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ISSN 0259-7446 € 4,40 medienmedien Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart && zeitzeit

Thema: Biographische Annäherungen Probleme und Chancen des biographischen Interviews

Deutung und Umdeutung einer Partisanen-Biographie Karl Kraus und die Presse Erich Everth – ein „einsamer“ Wissenschaftler? 11/2005/2005 Jahrgang 20 m&z 1/05 Kern/v06/3.3 18.03.2005 8:26 Uhr Seite 1

medien & zeit Impressum

Medieninhaber. Herausgeber und Verleger: Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“, A-1180 Wien, Postfach 442 http://muz.pub.univie.ac.at WAP: http://muz.pub.univie.ac.at/wap/ © Die Rechte für die Beiträge in diesem Heft liegen beim „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“ Redaktion: Gaby Falböck, Bernd Semrad Lektorat und Layout: Gaby Falböck, Bernd Semrad Redaktion Buchbesprechungen: Gaby Falböck ([email protected]) Korrespondenten: Prof. Dr. Hans Bohrmann (Dortmund), Univ.-Prof. Dr. Hermann Haarmann (), Univ.-Prof. Dr. Ed Mc Luskie (Boise, Idaho), Univ.-Prof. Dr. Arnulf Kutsch (), Dr. Markus Behmer (München), Prof. Dr. Rudolf Stöber (Bamberg) Inhalt Druck: Buch- und Offsetdruckerei Fischer, Probleme und Chancen des 1010 Wien, Dominikanerbastei 10 Erscheinungsweise: biographischen Leitfaden-Interviews Medien & Zeit erscheint vierteljährlich Ein Erfahrungsbericht 4 Bezugsbedingungen: Maria Löblich Einzelheft (exkl. Versand): € 4,40 Doppelheft (exkl. Versand): € 8,80 Jahresabonnement: Sepp Plieseis Österreich (inkl. Versand): € 16,— Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): € 21,80 Deutung und Umdeutung einer StudentInnenjahresabonnement: Partisanen-Biographie 11 Österreich (inkl. Versand): € 11,60 € Klaus Kienesberger Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): 17,40 Bestellung an: Medien & Zeit, A-1180 Wien, Postfach 442 Ich gegen Babylon: oder über den gut sortierten Buch- und Zeitschriftenhandel ISSN 0259-7446 Karl Kraus und die Presse 29 Simon Ganahl Offenlegung nach § 25 Mediengesetz: Grundlegende Richtung: Ein „einsamer“ Wissenschaftler? Medien & Zeit ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für Erich Everth und das Leipziger Institut historische Kommunikationsforschung. Sie will Forum für eine kritische und interdisziplinär ausgerichtete Auseinandersetzung über für Zeitungskunde zwischen 1926 und 1933. Methoden und Probleme der Kommunikationsgeschichte sein. Ein Beitrag zur Bedeutung des Medieninhaber. Herausgeber und Verleger: Biographischen für die Geschichte Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung der Zeitungswissenschaft 38 (AHK)“, A-1180 Wien, Postfach 442 Erik Koenen Vorstand des AHK: Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Duchkowitsch (Obmann) a.o. Univ.-Prof. Dr. Fritz Hausjell (Obmann-Stv.) Mag. Fritz Randl (Geschäftsführer) Rezensionen 51 Mag. Bernd Semrad (Geschäftsführer-Stv.) Mag. Claudia Spitznagel (Schriftführerin) Christian Schwarzenegger (Schriftführer-Stv.) Mag. Wolfgang Monschein (Kassier) Marion Linger (Kassier-Stv.) m&z 1/05 Kern/v06/3.3 18.03.2005 8:26 Uhr Seite 2

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Editorial

medien & zeit eröffnet den Jubiläums-Jahrgang seis zu einem kommunikationsgeschichtlichen mit einem Heft, das einem besonders in der Kom- Beispielfall. munikationsgeschichte zentralen Thema gewid- met ist: Biographien. Das Erschließen von Persön- Der Sprachzündler Karl Kraus und dessen lichkeiten und deren Schaffen steht im Zentrum Lebenswerk standen bereits im Brennpunkt vieler zahlreicher Studien und Forschungsarbeiten. Die literaturwissenschaftlicher, germanistischer und oft tradierte Fokussierung auf „große Journalis- kommunikationshistorischer Studien. In diesem ten“ und „publizistische Persönlichkeiten“ stellt Heft betrachtet Simon Ganahl in einer Zusam- jedoch in dieser Ausgabe von medien & zeit keinen menschau der wichtigsten Erkenntnisse seiner Leitgedanken dar. Vielmehr sollen Forschungen Abschlussarbeit die Person und das Werk des etwas abseits des Mainstreams vorgestellt werden. Wortakrobaten aus einer innovativen, transdiszi- plinären Perspektive. Ganahl trägt (gewonnen aus Den Auftakt der lebensgeschichtlichen Annähe- einer umfangreichen Sprach- und Inhaltsanalyse) rungen macht Maria Löblich: Die wissenschaftli- die Fragmente einer Presse- und Sprachkritik bei che Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians- Kraus zusammen, versucht diese zu kanonisieren Universität München stellte einen Fachvertreter in und stellt sie in den (lebensgeschichtlichen) den Mittelpunkt ihrer Diplomarbeit: Otto B. Zusammenhang des weltberühmten Wieners im Roegele. Anhand ihrer Erfahrungen mit dem Widerstreit von Moderne und Postmoderne. früheren Münchner Institutschef berichtet Löb- lich über Probleme und Vorteile im Umgang mit Schließlich geht Erik Koenen auf Methoden und lebensgeschichtlichen Interviews. Sie identifiziert Methodenprobleme bei der Annäherung an die hemmende als auch förderliche Faktoren für den Fachgeschichte über deren Schlüsselfiguren ein. Erkenntnisgewinn aus dieser Methode und mahnt Das Erfassen der Sozialgestalt einer akademischen zur permanenten Selbstreflexion bei Vorbereitung Disziplin über eine wissenschaftliche Persönlich- und Durchführung derartiger Gespräche. keit sowie deren Ideengestalt über Werk und Wirken eines wegbereitenden Zeitungswissen- Klaus Kienesberger stellt eine weder wissenschaft- schafters stehen im Zentrum des zugleich als Dis- liche noch journalistische Persönlichkeit in das sertationsprojekt bearbeiteten Themas an der Licht kommunikationshistorischer Forschung: Universität Leipzig. Erich Everth, Ordinarius des den Widerstandskämpfer Sepp Plieseis aus dem Leipziger Instituts für Zeitungskunde 1926- oberösterreichischen Salzkammergut. Dieser ver- 1933, war ein mutiger Mahner an der Schwelle arbeitete seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen zum Nationalsozialismus, sollte jedoch schon auf fiktionale Art und Weise in einem Roman. bald nach der „Machtergreifung“ verstummen. Wenngleich Lebens- und Werkanalyse nicht per Koenen verdichtet anhand seines Beitrags die se in unserem Fach angesiedelt sind, beginnt die Bedeutung des Biographischen für die Geschich- kommunikationshistorisch relevante Komponen- te der Zeitungswissenschaft. te dieser Biographie nach dem Tod Plieseis´: 1971, als die DDR seine Biographie und seinen Mit den besten Wünschen für eine erhellende Roman in die Ahnenreihe eines „antifaschisti- Lektüre begrüßen wir Sie im 20. Jahrgang von schen Helden“ einzureihen versucht. Da dies nur medien & zeit! unter teils massiven Eingriffen in die ursprüngli- che Romanvorlage geschehen konnte, wird die GABY FALBÖCK politische Instrumentalisierung der Person Plie- BERND SEMRAD

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Probleme und Chancen des biographischen Leitfaden-Interviews Ein Erfahrungsbericht Maria Löblich

iographische Forschung stützt sich häufig auf von der Wahrnehmung verbaler und non-verba- BLebenserfahrung und Lebensführung, darge- ler Äußerungen des jeweils Anderen sowie von stellt aus der Sicht des Subjekts. Ein Zugang zu der gemeinsamen Situationsdefinition beein- Lebensgeschichten ist das biographische Inter- flusst.6 Allerdings existieren im Interview spezifi- view, in dem eine Person entweder nach Ab- sche Kommunikationsregeln, von Interviewer schnitten ihres Lebens oder nach ihrem gesamten und Befragtem wird die Einhaltung bestimmter Lebenslauf befragt wird.1 Dabei besteht eine Rollen verlangt.7 Ein biographisches Interview Grundannahme darin, dass über ein relativ offen wird aber auch vom Gedächtnis beeinflusst und gestaltetes Interview die Interpretation oder von der aktuellen Lage des Befragten. Besonders Rekonstruktion des Lebensverlaufs aus subjekti- in erzählbetonten Interviewformen kommen die ver Sicht zur Geltung kommen kann.2 Eine zwei- sogenannten „Zugzwänge“ des Erzählens als te Prämisse lautet, dass der Erzählende seine Organisations- und Gestaltungsfaktor der Ant- Lebensgeschichte „identisch und authentisch“ re- worten hinzu.8 konstruiert.3 Inwiefern ist es aber überhaupt Ein weiterer Grund, sich mit Problemen im bio- möglich, mit einem Interview die Sicht „von graphischen Interview zu beschäftigen, besteht innen“4 zu erheben? darin, dass hier im Unterschied zu bereits vor- Die Annahme, dass Erinnerungen mit Erlebnis- handenen Quellen das Material erst produziert sen und Geschehnissen der Vergangenheit gleich- wird. Dies eröffnet zumindest die Möglichkeit, zusetzen sind, findet man in der heutigen Metho- vorab potentielle Schwierigkeiten zu reflektieren denliteratur ebenso wenig wie die Vorstellung, und nach Lösungen zu suchen.9 dass Erzähltexte völlig frei vom Erzähler produ- ziert werden.5 Ein Interview wird – wie andere n diesem Beitrag sollen anhand eines Erfah- soziale Situationen auch – von Erwartungen hin- Irungsberichts Probleme biographischer Inter- sichtlich der Begegnung, von bestimmten Vor- views aufgezeigt werden.10 Die Grundlage dieses stellungen der Gesprächspartner voneinander, Berichts bildet ein Interview, das ich mit Otto B.

1 Werner Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung. Eine Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: Bios. Einführung in Praxis und Methoden. Wiesbaden: Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 13. Jg. Westdeutscher Verlag 22000, S. 9. (2000), H. 1, S. 51-63, hier S. 52f. 2 Uwe Flick: Qualitative Methoden. Theorie, Methoden, 7 Asymmetrische Kommunikationskonstellationen gibt es Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. allerdings auch in alltäglichen Situationen, etwa im Reinbek: Rowohlt 31998, S. 94. Mandanten- oder Patientengespräch. 3 Vgl. kritisch dazu Steffani Engler: „In Einsamkeit und 8 Engler, „In Einsamkeit und Freiheit“?, S. 34f. Freiheit“? Zur Konstruktion der wissenschaftlichen 9 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 9ff. Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur. Konstanz: UVK 10 vgl. ähnliche Berichte von Gert Dressel/Nikola Langreiter: 2001, S. 34f. Wenn „wir selbst“ zu unserem Forschungsfeld werden. In: 4 Martin Kohli: „Von uns selber schweigen wir.“ Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten. In: Wolf Social Research (Online-Journal), 4 (2), Art. 27. Verfügbar Lepenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Frankfurt: über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2- Suhrkamp 1981, Bd.1, S. 428-460, hier S. 429. 03/2-03dressellangreiter-d.htm (Zugriff: 2.2.2005). 5 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, Flick, Qualitative Erwin O. Smigel: Interviewing a Legal Elite: The Wall Methoden, Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Street Lawyer. In: The American Journal of Sociology, Vol. Band 2. Methoden und Techniken. Weinheim: Beltz 21993, 64, No. 2 (Sep., 1958), S. 159-164. Harriet Zuckerman: Jürgen Bortz/Nicola Döring: Forschungsmethoden und Interviewing an Ultra-Elite. In: The Public Opinion Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin: Quarterly. Vol. 36, No. 2 (Summer 1972), S. 159-175. Springer 32002. William H. Hunt/Wilder W. Crane/John C. Wahlke: 6 Hartmut Esser: Können Befragte lügen? Zum Konzept des Interviewing Political Elites in Cross-Cultural comparative „wahren Wertes“ im Rahmen der handlungstheoretischen Research. In: The American Journal of Sociology, Vol. 70, Erklärung von Situationseinflüssen bei der Befragung. In: No. 1 (Jul., 1964), S. 59-68. Lewis Anthony Dexter: Elite Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 38. and Spezialized Interviewing. Evanston: Northwestern Jg. (1986), S. 314-336. Harald Welzer: Das Interview als University Press 1970.

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Roegele (Jg. 1920) an einem Wochenende im fasst anhand der Interview-Phasen, zum anderen September 2002 geführt habe. Otto B. Roegele ist er nach Einflussfaktoren geordnet, die die ist emeritierter Professor und ehemaliger Leiter Methodenliteratur kennt. Bekannte Problembe- des Münchener Instituts für Kommunikations- reiche in (biographischen) Interviews sind das wissenschaft (Zeitungswissenschaft) sowie Mit- Gedächtnis, der Ort des Gesprächs, die Rollen- herausgeber des Rheinischen Merkur. Das Ge- verteilung in dieser spezifischen Kommunikati- spräch bildete einen Bestandteil meiner Magis- onssituation, das Interviewerverhalten und die terarbeit über das Menschenbild von Otto B. Interviewführung sowie das Antwortverhalten des Roegele.11 Ziel der Arbeit war es, das Menschen- Befragten. Diese Probleme werden jedoch, und Gesellschaftsbild aus Roegeles wissenschaftli- zumindest in der deutschsprachigen Methodenli- chem Werk hermeneutisch herauszuarbeiten und teratur, meist nur in Hinblick auf Interviews mit vor seinem biographischen Hintergrund zu „normalen“ Menschen reflektiert. Mit „schicht- erklären. Von dem Interview erhoffte ich mir spezifischen Voraussetzungen“ sind dann in erster Aufschluss über Erlebnisse, Vorbilder und Erfah- Linie Erzählbereitschaft und Artikulationsfähigkeit rungen Roegeles, auch darüber, wie er bestimmte von „Unterschichten“-Angehörigen gemeint.14 Lebenssituationen seiner Vergangenheit deutet. Ganz andere Probleme tauchen aber in Interviews Für die Schilderung der Weltanschauung schien mit Befragten aus Eliten auf, wie Politiker, Wis- zunächst ein narratives Interview geeignet zu sein, senschaftler, Rechtsanwälte oder etwa Nobel- weil es die freie Äußerung des Befragten wenig preisträger. Hier spielen Artikulationskompetenz, reglementiert. Dieser Interviewform standen Interviewerfahrung, Spezialwissen, hoher sozialer jedoch mehrere Überlegungen entgegen: Vom Status und Prestige eine wichtige Rolle und stel- Gespräch erwartete ich mir nicht nur lebensge- len andere Anforderungen an den Interviewer schichtliche Erzählungen, sondern auch die und an das Interviewer-Befragten-Verhältnis.15 Klärung von Interpretations- und Sachfragen, die Otto B. Roegele ist als emeritierter Lehrstuhlin- sich aus meiner Werkanalyse ergeben hatten. Eine haber, Publizist und Herausgeber zu dieser größere Bandbreite an Fragen erfordert allerdings Befragtengruppe zu rechnen. auch mehr Steuerung durch den Interviewer als im narrativen Interview vorgesehen. Ein weiterer 1. Vorbereitung des Interviews Grund war, dass Otto B. Roegele bereits mehrere autobiographische Texte verfasst hatte und in Kontaktaufnahme und Einstellung einer völlig freien Erzählung Wiederholungen zu zum Interviewvorhaben befürchten waren. Schließlich schien für ein zwei Der erste Schritt zur Kontaktaufnahme meiner- Tage dauerndes Gespräch eine Orientierungshilfe seits war ein Brief, in dem ich mein Vorhaben notwendig. Ein Leitfaden sollte es ermöglichen, vorstellte und die Bitte um ein Interview äußerte. Otto B. Roegele auf bestimmte, für mich rele- Nach einer Woche rief Otto B. Roegele an und vante Fragestellungen hin zu lenken und gleich- zeigte sich gegenüber einem Interview sehr aufge- zeitig solche Fragen zu formulieren, die erzähleri- schlossen. Der darauf folgende Briefwechsel und sche Antworten stimulieren.12 Telefonate dienten dem gegenseitigen Kennenler- nen und dem Aufbau eines Vertrauensverhältnis- Dieser Erfahrungsbericht stützt sich auf das Inter- ses. Letzteres ist Voraussetzung für ein biographi- viewtranskript, den Leitfaden, auf Notizen zu sches Interview, in dem nach Emotionen und Telefonaten und zum Interview, auf Korrespon- persönlichen Themen gefragt wird.16 Kooperati- denz und schließlich auch auf mein Ge-dächtnis. onsbereitschaft zeigt sich auch im Zeitopfer, das Mittlerweile liegt das Interview zwar zweieinhalb Befragte für ein Interview zu bringen bereit sind, Jahre zurück, doch ist die Erinne-rung angesichts besonders bei beruflich stark beanspruchten und dieses aus dem Studium herausragenden Erleb- hoch betagten Personen. Insofern zeugen auch nisses gut. Otto B. Roegeles Vorschlag, das Interview auf ein Dieser Beitrag ist zum einen chronologisch ver- ganzes Wochenende zu verteilen, sowie seine Ein-

11 Maria Löblich: Das Menschenbild in der Forschungsfeld werden. Kommunikationswissenschaft. Otto B. Roegele. Münster: 14 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 173, 215. LIT-Verlag 2004 (= Kommunikationsgeschichte 20). 15 Zuckerman, Interviewing an Ultra-Elite, Smigel, 12 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 171ff. Interviewing a Legal Elite, Dressel/Langreiter, Wenn „wir 13 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung; Flick, Qualitative selbst“ zu unserem Forschungsfeld werden, Dexter a.a. O. Methoden, Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 16 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 226f. Dressel/Langreiter, Wenn „wir selbst“ zu unserem

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ladung, bei ihm und seiner Frau zu übernachten, über die Entwicklung der Kommunikationswis- von Hilfsbereitschaft und Interesse. senschaft in der Zeit von Roegeles Ruf an die Am Anfang bat Otto B. Roegele um Erläuterun- Universität bis zu seiner Emeritierung. Diese Vor- gen, Literaturhinweise und um den Text der Ein- bereitung sollte verschiedene Funktionen erfül- leitung meiner Arbeit („damit Sie mir im Inter- len. Zum einen wollte ich Zugang zu mir nicht view nicht zu viel voraus haben“). Roegele ging eben vertrauten Denkweisen Roegeles (z.B. Reli- professionell an das Interviewvorhaben heran, giosität) erhalten. Zum anderen sollte die zeitli- bereitete sich vor und wollte meinen wissen- che Inanspruchnahme eines noch immer viel schaftlichen Ansatz nachvollziehen. Die Rolle des beschäftigten und hoch betagten Wissenschaftlers „Patienten“ sei ihm zwar etwas unheimlich, aber und Publizisten durch den Beweis von ernsthafter wir würden schon zusammenkommen. Wissen- Absicht und Kompetenz legitimiert werden. schaftler und Juristen sind bestrebt, in der Rolle Schließlich wollte ich vorab einen Eindruck von des Interviewten genauso erfolgreich zu sein wie seinem Antwortverhalten gewinnen und las ande- in anderen Rollen und bemühen sich, im re Interviews mit ihm. Gespräch ebenfalls auf höchstem Kompetenzni- Natürlich hatten sich viele Fragen angesammelt. veau zu agieren.17 Roegele sah sich weniger in der Das Spektrum reichte von allgemeinen bis zu Rolle des „Forschungsobjekts“, sondern viel mehr detaillierten Fragen, von Sachfragen und Fragen als wissenschaftlicher Partner oder Mentor, der zu Denkmotiven und zum Leben, bis hin zu Fra- das Interview mindestens auf gleicher Augenhöhe gen, die eher auf die Diskussion meiner Interpre- reflektieren wollte. Und ich selbst bezog ihn auch tationen abzielten.20 Der Leitfaden, der daraus in meine Untersuchung als Partner ein, was nur entstand, war chronologisch aufgebaut und zum Gelingen meiner Arbeit beitragen konnte.18 umfassend. Die Aussicht auf zwei Tage Interview hatten ihn rasch wachsen lassen. Über Gleich beim ers- Versuche, der Nachwelt Erfahrung mit derartig langen Inter- ten Telefonat frag- views verfügte ich nicht. Der Leitfa- te Otto B. Roege- ein bestimmtes Bild von den sollte deshalb als Gedächtnisstüt- le mich auch nach sich und der eigenen ze dienen und Formulierungsvor- dem, was ich bis- Lebensgeschichte zu ver- schläge für komplexe Interpretations- lang von ihm gele- mitteln, sind aus anderen fragen liefern. Die Menge der zu sen hätte, erzählte Forschungen bekannt. besprechenden Themen und den ausführlich von Zeitverlauf mittels Leitfaden im Blick den für ihn wichtigen Ideen und Personen und zu behalten, gelang allerdings nur bedingt. Otto legte mir bestimmte Texte nahe. Einige Tage vor B. Roegele hatte viele Aspekte, die erst an späte- dem Interviewtermin erhielt ich einen großen rer Stelle im Leitfaden nachgefragt werden soll- Umschlag mit mehreren Texten – „für Ihre ‚Fra- ten, mit seinen elaborierten Antworten bereits gen-Bildung’“, wie er schrieb. Solche Versuche, abgedeckt.21 Natürlich müssen Fragen im Inter- der Nachwelt ein bestimmtes Bild von sich und view flexibel gehandhabt werden, aber ein Leitfa- der eigenen Lebensgeschichte zu vermitteln, sind den kann durchaus eine grobe Struktur vorgeben aus anderen Forschungen bekannt.19 (etwa vom Allgemeinen zum Speziellen führen oder chronologisch angelegt sein).22 Trotzdem Vorbereitung war am Abend des ersten Gesprächstages Zur Vorbereitung las ich Texte von Roegele, Dar- die Überarbeitung des Leitfadens notwendig, stellungen des historisch-politischen und des reli- auch schien eine stärkere Prioritätensetzung bei giösen Kontextes seines Lebens sowie Literatur den Themen erforderlich.

