbunden. Elena Karamichaj- lova (1875–1961) wurde von ihrer fortschrittlichen Familie gefördert und studierte zwischen1898 und 1902 in München an der Privatschule von Heinrich Knirr und an der Damenakademie bei Christian Landenberger und Angelo Jank. Von 1909 bis 1910 lebte und arbeitete sie als frei- schaffende Künstlerin erneut in der Stadt, so dass ihre hellfarbige, luftige Malerei mit ihren deutschen Lehrern in Verbindung gebracht werden muss. Sie schuf vorwiegend Porträts (seltener Landschaften) und Figuren- kompositionen, die eine moderne, subjektive Empfindung widerspiegeln. Nach der Rückkehr nach Bulgarien zeigte ihr Werk eine konsequente Fortsetzung impressionistischer Prinzipien, womit Karamichajlova als eine Vertreterin des Spätimpressionismus in Bulgarien angesehen werden kann. Derselben Linie folgte Elisaveta Konsulova-Vazova (1881–1965). Als Schülerin von Vešin weilte sie mehrmals in München. Ihren ersten Aufenthalt in den Sommermonaten der Jahre 1905 und 1906 schilderte sie so:

„Der Aufenthalt in München, der Stadt, von der ich seit Jahren dank des Ein- flusses unseres Professors Vešin geträumt hatte, war wie ein glücklicher Rausch in allem, wonach ich mich gesehnt hatte. Den ganzen Tag waren meine Freun- din [die Malerin Vita Georgova, Anm. D. K.] und ich in den Pinakotheken, wo

143 wir eifrig kopierten. In diesem Monat gelang es mir, den „Schweren Gang“ des damals zeitgenössischen Malers Fritz von Uhde und „Jupiter und Antiope“ von Veronese zu kopieren.“7 Elisaveta Konsulova-Vazova besuchte Fritz von Uhde sogar in seinem Atelier in der Theresienstraße. In der in Sofia verlegten Zeitschrift „Hudož- nik“ (Künstler) veröffentlichte sie einen Artikel über Uhdes Kunst als Teil einer Serie über Münchner Künstler wie Franz von Lenbach und Franz von Stuck. Von 1909 bis 1910 bildete sich die Künstlerin wieder in der bayeri- schen Hauptstadt bei Heinrich Knirr weiter. 1921 bis 1922 gab es erneut einen längeren Aufenthalt in der Stadt, der allerdings an den bereits entwickelten Präferenzen nichts mehr änderte, die das gesamte weitere Schaffen der Künstlerin bestimmten. Konsulova-Vazova engagierte sich auch sehr für die Verbreitung der europäischen Kultur in Bulgarien. So verfasste sie 1907 die erste kunsthistorische Übersetzung ins Bulgarische, nämlich Auszüge aus der 1899 bis 1902 in Deutschland herausgegebenen Geschichte der Malerei von Richard Muther. Ihre aufklärerischen Initiativen gingen weit über die Kunst hinaus: So war sie zwischen 1934 und 1943 Herausgeberin der Frauenzeitschrift „Beseda“ („Unterhaltung“) und ab 1940 „Dom i svjat“ („Haus und Welt“), in der sie oft unter Hinweis auf Vorbilder in Deutschland fortschrittliche Ideen zur Haushaltsführung vor- stellte. Besonders wichtig waren die unterschiedlich langen Aufenthalte in München zwischen 1902 und 1904 für die künstlerische Entwicklung des ersten bulgarischen Karikaturisten Alexand©r Božinov (1887–1968). Es sind keine Dokumente bekannt, aus denen hervorgeht, dass er irgendeine Ausbildungsstätte besuchte, aber der Jugendstil, die Auseinandersetzung mit den Zeitschriften „Jugend“ und besonders „Simplicissimus“, hatten seinen Stil sichtbar bereichert und einen großen Einfluss auf die Gestaltung der ersten bulgarischen satirisch-humoristischen Zeitschrift „B©lgaran“ (1904–1909), deren Hauptzeichner er war. Ab der dritten Ausgabe wurde Božinov auch zum Redakteur, womit die Blütezeit des Blattes begann. In „B©lgaran“ wurden sowohl Karikaturen von den deutschen Zeichnern des Simplicissimus wie Olaf Gulbransson und Thomas Theodor Heine, als auch einige Karikaturen von dem in Bulgarien geborenen Simplicissimus-

7 „ʆ˕ʺʴˆʵʲʵʲˑʺ˘˓ ʵ ʂ˭ˑˠʺˑ, ˔˓ʹ ˣˆʺ˘˓ ˓ʴʲˮˑˆʺ ʴˮˠ ʾˆʵˮˏʲ ʶ˓ʹˆˑˆ ˑʲ˕ʺʹ ʴˏʲʶ˓- ʹʲ˕ʺˑˆʺ ˑʲ ˑʲ˦ˆˮ ˔˕˓˟ʺ˖˓˕ ɪʺ˦ˆˑ, ʴʺ ʺʹˑ˓ ˧ʲ˖˘ˏˆʵ˓ ˓˔ˆˮˑʺˑˆʺ ˓˘ ʵ˖ˆˣˊ˓, ˄ʲ ˊ˓ʺ˘˓ ˖˨ː ˊ˓˔ˑˮˏʲ. ʔʺˏˆˮ˘ ʹʺˑ ˔˕ʺˊʲ˕ʵʲˠːʺ ˖ ˔˕ˆˮ˘ʺˏˊʲ˘ʲ ːˆ (ˠ˙ʹ˓ʾˑˆˣˊʲ˘ʲ ɪˆ˘ʲ ɫʺ˓˕ʶ˓ʵʲ – ʴʺˏ. ɮ.ɼ.) ʵ ˔ˆˑʲˊ˓˘ʺˊˆ˘ʺ, ˊʲ˘˓ ˊ˓˔ˆ˕ʲˠːʺ ˑʲˇ-˙˖˨˕ʹˑ˓. ʊ˓ˮ ːʺ- ˖ʺˢ ˙˖˔ˮˠ ʹʲ ˊ˓˔ˆ˕ʲː „ʊ˕˙ʹˑˆˮ ˔˨˘ ” ˓˘ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ˘˓ʶʲʵʲ ˑʺː˖ˊˆ ˠ˙ʹ˓ʾˑˆˊ ʑ˕ˆˢ ˟˓ˑ ʍʹʺ ˆ „ʟ˔ˆ˘ʺ˕ ˆ ɧˑ˘ˆ˓˔ʲ” ˓˘ ɪʺ˕˓ˑʺ˄ʺ...“ Konssulova-Vazova 1962.

144 mitarbeiter Jules Pascin publiziert.8 So wurden beispielsweise Pascins Zeichnungen „Die Maske“ (B©lgaran 19.2.1906, S. 3) und „Mann und Frau“ (B©lgaran 12.11.1906, S. 3) in beiden Zeitschriften veröffentlicht. Von großer Bedeutung war München auch für den ersten bulgarischen Bühnenmaler Alexand©r Milenkov (1882–1971). Er studierte1902 ein Semester an der Städtischen Gewerbeschule bei Adolf Dietl. Anschließend spezialisierte er sich auf Bühnenmalerei, die er bei Hans Frahm am Theateratelier der Münchner Oper ausübte. Diese Ausbildung wurde vom bulgarischen Nationaltheater hoch bewertet und deswegen unterstützt. Mit einigen Unterbrechungen verbrachte Alexand©r Milenkov insgesamt drei Jahre bei Prof. Frahm, bis er schließlich 1910 der erste professionelle Bühnenmaler am Nationaltheater in Sofia wurde. Zwei weitere Künstler, die die bulgarische Malerei bereicherten, waren ebenfalls Studenten an der Kunstakademie. Der erste, Alexand©r Muta- fov (1879–1957), besuchte die Kunstakademie „Albertina“ in Turin, bevor ersich in der Malklasse von Ludwig von Löfftz einschrieb und dort von 1902 bis 1903 blieb. In München wurde Mutafov von der Jugendstil- bewegung inspiriert und entdeckte für sich die melancholischen und romantischen Stimmungen des Symbolismus, die lange seine vorwiegend maritimen Landschaftsbilder dominierten. Von seinem Lehrer in München konnte er sich in diesem Genre bestätigt fühlen. Mutafov reicherte seine Werke mit nuanciertem Kolorit an, wurde mit diesen Qualitäten später als Marinemaler hoch geachtet und legte den Grundstein für dieses Genre in der bulgarischen Kunst. Von 1920 bis 1932 lehrte er als Professor für Malerei an der Kunstakademie in Sofia. Der zweite ist Boris Denev (1883–1969); er reformierte schon sehr früh den Zeichenunterricht an den Schulen, an denen er lehrte. Sein ei- gener Kunstlehrer in Veliko T©rnovo, Dimit©r Petkov, war bereits an der Münchner Akademie ausgebildet worden. Außerdem hatte deren über- lieferter guter Ruf seine Wahl bestimmt. Mit den Einnahmen seiner Aus-

8 Jules Pascin/Julius Pincas (1885–1930) wurde in Vidin, Bulgarien geboren. Er stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Seine Kindheit verbrachte er ab 1891 in Bukarest. Er besuchte das Gymnasium in Wien, wo er auch 1902 anfing, Malerei zu studieren. 1904–1905 besuchte er in München die Privatschule von Moritz Heymann. Er wurde Mitarbeiter des „Simplicissimus“ (1905–1913 und 1920–1929). Ende 1905 ließ er sich in Paris nieder und schloss sich der künstlerischen Boheme in Mont- parnasse an. 1907 hatte er seine erste Einzelausstellung bei Paul Cassirer in Berlin. Er unternahm viele Reisen, verbrachte den Ersten Weltkrieg in den USA und kehrte da- nach nach Paris zurück. Sein Schaffen beinhaltet Karikatur, Grafik, Malerei und Aqua- rell und zeigt vorwiegend das verborgene großstädtische Leben. Seine Akte, erotische Szenen und Frauenporträts sind von eleganten und expressiven Linien bestimmt.

145 stellungen in Sofia finanzierte Denev diese Aufenthalte in München. 1910 schrieb er sich an der Kunstakademie in der Malklasse von Ludwig von Löfftz ein. Nach dessen Tod studierte er bis 1913 mit Unterbrechungen bei Carl von Marr und Angelo Jank weiter. Dort wurde ihm ermöglicht, wo- nach er strebte – einerseits das Erlernen der klassischen Maltechniken und Methoden, andererseits die Ermutigung zum Experimentieren mit Farbe und Form, wobei er verschiedene Stilelemente verwendete. In Denevs Landschaften und Kompositionen vereinigen sich impressionistische und symbolistische Tendenzen, es finden sich aber auch expressionistische Ausdrucksweisen. Mit diesem ihm eigenen Stil behandelte Denev meistens bulgarische Sujets. Nach einigen Jahren war er einer der wenigen aus seiner Generation, der als freischaffender Künstler von seiner Kunst leben konnte. Vor allem seine Landschaften beeinflussten maßgeblich die Ent- wicklung diese Genres in Bulgarien. Die Lebenswege der bisher vorgestellten Künstler zeigten die Möglich- keiten und den Rahmen auf, in dem sich die moderne Kunst in Bulgarien am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeln konnte. Angesichts der histo- risch verspäteten Öffnung der bulgarischen Kultur gegenüber dem übrigen Europa ist ein rasches Tempo festzustellen, in dem sich die fortschrittlichen Protagonisten von der akademischen Kunstpraxis ablösten. Diese begaben sich aber dann auf einen unradikalen Weg der Modernisierung, den sie selbst und die bulgarische Gesellschaft aufnehmen, reflektieren und akzep- tieren konnten. Im Gegensatz dazu stand Georges Papazoff (1894–1972), der am offensten und mit größtem Freimut modernistisch experimentierte. Er hatte keine systematische akademische Ausbildung, weilte aber nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich und besuchte in München 1918/19 die Privatschule von Hans Hoffmann. 1924 ließ er sich in Paris nieder und schuf von Träumen inspirierte Werke. Der heute anerkannte Vorläufer und Mitbegründer des Surrealismus stellte auch in Sofia (1919, 1928) aus.9 1934 und 1935 versuchte er erneut, seine Kunst mit einer Reihe von Ausstellungen und Vorträgen in Bulgarien zu verbreiten, blieb aber unverstanden. Enttäuscht kehrte er nach Frankreich zurück und kam nie wieder in seine Heimat.

9 1925 nahm Georges Papazoff in Paris an den ersten Gruppenausstellungen der Sur- realisten zusammen mit Hans Arp, Max Ernst, Paul Klee, André Masson, Joan Miró, u. a. teil. Seine freie und anarchistische Einstellung aber ließ ihn nicht zu der Gruppe von André Breton stoßen. So blieb er unorganisierter Vertreter der surrealistischen Bewegung.

146 Es gibt auch einige andere Bulgaren, die nicht vorwiegend im Land selbst an der Entwicklung der bulgarischen Kunst mitwirkten, sondern sie im Ausland repräsentierten und so einen spezifischen, mit München ver- bundenen Beitrag dazu leisteten. Einer von ihnen ist Nikola Michajlov (1876–1960), dererst in der Privatschule bei Heinrich Knirr war, dann an der Kunstakademie bei Otto Seitz und Alexander von Wagner studierte. Danach betrieb er sogar für kurze Zeit (1900–1902) eine eigene Privatschule in München. Später machte er von Berlin aus eine steile internationale Karriere als Salonmaler. Ein großer Teil seiner frühen Werke lehnt sich an den Symbolismus an, aller- dings mit der Besonderheit, anstelle von Motiven aus der antiken Mytho- logie solche der bulgarischen Legenden und Folklore aufzugreifen. Nach dieser Periode von 1900 bis 1910 wurde Michajlov durch seine wirkungs- vollen und virtuosen Porträts berühmt. Als Mitglied des Vorstands der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft war er zwischen den beiden Welt- kriegen auch politisch einer der wichtigsten Repräsentanten für die Kunst- beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien.10 Da Bulgarien sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg an der Seite Deutschlands stand, war die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft während des Nationalsozialis- mus einer besonderen staatlichen Förderung, aber auch Kontrolle und Kulturpropaganda unterworfen. Michajlov selbst porträtierte in dieser Zeit – wie schon zuvor in der Weimarer Republik – auch hohe Regierungs- repräsentanten und solche aus dem verbündeten Ausland, darunter Adolf Hitler und Mussolini. Trotz dieser Umstände und seines Engagements in der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft stellte er aber auch nach dem Zwei- ten Weltkrieg weiter international aus. Boris Georgiev (1888–1962) war schon früh aus Bulgarien emigriert, verlor aber nie die Verbindung zu seinem Heimatland und hatte dort meh- rere erfolgreiche Ausstellungen. Sein stark von Nikolai Roerich geprägtes Selbstverständnis war das eines Weltbürgers, der eine geistige Mission zu

10 Die Deutsch-bulgarische Gesellschaft (DBG) wurde am 15.2.1916 in Berlin gegründet. Zweigstellen entstanden auch in München, Dresden, Leipzig, Wien, Graz, Breslau und Prag. Ziel war die Verständigung der beiden Völker durch Organisation kultureller Ereignisse. Die DBG arbeitete eng mit den Regierungen beider Länder zusammen und folgte der staatlichen Kulturpolitik. Im Jahr 1934 wurde die Führung von General Ewald von Massow (1869–1943) übernommen. Nachher entwickelte die DBG beson- ders aktive Tätigkeit und lud regelmäßig bulgarische Künstler, Musiker, Schriftsteller und Wissenschaftler nach Deutschland ein. In Bulgarien gastierte im Gegenzug z. B. der Kunsthistoriker Prof. Hubert Schrade, der in der Kunstakademie inSofia eine Reihe von Vorträgen über die deutsche Kunst hielt (1939, 1942). Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs organisierte die DBG den größten Teil des gesamten kulturellen Austauschs zwischen dem Deutschen Reich und Königreich Bulgarien.

147 erfüllen hat.11 Nach einem Studium an der Kunstakademie in St. Peters- burg reiste er im April 1910 nach München und bildete sich an der Kunst- akademie bei Peter von Halm und Angelo Jank weiter. Gleichzeitig be- suchte er Vorlesungen an der philosophischen Fakultät der Münchner Universität. Sein eleganter, linearer Stil, der vor allem aus der italienischen Renaissance schöpfte, wurde in München durch den sezessionistischen Schwung in der Bewegung und eine feine Stilisierung bereichert, wie die erhaltenen Zeichnungen aus dieser Zeit zeigen. In den Folgejahren durch- querte Georgiev zu Fuß ganz Europa und bildete sich an der Freien Schule der Florentiner Kunstakademie im Aktzeichnen weiter. In den 1930er Jahren unternahm er lange Reisen nach Indien, wo er ein Freund Mahatma Gandhis, Rabindranath Tagores und Jawaharlal Nehrus wurde. Er fertigte Porträts von zahlreichen Persönlichkeiten, so etwa von Albert Einstein. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte Georgiev in Italien als frei- schaffender Künstler. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg entstand in Bulgarien eine neue Kunstbewegung, die nach kultureller und nationaler Kontinuität strebte. Es wurde nach Wegen gesucht, die nationale Identität zu betonen und man wandte sich alten Kunstpraktiken aus der Zeit vor der Rezeption der Kunst aus West- und Mitteleuropa zu, die zum Bestandteil einer eigenen moder- nen Ausdrucksform wurden. Viele Künstler wurden so zum Beispiel durch die Ikonenmalerei und Holzschnitzkunst oder das Kunsthandwerk ange- regt. In der Kunstkritik dieser Zeit ist das Hauptthema die Diskussion um die Verbindung von „modern“ und „heimatlich“ sowie von „westlich“ und „östlich“. In gewissem Sinne war dieses Interesse an der eigenen Ver- gangenheit auch durch die Auslandserfahrungen hervorgerufen worden. Zum einen war es das Erlebnis der jeweiligen Traditionen in anderen Ländern, zum anderen schärfte die Distanz zur Heimat die Empfindsam- keit für die eigene Spezifik. Einige wichtige Vertreter dieser Bewegung, der so genannten „Rodno izkustvo“ (Heimatliche Kunst), die während der 1920er Jahre in der bul- garischen Kunst vorherrschte, waren auch mit München verbunden. Dazu zählte der Bildhauer Ivan Lazarov (1889–1952). Nach dem Studium in Sofia kam er als Stipendiat des Bildungsministeriums in die Isarmetropole und im Wintersemester 1917/18 schrieb er sich an der Kunstakademie in

11 Nikolai Roerich (1874–1947) war russischer Maler, Bühnenbildner, Kunsttheoretiker und Archäologe. Bis 1917 war er in St. Petersburg tätig, 1920 übersiedelte er in die USA, 1930 nach Indien. 1929 legte er durch den sogenannten Roerich-Pakt die Grund- lage für die „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Kon- flikten“ (1954). Seine humanistischen Ideen spiegeln sich auch in seiner Malerei, vor- wiegend Panoramalandschaften und Kompositionen aus der Geschichte.

148 der Klasse von Hermann Hahn ein. Aus seiner Autobiographie ist zu er- fahren, dass dieser Aufenthalt seine künstlerische Position maßgeblich prägte. So fand Lazarov in München zu einem Komplex von künstleri- schen Ideen, die seinen weiteren Weg in der Darstellung des bulgarischen Nationaltypus bestimmten. Die entscheidenden Anstöße hierzu sind indes außerhalb der Akademie zu suchen. In seiner Biographie ist zu lesen, dass Lazarov einerseits stark beeindruckt von der ägyptischen Kunst war, die er in den Münchner Museen studiert hatte und durch die ihm die Kraft der klaren, verallgemeinernden und vereinfachenden Formen bewusst gewor- den war.12 Andererseits widmete er dem zeitgenössischen Bildhauer Ernst Barlach besondere Aufmerksamkeit. Als Lazarov wieder in Bulgarien war, erschuf er mit den neu gewonnenen plastischen Ausdrucksmitteln natio- naltypische Motive und Gestalten, die seitdem seine Hauptsujets blieben. Bekanntlich fand die moderne und avantgardistische Kunst spätestens nach dem Ersten Weltkrieg in München weniger Raum. Insbesondere blie- ben dieser Kunst die Türen der Akademie verschlossen. Auf den ersten Blick umso erstaunlicher ist es deshalb, dass München trotzdem seine Attraktivität für die bulgarischen Künstler behielt und deren Zahl gerade in den 1920er Jahren anstieg. Dafür gibt es eine Reihe unterschiedlicher Gründe. Für viele, die den modernen künstlerischen Ausdruck gegenüber den Traditionalisten suchten, erwies sich München als „besonders pas- send“ im Gegensatz zu Berlin, das zwar aufregend, aber auch fremder war. Die bulgarischen Künstler genossen die Zeit in München sehr und aus heutiger Sicht sind diese Aufenthalte tatsächlich anregend, fruchtbar und bereichernd gewesen. Der Verfall der Reichsmark Anfang der 1920er Jahre erleichterte diese Aufenthalte auch erheblich. Ungefähr drei Jahre lang wurde jene Zeit von den Bulgaren als besonders ungewöhnlich und kurios empfunden, denn bis die Einführung der Rentenmark dem ein Ende setzte, lebten sie mit ihren „spärlichen studentischen Mitteln […] wie die Fürsten.“13 Die seit dem Herbst 1922 bestehende bulgarische Kolonie umfasste Studenten, bildende Künstler, Literaten, Musiker und Schauspieler und pflegte ein intensives kulturelles Leben. Dabei wurde das ganze Spektrum des kulturellen Angebots berücksichtigt:

„Meine schönsten Erinnerungen sind […] an die Abende in den großen Kon- zertsälen und in der Oper […] Endlos waren die Gespräche über moderne

12 Vor 1966 waren die Aegyptica in München in verschiedenen Münchner Museen und Sammlungen zerstreut. Diese „Ägyptische Sammlung des Bayerischen Staates“ be- findet sich seit 1970 als Ägyptisches Museum in der Münchner Residenz. 13 Erinnerungen von Fani Popova-Mutafova. Kuzmova-Zografova 2001, 99.

149 Kunst, über die Inszenierungen von Klabund, die Bilder von Picasso und Cha- gall, über die Theaterstücke von Wedekind.“ (Kuzmova-Zografova 2001, 108) Ein guter Kenner des Kulturlebens in der Stadt war +avdar Mutafov (1889–1954). Während seines ersten Aufenthalts (1908–1912, 1913–14) stu- dierte er Maschinenbau. Beim zweiten Mal (1922–1925) studierte er Archi- tektur und gleichzeitig hörte er an der Universität die kunsthistorischen Vorlesungen von Heinrich Wölfflin. Die Anregungen aus dieser Zeit hatten ihm geholfen, seine persönlichen Vorlieben zu finden und nach seiner Rückkehr entwickelte sich Mutafov mit seiner Kunstkritik, Literatur sowie Lehrtätigkeit an der Kunstakademie zu einem der wichtigsten Verfechter der modernen Kunst in Bulgarien. Er beschrieb die spannende und wider- sprüchliche Zeit in München folgendermaßen:

„Es gibt wohl keine andere Stadt in Deutschland wie München, wo die Kunst so zurückhaltend und gleichzeitig kühn ist: Traditionsschwer und gleichzeitig trunken ob der eigenen Siege, fast apathisch ihre Todessaltos vollziehend, doch mit klassischer Präzision. [...] Obwohl dort jedes Jahr eine Revolution stattfindet, ist es aber eben eine Münchner Revolution, deswegen schreckt sie niemanden.“14 Andere Mitglieder dieser aufgeschlossenen Gesellschaft Anfang der 1920er Jahre waren die damals noch jungen bulgarischen Maler De²ko Uzunov, Ivan Penkov und Konstantin St©rkelov, die sich für München entschieden, nachdem sie den Aufenthalt durch den Verkauf einiger Arbeiten finan- zieren konnten. Dazu gehörten auch Maša Živkova, die später als Uzunovs erste Frau den Namen Živkova-Uzunova annahm, und der Karikaturist Rajko Alexiev. Für kürzere Zeit gesellten sich auch die Maler Vladimir Dimitrov-Majstora, Nikola Tanev mit seiner Frau und der Grafiker Vassil Zachariev hinzu. Einige hatten sich an der Kunstakademie eingeschrieben – Ivan Pen- kov (1897–1957) bei Adolf Hengeler 1922/23, De²ko Uzunov (1899– 1986) bei Carl von Marr 1922/23 sowie Maša Živkova (1903–1986) bei Hugo von Habermann und Olaf Gulbransson 1924/25. Sie besuchten gleichzeitig Privatateliers, so auch Ilija Petrov (1903–1975), der bei Förderung durch ein staatliches Stipendium 1927/28 München für seine Spezialisierung wählte. Bei allen diesen Künstlern lässt sich sowohl aus

14 „ɯʹʵʲ ˏˆ ˆːʲ ʵ ɫʺ˕ːʲˑˆˮ ʹ˕˙ʶˆ ʶ˕ʲʹ ˊʲ˘˓ ʂ˭ˑˠʺˑ, ʹʺ˘˓ ˆ˄ˊ˙˖˘ʵ˓˘˓ ʺ ˘˨ˇ ʵ˨˄- ʹ˨˕ʾʲˑ˓ ˆ ˖ːʺˏ˓ ʺʹˑ˓ʵ˕ʺːʺˑˑ˓: ˘ʺʾˊ˓ ˓˘ ˘˕ʲʹˆˢˆˮ ˆ ˓˔ˆˮˑʺˑ˓ ˓˘ ˖˓ʴ˖˘ʵʺˑˆ˘ʺ ˖ˆ ˔˓ʴʺʹˆ, ˔˕ʲʵʺ˧˓ ˔˓ˣ˘ˆ ʲ˔ʲ˘ˆˣˑ˓ ˖ː˨˕˘ˑˆ˘ʺ ˖ˆ ˖ˊ˓ˊ˓ʵʺ, ʲˏʲ ˖ ˊˏʲ˖ˆˣˑʲ ˓˘- ˣʺ˘ˏˆʵ˓˖˘.[...] ːʲˊʲ˕ ˣʺ ˘ʲː ˖˘ʲʵʲ ʵ˖ˮˊʲ ʶ˓ʹˆˑʲ ˕ʺʵ˓ˏ˭ˢˆˮ, ˘˓ʵʲ ʺ ˘˨ˊː˓ ː˭ˑˠʺˑ- ˖ˊʲ ˕ʺʵ˓ˏ˭ˢˆˮ ˆ ˄ʲ˘˓ʵʲ ˑʺ ˔ˏʲ˦ˆ ˑˆˊ˓ʶ˓”. Mutafov 1924, 4.

150 ihren Werken als auch aus ihren Erinnerungen entnehmen, dass ihr Interesse nicht so sehr auf den Unterricht an der Akademie, sondern das außerakademische visuelle Umfeld und den informellen Ideen- und Erfahrungsaustausch gerichtet war. Besonders nachhaltig wurden die Münchner Erfahrungen bei Ivan Penkov umgesetzt. In seiner Malerei führ- ten die Münchner Anregungen zu einem viel expressiveren und ornamen- talen Stil. Seine Projekte für angewandte Kunst verabschieden sich von der überalterten, in Bulgarien aber immer noch präsenten Jugendstilästhetik zugunsten einer funktionalen und an nationalen Traditionen anknüpfen- den Ausdrucksform, wie sie sich in zahlreichen Szenographien und Glas- malereien zeigt (vgl. Georgieva 2009). Außerhalb dieses Kreises gab es auch Künstler, die in den 1920er Jahren gleich mehrere Jahre in der Akademie verbrachten. Eliezer Alšech/ Alcheh (1908–1983) studierte zwischen 1928 und 1933 Malerei bei Karl Caspar und Grafik bei Adolf Schinnerer. Alšech nutzte die Chance, bei dem seinerzeit einzigen zu ihm passenden Professor der Akademie eine Ausbildungsmöglichkeit zu bekommen, denn die Herausbildung seines individuellen Stils war besonders von Karl Caspar beeinflusst. Mit einem pastosen, breiten und dynamisch ausgeführten Pinselstrich baute Alcheh seine Landschaften und Porträts auf. Die subjektive, expressionistische Malweise entsprach seinem Wesen am besten. Ihr blieb er sein ganzes Leben verbunden. Im Laufe der Zeit änderte sich sein Kolorit, das etwas Hellere und Kräftigere wurde später bevorzugt, aber Grundlage seiner Malerei war stets die systematisch vervollkommnete Ausdrucksweise aus seiner Münchner Zeit. Eine gegensätzliche Kunstauffassung hatte Kiril Conev (1896–1961). Er kam noch früher an die Münchner Akademie, um von 1921–1925 bei Karl Caspar und Hugo von Habermann zu studieren, dessen Meister- schüler er wurde. Gleichzeitig lernte er bei Max Doerner Maltechnologie, Konservierung und Restaurierung. Diese zusätzliche Spezialisierung sollte ihm später, als er im sozialistischen Bulgarien Malverbot bekam, ermög- lichen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vor diesem Umbruch war er allein Maler. Sein Malstil schloss sich an die Neue Sachlichkeit an, vor allem bei den klaren, geschlossenen Formen, exakter Linienbetonung und ausgeglichenen Kompositionen monumental wirkender Porträts und spä- terer Landschaftsbilder. Bei der Betonung der Parallelen zwischen Conevs Arbeiten und jenen von Alexander Kanoldt, beide Vertreter der klassi- zistischen Linie der Neuen Sachlichkeit, wurde nie berücksichtigt, dass die Einflüsse seines Lehrers Hugo von Habermann zwar vielleicht nicht so stark, aber durchaus in der Einstellung zur Kunst bei Conev präsent sind (vgl. Koeva 1996). Bis 1929 lebte und arbeitete Conev in München und

151 hatte dort acht eigene Ausstellungen. Während dieser Zeit war er Mitglied des Künstlerverbands „Die Juryfreien München e.V.“, mit dem er sich mehrmals an den Ausstellungen im Glaspalast beteiligte. Mit Beginn des nationalsozialistischen Regimes wurde der Verein 1933 aufgelöst. In Conevs Autobiographie ist hierzu überliefert:

„48 Mitgliedern wurde verboten, den Künstlerberuf auszuüben. Ich musste innerhalb einer bestimmten Frist Deutschland verlassen.“15 So kehrte er nach Bulgarien zurück, wo er von 1942 bis 1950 Professor an der Kunstakademie in Sofia wurde. Ganz anders verlief der Lebensweg von Konstantin Garnev (1894– 1966). Von 1924 bis 1930 studierte er Malerei an der Münchner Kunst- akademie. Zuerst war er bei Hermann Groeber, dann wurde er einer der letzten Meisterschüler von Franz von Stuck. Die Einflüsse seiner Lehrer sind in seinen frühen Kompositionen spürbar, wurden aber bald über- wunden, um dem expressiveren Umgang mit Form und Farbe den für seine Arbeiten bestimmenden Platz zu geben. Garnev beteiligte sich an zahlreichen Ausstellungen in Deutschland und Bulgarien. Eine Einzel- ausstellung in Sofia (1934) hatte eine positive Resonanz, aber er wählte doch München als Wohnsitz. Dort hatte er schließlich auch seine repräsen- tativste Einzelausstellung mit über hundert Werken in der Galerie am Lenbachplatz (1940). Aus Münchner Perspektive erlebte Garnev auch die Kunst- und Kulturentwicklung während des NS-Regimes. Er blieb nicht teilnahmslos angesichts der Pathetik der nationalsozialistischen Propa- ganda und hielt sich mit seinen Landschaften und Kompositionen in den Grenzen des Kunstdiktats, ohne sich deshalb verbiegen zu müssen. Kunst- politisches Engagement äußerte sich in beifälligen Berichten über kultu- relle Ereignisse in Deutschland, die regelmäßig in der bulgarischen Presse erschienen. Garnev wurde auch zum gefragten Mitarbeiter bei bulgarisch- deutschen Projekten, so zum Beispiel für die zusammen mit Ivan Penkov organisierte und gestaltete Ausstellung „Heimatkunst in Bulgarien“ (1933) in München. Wegen dieses Engagements hatte Garnev später, in Bulga- riens sozialistischer Zeit, keine Gelegenheit mehr, sich dort in Ausstellun- gen zu präsentieren, seine zahlreichen vergeblichen Versuche diesbezüg- lich verbitterten ihn. Er starb, ohne nach dem Zweiten Weltkrieg Bulgarien noch einmal besucht zu haben. Alle diese Künstler, die seit Beginn der 1920er Jahre nach München gekommen waren, hatten nicht nur sehr verschiedene Schicksale; vielmehr

15 „ʃʲ 48 ʹ˙˦ˆ ˓˘ ˣˏʺˑ˓ʵʺ˘ʺ ˖ʺ ˄ʲʴ˕ʲˑˆ ʹʲ ˙˔˕ʲʾˑˮʵʲ˘ ˔˕˓˟ʺ˖ˆˮ˘ʲ ˖ˆ ˑʲ ˠ˙ʹ˓ʾ- ˑˆˢˆ. ɧ ˑʲ ːʺˑ ːˆ ʴʺ˦ʺ ʹʲʹʺˑ ˖˕˓ˊ ʹʲ ˑʲ˔˙˖ˑʲ ɫʺ˕ːʲˑˆˮ”. Zonev 1969, 272.

152 wiesen sie auch überaus unterschiedliche Charakteristika auf. In den 1930er Jahren aber wurden sie alle in Bulgarien als „Modernisten“ be- zeichnet. In der Kunstkritik der damaligen Zeit definierte man den Moder- nismus undifferenziert als eine allgemeine Tendenz des Subjektivismus als autonomer, aber an der Wirklichkeit orientierter Ausdrucksweise. Die bulgarischen Modernisten blieben also bei einer figürlichen und gegen- ständlichen Bildgestaltung. Ein Merkmal, das damals als unentbehrlich für die Qualität galt, war „Wahrhaftigkeit“. Die Werke sollten dem Tempera- ment des Künstlers entsprechen und ein „nationales Gepräge“ haben. Unter „modern“ war also in Bulgarien eine individuelle, subjektive Kombi- nation von Elementen verschiedener Richtungen wie Neoklassizismus, Postimpressionismus, Expressionismus und Postexpressionismus zu ver- stehen. Zeitgleich mit dieser Entwicklung, aber ohne unmittelbare Einmischung in das Schaffen der bulgarischen Künstler, waren die 1930er Jahre stark vom politischen Geschehen geprägt. Die traditionell engen Kunstbeziehun- gen zwischen Deutschland und Bulgarien blieben intensiv, wurden aber zunehmend politisch ausgenutzt und gezielt intensiviert.16 Oft wurden Bulgaren zu Ausstellungen nach Deutschland eingeladen. Mit staatlichen Stipendien kamen selbst während des Zweiten Weltkriegs vier bulgarische Gaststudenten und der Restaurator des Archäologischen Museums in Sofia für eine Spezialisierung nach München. Insgesamt hielten sich über 60 Künstler von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts für längere Zeit im Kunstzentrum München auf. Für die meisten Bulgaren waren diese Aufenthalte von komplexer Bedeutung. In München besuchten sie sowohl staatliche Institutionen wie die Kunst- akademie, die Gewerbeschule und die Technische Hochschule, als auch private Schulen und Ateliers und es gab einige, die einfach nur aus der urbanen Atmosphäre und dem Kunstleben schöpften. Die Aufnahme der Münchner Impulse gestaltete sich weder gradlinig noch planmäßig. Die Einflüsse und deren Umsetzung wurden vielmehr durch das Prisma der eigenen Interessen gefiltert und durch die Bedürfnisse und Besonderheiten des bulgarischen kulturellen Kontextes geprägt.

16 Das Dritte Reich bemühte sich, Bulgarien als Verbündeten zu gewinnen. Nachdem dies gelungen war, wurde der kulturelle Austausch zwischen beiden Ländern noch intensiver. Vgl. Kisseler 2005.

153 Literatur

Angelov 2001 V. Angelov, München i b©lgarskoto izobrazitelno izkustvo/München und die bul- garische bildende Kunst (Sofia 2001).

Conev 1969 K. Conev, Avtobiografija II/Autobiographie 2 (Sofia 1969).

Dinova-Russeva 1984 V. Dinova-Russeva, Bulgarische Maler in München in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: W. Gesemann/K. Haralampieff/H. Schaller (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst. Symposium in Ell- wangen, 19.–24. 5. 1982. Südeuropa-Studien 35 (Neuried 1984) 27–38.

Dobrianowa-Bauer 1999 S. Dobrianowa-Bauer, Auf den Spuren der Münchner Schule. Nicola Michailow und die Neue Bulgarische Malerei 1878–1944 (Frankfurt a. M. 1999).

Ficker 1984 F. Ficker. Die Münchner Akademie und die Kunst der Balkanvölker. In: W. Gese- mann/K. Haralampieff/H. Schaller (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst. Symposium in Ellwangen, 19.–24. 5. 1982. Süd- osteuropa-Studien 35 (Neuried 1984) 66–72.

Fileva/Genova 2003 A. Fileva/I. Genova (Hrsg.), De²ko Uzunov. Pamet i zabrava. Edno izsledvane za izkustvoto v B©lgaria/De²ko Uzunov. Gedenken und Vergessen. Eine Unter- suchung über die Kunst in Bulgarien (Sofia 2003).

Georgieva 2000 M. Georgieva, Album©t na grupata „Klepalo“ i b©lgarskata kolonija v München (1922-1923)/Das Album der Gruppe „Klepalo“ und die bulgarische Kolonie in München (1922–1923). Art Studies Quarterly 3, 2000, 33–44.

Georgieva 2009 M. Georgieva, Do München i nazad – žitejskite i tvor²eskite p©tuvanija na Ivan Penkov (1897–1957)/Bis München und zurück – die Lebens- und Kunstreisen von Ivan Penkov (1897–1957). Art Studies Quarterly 3, 2009, 39–46.

Kisseler 2005 D. Kisseler, Germanskite vlijania i chudožestvenata praktika v B©lgaria prez 30-te i na²aloto na 40-te godini na 20 vek/Die deutschen Einflüsse und die Kunstpraxis in Bulgarien in den 30er und zu Beginn der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts (Sofia 2005).

154 Koeva 1996 K. Koeva, Kiril Conev (Sofia 1996).

Konsulova-Vazova 1962 E. Konsulova-Vazova, Erinnerungen im Fragebogen von Petko Ticholov. Archiv der Erben (Sofia 1962).

Kuzmova-Zografova 2001 K. Kuzmova-Zografova, +avdar Mutafov. V©skresenieto na diletanta/ +avdar Mutafov. Die Auferstehung des Dilettanten (Sofia 2001).

Marinska 1999 R. Marinska, Sofia-Evropa. B©lgarskata živopis v konteksta na s©vremennoto iz- kustvo/Sofia-Europa. Die bulgarische Malerei im Kontext der zeitgenössischen Kunst (Sofia 1999).

Mutafov 1924 +. Mutafov, Mjunchensko izkustvo/Münchner Kunst. Slovo 668, 1924, 4.

155 Diliana Panayotova-Grün

Merkmale der bulgarischen Migration in Deutschland am Beispiel von Bayern

Für die jüngste bulgarische Migration in Richtung Deutschland spielen die historischen Verbindungen zwischen Deutschland und Bulgarien eine wichtige Rolle. Diese Verbindungen lassen sich vor dem Hintergrund der zwischenstaatlichen Beziehungen in Mitteleuropa, nämlich den deutschen Königreichen und Österreich-Ungarn einerseits und dem Balkan oder dem Osmanischen Reich andererseits positionieren. Bereits im 19. Jahrhundert gab es rege Handelsbeziehungen auf breiter und regelmäßiger Basis, die den deutschen Sprachraum mit Südosteuropa verbanden. Aber auch politisch wurden die beiden europäischen Areale verbunden. Deutschland brachte deutsche Könige auf den Balkan, zuerst nach Griechenland, dann auch nach Bulgarien. Dies war ein wichtiger Grund dafür, das Bulgarien seitdem sein Referenzland in der Runde der großen westeuropäischen Mächte in Deutschland gesehen hat. Im Folgenden wird zunächst der Versuch unternommen, zu beweisen, dass die bulgarische Bildungs- und Elitemigration in Bayern Tradition hat. Dazu wird die Entwicklung der bulgarischen Migration in Deutschland mit dem Fokus auf Bayern umrissen. Mit Daten und Fakten aus Archiven, Statistiken und Fachliteratur wird aus dem groben Bild aller Auswanderer die konkrete bulgarische Migration herausgearbeitet. Es ist zu erwarten, dass sich aus den vorhandenen Quellen der Umfang dieser Migration, ihre Typologie sowie ihre Tendenzen und Formen herauskristallisieren lassen. An zweiter Stelle wird die Suche nach den Gründen für die bulgarische Migration nach Deutschland und Bayern aufgenommen. Die Migrations- gründe werden traditionellerweise gern als push-and-pull Faktoren erklärt. Diese Faktoren sind im Grunde genommen politische, wirtschaftliche, demographische oder umwelttechnische Ereignisse und Gegebenheiten, die die Macht entwickeln können, die Wanderung von Menschen zu be- einflussen. Eine solche Kategorisierung wäre allerdings viel zu einfach, um die Entstehung von Migration im Detail erklären zu können, deshalb drängt sich den Migrationsforschern die Frage auf, ob nicht eine Hierarchi- sierung der Faktoren mehr Erklärungspotential für dieses komplexe Phä- nomen hätte. Da hier der Fokus auf die bulgarische Migration als Gruppenbewegung gelegt wird, werden dementsprechend die allgemein wirkenden Gründe

156 erörtert. Aus diesen Überlegungen heraus wird die gegenseitige Ver- quickung von politischen und wirtschaftlichen Faktoren, die die Migration beeinflussen, vor dem Hintergrund von historisch-politischen Ereignissen in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Ein solches Ereignis war der Mauerfall von 1989 und die darauf fol- gende Migration nach Westeuropa. Auf den ersten Blick wirkt diese Migra- tion als eine Art Initialmigration, die eine neue Ära der binneneuro- päischen Wanderung eingeleitet hat; und was die Migrantenzahlen betrifft, war es tatsächlich so. Die Tatsache jedoch, dass im Vergleich zu anderen Emigranten überproportional mehr Bulgaren nach Deutschland kamen und immer noch kommen, bedarf einer Erklärung. Vielleicht waren Arbeits- und Bildungsmigration aus Bulgarien auch früher keine Aus- nahmen. Die Migranten aus Bulgarien, die nach der Wende in Richtung Westeuropa aufbrachen, suchten nämlich nach bekannten Wegen und ver- trauten Ländern und orientierten sich dementsprechend nach Deutschland.

Entwicklung der bulgarischen Migration

Die hier behandelte Entwicklung der bulgarischen Migration umfasst die Zeit von den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bis 2010. Entgegen einer möglichen Vermutung war die Arbeitsmobilität der Bulgaren schon im 19. Jahrhundert keine Ausnahme und sogar keine Seltenheit. Das Phänomen der gurbetschii stammt aus der Zeit der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan und bezeichnet jene mobilen Arbeitskräfte, die zum Arbeiten ins Ausland gingen. „Gurbetschii“ (Singular „gurbetschia“ auf Bulgarisch) wird vom Wort gurbet (türkisch für „Ausland“, entlehnt aus dem Arabi- schen) abgeleitet und im Sinne von Arbeit oder Gewinn durch Arbeit im Ausland verwendet. Die gurbetschii waren somit Arbeitsmigranten, die ihre Arbeitskraft im Ausland verkauften. Basil Gounaris macht so gut wie keinen Unterschied zwischen Migranten und gurbetschii, wenn er die makedonische saisonale Arbeitsmigration vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt. Laut B. Gounaris ist der typische Emigrant aus Makedonien (Engl. im Orig. „Macedonia“) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts männlich, slavisch-sprechend, zwischen 18 und 35 Jahre alt, meistens Bauer (vom Land und in der Landwirtschaft tätig). Diese Menschen suchten ihr Glück überwiegend in Übersee, z. B. in Saint Louis, wo ihr Einkommen min- destens doppelt so hoch wie in Makedonien gewesen sein soll.1 Ein Teil davon wanderte anscheinend auch nach Nordostbulgarien: Es waren zu

1 Gounaris 1989, 140; 144.

157 einem großen Teil Maurer, Bäcker, „millet beer makers“2, oder andere Handwerker, aber auch nicht wenige landwirtschaftliche Arbeiter. Diese für damals „interne“ Migration innerhalb der osmanischen Grenzen betraf offensichtlich die europäischen Teile (nicht nur die bulgarischen Gebiete) des Imperiums und überdauerte die Wiederherstellung der Balkanstaaten Ende des 19. Jahrhunderts. Nach einer von Gounaris zitierten Studie von Todorov, orientierte sich ein Drittel der jährlichen makedonischen Emi- gration nach Bulgarien und einzelne Personen ließen sich dort sogar nieder.3 Da aus dieser Zeit keine zuverlässigen Zahlen auffindbar sind, ergibt sich eine recht breite Spanne von wahrscheinlich einigen Hundert bis einigen Tausend Migranten, die jährlich in Bulgarien zum Arbeiten einwanderten. Für die Bulgaren der damaligen Zeit hatte der oben genannte Begriff gurbetschii die gleiche Bedeutung wie für ihre makedonischen Nachbarn. Auf gurbet geht jemand, der einen gewissen Gewinn von seinem Auslands- aufenthalt erwartet. Somit ist gurbet im Sinne von Portes eine typische Migrationsbewegung, die durch die Mittelschicht, bzw. die Schicht mit etwas besseren Möglichkeiten getragen wird: „The very poor and the un- employed are not the first to migrate and are generally underrepresented in the outbound flow. Instead, it is people with some resources – small rural proprietors, urban artisans, and skilled workers – who most com- monly initiate and sustain the movement.“4 Die nachfolgend beschriebene Sonderform der Arbeitsmigranten, die bulgarischen Gärtner, untermalt beispielhaft diese Aussage. Die bulgarischen Gärtner verbrachten die Monate zwischen März und November üblicherweise in einer mitteleuropäischen Stadt, wo sie Land pachteten und Gemüse anbauten. Für die Wintermonate kehrten sie in ihren Heimatort in Bulgarien zurück. Ein Beitrag zur Erforschung dieser Migrantengruppe leisteten Jana Pospíšilová und Helena Bo²ková im Band 14 der Münchener Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation.5 Beim Vergleich mit den Beispielen von Gounaris kristallisiert sich eine Parallele zwischen den bulgarischen Gärtnern und den Arbeitsmigranten aus Make- donien heraus, die auch in der Landwirtschaft und ebenfalls saisonal beschäftigt waren. Die Ähnlichkeit wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass J. Pospíšilová und H. Bo²ková erwähnen, dass es auch in Südwest-

2 Damit ist entweder das afrikanische millet beer gemeint oder eher das millet ale, oder boza, ein typisches bulgarisches Getränk, das auch in anderen Balkanländern gern ge- trunken wird. 3 Gounaris 1989, 134. 4 Portes 1995, 20. 5 Roth 2003.

158 Makedonien gewerbstätige Gemüsebauern gab.6 Es werden unter anderem ähnliche Gepflogenheiten der bulgarischen Saisonarbeiter beschrieben, wie im Beitrag von B. Gounaris: Auch unter denen gibt es boza-Hersteller und auch sie kommen aus den Gebirgsgegenden. Die Tradition der gurbetschii lebt noch heute im Volksmund weiter, nicht nur durch die Fortsetzung der saisonalen Arbeitsmigration, sondern auch durch die Folklore dieser Migranten. Der Begriff gurbetschii blieb erhalten für die nächsten Generationen bulgarischer Arbeitsmigranten bis zur heu- tigen Zeit, wenn er auch meistens mit Humor und um der alten Zeiten Willen verwendet wird. Heute ist er nicht mehr nur für die männlichen Migranten reserviert, sondern für alle, die einen finanziellen Gewinn und eventuell zusätzlichen Mehrwert aus ihrem Auslandsaufenthalt mitneh- men wollen. I. Ditchev beschreibt gurbet als die herkömmliche bulgarische Emigra- tion von männlichen agrarwirtschaftlichen Zeitmigranten, deren Wurzeln in der ottomanischen (osmanischen) Periode Bulgariens zu finden sind. In seiner Untersuchung liegt die Betonung auf der Befristung und Rückkehr- option dieser Art von Migration im 19. Jahrhundert, in der sozialistischen Zeit und heute. Während des Sozialismus wurden nach Ditchev die tradi- tionellen Regeln des gurbet durch ideologische Sanktionen ersetzt, die die Arbeitsmigranten daran hinderten, im Gastland Fuß zu fassen, da meistens ein Teil der Familie zurück in der Heimat verblieb.7 Eine dauerhafte Migra- tion in die politisch befreundeten Ländern Europas, aber auch Nordafrikas und zum Teil Asiens (Vietnam), war deshalb nicht erwünscht und auch nicht möglich. Bei den Migranten handelte es sich um qualifizierte Fach- kräfte und Akademiker, die entweder in die Entwicklungsländer entsandt wurden oder unter den sozialistischen Ländern zum intellektuellen und politischen Austausch beitrugen. Die Möglichkeit, im Ausland Geld zu verdienen, war eine geregelte und auch angesehene Art und Weise der be- fristeten Migration. Eine Fortsetzung sozialistischer Reglementierung als gelebte Form des Zusatzverdienstes sieht Ditchev in der Ähnlichkeit zwischen den sozialisti- schen „Brigaden“ und den saisonalen Jobs für Studenten in Westeuropa oder den USA.8 Diese kurzfristigen Erwerbstätigkeiten wurden von vielen bulgarischen Studenten nach der Wende wahrgenommen. Nach Ditchev

6 Pospíšilová/Bo²ková 2003, 85. 7 Ditchev 2010, 16. 8 Meistens Sommerlager mit verpflichtender Arbeit zur Unterstützung der Landwirt- schaft durch alle Schichten der urbanisierten Bevölkerung, inklusive Schüler und Studenten.