17 Zuckerman, Interviewing an Ultra-Elite, S. 175, Smigel, Kommunikationswissenschaft 1), S. 9-20, hier S. 18. Interviewing a Legal Elite, S. 160. Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 219. 18 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 218f. 20 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 218. 19 Michael Meyen/Maria Löblich: Warum Institutsgeschichte, 21 Vgl. auch Zuckerman, Interviewing an Ultra-Elite. warum Bausteine, warum gerade diese? Eine Einführung. In: 22 Ute Nawratil: Die biographische Methode: Vom Wert der Dies. (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und subjektiven Erfahrung. In: Hans Wagner: Verstehende Kommunikationswissenschaft in München. Bausteine zu Methoden in der Kommunikationswissenschaft. München: einer Institutsgeschichte. Köln: Herbert von Halem Verlag Fischer 1999, S. 335-358, hier S. 351. 2004 (= Theorie und Geschichte der

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2. Interviewsituation Wissenschaftler Roegele konnte ich erwarten, dass er im Stande sein würde, seine eigenen Erinnerungsproblem Lebenserinnerungen mit distanziertem Blick zu Dass sich Erlebnisse der Vergangenheit „nicht wie betrachten. Dass ich ihn als Partner meines For- ein Film abrufen“ lassen, „in dem alle Details schungsvorhabens ansprach, könnte zusätzlich erneut betrachtet werden könnten“23, ist selbst- befördert haben, dass Roegele von sich selbst verständlich, und im Interview mit Otto B. Roe- Abstand wahrte.27 Das Retrospektivproblem rela- gele ging es auch nicht um Details oder Fakten tiviert sich überdies, wenn – wie in Otto. B. Roe- aus seinem Leben wie etwa in Zeitzeugen-Inter- geles Fall – der Befragte ein relativ stabiles Welt- views. Das Problem der Erinnerung stellte sich bild und ein einheitliches System von Deutungs- hier eher in Bezug auf die Fragen nach seinen mustern besitzt und auch in der erzählten Zeit früheren Lebensauffassungen, Erfahrungen und darüber verfügt hat.28 Motivationen sowie hinsichtlich der Entwicklung seines Denkens. Kann man sich daran erinnern, Ort wie man früher gedacht hat und warum man so Das Interview fand auf Einladung im Haus des gedacht hat? Erinnerungen werden im Laufe des Ehepaars Roegele im Bergischen Land statt, wo Lebens dynamisch und schematisiert aufgebaut. ich äußerst gastfreundlich und wie selbstver- Schemata strukturieren die biographische Dar- ständlich empfangen wurde. Wir führten das stellung im Interview und erlauben Rückschlüsse Gespräch im großzügigen Wohnzimmer, einem auf die Gesichtspunkte, unter denen der Befragte Raum mit großen Ölgemälden mit christlichen seine persönliche Geschichte rekonstruiert. Sie und naturalen Motiven an den Wänden, dunklen liefern daher Aufschluss über relevante Ereignisse Möbeln und einer großen Fensterfront mit Blick und Erfahrungen und über Zusammenhänge auf ein Rosenbeet und hohe Bäume im Garten. zwischen verschiedenen Aspekten der erinnerten Überall im Zimmer waren Bücher, Manuskripte, Biographie.24 Im Gespräch kam Otto B. Roegele Zeitungen und Dokumente aufgestapelt. Die immer wieder auf bestimmte, für ihn prägende strenge Arbeitsatmosphäre des Interviews wurde Dinge zu sprechen – Erlebnisse im Nationalsozia- nur von den Mahlzeiten, zu denen ich eingeladen lismus, während seiner Mitgliedschaft in einem war, unterbrochen. Zweimal nahm Frau Roegele katholischen Jugendbund oder bei der Begeg- kurz am Gespräch teil, nachdem ihr Mann sie nung mit eindrucksvollen Personen. In seinen dazu aufgefordert hatte.29 Die Vorteile eines Erzählungen trat dabei die Verknüpfung dieser lebensnahen Interview-Orts liegen auf der Hand. Erlebnisse mit der Entwicklung von Deutungs- Neben dem „Heimvorteil“ für den Befragten30 mustern und Denkstrukturen hervor. Diese (hier weniger relevant), erhält man einen Ein- sozialisatorischen Erlebnisse waren zudem häufig druck vom Lebensumfeld der Person. Als vorteil- von so einschneidender „emotionaler Qualität“, haft erwies sich auch, dass Roegele mir Bücher dass Otto B. Roegele sie noch eingehend erzählen und Dokumente zeigen konnte, die seine lebens- konnte. Sie hatten sich in sein Gedächtnis „ein- geschichtlichen Erzählungen illustrierten. gebrannt“. Das emotionale Gedächtnissystem ist weniger anfällig für Entstellungen (wie zum Bei- Distanz spiel durch das Altern des Erinnernden) als das Mein Verhalten als Interviewerin, die Fähigkeit kognitive Gedächtnis, das für die Aufbewahrung zu unterbrechen und zu steuern, war beeinflusst von Fakten und Details verantwortlich ist.25 von der sozialen Asymmetrie. Als Lehrstuhlinha- Trotzdem erfolgt biographische Erzählung immer ber und Direktor eines Universitätsinstituts hatte aus dem Heute, weshalb die aktuelle Situati- Roegele an der Spitze der akademischen Hierar- onsdefinition des Befragten dabei stets in Rech- chie gestanden. Der Gegensatz zu meiner akade- nung gestellt werden muss.26 Inwieweit kann sich mischen (Nicht-) Position als Studentin konnte der Befragte im biographischen Gespräch von sei- größer nicht sein und erzeugte ein Gefühl der ner momentanen Lage distanzieren? Von dem Distanz sowie den Eindruck, vor einer wissen-

23 Kristin Gisbert: Das autobiographische Gedächtnis in der 27 Ebd., S. 218. psychologischen Biographieforschung. In: Bios. Zeitschrift für 28 Ebd., S. 156f. Biographieforschung und Oral History, 14. Jg. (2001), H. 1, 29 Dabei ging es um medizinische Themen, die in unserem S. 26-36, hier S. 29. Interview am Rande gestreift wurden. Frau Roegele ist 24 Ebd., S. 29-33. Ärztin. 25 Welzer, Das Interview als Artefakt, S. 55f. 30 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 240. 26 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 155.

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schaftlichen Autorität bestehen zu müssen. Auch dem, was er wissen will, und dem, was der die Positionsunterschiede zu Roegeles zweitem Befragte erzählt.33 Mit „Leitfadenbürokratie“ ist Beruf irritierten. Er war Chefredakteur des Rhei- der zentrale Einwand gegen das Leitfaden-Inter- nischen Merkur gewesen und dann dessen Her- view benannt: Der Interviewer hält sich dann zu ausgeber. Als Journalist verfügt er zudem über strikt an die Vorgaben im Leitfaden, unterbricht Erfahrung im Führen von Interviews, sodass er im falschen Moment die Ausführungen des Interviewer professionell beurteilen kann. Erfah- Befragten und geht zur nächsten Frage über, statt rungen mit starken Rangunterschieden in Inter- vertiefend nachzuhaken. Der Weg zur Sicht des views beschreiben auch andere Forscher: Die Kul- Befragten kann damit verstellt werden.34 Die Ent- turwissenschaftler Gert Dressel und Nikola Lan- scheidung, wann und in welcher Reihenfolge ich greiter berichten von ihrer Verunsicherung in welche Fragen stellen sollte, war manchmal Interviews mit Professoren. Diese resultierte dar- schwierig („Wenn wir jetzt einen Sprung machen aus, dass sie selbst nicht im universitären Betrieb könnten zu...“?). Den Hauptgrund sehe ich dafür verankert waren und dass sie das Bedürfnis nach in dem Bestreben, alle Themen „schaffen“ zu wissenschaftlicher Anerkennung durch die eta- müssen. Die Struktur des Leitfadens musste aber blierten Interviewpartner empfanden. Der Eth- auch einen gewissen Vorrang vor der Erzählstruk- nologe Rolf Lindner empfiehlt, die „Angst des tur Roegeles haben, denn bei der Gelegenheit, ein Forschers vor dem Feld“ offen zu reflektieren.31 solch langes Interview zu führen, verfolgte ich Für Distanz gesorgt haben dürfte in meinem Fall nicht nur das Ziel, Episoden aus Otto B. Roege- auch, dass mir Otto B. Roegeles Denken zumin- les Leben erzählt zu bekommen (von denen ich dest anfänglich fremd war. Fremd war die Vor- bereits einige aus seinen autobiographischen stellung, ein so festes und geschlossenes Weltbild Schriften kannte), sondern auch die Absicht, mit zu haben, in das alle Wahrnehmungen eingeord- ihm bestimmte Interpretationen zu diskutieren net werden. Möglicherweise ist das eine Genera- und Sachfragen zu klären. Einige Leitfaden-Inter- tionsfrage. Otto B. Roegele hat die NS-Diktatur views hatte ich zuvor schon gemacht, allerdings bewusst erlebt. Die Erfahrung, dass Religionsfrei- mit „normalen“ Befragten und über Alltagsthe- heit und persönliche Bewegungsfreiheit beschnit- men. Die „Leitfadenbürokratie“ kann nämlich ten werden – dass Menschenwürde nichts zählt –, noch eine weitere Ursache haben. Der Leitfaden machte die Frage nach der „richtigen“ Gesell- erfüllt eine Schutzfunktion, indem er hilft, die schaftsordnung und dem „wahren“ Men- bei komplexeren Themen (Gesellschaftsbild, schenbild für diese Generation eventuell beson- politische Ideen, Wissenschaft) und zwei unglei- ders brisant. Heute dominieren eher Werteplura- chen Gesprächspartnern möglicherweise auftre- lismus oder Werterelativismus.32 Auch mit Reli- tende Verunsicherung durch die offene giosität und Katholizismus war ich, die ich in Gesprächsführung zu bewältigen.35 einem atheistischen Elternhaus aufgewachsen war und durch den Schulunterricht in der DDR vom Antwortverhalten sozialistischen Menschenbild noch einiges „mit- In der spezifischen Kommunikationssituation bekommen“ hatte, nicht vertraut. Im „informel- Interview sind im Prinzip Sprecher- und Hörer- len“ Teil des Interviews, vor allem während der rolle klar verteilt. Reziprozität ist nicht vorgese- Mahlzeiten, kamen diese Unterschiede zur Spra- hen. Trotzdem kann es vorkommen, dass der che, wodurch ihr Problempotential relativiert Befragte das Rollenschema durchbricht, indem er wurde. Durch meine Vorbereitung konnte ich zurückfragt oder der Interviewer sogar die Defi- zumindest auch signalisieren, dass ich bestrebt nitionsmacht über das Interview verliert.36 Har- war, Roegeles Denken nachzuvollziehen. riet Zuckerman machte während ihrer Interviews mit Nobelpreisträgern die Erfahrung, dass diese Interviewführung sie häufig und kritisch beurteilten, sich als Rich- Im Leitfaden-Interview besteht die größte Anfor- ter verstanden und sie in ihrer Interviewerrolle derung an den Interviewer im Austarieren des immer wieder auf die Probe stellten.37 Otto B. permanenten Spannungsverhältnisses zwischen Roegele hielt sich diszipliniert an die erforderli-

31 Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. 33 Nawratil, Die biographische Methode, S. 349. Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Inter- 34 Flick, Qualitative Methoden, S. 113, Fuchs-Heinritz, aktionsprozess. In: Zeitschrift für Volkskunde Jg. 77 (1981), Biographische Forschung, S. 168f. S. 51-66. 35 Flick, Qualitative Methoden, S. 113. 32 Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hrsg.): 36 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 263. Reflexive Modernisierung. Frankfurt: Suhrkamp 1996. 37 Zuckerman, Interviewing an Ultra-Elite, S. 175.

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che Rollenverteilung. Trotzdem gab es einige gewöhnt, über komplexe Probleme nachzuden- Situationen, in denen er das Rollenschema relati- ken und sie zu strukturieren. Das zeigte sich im vierte, zum Beispiel aufgrund von Orientierungs- Interview. Seine Antworten waren selten sprung- bedarf über den weiteren Ablauf des Interviews haft oder assoziativ, wie man es aus Interviews („Wohin zielen jetzt Ihre weiteren Fragen?“). Dies mit anderen Befragten kennt. Sie hatten häufig geschah durch Aufforderungen („Vielleicht neh- die Form von Geschichten und Anekdoten und men Sie noch den Namen x auf.“), indem er eine enthielten Metaphern und Analogien. Trotz Frage ignorierte, um ein anderes Thema zu refe- Nachfragen folgte Otto B. Roegele mitunter den rieren oder indem er die Notwendigkeit einer Erzählstrukturen seiner autobiographischen Frage anzweifelte, die er schon über einen Aufsatz Texte. Er entwickelte lange Gedankenketten. beantwortet zu haben glaubte. Die letzten beiden Stellenweise nahm das Interview dadurch rhetori- Beispiele können Zeichen von Ermüdung und sche Züge an. Auch Dressel und Langreiter Langeweile gewesen sein. Otto B. Roegele wech- verweisen auf das Erzählverhalten von Wissen- selte mitunter auch in die Professorenrolle. Er schaftlern, das manchmal kaum Nachfragen verwies dann auf Forschungsmöglichkeiten, zulasse.41 schlug Studien vor, gab Hinweise auf Quellen Otto B. Roegele bemühte sich nicht nur oder kam auf die Zusammenarbeit mit anderen druckreif und präzise zu formulieren, sondern Wissenschaftlern zu sprechen. reflektierte auch sein Antwortverhalten in Hin- Die Asymmetrie im Interview bringt es mit sich, blick auf meine Fragen („Was habe ich noch nicht dass der Interviewer viel weniger von sich preis beantwortet von Ihrer Frage?“, „na, das führt zu gibt als der Befragte, der sich implizit über non- weit“, „aber wir wollen nicht nur über x reden“). verbales Verhalten und explizit über seine Äuße- Zu Beginn des Gesprächs ermunterte er mich, rungen „offenbart“. Interviews stellen insofern ihn zu unterbrechen, falls er zu sehr abschweifen eine atypische Form von sozialer Beziehung dar. würde. In dem Ehrgeiz, auch in der Rolle des Trotzdem versuchen Menschen, wie in anderen Befragten perfekt zu sein, zeigte sich der Unter- sozialen Situationen auch, bestimmte Vorstellun- schied zu anderen Befragten, die in der Regel gen voneinander zu entwickeln.38 So boten Mahl- einen weniger professionellen Anspruch haben.42 zeiten und andere Pausen, in denen sich das star- Ein weiterer, wichtiger Unterschied war, dass re Rollenschema zugunsten der alltäglichen soziale Erwünschtheit zumindest in der Gesprächsform auflöste, die Gelegenheit, mehr Interviewsituation eine geringere Rolle spielte. über die Interviewerin zu erfahren. Diese An- Otto B. Roegele schien wenig daran interessiert näherung wirkte sich dann wiederum positiv auf zu sein, sich mir gegenüber in ein besonders posi- die nachfolgenden Interviewabschnitte aus, die tives Licht zu rücken.43 Hartmut Esser verweist entspannter verliefen. darauf, dass stark ausgeprägte und tief in der per- Ein grundsätzliches Problem in biographischen sonalen Identität verankerte Einstellungen das Interviews besteht in der Erzählfähigkeit des Antwortverhalten des Befragten steuern und die Befragten. Ist er in der Lage, seinen Bericht zu Wahrscheinlichkeit von Situationseffekten min- strukturieren, eine Erzählung aus seinem Leben dern.44 Auf Roegeles fest verwurzeltes Weltbild zu formen und auf komplexe Fragen zu antwor- bin ich oben eingegangen. Die künftigen Leser ten?39 Muss sich der Befragte mit einem Thema sind für den Befragten im Interview aber eben- befassen, mit dem er sich lange Zeit so nicht falls „anwesend“. Und der Gedanke an das beschäftigt hat?40 Die Umsetzung seiner Lebens- „unsichtbare Publikum“ kann soziale Erwünscht- geschichte in ein Interview stellte für Otto B. heit auch befördern, vor allem wenn, wie in Roegele kein Problem dar. Gerade in jüngerer diesem Fall, weniger ein Laienpublikum, Vergangenheit hatte er mehrere autobiographi- sondern Leser aus demselben Metier zu erwarten sche Texte geschrieben und verfügt zudem über sind.45 (biographische) Interviewerfahrung. Ein Wissen- schaftler und Publizist ist ohnehin daran

38 Ebd., S. 174, Esser, Können Befragte lügen?, S. 318ff. 42 Zuckerman, Interviewing an Ultra-Elite, S. 175. Vgl. auch 39 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 214f. Esser, Können Befragte lügen?, S. 316ff. 40 Lamnek, Qualitative Sozialforschung, S. 106. 43 Zuckerman, Interviewing an Ultra-Elite, S. 172. 41 Dressel/Langreiter, Wenn „wir selbst“ zu unserem 44 Esser, Können Befragte lügen?, S. 321. Forschungsfeld werden, S. 5. 45 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 245f.

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3. Nachbereitung on mitwirken, dass ihre Vorstellungen voneinan- der ihren Gesprächsstil bestimmen und den Otto B. Roegeles Interesse an meiner Arbeit und Gesprächsverlauf beeinflussen. Die stärksten Ein- seine Hilfsbereitschaft hielten auch nach unserem flüsse auf die hier geschilderte Interviewsituation Gespräch an. Nicht nur beim Abschied, auch in ergaben sich aus der Interviewerfahrung und aus der Korrespondenz nach dem Interview bot er an, dem Antwortverhalten des Befragten und damit für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen. In verbunden aus der Interviewführung, aus dem dem zur Autorisierung vorgelegten Interview Beruf des Befragten und aus den Generations- strich er einige Passagen komplett weg, ergänzte, und Statusunterschieden zwischen Interviewerin verfasste eine Antwort neu und „verbesserte“ und Befragtem. Welche Konsequenzen sind aus seine gesprochene Sprache in Schriftsprache, wie den genannten Problemen zu ziehen? Im Inter- es nach biographischen Interviews häufig vor- view mit einem (betagten) Wissenschaftler und kommt.46 Im lebensgeschichtlichen Interview Publizisten ist eine flexible Handhabung des Leit- wird nach persönlichen Themen gefragt, die fadens besonders wichtig, weil elaborierte und Interviewtem und auch Interviewer nahe gehen lange Antworten mitunter Themen vorwegneh- können. Das funktioniert nur auf der Grundlage men und Nachfragen erschweren. Distanzemp- von Vertrauen. Anders als nach standardisierten finden auf Seiten des Interviewers kann durch Befragungen bleibt nach qualitativen, offenen eine intensive Vorbereitung gemildert werden. Interviews „die Erwartung, man sei eine persönli- Von einem Gesprächspartner, der über Interview- che Beziehung eingegangen und müsste sie nun erfahrung verfügt, dürften die Interviewführung in irgendeiner Weise fortsetzen“.47 Die Korre- und der Verlauf des Gesprächs in der Regel beob- spondenz mit Roegele hielt auch nach Fertigstel- achtet werden. Deshalb kann es vorteilhaft sein, lung meiner Arbeit an, er präzisierte Antworten, ihn von Beginn an als Partner und Helfer anzu- schickte Texte und wies auf Aspekte hin, die er im sprechen, auch um die Rollenakzeptanz zu för- Interview nicht genannt hatte. dern. Dazu gehört, Sinn und Zweck des For- schungsprojekts offen zu legen, besonders wenn 4. Fazit der Befragte selbst Wissenschaftler ist.

In diesem Beitrag sollten Probleme bei der Was einem biographischen Interview einen ganz Durchführung biographischer Interviews thema- besonderen Wert verleiht, ist der Eindruck, den tisiert werden, vor allem diejenigen spezifischen man von der Person, ihrer Erzählung und ihrer Bedingungen, die aus besonderen sozialen Merk- Lebensumgebung erhält. Für verstehendes, her- malen des Befragten, wie Interviewerfahrung, meneutisches Vorgehen liefert ein solches Erleb- hohe Artikulationsfähigkeit und hoher sozialer nis unverzichtbares Kontextwissen. Ein weiterer Status, resultieren. Dies geschah auf der Grundla- Vorteil biographischer Interviews liegt darin, dass ge eines Interviews mit Otto B. Roegele in Form in ihrem Verlauf die Quelle erst produziert wird. eines Erfahrungsberichtes. Dadurch konnten „Kontrollieren“ kann man deren Entstehung natürlich nur exemplarische Probleme benannt zwar nicht, das widerspräche der Eigenart werden. Ausgangspunkt war der Gedanke, dass menschlichen Verhaltens, aber Einfluss nehmen beide Gesprächspartner an der Situationsdefiniti- und potentielle Fehlerquellen vorab reflektieren.

Maria LÖBLICH (1977) 1995-2003 Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Kulturwissen- schaften an der Universität Leipzig. Studentische Hilfskraft beim Teilprojekt Rezeptions- geschichte der DFG-Forschergruppe Programmgeschichte DDR-Fernsehen – komparati- stisch an der Universität Leipzig (Michael Meyen/Maria Löblich: Mediennutzer-Typen in der DDR. Biografische Interviews zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre. In: Großbothener Vorträge zur Kommunikationswissenschaft IV. Bremen: edition lumière 2003, S. 33-60). Magisterarbeit: Das Menschenbild in der Kommunikationswissenschaft. Otto B. Roegele (Münster: LIT 2004). Seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommuni- kationswissenschaft und Medienforschung, Universität München (Michael Meyen/Maria Löblich (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und Kommunikationswissenschaft in München. Bau- steine zu einer Institutsgeschichte. Köln: Halem 2004).

46 Meyen/Löblich, Warum Institutsgeschichte, warum Biographische Forschung., S. 219. Bausteine, warum gerade diese?, S. 18. Fuchs-Heinritz, 47 Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, S. 269.

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Sepp Plieseis Deutung und Umdeutung einer Partisanen-Biographie* Klaus Kienesberger

„Plieseis war ein gescheiter Bursche, nur dass er halt so versessen war auf den Kommunismus, auf das Regime, das wird die Zukunft der Welt! Er hat schon einiges davon erzählt, aber auch nicht zuviel, damit, wenn einer einmal erwischt würde und ausgefragt würde, dass er auch da nicht zuviel gewusst hätte.“ 1

arl Feldhammer, ehemaliges Mitglied der KPartisanenbewegung im Salzkammergut erinnert sich im Zuge eines Interviews mit Peter Kammerstätter an Sepp Plieseis, den Kopf der dort von 1943 bis 1945 aktiven Partisanenbewe- gung. Leopoldine Aster, zu dieser Zeit eine der Unterstützerinnen, spinnt andere Assoziationen: „Zu Plieseis: wir waren damals junge Dirndl, er hat uns gefallen. Er war ein fescher Kerl. Mehr war nicht.“ Denn: „Die politische Einstellung, Politik, hat uns nicht interessiert (...).“2

Das Leben dieses Sepp Plieseis war ereignisreich, ja mit Sicherheit auch spannend und gefährlich. Er war Sozialdemokrat, Kommunist, Spani- Abb. 1: Sepp Plieseis enkämpfer, KZ-Häftling, Partisanenkämpfer, Foto: Zeitgeschichte Museum Ebensee Exekutivorgan und letztlich kommunistischer Funktionär. Im Jahr 1946 erschien unter seinem Namen eine Biographie mit dem Titel „Vom rungen, um den Text für den DDR-Markt lesba- Ebro zum Dachstein.“3 Verfasst hat Plieseis den rer aufzubereiten, stechen bei genauerer Analyse Text in Zusammenarbeit mit dem deutschen auch inhaltliche Veränderungen ins Auge, die Schriftsteller Rudolf Heinrich Daumann.4 Mader am Ursprungstext vorgenommen hat und die Auslöser für harsche Kritik in einem Beitrag Mehr als 20 Jahre ruhten die Erlebnisse Plieseis’, im Kommunist („Theoretisches Organ des Kom- dann griff ein DDR-Schriftsteller namens Julius munistischen Bundes Österreichs“) waren.6 Mader den Stoff auf und brachte „Vom Ebro zum Dachstein“ unter dem Titel „Partisan der Berge“5 Im Jahr 1977 entstand auf Basis des Textes „Par- neu heraus. Neben kleinen sprachlichen Ände- tisan der Berge“ eine fiktionale DDR-Fernsehse-

*Ich bedanke mich an dieser Stelle bei Dr. Wolfgang 4 Kurt Böttcher/Herbert Greiner-Mai/Harald Quatember, dem Leiter des Zeitgeschichte Museums Müller/Hannelore Prosche (Hrsg.): Lexikon Ebensee. Seine Unterstützung bei der Recherche war deutschsprachiger Schriftsteller. 20. Jahrhundert, S. 133f. entscheidend für das zeitgerechte Zustandekommen dieses 5 Julius Mader (Hrsg.): Sepp Plieseis. Partisan der Berge. Beitrags. Berlin 1971 oder auch Sepp Plieseis: Partisan der Berge. 1 Peter Kammerstätter: Materialsammlung über die Berlin 1971 hier in der Ausgabe von 1987; in der Folge Widerstands- und Partisanenbewegung Willy-Fred. wird dieses Buch unter „Mader“ nachgewiesen. Freiheitsbewegung im oberen Salzkammergut – Ausseerland 6 K. W.: Der antifaschistische Partisanenkampf in 1943-1945. Linz 1978, S. 456f. Oberösterreich und die Fälschungen der Revisionisten am 2 Kammerstätter, Materialsammlung, S. 225. Buch des Genossen Sepp Plieseis. In: Kommunist. 3 Sepp Plieseis: Vom Ebro zum Dachstein. Linz 1946. In Theoretisches Organ des Kommunistischen Bundes weiterer Folge zitiert als „Plieseis“. Österreichs. Wien 1. Jahrgang, Ausgabe 3/1976, S. 72-85.

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rie, die unter dem Titel „Gefährliche Fahndung“ kationsdrehscheiben betont.8 Mit Plieseis als Spa- eine Geschichte im Salzkammergut des Jahres nienkämpfer beschäftigt sich unter anderem eine 1975 konstruiert, in der wesentliche Charaktere Diplomarbeit von Silvia Panzl.9 Zur politischen der Salzkammergut-Partisanenbewegung sowie Entwicklung der Region in der Ersten und Zwei- der auf die „Alpenfestung“ vertrauenden Natio- ten Republik bietet das Standardwerk „Das Salz- nalsozialisten variiert werden. kammergut“ von Wolfgang Quatember, Ulrike Felber und Susanne Rolinek sowohl Überblick als Sepp Plieseis war Partisane, seine Aufgabe auch wichtige Details.10 Spezifisch zur Wider- bestand teils darin, zu konspirieren, sich zu ver- standstätigkeit im Konzentrationslager Ebensee stecken, andere zu tarnen und zu täuschen. Ein hat Florian Freund gearbeitet.11 Bestreben, das einer einigermaßen durch Daten abgesicherten biographischen Darstellung wider- Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu den strebt und bis dato höchst widersprüchliche verschiedenen Sichtweisen auf den Widerstand Eigen- und Selbstdarstellungen produzierte. im Salzkammergut leisten populäre Darstellun- gen und Abenteuer-Biographien wie jene von Vorliegender Beitrag soll zu einer Problematisie- Sepp Plieseis, Albrecht Gaiswinkler oder Rai- rung von Biographien und deren Kommunikati- mund Zimpernik. Auch der bekannte Schriftstel- on, Um- und Neudeutung sowie deren Fiktiona- ler Franz Kain geht in manchen seiner Bücher auf lisierung am Beispiel Sepp Plieseis beitragen und Widerstandsaktivitäten im Austrofaschismus und Denk- und Forschungsanstöße liefern. An einer Nationalsozialismus ein.12 eingehenden Betrachtung dieser spezifischen Thematik wird bereits gearbeitet. 2. Sepp Plieseis. Wie es gewesen sein könnte . . . 1. Forschungsstand Josef (Sepp) Plieseis kam am 29. September 1913 ieles über die Widerstandstätigkeiten im in Bad Ischl zur Welt, sein Vater Johann war VSalzkammergut ist weder durch Akten noch Schuhmacher und Maurer, seine Mutter Josefine durch sonstige Dokumente belegt. Da sich die Hausfrau. Bereits in seiner Kindheit kam Plieseis Aktivitäten lange Zeit darauf beschränkten, als mit der Sozialdemokratie in Berührung, er war „Phantom“ zu agieren, Kräfte zu bündeln, aber Mitglied des Sozialdemokratischen Erziehungs- nicht durch Anschläge und Kampfhandlungen in und Schulvereins „Freie Schule – Kinderfreun- Aktion zu treten, ist auch die Aktenlage entspre- de“, später kam er zur Sozialistischen Arbeiterju- chend dünn. Viele Quellen wurden erst durch gend (SAJ). Er absolvierte die Volks- und Bürger- Oral-History-Aktivitäten von Peter Kammerstät- schule und trat eine Stelle in einer Brauerei an. ter erschlossen, der seine Freizeit der Erforschung Sein politisches Engagement kam bei der SDAP des Widerstandskampfes im Salzkammergut wid- und beim Republikanischen Schutzbund zu tra- mete und dabei eine wichtige Materialsammlung gen. Als Mitglied des Schutzbundes war Plieseis erstellte.7 auch an den Kämpfen des 12. Februar beteiligt, ebenso an einer Mobilisierung des Schutzbundes Die Rolle der im Zusammenhang mit dem orga- am 14. Februar in Bad Ischl.13 Nach dem Schei- nisierten Widerstand oft vergessenen oder ver- tern des Schutzbundaufstandes trat Plieseis – wie schwiegenen Bedeutung der Frauen steht im Mit- viele im Salzkammergut – der Kommunistischen telpunkt der Dissertation von Elisabeth Reichart. Partei bei und war dort für Organisation und Erstmals wird darin explizit die Bedeutung von der illegalen KPÖ-Gruppe Bad Ischl Frauen als zentrale Schnittstellen und Kommuni- zuständig.14

7 Kammerstätter, Materialsammlung, außerdem: Peter Zweiten Republik. Grünbach 1999. Kammerstätter: Der Aufstand des Republikanischen 11 Forian Freund: Arbeitslager Zement. Das Konzentrations- Schutzbundes am 12. Februar 1934 in Oberösterreich. Linz lager Ebensee und die Raketenrüstung. Wien 1989. o.J. 12 vgl. dazu neben Plieseis auch Albrecht Gaiswinkler: 8 Elisabeth Reichart: Heute ist morgen. Fragen an den Sprung in die Freiheit. Wien 1948; Raimund Zimpernik: kommunistisch organisierten Widerstand im Salzkammergut. Der rote Strähn. Aigen-Voglhub 1995; Franz Kain: Der Diss. Univ. Salzburg 1983. weg zum Ödensee. Wien 1974; Franz Kain: Am 9 Silvia Panzl: Das Salzkammergut als Ort oppositioneller und Taubenmarkt. Weitra 1991. reformatorischer Kräfte von 1934-1945 mit Schwerpunkt 13 Panzl, Das Salzkammergut als Ort oppositioneller und „Spanischer Bürgerkrieg“. Dipl.Arb. Univ. Wien 2002. reformatorischer Kräfte, S. 42. 10 Wolfgang Quatember/Ulrike Felber/Susanne Rolinek: Das 14 Kammerstätter, Materialsammlung, S. 23. Salzkammergut. Seine politische Kultur in der Ersten und

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Im Juni 1937 erhielt Plieseis gemeinsam mit dem zwischen Bad Ischl, Bad Goisern und dem Aus- Bad Ischler Kommunisten Franz „Jack“ Jaritsch seerland aufzubauen. über die Innsbrucker Anlaufstelle die Erlaubnis, für die Internationalen Brigaden im Kampf gegen Die Organisation agierte unter dem Tarnnamen Franco teilzunehmen.15 Über die Schweiz und „Willy“ (später „Fred“) und strebte danach, Kräf- Frankreich schlugen sie sich nach Albacete durch, te zu bündeln, junge Männer vom Einrücken an wo sie für ihre späteren Aufgaben ausgebildet die Front abzuhalten und als „Phantom“ die wurden. Plieseis kämpfte bis zur Beendigung des nationalsozialistischen Kräfte in ständiger Bewe- Spanischen Krieges und wurde dann nach eige- gung und Unsicherheit zu halten. Bewaffnete nen Angaben in den französischen Gefangenenla- Auseinandersetzungen hielten sich in Grenzen. gern Gurs, Saint-Cypriene und Argelès festgehal- Die Bewegung war nicht auf Parteien beschränkt, ten.16 Nach der Freilassung trachteten Plieseis sondern sollte als „Einheitsfront“ alle Kräfte und Jaritsch danach, wieder ins ehemalige Öster- gegen den Faschismus bündeln: reich zu gelangen, beim Übertritt über die fran- zösische Demarkationslinie wurden sie von den „Nun mein Gedanke war, nicht nur eine Bewe- deutschen Behörden übernommen und als „Rot- gung von Kommunisten aufzubauen, sondern Spanier“ ins Polizeigefängnis Linz übergeführt.17 mehr in die Breite zu gehen, alle die gegen den Nachdem sie die freiwillige Meldung an die Front Faschismus irgendwie eingestellt sind zusammen- ablehnten, wurden Jaritsch und Plieseis nach zufassen und eine Widerstandsbewegung im Dachau deportiert, wo Jaritsch am 27. April 1942 Salzkammergut zu bilden.“ 22 ums Leben kam. Plieseis trug sich nach eigenen Angaben stets mit Fluchtgedanken, erhielt aber Sepp Plieseis selbst knüpfte die Kontakte zu den von der illegalen Lagerorganisation dafür keine einzelnen politischen und gesellschaftlichen Bewilligung, da jeder Fluchtversuch mit einer Gruppierungen: „Die Verbindungen gingen bis Verschärfung der Sanktionen verbunden war. in die Pfarrhöfe hinein. Wir hatten Verbindung Plieseis schaffte es durch Manipulationen ins zum Pfarrer von Bad Ischl, Goisern, Altaussee Außenlager Adnet bei Hallein geschickt zu wer- und Bad Aussee. Es gab auch viele, die parteiun- den.18 gebunden waren. Natürlich haben wir auch – und mit Erfolg – Nationalsozialisten bearbeitet ort gelang es Plieseis Anfang August 1943, und sie für unsere Bewegung gewonnen.“23 DKontakt zur Bevölkerung aufzunehmen, konkret zur Bäuerin Theresia Weiß.19 Plieseis In den letzten Kriegsmonaten wuchs die Bewe- konnte über ihre Vermittlung sowie die Hilfe der gung schließlich auf rund 500 bis 600 Mitglieder Kommunistin Agnes Primocic Kontakt zu seiner an, die Gruppe schuf damals bereits Vorausset- Familie aufnehmen und mit seinem Bruder Fritz zungen, um in der Schlussphase auf möglichst Details für einen Fluchtversuch planen. Schließ- breiter Basis ordnend einzugreifen. lich gelang Plieseis mit Hilfe des schon früher geflüchteten Karl Gitzoller im Zuge eines Außen- Umstritten ist bis heute die Rolle Sepp Plieseis’ kommandos am 20. August 194320 die Flucht bei der Rettung der im Altausseer Salzberg ver- über die Berge nach Bad Ischl. Dort fand er die steckten, von den Nationalsozialisten geraubten Chance vor, durch Unterstützung und tatkräftige Kunstgüter. Wenig Zweifel besteht daran, dass Organisation der Kommunistin Resi Pesendorfer, die Widerstandsbewegung an der Verhinderung die quasi als „Informationsdrehscheibe“ tätig der Sprengung der Stollen einen wesentlichen war21, eine Partisanenbewegung in den Bergen Anteil hatte, doch dürfen die im Buch Plieseis’

15 Walter Göhring: Der illegale Kommunistische als Ort oppositioneller und reformatorischer Kräfte, Jugendverband. Diss. Univ. Wien 1971, S. 290. Kammerstätter, Materialsammlung und Ruth 16 Interview mit Sepp Plieseis, DÖW-Akt 3759. Beckermann/Christa Blümlinger/Gerhard Botz: 17 Günther Grabner: Sepp Plieseis (1913-1966), Forschungsbericht Nr. 1 – Widerstand im Salzkammergut www.kzverband- unter Einsatz von audiovisuellen Medien als Forschungs- und ooe.at/article.php?story=20040502125817748, abgerufen Darstellungsinstrument. Salzburg 1985. am 15. Februar 2005. 20 Über das Datum der Flucht gibt es widersprüchliche 18 DÖW 3759. Angaben, der 20. August wird von Plieseis selbst als 19 Dieses Thema wird in einer Reihe von wissenschaftlichen Fluchtdatum angegeben. Arbeiten, populärwissenschaftlichen Darstellungen sowie 21 Vgl. dazu Reichart, Heute ist morgen. in belletristischen Werken dargestellt. Es seien nur einige 22 DÖW 3759. erwähnt: Neben Plieseis auch bei Göhring, Der illegale 23 Kammerstätter, Materialsammlung, S. 214. Kommunistische Jugendverband, Panzl, Das Salzkammergut

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dafür angeführten hehren Motivationen ange- stein“ im Linzer „Neue Zeit“-Verlag. Bis zu sei- zweifelt werden. Vielmehr darf angenommen nem Tod agierte er als Funktionär der KPÖ: Er werden, dass die Verhinderung der Stollenspren- war Mitglied der Bezirksleitung Gmunden und gung dem Selbstzweck diente, hätte doch die der Gebietsleitung Bad Ischl, von 1946 bis 1951 Zerstörung der Stollen vielen Altausseer Arbeite- außerdem Mitglied der oberösterreichischen Lan- rInnen zumindest mittelfristig ihre Lebensgrund- desleitung. Darüber hinaus engagierte er sich als lage entzogen. Mitglied des Bundesverbandes österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus Zur Rettung der Kunstschätze existieren neben – KZ-Verband.26 Sepp Plieseis verstarb am 21. Plieseis’ Darstellung noch mindestens zwei Oktober 1966. anderslautende Versionen: Sowohl der von den Briten in den letzten Kriegstagen als Fallschirm- Seine Rolle als Partisanenkämpfer wurde in springer abgesetzte Bad Ausseer und spätere Österreich öffentlich nie gewürdigt, Auszeich- Nationalratsabgeordnete nungen erhielt er 1948 in Albrecht Gaiswinkler als Die eigenen Schreibversuche Form des Ehrenzeichens der auch der damalige Gene- Plieseis’ wirken stilistisch zu tschechoslowakischen Partisa- raldirektor der Alpenlän- nenbrigade Hauptmann Tro- dischen Salinen Emme- unsicher und ungelenk, wie jan sowie 1949 in Form des rich Pöchmüller rekla- die wenigen von ihm erhalte- Partisanenordens in der CSSR. mierten die Rettung für nen Texte beweisen. 1959 wurde ihm in der DDR sich und fochten selbst die Medaille für Kämpfer Jahre später noch publizistische und juristische gegen den Faschismus 1933 – 1945 verliehen.27 Kämpfe aus.24 Außerdem war die Gruppe Plieseis an der Gefangennahme Ernst Kaltenbrunners 3. „Vom Ebro zum Dachstein“ – beteiligt, der mittels einer List in einer Almhütte Lebenskampf eines am Wildensee (Totes Gebirge) verhaftet wurde. österreichischen Arbeiters In den letzten Kriegstagen besetzten die Mitglie- der der „Freiheitsbewegung“ neuralgische Stellen n seiner Autobiographie „Vom Ebro zum und agierten als Sicherheitskräfte. IDachstein“ beschreibt Sepp Plieseis sein Leben, seine Kämpfe und sein Überleben im Zeitraum Im Dunklen blieben die Umstände der von Juni 1937, als er die Heimat Bad Ischl in Erschießung der NSDAP-Ortsgruppenleiter Hol- Richtung Spanien verlässt, um dort mit den lerwöger und Neumann in Ischl. Die Wider- Internationalen Brigaden zu kämpfen, bis Anfang standsgruppe rund um Plieseis, der damals bereits Mai 1945, als auch das Salzkammergut befreit als Sicherheitskommissär tätig war, versuchte wird. unter seiner Leitung die beiden festzunehmen, allerdings endete die Verhaftung mit dem Tod der Sepp Plieseis hat „Vom Ebro zum Dachstein“ in beiden Nationalsozialisten.25 Kooperation mit Rudolf Heinrich Daumann ver- fasst, erschienen ist es nur unter dem Namen Sepp Plieseis heiratete nach Kriegsende Maria Plieseis und ohne Verweis auf den Co-Autor. Die Ganghör, die gemeinsam mit ihrer Mutter Maria eigenen Schreibversuche Plieseis’ wirken stili- Huemer Plieseis des öfteren in ihrer Wohnung stisch zu unsicher und ungelenk, wie die wenigen untergebracht hatte. Maria Plieseis brachte einen von ihm erhaltenen Texte, darunter das knapp 30 Sohn mit in die Ehe. Seiten starke Manuskript „Vom Ebro zum Traun- see“28 beweisen. Die Urheberschaft des Textes ist Nach Kriegsende arbeitete Plieseis als Gemein- weitgehend unbekannt, selbst Julius Mader dürf- debeamter in Bad Ischl. Im Jahr 1946 erschien te über die Co-Autorenschaft Daumanns lange unter seinem Namen „Vom Ebro zum Dach- Jahre nicht Bescheid gewusst haben.

24 siehe dazu Gaiswinkler, Der Sprung in die Freiheit 3476. Emmerich Pöchmüller: Weltkunstschätze in Gefahr. 26 Werner Röder/Herbert A. Strauss: Biographisches Salzburg 1948. Das Buch Gaiswinklers wurde im Übrigen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. ebenfalls von Rudolf Heinrich Daumann mitverfasst. München 1980, Band 1, S. 565f. 25 Mitteilung von Sepp Plieseis am 12. September 1966 im 27 ebd. Beisein des Sekretärs des Dokumentationsarchivs, 28 Archiv Zeitgeschichtemuseum Ebensee, Akt B 8b. Raimund Zimpernik und Friedrich Vogl. DÖW Akt

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Einen Nachweis für Daumanns Beteiligung lie- Das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ fert ein Gespräch zwischen Plieseis-Witwe Maria vermerkt zu Daumann, der auch unter dem und Hedwig Willfort, der Schwester des ehemali- Pseudonym „Haerd“ auftrat, der Bauernsohn gen Generaldirektors der Alpenländischen Sali- habe als Volksschullehrer gearbeitet und sei im 1. nen Emmerich Pöchmüller. Pöchmüller hatte Weltkrieg schwer verwundet worden. Daumann sich – genauso wie Sepp Plieseis oder auch der war zeitweilig als Zeitungskorrespondent in Afri- spätere Bad Ausseer Nationalratsabgeordnete ka und Amerika tätig, danach arbeitete er wieder Albrecht Gaiswinkler – die Rettung der in den als Lehrer. 1933 schließlich wurde er aus dem letzten Kriegsmonaten im Altausseer Salzberg Schuldienst entlassen und lebte fortan als freier untergebrachten Kunstschätze auf die Fahnen Schriftsteller in Potsdam. 1943 wurden seine geheftet. Nach seinem Tod kämpfte seine Schwe- Bücher offensichtlich verboten, der Grund dafür ster für die Rehabilitierung Pöchmüllers, der sei die Verspottung von Nazis gewesen. Ansch- unter anderem in Plieseis’ Buch als „fanatischer ließend soll er als Mitglied der illegalen KPÖ am Nazi“29 bezeichnet wird. Willfort strengte in die- antifaschistischen Widerstandskampf der Jahre ser Causa sogar Klagen an, unter anderem auch 1944/45 teilgenommen haben. Das erklärt auch gegen Julius Mader. das Zusammentreffen mit Sepp Plieseis in Bad Aussee. 1946 kehrte Daumann nach Deutschland In besagtem Gespräch erwähnte Maria Plieseis zurück, war Sendeleiter des Landessenders Pots- gegenüber Hedwig Willfort, ihr Mann habe ja dam und anschließend wieder freischaffender „gar nicht die Schule“ gehabt, dieses Buch verfas- Schriftsteller.34 sen zu können. Weiters verwies sie auf den wah- ren Urheber oder zumindest auf den Mit- Eine Annäherung über das literarische Werk Urheber des Textes. Geschrieben habe das Buch offenbart jedoch Widersprüche, die zwar an der ein deutscher Journalist namens Rudolf Heinrich zentralen Schnittstelle 1945 nicht verwundern, Daumann.30 allerdings kritische Nachfragen nicht ausbleiben lassen. So gilt sein Roman „Der Streik“ von 1932 In einem Brief vom 20. Juli 1989 schreibt Hed- als Beitrag zur proletarischen Literatur. Nach wig Willfort an Julius Mader, dass Daumann der 1933 schrieb er „aus Existenzgründen unpolitisch Autor von „Vom Ebro zum Dachstein“ gewesen technisch-wissenschaftliche Romane“35 und galt sei, dieser habe sich von 21. Februar 1945 bis 13. als einer der populärsten Autoren utopischer März 1946 in Bad Aussee aufgehalten.31 Romane. Nach 1945 konzentrierte sich Dau- mann auf abenteuerlich-historische Erzählungen 3.1. Biographie eines und Romane sowie auf „sozialkritische Indianer- Biographen? Rudolf Heinrich romane“. Daumann (1896 – 1957) Just ein Roman seiner „unpolitischen Phase“ ie Zusammenarbeit von Daumann und gerät aber in den Verdacht der Variation typisch DPlieseis scheint angesichts der verfügbaren nationalsozialistischer Motive. So setzt sich San- Informationen nicht unlogisch, hat sich Dau- der L. Gilman in einem Beitrag für „Modern mann doch während der NS-Zeit vorwiegend mit Language Notes“36 unter dem Titel „Plague in utopischen Themen beschäftigt32 und signalisiert , 1939/1989“ mit der Darstellung von er doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs „Race, Space and Disease“ in der1939 erschienen eine Nähe zur Arbeiterschaft, wie eine (schwer Daumann-Novelle „Patrouille gegen den Tod“37 erhältliche) autobiographisch-humoristische Dar- auseinander. Der Text handelt von einer uniden- stellung unterstreicht.33 tifizierten tropischen Epidemie in Belgisch-