159 kehrt die Lebensform des gurbet in der Transformationsperiode wieder als Migrationsmodell für junge Menschen zurück, die ihre ausländischen Einkommen zu Hause ausgeben und auf diese Weise ihren Arbeitsort vom Lebensort trennen.9 Über die heutige Zeit schreibt I. Ditchev, dass die Tradition des gurbet durch etablierte Netzwerke wieder hergestellt wird und belegt seine Be- hauptung mit einigen Zahlen: 2007 gaben 67 % der jungen bulgarischen Stadtbewohner an, dass sie für längere Zeit im Ausland arbeiten würden, währenddessen nur 6 % die Aussage machten, sie würden dauerhaft emi- grieren wollen.10 Eine Studie der United Nations’ International Organisa- tion for Migration, die in einigen Ländern Osteuropas durchgeführt wurde, zeigte 1992 ein ähnliches Ergebnis: 69 % der Ukrainer und 65 % der Bulga- ren gaben an, sie würden auch für wenige Monate zum Arbeiten ins Aus- land gehen.11 Arbeiten im Ausland auf Zeit scheint eine wichtige Option für junge Bulgaren zu sein. Und welche genau diese Menschen sind, beschreibt Ditchev indirekt: “In fact, not the unemployed or disadvantaged but the educated urbanite is most likely to emigrate”12 – ausgebildete, junge Stadtbewohner, die, man kann ergänzen, gut informiert sind oder über die nötigen Netzwerke im Ausland verfügen, um migrieren zu kön- nen. Es verfestigt sich die Feststellung, wie oben von Portes zitiert, dass die Migranten in den meisten Fällen Personen mit gewissen Ressourcen sind, ob finanziell, intellektuell, sozial (Sozialkapital) oder anderer Natur. Die Argumentation von I. Ditchev erklärt die Entwicklung der Arbeits- migration der Bulgaren durch den gurbet-Begriff. Ob es Hochqualifizierte, Landarbeiter oder Studenten sind, alle werden als verschiedene Typen gurbetschii klassifiziert. Ich möchte im Gegensatz dazu die Arbeitsmigran- ten von den Bildungsmigranten unterscheiden.

Die bulgarische Bildungsmigration

Die Ausbildung in einer großen europäischen Stadt hat seit jeher den Reiz und den Wert eines besonderen Gutes für die Menschen auf dem Balkan, so natürlich auch für die Bulgaren. Sei es der Titel „Hadschi“ nach dem Besuch der heiligen Stätte Jerusalem, eine Ausbildung zum Mediziner in Wien, oder ein Jahr gurbet in Mitteleuropa – der Kulturwert eines Aus- landsaufenthalts stieg sogar über den der mitgebrachten fremden und

9 Ditchev 2010, 22. 10 Ditchev 2010, 17. 11 Eichengreen 1994, 7. 12 Ditchev 2010, 18.

160 unbekannten materiellen Güter hinaus. Herausragend in dieser Reihe der Errungenschaften ist die Stellung des ausländischen Studiums, nicht nur wegen des längeren Auslandsaufenthalts, sondern vor allem auch wegen der erworbenen Fähigkeiten oder im besten Fall der Profession, die man danach ausüben kann. Die bayerische Metropole München gewann wie Wien, Berlin, Budapest oder Zürich im 19. Jahrhundert an Anziehungskraft. Bulgarische Studenten folgten dem Ruf dieser Kulturstädte und reisten für kurze oder längere Zeit dorthin, um Qualifikation und Erfahrung zu sammeln. Trotz fremder Herrschaft war es für junge Menschen aus Bulgarien im 19. Jahrhundert offensichtlich möglich, im Ausland zu studieren. Der wahrscheinlich erste prominente Student und Doktorand aus Bul- garien in München war der Wissenschaftler und Aufklärer Dr. Pet©r Beron, der Autor der sogenannten „Fisch-Fibel“, des ersten neubulgarischen Schul- buches. Beron wurde in Kotel, Bulgarien, geboren, lebte aber in seiner Hei- mat nur ca. 20 Jahre und danach in Braóov, Rumänien, wo er das eben er- wähnte Schulbuch im Alter von nur 24 Jahren verfasste und zusammen mit Anton Ivanov herausgab. Im Osmanischen Reich war das Drucken auf Bul- garisch nicht gestattet, weswegen das Erscheinen von bulgarischen Zeitun- gen und Büchern durch mitteleuropäische Druckereien und Buchverlage unterstützt werden musste.13 Danach studierte Beron in Heidelberg und ein Jahr später bereits in München, wo er 1831 zum Doktor der Medizin promovierte.14 Pet©r Beron war jedoch nicht der einzige Student vom Balkan, wie das Buch von Konstantin Kotsowilis, das den griechischen Studierenden von 1826 bis 1844 an der LMU gewidmet ist, deutlich zeigt.15 Der Autor führt Beispiele von ca. 100 Studenten mit griechischen Namen auf, um zu veranschaulichen, wie sich die Kulturbeziehungen zwischen Bayern und Griechenland während der Regierung von Ludwig I. entwickelten. Pet©r Beron (im Buch Petros Beron) wird als griechischer Student dargestellt, wobei die Schreibweise des Namens im Text in zwei Versionen angegeben wird – ̅ΉΕЏΑ und ̅νΕΓΙ.16 Eventuell kann man diesen Familiennamen auch auf zwei Arten lesen und es ist unklar, wie ihn Pet©r Beron selbst ausgesprochen hat. Beron wird vom Autor aufgrund seiner in Braóov ab- geschlossenen griechischen Schule und aufgrund der Schreibweise seines

13 Paskaleva 1984, 133. 14 Kotsowilis 1995, 86. 15 In diesem Jahr wurde die Universität auf Wunsch von Ludwig I aus Landshut nach München verlegt. Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_I._(Bayern) (Juni 2011). 16 Kotsowilis 1995, 86–87.

161 Namens als Grieche dargestellt. Tatsache ist, dass einige Bulgaren im 19. Jahrhundert lieber die griechische Variation ihrer Namen verwendet ha- ben, um bessere gesellschaftliche Chancen zu bekommen: Griechenland erhielt die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich (1826) früher als Bul- garien und seine Bürger hatten eben viel mehr Privilegien als die Bulgaren, die bis 1878 osmanische Untertanen blieben. Pet©r Beron ist jedenfalls im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität als abstammend von „Thra- cien“ eingetragen worden.17 Im Buch von K. Kotsowilis fällt auf, dass sich die Herkunftsorte der aufgelisteten Studenten oft wiederholen. Zu vermuten wäre hier eine Kettenmigration von jungen Menschen aus dem gleichen Herkunftsort, die sich einer nach dem anderen an der gleichen Universität und zu ungefähr der gleichen Zeit einschreiben ließen. Unter den Studierenden finden sich immer wieder welche, die auf dem Umweg über Rumänien nach Deutsch- land gekommen sind und manchmal zwischen den Universitäten Heidel- berg und München gewechselt haben, was dazu verleitet, Pet©r Beron geradezu als ein Paradebeispiel für diese jungen Ausländer anzusehen. Man kann aus diesen Studentenbeispielen herauslesen, dass schon da- mals Migrantennetzwerke (aus heutiger Sicht sogar inter- und transnatio- nal) am Werk waren, die die Migranten zu einem Wanderungsstrom mit klarem Ausgangsort und klarem Ziel konsolidierten. An zweiter Stelle ist die Internationalität dieser Menschen zu vermerken. Nicht weil einige von ihnen einen Zwischenstopp in Rumänien einlegten, sondern vielmehr weil sie in Bayern studiert haben und weil es sich, wie im Fall von Pet©r Beron, bei einzelnen davon vielleicht um Menschen mit einer anderen ethnischen Zugehörigkeit handelte. Einen ähnlichen Migrationsweg gingen die an der Münchener Akademie der Bildenden Künste eingeschriebenen bulgarischen Studenten. Nikolai Pavlovi² z. B., in Svishtov geboren, studierte zunächst in Wien Malerei, wechselte aber 1856 nach vier Jahren in die bayerische Hauptstadt, da die internationale Autorität der Münchener Kunstakademie nicht zuletzt durch ihre berühmten Direktoren, wie z. B. Wilhelm von Kaulbach, merklich wuchs. Pavlovi² wurde zunächst durch die Brüder Zankov unterstützt, mit denen er in Bukarest anfänglich aufgrund der kaufmännischen Lehre ver- bunden war und die ihm die Reise nach Wien ermöglichten; dort wohnte er bei dem Bulgaren Atanas Jovanovi² und erlernte von ihm das Lithographen- handwerk. Interessanterweise traf er in München auf Dr. Pet©r Beron, der ihm sein zweites Studium an der Münchener Akademie ermöglichte.18

17 http://epub.ub.uni-muenchen.de/9529/1/pvz_lmu_1829_30_wise.pdf (Juni 2011). 18 Ficker 1984, 69.

162 Pavlovi² folgten weitere junge Künstler, die zu den bedeutsamsten bulgarischen Malern überhaupt gerechnet werden und die die bulgarische Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollkommen domi- nierten: Ivan Mrkvi²ka, Jaroslav V»šín und Ivan Angelov. Diese zweite Generation von Studenten trat in die Fußstapfen von Pavlovi², was die Ausdrucksformen und die Auswahl von historisch(-kriegerisch)en Sujets ihrer Bilder betrifft – passend zu der Epoche der Wiedergeburt und der Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft.19 Auf diese Art und Weise verarbeiteten und unterstützten sie künstlerisch das sich heraus- bildende neue Nationalbewusstsein der Bulgaren vor und nach dem rus- sisch-türkischen Befreiungskrieg um Bulgarien. Und auch eine dritte Generation bulgarischer Maler wie etwa Nikola Michajlov, Alexander Mutafov und Christo Stan²ev wurde in der Münchener Kunstakademie ausgebildet. Nikola Michajlov arbeitete zusätzlich in freier Praxis und wurde in Deutschland als Porträtist bedeutsam. Er gründete Anfang des 20. Jahrhunderts eine private Kunstschule in München20, arbeitete aber gleichzeitig auch in Bulgarien, wo er berühmte Poeten, mit denen er be- freundet war, portraitierte.21 Michajlov war Teil eines größeren Kreises von bulgarischen Künstlern, die zu der bulgarischen Elite der Vergangenheit gezählt werden. Diese Elite brachte Schriftsteller, Maler und Poeten hervor, die sich untereinan- der kannten und, was viel bedeutsamer ist, oft zusammen im Ausland ihre Entwicklung und künstlerische Reifung vorantrieben. Der von Michajlov portraitierte Pencho Slaveikov z. B., ein herausragender Dichter und Schriftsteller, studierte Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls in Deutschland, diesmal in Leipzig. Diesen elitären Kreis bulgarischer Künstler könnte man auch als Elitenetzwerk bezeichnen, welches durch eine gewisse Kontinuität von Studierenden aus Bulgarien an der Kunstakademie ermöglicht wurde. Die Tradition des Bildungserwerbs in München setzte sich bei den jungen bulgarischen Künstlern und Intellektuellen auch im 20. Jahrhundert fort. Einen originellen Höhepunkt dieses Zusammenwirkens findet man im Album der Gruppe „Klepalo“, eine Dokumentation der künstlerischen Be- gabung dieser Intellektuellen und auch ihrer freundschaftlichen Beziehun- gen zueinander: Sozusagen die „Chronik einer großen geistigen Familie“.22 Offensichtlich war dieser Kreis von damals noch unbekannten Schriftstel- lern, Malern und Dichtern eine Art Freundeskreis, der in München durch

19 Dinova-Ruseva 1984, 32. 20 Dinova-Ruseva 1984, 36. 21 http://www.artfact.com/artist/mihailov-nikola-zav0htju7o (Juli 2011). 22 Georgieva 2006, 120.

163 ähnliche Interessen, Herkunft und Intentionen stark zusammengeschweißt wurde. Beispiele dafür liefert Milena Georgieva in ihrem Beitrag „An der Grenze zwischen Kunst und Leben. Die bulgarische Kolonie in München (1922/1923). Das Album der Gruppe „Klepalo“ (Simandron)“.23 Die Au- torin skizziert das Leben von einigen bedeutsamen bulgarischen Künstlern – Vladimir Poljanov, Svetoslav Minkov, +avdar Mutafov, De²ko Uzunov, Konstantin ht©rkelov, Georgi Raj²ev, Kiril Conev, Ivan Penkov u. a. wäh- rend ihres Aufenthalts in München. Dies sind nur die bekanntesten Per- sönlichkeiten einer größeren Gruppe, die u. a. auch Elisaveta Konsulova- Vazova und Aleksandar Božinov, sowie Olga und Maša Živkovi umfasste.

Nach diesem Umriss der ruhmreichen bulgarischen Migration in Bayern ist es nun an der Zeit, die andere, teils unsichtbare, teils in Vergessenheit geratene Migration von Studenten der Natur- und Ingenieurwissenschaf- ten sowie der Medizin, die ebenfalls in München studierten, zu erwähnen. Fakten und Vermächtnisse sind von diesen Menschen wenig geblieben, da sie sich nicht so wie die Künstler ins kollektive Gedächtnis der bulga- rischen Nation eingeprägt haben. Hier gilt es aber dennoch, auch diese zu erwähnen, nicht zuletzt, weil einige davon ihre weniger bodenständigen künstlerisch tätigen Mitbürger finanziell unterstützten.24 Man darf eben nicht vergessen, dass neben der Kunstakademie auch die Ludwig-Maxi- milians-Universität bulgarische Studenten anzog, die später als Ingenieure und Ärzte in Bulgarien arbeiteten. Ein Blick in die elektronisch zugänglichen Matrikelbücher der LMU lässt erkennen, dass die Anzahl der bulgarischen Studenten in den 1920ern und 1930ern relativ hoch war: Sie schwankte über die Jahre zwischen ca. 20 und 80 Personen.25 Auffallend viele studierten Medizin (oder Zahnheil- kunde), gefolgt von den Fächern Philosophie und Staatswirtschaft.26 Im Archiv der LMU findet man Angaben zum „Vaterland“ für das Winter- semester 1934/35 zum letzten Mal. Danach sind die Studenten bis 1995 namentlich und nur mit der simplen Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern aufgeführt. Allerdings finden sich Berichte von Augenzeugen, die interessante Belege für die Bulgaren in München liefern. Vatiu Koralsky z. B., der in den 40er Jahren studierte, spricht in seinem autobiographischen Buch „Der Über- lebende“ von 1.200 bulgarischen Studenten im Jahr 1943 in München.27

23 Endler 2006. 24 Georgieva 2006, 128. 25 http://epub.ub.uni-muenchen.de/9694/ (Juli 2011). 26 http://epub.ub.uni-muenchen.de/9693/ (Juli 2011). 27 Koralsky 2006, 89.

164 Diese erstaunlich hohe Zahl ist jedoch wissenschaftlich nicht geprüft wor- den und hat bis jetzt auch nicht den Weg in die Chronik der bulgarischen Migration in Deutschland gefunden. Die Jahre zwischen 1945 und 1990 hin- gegen verzeichnen eine Periode der gedämpften Migration aus Bulgarien. Nachdem der Eiserne Vorhang dann gehoben wurde, war das Studium in Westeuropa ein legaler Einreisegrund für viele osteuropäische und somit auch bulgarische Studenten. Wie auch die Asylsuche oder die Au- Pair-Tätigkeit bot das Studium eine Migrationsmöglichkeit auf eigene Gefahr für alle an, die nach Deutschland wollten. Vor allem für Abiturien- ten bot sich diese Möglichkeit und es waren erstaunlich viele, die sie wahr- nahmen. Die Statistik zeigt einen Zuwachs von 80,7 % der Studierenden aus den osteuropäischen Ländern zwischen 1997 und 2000, ein mehrfach höheres Wachstum im Vergleich zu Studenten aus anderen Teilen Eu- ropas.28 Die bulgarischen Studierenden kamen sogar auf einen Zuwachs von ca. 205 % in der gleichen Zeitspanne und nahmen einen respektablen Platz in den Top Ten der Länder mit den höchsten Kontingenten für 2000 ein.29 Erstaunlich ist die Entwicklung dieser Gruppe im Vergleich zu 198030: von 121 auf 5 015 im Jahr 2001.31 Aus der Perspektive der Bundesländer ist interessant zu bemerken, dass Bayern in den Jahren 2000/2001 immerhin 12 % der ausländischen Studen- ten in Deutschland und dabei 16 % derjenigen aus den Schwellenländern, zu denen der ehemalige Ostblock zählt, aufnahm und sich damit an dritter Stelle (nach Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) unter den be- liebtesten Zielregionen Deutschlands für das Hochschulstudium platzierte.32 Angaben aus dem Statistischen Jahrbuch der Stadt München für 2000 deuten auf über 7 000 ausländische Studierende an den zwei Münchner Universitäten TU und LMU hin.33 Die Statistik der LMU zeigt folgendes Bild der ausländischen Studierenden für 2004: Eine erstaunliche Zahl von 804 bulgarischen Studenten im Vergleich zu 580 aus Polen, 441 aus der russischen Föderation und 404 aus der Ukraine.34 Von diesen Vieren ist Bulgarien mit Abstand das kleinste Land, weist aber die meisten Studie- renden auf.

28 Isserstedt/Schnitzer 2002, 5. 29 Isserstedt/Schnitzer 2002, 9. 30 Im Gegensatz zum Archiv der LMU, finden sich hier und da in der Literatur aus- gewählte Zahlenangaben auch über die bulgarischen Studenten während des Kalten Krieges. 31 Isserstedt/Schnitzer 2002, 17. 32 Isserstedt/Schnitzer 2002, 34. 33 Statistisches Jahrbuch München 2000, 104. 34 Siehe ZDV, Abt. II A – Studienreferate. Studentenstatistik Sommersemester 2004, 102.

165 Dieses Ungleichgewicht lässt sich anhand von zwei Tatsachen erklären: Erstens ist München seit langem Zielort der bulgarischen Bildungsmigra- tion und zweitens kommen hohe Migrantenzahlen durch funktionierende Netzwerke zwischen dem Sende- und dem Empfangsland zustande. Solche Netzwerke von Freunden, Bekannten oder Verwandten können schnell zur Kettenmigration und sogar zur Gruppenmigration von einem bestimmten Ort in Bulgarien nach München (channelling) beitragen.35 Beispiele dafür sind Gruppen von Kommilitonen, die organisiert nach Deutschland aus- reisen. Die Statistik zeigt: Im Jahr 2007 waren 12 170 Bulgaren an deutschen Universitäten eingeschrieben.36 Heutzutage geht man von über 15 000 bulgarischen Studenten aus. Die Studentenmigration oder auch Bildungsmigration ist ein Teil der Elitemigration eines jeden Landes. Die Elitemigration von Studenten und Hochqualifizierten als Abwanderung in großem Maßstab hat auch einen anderen Namen, der allerdings etwas in die Jahre gekommen ist: Der berüchtigte brain-drain. Er betraf alle ost- und südosteuropäischen Länder nach 1989 und viele statistische Angaben deuten darauf hin, dass Bulgarien nach der Wende einen besonders starken Abgang an qualifizierten, auch hochqualifizierten, und dazu jungen Menschen erfahren hat. Aus der bulgarischen Perspektive sind die Zahlen der Fortgezogenen nahezu dramatisch im Vergleich zur landeseigenen Fachkräfteverteilung. Der Anteil hochqualifizierter Migranten erhöhte sich rapide zwischen 1990 und 2000, als immer mehr Menschen emigrierten; 1990 waren das 32 648 von insgesamt 322 993 im ganzen Land, im Jahr 2000 dann bereits 75 873 von 463 564.37 Gleich nach 1989 wollte der größte Teil (20 %) aller aus- reisenden Bulgaren Deutschland erreichen38, ein Anteil, der sich aus drei großen und mehreren kleineren Gruppen zusammensetzt: Asylsuchende, (Hoch-)Qualifizierte und Studenten sind die zahlreichsten darunter ge- wesen. Au-Pair-Mädchen, Saisonarbeiter39, Werkvertrags-40 und Gastarbeit- nehmer kamen in kleineren Zahlen dazu. Deutschland war somit das Ziel- land Nr.1 für die Bulgaren nach der Wende.

35 Siehe Gurak/Caces 1992, 157. 36 Breinbauer 2010, 106. 37 Breinbauer 2010, 101. 38 Bobeva 1996, 313. 39 Die Anzahl der bulgarischen Saisonarbeitnehmer belief sich auf 0,2% aller 318 549 für 2003. Siehe Focus Migration: Länderprofil Deutschland, April 2005, Nr. 1., S. 2. 40 Laut des Migrationsbericht 2009 des BAMF waren die Werkvertragsarbeitnehmer aus Bulgarien zwischen 50 und 500 Personen. Siehe http://www.bamf.de/SharedDocs/An lagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2009.html (Juli 2011).

166 Der brain-drain lässt qualifizierte Fachkräfte in eine bestimmte Richtung migrieren, nämlich von Orten mit wenig verfügbaren Positionen für Spe- zialisten zu Orten mit größerer Nachfrage für solche (und auch besseren Verdienstchancen). Die qualifizierten Fachkräfte kehren seltener zurück als andere Migranten. Außerdem tätigen sie, wie Riccardo Faini betont, sel- tener und/oder geringere (Geld)Überweisungen nach Hause als andere.41 Im gleichen Ton schreibt auch Daniela Bobeva im Jahr 1996, dass „ein wesentlicher Teil der Emigranten weder zurückkommen wird noch Geld nach Bulgarien überweist.“42 Der Abwanderungsprozess aus Südosteuropa stellt einen Verlust an Humankapital dar, den nicht nur Bulgarien sondern auch andere Transformationsländer nur mit Mühe eindämmen können.43 Die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Europa betrachtend, vermutet Helen Grabbe: „The consequence of liberalizing labour markets is more likely to be a „brain drain“ of the highly skilled to western Europe than any large-scale movement of unskilled workers.”44

Gründe für die bulgarische Migration

Wie bereits weiter oben dargelegt, haben die Gründe für die bulgarische Migration nach Deutschland einen historischen Ursprung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und im Zuge der Unabhängigkeit Bul- gariens intensivierten und vervielfältigten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien. In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts wurden die Beziehungen im Handelsbereich immer lebendiger. Die wirt- schaftliche Expansion Deutschlands (und Österreichs) auf dem Balkan zeigte sich im Bau von Eisenbahnen (nach 1866) sowie allgemein in der Einfuhr von Manufaktur- und Industrieprodukten.45 Ab Mitte des Jahr- hunderts wurde die Palette der in die Balkanländer eingeführten Waren (Textilien, Konsumgüter) immer breiter, währenddessen Bulgarien fast aus- schließlich landwirtschaftliche Produkte exportierte.46 In diesem Zusam- menhang ist die Entstehung der saisonbedingten Arbeitsmigration bul- garischer Gärtner besser zu verstehen, wenn man von einem wachsenden Bedarf an Gemüse Ende des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa ausgeht. Bulgarien war außerdem aufgrund seiner Lage an der Donau deshalb für Bayern und Österreich interessant, weil der Fluss als Transportweg zum

41 Faini 2005, 172; 180. 42 Bobeva 1996, 315. 43 Sterbling 2006, 120. 44 Grabbe 2000, 500. 45 Berov 1989, 51. 46 Paskaleva 1984, 128.

167 Absatzmarkt benutzt werden konnte; dementsprechend wurden die mei- sten Waren aus Österreich, der Schweiz und Deutschland importiert.47 Die intensivierten wirtschaftlichen Beziehungen und der Austausch verursachten ein besseres Kennenlernen oder zumindest größeres Interesse für Europa auf dem Balkan und trugen dazu bei, dass sich junge Menschen sowie Intellektuelle, die sich eine Reise leisten konnten, immer wieder auf den Weg in Richtung einer europäischen Stadt begaben. Diese Öffnung für Europa und speziell Deutschland fand auch vor Ort in Bulgarien statt, zum Beispiel durch die Rezeption deutscher Klassiker von Lessing, Goethe, Schiller und anderen einerseits und andererseits durch die Übernahme künstlerischer Techniken und Motive durch die in Bayern ausgebildeten bulgarischen Maler. Parallel dazu blühte die eigene Literatur auf, die sich durch die Diversifizierung der Genres an der europäischen orientierte, dennoch aber eigene Themen interpretierte. Die kulturellen Kontakte durch handfeste Kulturgüter (Alltagskultur) einerseits und andererseits durch Kulturexport (Hochkultur) spornten in jener Zeit nicht wenige junge Bulgaren an, ein Studium im Ausland, ja in Mitteleuropa, anzustreben.48 Im Osmanischen Reich war es für die Bul- garen schwer, ihr eigenes Bildungswesen (das damals sehr stark an die Vorstellung von unabhängiger Kirche und somit freier Kirchenschule ge- koppelt war) zu etablieren, da die osmanische Regierung keinen Wert da- rauf legte.49 Auch wegen der sehr dürftigen Anzahl von Grundschulen waren die Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt.50 Folglich entstanden Funktionen der Selbstorganisation und -verwaltung: Die Bulgaren ver- suchten, ihre eigenen Schulen zu errichten und zu finanzieren sowie ihre Jugend im Ausland ausbilden zu lassen.51 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfte Bulgarien verstärkt um seine kulturelle und politische Unabhängigkeit. 1878 wurde Kraft des Friedens- vertrags von San Stefano das kleine Fürstentum Bulgarien mit eigener Regierung und Armee gegründet, blieb jedoch vorerst dem Sultan tribut- pflichtig. 1887 wurde einem deutschen Fürsten, Ferdinand von Sachsen- Coburg und Gotha angeboten, den bulgarischen Thron zu besteigen, was den Anfang der „Bulgarian-German connection“ bedeutete.52 Später sollte Bulgarien an der Seite von Deutschland an zwei Weltkriegen teilnehmen.

47 Paskaleva 1984, 130. 48 Paskaleva 1984, 134. 49 Šarova 1984, 197. 50 Schaller 1998, 26. 51 Šarova 1984, 197. 52 Derleth 2000, 136.

168 Die bulgarische Wiedergeburt bleibt eine Periode, die nicht nur stark von internationalen, vor allem deutschen, Maßstäben in der Wissenschaft und Kunst beeinflusst wurde, sondern die auch den Anfangspunkt einer langfristigen Verbindung mit Deutschland setzte. Pet©r Šopov findet den Anfang des neubulgarischen Bildungswesen sogar in München – in der Persönlichkeit von Dr. Pet©r Beron und seiner „Fisch Fibel“.53Aus der zeitlichen Perspektive ist es dennoch nur gerecht, einzuschränken, dass die Beziehungen zwischen den zwei Ländern recht einseitig verliefen, mit Bulgarien als Empfängerland des Kulturaustausches. Sowohl politisch als auch kulturell hat sich Bulgarien immer wieder nach Deutschland orien- tiert: Einerseits weil es einen starken Verbündeten brauchte und anderer- seits weil es zu Deutschland als zum Land der Dichter und Denker hinauf- blickte. Die bulgarischen Könige deutscher Abstammung spielten eine bedeu- tende Rolle bei der kulturellen und auch politischen Orientierung Bul- gariens nach Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie oben bereits erwähnt, begeisterte sich die bulgarische Intelligenz für die deutsche Kunst, Literatur und Wissenschaft. Aber auch das Handels- geschäft mit Deutschland erhielt eine Prioritätsstellung und trug zur Erho- lung und Stabilisierung der bulgarischen Wirtschaft nach dem Ersten Welt- krieg bei.54 Die politischen Gegebenheiten im Kalten Krieg verpflichteten Bulgarien auf einen reglementierten Austausch von Gütern, aber auch von Wissen- schaftlern, Künstlern und Staatsbeamten mit Ostdeutschland. Die Bulgaren waren unter den stärksten Migrantengruppen (neben Vietnamesen, Un- garn und Russen) in der DDR.55 Aber Bulgarien bemühte sich um gute Beziehungen auch zum westdeutschen Staat, obgleich deutlich später. So unterschrieb der Vorstand der Volksrepublik Bulgarien, Todor Zhivkov, im Jahr 1973 ein Kulturabkommen mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und 1979 folgte dann ein zweijähriges Abkommen für wissen- schaftlich-technische sowie Bildungs- und Kulturzusammenarbeit.56 Es fanden darüber hinaus – in Ellwangen und Marburg – Tagungen statt, die die bilateralen Beziehungen verstärken sollten. Und an den Universitäten wurden bulgarische Lektorate eröffnet: In München, Münster, Heidelberg, Erlangen, Bonn, Kiel, Köln, Regensburg u. a.57 Trotzdem kann man nicht

53 Šopov 1984, 203. 54 Petzold 1981, 202. 55 Gemende 1999, 87. 56 Šopov 1984, 215. 57 Šopov 1984, 216.

169 von einer Weiterführung der Beziehungen sprechen, weder in dem Aus- maß, noch in dem Sinne der Zeit vor dem Sozialismus. Der Kalte Krieg reduzierte den Austausch zwischen Bulgarien und Deutschland auf staat- lich kontrollierte, gestenreiche, oft unnatürliche Aktivitäten und zwar so- wohl mit der BRD als auch mit der DDR. Mit der Wende begann ein Transformationsprozess in Bulgarien, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Die instabile sozialpolitische Situation und die wechselnden Regierungen in Bulgarien (keine Partei hat es bislang geschafft, ein zweites Mal Mehrheitspartei zu werden) trieben viele Men- schen auf der Suche nach mehr Möglichkeiten ins Ausland. Der vielleicht wichtigste Migrationsgrund für die qualifizierten Arbeitskräfte war der Wunsch nach einem angemessenen Beruf im Zusammenhang mit der Schließung von staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen.58 Ein all- gemeiner Beweggrund dürfte die Hoffnung auf besseres Leben und Wohl- ergehen gewesen sein.59 So wirkte eine einfache Gegenüberstellung der Gehälter in Deutschland und Bulgarien (1992 verdiente ein durchschnitt- licher Industriearbeiter in Bulgarien nur zwischen 3 % und 4 % dessen, was sein deutscher Kollege damals verdiente60) natürlich mit magischer An- ziehungskraft auf die potentiellen Migranten. Auch die Erfahrungsberichte von Mitbürgern konnten und können als ein starker Pull-Faktor der Migration dienen61, insbesondere wenn diese Berichte aus einem attrak- tiven Staat mit hohem Lohnniveau und blühender Wirtschaft wie Deutsch- land stammen. Welche Wege die Migranten für ihre Reise wählen und wohin sie steuern, hängt – wie auch aus der obigen Darlegung folgt – davon ab, in welchem ökonomischen, politischen und kulturellen Kontext das jeweilige Sendeland mit anderen, nicht unbedingt benachbarten, Ländern steht. Massey und Taylor behaupten zu Recht, dass Migranten nicht unbedingt das nächste Wohlstandsland aufsuchen, sondern sich Zielorte aussuchen, mit denen das eigene Land ökonomisch, sozial oder politisch bereits ver- bunden war oder ist.62 Auch Fassmann und Münz beobachten dieses Phäno- men innerhalb Europas und rechnen noch die historischen und kulturellen Komponenten als Faktor für Migrationsverflechtungen zwischen zwei Län- dern hinzu.63

58 Bobeva 1996, 313. 59 Bobeva 1996, 321. 60 Zimmermann 1994, 227. 61 Pries 2001, 41. 62 Massey/Taylor 2004, 385. 63 Fassmann/Münz 1996, 46–47.

170 Aus dieser kurzen Darstellung der Merkmale der bulgarischen Migration nach Deutschland dürften die wichtigsten Gründe dafür deutlich werden. Die Migrationsströme zwischen Bulgarien und Deutschland, die seit der Wende (wieder) am Laufen sind, orientieren sich nach bekannten Wegen und Zielorten. Individuelle Geschichten von bekannten Migranten aus der Vergangenheit sowie die ehemaligen politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern formen diese Ströme mental in den Vorstellungen der potentiellen Migranten der Gegenwart sowie real in ihren vollzogenen Wanderungen. Die Migrationsbewegungen der Vergangenheit erleben somit in zeitgemäßer (daher verstärkter) Form eine Wiederholung in der Gegenwart.

Literatur

Berov 1989 L. Berov, Die Transportkosten beim bulgarisch-deutschen Warenaustausch 18.- 19. Jh. In: Bulgarische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Bulgarisch-deutsche Beziehungen und Verbindungen Band 4 (Sofia 1989) 42–63.

Bobeva 1996 D. Bobeva, Migration aus und nach Bulgarien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: H. Fassmann/R. Münz (Hrsg.), Migration in Europa: Historische Ent- wicklung, aktuelle Trends, politische Reaktionen (Frankfurt 1996) 303–322.

Breinbauer 2010 A. Breinbauer, Brains on the Move. In: A. Krasteva/A. Kasabova/D. Karabinova (Hrsg.), Migration from and to Southeastern Europe (Ravenna 2010) 93–120.

Derleth 2000 J. W. Derleth, The Transition in Central and Eastern European Politics. Upper Saddle River (New Jersey 2000).

Dinova-Ruseva 1984 V. Dinova-Ruseva, Bulgarische Maler in München in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: W. Gesemann (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst (Neuried 1984) 28–38.

Ditchev 2010 I. Ditchev, From a Socialism of Migrants towards a Europe of Mobilities. In: A. Krasteva/A. Kasabova/D. Karabinova (Hrsg.), Migration from and to South- eastern Europe (Ravenna 2010) 15–24.

171 Eichengreen 1994 B. Eichengreen, Thinking About Migration: European Migration Pressures at the Dawn of the Next Millenium. In: H. Siebert (Hrsg), Migration: A Challenge for Europe (Tübingen 1994) 3–23.

Endler 2006 D. Endler (Hrsg.), Deutsch-bulgarische Begegnungen in Kunst und Literatur während des 19. und 20. Jahrhunderts (München 2006).

Faini 2005 R. Faini, Migration, Remittances and Growth. In: G. J. Borjas/J. Crisp (Hrsg.), Poverty, International Migration and Asylum (Houndmills 2005) 171–187.

Fassmann/Münz 1996 H. Fassmann/R. Münz, Europäische Migration – Ein Überblick. In: H. Fassmann/R. Münz (Hrsg.), Migration in Europa: Historische Entwicklung, aktuelle Trends, politische Reaktionen (Frankfurt 1996) 13–52.

Ficker 1984 F. Ficker, Die Münchener Akademie und die Kunst der Balkanvölker. In: W. Gese- mann (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst (Neuried 1984) 65–73.

Gemende 1999 M. Gemende, Migranten in den neuen Bundesländern. Interkulturelle Zwischen- welten und Ethnizität als Ressource gegen politische Missachtung. In: M. Ge- mende/W. Schröer/S. Sting (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur Interkulturalität (Weinheim u. München 1999) 79–101.

Georgieva 2006 M. Georgieva, An der Grenze zwischen Kunst und Leben. Die bulgarische Kolo- nie in München (1922-1923). Das Album der Gruppe „Klepalo“ (Simandron). In: D. Endler (Hrsg.), Deutsch-bulgarische Begegnungen in Kunst und Literatur wäh- rend des 19. und 20. Jahrhunderts (München 2006) 115–139.

Gounaris 1989 B. C. Gounaris, Emigration from Macedonia in the Early Twentieth Century. Journal of Modern Greek Studies 7.1, 1989, 133–154.

Grabbe 2000 H. Grabbe, The Sharp Edges of Europe: Extending Schengen Eastwards. Inter- national Affairs 76.3, 2000, 519–536.

172 Gurak/Caces 1992 D. T. Gurak/F. E. Caces, Migration Networks and the Shaping of Migration Systems. In: M. Kritz/Lin Lean Lim/H. Zlotnik (Hrsg.), International Migration Systems (Oxford 1992) 150–176.

Isserstedt/Schnitzer 2002 W. Isserstedt/K. Schnitzer, BMBF Publik: Internationalisierung des Studiums (Langenhagen 2002).

Koralsky 2006 V. Koralsky, Der Überlebende. Ein Augenzeugenbericht (München 2006).

Kotsowilis 1995 K. Kotsowilis, Die griechischen Studenten Münchens unter König Ludwig I. von Bayern von 1826 bis zur griechischen Verfassung 1844: Werdegang und späteres Wirken beim Wiederaufbau Griechenlands (München 1995).

Massey/Taylor 2004 D. S. Massey/J. E. Taylor, Back to the Future. Immigration Research, Immigration Policy and Globalization in the Twenty-First Century. In: D. S. Massey/J. E. Taylor (Hrsg.), International Migration. Prospects and Policies in a Global Market (Oxford 2004) 373–388.

Paskaleva 1984 V. Paskaleva, Mitteleuropa und die bulgarische Wiedergeburt im 18.-19. Jahr- hundert. In: W. Gesemann (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Ge- schichte, Kultur und Kunst (Neuried 1984) 125–136.

Petzold 1981 J. Petzold, Der deutsche Imperialismus und Bulgarien vom Ersten bis zum Zwei- ten Weltkrieg. In: Bulgarische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Bulgarisch- deutsche Beziehungen und Verbindungen 3 (Sofia 1981) 186–221.

Portes 1995 A. Portes, The Economic Sociology of Immigration (New York 1995).

Pospíšilová/Bo²kova 2003 J. Pospíšilová/H. Bo²kova, Bulgarische Gärtner in Brünn: Ein Blick von innen und von außen. In: K. Roth (Hrsg.), Vom Wandergesellen zum „Green Card“-Spezia- listen (Münster 2003) 83–106.

Pries 2001 L. Pries, Internationale Migration (Bielefeld 2001).

Roth 2003 K. Roth (Hrsg.), Vom Wandergesellen zum „Green Card“-Spezialisten (Münster 2003).

173 Šarova 1984 K. Šarova, Die diplomatische Tätigkeit der Bulgaren in der Zeit der nationalen Wiedergeburt. In: W. Gesemann (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst (Neuried 1984) 183–200.

Schaller 1998 H. Schaller, Bulgarien in Europa. Materialien zur Buchausstellung (Marburg 1998).

Šopov 1984 P. Šopov, Bulgarien in den zeitgenössischen kulturellen Beziehungen. In: W. Gese- mann (Hrsg.), Bulgarien. Internationale Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst (Neuried 1984) 201–219.

Statistisches Jahrbuch München 2000 Statistisches Amt der Landeshauptstadt München (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der Stadt München (München 2000).

Sterbling 2006 A. Sterbling, Migration aus Südosteuropa. Ein Überblick. In: A. Sterbling (Hrsg.), Migrationsprozesse (Hamburg 2006) 113–130.

ZDV Zentrale Datenverarbeitung, Abt. II A – Studentenreferate. Studentenstatistik Sommersemester 2004. München: LMU.

Zimmermann 1994 K. F. Zimmermann, Immigration Policies in Europe: An Overview. In: H. Siebert (Hrsg), Migration: A Challenge for Europe (Tübingen 1994) 227–258.

174 Corinna Leschber

Lateinische und italienische Etymologien im Bulgarischen

In der bulgarischen Literatursprache finden sich zahlreiche Wörter mit lateinischer Etymologie. Viele dieser gelehrten Übernahmen wurden dem Bulgarischen im 18. und 19. Jahrhundert über das Russische und west- europäische Sprachen, wie das Französische, Englische und Deutsche ver- mittelt. Beispiele aus dem Bereich der Wissenschaft sind nach Milev (1979, 147–160) und Bojadžiev (1986, 193–194) bulg. vakuum, globus, profesor, gradus, dekan, diktovka, konus, radius, formula, docent, meridian, alibi, univer- sitet, škola, student, asistent, auditorija, rektor, lekcija, laboratorija. Die meisten dieser Wörter haben die Bedeutung des lateinischen Ursprungswortes bewahrt. Im Bulgarischen finden sich viele Latinismen im Wortschatz der Politik, der Philosophie, der Verwaltung, der Technik und der Kultur, wie bulg. avtor, advokat, arena, administrator, director, diktatura, distancija, doctor, erudicija, ekskurzija, kancelarija, konstrukcija, konstitucija, kooperacija, kultura, literatura, maksimum, minimum, minist©r, natura, notarius, progres, pompa, ple- num, populjaren, proletariat, protekcija, republika (< frz. < lat.), familija, cher- barij, cirk, cirkuljar, ciment, etc. Die für die lateinischen Ursprungswörter typischen Suffixe -um, -us, -tor, -ent, -ura und -cija (durch russische Vermittlung), finden sich auch in bulg. ultimatum, forum, korpus, radius, sekcija, direktor, dokument, incident, cenzura, usw. Produktive Morpheme lateinischer Herkunft im Bulgarischen sind audio-, video-, vita-, de-, ekstra-, eks-, inter-, infra-, kontra-, re-, trans-, ultra-und viele mehr. Das alte lateinische Suffix –arius wurde bereits im Altslavischen bzw. Altbulgarischen zu

–ar˪ umgeformt und diente auch hier zur Bildung von Nomina agentis: alt- bulg. vinar˪ „Winzer, Weinbauer”, gr˨n²ar˪„Töpfer”, rybar˪„Fischer”. Auch in den bulgarischen Dialekten und in der Umgangssprache finden sich Wörter mit lateinischer, bzw. romanischer Etymologie. So gelten die folgenden Wörter als aus dem volkstümlichen, gesprochenen Latein über- nommen:

Bulg. ocèt „Essig”, früh übernommen als altbulg. oc˪t˪< lat. ac¾tum (BER IV, 987), weist jedoch phonetische Schwierigkeiten auf.

175 Bulg. dial. Bivolìca „Büffelweibchen”, fig. auch „große, kräftige Frau”, Demin. von bulg. bìvol, altbulg. bivol˨„Büffel”, übernommen aus vulgärlat. *bĀvalus, lat. *bĀbalus. Dieses bulg. Wort wurde in das Rumänische als bivolíô© „Büffel- weibchen” übernommen (Petrovici 1966, 314; BER I, 46).

Bulg. komìn „Schornstein”, ursprünglich zu balkanlat. caminus„Ofen, Feuer- stelle”, vgl. lat. camÎnus„Feuerstätte, Schmelzofen, Esse, Kamin, Kaminfeuer” (BER II, 572).

Bulg. kùpa [BER III, 139; kùpa (2)] „tiefes, halbrundes Gefäß, tiefe Schale”, zu altbulg. kupa „Becher, Fass“, vgl. dazu neu- und altgriech. ̍ΓΙΔ΅ „Becher, Pokal” < lat. Cupa „Tonne, Fass”. Dieses bulg. Wort wurde dem Rumänischen übermittelt: cúp©„(Holz-) Becher, Pokal, Kelch, Getränkemaß, Schaufel des Mühlrades“ (Filipova-Bajrova 1969, 114; Barbolova 1999, 189).

Bulg. m©st „Most” ursprünglich aus balkanlat. Mustum „Most” (BER IV, 431– 432), bulg. m©st(2) (Walde-Hofmann 1938, 136; Mladenov 1987, 79, 82, 102; Meyer-Lübke 2009, REW 5783) mýstum „Most”.

Bulg. pàtja(Vb.) „leiden”, ursprünglich aus balkanlat. patio, patire „leiden” (BER V, 101). Zu den christlichen Termini gehören laut Trummer (1998, 158) bulg. po- gànin, Kolèda/Kòleda, oltàr und kòmka:

Bulg. volkstümlich pogànin „Heide, Person anderen, nichtchristlichen Glaubens, unreiner, schmutziger Mensch” – über altbulg. poganin˨ „Nichtchrist, Heide” zu urslav. *pag¬nin˨, durch Suffixwechsel *pag¬n˪c˪, aus urslav. *pag¬n˨ mit einer hohen Produktivität, wovon zahlreiche Derivate im Bulgarischen zeu- gen. Vergleiche dazu aus volkslatein./balkanlat. pag¬nus „heidnisch, Heide” (BER V, 415–421). Vergleiche dazu im volkstümlichen, umgangssprachlichen Bulgarischen mit auf das Urslavische zurückgehendem Suffixwechsel pogànec „Heide, Kerl, Strolch” (BER V, 419–420). Das o. g. volkslat. Wort stammt von dem klassischen lateinischen p¬g¬nus „dörflich, dumm, heidnisch, Heide”. Dies wurde abgeleitet von p¬gus „Dorf, dörfliche Siedlung, Landkreis, Bezirk, Gau”, zu lat. pangç, pangere „einschlagen, befestigen” und „festsetzen, be- stimmen, verabreden” (de Vaan 2008, 442–443). Dieses Wort wurde als p©gîn ins Rumänische übernommen. Die Spezialisierung der Bedeutung im Lateini- schen geht laut BER (V, 417) auf die Zeit zurück, als das Christentum Staats- religion wurde, sich in den Städten durchgesetzt hatte, das Heidentum in abgelegenen Dörfern und Provinzen jedoch fortbestand. Auf der Sprachkarte Nr. 42 des Bulgarischen Dialektatlasses, im zusammenfassenden Band, findet sich das Wort mit einer nördlichen/westlichen Ausbreitung und mit der Be- deutung „Maus”. Siehe dazu im B©lgarsko-nemski re²nik (2001, 723) bulg.

176 dial. pogànec(2) „Maus”. Im BER (V, 420) wird dies im Abschnitt bulg. pogànec (2) „Maus, Ratte” erläutert, auch bulg. dial. pogànek (1) „Ratte, Maus”, siehe dazu nach Dukova (1985, 35) slowenisch podg¬na „Ratte” < ital. pantegan, pantegana, pontekana „Ratte”, ursprünglich aus lat. (mus) ponticus „pontische Maus” (siehe auch im BER V, 419) – damit handelt es sich um ein Homonym anderer Herkunft, bzw. Etymologie.

Bulg. Kolèda/Kòleda „Weihnachten“, bulg. dial. auch Kòlenda, altbulg. kol¿da „Neujahrstag”, laut BER (II, 551–552) eine alte Übernahme aus lat. „calendae“ (der) erste Tag im Monat, Zahltag” (Mladenov 1987, 79, 90). Altbulg. kol¿da „Neujahr” < lat. Calendae „erster Tag im Monat” wurde auch in das Rumä- nische übernommen als colínd© „Weihnachts-, Neujahrslied; anhaltende Wan- derung, Zug, Streifen; Weihnachtskuchen; Kringel, den man den Weihnachts- sängern als Entlohnung gibt“. Der erhaltene Nasalvokal belegt dessen frühe Übernahme aus dem Altbulgarischen. In Zentralrumänien lässt sich auf einer Sprachinsel das bulg. dial. Kolanda „Weihnachten” nachweisen. Ein verwandtes Wort tritt sogar im Ukrainischen auf: koljada „Weihnachten, Weihnachtslied” (BER II, 551–552; DLR C, 658–659 colínd© [3]).

Bulg. oltàr „Altar”, ursprünglich aus urslav.*alt¬rj˪< althochdeutsch alt¬ri < lat. alt¬re, zu altus „hoch” (BER IV, 864). Ins Rumänische als oltar übernommen.

Bulg. umgangssprachlich, im religiösen Kontext kòmkam (Vb.) „das Abendmahl reichen”, kòmkam se „das Abendmahl empfangen”, cf. kirchenslav. Kom˨kati „die heilige Kommunion spenden”, nach Berneker (I, 557) über *comncare < lat. commĀnicare, als intransitives Verb auch „das Abendmahl empfangen, das Abendmahl reichen”. Die Bedeutung des transitiven Verbs ist „gemeinsam machen, vereinigen, teilen, mitteilen, geben”. Ein Derivat ist bulg. kòmka „Hostie, Abendmahl” (BER II, 573–574). Einen Überblick über die Rolle des Lateinischen und des Frühromanischen in Südosteuropa bietet Trummer (1998, 157–158), während Fellerer (1998) die Auswirkungen des slavisch-romanischen Sprachkontaktes insbeson- dere für die slavischen Sprachen untersucht. Aus dem Lateinischen stammende Wörter finden sich in vielen Be- deutungsfeldern des Bulgarischen:

Bulg. kùkla „Puppe”, ursprünglich aus balkanlat. cuculla, spät- oder mittel- lateinisch nach Menge (1985, 143) mit der Bedeutung „Mönchskutte, Kapuze am Mantel” (BER III 90–91 kúkla [1]).

Bulg. archaisch klevrèt „unehrlicher, korrupter Beamter” < altbulg. klevr»t˨ „Gefährte, Arbeitskollege” < *k˨l˪vr»t˨ < griech. *ΎΓΏΏϟΆΉΕΘΓΖ < mittelalter- liches lat. collÎbertus „Mitfreigelassener” (BER II, 428).

177 Bulg. vr©²va „Krug, Kanne, Tongefäß” (Mladenov 1987, 79, 84), nach den Angaben des BER (I, 191) stammt dieses bulg. Wort mit südwestlicher Aus- breitung aus altbulg. *vr˨²˪ < volkslatein. *urk-i-s– vergleiche dazu urceus „Krug, Wasserkrug, Tonkrug”, urceus, orca „Tonne (für eingesalzene Fische)”. Damit verwandt ist lat. urna „Wasserkrug, Flüssigkeitsmaß, Krug, Topf, Urne, Schicksalsurne, Aschenkrug, Stimm- und Losurne, Wahl durch das Los”. Bei diesen lateinischen Wörtern dürfte es sich ursprünglich um Übernahmen aus ’mediterranen Sprachen’ handeln (Menge 1985, 542–543). Im etymologischen Wörterbuch des Lateinischen und der italischen Sprachen sind diese Wörter nicht verzeichnet (de Vaan 2008). Breyer (1993, 276–279) diskutiert Deutungs- versuche aus dem Etruskischen und weiteren mediterranen Sprachen (Walde- Hofmann 1938, 838–839).

Bulg. kmet „Bürgermeister” zu späturslav. *k˨met˪ „höherer Beamter, geach- teter Dorfbewohner”, mit der ursprünglichen Bedeutung „Dorfbewohner, Bauer” (BER II, 494–495), aus dem lat. Akkusativ *com¼ыte(m), *cum¼ыte(m) von lat. comes, Genitiv comitis „der mit jemandem geht, Weggefährte, Begleiter, Teilnehmer, Erzieher, Hofmeister, Klient”, im Plural „Gefolge, Hofstaat”. Im BER (II, 494) wird auf abweichende Deutungsversuche aus urslavisch *k˨- met˪ja, *k˨met˪je (Plural) hingewiesen, mit der ursprünglichen Bedeutung „(die hervorragendsten) Bewohner des Bezirkes, des Gebietes”, ebenfalls aus dem Lateinischen stammend.

Bulg. dial. rùža „Rose” und als Bezeichnung diverser weiterer Blumen, sonst auch „Eibisch”, einst über mittelhochdeutsch rçse < volkslat. rçsa, lat. (mittel- lat.) rosa, roza (Paraškevov 1987, 36; BER VI, 338).

Bulg. mesàl „Tischtuch, Tuch” < neugriech. ΐΉΗΣΏ΍, mittelgriech. ΐΉΗΣΏ΍ΓΑ „id.” < mittellat. mensale < lat. mensalium zu mensa „Tisch” (BER III, 753–754). In mittelbulgarischen Schriftdenkmälern des elften bis vierzehnten Jahr- hunderts finden sich zum Beispiel folgende Wörter mit einer lateinischen Etymologie:

Bulg. dial. košùlja „Hemd”, ursprünglich zu Balkanlatein*casulla < spätlatei- nisch casula (Demin.) „Messgewand, Kleid mit Kapuze” aus der ursprünglichen Bedeutung „kleine Hütte, Totenkammer”, abgeleitet von casa „Häuschen, Hütte” (Walde-Hofmann 1938, 175; BER II, 695–696; Mladenov 1987, 79, 86).

Bulg. panìca „irdene Schüssel”, ursprünglich zu kirchenslav. pany (nach dem neunten Jahrhundert übernommen) < althochdeutsch pfanne, mittelhoch- deutsch pfanne < vulgärlatein panna (mit Synkope) aus lat. patina „Pfanne, Schüssel” (BER V, 45–46).

178 Bulg. kum „Trauzeuge”, ursprünglich vgl. altbulg. k©motr© < spätlat. commater „Gevatterin”, compater „Gevatter” (BER III, 124–125; Mladenov 1987, 89). Über griechische Vermittlung wurden folgende Wörter in das Bulgarische übernommen:

Bulg. klisùra „Schlucht“ < neugriech. ΎΏΉ΍ΗΓΙΕ΅, ursprünglich zurückzufüh- ren auf lat. clausĀra, unter Einwirkung volksetymologischer Prinzipien (BER II, 459; Filipova-Bajrova 1969, 108).

Bulg. katinàr „Vorhängeschloss” < neugriech. ̍΅Θ΋ΑΣΕ΍ – ein Demin. von mittelgriech. Ύ΅ΘφΑ΅, Ύ΅ΘϟΑ΅ „Kette” < ital. catena < lat. cat¾na (BER II, 273; Filipova-Bajrova 1969, 103).

Bulg. kandìlo„ewiges Licht (vor einer Ikone)“ < neugriech., mittelgriech. Ύ΅ΑΈφΏ΅, Ύ΅ΑΘφΏ΅ < lat. cand¾la „Wachskerze” (BER II, 202–203; Filipova- Bajrova 1969, 100).

Bulg. lukànka „Dauerwurst” < neugriech. ΏΓΙΎΣΑ΍ΎΓ, mittelgriech. ΏΓΙΎΣΑ΍ΎΓΑ < lat. lucanicum „Salami aus Lukanien” (BER III, 499; Filipova-Bajrova 1969, 121).

Bulg. fùrna „Ofen” stammt laut Filipova-Bajrova (1969, 168) aus neugriech. ˟˓ϾΕΑΓΖ < lat. furnus „Backofen” (Dzidzilis 1990, 33; Mladenov 1987, 79, 88).

Bulg. disàgi (Plural) „Satteltasche, Quersack” < griech. Έ΍ΗΣΎΎ΍, mittelgriech. Έ΍ΗΣΎΎ΍ΓΑ, Ά΍ΗΣΎΎ΍ΓΑ „id.”, Demin. von ΈϟΗ΅ΎΎΓΖ, evtl. aus lat. bisaccium (Milev 1979, 149) oder aus dem Semitischen (BER I, 396; Filipova-Bajrova 1969, 86). Einen besonders interessanten Lehnweg zeigt bulg. kantàr „Waage” < türk. kantar < arab. qint¬r < griech. Ύ΅ΑΘ΋ΑΣΕ΍(ΓΑ) < lat. cent¾n¬rium, einer Ab- leitung von centum „Hundert” (BER II, 208–209; Grannes et al. 2002, 123).

Mit dem italienischen Einfluss auf das Bulgarische haben sich Vankov (1959) sowie Petkanov (1965a und b; 1973; 1979) befasst. Einen Überblick bietet wiederum Trummer (1998, 146–147), der die Bedeutung Venedigs als Seemacht ab dem 9. Jahrhundert, die Genuas ab dem 12. Jahrhundert und schließlich beider Mächte ab dem 13. Jahrhundert verdeutlicht. Er be- schreibt zudem die Bedeutung dieser Seemächte bei der Herausbildung einer ’lingua franca’ im östlichen Mittelmeer, „mit reduzierter Grammatik aber spezialisierter Lexik für das See- und Handelswesen” (Trummer 1998, 152). Im Türkischen lassen sich intensive Spuren dieser Sprachkontakte nachweisen (Kahane et al. 1958). Einwirkungen dieser Terminologie sind an der bulgarischen Schwarzmeerküste festzustellen, meist wurde dieses

179 spezifische Wortgut über das Griechische und Türkische vermittelt (Trum- mer 1998, 153). Zu diesen Entlehnungen zählen bulg. kambàna „Glocke“ < neugriech. Ύ΅ΐΔΣΑ΅ < ital. campana „id.” (BER II, 186), allerdings wurde altbulg. k­pona bereits aus lat. campana „Glocke” übernommen, und in der Folge auch in das Rumänische als cúmp©n© „Waage; Maß, (Brunnen-) Schwengel; Wasserwaage; Gerät, mit dem die Trauben zur Kelter getragen werden“ (Duridanov 1991, 8; Cior©nescu 2001). Zu diesen Entlehnungen im Zusammenhang mit der oben beschrie- benen ’lingua franca’ zählt auch bulg. màndža „Speise, Eintopf”, über türk. manca „Nahrung, Katzen- und Hundefutter” aus dem venezianischen Gefängnisjargon mit der Bedeutung „Fressen”, nordital. dial. „Viehfutter”, vgl. ital. mangiare „essen” (BER III, 645). Darüber hinaus finden sich zahlreiche italienische Wörter in der bul- garischen Literatursprache a. im Bereich der Kunst, der Musik und der Literatur, zum Beispiel bulg. barok, kolorit, karikatura, novela, pastel, palintra, scenarij, sgrafito, tempera, andante, alegro, arija, alt, bravo, bufonada, bas, bariton, balerina, violon²elo, virtuoz, opera, piano, tenor, b. im Finanzsektor: bulg. banka, borsa, valuta, debit, inkasiram, kredit, kasa, kvitancija, c. in der Küche: biškoti, bira, kanela, limon, makaroni, olio, soda, sardela, salata, salam, d. sowie in den verschiedensten Bedeutungsfeldern: bulg. baraka, kazarma, kata- komba, kazino, piaca, tribuna, avarija, banda, bomba, butilka, granata, gvar- dija, influenca, mostra, mozajka, sako, turbina, trafik, tombola, fontan. Ivanov (1997, 165–166) hat den Wortschatz der bulgarischen Sonder- und Geheimsprachen untersucht und herausgefunden, dass unter insgesamt 5100 untersuchten sondersprachlichen bulgarischen Wörtern 35 Wörter aus rumänischen Dialekten stammen, also 0,68 %, und 23 Wörter (0,45 %) aus dem Italienischen, nämlich bulg. bufèla, dàlenka, karantìna, karafìla, kàtra, los, tènte, tìbul, càkle, fok, ²i²òva, ²ò²a, etc. In Ivanov (1986) werden deren hoch- komplexe Etymologien und Lehnwege im Einzelnen aufgezeigt.

Literatur

B©lgarski dialekten atlas 2001 B©lgarska akademija na naukite (Hrsg.), B©lgarski dialekten atlas. Obobštavašt tom. I – III Fonetika, akcentologija, leksika (Sofia 2001).

180 B©lgarsko-nemski re²nik 2001 P. Petkov et al., B©lgarsko-nemski re²nik (Sofia 2001).

Barbolova 1999 Z. Barbolova, Imena za s©dove v b©lgarskite dialekti (Sofia 1999).

BER T. Georgiev/T. Todorov (Hrsg.), B©lgarski etimologi²en re²nik. B©lgarska aka- demija na naukite I– VII (Sofia 1971–2010).

Berneker 1908–1913 E. Berneker, Slavisches Etymologisches Wörterbuch (Heidelberg 1908–1913).

Bojadžiev 1986 T. Bojadžiev, B©lgarska leksikologija (Sofia 1986).

Breyer 1993 G. Breyer, Etruskisches Sprachgut im Lateinischen unter Ausschluss des spezi- fisch onomastischen Bereiches. Orientalia Lovaniensia analecta 53 (Leuven 1993).

Cior©nescu 2001 A. Cior©nescu, Dicôionarul etimologic al limbii române (Bucureóti 2001).

DLR Dicôionarul limbii române. Editura Academiei Române (Bucureóti 1913).

Dukova 1985 U. Dukova, Die Bezeichnungen der Dämonen im Bulgarischen. Linguistique Bal- kanique 28.2, 1985, 5–62.

Duridanov 1991 I. Duridanov, Die ältesten slavischen Entlehnungen im Rumänischen. Linguis- tique Balkanique 34.1/2, 1991, 3–19.

Dzidzilis 1990 C. Dzidzilis, Foneti²ni problemi pri etimologizuvane na gr©ckite zaemki v b©l- garskija ezik (Sofia 1990).

Fellerer 1998 J. Fellerer, Slavisch und Romanisch. In: G. Holtus/M. Metzeltin/C. Schmitt (Hrsg.), Lexikon der Romanistischen Linguistik 7 (Berlin 1998) 184–230.

Filipova-Bajrova 1969 M. Filipova-Bajrova, Gr©cki zaemki v s©vremennija b©lgarski ezik (Sofia 1969).

181 Grannes et al. 2002 A. Grannes/K. R. Hauge/H. SüleymanoÂlu, A Dictionary of Turkisms in Bul- garian (Oslo 2002).

Ivanov 1986 J. Ivanov, B©lgarskite tajni zanajat²ijski govori. Doktorska disertacija (Sofia 1986).

Ivanov 1997 J. Ivanov, B©lgarska dialektologija (Sofia/Plovdiv 1997).

Kahane et al. 1958 H. Kahane/R. Kahane/A. Tietze, The Lingua Franca in the Levant. Turkish Nau- tical Terms of Italian and Greek Origin (Urbana 1958).

Menge 1985 H. Menge, Langenscheidts Taschenwörterbuch Lateinisch (Berlin 1985).

Meyer-Lübke 2009 W. Meyer-Lübke, Romanisches Etymologisches Wörterbuch (7. Auflage Heidel- berg 2009).

Milev 1979 A. Milev, Latinskite dumi v b©lgarskija ezik. In: C. P©rvev, Pomagalo po b©lgar- ska leksikologija (Sofia 1979) 147–160.

Mladenov 1987 M. Mladenov, Arealna charakteristika na romanski elementi v b©lgarskite dia- lekti. Die slawischen Sprachen 12, 1987, 75–122.

Paraškevov 1987 B. Paraškevov, Etimologi²ni dubleti v b©lgarskija ezik (Sofia 1987).

Petkanov 1965a I. Petkanov, Influenze italiane sulla lingua bulgara moderna e contemporanea. Lingua nostra 26, 1965, 117–122.

Petkanov 1965b I. Petkanov, L´elemento italiano nella lingua marinara e peschereccia bulgara 1. Bollettino dell´Atlante linguistico Mediterraneo 7, 1965, 65–90.

Petkanov 1973 I. Petkanov, L´elemento italiano nella lingua marinara e peschereccia bulgara 2. Bollettino dell´Atlante linguistico Mediterraneo 13–15, 1973, 643–644.

Petkanov 1979 I. Petkanov, Italianski leksikalni elementi v b©lgarski ezik. In: C. P©rvev (Hrsg.), Pomagalo po b©lgarska leksikologija (Sofia 1979) 239–249.

182 Petrovici 1966 E. Petrovici, Le latin oriental possédait-il des éléments slaves? Revue roumaine de linguistique 11.4, 1966, 313–321.

Trummer 1998 M. Trummer, Südosteuropäische Sprachen und Romanisch. In: G. Holtus/M. Metzeltin/C. Schmitt (Hrsg.), Lexikon der Romanistischen Linguistik 7 (Berlin 1998) 134–183. deVaan 2008 M. deVaan, Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages (Leiden/Boston 2008).

Vankov 1959 L. Vankov, K©m istorijata na italianskite zaemki v b©lgarski 1762-1860. Godišnik na Sofijskija universitet, Filologi²eski fakultet 52.2, 1959, 201–312.

183 Ruselina Nicolova

Der bulgarische Admirativ und seine Wiedergabe im Deutschen

Der Begriff Admirativ wird zum ersten Mal von A. Dozon in seinem Albanisch-Lehrbuch aus dem Jahre 1879 erwähnt, und zwar als Bezeich- nung für einen spezifischen Modus im Albanischen, der Verwunderung und Erstaunen zum Ausdruck bringt. Im Bulgarischen wird der Admirativ zum ersten Mal von dem großen deutschen Sprachwissenschaftler Gustav Weigand im Jahre 1925 beschrieben. Andere Bezeichnungsformen für die gleiche grammatische Erscheinung stammen von Ljubomir Andrej²in (1938) als Inopinativ (Modalform der Verwunderung) oder Exclamativ von Svetomir Ivan²ev (1973). Laut Weigand ist der bulgarische Admirativ eine Verwendung des Per- fekts anstatt des Präsens, um eine Überraschung oder Verwunderung über einen plötzlich entdeckten Fakt oder ein eingetretenes Geschehnis zum Ausdruck zu bringen, ein „Überraschtsein über ein nicht gewußtes Ge- schehnis“ (Weigand 1925, 150). Stellen wir uns folgende Situation vor: Der Sprecher schaut an einem sonnigen Tag aus dem Fenster hinaus und als er sieht, dass es auf einmal zu regnen beginnt, sagt er verwundert:

ɧˠ, ˘˓ ʵʲˏˮˏ˓! – Ach, es regnet ja! Weigand hat sowohl die Semantik des bulgarischen Admirativs exakt er- kannt als auch dessen Formen genau bestimmt, und genau darüber herr- schen bis heute in der Bulgaristik verschiedene Meinungen. Seiner Mei- nung nach hat der Admirativ zwei Formen:

Erstens: als Perfekt ohne das Hilfsverb ˖˨ː (sein) in der 3. Person und Zweitens: als doppelt zusammengesetztes Perfekt, wie die Form des renarra- tiven Perfekts/Plusquamperfekts, z. B.: ʊ˓ˇ ʴˆˏ ˖ʺ ˘ʵ˨˕ʹʺ ːˑ˓ʶ˓ ˆ˄ːʺˑˆˏ! - Er hat sich aber stark verändert! Oder: ʊˆ ˖ˆ ʴˆˏ ːˑ˓ʶ˓ ˑʲ˔˕ʺʹˑʲˏ! - Sieh mal einer an, du bist aber gut voran gekommen! Dabei führt Weigand Beispiele für die persönlichen und unpersönlichen Gebrauchsmöglichkeiten des Admirativ an:

ʊˆ ˖ˆ ʴˆˏ ʴ˓ʶʲ˘ ˣ˓ʵʺˊ! – Du bist aber recht wohlhabend! ʊ˓ˇ ˑʺ ˔˕ˆˏˆˣʲˏ ˑʲ ʴʲ˧ʲ ˖ˆ! – Er sieht seinem Vater aber gar nicht ähnlich! ʊ˓ ʴˆˏ˓ ˠ˙ʴʲʵ˓ ʵ ʶ˕ʲʹʲ! – Es ist doch ganz schön in der Stadt!,

184 wobei er auch die albanischen Entsprechungen hinzu zieht. Er geht davon aus, dass der bulgarische Admirativ unter albanischem Einfluss entstanden ist. Dieser Einfluss kam, seiner Meinung nach, auf dem geographischen Gebiet des Makedonischen mit gemischter bulgarischer und albanischer Bevölkerung zustande, oder aber, so seine zweite Version: Als die albani- schen Händler ihre Waren in Bulgarien verkauften, haben sie zur Ver- breitung dieser Sprachform beigetragen. Die These des albanischen Einflusses stieß bei den bulgarischen Gelehr- ten sofort auf Kritik, wobei nicht nur historische, sondern auch rein philo- logische Argumente dagegen angeführt wurden. So auch noch in heutiger Zeit (siehe hierzu beispielsweise ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ 1926; ɩʺ˦ʺʵˏˆʺʵ 1928; ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 101–121, ɧˏʺˊ˖˓ʵʲ 2003, 11–14, Nicolova 2003, 26–27). Es gibt keine Beweise für einen intensiven sprachlichen Kontakt zwischen Albanern und Bulgaren in den Gebieten mit gemischter Bevölkerung Makedoniens, denn bis heute leben diese beiden ethnischen Gruppen dort voneinander getrennt. Die philologischen Argumente sind ebenfalls über- zeugend. An erster Stelle müssen wir hier die unterschiedlichen Modelle zur Bildung der Formen des Admirativs im Bulgarischen und im Al- banischen betrachten. Die Formen des albanischen Admirativs, die unter- schiedliche Paradigmen für Präsens, Perfekt, Plusquamperfekt und Imper- fekt haben, werden durch Inversion und Verschmelzung von den einzel- nen Komponenten des Perfekts gebildet und unterscheiden sich dadurch von den Formen des bulgarischen Admirativs. So z.B. Alb. Ai ka punuar (Pf:Ind:3Sg:M) – ‘ʊ˓ˇ ʺ ˕ʲʴ˓˘ˆˏ‘ – Ai punuaka (Prs:Adm:3Sg) – ‘ʠ, ˘˓ˇ ˕ʲʴ˓˘ʺˏ!’ (Duchet, Përnaska 1996, 31-32). Die Bedeutung des albanischen Admirativs unterscheidet sich ebenfalls von der Bedeutung des bulgarischen Admirativs. Im Albanischen ist das Perfekt aufgespalten in eine nicht markierte Vergangenheit und in ein neues Perfekt mit einer Inversion der Bestandteile – einem Admirativ, der allmählich alle Nuancen einer nichtindikativen Evidentialität bezeichnet. Im Albanischen ist der Admirativ eine unabhängige Kategorie (Friedmann 1981, 24), im Gegensatz zum Bulgarischen und Türkischen, wo der Admi- rativ ein Gebrauch evidentialer Formen ist. Außerdem wird der Admirativ im Albanischen viel öfter und ohne diese strengen semantischen Ein- grenzungen der Verbklassen, wie das im Bulgarischen und im Türkischen der Fall ist, gebraucht. Wie ein Vergleich zwischen dem Original der Erzählung „Baj Ganju“ von A. Konstantinov und seinen Übersetzungen ins Albanische und ins Türkische zeigt, entsprechen die zahlreichen, in der albanischen Übersetzung belegten Formen des Admirativs, nur in 10–15% der Fälle denen im bulgarischen Text (Friedmann 1981).

185 Der bulgarische Admirativ hingegen weist eine gewisse typologische Nähe zum türkischen Admirativ auf. Im Türkischen wird der Admirativ durch die mIó-Formen zum Ausdruck gebracht, welche als Formen der indirekten Erfahrung dienen, die auch renarrative und konklusive Bedeu- tung ausdrücken können. Im Gegensatz dazu ist der Admirativ im Bul- garischen eine Transposition der Renarrativformen. In beiden Sprachen ist der Admirativ emotional besetzt, das heißt, er ist meist in Äußerungen anzutreffen, die Verwunderung, Erstaunen, Ironie, Verachtung oder aber Komplimente zum Ausdruck bringen (Slobin/Aksu 1982). D. h. beim Gebrauch des Admirativs stellen wir fest, dass es Paral- lelen in beiden Sprachen gibt. Das ist leicht nachvollziehbar, denn der Admirativ ist eine Form, die vorwiegend in der mündlichen Umgangs- sprache gebraucht wird, also in einer Kommunikationssphäre, die auf dem direkten Kontakt der Sprecher basiert. Und eben in dieser Sphäre ist der Sprachkontakt intensiv und emotional gefärbte Äußerungen treten dort am häufigsten auf. Außerdem ist der Gebrauch des Admirativs, sowohl im Türkischen als auch im Bulgarischen, relativ selten, ganz im Gegensatz zum Albanischen.

Formenbildung

Einige Autoren gehen davon aus, dass der Admirativ ein Perfekt des Indikativs mit Ellipse des Hilfsverbs sein in der 3. Person Singular ist (Weigand 1925; ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ 1926; ɩʺ˦ʺʵˏˆʺʵ 1928; Ivan²ev 1973; ɸʵʲˑˣʺʵ 1976, 359; ʔ˓ˑʺʵ 1985; ɪ˕ˆˑʲ 1989; Guentchéva 1990, 51). Grundsätzlich ist es so, dass alle historischen Perfektformen in semantischer Hinsicht mit dem indikativischen Perfekt verbunden waren, doch jetzt, wo im Bulga- rischen ein ganzes System von Evidentialformen besteht, das sogar schon aus rein formaler Sicht erkennbar ist, kann man nicht mehr davon aus- gehen, dass der Admirativ ein indikatives Perfekt ist, weil das Perfekt keine Formen mit dem imperfektivischen Partizip, sondern nur mit dem Aorist-Partizip bilden kann (siehe hierzu auch ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 106 und ɧleksova 2001, 28). Gerdžikov geht davon aus, dass der Admirativ ein „besonderer, emo- tional-expressiver Gebrauch des Konklusivs ist, bei dem das Hilfsverb in der 3. Person entfallen kann” (ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 111). Er, und ebenso seine Schülerin Krasimira Aleksova, die (2003) eine umfassende und detaillierte Monographie zu diesem Thema verfasst hat, legen dar, dass es zwei Varianten des Admirativs gibt, zum einen, die expressivere mit Auslassen des Hilfsverbs sein und zum anderen die weniger expressive mit sein. Man kann aber auch annehmen, dass die weniger expressive Variante einfach

186 eine Gebrauchsvarietät des Konklusivs mit emotionaler Note ist, so wie manchmal auch der Indikativ dahingehend gebraucht werden kann (siehe ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1999, 430), obgleich ein solcher Gebrauch wohl kaum als Admira- tiv im terminologischen Sinn dieses Begriffs unter den modernen typo- logischen Studien gelten kann. Die dritte Meinung (Andrej²in 1938; ʂʲ˖ˏ˓ʵ 1956; ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ 1976; Walter 1977; ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ 1993; ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994; RåHauge 1999, 28; u. a.) ist, dass die Formen des Admirativs mit den Formen des Renarrativs über- einstimmen. Diese Meinung überzeugt uns am ehesten, da aus formaler Sicht der Admirativ mit den Formen des Renarrativs in der 3. Person (diese Formen werden am häufigsten gebraucht) übereinstimmt - in der 1. und 2. Person sind die Formen des Renarrativs und des Konklusivs gleich. Es gibt keine einheitliche Meinung über die Anzahl der Tempusformen im Admirativ. Jene Autoren, die davon ausgehen, dass der Admirativ ein Gebrauch des indikativischen Perfekts ist, berücksichtigen nur eine Zeit- form. Andrej²in vertritt die Meinung, dass der Admirativ seinen Gebrauch nicht nur auf dem Gebiet der Vergangenheit, sondern auch in die Gegen- wart und in die Zukunft hinein erweitern könnte. Außerdem geht er davon aus, dass außer den Formen des Renarrativs mit admirativer Bedeutung auch die Formen des Dubitativs gebraucht werden können (Andrej²in 1938; ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ 1976, 347), jedoch kann er dies nicht mit Beispielen belegen. Gerdžikov vertritt ebenfalls die Meinung zur größeren Formenbreite des Admirativs, sowohl ohne Hilfsverb sein in der 3. Person als auch solche Formen, die mit den Konklusivformen (mit Hilfsverb sein) überein- stimmen, und zwar für alle Temporalformen, mit Ausnahme des Futurum exactum praeteriti und eventuell auch des Futurum exactum (ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 102). Wenn wir aber von der engeren Definition des Admirativs ausgehen, wie sie in den modernen typologischen Untersuchungen vor- herrscht, dann gehen wir davon aus, dass der Admirativ nur in zwei temporalen Formen vorkommt, bei denen das Intervall der Referenz den Redemoment mit einschließt (ähnliche Meinungen vertreten auch ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1982 und Guentchéva 1990). Die Zeitformen des Admirativs sind unserer Meinung nach folgende:

Präsens Perfekt 1. ˔ˉ˦ʺˏ, -ʲ, -˓ ˖˨ː ˔ˉ˖ʲˏ, -ʲ, -˓ ˖˨ː (ʴˆˏ, -ʲ, -˓) 2. ˔ˉ˦ʺˏ, -ʲ, -˓ ˖ˆ ˔ˉ˖ʲˏ, ʲ, ˓ ˖ˆ (ʴˆˏ, -ʲ, -˓) 3. ˔ˉ˦ʺˏ, -ʲ, -˓ ˔ˉ˖ʲˏ, -ʲ, -˓ (ʴˆˏ, ʲ, ˓ )

187 Präsens Perfek 1. ˔ˉ˦ʺˏˆ ˖ːʺ ˔ˉ˖ʲˏˆ ˖ːʺ (ʴˆˏˆ) 2. ˔ˉ˦ʺˏˆ ˖˘ʺ ˔ˉ˖ʲˏˆ ˖˘ʺ (ʴˆˏˆ) 3. ˔ˉ˦ʺˏˆ ˔ˉ˖ʲˏˆ (ʴˆˏˆ)

Das Präsens des Admirativs hat die Formen des Präsens des Renarrativs und das Perfekt des Admirativs hat die Perfektformen des Renarrativs, indem öfters ʴˆˏ, -ʲ, -˓, -ˆ ausgelassen werden, so wie beim indikativischen Perfekt, wenn für die Feststellung auf Grund von Perzeption das Hilfsverb sein in der 3. Person Präsens ausgelassen wird.

Bedeutung

Mit dem Admirativ wird die Verwunderung des Sprechers über einen plötzlich festgestellten Sachverhalt unmittelbar vor dem Redemoment zum Ausdruck gebracht, denn das neu erworbene Wissen steht im Kontrast zu dem vorherigen Zustand des Nichtwissens. Diese Auffassung kommt der Meinung von Guentchéva (1990, 51) sehr nahe. Der Admirativ bezeichnet zwei kognitive Zustände des Sprechers, die aus der Präsupposition der Äußerung herrühren: Der Zustand des Nichtwissens und der Zustand des „Soeben-etwas-erfahren-haben“. Der erstere Zustand – des Nichtwissens – impliziert die größere Möglichkeit des Existierens nicht-p, der im Gegen- satz zum neu erfahrenen Wissen steht. Plungian spricht sogar vom Aus- druck einer besonderen Art der Beurteilung, die sich im Zusammenhang mit den Erwartungen des Sprechers ergibt (Plungian 2001, 355). Die semantische Struktur der oben erwähnten Admirativ-Aussage: Aˠ, ˘˓ ʵʲˏˮˏ˓! – Ach, es regnet ja! hat die folgende Form: Präsupposition: Ich erfuhr, dass p (p - Proposition – es regnet) und das verwundert mich, da ich aus meinen bisherigen (Un-)Kenntnissen gedacht habe, dass es wahrscheinlicher sei, dass nicht-p eingetreten ist, d. h., dass es nicht regnet. Die Assertion: Ich behaupte, dass p. Ein weiteres Beispiel: Zwei Protagonisten aus einer Erzählung von Jordan Jovkov stehlen den goldenen Kranz einer Ikone. Nachdem sie den Diebstahl begangen haben, ritzt der eine mit seinem Messer in das Metall und stellt fest, dass der Kranz gar nicht aus Gold ist. Er drückt seine große Wut und Enttäuschung mit dem Admirativ aus: ʊ˙ˇ ˑʺ ʴˆˏ˓ ˄ˏʲ˘˓! ʃˆˊʲˊʵ˓ ˄ˏʲ˘˓ ˑʺ ʺ. (ɹ. ɹ˓ʵˊ˓ʵ) – (das Beispiel stammt aus ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ1976, 346). Verflucht nochmal, das ist ja gar kein Gold! Lug und Trug, kein Gold!

188 Dieses Beispiel illustriert die Spezifik des Admirativs im Vergleich zum Indikativ sehr anschaulich. Durch den Admirativ werden neue, unerwar- tete Informationen ausgedrückt und durch den Indikativ Informationen, die bereits im Informationsbestand der Kenntnisse des Sprechers vor- handen sind. Das ist der „vorbereitete Verstand“ bei Slobin/Aksu (1982, 17) oder „die Kenntnis, die bereits im Weltbild des Sprechers vorhanden ist” (De Lancey 2001, 379). Nur, dass durch den Admirativ der erste Schritt der Erkenntnis grammatikalisiert wird, dieser Übergang vom kognitiven Zustand des Sprechers Nichtwissen in den kognitiven Zustand Wissen und was zu diesem Übergang dazu gehört, ist die Verwunderung, das Er- staunen. Demina vermerkt, dass die Informationsquellen für admirative Hand- lungen unterschiedlich sein können: Eigene Perzeption des Sprechers, seine Konklusion, oder aber fremde Rede (ɮʺːˆˑʲ 1959, 327). Doch in den meisten Fällen ist die Informationsquelle die eigene Perzeption. Manchmal sind Admirativformen in Beurteilungen zu entdecken, die eine Verallge- meinerung oder Bewertung eines Sachverhalts enthalten, den der Sprecher durch Perzeption erfahren hat.

Ein anderer Fall liegt vor, wenn der Sprecher eine bestimmte Verallgemei- nerung auf Grund fremder Mitteilungen macht. Zum Beispiel im Dialog von B. Ognjanov im Roman Unter dem Joch von IvanVazov, an der Stelle, nachdem er von Diakon Vikentij etwas über die patriotische Haltung von Vater Jerotej erfährt. Denn er war davon ausgegangen, dass dieser über- haupt kein Interesse an patriotischen Ideen hatte (Beispiel aus ɪʲ˄˓ʵ 1957, 257; dt. Übersetzung: Vazov 1961, 311). ʊʲ ˘˓ˮ ˣ˓ʵʺˊ ʴˆˏ ˖ʵʺ˘ʺˢ! – Dieser Mensch ist ja ein Heiliger. Ebenda: ɼ˓ˏˊ˓ ːʲˏˊ˓ ˖ːʺ ˄ˑʲʺˏˆ ˓˘ˢʲ ɹʺ˕˓˘ʺˮ!– Wie wenig kannten wir Vater Jerotej! (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 257; dt. Übersetzung: Vazov 1961, 311). Die Informationsquelle beim Admirativ ist vor allem die Perzeption un- mittelbar vor dem Redeakt und deshalb bezeichnet der Sprecher die Hand- lung als Gegenwart, wie in den oben zitierten Beispielen über den Regen an einem sonnigen Tag oder wenn es um ein in der Gegenwart beobach- tetes Ergebnis geht, das aus einer Handlung in der Vergangenheit resul- tiert. So z. B.: ʠ, ˘ˆ ʵʺˣʺ ˖ˆ (ʴˆˏ) ˖˘ʲˑʲˏ! – Schau mal an, du bist ja schon aufgestanden! Wenn durch den Admirativ eine Charakterisierung oder Verallgemei- nerung vorgenommen wird, dann wird dies auch durch den Gebrauch der Gegenwart ausgedrückt. Deshalb kennt der Admirativ nur Präsens und Perfekt.

189 Nach den statistischen Analysen von Kucarov wird in der Belletristik das Hilfsverb sein in 78% der Fälle gebraucht (wir können hier noch hin- zufügen – mit existentieller Bedeutung oder als Kopula in Charakteri- sierungssätzen), nur in 11% finden wir das Verb haben und in weiteren 11% andere Verben. Die Frequenz des Admirativs ist im Vergeich mit den Evidentialformen sehr begrenzt, weil der Admirativ nur in Exklamativsätzen in der direkten Rede in der Umgangssprache oder in ihrer Wiedergabe in der Belletristik vorkommt. In diesen Sätzen stehen die lexikalischen Marker der Bewer- tung, der Emotionalität und des Kontakts mit dem Hörer im Vordergrund. Dabei werden Ausdrücke wie z. B.ʵˆʾ sieh nur, ʶˏʺʹʲˇ guck dir das an, sieh mal einer an verwendet oder aber Interjektionen wie: ˓ˠ Autsch, ʲˠ ach, ˙ˠ uch, Partikeln wie:ˣʺ dass, ʲːʲ na ja, ʺ˘˓ a, hier1u. a. Auch Interrogativ- und Demonstrativpronomen und eine ganze Reihe weiterer Intensifikatoren werden gebraucht, wie auch bei ɧleksova (2003) angeführt. Beispiel:

ɧːʲ ˣʺ ˖ˆ ʴˆˏ ˔˕˓˖˘ ˣ˓ʵʺˊ – ˙ˊ˓˕ˮʵʲ˦e ːʺ ʴʲˇ ɫʲˑ˪˓, — ʲ˄ ˘ʺ ːˆ˖ˏʺˠ ˄ʲ ˔˓- ˠˆ˘˨˕! (ɧ. Konstantinov) – Oh, du bist wirklich ein dummer Kerl – sagte Baj Ganju vorwurfsvoll zu mir, – ich hatte dich für schlauer gehalten!

Person beim Admirativ

Das Subjekt kann bei den Admirativformen in allen drei Personen vor- kommen, aber die Form für die erste Person Singular wird seltener verwendet als die Formen für die dritte Person und besonders die Formen für die zweite Person Singular. Dieser Sachverhalt lässt sich einfach er- klären – der Sprecher kann selten verwunderliche Sachverhalte über sich selbst plötzlich erfahren oder eine unerwartete Bewertung der eigenen Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Häufiger teilt er solche Arten von Information mit, die sich auf den Hörer oder eine dritte Person beziehen. Vgl. hierzu das vorhergehende Beispiel mit dem folgenden:

ɼ˓ˏˊ˓ ˖˨ː ʴˆˏ ˑʲˆʵʺˑ! – Wie konnte ich nur so naiv sein! Bei einer tiefgründigen Untersuchung der Exklamativsätze mit Admirativ stellt sich heraus, dass sie nicht im Narrativ gebraucht werden können, weil sie in erster Linie eine emotional markierte Feststellung eines Sach- verhalts zum Ausdruck bringen. Und diese emotionale Färbung des Sach-

1 Die Übersetzung der bulgarischen Partikel ins Deutsche ist längst nicht mit den hier angegebenen Wiedergabemöglichkeiten erschöpft, sondern sehr stark kontextabhän- gig, wie auch von Comati (2008, 584–596) beschrieben wird.

190 verhalts wiederum hat den Sprecher bei seiner unerwarteten Feststellung so stark beeindruckt, dass alles andere in den Hintergrund tritt.

Die Relation zwischen Evidentialität und Admirativität. Die Stellung des Admirativs im bulgarischen Verbalsystem.

Zusammenfassend können wir sagen, dass in den letzten Arbeiten auf dem Gebiet der Typologie die Meinung vorherrscht, dass Admirativität und Evidentialität zwei verschiedene semantische und grammatische Katego- rien sind. Ein Beweis dafür ist auch, dass es Sprachen gibt, in denen Ad- mirativität ohne eine Verbindung zu evidentialen Paradigmen ausgedrückt werden kann, wie z. B. in der athapaskischen Sprache Hare-Slave, oder im Englischen, wo keine Grammatikalisierung der Evidentialität existiert. Dafür wird aber in diesen Sprachen die Admirativität als versteckte gram- matische Kategorie durch Intonation zum Ausdruck gebracht (siehe De Lancey 2001; auch ʂʺˏ˪ˣ˙ˊ 1998, 197 und Plungian 2001, 355). Trotz des semantischen Unterschiedes zwischen Evidentialität und Ad- mirativität im Bulgarischen sowie auch in anderen Balkansprachen (Tür- kisch, Makedonisch, Albanisch), wird die Admirativität durch Evidential- formen ausgedrückt; dies deutet auf eine bestimmte Nähe dieser beiden Kategorien hin. Diese Nähe besteht darin, dass die beiden Kategorien in ihren Präsuppositionen eine Information über vermittelte Information beinhalten. Die Evidentialität weist auf die Quelle der Information des Sprechers hin, während die Admirativität die Information als neu und unerwartet darstellt, wobei der vorherige Zustand des Nichtwissens des Sprechers ganz klar zum Ausdruck kommt. In den beiden Fällen informiert der Sprecher in der Präsupposition den Hörer über seinen eigenen, kog- nitiven Zustand vor dem Sprechakt, der hauptsächlich auf der mitgeteilten Information basiert. Doch es sind zwei vollkommen unterschiedliche Sachlagen: Bei der Evidentialität handelt es sich um das Erfahren und Erhalten von Wissen aus unterschiedlichen Quellen, während bei der Admirativität das vorherige Nichtwissen als Kontrast und Gegensatz zu dem neuen, mitgeteilten Wissen erscheint.

Zum Ursprung des Admirativs

Wir nehmen an, dass der bulgarische Admirativ aus dem Perfekt der Feststellung von Ergebnissen nicht beobachteter Handlungen entstanden ist. In diesem Fall sind das die Formen der 3. Person ohne das Hilfsverb sein (siehe hierzu auch die Ausführungen von ɧndrej²in1938; ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ 1976; Ivan²ev 1973 und ɸʵʲˑˣʺʵ 1976).

191 Folgendes Beispiel aus der Belletristik zeigt, wie eine emotional mar- kierte Perfektform in der Situation einer unerwarteten Feststellung als Ad- mirativ fungieren kann: (Die Protagonistin lacht, außer sich vor Empörung, nachdem sie mit eigenen Augen die Situation gesehen hat, von der sie spricht, nämlich dass die Mit- arbeiter sich gerade einen Pornofilm anschauen). ɼʲˊʵˆ ˖˨˕ˢʲ! ʈʺʹˑʲˏˆ ʵ ˕ʲʴ˓˘ˑ˓ ʵ˕ʺːʺ ʵˆʹʺ˓ ʹʲ ʶˏʺʹʲ˘!– Das ist ja unfassbar! Sitzen da während der Arbeit und gucken sich ein Video an! (ʂˆ˦ʺʵ 1999)

Unter dem starken Einfluss des temporalen Systems des Indikativs bildete sich im Laufe der Zeit in den Renarrativ- und Konklusivformen eine Imperfektpartizipform heraus. Am Anfang gab es wahrscheinlich nur ein gemeinsames Paradigma für indirekt erhaltene Information, entweder mit dem Hilfsverb sein oder ohne dieses (siehe hierzu ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 255– 261). Deshalb wurde es möglich, dass beim Admirativ neue, perfektivische Formen mit dem Imperfektpartizip gebraucht wurden, analog zu den For- men des Perfekts der Feststellung ohne sein. Sie dienten zur Bezeichnung einer Handlung, die noch während des Redemoments andauert (Ivan²ev 1973; ɸʵʲˑˣʺʵ 1976, 359). Auf diese Art und Weise kam es, dass die Admirativformen mit Imperfektpartizip ˔ˆ˦ʺˏ ˖˨ː, ˔ˆ˦ʺˏ ˖ˆ , ˔ˆ˦ʺˏ mit den neuen Renarrativ- ˔ˆ˦ʺˏ ˖˨ː, ˔ˆ˦ʺˏ ˖ˆ , ˔ˆ˦ʺˏ und Konklusivformen ˔ˆ˦ʺˏ ˖˨ː, ˔ˆ˦ʺˏ ˖ˆ für Präsens/Imperfekt und die Perfektformen mit Aoristpartizip ˔ˆ˖ʲˏ ˖˨ː (ʴˆˏ), ˔ˆ˖ʲˏ ˖ˆ (ʴˆˏ), ˔ˆ˖ʲˏ (ʴˆˏ) – mit den Renarrativ- ˔ˆ˖ʲˏ ˖˨ː, ˔ˆ˖ʲˏ ˖ˆ, ˔ˆ˖ʲˏ und Konklusivformen ˔ˆ˖ʲˏ ˖˨ː, ˔ˆ˖ʲˏ ˖ˆ für den Aorist übereinstimmten, obwohl die Admirativformen eine ausgesprochen perfektivische, resultative Bedeutung tragen. Um eine völlige Übereinstimmung mit den Renarrativ- und Konklusivformen für den Aorist zu erreichen, müssten die admirativen Perfektformen auch die Formen des Hilfsverbs sein (ʴˆˏ, -ʲ,-˓, -ˆ) in ihren Bestand einschließen. Doch dafür gibt es nur seltene Belege. Und so entwickelte sich, sprach- geschichtlich betrachtet, die Formenbildung so, dass der Admirativ all- mählich mit dem Renarrativ verschmolz, wie auch Kucarov (ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994, 429) feststellt. Deshalb betrachten wir heute, aus rein synchroner Sicht, den Admirativ nicht als selbstständigen Modus, sondern als eine kontrastive Transposition des Renarrativs. Wie wir weiter oben schon angemerkt haben, beziehen sich Renarrativ und Admirativ in ihren Präsuppositionen auf vorherige kogni- tive Situationen des Sprechers, die auf der mitgeteilten Information be- ruhen. Beim Renarrativ beruhen diese auf dem Erwerb des neuen Wissens und beim Admirativ auf dem vorherigen Nichtwissen, welches wiederum

192 im Gegensatz zur mitgeteilten Information steht. Beim Renarrativ distan- ziert sich der Sprecher von der mitgeteilten Information, weil ihre Quelle die Rede einer anderen Person ist, d. h.: Das bin nicht ich, der sagt, dass p. Beim Admirativ hebt der Sprecher seine emotionale Beziehung zur mit- geteilten Information hervor, die sich für ihn als neu und unerwartet, un- abhängig von ihrer Informationsquelle, darstellt. Nicht nur die semantische, sondern auch die funktionale Seite des Admirativs zeigen, dass es sich hierbei um eine kontrastive Transposition des Renarrativs handelt. Im Gegensatz zum Renarrativ wird der Admirativ sehr stark kontextabhängig gebraucht, er ist unmittelbar in die sprachliche Situation eingebunden. Wenn man diese Merkmale außer Acht lässt und seine besondere exklamative Intonation nicht berücksichtigt, dann kann der Admirativ auch als Renarrativ betrachtet werden. Der Renarrativ wird meistens bei der Narration verwendet und der Admirativ im Dialog. Eine typische Besonderheit der kontrastiven Transpositionen ist die Emotionali- tät, die beim Admirativ vorhanden ist. Es ist kein Zufall, dass Sv. Ivanchev diese Formen auch als Exclamativ bezeichnet (Ivan²ev 1973; ɸʵʲˑˣʺʵ 1976, 358). Die Meinung, dass der Admirativ eine kontrastive Transposition zum Renarrativ darstellt, ist in der Bulgaristik nicht neu (Andrej²in 1938, 311; Darden 1977, 61; Walter 19877; 50–51 und besonders ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994, 429). Sie wurde jedoch bisher nicht besonders berücksichtigt, oder aber auf andere Art und Weise dargelegt und diskutiert.

Die Wiedergabe des Admirativs im Deutschen

Im grammatischen System des Deutschen gibt es keine spezifischen Admirativgrammeme, doch das ist in vielen anderen Sprachen auch so. Deshalb müssen Übersetzer und Dolmetscher andere Mittel wählen, um die grammatische Semantik des Admirativs ins Deutsche zu übertragen. Die temporale Spezifik der Admirativformen wird meist mit Präsens oder Perfekt im Deutschen ausgedrückt, wie die folgenden Beispiele aus der Übersetzungsliteratur veranschaulichen: ʊʲ ˙ ˘˓ˮ ˣ˓ʵʺˊ ˆːʲˏ˓ ʴˏʲʶ˓˕˓ʹ˖˘ʵ˓! – ˙ˣ˙ʹˆ ˖ʺ ʅʶˑˮˑ˓ʵ (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 248) – Schau mal an, dieser Samanow besitzt also doch Edelmut, stellte Ognjanow verwundert fest.(dt. Übersetzung: Vazov 1961, 300); ɯ˘˓ ʶˆ ˊ˨ʹʺ ʴˆˏˆ! ...ɫ˓˖˔˓ʹʲ, ː˓ˏˮ ʵˆ! ʃʲ˦ˆ˘ʺ ʹʲːˆ ˖ˊ˙ˣʲˮ˘! – (ɮˆˣʺʵ1983, 134) – Hier sind sie ja! …Meine Herren, ich bitte Sie! Unsere Damen langweilen sich! (dt. Übersetzung: Ditschew 1970, 143); ɩ˕ʺ, ˮ ʵˆʾ, ˓ˑˮ ˖ˆ ˓˖˘ʲʵˆˏ ˔ˆ˖ː˓˘˓ – ˔˕ˆʴʲʵˆ ˘˓ˇ, ˊʲ˘˓ ˔˓ˊʲ˄ʲ ˔˓ˏˆˣˊʲ˘ʲ (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 40) –

193 Ha, sieh mal an, der andere hat ja seinen Brief vergessen, fügte er hinzu und zeigte auf das Regal. (dt. Übersetzung: Vazov 1961, 54); ɧːʲ ˆ ˘ˆ ˖ˆ ˖ʺ ˄ʲʴˆˏ...- ː˨ʾ˨˘ ˖ʺ ˔˓ˣʺ˖ʲ ˖ ːʲˏˊˆˮ ˔˕˨˖˘ ˄ʲʹ ˙ˠ˓˘˓. – ɪˆʾ ˊ˨ʹʺ ˖ˆ! (ʆ˓˔˓ʵ 2010, 204) – „Dann hast du dich ja ordentlich verfahren…” Der Mann kratzte sich mit dem kleinen Finger hinter dem Ohr. „Also, du bist hier.” (dt. Übersetzung: Popov 2012, 218.)