29 Plieseis, S. 371 sowie Mader, S. 247. 1908. Berlin 1956. 30 Gesprächsnotiz im Besitz von Dr. Eduard Staudinger, 34 Böttcher u.a., Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, S. Graz. Das Gespräch zwischen Hedwig Willfort und Maria 133f. Plieseis fand am 5. September 1980 in Bad Ischl statt. 35 Ebd. 31 Der Brief befindet sich ebenfalls im Besitz von Dr. Eduard 36 Sander L. Gilman: Plague in Germany, 1939/1989: Staudinger, Graz. Cultural Images of Race, Space and Disease. In: MLN Vol. 32 So hat Daumann 1939 den utopischen Roman „Gefahr 104, Nr. 50, Baltimore Dezember 1989, S. 1142-1171. aus dem Weltall“ sowie eine Reihe weiterer in diese 37 vgl. Rudolf Heinrich Daumann: Patrouille gegen den Tod: Richtung gehende Werke verfasst. ein utopischer Roman. Berlin 1939. Im Erscheinungsjahr 33 vgl. Rudolf Heinrich Daumann: Beinahe Anno Tobak. wurden von diesem Titel 70.000 Exemplare verkauft. Erinnerungen eines Arbeiterjungen zwischen 1902 und

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Kongo, für die zwei MitarbeiterInnen eines deut- Sohn eines Angestellten und einer Arbeiterin schen Mikrobiologie-Instituts eine Kur finden begann er nach einer Wirtschafts-Oberschule sollen. Gilman identifiziert dies als metaphori- eine Ausbildung zum Textilkaufmann. Er studier- sche Darstellung einer idealisierten (deutschen) te Wirtschaftswissenschaften, Journalistik und Zukunft.38 In der Kontextualisierung im Jahr Staats- und Rechtswissenschaften an den Univer- 1939 ist die Science-Fiction-Story mehr ein sitäten Berlin und Jena, der Hochschule für Bin- Wunsch der Erfüllung deutscher Träume denn nenhandel in Leipzig und an der DASR Potsdam eine Flucht aus der Realität. Dabei variiert Dau- Diplomwirtschaft. 1958 trat er der SED bei, mann laut Gilman bekannte Motive: Lebens- 1965 promovierte er zum Dr. rer. pol. Zuerst war raumgewinnung für das deutsche Volk, die Asso- er im Binnenhandel tätig, bis 1959 arbeitete er als ziation „typisch jüdischer“ Attribute mit Krank- stellvertretender Chefredakteur der Publikation heit und Seuche sowie Motive deutscher Der Handel, ab 1960 war er vorwiegend als „Führung“ der Welt. freischaffender Schriftsteller tätig. Seinen Schwerpunkt legte er auf Reportagen und Doku- Für Daumanns Roman „Gefahr aus dem Welt- mentationen über die NS-Zeit. Außerdem fun- all“39 kommt der Germanist Niels Werber zum gierte er für diverse TV-Produktionen der DEFA Schluss, dass darin „die im Zuge großdeutscher als historischer Berater. Seine Bücher erreichten politischer wie technischer Planungen als erreich- eine Gesamtauflage von über drei Millionen bar unterstellten Fernziele (...) als wirklich wie Exemplaren und wurden in zahlreiche Sprachen wünschenswert“40 erscheinen. Es sind auch Text- übersetzt. Mitunter aufgrund eines seiner Werke, zeilen seines Romans „Protuberanzen“, die den dem „Who’s who in CIA“43, wurden Spekulatio- zwiespältigen Eindruck verstärken – sie handeln nen laut, Mader habe geheimdienstliche Funktio- von „Mischvölkern“ und „Bastardvölkern“ und nen ausgeübt. Er starb am 17. Mai 2000 in Ber- „recht unangenehmen Mischungen“ verschiede- lin. ner Hautfarben.41 In einer dem Zeitgeschichte-Museum „zur belie- Im Lichte dieser Brüche und (scheinbaren) ideo- bigen Verwendung“ übermittelten „Scheren- logischen Kehrtwendungen in Daumanns Bio- schnitt“44 seiner Person tituliert sich Mader selbst graphie wirft seine (Mit)Autorenschaft von „Vom als „namhaften Publizisten“ und „international Ebro zum Dachstein“ Fragen auf, die einer einge- bekannten Dokumentaristen“. Er erwähnt seine henden Auseinandersetzung bedürften: Mitgliedschaft beim Schriftstellerverband sowie – Warum ist es just ein Science-Fiction-Bestseller- beim Journalistenverband der DDR und zitiert Autor, der sich der Rotspanier-, KZ- und Partisa- „Meyers Taschenlexikon: Schriftsteller der nenvergangenheit Sepp Plieseis’ annimmt? DDR“: „Insgesamt kommt Mader mit seinen – Wie ist eine Darstellung „großdeutscher“ Uto- massenwirksamen Büchern ein beachtlicher pien mit der Schilderung kommunistischer Träu- Anteil an der breiten Aufklärungsarbeit im me vereinbar? Kampf gegen den Faschismus und heutigen – Selbst das Genre „Autobiographie“ steht in die- Imperialismus zu.“45 sem Lichte grundlegend in Frage. Nach eigenen Angaben verfasste er bis 1989 32 3.2. Biographie eines Monographien, die in 19 Sprachen Europas, Asi- Herausgebers: Julius Mader ens und Amerikas 118 Auflagen mit über 5,1 Millionen Exemplaren erreichten. Seine Spezial- echt unspektakulär erweisen sich die gesi- gebiete umfassten einerseits die Dokumentation Rcherten Daten zu Julius Mader:42 Geboren des Lebens und der „Untaten“ des Wiener SS- am 7. Oktober 1928 im polnischen Radzie als Obersturmbannführers im SD des Reichssicher-

38 Gilman, Plague in Germany, S. 1146. 43 vgl. Julius Mader: Who’s who in CIA. Berlin 1968. 39 vgl. Rudolf Heinrich Daumann: Gefahr aus dem Weltall. 44 Schreiben von Julius Mader an den damaligen Verein Berlin 1939. Widerstandsmuseum Ebensee vom 24. Juli 1989, in der 40 Niels Werber: Phantasmen der Macht. Anlage findet sich eine selbstverfasste Kurzbiographie http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/ unter dem Titel: „Verdienste eines Berliners um unsere niels.werber/PhantasmenderMacht.htm, 23.2.2005. Heimatgeschichte“. 41 vgl. Rudolf Heinrich Daumann: Protuberanzen. Utopischer 45 Meyers Taschenlexikon: Schriftsteller der DDR. Leipzig Roman. Berlin 1940. 1974, S. 362. Zitiert nach der selbstverfassten 42 Online-Personenarchiv Stiftung Aufarbeitung, Kurzbiographie von Julius Mader. www.stiftung-aufarbeitung.de, abgerufen am 15.2.2005

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heitshauptamtes Otto Skorzeny, zu diesem An diesem Punkt soll angesetzt und nachgewie- Thema erschien „Jagd nach dem Narbengesicht.“ sen werden, dass es sich bei der im DDR-Militär- Sein zweites „Hauptwerk“ publizierte er unter verlag erschienenen Neuauflage mitnichten um dem Titel „Der Banditenschatz – Ein Doku- eine „Anreicherung“ handelt, auch nicht um die mentarbericht über Hitlers geheimen Gold- und Neuherausgabe mit einem „knappen Vorwort“: Waffenschatz“ und beschäftigte sich mit den Vielmehr nahm Mader wesentliche inhaltliche „Spuren des SD-Geldfälscherkommandos aus Eingriffe vor. Dabei erhalten manche Textpassa- dem KZ Sachsenhausen“. Damals kam er bereits gen der ursprünglichen Version eine massiv ver- mit dem Salzkammergut in Berührung, da das änderte Bedeutung, andere Passagen wurden Geldfälscherkommando bis ins KZ Ebensee gänzlich aus dem Buch gekippt oder völlig umge- und weiter zum bis heute geheimnisum- schrieben. rankten Toplitzsee im steirischen Salzkammergut führte. Wie intensiv sich Mader tatsächlich mit dem ursprünglichen Text auseinandergesetzt hat, ist Weiters heißt es in seiner selbst verfassten Biogra- aus dem Nachwort zu „Partisan der Berge“ phie: „Besondere Verdienste erwarb sich Dr. ersichtlich, das Mader im Beitrag für die „Mittei- Mader in der antifaschistischen lungen der Gesell- Traditionspflege im Falle des Öster- Es sind große antifaschisti- schaft Österreich – reichers, Kommunisten und Parti- sche und „antiimperialisti- Deutsche Demokra- sanen Sepp Plieseis. Er griff das tische Republik“ Memoirenbuch von Plieseis ‚Vom sche“ Schuhe, in die Mader unter den Tisch hat Ebro zum Dachstein’, das bereits Plieseis steckt. fallen lassen. Darin 1946 im Linzer Verlag Neue Zeit schildert Mader erschienen und inzwischen weithin unbekannt höchst aufschlussreich kurz den weiteren Lebens- geworden war, 1971 in der DDR auf, reicherte es weg Plieseis’: „Beruflich war er zunächst als Ange- biographisch wie dokumentarisch an und half es stellter später als Beamter bei der Stadtgemeinde erfolgreich international zu verbreiten.“46 Dabei seines Heimatortes Bad Ischl beschäftigt. Auch in handelte es sich um die DDR-Version, die unter dieser Position wirkte er im Interesse der Arbei- dem Titel „Partisan der Berge“ unter Maders terklasse und setzte sich mit dafür ein, das öffent- Herausgeberschaft erschienen ist. liche Leben zu demokratisieren sowie Vertreter des Kapitals aus den Leitungen verstaatlichter Kommentar? Anreicherung? Betriebe sowie Banken zu entfernen. Konsequent Massive Eingriffe? bekämpfte er den Antikommunismus und war gegenüber allen opportunistischen Erscheinun- amit wird ein entscheidender Widerspruch gen in der Arbeiterbewegung unversöhnlich. Er, Doffenbar. In einem Beitrag in den „Mittei- der miterlebt hatte, welch unbeschreiblicher lungen der Gesellschaft Österreich – Deutsche Opfer es bedurfte, um Österreich aus dem expan- Demokratische Republik“ verweist Mader im siven Herrschaftsbereich des deutschen Imperia- Gegensatz zur zuvor erwähnten „Anreicherung“ lismus zu befreien, blieb ein ständiger Mahner auf seine scheinbar unbeteiligte Herausgeber- und Warner vor den neuerlichen Gefahren, die schaft: „Dem Bestseller dieses längst international sich aus dem Wuchern von BRD-Monopolen in populären österreichischen Autors fügte ich nur Österreich für sein Heimatland ergaben. Somit ein knappes Vorwort hinzu (...).“47 Mader konter- stand er auf der Seite jener österreichischen kariert dies außerdem im Vorwort selbst, indem Patrioten, die die erkämpfte Neutralität und er schreibt: „In seinem (Plieseis’, Anm.) Nachlass Unabhängigkeit Österreichs gegen den ‚groß- fand ich unter anderem auch sein Buchmanus- deutschen’ Imperialismus jederzeit und auf allen kript ‚Vom Ebro zum Dachstein – Lebenskampf Lebensgebieten zu verteidigen bereit sind.“49 eines österreichischen Arbeiters’.“48 „Vom Ebro zum Dachstein“ war ein publiziertes Buch, beilei- Es sind große antifaschistische und „antiimperia- be kein Manuskript, das zur „Weiterverarbei- listische“ Schuhe, in die Mader Plieseis steckt. tung“ einlädt. Wäre ein kleiner Gemeindebediensteter über-

46 Ebd. 48 Julius Mader: Vorwort. In: ders.: Partisan der Berge, S. 6. 47 Mitteilungen der Gesellschaft Österreich-Deutsche 49 Julius Mader: Nachwort. In: ders.: Partisan der Berge, Demokratische Republik, Nr. 62, Juni 1987, S. 23f. S. 267.

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Exkurs: Antifaschismus in der DDR – Die Erinnerung ist weitgehend abstrakt und entdif- ferenziert, sie wird von konkreten Orten und Akteuren om Antifaschismus als „identitätsstiftendes Basis- des historischen Geschehens losgelöst. Personen und Velement“ der DDR bleibt fünfzehn Jahre nach Biographien werden in ein normiertes Raster gepresst. dem Ende eines Staates ein zwiespältiger Eindruck. Heraus kommen unsterbliche und austauschbare „anti- Offiziell gründete der Antifaschismus auf der These des faschistische“ Heldenfiguren. Theoretikers Georgi Dimitroff, der in einer Rede eine – Erinnerung und Widerstand erfährt eine zunehmen- Definition des Faschismus versuchte, die in ihrer ver- de Kanonisierung. Die Perspektive darauf wird verengt kürzten Form zur Konsensthese wurde: „Der Faschis- und von politisch-pragmatischen Erwägungen be- mus an der Macht (...) ist (...) die offene terroristische stimmt. Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinisti- – Die Normierung gipfelt in einer immergleichen Aus- schen, am meisten imperialistischen Elemente des prägung öffentlicher politischer Rituale. Finanzkapitals.“a Selten wird angeführt, dass es weiter heißt: „Die reaktionärste Spielart des Faschismus ist der Problematisch erscheint in diesem Kontext vor allem Faschismus deutschen Schlages. Er hat die Dreistigkeit, die Tendenz, durch Etablierung eines antifaschisti- sich Nationalsozialismus zu nennen, obwohl er nichts schen Mythos die Komplexität der politisch-gesell- mit Sozialismus gemein hat.“ schaftlichen Verhältnisse zu reduzieren. Aus „Nazibon- zen“ und „Nazigaunern“ werden per se und durchgän- Der Erziehungswissenschafter Peter Dudek sieht die gig Faschisten. Der „Feind“ bekommt ein universelles verkürzte Dimitroff-These als bestimmend für die Antlitz. Aus dem nationalsozialistischen Wahnsinn gesamte Faschismusforschung der DDR. Der Komple- entwickelt der staatliche Antifaschismus ein universell mentärbegriff des Antifaschismus sollte „sowohl die einsetzbares Feindbild namens Faschismus, sei dies nun Identifikation der Jugend mit der DDR stärken (...) als ein Aspekt der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch zur Stigmatisierung politischer Gegner als poten- auch der Zukunft. Geschichte degeneriert zur „ahisto- tielle Faschisten und damit als Staatsfeinde“ dienen.b rischen Essenz“.f Und zur universell einsetzbaren Sub- Antifaschismus verfolgte also vordergründig ein Erzie- stanz. Je nach Feinbild und Bedrohungslage neu und hungsziel, hintergründig aber ein „Legitimationsin- dennoch gültig variier- und einsetzbar. strument der eigenen staatlichen Existenz“ sowie ein „Instrument der politischen Disziplinierung.“c Antifaschismus dokumentiert also nicht nur die Ableh- nung des Faschismus sondern in enormem Maße auch Die Kehrseite der Medaille zeigt folglich das Bestreben, die „Ablehnung der bürgerlichen Demokratie, die (...) wichtige Aspekte der DDR historisch zu legitimieren. ihn mit ihrem Zwang zum Interessenausgleich Darunter fällt einerseits die (durchaus argumentierba- und zum Kompromiss erst hervorgebracht und re) Darstellung der KPD als konsequenteste Kraft des dann in der Bundesrepublik ihre Fortsetzung gefunden Widerstandes gegen den Nationalsozialismus (besser: hat.“g gegen den Faschismus), die „Annahme einer ungebro- chenen Kontinuität des kommunistischen Widerstan- Trotz der Umdeutung der antifaschistischen Bestre- des im nationalsozialistischen Deutschland (...) von bungen darf das ursprünglich vorhandene emanzipato- 1933 bis 1945“ sowie „die Wahrnehmung anderer rische Potential des Antifaschismus nicht übersehen politischer und sozialer Profile des Widerstandes sowie werden. Die DDR war in ihren Anfängen weitaus stär- der unterschiedlichen Opfergruppen in einem durch ker kulturell geprägt als die frühe BRD, was die Anzahl die erstgenannten Axiome vorgegebenen Interpretati- antifaschistischer Literatur unterstreicht.h Dieses onsrahmen“.d Potential, in das unter anderem auch viele KünstlerIn- nen ihre Hoffnungen setzten, wurde blockiert, im Um diesen Interpretationsrahmen auszufüllen, galt es, Endeffekt erstarrten die antifaschistischen Bestrebun- Darstellungen in ein bestimmtes formales Korsett zu gen und dienten stattdessen „sogar der Legitima- zwängen – Jürgen Danyel hat dafür drei wesentliche tion der stalinistischen und poststalinistischen Orientierungsstränge erarbeitet:e Strukturen.“i

a Elfriede Lewerenz: VII. Kongress der Kommunistischen e Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Internationale. Referate und Resolutionen. Frankfurt 1975, Gründungskonsens?, S. 38ff. S. 95. f Michael Zimmermann: Der antifaschistische Mythos der b Peter Dudek: „Der Rückblick auf die Vergangenheit wird DDR. In: Thomas Fierl: Mythos Antifaschismus. Ein sich nicht vermeiden lassen“ Zur pädagogischen Verarbeitung Traditionskabinett wird kommentiert. Berlin 1992, S. 135- des Nationalsozialismus in Deutschland (1945 – 1990). 154, hier S. 138. Opladen 1995, S. 233. g Dudek, „Der Rückblick auf die Vergangenheit wird sich c Ebd. nicht vermeiden lassen“, S. 307. d Jürgen Danyel: Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als h Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungskonsens? Zum Umgang mit der Gründungskonsens?, S. 36. Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR. In: i Bernd Faulenbach: Nationalsozialismus und Stalinismus als ders. (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Herausforderungen zeithistorischer Forschung. In: Jürgen Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Danyel (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit. Berlin 1995, S. Staaten. Berlin 1995, S. 31-46, hier S. 37. 107-124, hier S. 120.

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haupt in der Lage, mehr als guten Willen zu zei- Des weiteren publizierte der DDR-Militärverlag gen, wenn es darum geht, „Vertreter des Kapitals im Jahr 1972 in der Reihe „Tatsachen“ als Num- aus den Leitungen verstaatlichter Betriebe sowie mer 129 ein 64-seitiges Heft mit dem Titel „Der Banken zu entfernen“? Ist es von einem kleinen Hölle entronnen“. Als Autor wird ebenfalls Sepp KP-Funktionär nicht zu viel verlangt? Plieseis angegeben, im wesentlichen handelt es sich bei dem Text um einen Abdruck von Passa- Im Grunde wäre Sepp Plieseis niemals in der Lage gen aus „Partisan der Berge“. Das Heft erschien gewesen, all die in der DDR gepflogenen mit einer Auflage von 70.000 Stück. Anstrengungen des Antifaschismus und „Antiim- perialismus“ zu erfüllen, hätte Mader mit seiner 4. Sepp Plieseis als Neuauflage und den unbestreitbaren textlichen antifaschistischer Held Eingriffen nicht ein (nicht deklariertes) Ziel ver- folgt: nämlich aus Plieseis posthum einen „antifa- ährend „Vom Ebro zum Dachstein“ ein schistischen Helden“ zu konstruieren, einer (vor- W klares Produkt seiner Zeit ist, eine ideolo- geblichen) Autobiographie einen im Sinne der gisch „aufmunitionierte“ Abenteuerbiographie DDR-Ideologie(n) korrekten ideologischen Hut mit antifaschistischem (nicht im DDR-Sinne) überzustülpen, wie auch folgende Textpassage aus Mehrwert, verfolgt Julius Mader mit der Neuher- dem Vorwort Maders unterstreicht: „Seine (Plie- ausgabe ein klares Ziel. Der Text soll dem zeitli- seis’, Anm.) Publikation in der vorliegenden chen Kontext entrissen und in Zeitlosigkeit trans- Form wird dazu beitragen, lehrreiche Erinnerun- formiert werden, konkret in zeitlose Repräsen- gen eines unerschütterlichen Klassenkämpfers, tanz und Rechtfertigung „antifaschistischer“ Kampferfahrungen eines Marxisten-Leninisten Grundelemente des „besseren“ deutschen Staates. populär zu machen und der folgenden Generati- Nach dieser Lesart rücken der reale Sepp Plieseis on zu vermitteln.“50 und sein Kampf gegen den Nationalsozialismus in den Hintergrund. Er wird zum Symbol des Ein Mann aus dem Salzkammer- unermüdlichen Kampfes des DDR-Systems gut macht posthum Karriere gegen eine feindliche westliche, fallweise faschi- stische oder zumindest imperialistische Welt, lieseis wurde also von Julius Mader zum oder – wie es Julius Mader im Nachwort zu „Par- P„sozialistischen Held“ in der DDR (und mit tisan der Berge“ ausdrückt – zum „Mahner und Abstrichen in Österreich sowie der CSSR) stili- Warner vor den neuerlichen Gefahren, die sich siert. Julius Mader übernahm für die Neuauflage aus dem Wuchern von BRD-Monopolen in des Plieseis-Textes „Vom Ebro zum Dachstein“ Österreich für sein Heimatland (wohl eher für die die Herausgeberschaft und brachte es im Militär- DDR und die übrigen kommunistischen Staaten, verlag der Deutschen Demokratischen Republik Anm.) ergaben.“52 Sepp Plieseis rennt als univer- unter dem Titel „Partisan der Berge. Lebens- sell einsetzbarer antifaschistischer Don Quichotte kampf eines österreichischen Arbeiters“ neu her- gegen die faschistischen Windmühlen – aber aus. Die Rechte lagen bei Plieseis’ Frau Maria. weniger gegen jene des Deutschen Reichs als gegen jene der in den 70er Jahren vom SED-Staat „Partisan der Berge“ erschien bis 1989 in drei propagierten Feindbilder. europäischen Staaten in sieben Auflagen, darun- ter fallen drei Auflagen in der DDR (1971, 1978 Das Beispiel Sepp Plieseis reiht sich in eine und 1987), zwei Auflagen in Österreich (Globus- erkleckliche Anzahl von Fällen, in denen Biogra- Verlag, 1971 und 1987) sowie eine Auflage in der phien für offiziell-antifaschistische Zwecke ge- CSSR (Bratislava 1975). Insgesamt umfassten die und missbraucht wurden. Mit Biographien und sieben Auflagen 47.000 Exemplare.51 Der Titel persönlichen Schicksalen im Widerstand Tätiger erschien mit einem Buchcover, das eine der höch- wurde in der DDR höchst willkürlich verfahren. sten Auszeichnungen zeigt, die Plieseis verliehen Dabei handelt es sich um „politisch stilisierte wurde, nämlich den Orden „Kämpfer gegen den Erfahrung und Erinnerung, die von der Realge- Faschismus“ der DDR. schichte der NS-Verfolgung und des Widerstan-