Der Admirativ ist im Bulgarischen sehr stark emotional geprägt und im Dialog verankert. Deshalb werden je nach Kontext unterschiedliche lexi- kalische Mittel gebraucht: a) Kontaktredewendungen wie: Stellt Euch vor,… Schau mal an,… Sieh mal an,… Damit wird die Außergewöhnlichkeit der unerwarteten admirativen Hand- lung hervorgehoben; b) Bewertungsadverbien wie wirklich, ordentlich und Partikel wie doch, also doch, ja,welche die Faktizität der unerwarteten admirativen Handlung bestätigen; c) Emotionspartikeln wie ach, na, ha, Wendungen wie meine Güte u. ä., welche die Verwunderung des Sprechers über einen plötzlich festgestellten Sachverhalt unmittelbar vor dem Redemoment zum Ausdruck bringen, wie die folgenden Beispiele belegen: ʒʲ˕˖˨˄ˆˑ˨˘ ˖ˆ ʺ ˠʲ˕˖˨˄ˆˑ! – ˔˕ˆʴʲʵˆ ˔ʲˑʹ˙˕ˆˑ˨˘ ˖˨˖ ˖ˊ˕ˆ˘ʲ ˕ʲʹ˓˖˘. – ʅ˘ˊ˕ʲʹˑʲˏ ˑʲ ʹˮʹʲ ˔˓˔ʲ ʹ˕ʺˠˆ˘ʺ.(ɪʲ˄˓ʵ 1957, 144) – “ Spitzbube bleibt Spitzbube!” erklärte der Pandure mit heimlicher Freude, stellt Euch vor, er hat dem Vater Popen die Kleider gemaust!” (dt. Übersetzung: Vazov1961, 180); ɧ ʴʺ ˘˓ˇ ˏˆ ʴˆˏ ʴʺ, ːʲˇˊˆ! – ˊʲ˄ʲ ˖ˆ ˄ʲˣ˙ʹʺˑ˓ ʴʲˇ ʂˆʲˏ. (ɪʲ˄˓ʵ 1957,145) – „Ach, das war er, heilige Mutter!” wunderte sich BaiMial. (dt. Übersetzung: Vazov 1961, 180); ʊʲ ˘˓ ʵ˖ˆˣˊ˓ ˔˓ˏ˙ʹˮˏ˓, ˓˘ ˖˘ʲ˕ˢˆ ʹ˓ ʴ˓˄ʲˇˑˆˢˆ – ˔˓ːˆ˖ˏˆ ˖ˆ ˘˓ˇ,... (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 279) – „Die sind ja wirklich alle wild geworden, von den Greisen bis zu den Säuglingen”, ging es ihm durch den Kopf… (dt. Übersetzung: Vazov 1961, 336); ɧːʲ ʵˆʺ ˢˮˏʲ ʹʺˏʺʶʲˢˆˮ ˖˘ʺ ˖˔˕ʺ˘ˑʲˏˆ! – ˦ʺʶ˙ʵʲː ˖ʺ (ʆ˓˔˓ʵ 2010, 116) – „Na, da haben Sie ja eine ganze Delegation zusammengestellt”, scherze ich. (dt. Übersetzung: Popov 2012, 124).

Nur selten kommen Übersetzer ohne zusätzliche lexikalische Mittel bei der Wiedergabe des bulgarischen Admirativs im Deutschen aus, wie folgendes Beispiel zeigt: ʈˏ˙˦ʲˏʲ ːʺ ˓˧ʺ ˔˙˧ˆˑʲ˘ʲ! – ˊʲ˄ʲ ˆʶ˙ːʺˑ˨˘ (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 91) –

194 „Es gehorcht mir immer noch, das Teufelsding!” rief der Abt aus… (dt. Über- setzung: Vazov 1961, 115).

Diese Ausführungen belegen, dass der Admirativ im Bulgarischen keine so hohe Frequenz im schriftlichen Gebrauch zeigt, sondern vorwiegend in umgangssprachlich geprägten Dialogen auftritt. Der bulgarische Admira- tiv ist eine originäre, grammatikalisierte Erscheinung, die in dieser Aus- prägung und Bedeutungsvielfalt einmalig unter den slavischen Sprachen ist. Deshalb wäre es ein lohnenswertes Projekt, einen umfangreicheren Korpus von bulgarisch-deutschen Belegen zu dieser Thematik zu erstellen, um alle lexikalischen Mittel zur Wiedergabe des Admirativs im Deutschen vollständig zu erfassen und zu beschreiben.

Literatur

Andrej²in 1938 L. Andrej²in, Kategorie znaczeniowe konjugacii buÙgarskiej (Rodzaje wypowie- dzi). Dissertation, Polska Akademia Umiej¿tnoïci (Kraków 1938).

Comati 2008 S. Comati, Zur Relevanz einiger bulgarischer Partikel und ihrer Wiedergabe im Deutschen. In: S. Comati (Hrsg.), Bulgaristica – Studia et Argumenta. Festschrift für Ruselina Nitsolova zum 65. Geburtstag. Specimina Philologiae Slavicae 151 (München 2008) 584–596.

Darden 1977 B. Darden, On the Admirativ in Bulgarian. Folia Slavica 1.1, 1977, 59–64.

Ditschew 1970 S. Perfekt Ditschew, Der Weg nach Sofia. Aus dem Bulgarischen ins Deutsche übertragen von Hildegard Grantscharowa (Leipzig 1970).

DeLancey 2001 S. DeLancey, The Mirative and Evidentiality. Journal of Pragmatics 33, 2001, 369– 382.

Dozon 1879 A.Dozon, Manuel de la langue Chkipe où Albanaise. Grammaire, vocabulaire, chrestomathie (Paris 1879).

Duchet, Përnaska 1996 J.-L. Duchet, R. Përnaska, L’admirativ albanais: recherche d’un invariant séman- tique. – In: Zl. Guentchéva (ed.) L’énonciation médiatisée. Éditions Peeters, Lou- vain-Paris, 1996, 31-46.

195 Friedman 1981 V. A. Friedman, Admirativity and Confirmativity. Zeitschrift für Balkanologie 17.1, 1981, 12–27.

Guenchéva 1990 Z. Guenchéva, L’énonciation médiatisée en bulgare. Revue des Études slaves 62.1–2, 1990, 179–196.

Ivan²ev 1973 S. Ivan²ev, Otázky vývoje a fungování modálních kategorii v bulharštin». In: J. J. Purkyn» (Hrsg.), Otázky slovanské syntaxe 3 (Brno 1973) 315–329.

Nicolova 2003 R. Nicolova, The Evidentiality in Bulgarian and in other Balkan Languages. In: Bulgaria, Korea & East Europe – Humanities and Social Science. The Third Inter- national Academic Conference of Kacees 14th–15th July (Sofia 2003) 17–29.

Plungian 2001 V. A. Plungian, Place of Evidentiality within the Universal Grammatical space. Journal of Pragmatics 33.3, 2001, 349–357.

Popov 2012 A. Popov, Die Hunde fliegen tief. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitz- mann (München 2012).

Rå Hauge 1999 Kj. Rå Hauge, A Short Grammar of Contemporary Bulgarian (Indiana 1999).

Slobin/Aksu 1982 D. Slobin/A. A. Aksu, Tense, Aspect, and Modality in the Use of the Turkish Evidential. In: P. J. Hopper (eds.), Between Semantics & Pragmatics. Containing the Contributions to a Symposium on Tense and Aspect, hold at UCLA, May 1979 (Amsterdam/Philadelphia 1982) 185–200.

Vazov 1961 I. Vazov, Unter dem Joch. Übersetzung aus dem Bulgarischen von Toma Topolov (Sofia 1961).

Walter 1977 H. Walter, Temporale, aspektliche und modale Semantik des Verbum finitum im modernen Bulgarischen (Berlin 1977). Übersetzung ins Bulgarische: X. ɪʲˏ˘ʺ˕, ʁˆˣˑˆ˘ʺ ʶˏʲʶ˓ˏˑˆ ˟˓˕ːˆ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ (ʈ˓˟ˆˮ 1988).

196 Weigand 1925 G. Weigand, Der Admirativ im Bulgarischen. In: Balkan-Archiv. Fortsetzung des Jahresberichtes des Instituts für rumänische Sprache 1 (Leipzig 1925) 150–152.

ɧˏʺˊ˖˓ʵʲ 2003 ɼ˕. ɧˏʺˊ˖˓ʵʲ, ɧʹːˆ˕ʲ˘ˆʵ˨˘ ʵ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ. ʈɯʂɧ ʇʘ (ʈ˓- ˟ˆˮ 2003).

ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ 1976 ʁ. ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ, ʃʲˣˆˑˆ ˑʲ ˆ˄ˊʲ˄ʵʲˑʺ. ɪ: ʆ. ʆʲ˦˓ʵ/ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ (˖˨˖˘.), ʆ˓- ːʲʶʲˏ˓ ˔˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ. ɫˏʲʶ˓ˏ (ʈ˓˟ˆˮ 1976) 336–348.

ɩʺ˦ʺʵˏˆʺʵ 1928 ɪ.ɩʺ˦ʺʵˏˆʺʵ, ɼ˨ː ʵ˨˔˕˓˖ʲ ˄ʲ ˘.ˑ. „ʲʹːˆ˕ʲ˘ˆʵ” ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ. ʂʲˊʺʹ˓ˑ- ˖ˊˆ ˔˕ʺʶˏʺʹ 1, 1928,174–177.

ɪʲ˄˓ʵ 1957 ɸʵ. ɪʲ˄˓ʵ, ʆ˓ʹ ˆʶ˓˘˓ (ʈ˓˟ˆˮ 1957).

ɪ˕ˆˑʲ 1989 M. ɪ˕ˆˑʲ, ɶʲ ˑˮˊ˓ˆ ˏʺˊ˖ˆˊʲˏˑˆ ˆ ː˓˕˟˓˖ˆˑ˘ʲˊ˘ˆˣˑˆ ˖˕ʺʹ˖˘ʵʲ ˄ʲ ˆ˄˕ʲ˄ˮʵʲˑʺ ˑʲ ʺˊ˖˔˕ʺ˖ˆʵˑ˓˖˘ ʵ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ˊˑˆʾ˓ʵʺˑ ʺ˄ˆˊ. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ 2, 1989, 127–135.

ɮʺːˆˑʲ 1959 E. ɮʺːˆˑʲ, ʆʺ˕ʺ˖ˊʲ˄˩ʵʲ˘ʺˏ˪ˑ˩ʺ ˟˓˕ː˩ ʵ ˖˓ʵ˕ʺːʺˑˑ˓ː ʴ˓ˏʶʲ˕˖ˊ˓ː ˏˆ˘ʺ˕ʲ- ˘˙˕ˑ˓ː ˮ˄˩ˊʺ. ɪ: ɪ˓˔˕˓˖˩ ʶ˕ʲːːʲ˘ˆˊˆ ʴ˓ˏʶʲ˕˖ˊ˓ʶ˓ ˏˆ˘ʺ˕ʲ˘˙˕ˑ˓ʶ˓ ˮ˄˩ˊʲ (ʂ˓˖ˊʵʲ 1959) 313–378.

ɮˆˣʺʵ 1983 ʈ˘. ɮˆˣʺʵ, ʆ˨˘ˮ˘ ˊ˨ː ʈ˓˟ˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 1983).

ɸʵʲˑˣʺʵ 1976 ʈʵ. ɸʵʲˑˣʺʵ, ʆ˕˓ʴˏʺːˆ ˑʲ ˕ʲ˄ʵˆ˘ˆʺ˘˓ ˆ ˟˙ˑˊˢˆ˓ˑˆ˕ʲˑʺ˘˓ ˑʲ ː˓ʹʲˏˑˆ˘ʺ ˊʲ˘ʺʶ˓˕ˆˆ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ.ɪ: ʆ. ʆʲ˦˓ʵ/ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ (˖˨˖˘.), ʆ˓ːʲʶʲˏ˓ ˔˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ. ɫˏʲʶ˓ˏ (ʈ˓˟ˆˮ 1976) 348–359.

ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984 ɫ. ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ, ʆ˕ʺˆ˄ˊʲ˄ʵʲˑʺ˘˓ ˑʲ ʶˏʲʶ˓ˏˑ˓˘˓ ʹʺˇ˖˘ʵˆʺ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ (ʈ˓˟ˆˮ 1984).

ɼ˓ˑ˖˘ʲˑ˘ˆˑ˓ʵ 1974 ɧ. ɼ˓ˑ˖˘ʲˑ˘ˆˑ˓ʵ, ɩʲˇ ɫʲˑ˪˓.ʈ˨ˣˆˑʺˑˆˮ, ˘. I. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ˔ˆ˖ʲ˘ʺˏ (ʈ˓˟ˆˮ 1974) 7–151.

197 ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1982 ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ, ɶʲ ˘ʲˊʲ ˑʲ˕ʺˣʺˑˆˮ ʲʹːˆ˕ʲ˘ˆʵ ʵ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ. ɪ: ʈʴ˓˕ˑˆˊ ʹ˓ˊˏʲʹˆ ˓˘ ʟʴˆˏʺˇˑʲ˘ʲ ˑʲ˙ˣˑʲ ˖ʺ˖ˆˮ, ˔˓˖ʵʺ˘ʺˑʲ ˑʲ 1300-ʶ˓ʹˆ˦ˑˆ- ˑʲ˘ʲ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ˘ʲ ʹ˨˕ʾʲʵʲ ˆ 10-ʶ˓ʹˆ˦ˑˆˑʲ˘ʲ ˑʲ ɪʆɸ-ʘ˙ːʺˑ (ɪʆɸ ʘ˙ːʺˑ1982) 85–92.

ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994 ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ, ɯʹˑ˓ ʺˊ˄˓˘ˆˣˑ˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆʺ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʶˏʲʶ˓ˏ (ʈ˓˟ˆˮ 1994).

ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1999 ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ, ʂ˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˮ. ɪ: ʊ. ɩ˓ˮʹʾˆʺʵ/ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ/ɹ. ʆʺˑˣʺʵ, ʈ˨ʵ˕ʺ- ːʺˑʺˑ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ (ʈ˓˟ˆˮ 1999).

ʂʲ˖ˏ˓ʵ1956 ʟ. ʈ. ʂʲ˖ˏ˓ʵ, ɼ ʵ˓˔˕˓˖˙ ˓ ˖ˆ˖˘ʺːʺ˟˓˕ː˔ʺ˕ʺ˖ˊʲ˄˩ʵʲ˘ʺˏ˪ˑ˓ʶ˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆˮ. ɪ: ʈʴ˓˕ˑˆˊ ʵ ˣʺ˖˘ ˑʲ ʲˊʲʹ. ɧˏ. ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ. ɩɧʃ (ʈ˓˟ˆˮ 1956) 311–318.

ʂʺˏ˪ˣ˙ˊ 1998 ʂ. ʂʺˏ˪ˣ˙ˊ, ɼ˙˕˖ ˓ʴ˧ʺˇ ː˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˆ, ˘. II, ʕʲ˖˘˪ʵ˘˓˕ʲˮ: ʂ˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆʺ ˄ˑʲˣʺˑˆˮ.Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 38.2 (ʂ˓˖ˊʵʲ/ɪʺˑʲ 1998).

ʂˆ˦ʺʵ 1999 ɫ. ʂˆ˦ʺʵ, ɮ˙ˑʲʵ-ː˓˖˘ (ʈ˓˟ˆˮ 1999).

ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ 1993 ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ, ɼ˓ʶˑˆ˘ˆʵˑˆ ˖˨˖˘˓ˮˑˆˮ ˑʲ ʶ˓ʵ˓˕ʺ˧ˆˮ, ʺ˔ˆ˖˘ʺːˆˣˑʲ ː˓ʹʲˏˑ˓˖˘ ˆ ˘ʺː˔˓˕ʲˏˑ˓˖˘. ʈ˨˔˓˖˘ʲʵˆ˘ʺˏˑ˓ ʺ˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 3–4, 1993, 137–144.

ʆ˓˔˓ʵ 2010 ɧ. ʆ˓˔˓ʵ, ʕʺ˕ˑʲ˘ʲ ˊ˙˘ˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 2010).

ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ 1926 ʈ˘. ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ, ʇʺˢʺˑ˄ˆˮ ˑʲ ɪʲˇʶʲˑʹ 1925 ʶ. ʂʲˊʺʹ˓ˑ˖ˊˆ ˔˕ʺʶˏʺʹ 2.3, 1926, 143–145.

ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ 1957 ɧˏ. ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ, ʕʺ˘ʵ˨˕˘˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆʺ. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ 7.4, 1957, 306–317.

ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ 1976 ɧˏ. ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ, ʕʺ˘ʵ˨˕˘˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆʺ. ɪ: ʆ. ʆʲ˦˓ʵ/ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ (˖˨˖˘.), ʆ˓ːʲʶʲˏ˓ ˔˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ. ɫˏʲʶ˓ˏ(ʈ˓˟ˆˮ 1976) 321–335.

ʔ˓ˑʺʵ 1985 ɩ. ʔ˓ˑʺʵ, ɸ˖˘˓˕ˆˮ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ. ʊ. III. ɩ – ʈ˔ʺˢˆʲˏˑˆ ˣʲ˖˘ˆ (ʈ˓˟ˆˮ 1985).

198 Sigrun Comati

Vergleichende Betrachtungen zur bulgarischen und deutschen Sprache im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets

In den letzten zwei Jahrzehnten sind große Fortschritte in der elektroni- schen Textverarbeitung und der Vervollkommnung spracherkennender Computerprogramme zu verzeichnen. Es war ein weiter Weg, den Philo- sophie, Linguistik und natürlich die Naturwissenschaften bis zu diesen Er- gebnissen beschritten haben. Als Beginn dieses Weges wird meist das philo- sophische Gedankengut der Renaissance betrachtet. Der außergewöhnliche italienische Philosoph und Gelehrte jener Zeit, Pico della Mirandola (1463– 1494) hat in seinem wegweisenden Werk Oratio de hominis dignitate (Rede über die Würde des Menschen), veröffentlicht 1496 (hier zitiert nach 2012, 9), folgende Gedanken geäußert, die diesem Beitrag als Einführung voran- gestellt werden sollen:

„Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe ent- faltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst nach eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben, in das Göttliche.“ Wir erkennen hier ein Weltbild, das Weltbild des Humanismus, das den Menschen in das Zentrum der gesamten Entwicklung auf dieser Welt stellt. Dieser Mensch soll all seine Begabungen möglichst umfassend und mög- lichst weit entwickeln, der Schlüssel dazu heißt: Allseitige Bildung! Der Zugang zu dieser allseitigen Bildung war freilich in dieser Zeit längst nicht allen möglich. Um das hohe Gut der Bildung zu verbreiten, bedurfte es eines Mediums. Das war in der Zeit der Renaissance, und natürlich auch

199 schon lange vorher, das Buch, das zunächst mit der Hand geschrieben wurde. Die große Revolution auf diesem Gebiet kam mit der Erfindung des Buchdrucks durch den Mainzer Johannes Gutenberg, der von ca. 1400– 1468 lebte. Im Jahre 1450, nachdem Gutenberg die Druckkunst mit beweglichen Lettern erfunden hatte, druckte er die berühmte Gutenberg- Bibel und von da an war der Verbreitung des Wissens und der Informa- tionen auf allen Gebieten der Wissenschaft der Weg gebahnt. In dieser aufregenden Zeit wuchs ein neuer, kritischer, menschlicher Geist in Eu- ropa, der durch wissenschaftliche Forschungen und Entdeckungen geprägt wurde und der unter anderem auch die bestehende kirchliche Ordnung hinterfragte und reformierte. Martin Luther (1483–1546) war in dieser Zeit einer der größten Theologen, Reformatoren und Humanisten. Er setzte zu Beginn des 16. Jahrhunderts seine Reformbestrebungen der Katholischen Kirche unter größten Anstrengungen durch. Seine Bibelübersetzung ins Frühneuhochdeutsche, die er gemeinsam mit seinen gelehrten Weggefähr- ten und Zeitgenossen aus dem Aramäischen, Althebräischen, Lateinischen und Altgriechischen in den Jahren 1521 und 1522 schuf, zeichnet ihn als großen Humanisten aus, denn er versah seine deutsche Übersetzung mit Redewendungen und Metaphern aus der Sprache des Volkes und machte sie ihm damit zugänglich (Mayer 1982, 110–116). Diese Leistung ist durch- aus vergleichbar mit dem, was die Slavenapostel Kyrill und Method im 9. Jahrhundert vollbrachten und erreichten, als sie die altbulgarische (alt- kirchenslavische) Sprache als Sprache des Volkes für die Bibelübersetzung und als liturgische Sprache durchsetzten, denn bis dahin waren nur Hebrä- isch, Griechisch und Latein die Sprachen der Kirche (Comati/Vlahova 2003, 88–91). Dieser kurze Exkurs in die Vergangenheit ist notwendig, um einen historischen Blick auf die Sprachen zu werfen, die uns hier interessieren, denn ohne ein historisches Fundament können wir keine Zukunftsvisionen für unsere Sprachen aufbauen.

Ein Blick auf die heutigen Medien

Die heutigen Medien zur Verbreitung von Information und Wissen wie Fernsehen, Radio und Internet haben zweifelsohne einen ganz anderen Stellenwert als das Buch in seiner Originalsprache oder dessen Überset- zung. Und wie ist es nun um die Sprachen bestellt, die wir heute sprechen, lesen und pflegen, oder besser gesagt, pflegen sollten? Wie gelingt es uns, diese Sprachen zu digitalisieren und damit für Computernutzer zugänglich zu machen? Doch bevor wir dieser Frage nachgehen, müssen wir fragen: Wie viele Sprachen gibt es heute eigentlich?

200 Auf unserem Erdball werden nach Angaben von Sprachwissenschaft- lern wie Haspelmath (2005) heute ca. 6.000 Sprachen gesprochen und es wird davon ausgegangen, dass etwa 2000 von ihnen den so genannten „Sprachtod“ erleiden werden, das heißt, sie werden verschwinden, weil sie gravierend an Bedeutung und Relevanz als Kommunikationsmittel ver- lieren, weil sie nicht mehr über genügend Muttersprachler verfügen und ihre Verbreitungsgebiete, aus welchen Gründen auch immer, so stark zurückgehen, dass sie schließlich keine Rolle mehr spielen. Verbunden mit dem so genannten Sprachtod ist aber fast immer auch eine Sprachgeburt. Um dazu nur ein Beispiel zu nennen: Das Altkirchenslavische, also das Altbulgarische, ist die älteste slavische Schriftsprache, die im Bulgarischen Reich des 9.-10. Jh. ihre größte Blüte erlebte. Als erste slavische Literatur- sprache hat sie in allen slavischen Ländern des byzantinischen Kultur- bereichs (d.h. in der Slavia Orthodoxa) jahrhundertelang einen enormen sprachlichen Einfluss ausgeübt. Daher ist die Kenntnis des Altbulgarischen für die historisch-vergleichende Grammatik und die Indogermanistik, sowie für die historische Entwicklung der slavischen Sprachen unabding- bar; sie ist auch heute noch eine wichtige Grundlage für das Studium der slavischen Philologie. Das Altbulgarische hielt diese exponierte Funktion der einzigen Schriftsprache auch im Zweiten Bulgarischen Reich (1185- 1396), doch der Bau der gesprochenen Sprache veränderte sich allmählich in Richtung eines analytischen, neubulgarischen Sprachtyps, im Gegensatz zum synthetisch geprägten Altbulgarisch. Zu Beginn des 15. Jahrhundert wurde dieser Prozess der Sprachwandlung abgeschlossen. Die europäischen Sprachen erfuhren im Laufe der nächsten Jahrhunderte ihre so genannten Standardisierungen durch eine vereinheitlichte Schrift- sprache mit einer verbindlichen Orthographie und Grammatik, wie sie all- mählich in jedem europäischen Nationalstaat festgelegt wurde. Dieser Pro- zess war auch für Bulgarien zum Ende des 19. Jahrhunderts im Großen und Ganzen abgeschlossen. In dieser Zeit begann in Europa und in den USA eine rasante Entwicklung der Technik, die sich auf die Sprache als Kommu- nikations- und Austauschmedium für Information enorm auswirken sollte.

Die Entwicklung der Computertechnik und ihre Nutzbarmachung für die Sprache

Durch die rasante Entwicklung von Industrie und Technik gelang es dem US-Amerikaner Thomas Edison (1847–1931) im Jahre 1877 den Phonogra- phen zu entwickeln, damit waren die ersten Tonaufzeichnungen möglich. Der Ingenieur Konrad Zuse lebte von 1910–1995 und im Jahre 1941 war er mit seinen Konstruktionsarbeiten so weit, dass er den ersten voll

201 funktionstüchtigen, frei programmierbaren Rechner in binärer Schalt- technik der Öffentlichkeit präsentieren konnte. Diese Rechner nennen wir heute Computer. Eine ähnliche Erfindung gelang fast zeitgleich dem Com- puterpionier John Atanasoff in den USA. Von dieser Zeit an begann eine schnelle Entwicklung von Computern und Computerprogrammen, die in immer kürzeren Zeitabständen immer mehr Verbesserungen erfuhren. Die Computer wurden untereinander vernetzt, es wurden Datenautobahnen geschaffen. Seit 1989 kennen wir das World Wide Web, ein über das Internet ab- rufbares System von elektronischen Hyperdokumenten, die durch Hyper- links miteinander verknüpft sind. Das Web entstand 1989 als eine Projekt- entwicklung unter der Federführung von Tim Berners-Lee im Forschungs- zentrum CERN bei Genf. Das Web dient der Informationsbeschaffung durch den allgemeinen Zugang zu einer großen Sammlung von Dokumen- ten, die weltweit für jeden Computernutzer möglich ist. Soweit die technischen Voraussetzungen für Sprachverarbeitungs- und Sprachbearbeitungsprogramme. Wir alle nutzen diese Technologien schon seit einigen Jahren und zwar folgendermaßen:

– wenn wir Informationen aus dem Internet abrufen – wenn wir Korrekturprogramme für Orthographie und Grammatik für unsere geschriebenen Texte nutzen – wenn wir den computergesteuerten, sprachlichen Anweisungen von Naviga- tionsprogrammen folgen – wenn wir das Internet zum Kauf von verschiedenen Dingen nutzen – wenn wir über bestimmte „Hotlines“ telefonisch Hilfe zu bestimmten Produk- ten suchen oder Servicecenter anwählen – wenn wir online Webseiten übersetzen Als Lingua franca des Internets galt anfänglich die englische Sprache, alle sprachver- und bearbeitenden Programme waren zunächst mit einem englischen Eingabemodus und englischen Befehlen versehen und auch die Bezeichnung von Soft- und Hardware war von englischen Begriffen ge- prägt, angefangen vom Server über Browser bis hin zu Desktop, Style- sheets und allen möglichen Downloads. Und so kamen gleich in den 90er Jahren die ersten ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Einbeziehung der kleineren Sprachen Europas in die Medien auf. Vor allem war aber die wichtige Frage, die wir im Zusammenhang mit der Computertechnik zu betrachten haben: Besteht eine ernste Gefahr für unsere Sprachen, werden sie von englischen Wörtern bald ganz vereinnahmt und hoffnungslos überflutet, so dass wir sie bald nicht mehr erkennen können? Die Antwort für die deutsche Sprache auf diese Frage gibt uns der bekannte Germanist

202 und Verfasser grundlegender grammatischer Werke für die deutsche Sprache, Peter Eisenberg (2011, 2)

„Fremdwörter sind Wörter des Deutschen, auch wenn sie ganz oder teilweise aus anderen Sprachen übernommen sind. Ein Fremdwort aus dem Englischen bezeichnet man als Anglizismus und bringt damit zum Ausdruck, dass es sich nicht um ein Wort des Englischen handelt, sondern um eines, das ganz oder in Teilen aus dem Englischen stammt. Der Anglizismus Computer beispiels- weise ist insofern ein Wort des Deutschen, als er, anders als im Englischen, großgeschrieben wird und ein Genus (grammatisches Geschlecht) hat.“ Die Antwort für die bulgarische Sprache fällt ebenso aus: Trotz einer 500jährigen osmanischen Fremdherrschaft in Bulgarien in der Zeit von 1396–1878, während der das Türkische die Sprache der Administration, des Militärs und aller offiziellen Einrichtungen war, blieb die bulgarische Sprache dank ihrer Sprecher, einer unerschöpflichen Folklore und ihrer vielfältigen Dialekte über die Jahrhunderte hinweg präsent und wurde gesprochen. Der Anteil der Fremdwörter im Bulgarischen stieg ebenso, doch Fremdwörter wurden und werden im Bulgarischen ebenfalls nach bestimmten grammatischen Prinzipien assimiliert. Unnötiges, veraltetes und nur noch selten gebräuchliches Wortgut gerät in Vergessenheit und wird „aussortiert“. Für die bulgarische Sprache wird auf der Grundlage des ʇʺˣˑˆˊ ˑʲ ˑ˓ʵˆ˘ʺ ʹ˙ːˆ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ (2010) festgestellt, dass beim Zustrom an Fremdwörtern in den letzten Jahren etwa ein Viertel der ins- gesamt neuen 4300 lexikalischen Einheiten Lehnwörter aus dem Engli- schen sind (Blagoeva et al. 2012, 15). Und dann gibt es da noch eine ganz wichtige Sache: Unsere Dialekte! Die Dialekte gehören sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien zu den wichtigsten Ressourcen unserer Sprachen, sie sind sozusagen die un- erschöpflichen Quellen der Sprachforschung. Die Dialektforschung hat in Deutschland und Bulgarien in den letzten Jahren präzise Dialektatlanten erstellt und Tonaufzeichnungen angefertigt und archiviert, die als Groß- projekte von der Europäischen Union entscheidende Förderung erfuhren. Weshalb sind Dialekte so wichtig? Haftet ihren Sprechern mit starker regionaler Aussprache nicht doch etwas Provinzielles an? Es hängt wohl auch vom Selbstbewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher dieser Dia- lekte ab. In Deutschland und Bulgarien bedient man sich in der Öffent- lichkeit einer normierten Sprache, man bezeichnet sie als Literatursprache, Hochdeutsch, Standardsprache, im Bulgarischen kennen wir die Bezeich- nung ˊˑˆʾ˓ʵʺˑ ʺ˄ˆˊ. Anders hingegen in der Schweiz, dort werden die schweizerdeutschen Dialekte auch in der Öffentlichkeit mit Selbstbewusst- sein gepflegt. Doch auch in Deutschland hat sich eine gewisse Wende zum

203 Bewahren des Kulturguts Dialekt vollzogen, so werden beispielsweise an manchen Grundschulen in Norddeutschland Friesisch und Plattdeutsch unterrichtet. Ob und weshalb eine Mundart, ein Dialekt, den Status einer Hochsprache, einer Standardsprache oder gar einer eigenen Sprache erhält, diese Frage hängt von vielen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Faktoren ab. Auch die bulgarische Sprachwissenschaft legt großen Wert auf die Pflege der Dialekte, doch an der Wertigkeit eines Dialekts werden keinerlei Zweifel gehegt. Selbstverständlich wird in allen Schulen die bulgarische Standardsprache gelehrt, doch die Dialekte haben nach wie vor ihre Da- seinsberechtigung und gelten in der bulgarischen Grammatik, besonders bei den grundlegenden Gesetzen der Lautlehre, als wichtiger Ausgangs- punkt für die Entwicklung der bulgarischen Morphologie, wie bei Todor Bojadžiev (2012, 38–40) ausführlich dargelegt wird. Die Fragen der Phonetik und der Phonologie beschäftigen besonders jene Forscher, die sich mit der künstlichen Intelligenz der so genannten Spracherkennungsprogramme beschäftigen. Und eben diese Programme sollen uns dabei helfen die Sprachbarrieren zu überwinden. Wenn wir nun auf das Gebiet der heutigen Europäischen Union zu sprechen kommen, dann sind hier mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten mit 24 Amtssprachen vertreten. Die Vision dieser Europäischen Union ist ein barrierefreier Austausch von Informationen, die Sprachbarriere soll uns also zukünftig nicht mehr im Wege stehen, wenn wir beispielsweise einen in bulgarischer Sprache verfassten Artikel über noch nicht bekannte Heil- kräfte des bulgarischen Naturjoghurts im Internet lesen wollen. Die com- putergestützte, also maschinelle Translation soll das leisten. Dass dies keine leichte Aufgabe ist, kann sich jeder vorstellen, der schon einmal die Bekanntschaft mit Texten gemacht hat, die maschinell übersetzt wurden. Den Grundstein für Übersetzungen mit Hilfe eines Computers legte der US-amerikanische Mathematiker Warren Weaver (1894–1978). Es gelang ihm in den 1940er Jahren mit Hilfe statistischer und linguistischer Metho- den Textbearbeitungen so vorzunehmen, dass ein Erkennen von Wort- und Satzbausteinen möglich war. Auch die heutige Computertranslation ar- beitet nach diesem Prinzip. Hierbei wird der Eingangstext zunächst einmal statistisch und linguistisch analysiert. Die statistische Methode sorgt für die Analyse von Datenmengen eines bestimmten Sprachpaares, während die linguistische, regelbasierte Methode mit der Einbeziehung von Wörter- büchern und Grammatiken arbeitet. Der Text wird mit bestimmten Erken- nungsprogrammen in seine Einzelteile zerlegt, formatiert und abgeglichen, nach Morphologie, Syntax und anderen Merkmalen aufgeschlüsselt und dann beginnt die Suche nach der höchstmöglichen Übereinstimmung mit

204 einer Formulierung in der Zielsprache, und zwar durch Abgleichen mit dem vorhandenen statistischen Material in der Zielsprache und dem Einpassen in die Regeln und Strukturen der Zielsprache, also wieder nach der statistischen und nach der linguistischen Methode. Hier arbeiten statistische und linguistische Methoden Hand in Hand. Mittlerweile gibt es schon recht brauchbare Resultate dieser Methode für kurze Hauptsätze. Doch die Computertranslation ist für eine Sprache wie die bulgarische eine sehr große Herausforderung. Das liegt ganz einfach an der vielschich- tigen grammatischen Struktur dieser Sprache. Das Bulgarische ist sowohl eine Balkansprache als auch eine slavische Sprache. Es vereint viele Merk- male in seiner Sprachstruktur, die sich teilweise sogar überlagern und damit ein eindeutiges Erkennen und Übersetzen für die künstliche Intelli- genz des Übersetzungscomputers sehr schwierig machen. Die Haupt- probleme dabei sind:

– das Fehlen von Kasusendungen, bedingt durch den Wegfall des Kasussystems – die verhältnismäßig freie Wortfolge im Satz – das nicht obligatorisch markierte Subjekt im Satz – das morphologisch umfangreiche Verbsystem mit zwei Aspekten Hier ein Beispiel, das die Schwierigkeiten des Erkennens von Wortkate- gorien und Bedeutungsnuancen für die computergestützte Translation im Bulgarischen veranschaulichen soll (Blagoeva et al. 2012, 13): Das bulga- rische Wort ʴʺˏˆ, ein Wort, das als Homonym und eben auch Homograph in folgenden Bedeutungsvarianten auftritt:

1. Pluralform des Substantivs: ʴʺ'ˏˮ (Unglück, Malheur) 2. Pluralform des Adjektivs: ʴˮˏ – 'ʴeˏˆ (weiß – weiße) 3. Verbform, 3. Person Singular Präsens: 'ʴʺˏˮ – 'ʴeˏˆ (schälen, abpellen) 4. Verbform, 2. oder 3. Person Singular, Aorist: ʴeˏˮ – ʴeˏˆ (du schältest – er, sie, es schälte) 5. Verbform, 2. Person Singular des Imperativs: ʴʺ'ˏˆ! (Schäle!)

Zur Digitalisierung der bulgarischen Sprache – heutiger Stand und Ausblick

Doch die Linguistik hat durch ihre akribische Forschungsarbeit alle Bei- träge geliefert, die eine maschinelle Übersetzung ermöglichen, oder wenig- stens in naher Zukunft möglich erscheinen lassen. Zunächst einmal wur- den sehr umfangreiche Wörterbücher, nicht nur für die bulgarische, sondern für alle europäischen Sprachen geschaffen. Sie dienen als Daten- banken, auf welche die computergestützten Translationsmechanismen

205 zurückgreifen. Profunde grammatische Forschungen ermöglichten genaue phonetische, phonologische, morphologische, lexikalische, semantische und syntaktische Analysen, die alle Eingang in Datenbanken fanden. Neue, grundlegende Werke auf dem Gebiet der bulgarischen Grammatik, wie von Ruselina Nicolova (2008), um hier stellvertretend für zahlreiche Neu- erscheinungen nur eine zu nennen, geben der bulgarischen Computer- linguistik wieder neue Denkanstöße hinsichtlich der computergesteuerten Translation des bulgarischen Verbs. Und schließlich fand eine Vernetzung jener Institutionen statt, die auf dem Gebiet der Computerlinguistik arbei- ten, auf den Forschungsgebieten der künstlichen Intelligenz. In Bulgarien stand die Wiege der Computerlinguistik in der Universität Plovdiv und seit den 90er Jahren entwickelte sie sich stetig. Am Institut für Bulgarische Sprache „Prof. Ljubomir Andrej²in“ in Sofia, das zur Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gehört und im Jahre 2012 sein 70jähriges Gründungsjubiläum beging, wurde die Abteilung Computerlinguistik eingerichtet, deren Aufgaben sich auf Forschung, Ent- wicklung, Lehre und wissenschaftliche Kooperation erstrecken. Es wird dort u. a. an Methoden der computergestützten Translation gearbeitet so- wie an allen sprachver- und bearbeitenden Methoden, an computergestütz- ten Lernprogrammen und an computergestützten Forschungsassistenz- programmen. Die Arbeitsresultate verbessern Anwenderprogramme, so liegt jetzt beispielsweise für die bulgarische Sprache ein Online Translator, also ein computergestütztes Translationssystem vor, das sich WebTrance von SkyCode nennt. Es übersetzt Texte und Internetseiten aus dem Bul- garischen ins Englische, Deutsche, Französische, Spanische, Italienische und Türkische und umgekehrt. Die bulgarische Computerlinguistik am Institut für bulgarische Sprache braucht keinesfalls den Vergleich mit internationalen Partnern zu scheuen. Die Arbeitsgruppen der BACL (Bulgarian Association for Computational Linguistics) und der BLA (Bulgarian Lexicographic Association) sind mit- einander vernetzt und stehen in erfolgreichem Austausch mit dem so genannten META-NET, das für M – Multilingual; E – Europe; T – Tech- nology; A – Alliance steht. Die Organisation META-NET wird von der Europäischen Kommission gefördert, sie unterhält eine Exzellenzinitiative, an der 54 wissenschaftliche Organisationen aus 33 europäischen Ländern beteiligt sind. Sie gibt so genannte Weißbücher für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union heraus, die über den Ist-Bestand an Internetzugängen und -nutzung in den einzelnen Ländern berichten und über den Forschungsstand auf dem Gebiet der Sprach-, Textverarbeitungs- und Forschungsprogramme infor- mieren. Diese Initiative ermöglicht eine intensive Zusammenarbeit von

206 Sprachwissenschaftlern, Computertechnikern, Programmentwicklern und Mathematikern. META-Net wiederum steht im ständigen Austausch mit GWA (Global WordNETAssociation) und CLARIN (Common Language Resources), einer web-und zentrenbasierten Forschungsinfrastruktur für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Für Bulgarien wurde 2012 von den renommierten Computerlinguisten Diana Blagoeva, Svetla Koeva und Vladko Murdarov eine Studie zum Stand der Digitalisierung der bulgarischen Sprache verfasst (Blagoeva et al. 2012). In Bulgarien ist laut dieser Studie im Jahr 2012 die Anzahl der Inter- netnutzer auf 50% der Gesamtbevölkerung gestiegen. Ein Vergleich aus dem Jahre 2010 (Blagoeva et al. 2012, 37f), bei dem mit einer Bewertungsskala von 1–5 gearbeitet wurde, konnte den Forschungs- und Entwicklungsstand von 30 europäischen Sprachen im Hinblick auf die computergestützten Sprach-, Text- und Translationsprogramme aufzeigen:

Computergestützte sprachverarbeitende Technologien: Bulgarisch Platz 4, Deutsch Platz 3

Computergestützte Translation: Bulgarisch Platz 5, Deutsch Platz 4

Textanalyse: Bulgarisch Platz 4, Deutsch Platz 3

Computergestützte Sprachressourcen (Textzusammenfassungen, etc.): Bulgarisch Platz 4, Deutsch Platz 3

Die Erhebungen für die deutsche Sprache sind unter http://www.meta-net .eu/whitepapers/volumes/german zu finden, die unter der Federführung der bekannten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, Peter Rehm und Hans Uszkoreit und ihrem Forscherteam herausgegeben und ständig aktualisiert werden. Auf dem Gebiet der Digitalisierung der Sprache und der Erschließung von computergestützten Translationsmetho- den kommen den Mitarbeitern des DFKI (Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz) an der Universität des Saarlandes und den mit- wirkenden Forschern auch von österreichischen und schweizerischen Uni- versitäten in den letzten Jahren besondere Verdienste zu. Die Anstrengun- gen des META-NET sind auf eine Vision gerichtet: Im Jahr 2020 soll es für Nutzer von Computern und des Internets möglich sein, Texte aus allen Sprachen der Europäischen Union durch ein barrierefreies Internet, also kostenfrei und ohne die hinderliche Sprachbarriere, in ihrer Muttersprache zu lesen. Dem Zugang zu Wissen und dem Austausch von Informationen und dem Wissenstransfer sollen dann keine Schranken mehr auferlegt sein.

207 Mit dem wichtigen Hilfsmittel der Computertechnik aus dem 20. und dem 21. Jahrhundert kommen wir dem eingangs erwähnten Menschheits- traum, den wir seit der Renaissance kennen, dem freien Zugang zu Wissen und allseitiger Bildung, ein großes Stück näher.

Literatur

Blagoeva et al. 2012 D. Blagoeva/S. Koeva/V. Murdarov, The Bulgarian language in the digital age/ ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ˘ ʺ˄ˆˊ ʵ ʹˆʶˆ˘ʲˏˑʲ˘ʲ ʺ˔˓ˠʲ. Whitepaper series (Berlin/Heidelberg 2012).

Comati/Vlahova 2003 S. Comati/R. Vlahova, Bulgarische Landeskunde (Hamburg 2003).

Eisenberg 2011 P. Eisenberg, Das Fremdwort im Deutschen (Berlin/New York 2011).

Haspelmath 2005 M. Haspelmath, World Atlas of Language Structures (Oxford 2005).

Mayer 1982 H. Mayer, Martin Luther. Leben und Glaube (Gütersloh 1982).

Pico della Mirandola 1496 G. Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Latein/Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps, herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna. Reclams Universal-Bibliothek 9658 (Ditzin- gen 2009).

Radeva 2003 V. Radeva (Hrsg.), Bulgarische Grammatik. Morphologisch-syntaktische Grund- züge (Hamburg 2003).

ɩ˓ˮʹʾˆʺʵ 2012 ʊ. ɩ˓ˮʹʾˆʺʵ, ɼˑˆʾ˓ʵʺˑ ʺ˄ˆˊ ˆ ʹˆʲˏʺˊ˘ˆ. ɸ˄ʴ˕ʲˑˆ ˘˕˙ʹ˓ʵʺ (ʈ˓˟ˆˮ 2012).

ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ 2008 P. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ. ʂ˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 2008).

ʆʲ˖ˊʲˏʺʵʲ 2007 ɯ. ʆʲ˖ˊʲˏʺʵʲ, ɼ˓ː˔˭˘˨˕ˑʲ ː˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 2007). ʈ˘ʲːʴ˓ˏˆʺʵʲ 2012

208 ʂ. ʈ˘ʲːʴ˓ˏˆʺʵʲ (˖˨˖˘ʲʵˆ˘ʺˏ), ɼ˓ː˔˭˘˨˕ˑʲ ˏˆˑʶʵˆ˖˘ˆˊʲ. ʆ˕˓ʴˏʺːˆ ˆ ˔ʺ˕- ˖˔ʺˊ˘ˆʵˆ. ˊˑ. I. ˖˨˖˘. ɸ˄ʹʲˑˆʺ ˑʲ ɧ˖˓ˢˆʲˢˆˮ ˄ʲ ˑʲˢˆ˓ˑʲˏʺˑ ʺˏʺˊ˘˕˓ˑʺˑ ʲ˕ˠˆʵ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ – ɧʃɧɩɯʁɧ (ʈ˓˟ˆˮ 2012). http://www.meta-net.eu/whitepapers/volumes/german

209 Deniza Popova

Die „bulgarischen Musiken“ im Spannungsfeld zwischen Verständnis und Selbstverständnis

In der deutschen und in der bulgarischen Sprache benutzen wir den Singu- lar von „Musik“ [ː˙˄ˆˊʲ], obwohl wir Musik weder singulär wahrnehmen noch kommunizieren. Wir verfügen nicht nur über eine musikalische Vielfalt, sondern auch über vielfältige Möglichkeiten der Wahrnehmungs-, Umgangs- und Kommunikationsweisen mit, über und durch Musik. Anhand von Musikgattungen, die historisch gewachsen sind, ist uns das Klassifizieren und Systematisieren von Musik eine notwendige Selbst- verständlichkeit geworden.

„Die Gattungen einer Epoche bilden, pointiert ausgedrückt, ein System, das sowohl hierarchisch als auch durch Ähnlichkeiten und Kontraste gegliedert ist. ... Charakteristisch für eine Epoche ist also außer dem Bestand an Gat- tungen, über den sie verfügt, und den Kriterien der Zusammenfassung und Unterscheidung musikalischer Werke auch die Art und die Dichte der Be- ziehungen zwischen den Gattungen.“ (Dahlhaus 1973, 850). Zudem hat jeder Mensch sein eigenes Repertoire an Musik und somit seine Vorlieben für bestimmte Gattungen. Allein das Zusammendenken von den Parametern, die nach dem persönlichen oder gesellschaftlich etablierten Umgang fragen, eröffnet hinreichend viele Möglichkeiten des Umgangs mit ihr, so dass sich an die als Beispiel angeführten drei Fragen zahlreiche weitere anschließen lassen:

1. Welche Musik machst Du und welche Musik hörst Du? 2. Welche Musik machst oder rezipierst Du alleine und welche in einer Gruppe? 3. Welche Musik wird subventioniert und welche Musik ist auch ohne Subven- tionen eine Selbstverständlichkeit? Die diversen Methoden des wahrnehmenden Hörens offenbaren eine weitere Form musikalischer Vielfalt. Es existieren zahlreiche Hörstrategien, die Einfluss auf das allgemeine und individuelle Verständnis von Musik haben. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass die Verarbeitung von Musik im Gehirn nicht standardisiert ist, sondern eine enorme inter- individuelle Variabilität der beteiligten neuronalen Netzwerke vorherrscht, so dass die Hörstrategien von der Art und Weise, wie sie erlernt wurden, abhängig sind (Altenmüller 2002, 19). Ableitend können wir davon aus-

210 gehen, dass die tiefgründig gestellte Frage, was unter dem Sammelbegriff „Musik“ verstanden wird, auch vielfältige Antworten zulässt. Einerseits gilt es, die Gesamtheit von Sinneseindrücken mitzudenken, die Musik in jedem von uns auszulösen vermag, aber ebenso wichtig sind auch die Geschichten. Die Geschichte einer Musik und die historischen Fundamente ihrer Rezeption, sind hierbei für die Gegenwart ebenso bedeutungsschwer wie ihre gegenwartsbezogene Existenz. Der Kontext des Begegnens, des Ken- nenlernens, des Erlebens und der Verortung einer Musik im Leben jedes einzelnen Individuums sowie die konkreten gesellschaftlichen Rahmen- bedingungen sind für das jeweilige Musikverständnis ausschlaggebend.

Was nun sind „bulgarische Musiken“?

Inzwischen gibt es in Bulgarien alle Musikgattungen, die es auch in den anderen Ländern gibt. Die Betonung liegt allerdings auf dem „inzwi- schen“. Durch das Streben Bulgariens nach der Zugehörigkeit zu West- europa fand hauptsächlich im 19. und 20. Jahrhundert eine Anpassung an die europäischen Werte und ebenso an die dort geschätzte abendländische Musikkultur statt. Dieser Prozess des kulturellen Nachholens und Nach- ahmens hält bis heute an. Das, was von bulgarischer Seite aus als die eigene „bulgarische Musik“ verstanden wird, basiert hauptsächlich auf zwei traditionellen Formen des funktionalen Musizierens. Die eine Funktion erklärt sich im Kontext byzan- tinischer Kirchenmusik und der darauf aufbauenden bulgarischen Vari- ante. Der zweite funktionale Komplex erschließt sich durch die kontextu- elle Verankerung von Volksmusik in den Alltags- und Festtagsbräuchen (Folklore). Von außen betrachtet kann festgestellt werden, dass sowohl die für Bulgarien typische Volksmusik, als auch die alte Kirchenmusiktradition kaum dem westeuropäischen musikalischen Schönheitsideal entsprechen. Somit gilt es, den Prozess der Kultivierung des abendländischen Musik- geschmacks in Bulgarien zurückzuverfolgen. Die musikhistorische Quel- lenlage ermöglicht es hierbei recht gut, bulgarische Musikgeschichte, ab dem 19. Jahrhundert, als Adaption europäischer kultureller Werte und anhand der verschiedenen Musikpraxen des Abendlandes, einschließlich ihrer Gattungszugehörigkeiten, zu beschreiben. Es sollte hierbei allerdings nicht übersehen werden, dass vor allem der Entwicklung der „eigenen“ Musiken und dem Streben nach ihrer musikhistorischen Bestätigung als „bulgarische Musiken“ viel kulturpolitische Aufmerksamkeit zukam. Dem ist es zu verdanken, dass die auf dieser Grundlage als „bulgarisch“

211 definierte Musik, wenn auch in unterschiedlichen Formaten, bis heute existent ist und einen wesentlichen Teil der musikalischen Praxis in Bul- garien darstellt (Popova 2013). Die Formate ihrer Existenz lassen sich durch die zahlreichen musi- kalischen Transformationsprozesse aufarbeiten. Je nach Gattung wurden einige „bulgarische“ Parameter in den Vordergrund gerückt und andere „westeuropäische“ in die Peripherie gedrängt – oder umgekehrt. Doch was sich vor allem im Laufe der Zeit verändert hat, sind die funktionalen Zu- sammenhänge und Situationen, in denen Musik stattfindet. In der Gegen- wart bestehen andere konkrete Bedürfnisse für „bulgarische Musiken“ und diese lassen sich an ihrer veränderten Funktion ablesen. Die Bedürfnisse der Menschen und die Tiefenstrukturen ihres musikalischen Verständ- nisses geben Aufschluss über die funktionalen Zusammenhänge, in denen Musik heute steht. Doch nur unter der Voraussetzung, dass „bulgarische Musik“ tatsächlich auch eine wichtige Funktion einnimmt, bleibt ihre praktische Existenz garantiert. Auf der Metaebene der Wissenschaft kommt es mitunter vor, dass neben der Analyse verschiedener Musiken in Geschichte und Gegenwart, mit den Bedürfnissen der musikalischen Praxis gehadert wird. Gemeint sind beispielsweise die Bemühungen, die mit dem Erhalt von Volksmusik durch deren technische Konservierung zusammenhängen. Ein weiteres Beispiel sind die als höchst problematisch einzuschätzenden nationalisti- schen Beweggründe, die auf dem Fundament einer musikalischen „Rassen- reinheit“ basieren (Bartók 1942). Doch gerade diese Prämisse betont die wissenschaftlich zu reflektierende Bedeutung, musikalischen und kulturel- len Vergleichens und ohne sie wäre jegliche vergleichende Forschung problematisch. Immerhin liegen die Wurzeln der ethnologischen Musik- forschung im Vergleichen und in dem nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Mode geratenen komparatistischen Ansatz, der die Bezeichnung „Ver- gleichende Musikwissenschaft“ wählte. Die zwei gewählten Musikgattungen „Kirchenmusik“ und „Volks- musik“ können als besonders markante Beispiele dienen. Es könnten je- doch noch viele weitere Musiken, die im Musikleben Bulgariens existieren und präsent sind, als Beispiele aufgearbeitet werden. Die Voraussetzung wäre, dass es sich um aktive Gattungen handelt, durch die eine bestimmte Art von Musik tradiert, reproduziert und weiterentwickelt wird. Zusätz- lich zur aktiv-realen Existenz dieser musikalischen Gattungen haben sie ihren spezifischen Platz in den Speicher- und Übertragungsmedien besetzt. Diese umfassen individuelle und kollektive Gedächtnisse, Schrift und Notation, Instrumente, Aufnahmetechniken, aber auch ganze Institutionen, welche die Funktionen des Speicherns und Übertragens erfüllen, wie z. B.

212 Archive, Museen, Bibliotheken, wissenschaftliche Institute, Konzert- oder Opernhäuser, Festivals aber auch die Massenmedien und nicht zuletzt das Internet (vgl. Assmann 1997; Assmann 1999; Foucault 1997).

Beispiele: Bulgarische Kirchenmusik und Bulgarische Volksmusik

1. Bulgarische Kirchenmusik Die alte Art des orthodoxen Kirchengesangs, die Psaltike, hat seit der Christianisierung Bulgariens (864) ihre Vorbilder in der byzantinisch- orthodoxen Kirchenmusiktradition (cf. Hannick et al. 1997).

• Die alte Kirchenmusik – Psaltike: Der Begriff trifft vor allem auf die von den Kirchenvätern autorisierte und kanonisierte orthodoxe Kirchenmusik zu. Das ist die Psaltike, die Art des orthodoxen Gesangs nach byzantinisch-ortho- doxem Vorbild. In der Umgangssprache wird sie häufig auch Popengesang (popsko peene) genannt.1 Eine Besonderheit sind die hauptsächlich oral tradierten bulgarischen Varianten orthodoxer Kirchenmusik, die den Kanon – im Sinne einer folk- loristischen Prägung – verändern. Gemeint ist eine Form der musikalischen Praxis, die als „folkloristische bulgarisch-orthodoxe Kirchenmusik“ be- zeichnet werden kann und durch die gläubigen Menschen, einschließlich der Kleriker, praktiziert wurde. Sie hatte eine enge Beziehung zur Volks- musik und zum religiösen Brauchtum. Auch wenn ab Mitte des 19. Jahr- hunderts bulgarische Kirchengesangsbücher (Neumenbücher) gedruckt wurden, können diese Bücher kaum Auskunft über das damalige Reper- toire und die Gesangspraxis in Bulgarien geben.2 Für die religiöse Praxis war und ist das Erlernen und Weitergeben von Wissen und musikalischem Können auf oralem Weg von zentraler Bedeutung (Popova/Gerlach 2013). Lokale Traditionen spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Sie hatten, auf Grund der schlechten Infrastruktur und trotz des Auftauchens standar- disierter Regelwerke, besonders gute Chancen, über lange Zeit hinweg tradiert zu werden. Dies geschah weniger aus Missachtung des Kanons, als auf Grund der relativ schlechten Ausbildung der Gottesdiener. Einige wenige späte Aufnahmen folkloristischer Varianten des bulgarisch-ortho- doxen Kirchengesangs befinden sich im Musikfolkloristischen Archiv der

1 In Bulgarien läuft die Erforschung der Kirchenmusiktradition, unabhängig davon, dass sie fast bis in die Gegenwart reicht, unter der Bezeichnung „Mediävistik“. Zu- sammenfassende Literaturangaben siehe bei ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2007. 2 ɯrstmalig wurden für Bulgarien in Bukarest 1846 die Psaltike von Pavel Kurtovi° Caloglu und 1847 die Psaltike von Nikolaj Trindafilov, mit einer theoretischen Ein- führung in die östliche Kirchenmusik, gedruckt.

213 Bulgarischen Akademie der Wissenschaften.3 Als Beispiel erwähnt seien die 1965 entstandenen Aufzeichnungen von Sveštennik Stefan Stoev Todorov aus Petri², der während des Gottesdienstes in Begleitung einer Tambura4 singt, oder ein 1963 in Jambol aufgezeichnetes „Dostojno est“, das den Titel „˕˓ʹ˓˔˖ˊ˓˘˓“ („auf die Gesangsart in den Rhodopen“) trägt und von Protopsalt Damjan Karov gesungen wurde (ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2005, 197f./ Nr. 198, Nr. 200 und Nr. 210; 216 / Nr. 65).

• Folkloristische Kirchenmusik: Bezeichnet werden oral tradierte bulgarische Vari- anten orthodoxer Kirchenmusik, die den Kanon im Sinne einer folkloristischen Prägung verändern. Die musikalische Praxis von folkloristischer Kirchenmusik geht hier durch die praktizierenden Menschen, einschließlich der Kleriker, eine enge Beziehung zur Volksmusik ein. Sie könnte als religiöses Brauchtum sogar in die folkloristischen Traditionen des agrarischen Jahres- und Lebens- kreises formal eingefügt werden.

1.1 Polyphone „bulgarische“ Kirchenmusik Die „neue Kirchenmusik“, die Ende des 19. Jahrhunderts in Bulgarien Ein- zug hielt, orientierte sich am mehrstimmigen Chorgesang der Russischen Orthodoxen Kirche und somit auch an der abendländischen Chormusik. Durch die russische Armee, die während der Befreiung Bulgariens von türkischer Vormundschaft ihre Armee-Kirchenchöre mitführte (seit 1876), hatten die Bulgaren ein Vorbild für das mehrstimmige chorische Singen bei der Liturgie im eigenen Land vor Augen und Ohren.5 Die Polyphonie gewann, zusammen mit den russischen Befreiern auch an politischer Rele- vanz. Zahlreiche bulgarische Kirchenchöre und Gesangsvereine wurden gegründet. Diese mussten mit Chorwerken ausgestattet werden. Dem- entsprechend wurden bulgarische Versionen von mehrstimmigen litur- gischen Werken einerseits aus der russisch-orthodoxen Tradition adaptiert, aber auch neu komponiert.6 Auf Grund dieser Neuorientierung entwickelte sich ein sowohl auf wis- senschaftlicher, als auch auf ideologischer Basis geführter öffentlicher Streit in Bulgarien, wobei sich die Spannung zwischen Traditionsbestrebungen und Modernisierungstendenzen aufbaute. Es ging um die Frage: „Welches

3 In diesem Archiv lagern Audio-Aufzeichnungen bulgarischer Kirchenmusik aus den Jahren 1956 bis 1987. 4 Ein traditionelles Zupfinstrument mit vier bis sechs Saiten. 5 Der polyphone Chorgesang wurde seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Russland nach westeuropäischem Vorbild eingeführt. 6 Die vielen russischen Komponisten, die Kirchenmusik in ihre Oeuvres einschlossen, galten den Bulgaren als Vorbilder.

214 ist der echte (ˆ˖˘ˆˑ˖ˊ˓˘˓) bulgarische Kirchengesang?“7 Die Suche nach dem typisch Bulgarischen innerhalb der Kirchenmusik hat vor allem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Damals wurde die Hypothese aufgestellt, dass die im 14./15. Jahr- hundert vor den Osmanen aus Bulgarien nach Russland (hauptsächlich nach Kiew) geflohenen Kleriker die Gesänge des „Bolgarski rozpev“ dorthin exportiert hätten und es sich somit um die eigentliche, ureigene Tradition der bulgarischen Kirchenmusik handeln könnte (ʊ˓ˑˣʺʵʲ 2005). Diese sei dank der russisch-orthodoxen Tradierung bis in die Gegenwart lebendig geblieben.8 Somit konnte selbst im Angesicht russischer Poly- phonie traditionalistisch argumentiert werden. Der „Bolgarski rozpev“ wurde nicht nur als „volks-bulgarischer Kirchengesang“ (ˑʲ˕˓ʹˑ˓ ʴ˨ˏʶʲ˕- ˖ˊ˓ ˣʺ˕ˊ˓ʵˑ˓ ˔ʺˑˆʺ) bezeichnet, sondern auch als das Fundament für die Entstehung einer neuen polyphonen bulgarischen Kirchenmusik betrach- tet. Er diente als Grundlage für die zur selben Zeit aktuelle komposi- torische Auseinandersetzung mit Kirchenmusik.

1.2 Komposition als Transformation Die Modernisierung der bulgarischen Kirchenmusik vollzog sich, Anfang des 20. Jahrhunderts, durch die Komposition neuer Liturgien. Bei der Realisierung der bulgarischen Kirchenkompositionen waren die zwei verschiedenen Positionen bezüglich der Herkunft „des Eigenen“, bzw. „des Bulgarischen“ leitend. Die eine Richtung beharrte auf der Bedeutung der byzantinisch geprägten Psaltike und versuchte, ihre musikalischen Besonderheiten mit der europäischen Mehrstimmigkeit zu verbinden. Ihr wichtigster Vertreter war Petӽr Dinev. Mit seinen liturgischen Komposi- tionen versucht er, die byzantinische Kirchenmusiktradition einschließlich der Tonskalen des Oktoechos an die abendländische Harmonik anzupas- sen. Die andere Richtung wurde hauptsächlich von Dobri Christov ver- treten, der im Repertoire des „Bolgarski rozpev“ das Urbulgarische heraus- zuarbeiten suchte und dieses kompositorisch umsetzte. Die erste bulgarische Komponistengeneration versuchte Kirchenmusik zu schaffen, die nicht nur den Ansprüchen der Gottesdienste genügen sollte, sondern die künstlerischen Fähigkeiten der einzelnen Komponisten in den Vordergrund rückte (vgl. ɼ˙˭ːʹʾˆʺʵ 2011, 21). Die zweite Generation bulgarischer Komponisten (ab ca. 1935), denen es hauptsächlich um künst-

7 ɼ˙˭ːʹʾˆʺʵ 2011. Dieses Buch bietet ein Reprint von 140 Publikationen zu dieser Thematik, die zwischen 1890 und 1940 erschienen sind. 8 Es waren vor allem die Altgläubigen, die diese Tradition bewahrt haben. Ca. 1666 lösten sich die Altgläubigen von der russisch orthodoxen Großkirche ab. Vgl. Haupt- mann 2005.

215 lerische Potenz und individuelle Anerkennung ging, begriff das Kom- ponieren von Kirchenmusik nicht mehr als Teil ihrer Aufgabe. Die wichtig- sten liturgischen Werke entstanden 1929 von P. Dinev und 1934 von D. Christov. Danach riss die Tradition des Komponierens von Kirchenmusik ab und wurde natürlich auch während der sozialistischen Zeit nicht wie- derbelebt. Auch gegenwärtig hält das Desinteresse der bulgarischen Kom- ponisten an Kirchenmusik an.

• Neue Kirchenmusik: Die Erneuerungen der bulgarischen Kirchenmusik fanden durch die Komposition von Liturgien, die sich am mehrstimmigen russischen und abendländischen Chorgesang orientierten, statt. Die eine Richtung basiert auf der alten Art orthodoxer Kirchenmusik (Psaltike), die andere auf den in der Ukraine und Russland als „Bolgarski rozpev“ bezeichneten Gesängen. Die Kompositionen „neuer bulgarischer Kirchenmusik“ erfüllen alle zeitgemäßen Kriterien der hohen abendländischen Musikkunst.

1.2.1 Pet΁r Dinev (1889-1980) Der bulgarische Musikwissenschaftler und Komponist Petӽr Dinev lernte am Seminarium in Istanbul, studierte am Konservatorium in St. Petersburg Komposition und die Musik der Ostkirche und gleichzeitig an der Uni- versität Recht. 1922 kam er zurück nach Bulgarien, arbeitete zunächst als Gymnasiallehrer für Musik, unterrichtete später Kirchenmusik an der Staatlichen Musikakademie in Sofia (1925–1936), am Geistlichen Semina- rium (Duchovna Seminarija) (1926–1944) und an der Geistlichen Akademie (Duchovna Akademija) (1926–1934). Er leitet verschiedene Chöre, so den Chor der Theologischen Fakultät und über 40 Jahre lang den Chor der Kirche „Hl. Kyrill und Hl. Method“ in Sofia. Nach 1944 arbeitete er an der Hl. Synode u. a. als Inspektor für Musik. Dinev gilt als der erste bulgari- sche Musikwissenschaftler, der sich mit Kirchenmusik und deren Verbin- dung zur Volksmusik beschäftigte (Ⱦɢɧɟɜ 1955; Ⱦɢɧɟɜ 1959). Er transkri- bierte zahlreiche Kirchengesänge von Neumen in Noten und schrieb eine Anleitung zum Erlernen der byzantinischen Neumennotation, indem er die Terminologie der abendländischen Musiktheorie darauf ansetzte. Dinev verfasste zahlreiche musikwissenschaftliche Publikationen zur Musiktheo- rie der orthodoxen Kirchenmusik, zur musikalischen Praxis und zu Fragen der Komposition. Er bearbeitete Volkslieder. Berühmt wurde seine bis heute im Gottesdienst häufig zu hörende „Göttliche Liturgie des heiligen Johan- nes Chrysostomos“, die er 1926 komponierte und mehrfach überarbeitete.9

9 Kirchenmusik von Petӽr Dinev: Für gemischten Chor: ʁˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓˙˖˘ ʵ ˆ˄˘˓ˣʺˑ ˖˘ˆˏ ʵ˨˕ˠ˙ ˆ˄˘˓ˣˑ˓ˢ˨˕ˊ˓ʵˑˆ ˑʲ˔ʺʵˆ (1926); ɪʺˏˆˊ˓˔˓˖˘ʺˑ ˊ˓ˑˢʺ˕˘ „ʃʲ ˕ʺˊʲˠ ɪʲʵˆˏ˓ˑ˖ˊˆˠ“ (1927). Für zwei- und dreistimmigen Chor: ʃʲ˕˓ʹˑʲ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ

216 1.2.2 Dobri Christov (1875-1941) Dobri Chrristov gilt als einer der wichtigsten bulgarischen Komponisten, Lehrer, Musiktheoretiker, Chordirigenten und Wissenschaftler. Er stu- dierte Komposition in Prag bei Antonin Dvoìák. In Bulgarien leitete er zahlreiche Chöre, sowohl Kirchenchöre als auch Laien- und Opernchöre. 1918 wurde er zum Direktor der Staatlichen Musikschule ernannt und 1922 zum Professor für Musiktheorie an die neu gegründete Staatliche Musik- akademie berufen. Zahlreiche wichtige musiktheoretische Studien stam- men aus seiner Feder. Seine kompositorischen Werke erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit. Einige im volksliedhaften Stil komponierten Lie- der (über 400 Kinderlieder und 60 Chorwerke) sind so berühmt geworden, dass sie kaum noch als Kompositionen, sondern als Volkslieder gelten.10 Besondere Verdienste hat D. Christov bei der Bereitstellung von Lehr- materialien für den Musikunterricht. Insgesamt 16 Schulbücher wurden durch ihn zusammengestellt und herausgegeben. Als Theoretiker beschäf- tigte er sich ausführlich mit dem Bolgarski rozpev und komponierte 1934 seine auf dieser Tradition basierende Chrysostomos-Liturgie für den Got- tesdienst in der Bulgarischen Orthodoxen Kirche.11

1.3 Kirchenmusikalische Praxis Die drei verschiedenen Arten der Kirchenmusik existieren bis heute gleich- zeitig. Die Liturgie mit dem Abendmahl wird dort, wo es Chöre mit Diri- genten gibt, von ihnen übernommen. Morgen- und Abendgottesdienst, Stundengebete, Weihen, Taufe, usw. werden hauptsächlich nach psaltikischer Tradition gesungen. Vor allem in den Klöstern wird an der Psaltike festgehalten. Diese alte Tradition der Kirchenmusik ist inzwischen der bulgarischen Gemeinde ebenso rätselhaft wie auch jedem ausschließlich klassisch ausgebildeten Musiker. Die Situ- ation des Musikverständnisses ist mit dem Sprachverständnis vergleichbar. Kaum ein Bulgare beherrscht heute noch die in den Gottesdiensten be-

ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓˙˖˘ (1929); ʅʴ˧˓ʹ˓˖˘˨˔ˑʲ ˑʲ˕˓ʹˑʲ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑˑʲ ɶˏʲ˘˓˙˖˘ʲ (1929, 36, 74). Sammelbände: ʆʺ˖ˑˆ ˆ ː˓ˏˆ˘ʵˆ ˄ʲ ˔˕ʲʵ˓˖ˏʲʵˑˆ˘ʺ ˠ˕ˆ˖- ˘ˆˮˑ˖ˊˆ ʴ˕ʲ˘˖˘ʵʲ (1933); ʔ˨˕ˊ˓ʵˑ˓-˔ʺʵˣʺ˖ˊˆ ˖ʴ˓˕ˑˆˊ ˖ ˔ʺ˖ˑ˓˔ʺˑˆˮ ˄ʲ ʵ˖ʺˑ˓˧ˑ˓ ʴʹʺˑˆʺ ˆ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ (1941); ʈʴ˓˕ˑˆˊ, ˖˨ʹ˨˕ʾʲ˧ ˖ʵ. ʁˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓- ˙˖˘ ˆ 50 ˔˓ʹʴ˕ʲˑˆ ˕ʺˏˆʶˆ˓˄ˑˆ ˔ʺ˖ˑˆ (1947). 10 Beispielsweise glaubte D. Christovs Schüler, Pan²o Vladigerov, für seine Symphonie „Vardar“ die Melodie eines bulgarischen Volksliedes zu benutzen, welches er von Freunden gehört hatte. Später musste er erfahren, dass er aus Versehen ein „im Volks- ton“ komponiertes Lied seines Lehrers verwendet hatte. Siehe Popova 2006, 95–96. 11 Kirchenmusik von Dobri Christov: ɪ˖ʺˑ˓˧ˑ˓ ʴʹʺˑˆʺ; ʁˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ʈʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓- ˙˖˘; ʅʴ˧˓ʹ˓˖˘˨˔ˑʲ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ.

217 nutzte kirchenslavische Sprache so gut, dass er dem Text folgen könnte. Ebenso wie beim Spracherwerb wäre eine intensive Auseinandersetzung mit dem Musikalischen notwendig, um diese Musik verstehen zu können. Für ein anhand abendländischer Musik geschultes Ohr ist es erforderlich, alternative Hörstrategien für die Schönheit und Komplexität der alten orthodoxen Kirchenmusik zu entwickeln. Weder das Kirchenslavische noch die Psaltike zählen gegenwärtig in Bulgarien zum allgemeinen Wissensstandard. So bleibt der Gemeinde nur die Möglichkeit, sich dem Ritual, der Sprache und der Musik auf geheimnisvolle, traditionelle Weise anzuschließen.

1.4 Die Metaebene der Wissenschaft Von musikwissenschaftlicher Seite wurde dem „Großen Meister“ und mit- telalterlichen Reformator der byzantinischen Kirchenmusik Joan Kukuzel (ca. 1280–1360) besondere Aufmerksamkeit zu Teil (Hannick 1984). Es wurde versucht, anhand seiner Person den Anteil Bulgariens an der byzan- tinischen Kirchenmusiktradition nachzuweisen. Daher beschäftigte man sich ausführlich mit dem ethnischen Ursprung Kukuzels. Einerseits durch die auf seine bulgarische Abstammung orientierte Rezeption seiner Viten (Thomas/Hero 2000, 507–563). Andererseits wurde in den Werken Kuku- zels nach musikalischen Merkmalen gesucht, die auch in der bulgarischen Volksmusik zu finden sind. Die innermusikalischen Ähnlichkeiten von Psaltike und bulgarischer Folklore bleiben äußerst vage (vgl. Brascho- wanowa 1984).

1.5 Zusammenfassung: Bulgarische Kirchenmusik Es gibt nicht nur eine, sondern mindestens drei verschiedene Arten von Musiken, die in den bulgarisch-orthodoxen Kirchen erlebt werden können. Die „alte“ fußt, auch wenn hier bulgarische Kleriker als Komponisten und Musiker tätig wurden, vor allem auf den Adaptionen der byzantinischen Tradition. Die spätere, „neue“ Form adaptiert die russische Kirchenmusik- tradition und mit ihr die abendländische Chormusik. Der dritten, aber wohl in Bulgarien über Jahrhunderte und übers ganze Land verbreiteten Art von Kirchenmusik, lässt sich nur mit ethnologischen Methoden und unter musikethnologischen Prämissen näher kommen, wie beispielsweise die regionalen Besonderheiten, der Variantenreichtum oder der fehlenden Verschriftlichung. Jedoch kann auf Grund der fehlenden musikhistorischen Quellen nur die These aufgestellt werden, dass der innerhalb der kirchen- musikalischen Praxis übliche Umgang mit liturgischer Musik in Bulgarien, aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Vermischung von Volks- und Kir- chenmusik (Psaltike) beruhte. Auf Grund der nur marginal vorhandenen

218 und recht späten Aufnahmen von Kirchenmusik in Bulgarien, werden uns die Besonderheiten dieser musikalischen Praxis ein Geheimnis bleiben.12 Doch die damit verbundenen Fragen führen uns zu einer anderen, besser dokumentierten, musikalischen Tradition Bulgariens, ihr kann (und soll?) keine unmittelbare Adaption aus anderen Kulturen und Traditionen nachgewiesen werden – „authentische bulgarische Volksmusik“.

2. Bulgarische Volksmusik Wenn hier nun von „bulgarischer Volksmusik“ die Rede ist, so muss zu Anfang unterstrichen werden, dass Volksmusik kein nationales Phänomen ist. Sie ist vor allem regional, sogar lokal spezifisch. In Anlehnung an die linguistische Dialektologie könnte der Hypothese einer „Hoch-Musik“ ähnlich einer „Hoch- oder Amtssprache“ nachgegangen werden. Wie be- reits erwähnt, wären die Wurzeln in Bulgarien hier allerdings nicht sehr tief und alt. Von der Gegenwart aus betrachtet sind die politischen, infra- strukturellen, technischen, ökonomischen und folglich auch die kulturellen Umbrüche prägend und daher musikhistorisch mitzudenken. Für Volksmusik stehen uns, dank der ethnologischen Sammlungen, zahlreiche Quellen zur Verfügung, die bis ins 18. Jahrhundert zurück- reichen. Bezeichnend ist, dass die ersten Anregungen und Aktivitäten zum Sammeln von Volksmusik aus Westeuropa und Russland kamen.13 Ähnlich wie Käfer, Schmetterlinge oder Pflanzen wird seitdem auch Volksmusik gesammelt. Entsprechend der medialen Möglichkeiten und der Speicher- medien konnte sie immer zahlreicher und detaillierter aufgezeichnet wer- den. Sie wurde von Wissenschaftlern analysiert und zahlreiche Merkmale wurden bestimmt und beschrieben. So konnten ihr bestimmte Eigen- schaften zugeordnet werden: Oralität, Wiederholbarkeit, Improvisations- praktiken, Ritualisierung, Anonymität in der Urheberschaft, aber Individu- alität in der Reproduktion … Vor allem war im kulturpolitischen Kontext der Verweis auf ein kollektives Gedächtnis wichtig. Die musikalischen Klassifikationsmerkmale wurden innerhalb einer „Musikalischen Dialekto- logie“ – der Begriff wurde aus der Sprachwissenschaft übernommen –

12 Im Musikfolkloristischen Archiv der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gibt es einige kirchenmusikalische Aufzeichnungen aus dem Zeitraum zwischen 1956 bis 1987, s. ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2005. 13 Die ersten drei bulgarischen Volkslieder wurden bereits 1720 von einem unbekann- ten deutschen Sammler neben anderen südslavischen Liedern aufgezeichnet (vgl. ɪʲˊʲ˕ʺˏ˖ˊˆ 1822, 29). Besonders wichtig für die Geschichte der folkloristischen Sam- meltätigkeit in Bulgarien war die Arbeit des serbischen Literaten Vuk Karadži°, der 1815 und 1822 Textbücher mit bulgarischen Volksliedern veröffentlichte (Vgl. Kara- dži° 1822).

219 formuliert (ʈ˘˓ˆˑ 1981). Volksmusik wird weiterhin anhand konkreter Eigenschaften analysiert, die sich auf einen vorab erarbeiteten Merkmals- katalog ihrer Zuordnung und Klassifizierbarkeit beziehen. Dabei gerät jedoch ihr Lebensernst – das wichtigste Merkmal – in den Hintergrund. In allen Lebenslagen und zu jeder Zeit fügt sich Musik in soziale Gemeinschaft ein und prägt diese. Volksmusik war niemals zweck- frei, bzw. autonom, denn sie beruhte auf der traditionellen Form des funk- tionalen Musizierens der vorindustriellen Dorfbevölkerung und ihrer An- bindung an den Jahres-, Tages- und Lebenskreis. Hierbei bildeten das Singen, das Instrumentalspiel und der Tanz eine Einheit. Im Vergleich zu unserer Zeit, in der nicht nur das Hören und das Selbermachen von Musik, sondern vor allem die medialen Vermittlungstechniken völlig andere Rahmenbedingungen für die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Musi- ken schaffen, ist auch die Funktion von (bulgarischer) Volksmusik neu zu durchdenken. Dennoch sollte auch unter diesen Bedingungen Volksmusik nicht als autonome Kunst (als Werk) sondern unter dem Aspekt der Lebensweise hinterfragt werden (Kaden 1993, 37–46).

Die wissenschaftliche Metaebene Auf der Metaebene der Wissenschaft sind zahlreiche klassifikatorische Eigenschaften und Kontexte von „bulgarischer Volksmusik“ extrahiert worden. Diese wissenschaftlichen Extraktionen beruhen jedoch auf der in Westeuropa gängigen Verdinglichung von Musik. Erst das Denken in Objekten macht die Lieder und Weisen, die dem Volksmund zugeschrie- ben werden, zu autonomen Werken oder, wie es in den Archiven heißt, zur „Lied-Einheit“. Aus der Menge von allgemeingültigen musikalischen (abendländischen) Werkkonventionen wurden die Spezifika bulgarischer Volksmusik extrahiert. Einzigartiges und Unverwechselbares wird dem Allgemeinen gegenübergestellt. Dieses Allgemeine bezieht sich jedoch ausschließlich auf die abendländischen Merkmale von Musik als Kunst. Daher erfahren in dieser formalisierten Form vor allem die unverwechsel- baren (scheinbar spezifisch bulgarischen) Eigenschaften eine Förderung und Tradierung innerhalb anderer Musiken. Ein Beispiel wäre die Schwebungsdiaphonie. Bezeichnet wird damit eine spezifische Form der Mehrstimmigkeit, die, obwohl der Großteil bul- garischer Volksmusik einstimmig ist, enorme Verbreitung erfahren hat.14

14 Schwebungsdiaphonie findet man nur in der Region Pirin, in der Šopen-Gegend und als Sonderfall in drei Unterregionen (Velingrad, Pazardžik und Ichtiman). Als weitere Ausnahme gelten die zweistimmigen Gesänge in einigen wenigen Dörfern Nordwest- bulgariens und in den Ostrhodopen (z. B. im Dorf Nedelino). Die erste Stimme wird

220 Ein weiteres Beispiel sind die sogenannten unregelmäßigen Rhythmen. Obwohl die ungeraden Rhythmen häufig als „typisch bulgarische Rhyth- men“ (Bartók 1942) bezeichnet werden, steht der Großteil der in Bulgarien verbreiteten Lieder in geraden Rhythmen – notiert im 2/4 Takt – oder in so genannten mensurlosen Formen. Vor allem bei der Transformation „authentischer bulgarischer Volks- musik“, beispielsweise in bearbeitete „nationale Volksmusik“, in klassische bulgarische Musik (Ernste Musik), populäre Musik oder auch Filmmusik ist die Präferenz der musikethnologisch herausgearbeiteten Spezifika gegen- über den allgemeinen musikalischen Merkmalen bereits nachweisbar.

Die Rezeption bulgarischer Volksmusik im Ausland Im Ausland verbinden sich mit der Vorstellung von bulgarischer Musik bestimmte Assoziationen, Eigenschaften und Emotionen. Sie gilt als Mar- ker für naturverbundene Wildheit und wird als kraftvoll, archaisch, frei, stark, leidenschaftlich, mutig, magisch, mystisch, kosmisch, weiblich, aus einer anderen Welt kommend, etc. bezeichnet (Buchanan 1995, 381–416; Buchanan 2006, 360–371). Bulgarische Volksmusik wird in Verbindung mit diesen Inhalten häufig durch die weltweite Filmindustrie benutzt. Dabei werden vor allem jene bereits in den Vordergrund gerückten Spezifika entnommen, um innerhalb von Filmmusiken programmatisch die oben beschriebenen Assoziationen zu erzeugen. Ein Beispiel wären der Titelsong aus der amerikanischen TV Serie „Xena – die Kriegerprinzessin“, produziert zwischen 1995–2001 (vgl. Rice 1994, 75–79). Während des Vortrags wurde ein weiteres Beispiel aus Tokio vorgestellt, das enormen Einfluss auf die Popkultur hatte. Es handelt sich um die Filmmusik zum Zeichentrickfilm „Ghost in the Shell“ (1991) von Mamoru Oshii, entstanden nach den Comics von Masamune Shirow.15 Er gilt als klassisches Beispiel für die populären japanischen Science- Fiction-Anime.16

von einer Sängerin solistisch ausgeführt. Sie „verdreht“ (ˆ˄ʵˆʵʲ), „führt“ (ʵ˓ʹˆ) und „okt“ (˓ˊʲ). Die zweite Stimme „schüttelt“ (˘˕ʺ˖ʺ), „schleppt“ (ʵˏʲˣˆ) oder „brummt“ (ʴ˙ˣˆ) und wird von zwei oder mehreren Sängerinnen übernommen. Selbst in den Regionen und Orten, in denen Mehrstimmigkeit existiert, überwiegt prozentual der einstimmige Volksgesang. Popova 2013, 276–278. 15 Es sind die von den Musikethnologen extrahierten musikalischen Spezifika, die hier von Bedeutung sind, die Stimmgebung einschließlich der spezifischen Verzierungs- technik der Melodie, das ˘˕ʺ˖ʺˑʺ (schütteln) in der Oberstimme, der Bordun in der Unterstimme. 16 Die musikalisch prägende Techno-Variante: http://www.youtube.com/watch?v=IsII kcpI4yQ (13.09.2013). Trailer, Abspann und Quelle: http://www.youtube.com/watch? v=ed0_QuZJjS4 (13.09.2013).

221 Aus dem Blickwinkel der Bulgaren/innen sind die im Ausland vor- herrschenden Vorstellungen zu ihrer Volksmusik kaum nachvollziehbar. Das liegt daran, dass die exotischen und traumfördernden Attribute, die ihr im Ausland zugeschrieben werden und die Teil des Marketings „bul- garischer Volksmusik“ sind, in Bulgarien keine Gültigkeit haben, da sie hier auf Wissen und Realitäten stoßen, die das Archaische, Wilde und Leidenschaftliche als unrealistische und romantische Vorstellung ent- larven. Die Nähe zur agrarischen Lebenswirklichkeit und zur Volksmusik kann in Bulgarien durch die doppelte Verankerung eines Großteils der Bevölkerung im Dörflichen und im Urbanen kulturhistorisch und gegen- wartsbezogen erlebt werden.

„Bulgarische Volksmusik“ Die Beispiele für die Transformation „bulgarischer Volksmusik“ durch die weltweite Filmindustrie führen eine weitere „bulgarische“ Traditionslinie fort. Es handelt sich um die Professionalisierung bulgarischer Volksmusik, die im Ausland meist unter dem Namen „Die Mysterien der bulgarischen Stimmen“ bekannt ist und in Bulgarien mit dem Namen Filip Kutev ver- bunden wird. Der Komponist und Dirigent Filip Kutev17 (1903–1982) bekam als erster innerhalb der sozialistischen kulturpolitischen Verhältnisse die Möglich- keit, seine spezifischen musikalischen Ideen in großem Maßstab in die Realität umzusetzen. Er gründete 1951 in der Hauptstadt Sofia einen Chor singender Bäuerinnen aus verschiedenen Regionen Bulgariens. Die kon- kreten Fähigkeiten der musizierenden Traditionsträgerinnen und die musi- kalischen Eigenschaften der regionalen Traditionen stimmte er so auf- einander ab, dass etwas Neues – eine Komposition aus Menschen und ihrer Musik – entstand. Er wählte ein spezifisches Repertoire aus und bearbeitete dieses musikalisch sowie textlich. Kutev war die Ableitung seiner Arbeit aus der Quelle „authentischer Volksmusik“ wichtig. Er bestimmte die spezifischen Eigenschaften, einschließlich des Maßes an Übertragung von „authentischer Folklore“ zu „nationaler Folklore“, bemühte sich um die Verbreitung dieser Regeln unter den bulgarischen Komponisten. Bereits ein Jahr später (1952) wurde in Sofia nach demselben Muster das „Ensemble für Volkslieder des bulgarischen Rundfunks und Fernsehens“ gegründet, aus dem die „Mysterien“ hervorgingen. Das Radioensemble war neben dem „Kutev-Ensemble“ vor allem nötig, um die neuen Bearbeitungen über die Massenmedien zu popularisieren. Allmählich wurden in allen großen Städten ähnliche Chöre gegründet, so dass bis 1988 vierzehn vom Staat

17 Sein Name wird häufig so geschrieben: Philip Kutev.

222 bezahlte professionelle Ensembles existierten und zudem hunderte von Amateurensembles durch staatliche Mittel unterstützt wurden.18 Die Transformation bulgarischer Folklore in nationale Musik fand seit 1951 als kulturelle sozialistische Reformation gleichzeitig mit der Urbani- sierung des Landes statt. Das musikalische Phänomen, welches als „myste- riös“ bezeichnet wird, kennzeichnet die Erfolgsgeschichte von bulgarischer Volksmusik, die durch ihre weniger mysteriöse musikalische Bearbeitung und durch eine ausgefeilte Marketingstrategie zum nationalen Aushänge- schild wurde (Popova 2012, 225–236). Die bereits 1942 von Bartók gegebene Prognose scheint äußerst aktuell:

„Wenn für die nähere oder fernere Zukunft ein Überleben der Volksmusik er- hofft werden darf (eine ziemlich zweifelhafte Aussicht angesichts des rapiden Eindringens höherer Kultur in die entferntesten Weltgegenden), dann ist offen- sichtlich die künstliche Errichtung von chinesischen Mauern zur Trennung eines Volkes vom anderen für die Entwicklung der Volksmusik sehr ungün- stig. Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Nieder- gang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten“ (Bartók 1942, 127). Aus gesellschaftspolitischem Blickwinkel bleiben in Bulgarien vergleichende Studien, die verschiedenartige Volksmusik im Hinblick auf ihre gegen- seitige Beeinflussung untersuchen, weiterhin problematisch. Beispielsweise gehören die Forschungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen bulgarischer und türkischer Volksmusik nicht zu den Schwer- punkten musikwissenschaftlicher Arbeiten, obwohl sowohl historisch, soziologisch als auch musikalisch zahlreiche gemeinsame Parameter her- vortreten.

3. „Die ‚rassische Unreinheit’ ist entschieden zuträglich“ (Bartók 1942, 126) Diese Feststellung Bartóks zur Assimilation, die auf fast alle als „bul- garisch“ bezeichnete Musik zutrifft, wird dadurch unterstrichen, dass diese Musiken als Mittel zur Transformation, zur weiteren Reproduktion und Distribution benutzt wurden und werden. Beispielsweise zeigt die sog. +alga sowohl Anknüpfungspunkte an den euro-amerikanischen Pop, als auch orientalische Einflüsse und es werden auch bulgarische Volkslieder als Fundament der neuen +alga-Hits (Pop-Folk) benutzt. Ähnlich ist es bei

18 Beispielsweise: 1954 Blagoevgrad – Ensemble-Pirin; 1960 Smoljan – Ensemble- Rodopa; 1970 Tolbuhin – Ensemble-Dobrudža; 1970 Pleven – Severnjaški-Ensemble; 1974 Plovdiv – Ensemble-Trakija.

223 der Musik der Hochzeitsorchester oder bei einigen Volksliedbearbeitun- gen, die stark mit dem Jazz sympathisieren können. Auch in der bulga- rischen Ernsten Musik sind zahlreiche Zeichen für „das Bulgarische“ dieser Klassik zu finden. Die „Alten Stadtlieder“ (ʈ˘ʲ˕ˆ ʶ˕ʲʹ˖ˊˆ ˔ʺ˖ˑˆ) oder der bulgarische Blues und noch einige Gattungen mehr würden sicherlich aufgrund der Frage nach der Herkunft und des Charakters „des Bulga- rischen“ in ihnen, sowohl die Hörstrategien auf der Rezeptionsseite aber vielleicht sogar die Entstehungsgeschichten verändern. Der Bestand an moderneren musikalischen Gattungen in Bulgarien, in denen die vorab spezifizierten „bulgarischen“ Merkmale gerne benutzt werden und mitunter als semiotische Inhaltsträger gelten, ist charakte- ristisch für die Gegenwart. Doch dieses Bedingungsgefüge zwischen den musikalischen Merkmalen und qualitativen, ästhetischen aber auch sozi- alen, ökonomischen, politischen und ideologischen Merkmalen bleibt dy- namisch, samt all seinem Lebensernst. In diesem Sinne sind auch alle möglichen Richtungen der populären Musik in Bulgarien sozial verankert: Rock, Rap, Punk, Elektronik, Jazz, Blues, usw. Sie sind in bulgarischer Version und durch bulgarische Menschen – Musizierende und Rezipienten – vertreten.

Ein Musikbeispiel, das durch das Genre des „Remix“ umso offensiver mit der dynamischen Vermischung spielt und dieses Mischmasch durchaus überzeugend in das gegenwärtige Leben zu transformieren vermag, stammt von der RAP-Band „Explosion“ von ihrer CD (2002): „Die Hyste- rien ... der bulgarischen Stimmen“. Der Text des „Megamix“ lautet:

Jetzt werde ich Euch meine Geschichte erzählen, Von einem weißen Neger, der in Europa lebt, Etwas schlechter als ein australischer Aborigine. Was soll man machen, Gene! Und in diesem Augenblick zeige ich mit der Hand im Kreis, einen großen und langen, geraden und steifen sehr sehr fetten Mittelfinger (4x) Was soll man machen, Gene! Tor ma lele! Tor ma lele! Tor, das hast du ihnen reingedonnert, Sugar Baby! Gib mir Knoblauch! Gib mir zu trinken! Hej, Bruder Gonzo, nimm wieder den Ball und bring ihn wieder ins Tor. Nimm Anlauf auf dem Rasen und steck ihn ihnen direkt in die Mitte. Upsa, ²akaraka, hey, dreh das Fleisch, scharf, schneidend! Pop-Folk, kulturelles Eigentum, Pop-Folk, für das ganze Volk, Pop-Folk, ein ästhetischer Schock, für das ganze Volk.

224 Pop-Folk, Sauerkrautsaft, Pop-Folk, für das ganze Volk, Pop-Folk, elektrischer Strom, für das ganze Volk. „Da, Da, Da“19 … Wenn wir bereit sind, Musik nicht nur anhand der Merkmale und Gat- tungen zu fassen, sondern ihr mit Neugier auf die Lebensweise, der sie zugehören mag, begegnen, so gibt es nicht nur vieles zu HÖREN sondern auch zu ERLEBEN.

Wie nun sind „bulgarische Musiken“ zu erleben? Aus den bisherigen Ausführungen ist zu schließen, dass einzig die Volks- kultur – die Folklore – als kulturpolitischer Indikator für nationale Identität dienten konnte. Und zwar unter der Prämisse, dass sie zur Kunst erklärt und mit romantischem Pathos und emanzipatorischen sowie nationalisti- schen Aufklärungsgedanken angereichert wurde. Auch hierfür fanden sich Vorbilder in Europa. Der Einfluss Herders, sowohl für das Sammeln als auch für die Begrifflichkeiten (z. B. „Volkslied“), reichte bis nach Bulgarien (Siuts 2002, 229–241). Aus Russland kamen im Rahmen der Erforschung der slavischen Völker die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen der historischen, charakterlichen und folkloristischen Entwicklung der Süd- slaven. Es war eine politische Entscheidung, die nationale Kultur Bulgariens unter Einbezug der folkloristischen Traditionen in Geschichte und Gegen- wart zu definieren. Das war der Moment, in dem die ethnologische For- schung an nationaler, politischer und kultureller Bedeutung gewann. Folklore wurde als nationales Kulturgut zur Beobachtungsformel und zum Selbstbeschreibungsmodus innerhalb des gesellschaftlichen Systems. Im Grunde werden in Bulgarien die philosophischen Ideen Herders und Schillers verwirklicht. Beide gehen davon aus, dass die Transformation von Individualität in Volks- und Nationalkultur in der Regel über die Eta- blierung staatlicher Instanzen vollzogen wird. Herder übertrug diese Vor- stellung einer spezifischen „Authentizität“ der Individuen auf Völker und Nationen und erklärte das Volkslied zum Fundament der nationalen Kultur (Herder 1887, 342–383). Doch erst als authentifiziertes musikalisches Kunstwerk können Volkslieder einen nationalen Ursprung beanspruchen. Und nur die Nation, der Staat, darf dieses „Siegel der Authentizität“ ver- geben (Noetzel 1999). Folklore ist hier nicht mehr lokaler Alltag und

19 Musikalisches und wörtliches Zitat der Band Trio (1982), die während der Neuen Deutschen Welle berühmt wurde.

225 Lebensweise, sondern das „Werk“ aus dem Volk und nur in dieser Form ein Bestandteil der offiziellen nationalen bulgarischen Kultur. Doch gleich- zeitig erklingt neben dem offiziell Bulgarischen das Populäre in den bunten Gewändern seiner Transformationen.

Literatur

Altenmüller 2002 E. Altenmüller, Apollo in uns. Wie das Gehirn Musik verarbeitet. Zeitschrift für Musikphysiologie und Musikermedizin 9.1, 2002, 15–24.

Assmann 1997 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (München 1997).

Assmann 1999 A. Assmann, Zeit und Tradition (Köln 1999).

Bartók 1942 B. Bartók, Rassenreinheit in der Musik (1942). In: B. Bartók, Musiksprachen. Auf- sätze und Vorträge (Leipzig 1972) 124–127.

Braschowanowa 1984 L. Braschowanowa, Die mittelalterliche bulgarische Musik und Joan Kukuzel (Wien 1984).

Buchanan 1995 D. A. Buchanan, Metaphors of Power, Metaphors of Truth: The Politics of Music Professionalism in Bulgarian Folk Orchestras. Ethnomusicology 39.3, 1995, 381– 416.

Buchanan 2006 D. A. Buchanan, Performing Democracy. Bulgarian music and musicians in tran- sition (Chicago 2006).

Dahlhaus 1973 C. Dahlhaus, Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert. In: W. Arlt et al. (Hrsg.), Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen (Bern und München 1973) 840–893.

Foucault 1997 M. Foucault, Archäologie des Wissens (Frankfurt a.M. 1997).

Hannick 1984 C. Hannick, Joannes Kukuzeles und die byzantinische Kirchenmusik des 14. Jahr-

226 hunderts. Mitteilungen des bulgarischen Forschungsinstitutes in Österreich 6, 1984, 55–58.

Hannick et al. 1997 C. Hannick/G. Wolfram/G. Th. Stathes/S. Kujumdžieva, Orthodoxe Kirchenmusik. In: L. Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 7 (Kassel 1997) 1108–1156.

Hauptmann 2005 P. Hauptmann, Rußlands Altgläubige (Göttingen 2005).

Herder 1887 J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Erster Theil 1784 und Zweiter Theil 1785). In: B. Suphan (Hrsg.), Sämtliche Werke 13. Johann Gottfried Herder (Berlin 1887) 342–383.

Kaden 1993 C. Kaden, Volksmusik als Lebensweise. In: C. Kaden, Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozeß (Kassel 1993) 37–46.

Karadži° 1822 Vuk St. Karadži°, Dodatak k Sankt-Peterburgskim rje²nicima sviju jezika i na- re²ija s osobitim ogledima bugarskog jezika (St. Petersburg 1822).

Noetzel 1999 T. Noetzel, Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung (Berlin 1999).

Popova 2006 D. Popova, Pan²o Vladigerov in Berlin. In: D. Endler (Hrsg.), Deutsch-bulgarische Begegnungen in Kunst und Literatur während des 19. und 20. Jahrhunderts. Bul- garische Bibliothek 9 (München 2006) 84–98.

Popova 2012 D. Popova, Das Mysterium der bulgarischen Stimmen – ein urbanes Mittel zur Konfiguration nationaler Identität. In: S. Klotz (Hrsg.), Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen 2. Musik als Agens urbaner Lebens- welten: Musiksoziologische, musikethnologische und organologische Perspektiven (Leipzig 2012) 225–236.

Popova 2013 D. Popova, Authentizität, Medialität und Identität. Wege der Definition und Transformation „authentischer bulgarischer Musiken“ (Dissertation). Bulgarische Bibliothek 18 (München/Berlin/Washington D.C. 2013).