50 Mader, Vorwort, S. 6. Widerstandsmuseum vom 24. Juli 1989. 51 Angaben nach der selbstverfassten Biographie Maders, 52 Mader, Nachwort, S. 268. Beilage zum Schreiben an den Verein

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Exkurs: Rezeption des Widerstands WiderstandskämpferInnen und KZ-Opfern zu beob- gegen den Nationalsozialismus nach achten. Zwar hatten, ungeachtet ihrer politischen 1945 Zuordnung – der kommunistische Widerstand war quantitativ am stärksten gewesen – in den Jahren 1945 bis etwa 1948 Autobiographien von KZ-Überlebenden ie WiderstandskämpferInnen und Opfer des und Widerstandskämpfern in Österreich und anderen DNationalsozialismus wurden in Österreich, wenn Staaten (für das Salzkammergut z.B. Sepp Plieseis auch nicht als primäres Ziel, zur Exkulpierung der „Vom Ebro zum Dachstein“, Albrecht Gaiswinkler Mehrzahl der Täter und Mitläufer instrumentalisiert. „Sprung in die Freiheitiii, Hugo Walleitner „Zebra“iv) Sofern ehemalige Gegner des Nationalsozialismus nach ihren Platz in der Erinnerungsliteratur und konnten in 1945 politische Positionen in den beiden Großparteien zahlreichen Verlagen erscheinen. bekleideten, förderten sie diese Instrumentalisierung im Interesse der Erringung der Souveränität Öster- Oben geschilderte politische Entwicklung, insbesonde- reichsi, darüber hinaus aber auch aus Parteiinteresse, re das kulturpolitische Klima des „Kalten Krieges“ ver- um die Stimmen der „Ehemaligen“ für sich zu gewin- hinderten aber Neuauflagen und Neuerscheinungen nen. Im legendär gewordenen „Rot-Weiß-Rot-Buch. von ehemaligen kommunistischen oder sozialistischen Gerechtigkeit für Österreich“ aus 1946ii, wurde die Widerstandskämpfern und KZ-Überlebenden im These, Österreich sei in erster Linie Opfer der Hit- westlichen Europa. Wenn, dann wurde in Österreich leraggression gewesen, durch die penible Dokumenta- und der Bundesrepublik Deutschland der bürgerliche tion aller Widerstandshandlungen gestützt, damit aber und kirchliche Widerstand oder jener des 20. Juli 1944 gleichzeitig der österreichische Beitrag zur Stabilisie- rezipiert und auf wissenschaftlicher Ebene behandelt. rung des NS-Regimes verschwiegen. In der DDR hingegen wurde der „antifaschistische Die Wiedereingliederung der ehemaligen NSDAP- Widerstand“ beschworen, inszeniert und ritualisiert. Mitglieder und der heimkehrenden Wehrmachtssolda- Tatsache ist, dass österreichische und deutsche soziali- ten als beträchtliches Wählerpotential stand der gesell- stische Erinnerungsliteratur bis in die 1970er- Jahre schaftlichen Aufwertung der WiderstandskämpferIn- fast ausschließlich in der DDR oder in Übersetzungen nen im Weg. Mit zunehmendem Ost-West-Konflikt ab in der Tschechoslowakei und der Sowjetunion erschie- 1948/49 wurde der kommunistische Widerstand voll- nen sind. Plieseis´ Erinnerungsbuch reiht sich nahtlos ends diffamiert und in die Bedeutungslosigkeit in diese Tendenz ein. Es ist außerdem ein bekanntes gedrängt. Faktum, dass DDR-Verlage für österreichische Auto- rInnen ein wichtiges Forum bildeten, stellvertretend sei Erst durch die Gründung des Dokumentationsarchivs nur der ebenfalls aus dem Salzkammergut stammende des Österreichischen Widerstandes (1963) durch ehe- und im Austrofaschismus als Kommunist verhaftete malige Widerstandskämpfer sowie durch eine neue Schriftsteller Franz Kain genannt. Historikergeneration (Karl R. Stadler, Erika Weinzierl u.a.) begann sich die Wissenschaft mit dem Thema Die Gründe für die Publikation österreichischer Auto- Widerstand auseinanderzusetzen. In Folge der so rInnen schildert Heinz Zaslawski, Direktor des Globus genannten „Waldheimaffäre“ (1986), wurde die Rolle Verlages in einem Zeitschriftenbeitrag und trifft damit Österreichs während des Nationalsozialismus zuneh- – ungeachtet der politisch-strategischen Hintergründe mend öffentlich diskutiert. 1993 sprach mit Franz Vra- – ein Grundproblem: „Bis auf wenige Ausnahmen nitzky ein österreichischer Bundeskanzler erstmals von konnte oder wollte das wiedererstehende österreichi- einer „moralischen Mitverantwortung Österreichs an sche Verlagswesen nicht die vielen Autoren pflegen, die den NS-Verbrechen“ vor der Knesset in Israel. Trotz- zuerst der grüne und dann der braune Faschismus hier- dem hat der Widerstand von Österreicherinnen und zulande unterdrückt und verfolgt hatte. Der ungeheu- Österreichern bis heute nicht die gebührende Aner- re Nachholbedarf des österreichischen Lesers wurde kennung erfahren. nur mit bescheidenen Möglichkeiten aus der öster- reichischen Produktion erfüllt.“v Rezeptionsgeschichte der Erinnerungstexte von Wider- standskämpfern und KZ-Überlebenden Erst seit den 1980er- Jahren sind die Erinnerungstexte von KZ-Überlebenden und Widerstandskämpferinnen Dasselbe Phänomen ist auf der Ebene der literarischen in Österreich, aber auch im übrigen Europa aus ihrem Auseinandersetzung mit Erinnerungstexten von Nischendasein herausgetreten.

i Julius Deutsch auf der Parteikonferenz der SPÖ, 7. Mai Salzburg 1947. 1946, Sozialistische Hefte Folge 16, 1946, S. 12f. iv Walleitner, Hugo: Zebra. Ein Tatsachenbericht aus dem ii Rot-Weiss-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich! Konzentrationslager Flossenbürg, Selbstverlag des Verfassers. Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte Bad Ischl 1946. und Geschichte der Okkupation Österreichs. Erster Teil v Heinz Zaslawski: Nachbarn im Spiegel des Buches. In: (Nach amtlichen Quellen), Druck und Verlag der Mitteilungen der Gesellschaft Österreich-Deutsche Österreichischen Staatsdruckerei, Wien 1946. Demokratische Republik, Nr. 11, Okt. 1974, S. 15 iii Albrecht Gaiswinkler: Sprung in die Freiheit. Wien-

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des, von den in der Opposition gegen Hitler ent- erkennt, dass er das Elternhaus verlassen muss, wickelten Neuordnungsplänen wie auch von den um seine fachlichen Kenntnisse und Fertigkeiten Schicksalen der Betroffenen oft weit entfernt in der Fremde zu vervollkommnen. Der Held ist.“53 wird nämlich einst ein Meister seines Faches sein.“60 Es sind zwar nicht die Kinder- und m Grunde widerspricht die Geschichte Sepp Jugendjahre, doch bereits im Alter von 21 Jahren IPlieseis’ dem Bild vom sozialistischen Helden: ist er an den Schutzbund-Kämpfen in Ebensee Für einen antifaschistischen Helden kam die Ver- mitbeteiligt, mit 23 nimmt er schließlich die öffentlichung des Buchs „Partisan der Berge“zu Reise nach Spanien in Angriff, um dort mit den spät. Die erste Ausgabe aus dem Jahr 1971 ver- Internationalen Brigaden gegen Franco zu kämp- fehlte die Hochkonjunktur der „antifaschisti- fen. Im Sinne der Heldensaga ist das Verlassen schen“ Helden um ganze 20 Jahre. Dennoch tref- der Heimat durchaus notwendig, in Spanien fen die Grundmuster des sozialistischen Helden erhält Plieseis das Rüstzeug für seinen späteren auf die Konstruktion des „Helden“ Sepp Plieseis „heldenhaften“ Partisanenkampf im Salzkammer- zu, darum macht auch die verspätete Berufung gut. zum „Helden“ dem Ansinnen Maders keinen – „Sei es, dass der junge Mann Anfechtungen und Strich durch die Rechnung, stimmt sie doch mit Verlockungen widerstehen muss, die ihn vom der von Silke Satjukow und Rainer Gries erstell- Pfad seiner Heldengenese abzubringen drohen. ten Vita eines „Musterhelden“ größtenteils übe- Der Held darf zweifeln, Irr- und Umwege gehen, rein:54 er findet jedoch stets auf den rechten Weg zurück. Der künftige Held erweist sich schon in – „Der künftige Held entstammt einfachen, jungen Jahren als weitsichtig und anständig; bescheidenen Verhältnissen.“55 Die Herkunft schon in der Jugend (...) eröffnet sich bereits der Plieseis’ ist geradezu für eine Heldensaga prä- Vorschein seines künftigen Heldentums.“61 Von destiniert. Sein Vater Johann ist Schuhmacher Zweifeln und Irrwegen berichtet die biographi- und Maurer, er selbst beginnt als Hilfsarbeiter in sche Darstellung wenig, Plieseis’ Handeln scheint Bad Ischl.56 immer wohlüberlegt, zielgerichtet und sein Den- – „Sein Umfeld ist intakt. Der Vater ist im besten ken linear und logisch. Damit erfüllt er die Vor- Fall weitsichtig und fürsorglich, die Mutter erfüllt aussetzung des „guten Handelns“ in jungen Jah- getreu ihre weiblichen Pflichten.“57 Aus den vor- ren. Mit einer Ausnahme, wobei diese für seine liegenden Materialien lässt sich das nicht eru- späteren Tätigkeiten durchaus auch qualifizie- ieren, die Rolle der Mutter in der biographischen rend wirkt: Plieseis’ Hang zur Wilderei. Partisa- Darstellung Plieseis’ lässt aber durchaus auf eine nenkollege Karl Gitzoller gibt Jahre später zu Pro- fürsorgliche Mutter schließen. tokoll: „Er (Plieseis, Anm.) wusste, dass ich wil- – „Kindheit und Jugend spielen im Arbeitermi- dern gehe, und da ist er auch mit mir gegangen. lieu, zumindest ein Elternteil ist Mitglied der Einmal haben sie uns erwischt.“ Gitzoller und Gewerkschaft oder sogar der Partei.“58 Bereits in Plieseis waren wegen dieser Aktion kurzfristig seiner Kindheit kam Plieseis mit der Sozialdemo- inhaftiert.62 kratie in Berührung, er selbst schreibt: „Angeregt – „Mit der Zeit kommt der potentielle Held mit durch mein Elternhaus war auch ich seit meiner der Partei in Berührung. Sie gibt ihm fortan die frühesten Jugend in der sozialistischen Bewegung geistige Heimat, den Schutz und die Sicherheit, tätig. Ich war in Ischl einer der Führer der sozia- welche sein arbeiterliches Elternhaus nicht mehr listischen Jugend.“59 Plieseis war Mitglied in meh- geben kann. Die Partei wird nun seine Erzieherin. reren sozialdemokratischen Organisationen. Der Held lernt fleißig und begierig. Er ist ein – „Das Kind fällt schon früh auf; schon im zarten Produkt der Partei.“63 Nach den Februarkämpfen Jugendalter kann sich die Berufung zum Helden wendet sich Plieseis von der Sozialdemokratie ab: offenbaren: Sei es, dass der Heranwachsende „Aber nach den Februarkämpfen 1934 ist es mir

53 Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als 57 Satjukow/Gries, Sozialistische Helden, S. 24. Gründungskonsens?, S. 36. 58 Ebd. 54 Silke Satjukow/Rainer Gries: Sozialistische Helden. Eine 59 Manuskript „Vom Ebro zum Traunsee“ von Sepp Plieseis, Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und Archiv Zeitgeschichtemuseum Ebensee, Akt B 8b. der DDR. Berlin 2002, S. 24f. 60 Satjukow/Gries, Sozialistische Helden, S. 24. 55 Ebd., S. 24. 61 Ebd. 56 Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration 62 Kammerstätter, Materialsammlung S. 68f. nach 1933. München 1980. 63 Satjukow/Gries, Sozialistische Helden, S. 24.

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klar geworden, dass ein konsequenter Kampf als Schlüsselerlebnis für den Widerstand im Salz- gegen den Faschismus und gegen den National- kammergut. Größtenteils ist er dabei auf sich sozialismus nur in der kommunistischen Partei selbst angewiesen. Er „trickst“ das Bewachungs- möglich ist. Nach reiflichem Überlegen ent- personal aus und schafft es mit Hilfe von Karl schloss ich mich daher, dieser Partei beizutreten Gitzoller bis ins Salzkammergut, wo seine Flucht und ihr meine ganzen Kräfte zur Verfügung zu fruchtbaren Nutzen trägt, indem er an den Auf- stellen.“64 Er ist in Bad Ischl in der illegalen KP bau einer Widerstandsgruppe herangeht. für Organisation und Propaganda zuständig, dies – Dem „Heldentod“ entgeht Plieseis mehrmals offensichtlich auch erfolgreich, in dieser Zeit durch Glück, überlebende Helden „leben fortan wird er nicht aktenkundig. Mit der Einberufung im Einklang mit der sozialistischen Moral; (...) als Spanienkämpfer kommt für ihn eine neue Der Held wird nun im Idealfall zum Lehrer, erst Zeit des Lernens und neuer Erfahrungen. Spani- jetzt erklärt er sich, fordert die anderen auf, hält en und die Zeit in den französischen Lagern nützt Reden, wird von ‚den Massen’ gefeiert. Die Ver- Plieseis trotz aller Unbillen zur Weiterbildung, wandlung zum Helden lässt sich zuweilen auch wie ihm seine ehemaligen MitstreiterInnen atte- äußerlich erkennen: Der Held wird als strahlend stieren. So erzählt Alois Straubinger, einer der und schön geschildert. Er genießt nicht nur den innersten Führungsriege der Partisanenbewe- Respekt seiner Fachkollegen, die Solidarität sei- gung: „Ideologisch war er ein einwandfreier ner Parteigenossen, sondern auch die Liebe der Mensch. Er war ein echter Sozialist. Das Ziel des Menge.“67 Dazu sei am besten Dr. Julius Mader Sozialismus war bei ihm etwas Natürliches. in seinem Nachwort zitiert: „Sepp Plieseis gönnte Durch seine großen sich auch dann, als die Waffen in Erfahrungen, in Die reale „Story“ bildet den Mitteleuropa schwiegen, weder Spanien und durch Handlungsrahmen für eine genießerische Muße noch persönli- das KZ, dort hat er antifaschistisch korrekte chen Luxus. Den Rest seines Lebens viele Schulungen, widmete er trotz seiner in den z.B. in Frankreich Musterbiographie, aus der Jugendjahren überreichlich strapa- in den Lagern, mit- Lehren gezogen werden. zierten Gesundheit dem gesell- gemacht. Diese ha- schaftlichen Fortschritt in der Repu- ben ihn sehr gefestigt. Wir dürfen momentan blik Österreich, dem Kampf gegen Großkapital nicht das Ziel des Sozialismus anstreben, denn und Reaktion in seiner Heimat. Seine Genossen vor allem ist das wichtigste die Unabhängigkeit wählten ihn in die Bezirks- und Landesleitung Österreichs, das Naziregime zu beseitigen. Und der Kommunistischen Partei Österreichs. Als dann hat man sich das so vorgestellt und das ist Organisationsleiter in der KPÖ-Gebietsleitung hauptsächlich von ihm ausgegangen.“65 von Bad Ischl bewährte er sich als nimmermüder – „Herangereift und politisch wie moralisch gefe- Initiator vieler Aktionen gegen neofaschistische stigt, vollbringt der Mann die Tat – sie ist die und antiösterreichische Umtriebe.“68 Manifestation des Helden. Der Held besteht die Herausforderung einer bestimmten historischen n Sinne eines in der sozialistischen Moral und Situation unangefochten und bravourös. Diese Iim offiziellen Denken agierenden Funktionärs Aktion muss nicht überlegt werden, sie ist das interpretiert Julius Mader die weitere Biographie Ergebnis einer selbstverständlichen Anwendung des „Helden“ – und zwar zugeschnitten auf die der bereitgestellten Theorien. Sie ist eine notwen- antifaschistischen und im weiteren Sinn antiim- dige, außerordentliche und außergewöhnliche perialistischen Bedürfnisse der DDR. Handlung, die der Held persönlich und ‚allein’ ausführt, die jedoch dem Kollektiv, dem Betrieb, Die reale „Story“ bildet den Handlungsrahmen der Arbeiterklasse oder der Nation großen Nut- für eine antifaschistisch korrekte Musterbiogra- zen bringt. Tat und Held verschmelzen für die phie, aus der Lehren gezogen werden können anderen zu einem Symbol: Der Held ist überdies bzw. sollen, egal wenn manche Fehler und Unre- ein Mann der großen Tat, nicht der großen gelmäßigkeiten, die aus der „antifaschistischen Worte.“66 Die zentrale „Tat“ Plieseis’ ist die Mischmaschine“ erwachsen, bisweilen gar Absur- Flucht aus dem KZ-Nebenlager Adnet (Hallein) ditäten produzieren.

64 Manuskript „Vom Ebro zum Traunsee“ von Sepp Plieseis, 66 Satjukow/Gries, Sozialistische Helden, S. 24. Archiv Zeitgeschichtemuseum Ebensee, Akt B 8b. 67 Ebd., S. 25. 65 Kammerstätter, Materialsammlung, S. 216f. 68 Mader, Nachwort, S. 267.

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In Kenntnis der hiesigen Strukturen klingt es also ein wenig verwunderlich, wenn ein kleiner Ange- stellter und Beamter sich „im Interesse der Arbei- terklasse“ dafür einsetzt, „das öffentliche Leben zu demokratisieren.“69 Ganz klar in dieselbe miss- glückte Richtung stößt Mader, wenn er in Plieseis einen ständigen „Mahner und Warner vor den neuerlichen Gefahren, die sich aus dem Wuchern von BRD-Monopolen in Österreich für sein Hei- matland ergaben“, erkennt.70 5. Plieseis versus Plieseis? Abb. 2: Abb. 3: Ein Vergleich Das Buchcover zu Die DDR-Ausgabe: „Vom Ebro zum Dach- „Partisan der Berge“, hier n der Folge seien einige Passagen aus den ersten stein“ von 1946 in der Version von 1987 ISeiten der beiden Versionen der Plieseis-Bio- graphie, die sich insbesondere mit dem spani- Februar, gehörten beide, Sepp und Jack, der Kom- schen Bürgerkrieg beschäftigen und vor allem munistischen Partei Österreichs an. Sie taten es, vor auch theoretische Ansätze aufgreifen, dargestellt, allem, weil sie Österreicher waren. Ihre klaren die modellhaft für den Eingriff in eine (Auto)Bio- Arbeiteraugen sahen es voraus, wohin der Weg aller graphie, für deren Modifikation stehen. Darunter anderen Parteien führen musste.“ 71 sind einige, die nur in Details verändert wurden und die die Sorgfalt dokumentieren, mit der an Dr. Julius Mader transformiert die Beweggründe einzelnen Termini getüftelt wurde. Andere Bei- für den Beitritt zur Kommunistischen Partei auf spiele wiederum zeigen, wie der Herausgeber eine breitere Ebene: „Seit damals, seit jenem tragi- ganze Textpassagen entfernt oder massive „Neu- schen Februar, gehören beide der in die Illegalität dichtungen“ vorgenommen hat. Grundsätzlich getriebenen Kommunistischen Partei Österreichs an. ist festzustellen, dass für „Partisan der Berge“ Sie taten diesen Schritt, weil sie Internationalisten manche Passage zum Zweck des besseren Ver- und gleichzeitig Patrioten sind, weil sie dem nahen- ständnisses länger und detaillierter ausgeführt den Unheil nicht tatenlos zusehen wollen.“ 72 Mader werden, um österreichische historische Spezifika versucht, den Österreichbezug im Zusammen- besser darstellen zu können und das „österreichi- hang mit der kommunistischen Internationale als sche Deutsch“ zu glätten. Diese Änderungen blei- zweitrangig darzustellen. Die in der Urversion ben im Folgenden unberücksichtigt, das Augen- betonte Komponente des Österreicher-Seins wird merk liegt auf inhaltlich relevanten Eingriffen bewusst in einen Nebenaspekt umgewandelt. bzw. auf Differenzen in den historischen Inter- pretationen. In der darauf folgenden Passage streicht Mader Auch wenn die Urheberschaft von „Vom Ebro gar eine halbe Seite ersatzlos. Darin ergeht sich zum Dachstein“ nicht nur Plieseis alleine zusteht, Plieseis in einer Suada über das Auflehnen gegen wird er im Folgenden als Urheber angegeben, bei den mörderischen Faschismus, er warnt vor dem der Version „Partisan der Berge“ wird – durch die Schwanken und den Unsicherheiten, die Hitler Eingriffe gerechtfertigt – Julius Mader als Autor den Weg ebnen würden, vor der Verblendung angeführt. und vor den Agenten der faschistischen Doktrin: „Was sollten sie tun, diese jungen Arbeiter, die, das – Das Jahr 1934 und die Niederlage unvergessene Schicksal der so unvergleichlich größe- der Sozialdemokratie ren deutschen Arbeiterklasse vor Augen, nun um ihr eigenes Schicksal bangen mussten? Kämpfen mussten Eine Konsequenz, die viele enttäuschte Sozialde- sie. Aber die politischen Mittel, die das Gewissen der mokratInnen nach den Februarkämpfen zogen, demokratischen Welt noch aufrufen konnten, hatte war der Übertritt zur Kommunistischen Partei ja das eigene Regime in Österreich selbstmörderisch Österreichs, so auch Sepp Plieseis und Franz ausgeschaltet.“ 73 „Jack“ Jaritsch: „Seit damals, seit jenem tragischen Pauschal von einer Niederlagen-Situation der