227 Popova/Gerlach 2013 D. Popova/O. Gerlach, Vater Stilijan (1929-2012) – ein Mönch aus Ba²kovo- Kloster. Seine Persönlichkeit und seine Bedeutung für die bulgarisch-orthodoxe Gesangspraxis. Bulgarien- Jahrbuch 2012, 129–157.

Rice 1994 T. Rice, May it fill your soul. Experiencing Bulgarian Music (Chicago 1994).

Siuts 2002 H. Siuts, Die Bedeutung Herders für die Volkskunde. In: P. Andraschke et al. (Hrsg.), Ideen und Ideale: Johann Gottfried Herder in Ost und West (Rombach 2002) 229–241.

Thomas/Hero 2000 J. Thomas/A. C. Hero, Byzantine Monastic Foundation Documents: A Complete Translation of the Surviving Founders „Typika and Testaments“ (Dumbarton Oaks/Washington D.C. 2000). http://www.doaks.org/resources/publications/doaks -online-publications/byzantine-studies/typikapdf>(14.09.2013).

ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2005 ɧ. ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ, ʁˆ˘˙˕ʶˆˣˑˆ˘ʺ ˔ʺ˖ˑ˓˔ʺˑˆˮ ʵ ː˙˄ˆˊʲˏˑ˓-˟˓ˏˊˏ˓˕ˑˆˮ ʲ˕ˠˆʵ, ɩ˨ˏ- ʶʲ˕˖ˊ˓ ʂ˙˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 1, 2005, 186–236.

ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2007 ɧ. ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ˘ʲ ː˙˄ˆˊʲˏˑʲ ːʺʹˆʺʵˆ˖˘ˆˊʲ. ɸ˄˖ˏʺʹʵʲˑˆˮ ʵ ˓ʴˏʲ˖˘˘ʲ ˑʲ ˔˕ʲʵ˓˖ˏʲʵˑʲ˘ʲ ː˙˄ˆˊʲ – ˖˕ʺʹˑ˓ʵʺˊ˓ʵˆʺ, ʵ˨˄˕ʲʾʹʲˑʺ, ˑ˓ʵ˓ ʵ˕ʺːʺ (1994-2004) ɩˆʴˏˆ˓ʶ˕ʲ˟ˆˮ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊ˓ ʂ˙˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 3/4, 2007, 297–301.

ɪʲˊʲ˕ʺˏ˖ˊˆ 1822 ʒ. ɪʲˊʲ˕ʺˏ˖ˊˆ, ɯ˘ˑ˓ʶ˕ʲ˟ˆˮ ˑʲ ɩ˨ˏʶʲ˕ˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 1974).

ɮˆˑʺʵ 1955 ʆ. ɮˆˑʺʵ, ʈˠ˓ʹ˖˘ʵ˓ ːʺʾʹ˙ ˑʲ˕˓ʹˑˆ˘ʺ ˆ ˢ˨˕ˊ˓ʵˑˆ˘ʺ ːʺˏ˓ʹˆˆ (ʈ˓˟ˆˮ 1955)

ɮˆˑʺʵ 1959 ʆ. ɮˆˑʺʵ, ʃʲ˕˓ʹˑ˓˔ʺ˖ʺˑˑˆ ʺˏʺːʺˑ˘ˆ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ˢ˨˕ˊ˓ʵʺˑ ˑʲ˔ʺʵ (ʈ˓˟ˆˮ 1959).

ɼ˙˭ːʹʾˆʺʵ 2011 ɹ. ʈ. ɼ˙˭ːʹʾˆʺʵ (Hrsg.), ɼ˓ʺ ʺ ˆ˖˘ˆˑ˖ˊ˓˘˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊ˓ ˢ˨˕ˊ˓ʵˑ˓ ˔ʺʺˑʺ? (Plov- div 2011).

ʈ˘˓ˆˑ 1981 ɯ. ʈ˘˓ˆˑ, ʂ˙˄ˆˊʲˏˑ˓˟˓ˏˊˏ˓˕ˑˆ ʹˆʲˏʺˊ˘ˆ ʵ ɩ˨ˏʶʲ˕ˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 1981).

228 ʊ˓ˑˣʺʵʲ 2005 E. ʊ˓ˑˣʺʵʲ, „ɼ˓ʺ ʺ ˆ˖˘ˆˑ˖ˊ˓˘˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊ˓ ˣʺ˕ˊ˓ʵˑ˓ ˔ʺʺˑʺ?” ʈˏʲʵˮˑ˓ʺ˄ˆˣˑʲ˘ʲ ʴʲˏˊʲˑ˖ˊʲ ˢ˨˕ˊ˓ʵˑ˓˔ʺ˖ʺˑˑʲ ˘˕ʲʹˆˢˆˮ ˆ ˑʲˢˆ˓ˑʲˏˑʲ˘ʲ ˆʹʺˮ. In: ɸˑ˖˘ˆ˘˙˘ ˄ʲ ˆ˄ˊ˙˖˘ʵ˓˄ˑʲˑˆʺ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʲˊʲʹʺːˆˮ ˑʲ ˑʲ˙ˊˆ˘ʺ (Hrsg.), ɮ˓ʴ˕ˆ ʒ˕ˆ˖˘˓ʵ ˆ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ˘ XX ʵʺˊ (K˓ˑ˟ʺ˕ʺˑˢˆˮ, ʈ˓˟ˆˮ, ːʲ˕˘ 2001) (ʈ˓˟ˆˮ 2005). (14.09.2013).

229

Archäologische Beiträge

Jonas Abele

Oberflächenbegehungen und Geländemodellierung des prähistorischen Fundplatzes Džuljunica-Sm©rdeš bei Veliko T©rnovo

Die Fundstelle liegt in der Flur Sm©rdeš, etwa 2 km nordwestlich des epo- nymen Dorfes Džuljunica und ungefähr 26 km östlich von Veliko T©rnovo. Das unmittelbare Landschaftsbild ist durch die Lage am Rande der sich nach Norden erstreckenden geografischen Region der Donau-Tiefebene charakterisiert. Im Süden erheben sich die Ausläufer des Balkangebirges. Der heutige Verlauf der landschaftsprägenden Jantra befindet sich etwa 3,5 km nordwestlich der Fundstelle. Östlich von Džuljunica, in einer Ent- fernung von etwa 4 km, verläuft der Džuljunica-Bach, welcher mit dem Levedzha-Bach zusammenfließt und ungefähr 8,5 km nördlich der Fund- stelle in die Jantra mündet. Eine entscheidende Rolle kommt der Fundstelle bei der Beurteilung der Entwicklungen des frühesten Neolithikums zu. Am Beginn des Neolithi- kums steht der Übergang von einer aneignenden hin zu einer produzieren- den Lebensweise, die etwa mit der Domestikation von Schaf, Ziege, Rind und Schwein sowie der Züchtung von Getreidepflanzen und Hülsenfrüch- ten wie Emmer, Einkorn, Erbsen und Linsen als grundlegender Wandel in der Subsistenzstrategie verbunden ist (Lichardus-Itten/Lichardus 2003, 61). Mit diesen Änderungen in der Wirtschaftsweise gehen wesentliche neo- lithische Prozesse wie etwa Ackerbau, Sesshaftigkeit und die Produktion geeigneter Keramikgefäße für eine Vorratshaltung einher. Die früheste Ausprägung des Neolithikums (der sogenannte vor-Kara- novo-zeitliche Horizont) ist in Džuljunica in der ältesten Schicht repräsen- tiert. Die gesamte frühneolithische Kulturabfolge (vor-Karanovo- bis Kara- novo II-zeitlich) konnte durch die langjährigen Ausgrabungen in Džuljunica durch Nedko Elenski festgestellt werden. Die neuesten 14C Daten bestätigen eine intensive erste Besiedlungsphase noch vor dem Karanovo I-Horizont (um 6050 calBC) und auch naturwis- senschaftliche Analysen, beispielsweise zu den Steinartefakten, unter- streichen den besonderen Stellenwert der Fundstelle während des frühen Neolithikums.

233 Forschungsgeschichte

Erstmals am Ende des 19. Jh. rückte Džuljunica in den Fokus der For- schung. Durch zwei tschechische Antiquariaten, den Škorpil-Brüdern, er- folgte 1898 eine erste Nennung des kupferzeitlichen Tells1 (Krauß et al. im Druck; ʘˊ˓˕˔ˆˏ/ʘˊ˓˕˔ˆˏ 1898, 99). In den 30er Jahren des 20. Jh. fer- tigte Vasil Mikov ein Register archäologischer Fundstellen an, in welches auch Džuljunica aufgenommen wurde (ʂˆˊ˓ʵ 1933, 58). Infolge des Ausbaus der Verkehrsverbindung Sofia-Varna wurden die nördliche Peripherie des Tells sowie der nordöstliche Teil der Fundstelle durch Baumaßnahmen angeschnitten, sodass erste archäologische Unter- suchungen erforderlich waren. In den Jahren 1983 und 1984 konnten daher kleinere Sondageschnitte angelegt werden, wobei besonders die durch die Baumaßnahmen betroffenen nordöstlichen Teile des Siedlungshügels untersucht wurden (ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006, 96). Der dadurch erwirkte Querschnitt durch den nordöstlichen Bereich des Tells spiegelt eine Schichtenabfolge durch die gesamte bulgarische Kupferzeit wider (Krauß et al. im Druck). Darüber hinaus waren vereinzelt frühbronzezeitliche Keramikfragmente an der Oberfläche des Schnittes zu verzeichnen (ʈ˘ʲˑʺʵ 1984, 28; ʈ˘ʲˑʺʵ 1985, 35). Durch den Ausgräber P. Stanev wurden zudem in den tieferen Schichten frühneolithische Funde erkannt (in einer Tiefe von 4,10 bis 6,10 m), wodurch von Stanev eine unter dem Tell liegende frühneolithische Siedlungsschicht angenommen wurde (ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006, 96). In den Jahren zwischen 2001 und 2005 erfolgten durch Nedko Elenski eingehende Ausgrabungstätigkeiten südwestlich und südlich des Tells (Ebd. 96). Weitere Untersuchungen wurden ab 2008 durchgeführt, wobei der Schwerpunkt hierbei die frühneolithische Besiedlung im westlichen Bereich der Fundstelle darstellte. Punktuell wurden zusätzlich im Bereich des Tells weitere Sondagegrabungen durchgeführt.

Neuere Untersuchungen

Anlässlich eines Kooperationsvorhabens des Instituts für Ur- und Früh- geschichte der Universität Tübingen und des Teilprojektes F1, „Setting the Time Frame – Application of Radiocarbondating in the Construction of High-Resolution Chronologies“ des an der Universität zu Köln veranker- ten DFG-Sonderforschungsbereichs 806 „Our Way to Europe“ erfolgte im Jahre 2010 eine erste Datenerhebung an der Fundstelle Džuljunica. Ein

1 Aus dem Arabischen für einen Siedlungshügel. Alternative Bezeichnungen sind Mo- gila oder Höyük.

234 kurzer Bericht zu den dabei erfolgten Arbeitsschritten wurde bereits durch R. Krauß angefertigt (Krauß 2011, 149–151), zudem ist eine umfassende Darlegung der Ergebnisse im Druck (Krauß et al. im Druck). Darüber hinaus wird das Projekt auch auf der Webseite des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen präsentiert.2 Neben dem Kernziel dieser ersten Kampagne, der Erhebung sicher stratifizierter 14-C Daten durch B. Weninger und L. Clare, galt es zudem, die bisher eher peripher dargelegte topografische Situation näher zu skiz- zieren. Vorrangig wurde dafür eine, als Ergänzung zu den bereits vor- liegenden einfachen Höhenlinienplänen zu verstehende, dreidimensionale Visualisierung der Geländesituation durchgeführt (Krauß et al. im Druck, Abb. 3). Darüber hinaus ließen sich potenzielle ehemalige Wasserläufe, beziehungsweise fluviale Erosionsrinnen sowie die rezenten Wasserwege und Quellen erfassen. Die Messungen der Kampagne 2010 konnten im Rahmen von mehrtägigen Feldbegehungen in den Jahren 2011 und 2013 punktuell ergänzt und erweitert werden. Ein entscheidendes Ziel der Ar- beiten im Jahr 2013 war es zudem, durch systematische Oberflächen- begehungen die Siedlungsausdehnung und Fundstreuung zu erfassen, um so die durch die Grabungsflächen bislang eher punktuell untersuchten Siedlungsreste in ihrer räumlichen Ausdehnung näher zu beleuchten. Darüber hinaus sollten eventuelle Be- und Endsiedlungsvorgänge inner- halb der Fundstelle während ihrer gesamten Belegungsphase erkannt werden. Sowohl die Surveytätigkeiten als auch die topografischen Unter- suchungen wurden durch den Autor im Rahmen einer Magisterarbeit aufgearbeitet.3 Die Zusammenfassung an dieser Stelle soll einen Einblick in die angewendeten Methoden und die erzielten Ergebnisse geben, wobei eine umfassendere Vorlage der Resultate zu einem späteren Zeitpunkt an- gestrebt wird.

Topografie

Signifikant für die topografische Situation ist besonders der im nordöst- lichen Bereich der Siedlung gelegene kupferzeitliche Tell. Mit einer Höhe

2 (10.11.2014). 3 Für die vielfältigen Anregungen und kritischen Anmerkungen bedanke ich mich bei meinen Betreuern Prof. Dr. M. Bartelheim und Dr. R. Krauß. Ein besonderer Dank ge- bührt Dr. R. Krauß, der mir die Bearbeitung dieses spannenden Themas ermöglicht hat und mir darüber hinaus während vieler Diskussionen gewinnbringende Verbes- serungsvorschläge gemacht hat. Weiterhin gilt mein Dank N. Elenski, der während der Datenerhebung im Gelände eine unverzichtbare Hilfe war.

235 von knapp 10 m und einem Durchmesser von maximal etwa 70 m handelt es sich um eine exponierte und markante Erhebung. Der höchste Punkt des Tells liegt annähernd 77 m über NN (Ergebnisse Geländemodell). Von dem Tell ausgehend Richtung Westen steigt das Gelände kontinuierlich an und erreicht nach etwa 300 m seine höchste Erhebung mit knappen 78 m (Abbildung 1).

Abbildung 1: Profil der Geländesituation der Fundstelle von SW nach NO. Rechts befindet sich der Tell, links hebt sich die Terrasse ab (erstellt mit ArcGIS).

Im Bereich dieser höchsten Erhebung im westlichen Teil der Fundstelle befindet sich der Kernbereich der frühneolithischen Ansiedlung, welche einen flachen, nach Süden hin leicht abfallenden Siedlungshügel heraus- gebildet hat (Abbildung 2).

Abbildung 2: Geländemodell der Fundstelle aus nordöstlicher Sicht. Im Vordergrund ist der kupferzeitliche Tell sichtbar, von dessen Fuß aus sich die Terrasse mit der frühneolithischen Kernsiedlung im Zentrum anhebt. (Gestrichelt: Oberflächenbegehung; Schwarz: Grabungsschnitte).

Nördlich dieser Erhebung fällt das Gelände ab, wodurch ein terrassen- förmiger Geländesporn gebildet wird. An dessen niedrigsten Ausläufern in

236 nördlicher Richtung sind mehrere Quellschüttungen festzustellen. Es han- delt sich dabei, zumindest bei dem westlichsten Wasseraustritt, um peren- nierende Quellschüttungen. Die in Richtung der Jantra weiterführende oberirdische Fließrichtung der Quellen konnte durch N. Elenski bereits festgestellt werden (ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006, 96). Die unmittelbare Verfügbarkeit von Wasser ist sicherlich ein ent- scheidender Faktor für die Wahl eines Siedlungsplatzes. Tatsächlich lassen sich das Auftreten und der exakte Verlauf der Quellenaustritte zeitlich nur schwerlich zurückverfolgen, allerdings bieten Berechnungen zur Abfluss- akkumulation auf Grundlage des Geländemodells dafür einige Hinweise. Bei der Verwendung des Analysewerkzeugs ‚Flow Accumulation‘ in Arc- GIS wird ein Raster ermittelt, welches die plausibelste Gewässerfließ- richtung in jeder Zelle veranschaulicht. Es lässt sich demnach anhand der Höhen- und Neigungsinformation berechnen, an welcher Stelle das Auf- treten von Gewässern zu vermuten ist. Bei der Anwendung der Analyse zeigt sich, dass die berechneten Ergebnisse mit den rezenten Austritts- positionen der Quellen übereinstimmen. Die topografische Situation lässt demnach das Austreten der Quellen genau in diesem Bereich auch über längere Zeiträume als anzunehmende Hypothese zu.

Survey

Für die systematische Oberflächenbegehung wurde das zu untersuchende Gebiet in rasterförmige Untersuchungseinheiten aufgeteilt, in welchen die Funde von der Oberfläche aufgelesen werden konnten. Das Abstecken von Surveyflächen in Quadranten ist eine geeignete Methode, um großflächige Begehungen zu realisieren, wobei der Einsatz von präzisen, differenziellen GPS-Geräten (Genauigkeit um 20 cm) ein zügiges Einrichten des Mess- netzes gewährleistete. Als Größeneinheit wurden 10x10 m-Flächen ver- wendet. Im Gesamten wurden 306 Quadranten (3,06 ha) untersucht (Abbildung 3). Die bisherigen Surveyergebnisse sowie undokumentierte Oberflächen- begehungen lassen allerdings eine Fundstreuung von mindestens 10 ha vermuten. Für sämtliche mit dem Survey verbundenen Geländearbeiten (Einrich- tung des Messnetzes, Auflesen der Funde, Dokumentation und Klassifi- kation) wurden neun Arbeitstage aufgewendet. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Abschnitt der Terrasse und der an dieser Stelle bereits durch die Grabungsaktivität erfassten zentralen, frühneolithischen Siedlung gewidmet.

237 Von den Oberflächenbegehungen in diesem Bereich war zunächst eine Erfassung der südlichen Grenzen der neolithischen Siedlung zu erhoffen. Darüber hinaus sollte der eventuelle Zusammenhang zu den späteren Perioden geklärt werden. Bei der Auswahl der Begehungseinheiten wurden gezielt Bereiche aus- gewählt, welche bislang nicht durch die Grabungsaktivitäten untersucht werden konnten.

Abbildung 3: Untersuchungsfläche der Oberflächenbegehung (gestrichelt) und die Grabungsschnitte von Nedko Elenski.

Im östlichen Bereich der Untersuchungsfläche war eine großräumige Begehung aus Zeitgründen nicht zu bewältigen. Dieser Umstand spiegelt sich in der stegartigen Anordnung der Quadranten wider. Das dort an- gestrebte Ziel war gewissermaßen, einen horizontalen Querschnitt durch den Siedlungsbereich vorzunehmen, um zumindest stellenweise die Sied- lungsgrenzen erfassen zu können. Sämtliche Daten wurden zunächst in einer MS Excel Tabelle erfasst und anschließend in eine Geodatenbank überführt, um somit die Anbindung an ein Geografisches Informationssystem (GIS) zu gewährleisten. Innerhalb des GIS ist dadurch eine Bezugnahme der Oberflächenfunde zu anderen

238 Daten, wie etwa den Ergebnissen des Geländemodels, den Grabungs- schnitten, Luftbildern und sonstigen Geodaten möglich.

Funde

Im Arbeitsgebiet des Surveys wurden nahezu 12 000 Funde geborgen, wobei damit lediglich die sicher als Artefakte anzusprechenden Objekte angegeben sind. Den größten Anteil im Fundmaterial stellen die 4473 Hüttenlehm- und 7038 Keramikfragmente. Von den 7038 Keramikfragmenten konnten 1719 bestimmt und klassifiziert werden (24,4 % des Gesamtaufkommens). Eine Übersicht der sonstigen Artefakttypen und deren Quantität ist Ab- bildung 4 zu entnehmen.

Fundgruppen Džuljunica Survey 2013

Fundanzahl in allen Quadranten

157

90 81

14 5 9 10 9 7

Abbildung 4: Einzelfunde der Oberflächenbegehung.

Sämtliche Gewichtsfragmente, Schleif- und Mahlsteine, Schlacken und Silex- funde wurden mit einem differenziellen GPS-Gerät einzeln eingemessen.4 Dadurch kann das Verteilungsmuster dieser Fundgruppen sehr detailliert und exakt wiedergegeben werden.

4 Überprüfungen der GPS-Messungen mit der Totalstation zeigen eine Messgenauig- keit der GPS-Punkte im Submeterbereich. In wenigen Fällen lag die Abweichung der GPS-Punkte von den tatsächlichen Punkten über 30 cm.

239 Mit einer Anzahl von 28 Stück bei den klassifizierten Artefakten sind bei den Silexfunden Klingenfragmente am stärksten vertreten (Abbildung 5a). Daneben treten Abschläge, Kratzer, Kernfragmente und Trümmer auf.

30 RM5 Klingen Rohmaterial 25 11% 20 RM4 4% 15 10 RM3 14% 5 RM1 0 RM2 68% 3%

Abbildung 5: a) Steinartefakttypen b) Rohmaterial der Klingen (erstellt in Excel).

Für nahezu 70 % der Klingen wurde das Rohmaterial von Typ 1 verwendet (Abbildung 5b). Die charakteristische, honiggelbe Farbgebung sowie versprenkelten weißen Flecken zeichnen Typ 1 aus. Dem Rohmaterial von Typ 1 kommt bedingt durch das hohe Fund- aufkommen in der Fundstelle eine herausragende Rolle zu. Tatsächlich hat eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Rohmaterial, welches im Allgemeinen als „Balkan Flint“ bezeichnet wird, auch an Funden aus Džuljunica an unterschiedlicher Stelle bereits stattgefunden (Gurova 2008, 15–26). Eine enge Verknüpfung dieses Rohmaterials mit der frühesten neolithischen Kulturentwicklung ist festzustellen (Gurova 2012, 15). Der wechselhafte und intensiv geführte Fachdiskurs zur Ansprache dieses Rohmaterials soll hier nicht wiedergegeben werden. Stattdessen findet eine Fokussierung auf die synthetisierenden Ergebnisse von M. Gurova statt (Gurova 2012, 15–26). Die Ergebnisse zu den petrografischen Analysen zeigen dabei Erkenntnisse zur Herkunft und spezifischen Verarbeitung des Rohmaterials. Bislang konnte keine definitive Ursprungsregion des Rohmaterials auf- gezeigt werden, allerdings zeichnen sich die (historischen) Regionen von Moesien (Nikopol) und/oder Ludogorie (Bez. Razgrad) als Herkunfts- bezirke ab (Gurova 2012, 40). Prinzipiell sind die Lagerstätten dieser Gebiete nicht unerheblich weit entfernt von der Fundstelle, sodass M. Gurova auch die Verwendung von Rohmaterialien aus Sekundärlagerstätten, wie etwa den Flusstälern und Flussterrassen der Donau-Tiefebene, in Betracht zieht (Gurova 2012, 37).

240 Auch wenn umfassende Ansätze wie die Rekonstruktion der Produktions- mechanismen im Sinne einer chaîne opératoire ohne spezifische Informa- tionen zur Herkunft des Rohmaterials vorerst erschwert sind, bleibt fest- zustellen, dass der Fundstelle Džuljunica eine hohe Bedeutung bei der frühen Verarbeitung des ‚Balkan-Flints‘ zukommt (Gurova 2012, 40). Dafür spricht einerseits die sehr früh zu datierende Verwendung dieses Roh- materials in Džuljunica. Andererseits ist die geografische Situation der Fundstelle unmittelbar zwischen den großen Produktionszentren mit Ludogorie im Nordosten und den thrakischen Gebieten hervorzuheben. Es zeigt sich, dass dieses spezifische Rohmaterial dabei mit ganz charak- teristischen Artefakttypen der vor-karanovo- bis karanovo I und II-zeit- lichen Phase verbunden ist (Gurova 2012, 23). Dabei sind regelmäßig ge- formte Klingen von mittlerer Größe (max. 12-15 cm) mit bilateraler Retu- schierung besonders hervorzuheben (Gurova 2012, Fig. 2–4).

Fundverteilung und Siedlungsausdehnung

Das Hüttenlehm-Fundaufkommen der einzelnen Quadranten ist stellen- weise sehr hoch (Abbildung 6). Da selbst fingernagelgroße Fragmente aufgelesen wurden, ist diese hohe Anzahl teilweise etwas zu relativieren. Die Fragmente sind überwiegend stark erodiert, wobei dennoch gelegent- lich Abdrücke der Holzkonstruktion zu erkennen sind.

Abbildung 6: Fundverteilung Hüttenlehm.

241 Auffällig ist die hohe Konzentration im Bereich der Terrasse, wobei insbesondere der nördliche Teil der Surveyfläche in diesem Gebiet eine sehr hohe Funddichte an Hüttenlehm aufweist (Abbildung 6). Ausgehend von den Hüttenlehmfragmenten ist daher ein Siedlungsschwerpunkt im zentralen Bereich der Terrasse deutlich erkennbar, wobei eine zeitliche Differenzierung der Siedlungsprozesse mittels der nicht näher datierbaren Hüttenlehmfragmente selbstverständlich nicht erwirkt werden kann. Von der räumlichen Verteilung der chronologisch bestimmbaren Keramik- scherben ist hinsichtlich der Frage nach den einzelnen Siedlungsphasen ein ungleich höherer Erkenntnisgewinn zu erwarten. Der Keramikfundstoff der Lesefunde bildet eine große Zeitspanne ab. Vom Frühneolithikum bis zum Mittelalter sind Scherben vertreten. Bei der Beurteilung der horizontalen Siedlungsprozesse bildet der keramische Fundstoff zweifelsohne ein zentrales Element. Keine andere Fundgruppe weist eine vergleichbare, durch die Klassifi- zierung erwirkte, chronologische und funktionale Untergliederung auf. Die Untersuchungen zur räumlichen Verteilung der einzelnen Warengrup- pen bilden daher den Schwerpunkt der Analysen zu Siedlungsausdehnung und -prozessen. Bei der Auswertung der Survey-Ergebnisse hinsichtlich der Siedlungsprozesse wurde grundlegend folgendes Vorgehen angewendet:

1) Kartierung der Fundverteilung (quantitatives Erscheinungsbild der unter- schiedlichen Fundgattungen und Keramikwaren in den einzelnen Quadranten) 2) Überprüfung der Fundverteilung auf statistisch signifikante Muster (unter Verwendung der Anselin-Local-Morans I Methode) 3) Visualisierung der Verteilungstendenz (Streuellipsen) 4) Punktuelle Interpolation der Zwischenbereiche in den östlichen Quadranten 5) Verknüpfung mit den Grabungsergebnissen und abschließende Feststellung der Tendenz der Siedlungsausdehnung in den unterschiedlichen Perioden Exemplarisch lässt sich dies an dem frühneolithischen Keramikmaterial nachvollziehen (Abbildung 7). Erkennbar ist eine Konzentration der Scher- ben dieser frühesten Besiedlungsphase auf den zentralen Teil der Terrasse, wobei allerdings auch im südwestlichsten Bereich der Surveyfläche eine Akkumulierung von Funden auszumachen ist. Diese Verdichtung an Funden liegt etwa 25 m südlich von den Schnitten 12, 13, 18 und 21, welche als zentrales Areal der frühneolithischen Siedlung angesehen werden können (Abbildung 7). Die Funde im zentralen Ter- rassenbereich unterliegen einer statistisch signifikanten Musterbildung. Meines Erachtens konnten hier mittels des Surveys die südlichen Grenzen der vor-karanovo- und karanovo I-zeitlichen Besiedlung erfasst werden.

242 Das Auftreten dieser Siedlungsphase im Grabungskontext südöstlich des Tells (Schnitte 4, 8 und 17) konnte durch den Survey nicht erfasst werden.

Abbildung 7: Verteilung der frühneolithischen Scherben (Dž I-IV).

Vereinzelt konnten im Fundaufkommen der Quadranten in den südlichen und westlichen Bereichen der Terrasse ein, maximal zwei Fragmente früh- neolithischer Keramik festgestellt werden. Zu beurteilen sind diese Funde eher im Kontext von menschlichen Aktivitäten außerhalb der eigentlichen Siedlung, wie beispielsweise Weidewirtschaft oder Ackerbau. Rückschlüsse auf Befunde im Boden sind im Zusammenhang mit diesen Einzelfunden nicht zu erbringen. Unter Anwendung der einzelnen statistischen Verfahren lässt sich für den frühneolithischen Zeitabschnitt eine deutliche Siedlungstendenz her- ausarbeiten, welche in Abbildung 8 visualisiert ist.

243

Abbildung 8: Frühneolithische Siedlungsausdehnung (1,2 und 3: Dž I und II; 4: Dž IV), hinterlegt mit einem interpoliertem Höhenmodell.

Im Keramikmaterial lässt sich der vor-karanovo-zeitliche Horizont (Džul- junica I und II, kurz Dž I und II, in der internen Terminologie) im Unter- suchungsgebiet an den Stellen 1, 2 und 3 (Abbildung 9) nachweisen. Mit- tels des statistischen Verfahrens der Standardellipsen und verschiedener Interpolationsmethoden (vorrangig Krigging) sowie der Hinzuziehung der Grabungsergebnisse, konnte die hier vorgelegte Siedlungsausdehnung festgestellt werden. Mit der darauf folgenden Karanovo-I-zeitlichen Phase geht offensicht- lich eine Verkleinerung der Siedlungsausdehnung sowie eine Akkumu- lierung auf den zentralen Bereich der Terrasse einher (Abbildung 9, Bereich 4). Dieser Befund steht im Einklang mit den bislang erzielten Grabungsergebnissen, sodass durch die neuen Erkenntnisse eine wichtige Ergänzung hinsichtlich der Siedlungsausdehnung gegeben ist. Bedingt durch die aus Zeitgründen nicht flächendeckend erfolgte Ober- flächenbegehung, könnten zukünftige Untersuchungen im nördlichen und nordöstlichen Bereich der Fundstelle allerdings durchaus noch Daten lie- fern, die eine größere Siedlungsausdehnung aufzeigen. Die hier vorgestell- ten Ergebnisse stellen die auf der bislang erarbeiteten Datengrundlage erzielten Siedlungstendenzen dar, sodass es sich gewissermaßen um die minimalste bislang bestätigte Siedlungsgröße handelt.

244 Schluss

Für die frühneolithische Ansiedlung konnte der Siedlungsstandort eines Geländesporns, welchem eine durch häufig verlagerte Gewässerläufe ge- prägte Niederung vorgelagert ist, mithilfe der dreidimensionalen Erfassung der topografischen Situation visualisiert werden. Diese Geländesituation kann durchaus als ein beliebter Siedlungsstandort des frühneolithischen Siedlungsbildes der Region gelten. Darüber hinaus sind zweifelsohne auch die landschaftlichen Gegebenheiten, wie etwa die fruchtbaren Böden oder besonders die Quellen am Fuße der Terrasse, entscheidende Kriterien, die eine Besiedlung in Džuljunica möglich gemacht haben. Insbesondere die Quellsituation und damit einhergehende Verfügbarkeit von Wasser in unmittelbarer Nähe der Siedlungsflächen ist als ein entscheidender Faktor für die ausgeprägte Siedlungskonstanz in Džuljunica hervorzuheben. Die Untersuchung der Siedlungsprozesse innerhalb der Fundstelle ist für die einzelnen Perioden in unterschiedlicher Qualität gelungen. Her- vorzuheben ist insgesamt die ausgesprochen lange Siedlungskontinuität, welche durch die Surveyergebnisse nahegelegt wird. Bei der Betrachtung der Fundstreuung des Keramikmaterials werden darüber hinaus konkrete Be- und Entsiedlungsprozesse ersichtlich. Die bereits durch die Grabungs- ergebnisse erfasste, intensive Siedlungsaktivität in den zentralen Bereichen der Terrasse während des Frühneolithikums kann durch die Survey- ergebnisse bestätigt werden. Besonders hinsichtlich der südlichen Sied- lungsgrenze können die mittels der Oberflächenfunde erfassten Grenzen den bisherigen Forschungsstand ergänzen. Sehr gut erfasst ist auch die Verkleinerung des Siedlungsareals während des ausgehenden Frühneo- lithikums. Während des Chalkolithikums und der Bronzezeit bildet sich der Tell heraus und abgesehen von der längeren Übergangszeit zwischen Chalkolithikum und Bronzezeit ist in diesem Areal auch im unmittelbaren Umfeld des Tells eine konzentrierte Besiedlung festzustellen. Die Gebiete der Terrasse wurden während dieser Zeit offensichtlich nicht als primärer Siedlungsstandort wahrgenommen. Lediglich der mit dem Cernavod©- Keramikmaterial verknüpften Übergangszeit kommt hierbei eine beson- dere Bedeutung zu. Möglicherweise ist die für diesen Zeitraum zumeist angenommene Siedlungsunterbrechung für Džuljunica nicht festzustellen. Das geringe Fundaufkommen dieser Periode im westlichen Teil der Unter- suchungsfläche ist nicht zwingend im Kontext einer umfangreichen An- siedlung zu beurteilen, allerdings existiert hier ein Faktor, den es im Rah- men zukünftiger Untersuchungen näher zu charakterisieren gilt. Eventuell ist hier die Möglichkeit gegeben, das bislang generell kaum erfasste Siedlungsbild dieses Zeitabschnittes näher zu definieren. Insgesamt sind

245 die Siedlungsausdehnung und die Siedlungsprozesse der neolithischen bis bronzezeitlichen Entwicklung im Surveymaterial verhältnismäßig gut ab- gebildet. Ausgehend vom Survey-Fundmaterial ist darüber hinaus eine rege Siedlungsaktivität während der Eisenzeit, den römischen Epochen und des bulgarischen Mittelalters an der Fundstelle anzunehmen. Das Verteilungsmuster der Funde der nach-bronzezeitlichen Perioden ist aller- dings weniger deutlichen Mustern unterworfen und spiegelt eine kom- plexe Siedlungsstruktur wider, deren exakte Abgrenzungen und Ausdeh- nung über die Methodik des Surveys nicht abschließend geklärt werden kann. Festzustellen ist allerdings eine erneute Siedlungsaktivität auf der Terrasse während der Eisenzeit und der nachfolgenden Perioden.

Selbstverständlich kann die Untersuchung einer einzelnen Fundstelle nur als erster Schritt für eine eingehendere Betrachtung einer Siedlungsregion gelten. Punktuell kann beispielsweise über die Analyse der Steinartefakte oder auch einer näheren Untersuchung der Rohstoffgewinnung eine Ein- bindung der Fundstelle Džuljunica in das weitere Landschaftsbild erfol- gen. Allerdings ist m. E. eine vielschichtigere Herangehensweise nötig, die sich im Sinne einer landschaftsarchäologischen Diskussion systematisch mit Džuljunica und ihrem Umland beschäftigt. Als Grundlage einer solchen Betrachtungsweise muss allerdings ein präziseres Bild der Besied- lung im unmittelbaren Umland der Fundstelle gewonnen werden. Bei- spielsweise sind mir aus der bislang publizierten Literatur keine früh- neolithischen Fundstellen innerhalb des geografischen Raumes der drei Gemeinden um Džuljunica herum bekannt. Eine Erhebung potenzieller Siedlungsgebiete und bevorzugter Standortfaktoren oder auch die Er- fassung des menschlichen Einflusses auf die Landschaftssituation, wie dies in jüngerer Zeit beispielsweise für den Bereich der unteren Jantra vorgelegt wurde, können daher kaum fundiert erfolgen (Verhasselt 2013). Die hohe Siedlungskontinuität und auch die vorliegenden umfang- reichen Geodaten zu den naturräumlichen Voraussetzungen bieten m. E. für zukünftige Untersuchungen dennoch eine gute Ausgangslage, um aus- gehend von Džuljunica das Siedlungsbild der Region näher zu charak- terisieren. Diesen noch zu erfolgenden Forschungen bleibt es überlassen, in systematischer Reflexion landschaftsarchäologischer Fragestellungen ein zusammenhängendes Bild der archäologischen Entwicklung dieser Region zu erwirken.

246 Literatur

Gurova 2008 M. Gurova, Towards an understanding of Early Neolithic populations. A flint perspective from Bulgaria. Documenta Prähistorica 35, 2008, 111–129.

Gurova 2012 M. Gurova, ‘Balkan Flint’ – fiction and/or trajectory to Neolithization. Evidence from Bulgaria. Bulgarian e-Journal of Archaeology 1, 2012, 15–49. Verfügbar auf: http://be-ja.org

Krauß 2011 R. Krauß, Archäologische Forschungen in Bulgarien 2010–2011. Bulgarien-Jahr- buch 2011, 147–159.

Krauß et al. (im Druck) R. Krauß/N. Elenski/B. Weninger, Beginnings of the Neolithic in Southeast Eu- rope. The Early Neolithic sequence and absolute dates from Bulgaria (im Druck).

Lichardus-Itten/Lichardus 2003 M. Lichardus-Itten/J. Lichardus, Strukturelle Grundlagen zum Verständnis der Neolithisierungsprozesse in Südost- und Mitteleuropa. In: E. Jerem/P. Raczky, Morgenrot der Kulturen. Frühe Etappen der Menschheitsgeschichte in Mittel- und Südosteuropa. Festschrift für Nándor Kalicz (Budapest 2003) 61–82.

Verhasselt 2013 M. Verhasselt, Assessing human impact on land cover and sediment dynamics from Neolithic to Medieval times at catchment scale in northern Bulgaria. A modeling approach (Leuven 2013).

ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006 ʃ. ɯˏʺˑ˖ˊˆ, ʈ˓ˑʹʲʾˑˆ ˔˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ˕ʲˑˑ˓ˑʺ˓ˏˆ˘ˑ˓˘˓ ˖ʺˏˆ˧ʺ ɮʾ˙ˏ˭ˑˆˢʲ- ʈː˨˕ʹʺ˦, ɪʺˏˆˊ˓˘˨˕ˑ˓ʵ˖ˊ˓ (˔˕ʺʹʵʲ˕ˆ˘ʺˏˑ˓ ˖˨˓ʴ˧ʺˑˆʺ). ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˮ 47, 2006, 96–117.

ʂˆˊ˓ʵ 1933 ɪ. ʂˆˊ˓ʵ, ʆ˕ʺʹˆ˖˘˓˕ˆˣʺ˖ˊˆ ˖ʺˏˆ˧ʲ ˆ ˑʲˠ˓ʹˊˆ ʵ˨ ɩ˨ˏʶʲ˕ˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 1933).

ʈ˘ʲˑʺʵ 1984 ʆ. ʈ˘ʲˑʺʵ, ʇʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˑʲ ˖ʺˏˆ˧ˑʲ˘ʲ ː˓ʶˆˏʲ ʵ ˄ʺːˏˆ˧ʺ˘˓ ˑʲ ˖ʺˏ˓ ɮʾ˙ˏ˭ˑˆˢʲ, ɪʺˏˆˊ˓˘˨˕ˑ˓ʵ˖ˊˆ ˓ˊ˕˨ʶ. ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 1983 ʶ (ʈː˓ˏˮˑ 1984) 28–29.

247 ʈ˘ʲˑʺʵ 1985 ʆ. ʈ˘ʲˑʺʵ, ʆ˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ˖ʺˏˆ˧ˑʲ˘ʲ ː˓ʶˆˏʲ ʹ˓ ˖ʺˏ˓ ɮʾ˙ˏ˭ˑˆˢʲ. ɧ˕ˠʺ˓- ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 1984 ʶ (ʈˏˆʵʺˑ 1985) 35.

ʘˊ˓˕˔ˆˏ/ʘˊ˓˕˔ˆˏ 1898 ʒ. ʘˊ˓˕˔ˆˏ˪/K. ʘˊ˓˕˔ˆˏ˪, ʂ˓ʶˆˏˆ (ʆˏ˓ʵʹˆʵ 1898).

248 Marion Etzel

Tönerne Gesichter aus Varna. Aktuelle Forschungen zu den Komplexen 2, 3 und 15 aus dem kupferzeitlichen Gräberfeld in Bulgarien

Im Herbst 1972 führten Baggerarbeiten an einem Kabelkanal zur zufälligen Entdeckung des spätkupferzeitlichen Gräberfeldes von Varna I am West- ufer des Schwarzen Meeres. In mehreren Kampagnen konnte das Gräber- feld unter der Leitung von Ivan Ivanov (Archäologisches Museum Varna) nahezu vollständig ergraben werden (siehe: Fol/Lichardus 1988; Ivanov 1991; Slavchev 2010). Die dabei aufgefunden Gräber waren überdurch- schnittlich reich mit Beigaben – auch aus Gold und Kupfer – ausgestattet. Neben diesen Körpergräbern fanden sich auch einige symbolische De- ponierungen. Eine besondere Bedeutung nimmt dabei die Bestattung von drei halblebensgroßen, tönernen Gesichtern in den Komplexen 2, 3 und 15 ein. Die Gesichtsdarstellungen weckten, durch ihren einmaligen Fund- kontext sowie ihren in der zeitgleichen Idolplastik hundertfach wiederhol- ten Darstellungstypus, oft das Interesse der Forschung. Zwei Aspekte, die Geschlechtlichkeit der Figuren sowie die Frage ob es sich um göttliche oder menschliche Darstellungen handelt, sollen hier näher beleuchtet werden.1 Dabei spielt einerseits der Vergleich mit kupferzeitlichen Figuren gleicher Ikonographie eine große Rolle. Andererseits eröffnete die erstmalige com- putertomographische Untersuchung im Frühjahr 2011 der en bloc gebor- genen Darstellungen neue Einblicke in den Aufbau der Gesichter.

Auffindungsgeschichte

Das Gräberfeld liegt auf einer leicht erhöhten und nach Süden geneigten Terrasse am Varna-See. Anzeichen einer oberflächlichen Bebauung – wie Stelen, Grabhügel oder sonstige Monumente – konnten während der Feld- untersuchungen nicht nachgewiesen werden (Ivanov 1991, 125). Trotz der

1 Dieser Artikel beruht auf meiner Magister-Arbeit mit dem Titel: „Götter – Kulte – Ahnen. Die Komplexe 2, 3 und 15 im spätkupferzeitlichen Gräberfeld von Varna I in Bulgarien“. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Martin Bartelheim und Dr. Raiko Krauß, beide Universität Tübingen. Dr. Kalin Dimitrov (Bulgarisches Archäologi- sches Institut, Sofia) und Dr. Vladimir Slav²ev (Kustos für Prähistorie, Historisches Regionalmuseum Varna) danke ich ganz herzlich für die Unterstützung und den uneingeschränkten Zugang zu den Funden.

249 langjährigen Grabungstätigkeiten Ivanovs sind die Grenzen des Bestat- tungsplatzes nicht vollständig erfasst worden. Zwar deutet die ausdün- nende Belegung im Süden und Nordwesten darauf hin, dass hier die Gren- zen erreicht sind, ansonsten zeichnet sich dagegen kein Ende der räum- lichen Belegung ab (Abb. 1).

Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Gräberfeldplan von Varna I. Die drei Komplexe mit Gesichtsdarstellungen sind durch schwarze Punkte markiert (nach Slavchev 2010, 199, fig. 9–10).

Die Ausgräber konnten 310 Grabkomplexe sowie nahezu 80 Einzelfunde aus der Kupferzeit bergen und dokumentieren (Ivanov et al. in Vor- bereitung2). Der Bestattungsplatz besitzt besondere Bedeutung durch die Masse an nicht lokalen Rohstoffen, die sich in über 80 % der Gräber fan- den. Die Beigaben, bestehend aus Gold, Kupfer, verschiedenen Mineralien, Spondylus und Dentalium-Muscheln, mussten sehr wahrscheinlich aus großer Entfernung herbeigeschafft werden und bezeugen so die hohe Bedeutung des Varna-Gräberfeldes (s. Krauß/Leusch/Zäuner 2012, 64–82). Innerhalb der Gräber lassen sich zudem deutliche Unterschiede in der Bei- gabenausstattung feststellen, was als ein Hinweis auf die Bedeutungs-

2 Das Manuskript wurde von Raiko Krauß aus dem Bulgarischen übersetzt.

250 unterschiede der Bestatteten gesehen werden kann (Slavchev 2010, 198; Krauß/Slav²ev 2012, 238). Unter den besonders reich ausgestatteten Kom- plexen finden sich nicht nur Körpergräber, sondern auch Deponierungen ohne menschliche Skelettreste. I. Ivanov (1986, 30–31) stellte als erster die besondere Bedeutung dieser Komplexe für die Interpretation von Varna heraus. Er zählte 41 von damals 252 ergrabenen Komplexen zu den sog. symbolischen Gräbern. Diese Komplexe unterteilte Ivanov in vier Grup- pen: A) Reiche Gräber, die Komplexe 1, 4 und 36; B) Die Komplexe 2, 3 und 15 mit Gesichtsdarstellungen; C) Symbolische Gräber mit gewöhnlichem Inventar zu denen er 28 Komplexe zählte; D) Gräber mit menschlichen Skeletten, wobei es sich hier eher um gestörte Bestattungen und nicht um symbolische Bestattungen zu handeln scheint (Ivanov 1986, 31). Im Fol- genden soll die von Ivanov definierte Gruppe B) mit tönernen Masken – oder vielmehr Gesichtsdarstellungen – im Mittelpunkt stehen (für die übrigen Gruppen vgl. Ivanov 1986; Lichardus 1991; Krauß/Slav²ev 2012; Ivanov et al. in Vorbereitung).

Befundbeschreibung

Die drei Komplexe mit Gesichtsdarstellungen liegen in einer Reihe am südöstlichen Rand des ergrabenen Gräberfeldes (siehe Abb. 1). Durch ihre direkte Nachbarschaft mit weiteren reich ausgestatteten Gräbern und symbolischen Deponierungen, wie Komplex 36 und Grab 43, wird dieser Teil gemeinhin als ein „Kern des Gräberfeldes“ (Lichardus 1991, 167) be- zeichnet. Alle drei Darstellungen wurden in Grabgruben niedergelegt, die in ihren Ausmaßen denjenigen der normalen Körperbestattungen ent- sprechen. Auch die NO-SW orientierte Ausrichtung der rechteckigen bis ovalen Gruben findet sich genauso in den Körpergräbern wieder. Die Gruben der Gesichtskomplexe sind etwa 1,95–2,25 m lang bei einer Breite von 0,85–1,00 m (Ivanov et al. in Vorbereitung). Durch die Größe und Form der Grabgruben ist es durchaus möglich, darin einen etwa lebensgroßen Körper beizusetzen. Nicht nur die Anlage der Gruben selbst, auch die Deponierung der Beigaben entspricht derjenigen bei den tatsächlichen Körperbestattungen. Neben der für die Mitte des 5. Jahrtausends typischen Keramik, die in Varna speziell für die Deponierung im Gräberfeld hergestellt wurde, fanden sich zahlreiche weitere Beigaben aus unterschiedlichen Rohstoffen. Alle drei Komplexe enthielten Spondylus-Perlen in hoher Anzahl, je eine Feuersteinklinge, eine kupferne Nadel sowie mehrere Beigaben aus Gold, so z. B. stark stilisierte weibliche Amulette. In Komplex 15 fand sich zudem noch eine Nadel aus Gold. Ebenfalls aus Komplex 15 stammt das Fragment

251 einer durchbohrten Knochenscheibe, aus Komplex 2 eine durchbohrte flache Scheibe aus Spondylus. Beide Scheiben werden in der Literatur als „Spinnwirtel“ angesprochen (siehe Lichardus 1991, 177; Hansen 2007, 263). Wiederum in den Komplexen 2 und 15 fand sich je ein gewölbtes Knochen- idol, in Komplex 3 ist ein derartiges Idol aus Marmor mit fünf goldenen Besatzstücken belegt. Die Gesichtsdarstellungen selbst sind aus ungebranntem Ton modelliert und liegen direkt auf der Grabsohle auf. Nur die Gesichter aus den Kom- plexen 2 und 3 konnten en bloc geborgen werden, dasjenige aus Komplex 15 war so schlecht erhalten, dass eine Bergung des tönernen Kopfes nicht mehr möglich war (Abb. 2).

Abbildung 2: Die en bloc geborgenen Gesichtsdarstellungen aus Ton. A) Komplex 2; B) Komplex 3 (Fotos K. Dimitrov).