69 Ebd. 72 Mader, S. 10. 70 Mader, Nachwort, S. 268. 73 Plieseis, S. 9. 71 Plieseis, S. 9.

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Arbeiterklasse (Deutschlands) zu schreiben, ist in Denunziation ausgegangen, die einen bewährten der SED-DDR kontraproduktiv. Vermutlich Freund für Monate, für Jahre in den Kerker, ins kann sich Mader aus diesen Gründen für diese Zuchthaus gebracht hatte.“ 79 Bei Mader heißt es: Textstelle nur schwer erwärmen. „Hier saßen die Faschisten bereits besonders fest, und von hier war manche Denunziation ausgegan- – Internationale Solidarität gen, die bewährte Freunde für Monate, ja für Jahre ins Zuchthaus gebracht hatte.“ 80 Des öfteren betont Mader in seinen Eingriffen explizit die Notwendigkeit der internationalen – Klerikale Anklänge Solidarität. Nach dem Satz „Es gehörte mit zur Tragik jener Jahre, dass man für das Bestehen Öster- Wenig verwundert, dass Mader die im Salzkam- reichs am wirksamsten außerhalb Österreichs kämp- mergut auch unter SozialdemokratInnen und fen konnte“, der eine leichte Abwandlung des Ori- KommunistInnen eingeübte Verwendung kirch- ginals bedeutet, flicht er folgenden Satz ein: „Die lich geprägter Grußformen streicht. So weicht das nationalen Interessen erforderten es, den faschisti- klassische „Vergelts Gott“ 81, das Plieseis äußert, als schen Interventen und den Putschisten in Spanien er noch im Zug von solidarischen Arbeitern mit entgegenzutreten.“ 74 Er bemüht sich also, durch Proviant versorgt wird, bei Mader einem schlich- kleine, scheinbar kosmetische und dem Fluss des ten „Danke“ 82. Textes förderliche Änderungen, die internationa- le Bedeutsamkeit und Deutbarkeit des Textes zu – Institutionen erhöhen. Dies wird insbesondere bei folgender Änderung deutlich: Nicht viel Aufhebens macht Julius Mader bei Pas- Aus „Der Kampf um die Freiheit der Heimat führ- sagen, die Grundlagen des Systems der DDR teil- te zwei junge Österreicher in die triste Fremde“ 75 weise oder gänzlich in die Quere laufen, auch wurde ein simples: „Der Kampf um die Freiheit wenn sie aus historischen Gründen mit dem führte zwei junge Österreicher in die Fremde.“ 76 System der DDR nichts zu tun haben können. So fallen folgende Textzeilen bei Mader unter den Weitere Veränderungen tätigt Mader in Passagen, Tisch: „‚ Grenzen und Pässe … das Gespenst Staat in denen persönliche Überzeugungen zum Aus- muss allen seinen Untertanen immer wieder klar- druck kommen. In diesen Passagen ist der Ver- machen, wie wichtig es ist. Und außerdem, die such festzustellen, diese persönlichen Überzeu- Arbeitslosigkeit würde noch schlimmer sein, wenn es gungen in ein offizielles Korsett zu kleiden, d.h. keine Grenzwachterei, Passabfertigung und Visa- die Partei ins Spiel zu bringen. Ein Beispiel: In erteilung gäbe, dazu noch die Schmuggler, Pass- „Vom Ebro zum Dachstein“ heißt es: „Alles, was fälscher … in Europa geben die Grenzen min- kommunistisch dachte und fühlte, war zur Illega- destens fünf Millionen Menschen Brot und Arbeit.’ lität verdammt“ 77, Mader macht daraus ein „Die ‚Und das nennt man dann planmäßige Produk- KPÖ war in die Illegalität gezwungen.“ 78 tion!’“ 83

– Begrifflichkeiten: „Nazis“ vs. „Faschisten“ – Lob für Österreich?

In der DDR-Version vermeidet Julius Mader den Auch wenn die Konstruktion des Partisanen Sepp Begriff „Nazi“ nach Kräften, was in erster Linie Plieseis in der Urform im Grunde österreichspe- mit dem in der DDR gebräuchlichen Faschis- zifisch ausfällt, wird versucht, dem Land Öster- mus-Begriff zusammenhängt. Ein Beispiel: Sepp reich nicht zu viel Kredit zukommen zu lassen. Plieseis beschreibt die Abreise aus dem Salzkam- Mader streicht zu übertriebene Lobes- und Sym- mergut und die Fahrt durchs bereits stark natio- pathiekundgebungen. So heißt es in einer Ori- nalsozialistisch geprägte Gmunden: „Hier war die ginalpassage im Büro der Internationalen Bri- Bezirkshauptmannschaft, hier saßen die Nazi gade: „‚Österreicher?’ Ein Ton der Hochachtung bereits besonders fest, und von hier war manche klang aus dem Wort. ‚Gut, dass ihr kommt! Wir

74 Mader, S. 10. 80 Mader, S. 11. 75 Plieseis, S. 10. 81 Plieseis, S. 12. 76 Mader, S. 10. 82 Mader, S. 12. 77 Plieseis, S. 11. 83 Plieseis, S. 16f. 78 Mader, S. 11. 84 Plieseis, S. 18. 79 Plieseis, S. 11.

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brauchen jeden Mann.” 84 Die Bezeugung der danach? Wir haben das nicht nötig.“ 88 Hochachtung fehlt in der DDR-Ausgabe. – Historisch bedeutsame Personen aus dem Der Hintergrund für Maders Eingriff ist in den sozialistischen und kommunistischen Umfeld unterschiedlichen Auffassungen über die Organi- sationsform der kämpfenden Kräfte im Spani- Heikel erweist sich der Umgang mit problema- schen Bürgerkrieg zu sehen. Während die Trotz- tisch agierenden Personen. So wird beispielsweise kisten auf ein Milizsystem bestanden, das über der 1936 amtierende sozialistische Regierungs- den revolutionären Elan (d.h. sofortige Bodenre- chef Frankreichs, der es auf nationalen und inter- formen) als Gegenkonzept zu reaktionären nationalen Druck unterließ, Waffentransporte für Armeen zum Sieg gelangen sollte, vertraten die die spanische Republik zu erlauben, kurzerhand Stalinisten das Konzept der Volksarmee, das im aus dem Text gekippt. Heißt es bei Plieseis noch Grunde keine demokratischen Strukturen zulässt. „Aber die französische Republik ist trotz Léon Blum Eine streng durchorganisierte Kommandostruk- streng neutral“ 85, fehlt bei Mader jeglicher Hin- tur sollte den Erfolg der Truppen garantieren. weis auf Blum. Stattdessen lautet der Satz lapidar: Außerdem war die stalinistische Befürchtung, „Aber die französische Republik ist streng neutral.“86 eine sofortige Revolution trage zu einer Vergrä- mung des Westens bei, was explizit vermieden Kommunistische Kritik an Blum muss mehr oder werden sollte. minder gemäßigt ausfallen, da Blum trotz der zögerlichen Haltung in Frage der Waffentrans- – Die Vielfalt der Internationalen Brigaden porte mit Bildung einer „Volksfrontregierung“ eine kommunistische Grundforderung erfüllt Die wohl ergiebigsten Passagen bieten jene Schil- hat, er war also im Sinne der von Dimitroff aus- derungen, in denen Plieseis die Zusammenset- gegebenen Grundstrategie siegreich. Dies ist als zung und das ideologische Reservoir der Interna- Ursache dafür anzunehmen, dass Blums Name tionalen Brigaden beschreibt. In diesem Fall feilt ohne großes Aufhebens aus dem Text fällt. Mader subtil an Worten und Textpassagen, auf dass sie Antifaschismus-kompatibel werden. – Militärische Institutionen Vor allem in die Darstellung der Gruppen, aus Äußerst restriktiv agiert Mader bei einer Szene, denen sich die Internationalen Brigaden rekru- die militärische Rituale und „Notwendigkeiten“ tierten, greift Julius Mader massiv ein. Bei Plieseis zur Diskussion stellt. Auch hier wird radikal in heißt es noch: „Die Anhänger der Kommunisti- den Text eingegriffen. Im Original heißt es: schen Partei fanden sich schnell zusammen. Die „‚Aber das Exerzieren?’ warf der Sepp ein. ‚Hast du Internationale war kein Hirngespinst, wie es die so ein großes Verlangen nach dem Habt-Acht-Stehen Nazi, Hahnenschwänzler und Schwarzhemden und nach dem Langsam-Schritt, nach dem Griffe- gerne allen weismachen wollten. Sie war lebendig klopfen und nach dem Parademarsch? Wir haben und strotzte voll blutfrischen Lebens, mochten Akti- das nicht nötig. Das Reglementexerzieren ist gut für visten und Theoretiker auch manchmal hart des die Burschen, denen der Wille gebrochen werden Mehrwertes wegen oder der Stalinschen Generallinie muss, die zu einer stumpfsinnigen Kriegsmaschine halber aneinandergeraten.“ 89 Bei Mader fehlt jeg- abgerichtet werden sollen. Wir dagegen wissen doch licher Hinweis darauf, dass die „Stalinsche Gene- alle, wofür wir kämpfen werden. Keiner ist unter rallinie“ auch nur diskutierbar wäre: „Die Kom- uns, der nicht freiwillig hierhergekommen ist. Die- munisten fanden sich schnell zusammen. Die Inter- ser Wille muss in der Internationalen Brigade leben- nationale war kein Hirngespinst, wie es die deut- dig bleiben, und das kann man nicht durch Abrich- schen Faschisten und ihre österreichischen und itali- tung erreichen, sondern man hat es oder man hat es enischen Kumpane, die Hahnenschwänzler und nicht. Die paar Kommandos werden wir lernen. Im Schwarzhemden, allen weismachen wollten. Sie übrigen hat sich jeder selbst zu befehlen; denn da war lebendig und in Aktion.“ 90 draußen an unserer dünnen Front steht hinter kei- Im DDR-Antifaschismus bestand trotz des nem ein Offizier oder Korporal.“ 87 Mader verkürzt Bestrebens, den Kommunismus ins Zentrum der den Text auf: „Hast du so ein großes Verlangen Widerstandsbewegungen zu rücken – und das

85 Plieseis, S. 18. 88 Mader, S. 19. 86 Mader, S. 15. 89 Plieseis, S. 27f. 87 Plieseis, S. 26f. 90 Mader, S. 20.

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bisweilen durchaus zu Recht – der Versuch, auch sche Partei Spaniens sah weiter. Sie verlangte die die Breite von Allianzen darzustellen, wenngleich Aufrüstung des Volkes gegen die faschistischen Ele- klarerweise unter kommunistischer Führung. mente, die besonders in den Militärkreisen zahlreich Nur nebenbei sei auf einen Text über die Akti- waren. Eine antifaschistische Miliz sollte geschaffen vitäten der Widerstandsgruppe der Weißen Rose werden, die allgemeine Volksbewaffnung allein rund um die Geschwister Scholl verwiesen, wobei hätte die Erhaltung der bürgerlichen Freiheiten versucht wird, Verbindungslinien vom katholi- garantieren können. Aber dazu waren die anderen schen Widerstandsmilieu zu kommunistischen demokratischen Parteien nicht zu bewegen. So Gruppen herzustellen.91 konnte Franco im Juli 1935 seinen Putsch wagen.”97 Bei Mader ist von einer allgemeinen Volksbewaff- Die Darstellung der Breite des Widerstandes fin- nung keine Rede mehr. Er beginnt diese Passage det sich bei Plieseis, hier wird noch eine gewisse sofort mit Franco: „Im Juli 1936 zettelte Franco in pluralistische Zusammensetzung der Internatio- Spanisch-Marokko eine Militärrevolte an. (...) nalen Brigaden gezeichnet: „Hier erfuhren alle, Doch da erhoben sich die Volksmassen und stellten christliche Demokraten, liberale Bürgerliche, Sozi- sich den Putschisten entgegen.“ 98 Bei Plieseis sind es aldemokraten, Kommunisten und Anarchisten, bas- im übrigen die „Arbeiter“, die „mobilisiert wurden kische Katholiken und katalonische Nationalisten, und sich gegen Franco und seine Helfershelfer worum es in diesem Kampfe ging.“ 92 Vor allem die wandten (...)“ 99 drei letztgenannten Beteiligten des spanischen Widerstandes finden bei Mader nicht den ent- Plieseis versus Plieseis: Ein Fazit sprechenden Anklang, sie werden kurzerhand durch „Pazifisten“ ersetzt: „Sie sammelte christli- – Faschismus wird zum konturlosen Begriff. Dem che Demokraten, liberale Bürgerliche, Sozialdemo- Feind oder Gegner wird in den meisten Fällen kraten, Kommunisten und Pazifisten, Freiwillige das konkrete Antlitz weggerissen, stattdessen ver- aus vielen Ländern um sich (...).“ 93 passt ihm Mader eine konturlose Maske. Wie in der kommunistisch geführten Faschismusdiskus- Und an diesem Punkt schleichen sich erstmals sion zeigt sich auch in diesem Fall die Tendenz, auch klare inhaltliche Differenzen ein. Während Faschismus als einen bloßen Kampfbegriff zu ge- Plieseis über die Gewaltherrschaft spricht, welche und missbrauchen anstatt ihn in gebotener Vor- der „erste spanische Diktator Primo di Rivera dem sicht zu diskutieren. spanischen Volke“ 94 von 1931 bis 1933 bereitet – Auch für die Gegenwart sollen Kanten und hat, was nachweislich falsch ist, weil de Rivera Ecken nicht dazu verleiten, einen konkreten bereits 1930 zurückgetreten ist, greift Mader in Feind ausmachen zu können. Vielmehr soll der diesem Punkt in den Text ein: „Nach dem Rück- „antifaschistische Inhalt“ all jenen Feinden des tritt des Diktators Primo de Rivera war es 1931 DDR-Systems entgegengestellt werden, die im gelungen, die bürgerlich-demokratische Republik zu aktuellen Zusammenhang wichtig sind, so bei- errichten, und 1936, bei den Parlamentswahlen, spielsweise die BRD. hatte die Volksfront einen überwältigenden Sieg – Persönliche Überzeugungen und Werthaltun- davongetragen.“ 95 Bei Plieseis weicht die Darstel- gen werden auf offizielle Institutionen oder Orga- lung wesentlich ab: „Dieser stumpfsinnige Militär- nisationen zurückgeführt. Im Hintergrund sämt- faschismus war dann der Volksfront, die alle frei- licher (wohlüberlegt und logisch dargestellter) heitlichen Einwohner gesammelt hatte, erlegen Handlungen und Bestrebungen steht die Partei (....).“ 96 oder stehen parteinahe Organisationen. – Kritische Darstellungen von Institutionen und Der darauf folgende Aufstieg Francos und die Einrichtungen, die Analogien zu jenen späteren beginnenden Kämpfe der Republikaner finden in in der DDR aufweisen, sollen nach Kräften den beiden Texten ebenfalls eine unterschiedliche unterbleiben. Selbst räumliche und zeitliche Darstellung, die vor allem auch zeitlich auseinan- Distanzen spielen in diesem Bestreben keine derklafft. Bei Plieseis heißt es: „Die Kommunisti- Rolle.

91 Siehe dazu Klaus Drobisch (Hrsg.): Wir schweigen nicht! 95 Mader, S. 20. Eine Dokumentation über den antifaschistischen Kampf 96 Plieseis, S. 28. Münchener Studenten 1942/43. Berlin 1968. 97 Plieseis, S. 28. 92 Plieseis, S. 28. 98 Mader, S. 20. 93 Mader, S. 20. 99 Plieseis, S. 28. 94 Plieseis, S. 28.

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– Personen aus dem kommunistisch-sozialisti- schen Kreis, die teilweise im Sinne der kommu- Plieseis’ Biographie avanciert zum Schwert in nistisch-theoretischen Grundausrichtung richtig einer theoretischen Auseinandersetzung und Plie- handeln und durch andere Handlungen in Mis- seis selbst zum Zeugen in ebendieser. Pikanter- skredit bzw. in eine zwielichtige Lage geraten weise stehen somit im Grunde die theoretischen (könnten), werden vorsorglich „ausgespart“ (so Ausführungen von Rudolf Heinrich Daumann zum Beispiel Léon Blum). als die im Sinne des Marxismus-Leninismus rich- tigen im Raum und sollen die stalinistisch gefärb- Kritik am „Revisionismus“ te Neuinterpretation Maders entkräften.

Die Umdeutung durch Mader wird Jahre später 6. Der kurze Weg zur Fiktion. Die zur Zielscheibe für Kritik durch einen anonym TV-Serie „Gefährliche Fahndung“ bleibenden Vertreter der maoistischen Gruppie- rung „Kommunistischer Bund“. In der Zeit- s blieb nicht nur bei der Auseinandersetzung schrift Kommunist, dem theoretischen Organ des Emit Plieseis originärer oder auch nicht ori- Kommunistischen Bundes Österreichs schreibt ginärer Biographie. Nein, ebendiese erfuhr in der ein „K. W.“ aus Graz über die „Fälschung der DDR noch eine gleichermaßen skurrile wie Revisionisten am Buch des Genossen Sepp Plie- exemplarische Neuinterpretation und Weiterver- seis.“100 breitung. Im Jahr 1977 wurde die auf dem Buch „Partisan der Berge“ basierende DEFA-TV-Serie Darin erhebt der Autor schwere Vorwürfe – auch „Gefährliche Fahndung“ gedreht.105 Dabei han- und vor allem in Richtung KPÖ: „Mit Unter- delt es sich um eine in den 70er-Jahren angesie- stützung und Duldung der KPÖ-Revisionisten delte Kriminalstory, die Charaktere aus der Salz- wurde 1971 vom Militärverlag der DDR eine kammergut-Partisanenbewegung verwendet, neue Ausgabe des Plieseis-Romans herausge- diese geringfügig verfremdet und in eine fiktiona- bracht. (...) Und an diesem Buch ist nahezu alles le Handlung einbaut. gefälscht und umgeschrieben, was man sich vor- stellen kann.“101 Im Zentrum der Handlung steht ein Mord an einem ehemaligen Partisanen, der im Begriff ist, Konkret benützt der Autor die Darstellung das Verschwinden der bei Kriegsende in einem Maders als Abrechnung und grundsätzlich-theo- alten Bergwerk eingelagerten Kunstschätze aufzu- retische Auseinandersetzung. Die Vorwürfe rich- decken. Ehemalige Nationalsozialisten, die in der tet er gegen die Sozialdemokratie, gegen die „bür- Türkei, Schweiz und Deutschland untergetaucht gerliche Demokratie“ und den „imperialistischen sind und die an diesem Kunstraub beteiligt Kapitalismus“ als Grundlage des Faschismus.102 waren, versuchen mit den Geldern, die sie über den Verkauf der Kunstschätze zu lukrieren trach- Die Interpretation W.s läuft dahingehend, „den ten, ein internationales Netz einer neo-national- Revisionisten“ zu unterstellen, die Grundprinzi- sozialistischen Bewegung zu finanzieren. pien des Marxismus-Leninismus zu entstellen und somit „die Geschichte der kommunistischen Die Serie wurde 1978 im DDR-Fernsehen in sie- Bewegung in eine Geschichte des Revisionismus ben Teilen ausgestrahlt, Regie führte Rainer umzufälschen.“103 Und er nennt Sepp Plieseis’ Hausdorf, einige bekannte Schauspieler wie der Leben als Beweis gegen die DDR-Darstellung: spätere Tatort-Kommissar Jaecki Schwarz spielten „Sie (revolutionär gesinnte Menschen, Anm.) in Hauptrollen. müssen gemeinsam mit allen revolutionär gesinn- ten Menschen allseitig brechen mit dem Revisio- Die Namen der handelnden Personen und Ört- nismus und sich heute dem Kampf für jene Ziele lichkeiten sind historischen Vorlagen zum Teil anschließen, für die ihr und unser Genosse Sepp willkürlich und plakativ angeglichen: Die Haupt- Plieseis sein Leben lang gekämpft hat. Das Pro- person, Toni Pleisner (Plieseis), Kriminalkom- gramm des Kommunistischen Bundes Öster- missar in „Bad Hirschl“ (Bad Ischl), Sohn des reichs weist dazu den Weg.“104 offensichtlich in den letzten Kriegstagen ermor-

100 K. W., Der antifaschistische Partisanenkampf in 103 Ebd., S. 84. Oberösterreich, S. 72 - 85. 104 Ebd., S. 85. 101 Ebd., S. 80. 105 www.kabel1.de/serienlexikon, 15. Februar 2005; die Serie 102 Ebd., S. 80ff. ist überdies im Zeitgeschichtemuseum Ebensee archiviert.

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deten Partisanenchefs (der unschwer als Sepp Dabei eignet sich jeder Autor unterschiedliche Plieseis auszumachen ist), ermittelt in der Angele- Aspekte des Plieseisschen Lebens oder zumindest genheit und tritt als überzeugter Antifaschist auf. der Vorstellungen davon, wie dieses verlaufen Kopf der verschwörerischen Neo-NSDAP ist hätte können, an. Wo der Eine (Plieseis selbst) „Dr. Hertl“ (Dr. Wilhelm Höttl – ehemaliger die eigene Vergangenheit zurechtrücken will, will SD-Mann und SS-Obersturmbannführer, lebte der Andere (Mader) eine offiziell antifaschistische in der Nachkriegszeit in Altaussee), einer seiner Gegenwart über den Umweg der Vergangenheit bezahlten Killer heißt „Degussa“ (Deutsche zurechtrücken. Wo der Eine (H.W. im Kommu- Gold- und Silberscheideanstalt). nist) einen Beweis für die ideologische Verkom- menheit der DDR erblicken will, erkennt der In der antifaschistischen Deutung der Serie ist das Andere (Rainer Hausdorf) einen Ausgangs- Heldenmotiv Plieseis’ erfüllt: Er steht als eine Art punkt für ein antifaschistisches Abenteuer, das „Überfigur“ permanent im Raum, da er als „anti- Stoff für eine spannende Unterhaltungsserie faschistischer Held“ im Kampf umgekommen ist. bildet. Damit ist der „antifaschistische Heldenmythos“ im Gegensatz zum realen Leben und zur biogra- Letztlich verbleibt die Erkenntnis der Brüchigkeit phischen Darstellung Plieseis’ umgesetzt. biographischer Darstellungen und ihres noch brüchigeren Zustandekommens. Wie ein Netz 7. Versuch eines Resümees legen sich Verkettungen und Verwebungen von Biographien (handelnde Personen, Biographen, as Leben von Sepp Plieseis ist ein Ausgangs- Herausgeber,…) über eine Lebensgeschichte. Der Dpunkt für Skizzen und Konstruktionen. Inhalt des eingeholten Netzes wird weiterverar- Über seine Aktivitäten existieren wenige gesicher- beitet (in diesem Fall vorbehaltlos kommuni- te Quellen, was zum Gutteil darauf zurückzu- ziert), ungeachtet dessen, wie viele Inhalte indes- führen ist, dass ihn sein Weg schon relativ früh sen durch die Maschen geschlüpft sind. Und außer Landes führte und seine Aktionen als Kopf auch die Weiterverarbeitung geht viele Wege: der Partisanengruppe im Salzkammergut darauf Während dem einen das Filetstück schmackhaf- abzielten, möglichst unauffällig möglichst viele ter erscheint, ist dem anderen die industrielle Kräfte abzuziehen. Was bleibt, sind einige wenige Nutzung von Tran und Fischöl wichtiger. Wie Dokumente, viele Oral-History-Darstellungen der Fisch einmal ausgesehen haben mag, davon und noch mehr Erzählungen und Legenden. bleiben nur Vermutungen.