In der archäologischen Literatur sind die Gesichtsdarstellungen bislang meist als Masken, die direkt auf der Grubensohle ausmodelliert wurden, angesprochen worden. Damit folgten die Autoren der Meinung des Aus- gräbers Ivanov. Mithilfe moderner Technik bestand nun erstmals die Möglichkeit, die Struktur der en bloc geborgenen Darstellungen aus den Komplexen 2 und 3 genau zu betrachten. Ursprünglich wurde diese Unter- suchung vorgenommen, um in den Körpern enthaltene, nicht an der Ober- fläche sichtbare Goldgegenstände zu identifizieren. Zu diesem Zweck wurden die beiden erhaltenen Gesichter am 23. März 2011 im Universitäts- klinikum „Sv. Marina“ in Varna computertomographisch untersucht. Die

252 Analyse wurde mit einem 128 Kanal Dual Source Tomographen der Firma Siemens Healthcarevon Doz. B. Balev und Dr. T. Velinov durchgeführt.3 Dadurch konnte erstmals nachgewiesen werden, dass es sich tatsächlich um etwa halblebensgroße, hohle Köpfe und nicht um Masken handelt, die direkt in der Grube gearbeitet und mit feuchtem Ton übermodelliert wurden. Ein ganz ähnlicher Tonkopf stammt aus der Uferrandsiedlung „Arsenal“, ebenfalls am Varna-See gelegen. Die Ergebnisse der Tomo- graphiebilder bestätigen eine Hypothese, die vor über 20 Jahren von Henrieta Todorova vorgestellt wurde. Damals äußerte Todorova die An- sicht, dass in den Komplexen 2, 3 und 15 vollplastisch modellierte tönerne Köpfe von halblebensgroßen, anthropomorphen Figuren eingebracht wur- den (ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ 1992; Todorova 1992). Die Köpfe sind aus nur leicht gebranntem Lehm gefertigt und reich mit goldenen Applikationen, Ketten und wahrscheinlich auch organischen Materialien – wie Pflanzenbestandteile, Textilien und Holzgegenständen – geschmückt. Darauf deuten die Überreste roten Ockershin, die sich bei der Freilegung um die Gesichtsdarstellungen herumfanden. DieKöpfe selbst waren vermutlich Teil von anthropomorphen Statuetten, was der Vergleich mit der zeitgleichen Figuralplastik nahelegt. In den neuen CT-Aufnahmen wurden außerdem Schmuckgegenstände sichtbar, die in den Ton hinein gesunken sind. Das ist nur möglich, wenn die Applikationen auf den noch feuchten Ton gelegt wurden. Durch die CT-Aufnahmen konnte die These, dass es sich um lebensgroße Skulpturen gehandelt haben könnte, deren Körper so schlecht erhalten war, dass er nicht erkannt wurde (Todorova 1992, 259) widerlegt werden. Viel wahr- scheinlich war der zugehörige Körper aus organischem Material gearbeitet (Krauß/Slav²ev 2012). Spuren dieses Materials haben sich als braunes Sediment am Boden der drei Gruben erhalten (Ivanov 1991, 132–133, 138).

Analyse der Figuren

Während die einzelnen Trachtbestandteile an den Gesichtern im Fund- material des südosteuropäischen Chalkolithikums des Öfteren auftreten, sind die Ausführung der Applikationen und die Auffindung der Köpfe innerhalb eines Gräberfeldes singulär. Einzigartig ist insbesondere deren Bedeutung als tatsächliche ‚Bestattung‘ und nicht als bloße Beigabe.

3 Für die Genehmigung und Hilfe möchte ich meinen herzlichen Dank an die dama- lige Rektorin der Medizinischen Universität Varna „Prof. Dr. Paraskev Stojanov“, Frau Prof. Anelija Klisarova, aussprechen sowie an Dr. K. Dimitrov und Dr. V. Slav²ev für das Zurverfügungstellen der Ergebnisse.

253 Gerade diese Niederlegung in einem Grab wirft viele Fragen über Funktion und Intention der Varna-Köpfe auf. Die vollständig erhaltenen Köpfe aus Komplex 2 und 3 sind etwa 20 cm, bzw. 21 cm lang und 19,5 cm, bzw. 21 cm breit. Auf ihrer ‘Stirn’ fand sich je ein T-förmiger Kopfschmuck aus Goldblech. Die Augen wurden durch zwei runde Goldbleche wiedergegeben. Beide Köpfe besaßen jeweils noch acht goldene Ohrringe, fünf am linken Ohr und drei am rechten. Der Mund wurde durch ein rechteckiges Blech, ebenfalls aus Gold, angedeutet. Unterhalb des ‘Mundes’ fanden sich bei dem Kopf aus Komplex 2 sieben goldene Lippenpflöcke, an demjenigen aus Komplex 3 sechs. Diese spezi- fische Form des Gesichtsschmuckes, bestehend aus mehreren Ohrringen und Lippenpflöcken, wiederholt sich an den kupferzeitlichen Figurinen.

Geschlechtlichkeit der Figurinen

Ein wichtiger Aspekt bei der Erforschung der tönernen Gesichter ist die Frage nach der Geschlechtlichkeit der Figuren aus Varna. Als Darstellung zeitgenössischer männlicher Individuen werden die Gesichter von V. Niko- lov (1991) interpretiert. Er sieht den Gesichtsschmuck zwar als ikono- graphisches Element der weiblichen Göttin ‘Mutter Erde’, dieser könne aber ebenso bei Männern vorkommen (Nikolov 1991, 159). In diesen Fällen diene der Schmuck aus Lippenpflöcken und Ohrringen – beziehungsweise die Durchbohrungen an Mund und Ohr – als Symbol für die dominierende Rolle der Männer innerhalb der rituellen Verehrung der Muttergöttin. Als weiteren Hinweis sieht Nikolov die goldenen Diademe, die sich im Stirn- bereich der drei Gesichter fanden und ein Charakteristikum des Herrschers darstellen sollen (Nikolov 1991, 159). Auch die als stark stilisierte Frauen- darstellungen gedeuteten goldenen Amulette im Halsbereich sprechen laut Nikolov gegen eine weibliche Interpretation der Komplexe. Da sie eben- falls mit dem Göttinnenkult in Verbindung gebracht würden (Nikolov 1991, 159), bestehe keine Notwendigkeit, diese an einem Abbild der Mutter- göttin anzubringen, sondern sie würden vielmehr von den Gläubigen getragen. Nikolov unterstützt seine Darlegungen durch den Verweis auf ähnliche kupferzeitliche Gesichtsdarstellungen, welche von ihm alle als männlich angesprochen werden. Neben Funden aus Dinja (vgl. u. a. ʊ˓- ʹ˓˕˓ʵʲ 1979, Taf. 73; Fol/Lichardus 1988, 239, Nr. 99, Abb. 178; ɼʲˏˣʺʵ 2005, 43), Kubrat (siehe u. a. Fol/Lichardus 1988, 239, Nr. 100, Abb. 220; Hansen 2007, Taf. 366), Ruse (vgl. Hansen 2007, Taf. 381), Ormurtag (Fol/Lichardus 1988, 238, Nr. 97) und Vetren (siehe u. a. Fol/Lichardus 1988, 239–240, Abb. 180, Nr. 102; Raduncheva 1976, Fig. 77), verweist Nikolov besonders auf den bereits angesprochenen hohlen Kopf aus

254 Ezerovo am Varna-See, den auch er als Parallele anführt (Nikolov 1991, 159). Die oben angeführten Aspekte, zusammen mit dem Verweis auf die Rückenlage4 der ‘bestatteten’ Figuren in Varna, führen Nikolov zu dem Schluss, dass wir es hier mit der symbolischen Deponierung der Attribute von männlichen Individuen zu tun hätten. Die überwiegende Mehrheit der Forscher spricht die Gesichtsdarstel- lungen dagegen als weibliche Abbilder an. Bereits der Ausgräber Ivanov erkannte den ikonographischen Zusammenhang zwischen dem Gesichts- schmuck der Varna-Köpfe und der zeitgleichen Figuralplastik (Ivanov 1986, 38). Er sah in den Darstellungen Abbildungen der „göttlichen Erd- mutter, der Göttin der Fruchtbarkeit“ (Ivanov 1986, 38–39). Später relati- vierte er seine Aussagen dahingehend, dass es sich zwar um weibliche, aber nicht notwendigerweise um göttliche Bildnisse handle. Viel wahr- scheinlicher erscheint ihm die Interpretation als Symbol des Ahnenkultes (Ivanov 1988, 20; Ivanov 1991, 127). Auch Jan Lichardus erkennt in den Komplexen 2, 3 und 15 Frauendarstellungen (Lichardus 1991, 177). Be- sonders die Lippenpflöcke, die sich nicht nur bei den Gesichtern aus Varna finden, sondern häufig bei der Idolplastik zu beobachten sind, würden auf die Bestattung von Göttern hinweisen (Lichardus 1991, 184). Dem schlie- ßen sich auch Krauß (Krauß/Slav²ev 2012) sowie Marazov (1988) an. Die Schmuckausstattung sehen auch sie eher mit als weiblich gekennzeich- neten Statuetten und einem Göttinnen-Kult verbunden. Neben dem Ver- gleich mit der spätkupferzeitlichen Figuralplastik, verweist Lichardus auf die von ihm als weibliche Beigaben definierten ‘Wirtel’ aus den Komplexen 2 und 15. Ebenfalls aus den Komplexen 2, 3 und 15 stammt je eine kupferne Nadel, welche er als weitere weibliche Attribute deutet. Hansen (2007, 263) macht zusätzlich noch auf das Fehlen von Schwergeräten aus Kupfer in allen drei Komplexen aufmerksam, die sonst regelhaft in den reichen Grä- bern auftreten. Zusätzlich weist er jedoch auf die Problematik der Wirtel als Symbole des Weiblichen hin. Dass diese Beigaben tatsächlichen Frauen- bestattungen vorbehalten waren, ist keineswegs gesichert. Dagegen spricht der Fund eines ähnlichen Wirtels in dem als Kenotaph anzusprechenden Komplex 41, wo er mit einem Meißel vergesellschaftet ist. In dem Fall müsste auch der Meißel als weibliches Attribut angesprochen werden.

4 In der älteren Literatur wird die gestreckte Rückenlage gemeinhin mit der Bestattung von männlichen Individuen gleichgesetzt. Neuere Forschungen weisen aber eher auf einen chronologischen Zusammenhang bei der Bevorzugung von Rückenstreckern anstelle von seitlichen Hockern hin (Todorova 2002, 46–47; Lichardus 1988, 126–129; Lichardus 1991, 189–191; Rassamakin 2004, 204–206; Krauß/Slav²ev 2012; Zäuner in Vorbereitung).

255 Das Geschlecht einer Figur lässt sich schwerlich an ihrem Gesicht ab- lesen, da wir nicht davon ausgehen können, dass es sich um Portraits von Personen handelt. Selbst Ritzlinien am Kinn, wie wir sie von einem Beispiel aus Drama kennen (Fol/Lichardus 1988, 251, Kat.-Nr. 162, Abb. 194), die als Bartdarstellung angesprochen werden, sind m. E. kein sicheres Merkmal zur Bestimmung der Geschlechtlichkeit einer Figur. Ebenso könnte es sich um eine Tätowierung, Bemalung oder Schmuckapplikationen handeln. Auch die Grübchen im Gesicht anderer chalkolithischer Figurinen wurden lange Zeit als abstrakte Darstellung des Mundes gedeutet. Erst die Ent- deckung der Varna-Köpfe machte deutlich, dass es sich um Grübchen zur Aufnahme der Lippenpflöcke handelt. Ob es sich bei einem Kopf um eine männliche oder weibliche Darstellung handelt, beruht meist auf dem sub- jektiven Eindruck des Betrachters. Unsere heutige Wahrnehmung ge- schlechtlicher Attribute (z. B. Haartracht, Betonung bestimmter Gesichts- partien durch Bemalung) ist fast ausschließlich durch den jeweiligen sozi- alen Kontext geprägt. Geschlechtliche Wahrnehmung bleibt sogar heute deutungsabhängig und kann noch schwieriger für prähistorische Gesell- schaften erschlossen werden (ausführlicher dazu: Hansen 2007, 344). Ähnlich verhält es sich mit applizierten Brüsten. Sie werden meist als Indiz für eine weibliche Darstellung herangezogen. Allerdings führt Han- sen Beispiele von eindeutig als männlich gekennzeichneten Figuren an, die ebenfalls plastische Brüste aufweisen (Hansen 2007, 341–345). Zu sehen sind die Brüste auch an beiden Statuetten der singulären Figurengruppe aus Gumelniôa (Hansen 2007, Taf. 425). Definitive Aussagen zur Geschlechtlichkeit einer Figur lassen sich also nur bei einer eindeutig zu identifizierenden Darstellung von Schamdreieck oder Penis treffen. Der Kopf allein liefert keine ausreichenden Anhalts- punkte für die Geschlechtlichkeit. Eine Annäherung an die Fragestellung ist allerdings über den Vergleich mit der chalkolithischen Kleinplastik möglich. Wie bereits erwähnt, ist der Darstellungstypus der Varna-Gesich- ter in der kupferzeitlichen Figuralplastik des Ostbalkans weit verbreitet. Umgesetzt wurden die ikonographischen Merkmale allerdings nicht nur in Ton, sondern auch in verschiedenen anderen Materialien wie Marmor, vereinzelt in Gold und sehr häufig in Knochen. Unterschiedlich ist auch die Art der Darstellung. So wurden nicht nur Figurinen damit ausgestattet, auch auf Gefäßen, Gefäßträgern und Deckeln finden sich die typischen Grübchen für Lippenpflöcke sowie Ohrlöcher in unterschiedlicher Zahl. Um der Frage nach der Geschlechtlichkeit der Varna-Gesichter genauer nachzugehen, wurden etwa 370 chalkolithische Figurinen aus unterschied- lichen Materialien und mit verschiedener Funktion in eine Datenbank

256 aufgenommen und ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass die Darstellung des weiblichen Geschlechts nur bei den flachen Knochenfigurinen üblich ist. Diese weisen fast durchgängig ein eingeritztes Schamdreieck auf. Weit weniger häufig findet sich die Angabe des Schamdreiecks oder eines Penis bei den tönernen Exemplaren. Dies liegt sicherlich auch am schlechteren Erhaltungszustand der meist nur gering oder gar nicht gebrannten Ton- plastik. Ein weiterer Aspekt ist die willentliche Fragmentierung der Figuren (vertiefend hierzu: Chapman 1996; Chapman 2000, 55–57; Hansen 2007, 351–354). Diese intentionelle Zerstörung der Figuren scheint im ge- samten Neolithikum sowie Chalkolithikum Südosteuropas gängig ge- wesen zu sein. So ist beispielsweise in Drama von über 300 anthropo- morphen Statuetten nur knapp ein Drittel vollständig erhalten. Die übrigen zwei Drittel sind laut dem Ausgräber Lichardus „offensichtlich nach einem vorgeschriebenen Prinzip zerbrochen worden.“ (Lichardus et al. 1996). Die fehlenden Teile waren in der gesamten Grabungsfläche nicht auffindbar. Ähnliches wird auch von der vollständig ergrabenen Tellsiedlung Goljamo Del²evo berichtet (Chapman 1996, 225), wo in den Perioden 2 und 3 sogar bis zu 92 % aller Figurinen fragmentiert sind. Eine intentionelle Zerstörung sei nach Biehl (2003, 332) besonders dann wahrscheinlich, wenn die Figu- ren nicht an ihren ‘Sollbruchstellen’ abgebrochen sind, sondern vielmehr an ihren stabilsten Stellen wie z. B. entlang der Körperachse. Durch die bewusste Fragmentierung und herstellungsbedingte schlechte Erhaltung sind von den Statuetten oftmals nur Bruchstücke erhalten. Die Untersuchung der Figuralplastik zielt allerdings auf einen Vergleich der Ikonographie mit den Varna-Gesichtern ab. Somit können Bruchstücke, die nur aus einem Torso bestehen, nicht mit berücksichtigt werden, auch wenn diese ein eindeutiges Geschlechtsmerkmal aufweisen. Dass uns trotz dieser Fundumstände einige Tonfiguren mit geschlechtlicher Kennzeichnung er- halten geblieben sind, zeigen u. a. die Beispiele aus Gabarevo (vgl. eben- falls: Hansen 2007, Taf. 348.1; Todorova/Vajsov 2001, Abb. 607; ʂˆˊ˓ʵ 1926–1931, 105, Abb. 25.), Gumelniôa (vgl.: Lichardus 1988, 116, Abb. 65.6; Dumitrescu 1964, 221, fig. 1, pl. XXXVIII; Dumitrescu 1966, 92, fig. 28; Dumitrescu 1972, Tav. 52.1; Marinescu-Bîlcu/Ionescu 1967, Pl. IV.1a–b) sowie die Gefäßfigurine aus Sultana (vgl.: Marinescu-Bîlcu/Ionescu 1967, Pl. IX.a–b, Pl. X; Dumitrescu 1968, Abb. 96; Dumitrescu 1972, Tav. 57.1–3; Hansen 2007, Taf. 435). Neben den genannten Beispielen konnten noch 132 – von insgesamt 204 bis über die Hüfte erhaltenen Exemplaren – weitere Statuetten mit eingeritztem oder aufgemaltem Schamdreieck in die Unter- suchung einfließen. Bereits diese beschränkte Auswahl zeigt, dass nur ein geringer Anteil der Tonplastiken und Gefäßfigurinen geschlechtlich ge- kennzeichnet ist. Dies gilt besonders im Vergleich zu den überlieferten

257 Knochenfigurinen. Die Gründe dafür sind uns nicht bekannt, möglicher- weise war die spezifische Angabe des Geschlechts nicht nötig, da dem Betrachter dieses durch die sonstigen ikonographischen Hinweise (Ohr- löcher, Lippenpflöcke) sofort geläufig war. Auch könnte das Geschlecht der Figuren nicht wichtig, bzw. ausschlaggebend für die gewünschte Funk- tion gewesen sein. Fehlende gestalterische Fähigkeiten können ausge- schlossen werden, da wie erwähnt entsprechende Beispiele erhalten sind. Zu bedenken gilt hier auch der bereits angesprochene schlechte Erhaltungs- zustand der Tonstatuetten. Das figürliche Gefäß aus Sultana zeigt, dass Bemalung durchaus gängig war, da auch andere Plastiken und Gefäße eine ähnliche Dekorierung aufweisen. Bei der Mehrzahl dürfen wir aufgrund ihrer Lagerung im Boden oder späterer unsachgemäßer Behandlung davon ausgehen, dass ein aufgemaltes Schamdreieck nicht mehr erhalten ist. War die Mehrheit der Figuren jedoch von Anfang an nicht geschlechtlich gekennzeichnet, so haben wir es sicherlich mit einem bewussten Verzicht zu tun, nicht mit einem Versehen oder mangelnder Kenntnis. Einen Anhaltspunkt für die tatsächlich intendierte Geschlechtlichkeit der Varna-Köpfe bietet die singuläre Figurengruppe aus Gumelniôa. Die linke Figur zeigt einen applizierten Penis und Brüste sowie ein Loch in jedem Ohr. Durch den Penis ist sie eindeutig als männlich gekennzeichnet. Dagegen zeigt die rechte Figur ein Schamdreieck. Ihre Ohren sind zweifach durchbohrt und unterhalb der vorstehenden Nase finden sich drei Grüb- chen für heute verlorene – oder lediglich angedeutete – Lippenpflöcke. Sie besitzt ebenfalls Brüste. Die fehlenden Lippenpflöcke bei der männlichen Figur könnten darauf hinweisen, dass die Kombination aus mehreren Ohrlöchern zusammen mit den Lippenpflöcken Frauendarstellungen vorbehalten ist. Die insgesamt sehr seltenen männlichen Figuren besitzen, soweit nachprüfbar, nur ein Ohrloch und keine Lippenpflöcke.5 An dieser Stelle muss allerdings vor dem Zirkelschluss gewarnt werden, dass alle Figuren mit Lippenpflöcken aufgrund einzig dieses Merkmals als weiblich aufzufassen sind. So finden sich beispielsweise unter den Knochen- figurinen auch Exemplare mit Schamdreieck, jedoch ohne Lippenpflöcke (z. B. in der kupferzeitlichen Tellsiedlung von Smjadovo, Bezirk Šumen. Vgl. u. a. Hansen 2007, Taf. 448). Dies zeigt, dass Lippenpflöcke bei

5 Eine sitzende Figur aus Vidra mit je drei Ohrlöchern wird in der Literatur immer als männlich angesprochen (vgl. u. a. Hansen 2007, Taf. 398; Rosetti 1938, Taf. 19.2). Allerdings ist ihr Geschlechtsteil auf keiner der verfügbaren Abbildungen klar zu er- kennen. Wie das Beispiel aus Gumelniôa zeigt, wird der Penis normalerweise sehr deutlich durch eine Applikation dargestellt. Bei der Vidra-Figurine könnte es sich ebenso um ein tief eingeritztes Schamdreieck handeln. Somit bleibt die Ansprache dieser Statuette als eindeutig männlich fragwürdig.

258 weiblichen Figuren vorkommen können, aber nicht müssen. Somit können sie auch kein eindeutiger Beweis für das weibliche Geschlecht einer Figur sein. Zusätzlich erschwert die äußerst geringe Zahl an eindeutig identifi- zierbaren männlichen Figurinen eine definitive Deutung der Schmuck- elemente. Trotz allen Einschränkungen weisen die ausgeführten Vergleiche mit der kupferzeitlichen Figuralplastik darauf hin, dass wir es in Varna mit tendenziell eher weiblichen Darstellungen zu tun haben.

Wen stellen die Gesichter dar?

Dass es sich um Kenotaphe für in der Ferne verstorbene hochrangige Gesellschaftsmitglieder handelt (Marazov 1988, 75), ist bei den Beispielen aus Varna schon deswegen unwahrscheinlich, da sich ihre Symbolik hun- dertfach in der Figuralplastik wiederholt. Um auf die Frage nach der mög- lichen Symbolisierung realer Bestattungen näher einzugehen, bietet sich der Vergleich mit anderen kupferzeitlichen Gräberfeldern an. Dabei zeigt sich, dass eine den Komplexen 2, 3 und 15 vergleichbare Schmuckausstat- tung nicht in Körpergräbern auftritt. Im Gräberfeld von Durankulak (To- dorova 2002) finden sich zwar zahlreiche Schmuckgegenstände (in Form von rekonstruierten ‘Diademen’ aus Spondylus sowie Kupferringen um die Zähne), sie wiederholen jedoch nicht die Ikonographie der Varna- Funde. Gerade von den ‘Diademen’ könnte man eine Verbindung zu den goldenen Stirnblechen der Varna-Köpfe ziehen. Die Figuralplastik hat gezeigt, dass zumindest die goldenen Ohrringe auch in kupferner Ausfüh- rung vorkommen (z. B. bei einer Knochenstatuette aus Pietrele. Vgl. Hansen 2007, Abb. 136; Hansen/Toderaó 2009, 111, Abb. 27). Entsprechend könnte es sich auch mit anderen Schmuckelementen verhalten. In den Gräbern tauchen zwar vereinzelte Ringe sowie Metallstifte aus Gold oder Kupfer auf, jedoch nicht in einer Fundlage, die sich mit den Varna-Köpfen verbinden ließe (vgl. hierzu auch Krauß/Slav²ev 2012). Auch der Vergleich mit den Bestattungen des Gräberfeldes von Varna selbst zeigt keine klaren Parallelen. Ebenso wie in Durankulak, findet sich eine ähnliche Schmuckausstattung bei keinem anderen Komplex. Auch wenn die Niederlegung und Anordnung der Figurinen innerhalb der Grube nahezu identisch mit derjenigen der Körperbestattungen ist, zeigt der Vergleich zwischen der Figuralplastik sowie zeitgleichen Bestattungen, dass es sich nicht um symbolische Deponierungen realer Personen handeln kann. Dies führt uns zur von Marazov vertretenen Ausgangsthese zurück, der in den Köpfen Symbolisierungen göttlicher Wesen sehen möchte. Aller-

259 dings widerspricht er der Deutung als Inkarnation der Mutter- oder Fruchtbarkeitsgöttin (Marazov 1988, 75–76). Vielmehr steht für Marazov die Verbindung der Köpfe mit dem Handwerk des Töpfers (tönerne Ge- sichter selbst) – oder eher noch der Töpferin – sowie dem des Schmieds durch die applizierten, kunstvoll gearbeiteten Goldartefakte, im Vorder- grund. Er verbindet die Komplexe 2, 3 und 15 mit den benachbarten Komplexen 16, 4 und 5, in denen er symbolische Bestattungen göttlicher Metallhandwerker sieht. In diesem Teil des Gräberfeldes fand demnach eine Vereinigung göttlicher Handwerkerfiguren – Schmied und Töpferin – statt. Ihre Niederlegung im Gräberfeld diente der Sakralisierung des Be- stattungsplatzes. Somit haben wir es nach Marazov zwar ebenfalls mit Göttinnendarstellungen zu tun, er liefert uns jedoch zugleich die Begrün- dung für ihre Bestattung im Gräberfeld: Die Sakralisierung und gleich- zeitige Vereinnahmung des Areals. Die Deponierung der Varna-Köpfe würde bei dieser Interpretation am Anfang der Gräberfeldbelegung stehen. Neuere statistische Untersuchungen an der Universität Tübingen ver- weisen viel eher auf eine späte Deponierung der Gesichtsdarstellungen am Ende der Belegungszeit.7 Wie bereits festgestellt wurde, haben wir es weder in der Figuralplastik noch bei den Varna-Funden mit Portraits von Personen zu tun. Damit ist auch eine symbolische Bestattung ausgeschlossen. Bleibt die Idee, dass die Köpfe göttliche Wesen darstellen. Diese Interpretation wird durch die Figuralplastik zum Teil bestärkt. Als ein Hinweis auf eine übernatürliche Funktion kann die Verdoppelung von Körperteilen gesehen werden. Sie deuten auf potenzierte Fähigkeiten hin, die weit über das natürliche hin- ausgehen (vertiefend hierzu Krauß/Slav²ev 2012, 248–250). Im südost-

6 An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Komplex 1 mit- nichten um einen eigenständigen Grabkomplex oder Kenotaphen handelt. Unter Komplex 1 werden alle diejenigen Funde geführt, welche 1972 zur zufälligen Ent- deckung des Gräberfeldes geführt haben. Bei Baggerarbeiten an einem Kanal traten mehrere Gold-, Feuerstein- und Kupferartefakte auf. Weitere Funde konnten beim anschließenden Sieben und Durchsuchen des umliegenden Sediments in einem Um- kreis von ca. 50 m gemacht werden. Unter diesen gesammelten Artefakten fanden sich auch vereinzelte Menschenknochen. Dies lässt darauf schließen, dass Komplex 1 vermutlich mehr als eine Bestattung – darunter möglicherweise auch Kenotaphe – umfasst (siehe Ivanov et al. in Vorbereitung; Krauß/Leusch/Zäuner in BJ 2012). 7 Die statistische Auswertung der chronologischen Belegung des Gräberfeldes wird von einer Arbeitsgruppe um Raiko Krauß vorgenommen. Ich möchte mich bei den Beteiligten herzlich für die Informationen bedanken. Nähere Ausführungen zu den laufenden Arbeiten finden sich auf der Webseite des Instituts: (letzter Zugriff: 07.12. 2014).

260 europäischen Chalkolithikum finden sich Figuren, die neben der Ver- vielfältigung von Körperteilen auch die ikonographischen Elemente der Varna-Köpfe tragen. So ist beispielsweise bei einem figuralen Gefäß aus Sultana das Augenpaar verdoppelt. Gleiches findet sich bei einer Statuette aus G©barevo (Hansen 2007, Taf. 359). Zusätzlich ist bei dieser Figur noch das Schamdreieck verdoppelt, was auf eine besondere Betonung ihrer Weiblichkeit deutet. Auch die Verdoppelung des ganzen Kopfes, wie z. B. bei einer Statuette aus Stara Zagora (Fol/Lichardus 1988, Kat. Nr. 81, Abb. 3) oder dem Fragment aus C©scioarele (Hansen 2007, Taf. 414.2) sind belegt. Damit wird deutlich, dass die Gesichtsdarstellungen aus Varna durchaus in einem rituellen Kontext betrachtet werden können. Für die Interpretation als Abbild der ‘Muttergöttin’ oder als Symbolisierung eines Fruchtbarkeitskultes, bieten die bisherigen Vergleiche und Überlegungen jedoch keine Hinweise.

Schlussfolgerung

Die Auswertung und der Vergleich von insgesamt 370 Figurinen, Gefäßen, Gefäßträgern sowie anthropomorphen Deckeln mit dem Gesichtsschmuck der Varna-Köpfe zeigt eine klare Präferenz von eindeutig weiblichen Dar- stellungen. Bei 118 Figurinen, die durch die Angabe des Schamdreiecks eindeutig weiblich sind, fanden sich Lippenpflöcke, bzw. Grübchen zur Aufnahme von Lippenpflöcken. Zusätzlich wiesen viele figürliche Darstel- lungen mit Schamdreieck auch mehrfache Durchbohrungen an den Ohren auf, was der Aufnahme von Ohrringen diente. Männliche Figurinen mit Lippenpflöcken sind nicht bekannt. Die wenigen bekannten männlichen Beispiele haben meist auch nur ein einzelnes Ohrloch je Seite. Dies liegt mit Sicherheit auch daran, dass eindeutig männliche Darstellungen in der ge- samten Prähistorie die Ausnahme darstellen. Auch wenn das Vorhanden- sein von Lippenpflöcken kein sicherer Beweis für eine weibliche Dar- stellung ist, zeigen sowohl die Bestattungen wie auch die Kleinplastik, dass Lippenpflöcke wenn dann nur an Frauen gefunden wurden und nie an Männern, bzw. eindeutig männlich gekennzeichneten Figurinen. Dagegen liegen allerdings auch zahlreiche Beispiele vor, bei denen weiblichen Individuen keine Lippenpflöcke mitgegeben oder sie damit geschmückt wurden. Trotz aller Einschränkungen kann festgehalten werden, dass alle angestellten Vergleiche darauf hindeuten, dass es sich auch bei den Varna- Köpfen um weibliche Darstellungen handelt. Damit ist allerdings noch nicht die Frage geklärt, ob die Varna-Köpfe göttliche oder irdische Darstellungen sind. Diese Frage lässt sich allerdings auch kaum beantworten. Die vielfach postulierte Theorie, dass die Statu-

261 etten – und somit auch die Varna-Köpfe – Abbilder der ‚Großen Göttin‘ seien, lässt sich kaum anhand von materiellen Überresten bestätigen oder widerlegen. Fest steht, dass sich die Reduzierung der figürlichen Klein- plastik auf einen einzigen Aspekt, den einer etwaigen Göttlichkeit, nicht mit der Vielfalt der Darstellungsweisen in Einklang bringen lässt. Archäo- logische Hinweise auf eine kultische Funktion der Figurinen im All- gemeinen liegen bisher nicht aus der südosteuropäischen Kupferzeit vor. Schriftliche Hinterlassenschaften sind aus dieser Zeit ebenfalls nicht be- kannt. Somit können anhand der bekannten Funde keine direkten Hin- weise auf die Religion der kupferzeitlichen Gesellschaft aufgezeigt werden. Ob die Figurinen selbst tatsächlich Abbilder von Göttern – oder gar der Hauptgöttin der Kupferzeit – darstellen, ist eine Frage der Interpretation, die nicht anhand empirischer Daten untermauert werden kann. Ähnlich verhält es sich bei den tönernen Köpfen aus Varna I. Sie zeigen keine direkten Hinweise auf eine göttliche Darstellung. Ebenso wenig kann die postulierte Weiblichkeit anhand von Köpfen mit Sicherheit benannt werden. Allerdings ist die Vergleichsbasis bei der Frage nach dem vermut- lichen Geschlecht der Varna-Köpfe um ein Vielfaches höher als die Hin- weise auf eine etwaige Göttlichkeit. Eine eindeutige Zuordnung der Köpfe zu einem bestimmten Geschlecht wäre nur durch den zugehörigen Körper, zu einer göttlichen Darstellung nur durch eine eindeutige Bezeichnung der Köpfe als Abbild eines Gottes möglich. Beides ist im Fall von Varna nicht gegeben. Der Körper der Köpfe ist vergangen, falls er überhaupt jemals existiert hat oder mit ins Grab gegeben wurde. Eine genaue Bezeichnung eines Gottes ist uns erst ab historischer Zeit überliefert und wird sich für die Frühgeschichte auch kaum jemals sicher nachweisen lassen. Damit müssen wir uns mit Tendenzen oder Vermutungen begnügen, die aller- dings anhand der genauen Untersuchung von Fundkontext und archäo- logischen Vergleichen eingegrenzt werden können

Literatur

Biehl 2003 P. F. Biehl, Studien zum Symbolgut des Neolithikums und der Kupferzeit in Südosteuropa. Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 64 (Bonn 2003).

Chapman 1996 J. Chapman, Enchainment, Commodification, and Gender in the Balkan Copper Age. Journal of European Archaeology 4, 1996, 203–242.

262 Chapman 2000 J. Chapman, Fragmentation in Archaeology. People, Places and Broken Objects in the Prehistory of South-Eastern Europe (London 2000).

Dumitrescu 1964 V. Dumitrescu, Figurines from Gumelniôa. Antiquity 38, 1964, 221–222.

Dumitrescu 1966 V. Dumitrescu, Gumelniôa. Sondajul stratigrafic din 1960. Studii ói Cercet©ri de Istorie veche ói Arheologie 17, 1966, 51–99.

Dumitrescu 1968 V. Dumitrescu, Arta neolitic© în România (Bukarest 1968).

Dumitrescu 1972 V. Dumitrescu, L’arte preistorica in Romania fino all’inizio dell’età del ferro (Florenz 1972).

Fol/Lichardus 1988 A. Fol/J. Lichardus, Macht, Herrschaft und Gold. Das Gräberfeld von Varna (Bulgarien) und die Anfänge einer neuen europäischen Zivilisation (Saarbrücken 1988).

Hansen 2006 S. Hansen, Kleine Körper, große Ideen – Statuetten aus der kupferzeitlichen Tellsiedlung M©gura Gorgana bei Pietrele an der Unteren Donau. In: N. Tasi°/C. Grozdanov, Homage to Milutin Garašanin. SASA Special Editions (Belgrad 2006) 433–447.

Hansen 2007 S. Hansen, Bilder vom Menschen der Steinzeit. Untersuchungen zur anthropo- morphen Plastik der Jungsteinzeit und Kupferzeit in Südosteuropa. Archäologie in Eurasien 20 (Mainz 2007).

Hansen/Toderaó 2009 S. Hansen/M. Toderaó, Pietrele. Eine kupferzeitliche Siedlung an der Unteren Do- nau. In: K. Schmidt (Hrsg.), Erste Tempel – Frühe Siedlungen. 12000 Jahre Kunst und Kultur. Ausgrabungen und Forschungen zwischen Donau und Euphrat (Ol- denburg 2009) 91–116.

Ivanov 1986 I. Ivanov, Der kupferzeitliche Friedhof in Varna. In: G. Biegel (Hrsg.), Das erste Gold der Menschheit. Die älteste Zivilisation in Europa (Freiburg i. Br. 1986) 30– 42.

263 Ivanov 1988 I. Ivanov, Die Ausgrabungen des Gräberfeldes von Varna (1972-1986). In: A. Fol/J. Lichardus (Hrsg.): Macht, Herrschaft und Gold. Das Gräberfeld von Varna (Bulgarien) und die Anfänge einer neuen europäischen Zivilisation (Saarbrücken 1988) 49–66.

Ivanov 1991 I. Ivanov, Der Bestattungsritus in der chalkolithischen Nekropole von Varna (mit einem Katalog der wichtigsten Gräber). In: J. Lichardus (Hrsg.), Die Kupferzeit als historische Epoche. Symposium Saarbrücken und Otzenhausen 6.–13.11.1988. Teil 1. Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 55 (Bonn 1991) 125–149.

Ivanov et al. in Vorbereitung I. Ivanov/O. Pelevina/V. Slav²ev/J. Bojadžiev, Katalog der Befunde, Zufall- und Einzelfunde des kupferzeitlichen Gräberfeldes von Varna (in Vorbereitung).

Krauß/Leusch/Zäuner 2012 R. Krauß/V. Leusch/S. Zäuner, Zur frühen Metallurgie in Europa – Untersuchun- gen des kupferzeitlichen Gräberfeldes von Varna. Bulgarien-Jahrbuch 2012, 64–82.

Krauß/Slav²ev 2012 R. Krauß/V. Slav²ev, Wen stellen die tönernen Gesichter im Gräberfeld von Varna I dar? In: Th. Link/D. Schimmelpfennig (Hrsg.), Taphonomische Forschun- gen (nicht nur) zum Neolithikum. Fokus Jungsteinzeit – Berichte der AG Neo- lithikum 3 (Kerpen 2012) 237–256.

Lichardus 1988 J. Lichardus, Der westpontische Raum und die Anfänge der kupferzeitlichen Zivilisation. In: A. Fol/J. Lichardus (Hrsg.), Macht, Herrschaft und Gold. Das Gräberfeld von Varna (Bulgarien) und die Anfänge einer neuen europäischen Zivilisation (Saarbrücken 1988) 79–129.

Lichardus 1991 J. Lichardus, Das Gräberfeld von Varna im Rahmen des Totenrituals des Kodžadermen-Gumelniôa-Karanovo VI-Komplexes. In: J. Lichardus (Hrsg.), Die Kupferzeit als historische Epoche. Symposium Saarbrücken und Otzenhausen 6.– 13.11.1988. Teil 1. Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 55 (Bonn 1991) 167– 194.

Lichardus et al. 1996 J. Lichardus/A. Fol/L. Getov/F. Bertemes/R. Echt/R. Katin²arov/I. K. Iliev, Bericht über die bulgarisch-deutschen Ausgrabungen in Drama (1989–1995). Neolithi- kum – Kupferzeit – Bronzezeit – Eisenzeit – Römerzeit. Bericht der Römisch- Germanischen Kommission 77, 1996, 5–155.

264 Marazov 1988 I. Marazov, Tod und Mythos. Überlegungen zu Varna. In: A. Fol/J. Lichardus (Hrsg.), Macht, Herrschaft und Gold. Das Gräberfeld von Varna (Bulgarien) und die Anfänge einer neuen europäischen Zivilisation (Saarbrücken 1988) 67–78.

Marinescu-Bîlcu/Ionescu 1967 S. Marinescu-Bîlcu/B. Ionescu, Catalogul sculpturilor eneolitice din muzeul national Olteniôa (Olteniôa 1967).

Nikolov 1991 V. Nikolov, Zur Interpretation der spätäneolithischen Nekropole von Varna. In: J. Lichardus (Hrsg.), Die Kupferzeit als historische Epoche (Bonn 1991) 157–166.

Raduncheva 1976 A. Raduncheva, Prehistoric Art in Bulgaria from the Fifth to the Second Millen- nium B.C. BAR Supplementary Series 13 (Oxford 1976).

Rassamakin 2004 J. J. Rassamakin, Die nordpontische Steppe in der Kupferzeit. Gräber aus der Mitte des 5. Jts. bis Ende des 4. Jts. v. Chr. Archäologie in Eurasien 17 (Mainz 2004).

Rosetti 1938 D. V. Rosetti, Steinkupferzeitliche Plastik aus einem Wohnhügel bei Bukarest, IPEK Jahrbuch für Prähistorische und Ethnographische Kunst 12, 1938, 29–50.

Slavchev 2010 V. Slavchev, The Varna Eneolithic Cemetery in the Context of the Late Copper Age in the East Balkans. In: D. W. Anthony (Hrsg.), The Lost World of Old Europe. The Danube Valley, 5000–3500 BC (Princeton 2010) 193–210.

Todorova 1992 H. Todorova, Zur Frage der s.g. „symbolischen Bestattungen“ des kupferzeit- lichen Gräberfeldes Varna I. In: R. Samardži° (Red.), Hommage a Nikola Tasi° a l'occasion de ses soixante ans. Balcanica 23 (Belgrad 1992) 255–270.

Todorova 2002 H. Todorova, Durankulak 2. Die prähistorischen Gräberfelder (Sofia 2002).

Todorova/Vajsov 2001 H. Todorova/I. Vajsov, Der kupferzeitliche Schmuck Bulgariens. Prähistorische Bronzefunde XX, 6 (Stuttgart 2001).

Zäuner in Vorbereitung S. Zäuner, Facetten des Todes. Vom Sterben und bestattet werden in der Kupfer- zeit Bulgariens und Rumäniens. Dissertation Eberhard Karls Universität Tübingen.

265 ɼʲˏˣʺʵ 2005 ʆ. ɼʲˏˣʺʵ, ʃʺ˓ˏˆ˘ˑˆ ʾˆˏˆ˧ʲ ʈ˘ʲ˕ʲ ɶʲʶ˓˕ʲ. ɼʲ˘ʲˏ˓ʶ ˑʲ ʺˊ˖˔˓˄ˆˢˆˮ˘ʲ (Stara Zagora 2005).

ʂˆˊ˓ʵ 1926–1931 B. ʂˆˊ˓ʵ, ʈʺˏˆ˧ˑʲ ː˓ʶˆˏʲ ʵ ˖. ɫʲʴʲ˕ʺʵ˓ (ɼʲ˄ʲˑˏ˨˦ˊʲ ˓ˊ˓ˏˆˮ). ɫ˓ʹˆ˦ˑˆˊ ˑʲ ˑʲ˕˓ʹˑˆˮ ː˙˄ʺˇ 5, 1926–1931, 83–113.

ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ 1979 ʒ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ, ʝˑʺ˓ˏˆ˘ ɩ˓ˏʶʲ˕ˆˆ (Sofia 1979).

ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ 1992 ʒ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ, ɼ˨ː ˔˕˓ʴˏʺːʲ ˄ʲ ˘. ʃʲ˕. «˖ˆːʵ˓ˏˆˣˑˆ ˔˓ʶ˕ʺʴʺˑˆˮ» ˓˘ ʺˑʺ˓- ˏˆ˘ˑˆˮ ˑʺˊ˕˓˔˓ˏ ɪʲ˕ˑʲ ʧ. ɮ˓ʴ˕˙ʹʾʲ 9, 1992, 71–84.

266 Raiko Krauß

Archäologische Forschungen in Bulgarien 2013

Auch für den Laien werden archäologische Forschungen in Bulgarien immer mehr offensichtlich, denn die stadtplanerische Neugestaltung der Stadtzen- tren von Sofia und Plovdiv bindet die bei Bauarbeiten entdeckten Ruinen in die Neugestaltung mit ein. Gute Beispiele für die Integration archäo- logischer Befunde in Neubauten bieten etwa die zentrale Sofioter U-Bahn- Station „Serdica“ und die erneuerte Fußgängerpassage entlang der Rajko Daskalov Straße in Plovdiv. Auch spielt die Archäologie des Landes eine prominente Rolle bei der Außendarstellung Bulgariens. So setzen touristi- sche Reiseführer einen klaren Akzent auf die reiche Landesgeschichte mit den im internationalen Maßstab herausragenden archäologischen Fundplät- zen und spektakulären Funden in den bulgarischen Museen. Die archäologi- schen Ausstellungen setzen jedoch fast immer auf Altbewährtes, wie etwa die reichen Edelmetallfunde und die wichtigsten Orte der bulgarischen Geschichte (Pliska, Preslav, Veliko T©rnovo) und neuere, durchaus auch spektakuläre Funde werden kaum von einer breiteren Öffentlichkeit wahr- genommen. Versuche zur Präsentation auch der aktuellen Ergebnisse sind allenfalls in Ansätzen zu erkennen. So präsentiert das Archäologische Mu- seum im Sofioter Stadtzentrum in einer kleinen Sonderausstellung im Ober- geschoss seit einigen Jahren regelmäßig einige der besonders interessanten Neufunde aus dem Vorjahr und archäologische Funde schaffen es immer wieder auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Hauptnachrichten im Fernsehen, solange sie sich nur mit einer spektakulären Geschichte verbin- den lassen. Beispiele dafür sind die vermeintlichen Reliquien von Johannes dem Täufer von der Insel Sveti Ivan vor Sozopol oder die wissenschaftlich nicht belegbare Verbindung eines thrakischen Kultes für Dionysos oder Orpheus mit dem Felsplateau von Perperikon in den östlichen Rhodopen. Wirkliche Sensationen, wie etwa die Funde von menschlichen Skelettresten aus der Zeit von 39.000 bis 25.000 Jahren vor heute aus der Redaka II-Höhle in Nordwestbulgarien (ɫ˙ʲʹʺˏˆ et al. 2014) und die Neudatierung der Be- stattungen von Varna, die damit zweifellos die ältesten Metallfunde der Welt bergen (vgl. Bulgarien-Jahrbuch 2012, 64–82) und der Nachweis eines quasi industriellen Salzabbaues beim Tell von Provadija bereits im 5. Jahr- tausend v. Chr. (ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ 2008) oder der Nachweis von steinernen Befesti- gungsmauern an einer ganzen Reihe von Tellsiedlungen aus dem gleichen Zeithorizont (Boyadžiev 2004; ʈˏʲʵˣʺʵ 2014) fallen dabei fast nicht mehr auf.

267 Die archäologischen Grabungen entlang von linearen Bauprojekten hat- ten in Bulgarien im Jahr 2013 nicht mehr die Ausmaße der vergangenen Jahre (vgl. Bulgarien Jahrbuch 2012, 180). Größere Prospektionen fanden nur noch entlang der geplanten Autobahnstrecken „Struma“ zwischen Dup- nica und Blagoevgrad (ɼ˙ˏ˓ʵ 2014) und „Hemus“ durch Nordbulgarien (ɸʵʲˑ˓ʵ et al. 2014; ɧˏʲʹʾ˓ʵ/ʈ˘˓ˇˣʺʵ 2014) sowie entlang der Eisenbahn- strecke von Plovdiv über Harmanli nach Svilengrad (ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ et al. 2014; ɮˆˑˣʺʵ 2014; ʃʺˠ˕ˆ˄˓ʵ 2014) statt. Nachdem dort in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche neue Fundplätze erfasst wurden, konnten nun an ausgewählten Siedlungen größere Flächen auch außerhalb der eigentlichen Streckenführung freigelegt werden. Darunter ein größerer frühneolithi- scher Siedlungsplatz bei der Ortschaft Nova Nadežda im Kreis Haskovo (ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ et al. 2014). Ganz ungewöhnliche und spektakuläre Funde er- brachten die baubegleitenden Untersuchungen an der Erweiterung des Grenzüberganges Kapitan Andreevo zur Türkei (ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ et al. 2014). Aus Gruben einer spätneolithischen Siedlung konnten eine Reihe von plastisch modellierten und mit feinen Ritzlinien verzierten Gefäßmündungen in Form von menschlichen Köpfen geborgen werden. Diese Gefäßköpfe waren in allen Fällen mit mehreren gezielten Schlägen sehr sauber von ihren Kör- pern abgeschlagen und anschließend sorgfältig in den Gruben deponiert worden. Ganz außergewöhnlich ist die Figur eines Stieres, auf der sich der Unterkörper eines Reiters erhalten hat (Abb. 1). Dabei dürfte es sich auch im globalen Maßstab um die älteste bekannte Darstellung einer reitenden Person handeln. Im Zusammenhang mit den Arbeiten entlang der geplan- ten „Southstream“-Trasse wurde schließlich auch der Küstenbereich süd- lich von Varna sondiert, wo die Erdgasleitung zukünftig an Land stoßen soll (ɧˑʶʺˏ˓ʵʲ/ɮ˕ʲʶʲˑ˓ʵ/ʆ˕ʲˠ˓ʵ 2014). Die beginnenden archäologischen Untersuchungen in diesem Bereich versprechen weiterführende Aussagen zum Siedlungsumfeld des wegen seines Reichtums an Gold- und Kupfer- gegenständen bekannten Gräberfeldes von Varna (vgl. Bulgarien Jahrbuch 2012, 64–82). Die unter indirekter finanzieller oder direkter, auch personeller Betei- ligung von deutscher Seite durchgeführten Untersuchungen in Bulgarien betrafen im Jahr 2013 die Untersuchungen in altsteinzeitlichen Höhlen in Nordwestbulgarien, ein neues Forschungsprojekt zur spätbronzezeitlichen Besiedlung in Südwestbulgarien, die nunmehr abgeschlossenen Unter- suchungen zum Goldbergbau am Ada Tepe und die ebenfalls neu auf- genommenen Geländebegehungen zum prähistorischen Kupferbergbau am Medni Rid an der südlichen bulgarischen Schwarzmeerküste.

268

Abb. 1. Spätneolithische Darstellung eines Reiters aus Kapitan Andreevo. Höhe der Figur ca. 12cm.