Wenn die Faktenlage dünn ist, werden Geschich- Angesichts des in Österreich von der ÖVP-FPÖ ten weitergesponnen und für eigene Zwecke Regierung ausgerufenen „Gedankenjahres“ sollte instrumentalisiert. So mutiert Sepp Plieseis zu die Frage, wie Biographien entstehen, gebraucht einem Proponenten des antifaschistischen Hel- und auch missbraucht, gedeutet und auch miss- denmythos der DDR, gelangt indirekt zu Fil- deutet werden, stets mitschwingen. Denn nicht mehren und wird als Zeuge gegen den eigenen nur Regime wie das der DDR waren und sind es, veränderten Text gerufen, wenn es darum geht, die sich Biographien aneignen und instrumenta- das DDR-System in theoretischen Grabenkämp- lisieren. Das sollte nicht vergessen werden, wenn fen des Revisionismus zu bezichtigen. das Bild eines Leopold Figl transportiert wird, der vom Balkon des Belvedere ruft „Österreich ist

Klaus KIENESBERGER (1978) Diplomand am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Arbeitet seit 2002 als Journalist. Während des Studiums Projekte in Zusammenarbeit mit dem Zeitgeschichte Museum Ebensee (www.ebensee.org). Referent auf der Tagung zur Problematik „Besucher- forschung in KZ-Gedenkstätten“ in Ravensbrück (BRD) 2002.

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Ich gegen Babylon: Karl Kraus und die Presse* Simon Ganahl

Die Wunde ist unheilbar, sie wird immer bös- Stelle des Krausschen Bücherregals die „Kritik der artiger, immer fressender; und das Übel wird Urteilskraft“ gestanden ist. Wer die Ausdauer hat, immer größer, je mehr es geduldet wird, bis zu sich auf die Texte des Satirikers einzulassen, kann dem Tag, wo über die Zeitungen durch ihre getrost auf extensive Materialrecherche verzich- Üppigkeit und Massenhaftigkeit die Verwirrung ten. Denn dass Kraus das schier „Negative (wel- kommt, wie in Babylon.1 ches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart“4 wie kein anderer kultivierte, hat die Fackel, jene Zeitschrift, für die er fast vier I Jahrzehnte verantwortlich zeichnete, seit ihrem in Volk mit einer Sprache. Und dann der programmatischen Vorwort bewiesen. Der E unsägliche Turmbau, der alles zerstreute und damals 25-jährige Herausgeber wandte sich an verwirrte. Es mag eine mythische Einheit gewe- ein argloses Publikum, eine Öffentlichkeit, „die sen sein, jener nachgerade paradiesische Zustand, zwischen Unentwegtheit und Apathie ihr phra- da jeder jeden verstanden, jeder für jeden gear- senreiches oder völlig gedankenloses Auskommen beitet hat – eine Ordnung indes, die mit der findet“. (F 1, 1) Kraus präsentierte sich als unab- Kantschen Aufklärung restauriert wurde. Harmo- hängiger Publizist, als parteiloser Warner, der nisch wie ein Turm, dessen runde Grundfläche seine benommenen Zeitgenossen wachrüttelt. zylindrisch in die Höhe ragt, sollten Mensch und Wenn die Augen erst geöffnet, die Sinne munter Menschheit vorangehen. Dass sich die Moderne sind, dann „predigen die Verhältnisse das Erken- wie ein Kopf stehender Kegelstumpf entwickelte, nen socialer Nothwendigkeiten“, dann kommen der namentlich breiter, kaum höher wird, hatte die Tatsachen unverblümt zutage. (F 1, 2) Zwei- Kant gewiss nicht geplant. In seinem kurzen Text fellos geht es dem Autor der Fackel um eine Vor- „Was ist Aufklärung?“ gibt der Philosoph drei bildfunktion, um die publizistische Hoffnung, Beispiele passiver Vernunft: Unmündig ist, wer „dass der Kampfruf, der Missvergnügte und den Verstand einem Buch, das Gewissen einem Bedrängte aus a l l e n Lagern sammeln will, nicht Seelsorger, den Diätplan einem Arzt überlässt.2 In wirkungslos verhalle“. (F 1, 3) dieser Passage einen Konnex zum Kantschen Der Kritiker des Fin de Siècle trat seiner Zeit, Hauptwerk zu sehen, bedarf keiner großen Kopf- jener Versuchsstation der Moderne, als Prototyp arbeit, zumal die drei Kritiken, wie Michel Fou- des Kantschen Vernunftwesens gegenüber. Kraus cault formulierte, als „Handbuch der in der Auf- demonstrierte, dass auch eine antiaufklärerische klärung mündig gewordenen Vernunft“3 fungie- Welt erlaubt, mündig zu sein, da die Kritik im ren. Wenn die Menschheit genug fortgeschritten Zentrum der Aufklärung steht. Es gibt ein richti- ist, Wissenschaft, Politik und Kunst universali- ges Leben selbst im Falschen, zumal jenes richti- stisch gereift sind, jenes goldene Zeitalter, das ge ein Anklagen des falschen bedeutet. Und falsch aufgeklärte nämlich, anbricht, dann sollen die ist in seinen Augen jener Fortschritt, den er in Menschen erkannt haben, wie sie frei denken und Wien um 1900 als „Teufelswerk der Humanität“5 handeln können. erlebt – eine Aufklärung, die sich anschickt, Gott Die Fragen des Positivisten, wann und wo Karl und die Liebe zu erklären, und damit beides Kraus Schriften von Kant wie gründlich gelesen ersetzen will; deren buchstäbliche Exegese meint, hat, lassen sich dann schwer beantworten, wenn der Mensch sei geboren, die Natur zu beherr- man meint, es sei wichtig, zu wissen, an welcher schen; die Freiheit als Marktprinzip begreift,

*Dieser Artikel basiert auf der Diplomarbeit des Verfassers: (= Philosophische Bibliothek, Bd. 512), S. 20. Ich gegen Babylon: Karl Kraus und die Journaille. Die „Neue 3 Michel Foucault: Was ist Aufklärung. In: Ethos der Freie Presse“ im Licht der „Arbeiter-Zeitung“. Wien 2005. Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva 1 Honoré de Balzac zit. nach Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel, Erdmann u.a. Frankfurt a. M./New York 1990, S. 41. Nr. 717-723, S. 4. Ich zitiere Die Fackel (F) in der Folge 4 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm durch Angabe der Nummer und der Seitenzahl im Text. Weischedel. Frankfurt a. M. 1974 (=Werkausgabe, 2 Vgl. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Bd. 10), S. 226. Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine 5 Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Schriften. Hg. v. Horst D. Brandt. Hamburg 1999 Frankfurt a. M. 1989 (= Schriften, Bd. 4), S. 221.

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nicht als individuelle Chance, sich selbst entwer- Während aber die Aversion gegen das Evangeli- fen zu können. Gemessen am Kantschen Begriff um der Wiener Bourgeoisie, das bis heute als der Vernunft, mutet die moderne Ausbeute gera- „Nonplusultra einer kosmopolitischen liberalen dezu unvernünftig an. Denn aufgeklärt, also deutschen Zeitung“11 gilt, zeitlebens konstant fähig, eigene Urteile zu bilden, scheinen die Per- blieb, gestaltete sich Kraus’ Verhältnis zum Zen- sonen, die den Satiriker umgeben, nicht zu sein. tralorgan der Sozialdemokraten zwiespältig12. Am „An Dummheit erweist Kraus, wie wenig die Anfang der Beziehung steht ein ungetrübtes Gesellschaft es vermochte, in ihren Mitgliedern Bekenntnis, das Maximilian Harden im zweiten den Begriff des autonomen und mündigen Indi- Heft der Fackel provozierte, indem er die AZ als viduums zu verwirklichen, den sie voraussetzt.“6 die „am besten redigirte Zeitung in deutscher Karl Kraus setzt dieser traurigen Realität einen Sprache“ lobte. (F 2, 3) Der Herausgeber stimm- freien Menschen entgegen: Er will „ein Ich mit te dem Berliner Schriftsteller lebhaft zu: „Was Sie der Zeit konfrontieren“. (F 557-560, 18) […] über die ,Arbeiterzeitung’ sagen, ist mir ja Wie mühsam ein derart widersprechendes Dasein aus der Seele gesprochen.“ (ebd., 16) Allerdings sich gestaltet, offenbart das unscheinbare Schlus- wollte Kraus schon ein Jahr später nichts mehr swort zum Essay „Heine und die Folgen“, das den vom Arbeiterblatt wissen, da es Anzeigen kapita- bezeichnenden Titel „Zwischen den Lebensrich- listischer Unternehmen annehme, ja weil es tungen“ trägt. Kraus veröffentlichte diesen Nach- Angriffe gegen die Donaudampfschifffahrtsgesell- trag erstmals 1917 in der Fackel, um seine inzwi- schaft just zum Zeitpunkt eingestellt habe, als schen weit verbreitete Inserate des Betriebs im Heine-Schrift, die im Ver- Karl Kraus setzt der traurigen Annoncenteil erschienen ein mit „Nestroy und die Realität einen freien Mensch waren. Die Vorwürfe be- Nachwelt“ Klarheit über schränken sich aber auf die entgegen: Er will „ein Ich mit seine Rolle als satirischer angebliche Korruption der Künstler geschaffen hatte, der Zeit konfrontieren“. Geschäftsführung, den Jour- selbstkritisch abzuschlie- nalismus der AZ kritisierte ßen. Eine Ergänzung sei nötig, weil er in friedli- Kraus nie ernsthaft – im Gegenteil: Während des cheren Zeiten versucht habe, „der Maschine zu Ersten Weltkriegs schätzte der Kritiker die entrinnen“7, und einer „völlig entmenschten „Arbeiter-Zeitung“ als „moralische Kraft“ (F 462- Zone den Vorzug vor jenem Schönheitswesen 471, 141), die den frappierenden Beweis liefere, gab, das dem unaufhaltsamen Fortschritt noch „daß die weltflüchtige Menschenwürde sich weglagernde Trümmer von Menschentum entge- immerhin in zwei bis drei Wiener Zeitungsspal- genstellte“8. Mit Ausbruch des Krieges, der ten niederlassen darf“ (F 437-442, 30). Was Bewahrheitung seiner Satire, gehe es nicht mehr Kraus mit dem Arbeiterblatt verband, war das um den Künstler, sondern den Menschen Kraus, gemeinsame Eintreten für die Anliegen sozial der in „Notwehr gegen die Tyrannei einer wertlo- Benachteiligter, ein Engagement, das in den sen Zweckhaftigkeit“9 nach Verbündeten suchen frühen Ausgaben der Fackel augenfällig wird: Der müsse, nach Alliierten, die sich der Maschine zu Herausgeber druckte eine anonyme Sozialrepor- bedienen wissen, „um ihr zu sich zu entfliehen“10. tage über einen Weberstreik in Brünn, veröffent- Der nahe liegende Kampfgefährte, das lässt Kraus lichte die Kritik des Sozialisten Wilhelm Ellenbo- in diesem Passus verstohlen erkennen, ist die gen an der Südbahn-Gesellschaft und schrieb österreichische Sozialdemokratie, deren Maschi- selbst Artikel gegen kapitalistische Ausbeutun- ne, die Arbeiter-Zeitung, sich beharrlich gegen die gen.13 Maschine, die Neue Freie Presse, wehrt. Wie alle Dass Kraus gerade dem journalistischen Genre Figuren im Krausschen Werk erhalten auch diese der Sozialreportage Raum in seiner Zeitschrift beiden Blätter eine repräsentative Funktion: hier gab, lässt sich zugleich aus seiner Pressekritik der Inbegriff instrumenteller Vernunft, dort erklären. In „Heine und die Folgen“, jenem Text, moralischer Widerstand. der die Klage über das Feuilleton auf den Punkt

6 Theodor W. Adorno: Sittlichkeit und Kriminalität. In: 11 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1996 (= Gesammelte München 2004, S. 115. Schriften, Bd. 11), S. 378. 12 Vgl. zu Kraus und der Arbeiter-Zeitung Alfred Pfabigan: 7 Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 217. Karl Kraus und der Sozialismus. Eine politische Biographie. 8 Ebd. Wien 1976, v.a. S. 54-74. 9 Ebd. 13 Vgl. dazu Die Fackel: Nr. 6, S. 5-12 / Nr. 25, S. 13-23; 10 Ebd., S. 218. Nr. 27, S. 1-6; Nr. 30, S. 4-6 / Nr. 31, S. 1-5.

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bringt, findet sich folgender Satz: „Die Presse als Handlungen.“18 Wenn aber alle Eindrücke gleich eine soziale Einrichtung, weils denn einmal markant sind, können Daten nicht als Gründe unvermeidlich ist, daß die Phantasiearmut mit für eine Entscheidung interpretiert werden, was Tatsachen geschoppt wird, hätte in der fort- persönliche Urteile unmöglich macht. Daher schrittlichen Ordnung ihren Platz.“14 Und einige rührt die Kraussche Klage, in einer Zeit zu leben, Zeilen später stellt der Satiriker jene Aufgaben, wo „alle Individualität haben, und alle dieselbe“19. die Zeitungen in einer modernen Gesellschaft In feuilletonistischer Indifferenz geben die Jour- erfüllen könnten, anhand eines Straßenbahnun- nalisten ihre Urteilskraft, Verantwortung und falls dar. Anstatt Stimmungen einzufangen und Persönlichkeit preis. Dass sich die paar Tagschrei- zu sinnieren, welche philosophischen Schlüsse ber in ihrer Empfindungswelt auflösen, hat Kraus das Tramwayunglück zulasse, müssten die Jour- gewiss nicht sehr bedauert. Was seinen Wider- nalisten als Medien im buchstäblichen Sinn, als stand hervorrief, war der Einfluss, die verheeren- „Kehrichtsammler der Tatsachenwelt“15 fungie- de Wirkung, die jene Gefühlsliteraten beim ren, auf Interpretation verzichten und Informa- Publikum erzielten. „Ich habe Erscheinungen vor tionen, die Zahl der Toten zum Beispiel, also Fak- dem, was ist“20 – so beginnt der „Untergang der ten vermitteln, auf deren Grundlage das Publi- Welt durch schwarze Magie“. Das Ende naht kum eigenständig urteilen kann. Wer den Journa- also, wenn man die Wirklichkeit nicht mehr zu lismus der Wiener Jahrhundertwende nicht mit Gesicht bekommt, wenn alle Erlebnisse aus zwei- der Neuen Freien Presse gleichsetzt, findet durch- ter Hand stammen, wenn Menschen sich mit aus Reporter, die sich als Informationsträger ver- Erfahrungsschablonen zufrieden geben. Wie standen, Wert auf Recherche, nicht auf Emotio- meint der „Nörgler“ aus „Die letzten Tage der nalität legten. Die Berichte aus den Armenhäu- Menschheit“: „Die Realität hat nur das Ausmaß sern, den Fabrikhallen und Kohlegruben, die in des Berichts, der mit keuchender Deutlichkeit sie der Arbeiter-Zeitung erschienen, muten wie ein zu erreichen strebt. Der meldende Bote, der mit Gegenprojekt zum Ästhetizismus der Feuilletoni- der Tat auch gleich die Phantasie bringt, hat sich sten an. Der langjährige AZ-Redakteur Max vor die Tat gestellt und sie unvorstellbar Winter, der als Schöpfer der Sozialreportage gilt, gemacht.“21 Kraus wirft dem literarisierten Jour- betonte in einer Artikelserie zu seiner Arbeits- nalismus vor, dass er die menschliche Einbil- technik: „Nie etwas besser wissen wollen, erst sich dungskraft zugrunde richtet, indem sämtliche belehren lassen durch das Geschaute und Erfrag- Informationen in standardisierter Emotionalität te, Beobachtete und Nachgelesene, dann aber ein präsentiert werden. Ohne Imagination sind aber, eigenes Urteil bilden.“16 Erkenntnis gewinnt, wer für Kant wie für Kraus, weder Urteile noch vorurteilsfrei an die Dinge herantritt, sinnliche Erkenntnisse, weder Kritiken noch Ideen denk- und geistige Erfahrung sammelt, um autonom bar. Das individuelle Bewusstsein deckt sich dann entscheiden zu können. Indem Max Winter den mit jenem der Presse, die als Synchronisierungs- Lesern Informationen liefert, an die sie selbst apparat subjektlose Massen generiert, Horden, nicht kämen, regt er deren Vorstellungskraft an, Kreaturen der Natur, die sich nicht mehr vorstel- belebt die Fähigkeit zum individuellen Urteil, das len können, autonom zu handeln. der Persönlichkeitsbildung dient, und betreibt einen im Krausschen Sinn modernen Journalis- II mus. uch dieser Hang zur moralischen Dichoto- Antiaufklärerisch wirken hingegen jene Stim- A mie, zum Einteilen der Welt in Gut und mungsreporter, die den Feuilletonstil der Neuen Böse, Freund und Feind, lässt eine Affinität des Freien Presse bedienen und dabei jeden Sinn für Autors der Fackel zum Organ der Sozialdemokra- Unterschiede einbüßen. Der Feuilletonist stellt tie erwarten, jener Zeitung, die in der Antithese einen Mensch „ohne Bewußtsein des Kontrasts“17 ihre sprachliche Form findet. Die AZ behauptet dar: „Er nimmt die Welt wahr als eine zufällige nicht, objektiv zu sein, legt keinen Wert auf Neu- Folge von Sinnesreizen, nicht als Schauplatz von tralität, sondern deklariert ihre Parteilichkeit.

14 Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 189. 18 Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de 15 Ebd., S. 191. Siècle. Frankfurt a. M. 1982: S. 9. 16 Zit. nach Hannes Haas: Empirischer Journalismus. 19 Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 238. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. 20 Ebd., S. 424. Wien/Köln/Weimar 1999, S. 252. 21 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt a. 17 Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 448. M. 1986 (= Schriften, Bd. 10), S. 209.

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Analysiert man die Ausgaben der ersten Woche bei uns in Österreich mit einem furchtbaren Acte 190022, fünf aufgrund der Jahrhundertwende pro- der Justiz begonnen“ (NFP 3.1.1900, 1), worauf grammatische Zeitungsnummern, zeigt sich, dass ein emphatisches Bedauern der Grausamkeit von beinahe die Hälfte der innenpolitischen Artikel Hinrichtungen folgt, das in diese Schilderung der des Arbeiterblattes kommentierende Beiträge konkreten Vollstreckung mündet: waren, Texte, in denen die Redaktion zu einem Sachverhalt subjektiv Stellung bezog. Die Leser Dann folgen die Qualen der letzten Nacht, in mögen die apodiktischen Urteile bald bejahend, der die Minuten zu Ewigkeiten sich ausdehnen, bald verwerfend aufgenommen, sich im kollekti- die psychische Folter des allem Lebendigen einge- ven Personalpronomen geborgen oder bedroht pflanzten Triebes, zu leben, der sich gegen das gefühlt haben – Unehrlichkeit lässt sich der AZ Unabwendbare empört, doppelt schrecklich in aber schwer vorwerfen. Liest man die Neue Freie ihrer Einwirkung auf das willensschwache Presse nach demselben Formalkriterium, präsen- Geschlecht, bis endlich der düstere nebelgraue tiert sie sich als schiere Informationsquelle: Nur Wintermorgen anbricht, an dem die Halbtodte jeder zwanzigste Artikel des bürgerlichen Blattes dem Henker überliefert wird. Welch ein Bild! gab sich als Kommentar zu erkennen. Genau (ebd., 2) besehen, entpuppen sich viele der vorgeblich unabhängigen Beiträge als faktenarme Stim- Für die AZ stellten die „Hinrichtungsorgien“ ver- mungsberichte, verkleidete Inserate und tenden- meintlich liberaler Blätter ein gefundenes Fressen ziöse Nachrichten. Bedenkt man, wie sensibel dar: Deren Lektüre gebe „noch etwas mehr ,Stim- Kraus auf Kontraste reagierte, auf Diskrepanzen mung’ als die Wirklichkeit“. (AZ 3.1.1900, 6) zwischen Pose und Tatsache, kann sein Hass Und in seinem Beitrag auf der Titelseite demon- gegen die evidente Bigotterie der Presse kaum ver- strierte das Arbeiterblatt, wann Anführungszei- wundern. Denn es bedarf keines seismographi- chen Sinn stiften können: „In einem Hofe des schen Gespürs, um bedenklich zu finden, dass Wiener Landesgerichtes hat heute Früh die eine Analyse der „Wiener Börsenwoche“ zur Zeit ,Gerechtigkeit’ einen furchtbaren Triumph gefei- des Burenkriegs mit dem Satz schließt: „Der ert.“ (ebd., 1) Friede würde eine ganz neue und viel bessere Protest forderte in diesen Tagen aber nicht nur Situation schaffen“, und ein paar Zeilen später die barbarische Justiz; auch der Kaiser geriet diese Meldung steht: „Die von der Transvaalre- unter Beschuss, jenes Staatsoberhaupt, das am gierung festgesetzten Steuersätze für die südafri- Tag vor Silvester eine Reihe von Notverordnun- kanischen Minen haben in den Kreisen der gen erlassen hatte, Gesetze, die vom Monarch Minenpapier-Besitzer große Besorgnis hervorge- unterfertigt und ohne parlamentarischen Umweg rufen.“23 vom Kabinett exekutiert wurden. Also trat die Bezeichnend wirkt zudem, wie das bürgerliche Arbeiter-Zeitung mit diesen Worten ins anbre- Blatt mit dem Hauptthema der ersten Tage 1900 chende Säkulum: „Mit vier Verfassungsbrüchen umging: der Hinrichtung Juliane Hummels. Die begrüßt man in Österreich das neue Jahr, das junge Frau wurde am 2. Jänner im Wiener Lan- glorreiche zwanzigste Jahrhundert!“, um dann desgericht erhängt, weil sie ihre Tochter vernach- festzuhalten: „die Nothverordnungen sind nichts lässigt und misshandelt hatte, bis das Mädchen Anderes und wollen nichts Anderes sein als mini- an den Qualen gestorben war. An jenem Diens- sterieller Absolutismus“. (AZ 2.1.1900, 1) Die tag befand die Neue Freie Presse, „daß der Gerech- Neue Freie Presse hat ebenfalls von den Erlässen tigkeit gegen Juliane Hummel freien Lauf gelas- des Kaisers berichtet – in einer kommentarlosen sen wurde“, die Strangulation also im Sinn der Meldung betitelt „Die amtlichen Kundmachun- Gerechtigkeit vollzogen werde. (NFP 2.1.1900, gen“: „Auf Grund des §.14 des Grundgesetzes 5) „Daß alle vernünftigen und modern empfin- über die Reichsvertretung vom 21. December denden Menschen die Todesstrafe für eine zweck- 1867 finde ich anzuordnen wie folgt: […] Franz lose Barbarei halten und in jedem Fall gegen sie Joseph m.p.“ (NFP 2.1.1900, 2) Wie ernst das Stellung nehmen“, wähnte die Arbeiter-Zeitung liberale Weltblatt die autokratische Notstandsre- hingegen. (AZ 2.1.1900, 6) Tags darauf druckte gelung nahm, zeigt jene ironische Meldung, die die Presse einen Kommentar auf dem Titelblatt, am folgenden Tag erschien: „Moderne Annon- der mit den Worten anfängt: „Das neue Jahr hat cen. […] Exemplar der Staatsgrundgesetze, bis