Die unter indirekter finanzieller oder direkter, auch personeller Beteiligung von deutscher Seite durchgeführten Untersuchungen in Bulgarien betrafen im Jahr 2013 die Untersuchungen in altsteinzeitlichen Höhlen in Nordwest- bulgarien, ein neues Forschungsprojekt zur spätbronzezeitlichen Besied- lung in Südwestbulgarien, die nunmehr abgeschlossenen Untersuchungen zum Goldbergbau am Ada Tepe und die ebenfalls neu aufgenommenen Geländebegehungen zum prähistorischen Kupferbergbau am Medni Rid an der südlichen bulgarischen Schwarzmeerküste.

Untersuchungen in paläolithischen Höhlen Nordwestbulgariens

Seit bereits mehreren Jahrzehnten werden fortlaufende Untersuchungen zur frühen menschlichen Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Bulga- rien von einem französisch-bulgarischen Team durchgeführt. Ein aktuelles Grabungsprojekt im Jahr 2013 wurde nun zum Teil co-finanziert durch die „Leipzig School of Human Origins“, einem gemeinsamen Ausbildungs- projekt des Max Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie und der Leipziger Universität. Es betrifft die Forschungen in der Kozarnika-Höhle, einer Karsthöhle in der malerischen Felslandschaft unmittelbar nordöstlich von Belograd²ik. Die Grabungen des letzten Jahres erbrachten ein ganzes Ensemble aus durchbohrten kleinen Schneckenschalen, die als Schmuck- perlen gedient haben und einen kleinen Anhänger aus Serpentinit. Der Fund ist für das Balkangebiet aufgrund seines hohen Alters bislang einzig- artig, lässt sich aber mit ähnlichen Fundensembles aus der Zeit zwischen ca. 41.000-29.000 Jahren vor heute in Griechenland und in der südlichen Türkei vergleichen (ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014a; ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014b).

269 Ausgrabungen in Bresto

Bereits im Sommer 2012 begann ein neues Ausgrabungsprojekt auf einem erst im Jahr 2008 von Ilija Kulov bei Feldbegehungen entdeckten Sied- lungsplatz der Spätbronze- und Frühen Eisenzeit im Flußtal der Mesta zwischen Rhodopen und dem Pirin-Gebirge bei Bansko. Die Grabungen wurden im Jahr 2013 nochmals intensiviert und mit einem international besetzten Team fortgeführt. Das Grabungsprojekt auf der Anhöhe „Bresto“ bei der Ortschaft Banja findet in Kooperation des Cornell Institute of Archaeology and Material Studies (Ithaka, State of New York, USA) mit der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia, dem Museum Blagoevgrad und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg statt. Maßgeblich finan- ziert werden die Arbeiten seit 2013 durch eine Forschungsförderung des American Research Center in Sofia. Es handelt sich um einen klein- flächigen Siedlungsplatz, der sich allerdings durch seine Steinarchitektur von der übrigen Besiedlung abhebt (ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ et al. 2014). Freigelegt wurden gerade Mauern aus Bruchsteinen, die in Trockenmauertechnik aufeinandergeschichtet wurden. Unter den keramischen Siedlungsfunden finden sich für diese Region und Zeitstellung charakteristische stempel- und ritzverzierte Keramikfragmente. Die Zeitstellung des Platzes ist mit einem Datierungsrahmen von etwa 1200–700 v. Chr. noch recht grob an- gegeben. Über die zukünftigen Grabungen wird man hier sicherlich zu einer genaueren Eingrenzung der Siedlungsaktivität kommen. Von beson- derem Interesse ist auch die Frage, ob sich über das Fundmaterial von Bresto auch Kontakte nach Süden bis in die mykenische Welt nachweisen lassen.

Forschungen zum prähistorischen Goldabbau am Ada Tepe

Die deutsch-bulgarischen montanarchäologischen Forschungen am Ada Tepe (vgl. Bulgarien Jahrbuch 2009/2010, 134f; Bulgarien Jahrbuch 2011, 155 und Bulgarien Jahrbuch 2012, 181) konnten im Jahr 2013 zu einem vor- läufigen Abschluss gebracht werden. Finanziert wurden die Freilegungs- arbeiten nunmehr vollständig von der Bolkan Mineral and Mining Com- pany, die an dem Platz bis heute im Tagebau Gold abbaut. Die archäo- logischen Arbeiten betrafen die eigentliche Hügelkuppe des Ada Tepe, die hohen nördlichen und nordöstlichen Abhänge sowie die östlichen Ab- hänge (ʆ˓˔˓ʵ/ʃˆˊ˓ʵ 2014). Zu den wichtigsten Ergebnissen der Forschun- gen im Jahre 2013 gehörte der Nachweis von weiteren Siedlungsspuren der Spätbronzezeit in unmittelbarer Nachbarschaft der Hinterlassenschaften des prähistorischen Bergbaus. Von besonderer Bedeutung sind neben den

270 verschiedenen bergmännischen Arbeitsgeräten auch Funde von zerschla- genen Gussformen, welche belegen, dass das gewonnene Erz bereits vor Ort weiterverarbeitet wurde. Auch an diesem Platz sind die vermuteten Südkontakte von besonderer Bedeutung, da sie Aufschluss über die Frage geben könnten, ob das in den Zentren der mykenischen Welt im Süden verarbeitete Gold aus Thrakien stammt, wie verschiedene Forscher in der Vergangenheit vermutet haben (Hartmann 1978, 42). Mit dem Ende der Grabungsarbeiten tritt dieses bedeutende bulgarisch-deutsche Forschungs- projekt nun in die Phase der abschließenden Veröffentlichung ein, worauf man gespannt sein kann.

Untersuchungen zum Kupferabbau am Medni Rid

Im Jahr 2013 konnte ein neues Projekt zur Erforschung des prähistorischen Kupferabbaus in Kooperation des Bulgarischen Archäologischen Instituts mit dem Museum in Sofia sowie mit der Eberhard Karls Universität Tü- bingen begonnen werden. Gegenstand der Forschungen sind alte Spuren von Tagebauen im Kupfererzrevier Medni Rid, südlich von Burgas, die zum Teil bereits von dem russischen Archäometallurgen Jevgenij N. +er- nyh entdeckt worden waren. In den letzten Jahren konnte Petar Leštakov vom Institut in Sofia die bereits von +ernyh entdeckten Bergbauspuren identifizieren aber auch weitere, bislang vollkommen unbekannte Fund- plätze aufdecken (ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ 2014). Im Zusammenhang mit einem neuen, an der Universität Tübingen angesiedelten Sonderforschungsbereich (SFB) konnte zur Untersuchung dieser Region eine eigene Fallstudie innerhalb des Teilprojektes A01 „Ressourcen und die Herausbildung von Ungleich- heit. Rohstoffe und Kommunikationssysteme im prähistorischen Südost- europa” initiiert werden. Einbezogen in die Untersuchungen sind ein deutscher Post-Doktorand und mehrere Studierende aus Tübingen. Von bulgarischer Seite sind neben den Projektleitern P. Leštakov und Dr. Kalin Dimitrov ebenfalls Studierende aus Sofia beteiligt. Die Untersuchungen versprechen Aussagen zur Versorgung der kupferzeitlichen Siedlungen mit dem Rohmaterial Kupfer, das in dieser Zeit auch prominent in den Gräbern als Beigaben in Form von Waffen, Werkzeugen und Schmuck- gegenständen auftritt. Eine besondere Herausforderung stellt allerdings die Datierung der Bergbauspuren dar, denn vor dem bis in die sozia- listische Zeit vollzogenen industriellen, untertägigen Bergbau muss mit intensiven Bergbauaktivitäten bereits ab der Zeit der Griechischen Schwarz- meerkolonien gerechnet werden. Im günstigsten Falle geben archäo- logische Funde unmittelbar an den Überresten der Tagebaue Hinweise auf die Zeit ihrer Anlage.

271 3. Bulgaristik-Kongress

Im Rahmen des 3. Internationalen Kongresses zur Bulgaristik in Sofia wurde eine eigene Sektion „Geschichte und Archäologie“ organisiert. Ein- zelne Vorträge der Untersektion „Die bulgarischen Gebiete während der Antike“ beschäftigten sich allerdings schon mit den Zeiten weit vor der Entwicklung der bulgarischen Sprache, namentlich während der thraki- schen Eisenzeit und in der Periode der klassischen Antike. Weitere Unter- sektionen beschäftigten sich mit den „Bulgarischen Gebieten während des Mittelalters“, den „Bulgarischen Gebieten und den Bulgaren vom 15.–19. Jahrhundert“ sowie mit der neueren und modernen bulgarischen Ge- schichte. Im Vergleich zu den anderen Sektionen kam bei den archäo- logischen Beiträgen allerdings der internationale Charakter der Zusam- menkunft nicht so recht zur Geltung. Bis auf ein paar wenige Beiträge von Forschern aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion in russischer Sprache wurden die überaus meisten Vorträge von Bulgaren in bulgarischer Sprache vorgetragen.

Examensarbeiten und neu erschienene Literatur

Im Jahr 2013 konnte Marion Etzel an der Eberhard Karls Universität Tü- bingen eine Magisterarbeit über die symbolischen Gräber 2, 3 und 15 des Gräberfeldes von Varna abschließen (s. Beitrag Etzel in diesem Band). Ebenfalls in diesem Jahr legte Jonas Abele an der Tübinger Universität seine Magisterarbeit über systematische Geländeprospektionen am mehr- periodigen Fundplatz Džuljunica bei Veliko T©rnovo vor (s. Beitrag Abele in diesem Band). Das dreizehner Jahr schreckte offenbar viele bulgarische Autoren, so- dass wichtige Publikationen noch mit dem Veröffentlichungsdatum 2012 und dann erst wieder mit dem dieses Jahres in den Druck gingen. In die- sem Zusammenhang muss allerdings noch einmal die Rolle der Deutsch- Bulgarischen Gesellschaft herausgestellt werden, denn im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz gehörte das Publikationsjahr 2013 zu den produktiv- sten der gesamten Vereinsgeschichte. Die Namen der in diesem Jahr von der DBG herausgegebenen Bände brauchen an dieser Stelle nicht noch ein- mal wiederholt zu werden. In Bulgarien erschienen ist dann aber doch noch in 2013 eine Einführung zu den geophysikalischen Methoden in der Archäologie von Nikola Tonkov (ʊ˓ˑˊ˓ʵ 2013). Das bereits im Jahr 2011 eingerichtete „Bulgarian e-Journal of Archaeology“ sei an dieser Stelle erst- mals erwähnt und sehr empfohlen. Diese Internetplattform bietet vor allem jungen, im Fach noch nicht gut etablierten Wissenschaftlern die Möglichkeit

272 zur schnellen und unkomplizierten Veröffentlichung ihrer Forschungs- ergebnisse. So findet man auf den Seiten des Journals einen ausführlichen Bericht mit den zur Veröffentlichung eingereichten Beiträgen von der zwei- ten archäologischen Doktorandenkonferenz, die vom 28.–29. November in Sofia durchgeführt wurde (http://be-ja.org/supplementa/3-2014/Be-JA_supp_3 _2014.pdf). Abschließend seien noch zwei zwar nicht-archäologische aber kultur- historisch Bulgarien betreffende Werke empfohlen, die im Jahr 2013 in deutscher Sprache erschienen sind. Das ist zum einen Ilija Trojanows Buch „Wo Orpheus begraben liegt“ mit eindrucksvollen Bildern des Photo- graphen Christian Muhrbeck (Trojanow/Muhrbeck 2013) und eine von Christo Kju²ukov herausgegebene Anthologie zur Folklore der Gagausen aus Bulgarien (Kju²ukov 2013).

Literatur

Boyadžiev 2004 Y. Boyadžiev, Chalcolithic Stone Architecture from Bulgaria. Archaeologia Bul- garica 8, 2004, 1–12.

Hartmann 1978 A. Hartmann, Ergebnisse der spektralanalytischen Untersuchungen äneolithischer Goldfunde aus Bulgarien. Studia Praehistorica 1–2, 1978, 27–45.

Kju²ukov 2013 Ch. S. Kju²ukov (Hrsg.), Die Folklore der Gagausen aus Bulgarien (München 2013).

Trojanow/Muhrbeck 2013 I. Trojanow/Ch. Muhrbeck, Wo Orpheus begraben liegt (München 2013).

ɧˑʶʺˏ˓ʵʲ et al. 2013 ʒ. ɧˑʶʺˏ˓ʵʲ/ɪ. ɮ˕ʲʶʲˑ˓ʵ/ʃ. ʆ˕ʲˠ˓ʵ, ʃʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˑʲ ː˓˕˖ˊˆ ʶʺ˓˘ʺˠˑˆˣʺ˖ˊˆ (GTBH) ˖˓ˑʹʲʾˆ ʵ ˔˕ˆˏʺʾʲ˧ʲ˘ʲ ʲˊʵʲ˘˓˕ˆˮ ˑʲ ː. ʆʲ˦ʲ ʹʺ˕ʺ, ˭ʾˑ˓ ˓˘ ɪʲ˕ˑʲ, ˓˖˨˧ʺ˖˘ʵʺˑˆ ʵ˨ʵ ʵ˕˨˄ˊʲ ˖ ˔˕ʺʹ˖˘˓ˮ˧˓ ˆ˄ʶ˕ʲʾʹʲˑʺ ˑʲ ʶʲ˄˓˔˕˓ʵ˓ʹ „ʟʾʺˑ ˔˓˘˓ˊ“. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 663–665.

ɧˏʲʹʾ˓ʵ/ʈ˘˓ˇˣʺʵ 2014 ɧ. ɧˏʲʹʾ˓ʵ/ʈ. ʈ˘˓ˇˣʺʵ, ɸ˄ʹˆ˕ʵʲˑˆˮ ˑʲ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴʺˊ˘ˆ ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ʲʵ˘˓ːʲʶˆ˖˘˕ʲˏʲ ʒʺː˙˖, ˙ˣʲ˖˘˨ˊ ɩʺˏ˓ˊ˓˔ˆ˘˓ʵ˓-ɼʲ˖˔ˆˣʲˑ, ɼʂ 338+500 – 342+200 ˆ ˔˨˘ʺˑ ʵ˨˄ʺˏ „ɩʺˏ˓ˊ˓˔ˆ˘˓ʵ˓“ ʵ ˄ʺːˏˆ˧ʲ˘ʲ ˑʲ ˖ʺˏʲ˘ʲ ʆʲˑʲˇ˓˘

273 ɪ˓ˏ˓ʵ˓ ˆ ɩʺˏ˓ˊ˓˔ˆ˘˓ʵ˓, ˓ʴ˧ˆˑʲ ʘ˙ːʺˑ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓- ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 602.

ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ et al. 2014 ɩ. ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ/ɸ. ɼ˙ˏ˓ʵ/ɮ. ɫ˓˕ˣˆˊ/ɪ. ɩˆˑʺʵʲ/ɮ. ɯ˘ˆʺ/ɼ. ɪʺˏˊ˓ʵ˖ˊˆ/ʃ. ɮˆːˆ- ˘˕˓ʵʲ/ʂ. ɮˆːˆ˘˕˓ʵ/ɫ. ɮʾ˙˕ˊ˓ʵ˖ˊʲ/ʈ. ɸʵʲˑ˓ʵ/ɯ. ɸˏˆʺʵʲ/ɮ. ɼ˓˔/M. ʁʺ˔ʺˊ/ɯ. ʂʲ˕ˆˑ˓ʵʲ/ʃ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ/ɮ. ʈ˘˓ʺʵ/ɳ. ʍ˄˙ˑ˓ʵ/ɹ. ʔʵʺ˘ʲˑ˓ʵ/ʑ. ʙ˓ˊˠʲːʺ˕, ʆ˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ʵ ɩ˕ʺ˖˘˓, ˄ʺːˏˆ˧ʺ ˑʲ ˖. ɩʲˑˮ, ˓ʴ˧ˆˑʲ ʇʲ˄ˏ˓ʶ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 115–118.

ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ et al. 2013 ɼ. ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ/ʃ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ/ɪ. ʆʺ˘˕˓ʵʲ/ɫ. ɼʲˢʲ˕˓ʵ/ɮ. ɸˏˆʺʵʲ/ʃ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵʲ/ʔ. ʆ˓˔˓ʵʲ/ʈ. ʊʲˑʺʵʲ/ʈ. ɪˆ˘ʺ˄˓ʵˆˣ/ɼ. ʂʲˊ˖˙ˆˑˆ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴʺˊ˘ ˔˕ˆ ˖. ʃ˓ʵʲ ʃʲʹʺʾʹʲ, ˓ʴ˧. ʒʲ˖ˊ˓ʵ˓ (˓˘ ˊː 245+280 ʹ˓ ˊː 245+420 ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ʾ˔ ˏˆˑˆˮ ʆˏ˓ʵʹˆʵ-ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ). In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 57–60.

ɫ˙ʲʹʺˏˆ et al. 2014 ɧ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ɳ.-ʁ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ʃ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ/ɸ. ɼ˕˙ː˓ʵ/ɼ. ʂˆ˘˓ʵ, ʆ˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ʆʲˏʺ˓ˏˆ˘ʲ ʵ ˔ʺ˧ʺ˕ʲ ʇʺʹʲˊʲ II, ɩʺˏ˓ʶ˕ʲʹˣˆ˦ˊ˓. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 26–29.

ɮˆˑˣʺʵ 2014 ɪ. ɮˆˑˣʺʵ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˑʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ɳʆ ˏˆˑˆˮ˘ʲ ʆˏ˓ʵʹˆʵ-ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ ʵ ˙ˣʲ˖˘˨ˊʲ ɮˆːˆ˘˕˓ʵʶ˕ʲʹ/ʒʲ˕ːʲˑˏˆ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 675–678.

ɸʵʲˑ˓ʵ et al. 2014 ʈ. ɸʵʲˑ˓ʵ/ɯ. ɪʲ˖ˆˏʺʵʲ/ʒ. ʈ˘˓ˮˑ˓ʵʲ/ʈ. ʈ˘˓ˇˣʺʵ, ʈ˔ʲ˖ˆ˘ʺˏˑ˓ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˔˕˓˙ˣʵʲˑʺ ˑʲ ˓ʴʺˊ˘ ́6, ɧʂ „ʒʺː˙˖“, ɼʂ 347+395 – ɼʂ 347+500. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 580–582.

ɼ˙ˏ˓ʵ 2014 ɸ. ɼ˙ˏ˓ʵ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˑʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ɧʂ „ʈ˘˕˙ːʲ“, ʁʅʊ 2, ʵ ˙ˣʲ˖˘˨ˊʲ ɮ˙˔ˑˆˢʲ-ɩˏʲʶ˓ʺʵʶ˕ʲʹ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 669–670.

ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ 2014 ʆ. ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ, ɸ˄ʹˆ˕ʵʲˑˆˮ ˑʲ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴʺˊ˘ˆ ʵ ʂʺʹˑˆ ˕ˆʹ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 653–655.

274 ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ 2008 ɪ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ (Hrsg.), ʆ˕ʲˆ˖˘˓˕ˆˣʺ˖ˊˆ ˖˓ˏ˓ʹ˓ʴˆʵʺˑ ˢʺˑ˘˨˕ ʆ˕˓ʵʲʹˆˮ-ʈ˓ˏˑˆ- ˢʲ˘ʲ. ʇʲ˄ˊ˓˔ˊˆ 2005–2007 ʶ (ʈ˓˟ˆˮ 2008).

ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ et al. 2014 ɪ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ/ɪ. ʆʺ˘˕˓ʵʲ/ʊ. ʒ˕ˆ˖˘˓ʵʲ/ʆ. ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ, ʆ˕ʲ- ˆ ˔˕˓˘˓ˆ˖˘˓˕ˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴ˕ʺʹʺˑ ˊ˓ː˔ˏʺˊ˖ ʵ ː. ʒʲ˙˄ʲ ˊ˕ʲˇ ɼʲ˔ˆ˘ʲˑ ɧˑʹ˕ʺʺʵ˓, ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ˖ˊ˓. ʊ˕ʲ˖ʺ ˑʲ Via Diagonalis. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 68–70.

ʃʺˠ˕ˆ˄˓ʵ 2014 ɫ. ʃʺˠ˕ˆ˄˓ʵ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˑʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˔˕ˆ ˕ʺˊ˓ˑ˖˘˕˙ˊˢˆˮ ˑʲ ɳʆ ˏˆˑˆ- ˮ˘ʲ ʒʲ˕ːʲˑˏˆ-ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ ˆ ˓ʴʺˊ˘ˆ 22 ˆ 33. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 678–679.

ʆ˓˔˓ʵ/ɼ. ʃˆˊ˓ʵ 2014 ʒ. ʆ˓˔˓ʵ/ɼ. ʃˆˊ˓ʵ, ʈ˔ʲ˖ˆ˘ʺˏˑˆ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˔˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ˄ˏʲ˘˓- ʹ˓ʴˆʵʺˑ ˕˙ʹˑˆˊ ˓˘ ɼ˨˖ˑʲ˘ʲ ɩ˕˓ˑ˄˓ʵʲ ɯ˔˓ˠʲ, ɧʹʲ ʊʺ˔ʺ, ˓ʴ˧ˆˑʲ ɼ˕˙ː˓ʵʶ˕ʲʹ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 118–121.

ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014a ʃ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ/ɳ.-ʁ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ʈ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵʲ/ʑ. ʑʺ˕ˑʲˑʹʺ˄/ʈ. ʊʲˑʺʵʲ/ɪ. ʂˆ˘ʺʵʲ/ ɧ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ɸ. ɼ˕˙ː˓ʵ/ɸ. ɮˆːˆ˘˕˓ʵʲ/ʇ. ʈ˔ʲ˖˓ʵ/ʆ. ʆ˙˦ʺʵʲ/ʆ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ/ ɶ. ʒ˙ʴʺˑ˓ʵ/ɳ. ʠˑʲˊˆʺʵʲ, ʊʺ˕ʺˑˑˆ ˔˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ˓ʴʺˊ˘ ɼ˓˄ʲ˕ˑˆˊʲ: ɼ˨˖ˑ˓- ˔ʲˏʺ˓ˏˆ˘ˑˆ ˔ʺ˧ʺ˕ˑˆ ˓ʴˆ˘ʲˏˆ˧ʲ ʵ ɩʺˏ˓ʶ˕ʲʹˣˆ˦ˊˆˮ ˊʲ˕˖˘. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014a) 23–25.

ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014b ʃ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ/ɳ.-ʁ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ʈ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵʲ/ʑ. ʑʺ˕ˑʲˑʹʺ˄/ʈ. ʊʲˑʺʵʲ/ɪ. ʂˆ˘ʺʵʲ/ɧ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ɸ. ɼ˕˙ː˓ʵ/ɸ. ɮˆːˆ˘˕˓ʵʲ/ʇ. ʈ˔ʲ˖˓ʵ/ʆ. ʆ˙˦ʺʵʲ/ʆ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ/ɶ. ʒ˙- ʴʺˑ˓ʵ/ɳ. ʠˑʲˊˆʺʵʲ, ɼ˓˄ʲ˕ˑˆˊʲ: ɼ˨˖ˑ˓˔ʲˏʺ˓ˏˆ˘ˑˆ ˔ʺ˧ʺ˕ˑˆ ˓ʴˆ˘ʲˏˆ˧ʲ ʵ ɩʺˏ˓ʶ˕ʲʹˣˆ˦ˊˆˮ ˊʲ˕˖˘. In: ʁ. ɪʲʶʲˏˆˑ˖ˊˆ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˮ 2013. ɼʲ˘ʲ- ˏ˓ʶ ˊ˨ː ˆ˄ˏ˓ʾʴʲ˘ʲ (ʈ˓˟ˆˮ 2014b) 4–5.

ʈˏʲʵˣʺʵ 2014 ɪ. ʈˏʲʵˣʺʵ, ʆ˕˓˙ˣʵʲˑʺ ˑʲ ˠʲˏˊ˓ˏˆ˘ˑ˓ ˖ʺˏˆ˧ʺ ʵ ː. ɼ˓˕ˆˮ˘ʲ ˊ˕ʲˇ ʶ˕. ʈ˙- ʵ˓˕˓ʵ˓, ˓ʴˏʲ˖˘ ɪʲ˕ˑʲ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 76–79.

ʊ˓ˑˊ˓ʵ 2013 ʃ. ʊ˓ˑˊ˓ʵ, ɫʺ˓˟ˆ˄ˆˣˑˆ ːʺ˘˓ʹˆ ʵ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˮ˘ʲ (ʈ˓˟ˆˮ 2013).

275

Personalia und Aktuelles

Dietmar Endler

Norbert Randow zum Gedächtnis

Am 1. Oktober 2013 verstarb in Berlin der Slavist Norbert Randow, einer der besten Kenner und bedeutendsten Vermittler bulgarischer Literatur im deutschen Sprachraum. Norbert Randow wurde am 27. November 1929 in Strelitz-Alt geboren. Er studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Slavistik und absol- vierte einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Bulgarien. Als wissen- schaftlicher Assistent am Slavischen Institut der Humboldt-Universität galt eine seiner ersten Forschungsarbeiten – programmatisch für das eigene spätere Wirken – dem Slavenfreund Georg Adam (1874–1948), dem ersten wichtigen Mittler slavischer Literaturen und besonders der bulgarischen Literatur in Deutschland. Problemen der Rezeption sind auch spätere wis- senschaftliche Untersuchungen gewidmet. Im Jahre 1962 wurde Randow wegen „Beihilfe zur Republikflucht“ für drei Jahre inhaftiert. Seit Mitte der 1970er Jahre weilte er fast jährlich zu Studienaufenthalten in Bulgarien, die ihm die Bulgarische Akademie der Wissenschaften ermöglichte. 1993 wurde er als Gastprofessor an die Humboldt-Universität berufen. Den Goetheschen Begriff der Weltliteratur als Aufforderung an die Übersetzer begreifend, ließ sich der Herausgeber und Übersetzer Randow von dem Bestreben leiten, dem deutschsprachigen Leser alles Gute aus der bulgarischen Literatur zu erschließen. Er brachte mehr als 20 bulgarische Titel heraus, zugleich regte er zu Übersetzungen an, stand im Gedanken- austausch mit anderen „Brückenbauern“ seiner Generation, mit Hartmuth Herboth und Egon Hartmann, denen er in seiner Dankesrede anlässlich der Auszeichnung mit dem Leipziger Buchpreis 2001 gedachte. Die von Randow aus dem Altbulgarischen übertragenen und 1972 edier- ten Pannonischen Legenden, die auf das 10. Jahrhundert zurückgehen, sowie die für Bulgarien kulturhistorisch wegweisenden Werke Slawobulgarische Geschichte (dt. 1984) von Paissi von Chilendar aus dem 18. Jahrhundert und Leben und Leiden des sündigen Sofroni von Wraza (dt. 1972) aus dem beginnen- den 19. Jahrhundert, beeindrucken mit einer beispielhaft sorgfältigen Über- setzung sowie mit fundierten und auch sprachlich exzellenten wissenschaf- tlichen Nachworten und Kommentaren. Norbert Randow ist die sprach- liche Gestaltung der deutschen Ausgabe des Romans Unter dem Joch (1957) zu danken, zu dessen zweiter Ausgabe 1967 er zudem ein Nachwort bei- trug. Zum Bleibenden gehört die deutschsprachige Ausgabe der Fragmente

279 von Atanas Daltschew, der Gedichte von Pejo Jaworow. Norbert Randow verdanken wir gediegene Anthologien, die Eckpfeiler in der Rezeptions- geschichte bilden – Bulgarische Erzähler (1961), Bulgarische Erzählungen des 20. Jahrhunderts (1996) und Eurydike singt. Neue Bulgarische Lyrik (1999). Nicht zu vergessen ist der Spruchbeutel Mach dich nicht zum Gürtel fremder Hosen (1978). Neben seinen bahnbrechenden Leistungen auf dem Gebiete der bul- garischen Literatur und ihrer Erschließung für den deutschsprachigen Leser, war und bleibt überaus verdienstvoll auch Randows Wirken für die Vermittlung der weißrussischen Literatur in Deutschland, so mit der Über- setzung und Herausgabe der Anthologie Störche über den Sümpfen (1971) und Die junge Eiche (1987). Norbert Randow wurde mit mehreren hohen Auszeichnungen in Bul- garien und mit dem Bundesverdienstkreuz in Deutschland geehrt. Die „Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwi- schen Deutschland und Bulgarien“, deren Präsidiums- und Ehrenmitglied er viele Jahre war, widmete ihm anlässlich seines 80. Geburtstages den Band Kontinuität gegen Widerwärtigkeit. Gerne und dankbar erinnert sich die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft an viele anregende Begegnungen mit Norbert Randow, der wiederholt seine Forschungsergebnisse und neuen Veröffentlichungen in Berlin vorstellte.

280 Sigrun Comati

In memoriam Dr. Kiril Kostov 22. Februar 1921 – 17. September 2013

Kiril Kostov wurde am 22. Februar 1921 in Sofia geboren. Bereits während seiner Schulzeit wurde sein Interesse am Erlernen von Fremdsprachen geweckt, wobei ihm seine außergewöhnliche Sprachbegabung von großem Nutzen war. In seiner Schulzeit am Gymnasium in Sofia reifte sein Ent- schluss, sich dem Studium der Sprachen zu widmen. Ihn faszinierten Sprachen, und zwar in all ihren Facetten, nicht nur die Literatursprache, sondern er betrachtete alle Dialekte und regionalen Besonderheiten einer Sprache, ihre Berufs- und Geheimsprachen mit der gleichen Akribie. Er studierte Klassische und Deutsche Philologie an der Universität „Sv. Kli- ment Ohridski“ in Sofia. Dabei erwarb er fundierte Kenntnisse auf dem Gebiet der lateinischen, altbulgarischen, altgriechischen, neugriechischen, und selbstverständlich der deutschen Sprache, und widmete sich auch intensiv der Erforschung von bulgarischen Dialekten und dem Studium der Balkansprachen. Er besuchte die Vorlesungen der bekannten bulgari- schen Geisteswissenschaftler M. Arnaudov, V. Georgiev, D. De²ev und St. Mladenov. Während des Studiums hatte er im Jahr 1943 die Möglichkeit, für ein Semester die ungarische Sprache in Budapest zu erlernen. Im Jahr 1946 schloss er sein Studium in Sofia ab. Seine berufliche Tätigkeit begann 1946 in der Nationalbibliothek „Sv.sv. Kiril i Metodij“ in Sofia, wo er bis 1953 als Bibliothekar tätig war. Während dieser Zeit hatte Kiril Kostov unter anderem die Möglichkeit, alte Handschriften und Schriftdenkmäler der Balkansprachen zu sichten und darüber erste wissenschaftliche Mit- teilungen zu verfassen.1 Danach schlug Kiril Kostov die wissenschaftliche Laufbahn als Sprach- wissenschaftler ein. Im Jahre 1953 nahm er seine Arbeit am Institut für bul- garische Sprache an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften auf. Dort begann er als Dialektologe an der Sektion für bulgarische Dialekto- logie unter der Leitung von Professor Stojko Stojkov (1912 – 1969), dessen erster und engster Mitarbeiter er wurde. Ab 1960 wirkte Kostov in der Sektion für indoeuropäische und Balkan- sprachen an diesem Institut. Von dieser Zeit an beschäftigte er sich ein-

1 Die Verfasserin dankt der Ehefrau Kiril Kostovs, Frau Marta Kostov, für die freund- liche Unterstützung bei den Recherchearbeiten und Nachfragen zu diesem Beitrag.

281 gehend mit Berufs- und Geheimsprachen im Bulgarischen (Kostov 1961) und interessierte sich besonders für die Sprache der Roma in Bulgarien (Kostov 1962). Über die „Zigeunersprache“ gab es in Bulgarien bis dahin noch keine umfassende wissenschaftliche Betrachtung. Es waren nur einige Erwähnungen dieser Sprache(n) in der wissenschaftlichen Literatur vor- handen. Doch seine Publikationen zu diesem Thema brachten Licht in dieses Gebiet. Kiril Kostov war ein Sprachwissenschaftler, den die Sprache als Gesamterscheinung interessierte. Seine humanistische Bildung, auf der er seine Studien aufbauen konnte, und sein hohes Interesse an allen Sprachen und Dialekten, die in Bulgarien von den verschiedenen Be- völkerungsgruppen gesprochen wurden und werden, von den kleinsten, akribisch untersuchten Lautverschiebungen in Dialekten bis hin zu den größeren Resultaten dieser Prozesse, die sich sprachgeschichtlich beson- ders im Analytismus des Bulgarischen niederschlugen, all das waren seine Interessengebiete, diejenigen Felder, auf denen er beispielgebend tätig war. Er war ein Geisteswissenschaftler, der für eine ganzheitliche Betrachtung der Sprachen eintrat. Durch seine Kenntnisse der deutschen Sprache und Literatur eröffneten sich ihm Möglichkeiten, seine Forschungsergebnisse über die Balkansprachen hinaus auch deutschen Wissenschaftlern vorzu- stellen und vor allen Dingen, mit ihnen in regen Austausch zu treten und eine intensive Zusammenarbeit zu beginnen, wie zahlreiche seiner Publi- kationen belegen. Seine Dissertation über die Grammatik der Zigeunersprache Bulgariens verteidigte er im Jahre 1963 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Diese Arbeit beleuchtet sowohl die Phonetik, als auch die Morphologie dieser Sprache und gilt bis heute als wichtiges Nachschlagewerk für die Sprache der bulgarischen Roma. Allein zu diesem Thema verfasste Kostov fünfzehn Beiträge, die in sprachwissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen sind. Eine hervorzuhebende Publikation auf diesem Gebiet ist das 2004 er- schienene Werk ʇ˓ː˖ˊʲ ʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ ʵ˨˄ ˓˖ˑ˓ʵʲ ˑʲ ʺ˕ˏˆˇ˖ˊˆˮ ˕˓ː˖ˊˆ ʶ˓ʵ˓˕ ʵ ʈ˓˟ˆˮ, welches er gemeinsam mit Dimit©r Iliev verfasste. Kiril Kostov vertiefte seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Balkanologie und seine Publikationen brachten dank seiner scharfsinnigen Beobach- tungsgabe viele neue, verblüffende Denkanstöße in manch festgefahrene Anschauungen der Sprachwissenschaft. Auch in der Lehre war Kiril Kostov erfolgreich tätig, so wirkte er 1965 und 1968 als Gastdozent an der Universität in Erlangen. Seine wissenschaftliche Laufbahn führte ihn ab 1969 in das Zentral- institut für Sprachwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung tätig war. Seinen For- schungsschwerpunkten zur grammatischen Struktur der Balkansprachen

282 auf den Gebieten der Morphologie und Syntax im historischen Aspekt unter Berücksichtigung regionaler Varianten der bulgarischen Sprache, konnte er weiterhin größte Aufmerksamkeit schenken. Die Liste der Publi- kationen von Kiril Kostov, der auch nach seiner Pensionierung weiter sprachwissenschaftlich tätig war und publizierte, ist eindrucksvoll, weil er wichtige linguistische Beobachtungen zum sprachlichen Analytismus zu Papier brachte. Auch die Anzahl der über sechzig von ihm verfassten Rezensionen zu wissenschaftlichen Werken wirft ein weiteres Schlaglicht auf seine Tätigkeit. Ein anderes Lebenswerk Kiril Kostovs, das in diesem Zusammenhang erwähnt werden sollte, ist die Bearbeitung und Herausgabe der Brevis Grammatica Bulgarica von Andreas Pásztory aus dem Jahre 1856 (Pásztory 2013). In seiner Zeit als Bibliothekar an der Nationalbibliothek in Sofia stieß er auf diese in lateinischer Sprache geschriebene, handschriftlich verfasste Grammatik. Dieses Werk interessierte ihn ganz besonders. Bemerkenswert ist hierbei, dass die bulgarische Sprache in lateinischer Schrift wieder- gegeben ist, und zwar so, wie Pásztory sie in den 50er Jahren des 19. Jahr- hunderts im Dialekt der Region um Plovdiv gehört und erlernt hatte. Gemeinsam mit dem kenntnisreichen Slavisten und Germanisten Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Steinke nahm Kiril Kostov die Arbeit an diesem Werk auf. Sie übersetzten die Grammatik ins Bulgarische und ins Deutsche und ver- sahen den Text mit zahlreichen Kommentaren, die dem heutigen Leser Zu- gang und Verständnis ermöglichten. Damit wurde er auch Sprachwissen- schaftlern außerhalb Bulgariens zugänglich gemacht. Die Verfasserin die- ses Beitrags konnte einen Anteil an diesem Werk leisten und dabei einen weiteren Einblick in Kiril Kostovs und Klaus Steinkes interessante For- schungsarbeit gewinnen. Dass die Herausgabe dieses Werkes als Faksimile mit Übersetzung und Kommentaren erst im Jahre 2013 in der Reihe „Bul- garischen Bibliothek begründet von Gustav Weigand“ erfolgte, lag an den vielen Unterbrechungen der gemeinsamen Arbeit, die unter anderem auch von zahlreichen technischen Schwierigkeiten begleitet war, die es zu mei- stern galt. Die Bulgarische Akademie der Wissenschaften ehrte Kiril Kostov im Jahr 2002 mit dem Orden „Marin Drinov“, der ihm aufgrund seiner außer- ordentlichen Verdienste auf dem Gebiet der bulgarischen Sprachwissen- schaft und für die Popularisierung der bulgarischen Wissenschaft im Aus- land verliehen wurde. Im Kollegenkreis war Kiril Kostov als äußerst belesener und kenntnis- reicher, dabei aber bescheidener Wissenschaftler bekannt. Seine Hilfs- bereitschaft, seine lehrreichen Konsultationen zu linguistischen Themen und seine interessante Art, Diskussionen zu beleben, bleiben der Ver-

283 fasserin in dankbarer Erinnerung. Die Mitglieder der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V., deren aktives und geschätztes Mitglied Kiril Kostov lange Jahre war, werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Literatur

Kostov 1961 K. Kostov, Deutsche Lehnwörter in der Berufssprache der bulgarischen Tischler. Zeitschrift für Slawistik 6.1, 1961, 61–68.

Kostov 1962 K. Kostov, Aus der Syntax der Zigeunersprache Bulgariens. Linguistique Balka- nique/ɩʲˏˊʲˑ˖ˊ˓ ʺ˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 4.2, 1962, 131–146.

Pásztory 2013 A. Pásztory, Brevis Grammatica Bulgarica. Herausgegeben von K. Kostov/K. Steinke mit einem Nachwort von Sigrun Comati. Bulgarische Bibliothek begründet von Gustav Weigand 19 (München 2013).

Vel²eva/Choliol²ev 2006 B. Vel²eva/Ch. Choliol²ev, Dr. Kiril Kostov – 55 Jahre im Dienste der Sprachwis- senschaft, Linguistique Balkanique/ɩʲˏˊʲˑ˖ˊ˓ ʺ˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 45.2, 2006, 195–202.

284 Sigrun Comati

Der III. Internationale Bulgaristik-Kongress vom 23. – 26. Mai 2013 in Sofia

Ein I. Internationaler Bulgaristik-Kongress fand vom 23. Mai – 06. Juni 1981 in Sofia anlässlich der groß angelegten Feierlichkeiten zum 1300-jährigen Jubiläum der Gründung des bulgarischen Staates im Jahre 681 statt. Dieser Kongress stand damals unter der Schirmherrschaft der bulgarischen Regierung und ganz besonders unter der Obhut von Ljudmila Živkova (1942–1981), der Tochter Todor Živkovs (1911–1998), dem damaligen Vor- sitzenden der Bulgarischen Kommunistischen Partei, dem auch gleichzeitig die Funktion des Staatsoberhauptes oblag. Ljudmila Živkova war Histori- kerin, ihre Arbeiten beleuchteten besonders die Thrakologie und das thra- kische Erbe auf dem Territorium Bulgariens. Sie war als Regierungs- mitglied Bulgariens für die Kulturpolitik zuständig. Ihre Bestrebungen waren darauf gerichtet, Bulgariens reiches Kulturerbe international be- kannt zu machen. Dieser Kongress fand weltweite Beachtung und wurde von der UNESCO unterstützt. Bulgarien lud zu diesem I. Internationalen Bulgaristik-Kongress nam- hafte Wissenschaftler nach Sofia ein, die Bulgarien, seine Geschichte, Kul- tur, Sprache, Literatur und seine Traditionen erforschten. In der Sofioter Universität „St. Kliment Ohridski“ fanden die Vorträge und Diskussionen statt, während das Rahmenprogramm dieses Kongresses, bis hin zum Empfang in der Regierungsresidenz im Sofioter Stadtteil Bojana, allen Teilnehmenden auf Exkursionen die Möglichkeit bot, vor allen Dingen Bulgariens Geschichte zu begegnen. Der Lehrstuhl für Bulgarische Philo- logie der Sofioter Universität trug neben der Präsentation der wissen- schaftlichen Vorträge auch sehr viel zum organisatorischen Gelingen dieses Ereignisses bei. Die Beiträge dieses Kongresses umfassten fünfund- zwanzig Bände, sie wurden vom Verlag der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben. Dass dieser Kongress für den bulgarischen Staat ein großer Erfolg war, ist unzweifelhaft. Doch mit diesem Ereignis waren natürlich auch hohe Kosten für das Gastgeberland verbunden. Fünf Jahre später, im Mai 1986, lud Bulgarien zum II. Internationalen Bulgaristik-Kongress ein, der allerdings nicht ganz so groß wie der I. Internationale Bulgaristik-Kongress angelegt war. Die Beiträge dieses Kon- gresses erschienen wiederum in Bulgarien, ein kleiner Teil davon aber auch

285 in Deutschland.1 In den Jahren nach 1986 traten große Veränderungen in Bulgariens Politik und Wirtschaft ein, die Ende 1989 in der „Wende“ gipfelten. Bulgariens demokratischer Neubeginn hinterließ auf allen Ebenen der bulgarischen Gesellschaft spürbare Veränderungen. Ein Neuanfang in Politik, Wirtschaft, Recht und Bildung erforderte Reformen, deren Durch- führung von zahlreichen Problemen begleitet war. Wirtschafts- und Finanz- krisen erschwerten sowohl dem bulgarischen Staat als auch dem bulga- rischen Bildungssystem in den Jahren nach der Wende die stringente Durchführung größerer Vorhaben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Bulgarien über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten nicht in der Lage war, zu einem weiteren Internationalen Bulgaristik-Kongress ein- zuladen.

Der III. Internationale Bulgaristik-Kongress

Umso größer war die Freude unter allen ausländischen Wissenschaftlern, die den bulgarischen Kolleginnen und Kollegen auch in den schwierigen Zeiten nach der Wende zugetan waren und die Kooperation mit ihnen nicht vernachlässigten, als im Jahr 2012 dann die Einladung zum III. Inter- nationalen Bulgaristik-Kongress in Sofia erging. Dieser Kongress stand unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der Republik Bulgarien und wurde, wie die beiden ersten Kongresse, ebenfalls von der UNESCO unterstützt. Auch der III. Internationale Bulgaristik-Kon- gress tagte wieder in den Sälen der Sofioter Universität, die 2013 außerdem ihr 125-jähriges Gründungsjubiläum feierte. Die Historische Fakultät der Sofioter Universität war mit den organisatorischen Aufgaben und der Programmgestaltung betraut, dafür sei ihr großer Dank ausgesprochen. Vom 23. – 26. Mai 2013 tagten rund 500 Wissenschaftler, unter ihnen 100 ausländische Teilnehmende, die aus 34 Staaten angereist waren und ins- gesamt 130 Universitäten oder Institutionen vertraten. Die feierliche Eröff- nung des Kongresses fand im Foyer der Sofioter Universität statt, begleitet von einer interessanten Ausstellung zur bulgarischen Geschichte und Kulturgeschichte, dargeboten von Professor Anna-Maria Totomanova und Gergina Ton²eva. In vier großen Sektionen wurden auf den Fachgebieten: I. Geschichte und Archäologie, II. Sprache, III. Literatur und IV. Gesellschaft und Kultur rund 500 Vorträge gehalten und rege diskutiert. Auch die Kulturwissenschaften, wie Ethnologie, Folklore, Kunstwissenschaften, Anthropologie und Soziologie,

1 Gesemann/Haralampieff/Schaller 1986.

286 waren facettenreich vertreten. All diese Vorträge behandelten originäre bulgaristische Themen, stellten die neuesten Forschungsergebnisse auf den genannten Gebieten dar oder präsentierten interessante vergleichende Stu- dien. Außerdem fanden sechs Rundtischgespräche zu folgenden Themen statt: Vergangenheit und Gegenwart der Bulgaristik, Wissenschaft und Bildung in Bulgarien, Die Bulgaren und die Globalisierung, Bulgarien und die UNESCO, Kyrillo-Methodiävistik, und ein Exkurs zur Digitalisierung des bulgarischen Kulturerbes, wobei besonders auf die neuen multimedialen Möglichkeiten eingegangen wurde. Natürlich ist es in dieser kurzen Schilderung nicht möglich, alle wirklich interessanten und sehenswerten Fotoausstellungen, Gemäldeausstellungen und Präsentationen zeitgenössischer bulgarischer Künstler zu nennen, die das Begleitprogramm des III. Internationalen Bulgaristik-Kongresses um eine Reihe kultureller Höhepunkte bereicherten. Erinnert sei in diesem Zu- sammenhang an die feierliche Zeremonie am 24. Mai, dem Tag des slavi- schen Schrifttums, in der Aula der Sofioter Universität, als die Kandidatur Sofias für die „Kulturhauptstadt Europas 2019“ vorgestellt wurde. Buchvorstellungen herausragender Neuerscheinungen fanden während des Kongresses täglich statt. Die Deutsch-BulgarischeGesellschaft zur För- derung der Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland e.V. hatte im Vorfeld des III. Internationalen Bulgaristik-Kongresses beschlossen, die- sem Kongress einen Band zu widmen, um dem internationalen Publikum dieses Kongresses sowohl Berichte und aktuelle Einblicke zum Forschungs- stand der Bulgaristik in Deutschland als auch Bibliographien auf diesem Gebiet zu vermitteln. Aus diesem Anlass wurde von drei Mitgliedern der Gesellschaft, Helmut Schaller, Thede Kahl und Sigrun Comati, die neue wissenschaftliche Reihe Forum: Bulgarien im Verlag Frank & Timme in Berlin gegründet (Schaller/Zlatanova 2013). Ein besonderer Dank geht an dieses Verlagshaus für die zügige Umsetzung des Vorhabens. Der erste Band dieser Reihe wurde am 23. Mai 2013 anlässlich eines Empfangs der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland zum III. Internationalen Bulga- ristik-Kongress von Sigrun Comati vorgestellt und an den Wissenschafts- referenten der Deutschen Botschaft Sofia, Herrn Jörg Schenk, überreicht. Am 25. Mai 2013 wurde dieser Band in der Aula der Sofioter Universität von Rumjana Zlatanova und Helmut Schaller vorgestellt. Die Kongresstage boten auch außerhalb der Auditorien viele Möglichkeiten für einen regen Dialog aller Teilnehmenden, der auch an den gut organisierten Abend- veranstaltungen fortgesetzt wurde. Weitere Informationen zu diesem wichtigen Ereignis für Bulgarien und die Bulgaristik stellten die Veranstalter unter http://bulgarianstudies.org/ zur Verfügung. Die Publikation der mehr als 500 Beiträge soll nicht in der

287 traditionellen Buchform erfolgen, sondern auf multimediale Weise zugäng- lich gemacht werden. Den Organisatoren und Veranstaltern gebührt ein großes Lob und natürlich der aufrichtige Dank, besonders aller ausländi- schen Teilnehmenden. Sie nehmen diesen III. Internationalen Bulgaristik- Kongress als Ansporn für ihre weiteren Studien und die Zusammenarbeit mit bulgarischen Kolleginnen und Kollegen. Das Organisationskomitee trat auf der Abschlussveranstaltung dafür ein, die internationalen Bulgaristik- Kongresse nun wieder regelmäßig stattfinden zu lassen.

Literatur

Gesemann/Haralampieff 1986 W. Gesemann/K. Haralampieff/H. Schaller, Einundzwanzig Beiträge zum II. Inter- nationalen Bulgaristik-Kongress in Sofia 1986 (Neuried 1986).

Schaller/Zlatanova 2013 H. Schaller/R. Zlatanova (Hrsg.), Deutsch-Bulgarischer Kultur- und Wissenschafts- transfer. Mit Bibliographien zur „Bulgaristik in Deutschland“ und zur „Glagolica des Slavenlehrers Konstantin-Kyrill“. Forum Bulgarien 1 (Berlin 2013).

288 Worldwide Distributor: KUBON & SAGNER Serving libraries since 1947

Verlag Otto Sagner Digital

ISBN: 978-3-86688-540-0 ISBN (eBook): 978-3-86688-541-7

Verlag Otto Sagner