22 Vgl. zum Folgenden die Themenanalyse meiner Zeitungen in der Folge durch Angabe ihres Kürzels, des Diplomarbeit: S. 57-81. Datums und der Seitenzahl im Text. 23 Neue Freie Presse, 6.1.1900, S. 11f. Ich zitiere die beiden

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auf einen Paragraph gänzlich unbenützt, ist bil- Während Kraus wesentlich zu belegen trachtet, ligst abzugeben.“ (NFP 3.1.1900, 5) Verglichen wie austauschbar die Metaphern der Zeitungen mit der Presse mutet die AZ wie ein anarchisti- sind, konterkariert das Arbeiterblatt die Parolen sches Pamphlet an, das jede autoritäre Regung, und das Verhalten der Politiker.28 Im retrospekti- jedes außerparlamentarische Dekret auf der Titel- ven Leitartikel der ersten Wochenendausgabe seite mit Sperrdruck und Rufzeichen versieht. 1900, der einen „Beitrag zur Naturgeschichte Weil das Organ der Sozialdemokraten so rigoros österreichischer Minister“ leisten will, konfron- für Demokratie eintrat, erscheint das landläufige tiert die AZ Sprachschablonen vergangener Re- Vorurteil über die Kraussche Neigung zur Mon- gierungen mit Tatsachen: Es sei müßig, von archie kurzsichtig. Denn kein monarchischer neuen Kabinetten zu reden, trotzdem stets diesel- Charakter hätte sich mit der radikaldemokrati- ben Leute regieren – wenngleich unter wechseln- schen Arbeiter-Zeitung eingelassen. dem Vorsitz. „Unfruchtbare, zur Vernichtung der Dass ferner in der Entlarvungstechnik eine Analo- Gesellschaft führende Wege […] dürften nicht gie zwischen Fackel und AZ besteht, kommt im betreten werden. Dem Ministerium Badeni, das gemeinsamen Verlangen nach Konkretion zum eine so scharfe Sprache führte, gehörte wieder Ausdruck, im Wunsch, Verantwortliche beim Graf Welsersheimb, vorher Mitglied der so arg Namen zu nennen. Beide Organe legen öffentli- zugerichteten Ministerien Taaffe und Windisch- che Phrasen bloß, indem sie deren Autoren beim grätz, an!“ (AZ 6.1.1900, 1) Das Organ der Sozi- Wort nehmen. Zerstörung, Reinigung, Ursprung: aldemokraten krault nicht im sprachlichen Kiel- So funktioniert jene methodische Trias, die Walter wasser der Bürokratie, um als neutraler Experte Benjamin aus dem Krausschen Zitatverfahren auftreten zu können, sondern setzt deren abstra- generiert.24 „Im rettenden und strafenden Zitat hierende Lexik, die so scharf ist wie ein Natur- erweist die Sprache sich als die Mater der Gerech- jogurt, parodierend ein. Und auch die Zeitfor- tigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht men dienen der Demaskierung, zumal die Politi- es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben ker ihren eigenen Attributen zum Opfer fallen: damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen „Das Ministerium Wittek, das den § 14 anwen- Ursprung.“25 Die Fackel versetzt die Zeitung in dete, hat zu Mitgliedern die Herren Wittek, ihre Sphäre, reißt die Floskeln aus dem Kontext, Welsersheimb, Chlendowski und Stibral, die als damit sie als Belegstellen ihre Verfasser entlarven Mitglieder des Ministeriums Clary für diese Fälle und sich reinwaschen können. In diesem Sinn die Benützung des § 14 perhorreszirt hatten.“ begreift Benjamin Kraus’ Schreiben als „Sprach- (ebd.) Indem die rückblickenden Relativsätze im prozeßordnung“, die das Wort des anderen als Präteritum und Plusquamperfekt stehen, tritt die Corpus Delicti, als Beweisstück, das eigene aber Diskrepanz zwischen dem, was getan wurde, und als Richtspruch versteht.26 Der Essayist weist dem jenem, das behauptet worden war, noch deutli- Satiriker seinen Platz an der Schwelle des Weltge- cher zutage. richts, dort, wo das Zitat seine wahre Kraft entfal- Dass die AZ diesen entlarvenden Kommentar ten kann: „nicht zu bewahren, sondern zu reini- publizierte, gründet auf jenem kaiserlichen Auf- gen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zer- trag, der den ehemaligen Innenminister Ernest stören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, von Körber ins neue Jahr begleitete: eine Regie- daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert – rung zu bilden. Ministerpräsident Clary hatte im weil man es nämlich aus ihm herausschlug“27. In Dezember 1899 seinen Rücktritt erklärt, weil er dieser destruktiven Vernunft, die nach Benjamin sich weigerte, mit Notverordnungen zu regieren. wahren Humanismus offenbart, findet die Fackel Da sein Eisenbahnminister keine Scheu vor dem ihr politisches Programm: „kein tönendes ,Was Paragraphen 14 zeigte, ernannte Franz Joseph wir bringen’, aber ein ehrliches ,Was wir umbrin- kurzfristig Heinrich Wittek zum Kanzler, um das gen’ hat sie sich als Leitwort gewählt“. (F 1, 1) Geschäft noch vor Silvester zu erledigen. Im Eine Formel, die Läuterung verschmutzter Spra- neuen Jahr ging das Zepter an Körber, der sein che, Zertrümmerung der Klischees verspricht, die Kabinett am 18. Jänner präsentierte. von der Presse verbreitet werden. Wie in der Kadettenschule muss sich der neue

24 Vgl. dazu auch Josef Fürnkäs: Zitat und Zerstörung. Karl Schriften. Frankfurt a. M. 2002, S. 225. Kraus und Walter Benjamin. In: Jacques Le Rider u. Gérard 26 Vgl. ebd., S. 213. Raulet (Hrsg.): Verabschiedung der (Post-) Moderne? Eine 27 Ebd., S. 227. interdisziplinäre Debatte. Tübingen 1987 (= Deutsche 28 Vgl. zum Folgenden die Sprachstilanalyse meiner Text-Bibliothek, Bd. 7), S. 209-225. Diplomarbeit: S. 82-112. 25 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Medienästhetische

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Premier gefühlt haben, als ihm daraufhin ein wahrheit. Allerdings gelingt diese Entlarvung Leitartikel der Neuen Freien Presse seine Aufgabe weniger aufgrund des folgenden Kommentars als diktierte: „Wiederherstellung des verfassungs- in der sprachlichen Darstellung selbst, die jene mäßigen Zustandes durch Hinwegräumung der substantivierten Parolen auf den Boden der Ver- die Function des Reichsrathes behindernden ben zurückholt. Sprachenfragen.“ (NFP 20.1.1900, 1) Wer Das Amtsdeutsch der Neuen Freien Presse allein immer diesen namenlosen Kommentar verfasste, aus Unachtsamkeit zu erklären, wäre aber zu kurz er muss in Hast gewesen sein. Denn seine Infor- gegriffen. Denn das bürgerliche Blatt verfolgt mationen drängeln, Sätze verdichten sich zu ein- eine manipulative Strategie, die den Nimbus der zelnen Wörtern, die Substantive stehlen den Ver- Objektivität und der humanistischen Bildung ben die Funktion, obwohl es mitnichten an Platz gezielt einsetzt, um Meinungen zu lenken. Im mangelt. Und nachdem Körber sein Programm zitierten Leitartikel zum Regierungsprogramm publik gemacht hatte, regnete es auf der Titelsei- nimmt der Verfasser Partei für jene neutrale te der bürgerlichen Zeitung abermals nominali- Bürokratie, die der Kanzler angekündigt hatte: sierte Pflichten: „die einverständliche Beilegung „und mit Spannung warten namentlich die Deut- des nationalen Streites“, „die Wiederherstellung schen auf die Erfüllung dieses Versprechens“, geordneter parlamentarischer Zustände“, „die während die „Autonomisten-Majorität […] gar Beendigung oder doch die wesentliche Milde- keine Miene“ mache, „diese gefährliche Gewohn- rung der nationalen Kämpfe“, „die Einberufung heit der Einflußnahme auf die Verwaltung abzu- der Verständigungs-Conferenz“, „die Unterbrei- legen“. Wenn das Projekt Körber scheitert, liege tung concreter Vorschläge“. (NFP 21.1.1900, 1) die Schuld bei den „Herren Verfassungsgegner“; Hinter diesem gedrängten Formulieren verbirgt also sollten die „Deutschen in Oesterreich“ auf sich weder Sprachökonomie noch Willen zur der Hut sein, denn „nach Allem, was ihnen schon Prägnanz. Es sind die Phrasen der Politiker, die widerfuhr“, hätten sie „das Recht und die Pflicht, das liberale Weltblatt pflichtbewusst rezitiert. vorsichtig zu sein“. (NFP 21.1.1900, 1f.) Eine Aber wie sprachen die Minister in Wien um 1900 derart subtile Verführung möchte man der mega- tatsächlich? Eine bezeichnende Kostprobe findet lomanen Presse gar nicht zutrauen. Klammheim- sich im selben Beitrag, da der Text mit einem lich positioniert sie die gegnerischen Nationen Zitat aus der Regierungskundgebung anfängt: jenseits des Rechtsstaates und verbrüdert das „Eine aufrichtige und ehrliche Politik der Ver- deutsche Volk mit der Verfassung. Anstatt klar zu ständigung, eine feste, unparteiische, vom rasche- nennen, wer das Grundgesetz missachte, spricht ren Pulse der Zeit belebte Verwaltung und die das Blatt von den „Herren Verfassungsgegnern“, Förderung aller auf die Hebung und Erweiterung denen die rechtschaffenen Deutschen gegenüber- der Production gerichteten Bestrebungen“ (ebd.) stehen – eine Synekdoche, die Tschechen und – seien die Ziele des neuen Kabinetts. Versuchte Polen ungerechtfertigt diskreditiert. Dass das man, den offiziösen Leitartikelstil der Presse zu Gros der Verfassungsbrüche de facto im kaiserli- illustrieren, ließe sich keine treffendere Passage chen Missbrauch der Notverordnungen wurzelt, auftreiben. Im Kommentar der Arbeiter-Zeitung verschweigt die gesetzestreue Zeitung hingegen erschien jene Stelle aus Körbers Arbeitsplan para- generös. Auch der folgende Euphemismus dient phrasiert: dem Schein der Unparteilichkeit, zumal „vorsich- tig“ einen neutraleren Eindruck erweckt als „mis- Wer wollte eine „aufrichtige und ehrliche Politik strauisch“, was eigentlich gemeint war. Hätte das der Verständigung“ nicht akzeptiren, eine Blatt geschrieben, dass den Deutschen das Recht „unparteiische, vom rascheren Pulse der Zeit zustehe, „misstrauisch zu sein“, wäre sein Stand- belebte Verwaltung“ nicht wünschen, wer möch- punkt augenfällig tendenziös, aber zumindest te sich Bestrebungen, die die Produktion heben ehrlich gewesen. und erweitern, widersetzen wollen? Nur sind Der Leitartikler der Neuen Freien Presse stilisiert freilich solche „Zielpunkte“ in einem Programm sich als souveräne Autorität, die das Zeitgesche- selten mehr als Gemeinplätze, die zum Ernst nur hen aus unabhängiger Warte einordnet und auf durch Thaten kommen können. explizite Verurteilungen verzichtet. Und doch (AZ 21.1.1900, 1) erfährt der Leser, wer in den Konflikten die Guten und wer die Bösen sind: Wertungen, die Was der Ministerpräsident großmundig als Frie- nicht als subjektives Urteil, sondern als natürliche densstrategie präsentiert, erweist sich in den Spal- Konsequenz erscheinen. Kein Wunder, dass seine ten des Arbeiterblattes als Schablone, als Binsen- Metaphern einen verstaubten Eindruck machen,

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nicht modernen, sondern traditionellen Vorstel- Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung lungen entspringen.29 Wer die altbewährte Presse festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den liest, braucht keine Umstürze zu fürchten, denn Respekt vor jeglichem andern Lebensgut zu leh- ihr Repertoire sprachlicher Bilder steht fest. ren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Daher darf auch im Kommentar zum neuen Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zwei- Ministerium niemand erwarten, dass „die Blume fel? 30 der Verständigung ganz von selbst erblüht“ und es genügt, „die Hände der Regierung in Unschuld Für Kraus stellt Schreiben individuelle Auf- zu waschen“, sobald eine Einigung ausbleibt. klärungsarbeit dar, ein sorgfältiges Abwägen von Körbers Kabinett müsse ernsthaft versuchen, Worten, das zu einer Wahl führen soll, die der „den Abgrund des deutsch-czechischen Sprachen- Sprache als Kulturgut dient, also frei von Kli- streites zu überbrücken und den entgleisten öster- schees ist. Wer die historisch gewachsenen Regeln reichischen Parlamentarismus wieder auf die der Grammatik achtet, seine Gedanken allein Schienen zu stellen“. Zunächst sei es aber Aufga- mithilfe der sprachlichen Zeichen formuliert, för- be einer schlichtenden Konferenz, den „Pfahl aus dert seine Urteilskraft, befreit sich von Vorurtei- dem Fleische des Abgeordnetenhauses“ zu ziehen. len. Zumal aus geistiger Sicht nur jener Persön- Denn das geplante Sprachengesetz einfach „den lichkeit hat, der imstand ist, autonom zu denken noch immer stürmisch bewegten Wellen im Par- und zu handeln, dient Kraus’ unermüdliche Rei- lament anzuvertrauen“, wäre keine Lösung. (NFP nigung der Sprache, die „Trockenlegung des wei- 20.1.1900, 1) Es sind stets anachronistische Ver- ten Phrasensumpfes“ (F 1, 2), der Subjektbil- hältnisse, auf die sich diese Vergleiche beziehen, dung. Er schaufelt jenes individuierende Symbol- keinem Bild liegt das industrialisierte Leben der system frei, das vom tagesaktuellen Müll des Jahrhundertwende zugrunde. Wenn Metaphern Journalismus und der Politik überlagert wird, inflationär zum Einsatz kommen, schwindet der damit das Publikum die Möglichkeit erhält, sich Erkenntnisgewinn – übrig bleibt das Material, die selbst aufzuklären. Sprache liefert die normative leere Worthülle. Grundlage schlechthin, den einzigen Gesetzes- text, der befolgt werden sollte, gerade weil jedes III Zuwiderhandeln straflos bleibt. Es ist die Kanti- lüchtig betrachtet, widersprechen sich der sche, von christlicher Caritas geprägte Vernunft, FVorwurf, gedankenlos zu schreiben, und die die im Kulturspeicher Sprache ruht. Anschuldigung, bewusst zu manipulieren. Näher Dass Kraus just die Presse, jene gesellschaftliche reflektiert, führt der vermeintliche Widerspruch Institution, die den Sprachgebrauch dominiert, in den Kern dessen, was gemeinhin als Kraussche als Saboteur der Aufklärung denunziert, über- Sprachmystik bezeichnet wird. Tatsächlich steht rascht insofern nicht, als Zeitungen wesentlich das Verhältnis des Satirikers zur Sprache auf kei- kommerzielle, nicht moralische Ziele verfolgen. nem mystischen, sondern theoretisch schlüssigen Für Journalisten, die Angestellte eines kapitalisti- Fundament. Kraus besteht auf dem Unterschied schen Unternehmens sind, fungiert Sprache als zwischen dem Talent, das mit der Sprache Mittel zum Zweck, als Werkzeug, das dem schreibt, und dem Genie, das aus der Sprache Geschäft dienen muss. Mit diesem Problem ließe schreibt, weil Sprache in seinen Augen als Kul- sich freilich leben, da es für Kraus ohnehin Auf- turspeicher fungiert, der bei behutsamem Fragen gabe der Kunst ist, in und aus der Sprache zu sämtliche Antworten preisgibt. Was das Genie reflektieren. Was den Widerstand des Satirikers vom Talent trennt, ist seine Integrität, sein ethi- provoziert, ist die Verzahnung der beiden scher Charakter, jene zweifelnde Verantwortlich- Sphären, jenes Gemisch aus Utensil und Kunst- keit gegenüber dem kollektiven Wissen, die es werk, Information und Literatur, das sich nicht fertig bringt, dessen Symbole zu komman- namentlich die Neue Freie Presse an ihre Fahnen dieren: heftet – eine Bigotterie, die behauptet, der Jour- nalismus sei Promotor der Aufklärung. Indem Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in sich Zeitungen literarischer Techniken bedienen, einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem ein- indem sie Fakten feuilletonistisch verbrämen, rui- zigen, was ungestraft verletzt werden kann, der nieren sie die Vorstellungskraft, also jenes Vermö-

29 Vgl. dazu auch Sigurd Paul Scheichl: „Im großen Styl der Wiener Fin de Siècle. Eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft „Wien kaiserlichen Redeweise“. Beobachtungen zu Form und Stil der um 1900“. Wien 1997, v.a. S. 137-141. Leitartikel Moriz Benedikts in der „Neuen Freien Presse“. In: Sigurd 30 Karl Kraus: Die Sprache. Frankfurt a. M. 1989 Paul Scheichl/Wolfgang Duchkowitsch (Hrsg.): Zeitungen im (= Schriften, Bd. 7), S. 372.

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gen, das der Urteilsbildung zugrunde liegt und tasie und damit die Möglichkeit geblieben, eigen- von der Dichtung trainiert wird. Allein die Spra- ständig Urteile zu bilden. Eine Ordnung, die es che vermag dem Ich einen Weg aus der medialen der Kunst überlässt, die Einbildungskraft auszu- Synchronisierungsmaschine zu bahnen: „Denn weiten, den Blick in den sprachlichen Kulturspei- größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre cher zu lenken. keine Phantasie.“31 Der ominöse Spruch: „Mir fällt zu Hitler nichts Dieser Satz steht in Kraus’ sprachtheoretisch ein“, findet sich dann in der folgenden, 315 Sei- dichtestem Aufsatz „Die Sprache“, der Ende ten umfassenden Nummer der Fackel, der Vor- 1932 in der Fackel erschien, kurz nach der deut- stufe zur „Dritten Walpurgisnacht“, die erst schen Reichtagswahl, bei der die NSDAP erneut posthum erscheint. (F 890-905) Frappierend die Mehrheit der Stimmen erhalten hatte. Adolf mutet dieser Satz freilich nur jene an, die im Hitler übernahm das Amt des Reichskanzlers im „nichts“ lediglich das Indefinitpronomen sehen; Jänner 1933, und Karl Kraus schwieg. Erst im denn dass einem zu Hitler doppelsinnig „Nichts“ Oktober kam jene vierseitige Nummer 888 seiner einfällt, ein Nihilismus, der alle humanistischen Zeitschrift heraus, die außer der am Grab des Werte ablehnt, erscheint durchaus begreiflich. Gefährten Adolf Loos gehaltenen Rede das Wie Kraus im Schlusswort zu „Heine und die Gedicht „Man frage nicht“ enthielt, das im Folgen“ geschrieben hatte, erfährt der „Wider- Schlussvers erklärt: „Das Wort entschlief, als jene spruch des neuen Daseins“ im Krieg ereignishaft Welt erwachte.“ (F 888, 4) Die nächste Ausgabe seine Lösung.32 Die Gewalt ist im Chaos des Frie- der Fackel erschien im Juli 1934, ein Heft von 16 dens angelegt, in einer Zeit, „da es selbst die Ober- Seiten, auf denen die flächenwerte […] im Zusam- „Nachrufe auf Karl Kraus“ Dass Kraus zu Hitler „Nichts“ menstoß der Lebensrichtun- gedruckt waren. Der Her- einfällt, ein Nihilismus, der gen nicht mehr gibt“33. Hinter ausgeber publizierte eine dieser Klage steht ein zutiefst alle humanistischen Werte Auswahl von Presseartikeln, modern, ja präbabylonisch die sich mit seinem Ver- ablehnt, erscheint durchaus denkender, der Kantschen stummen befassten, und begreiflich. Universalvernunft verpflichte- stellte jene Berichtigungen ter Mensch. Man mag es, hinzu, die von den Zeitungen veröffentlicht wer- wie Max Weber, die „Entzauberung der Welt“, den mussten. Denn die Journalisten hatten feh- wie Hermann Broch ein „Wertvakuum“ nennen: lerhaft aus seinem letzten Gedicht zitiert, Beistri- Tatsache ist, dass die großen Erzählungen der che vergessen, kleine Anfangsbuchstaben großge- Menschheit in der Säkularisierung allgemeine schrieben. Dem Kopfschütteln der betroffenen Gültigkeit verlieren, dass die umfassenden Zen- Redakteure pflichtet das Gros der Literatur zu tralwerte in autonome Teilsysteme zersplittern. Karl Kraus bis heute bei: Der Satiriker muss ver- Karl Kraus wollte die Idee persönlicher und sozia- rückt gewesen sein, ein unbelehrbarer Egomane, ler Einheit aber nicht aufgeben; für ihn stellten der noch über Kommas und Metaphern sinniert, der Zerfall des Subjekts und der Gesellschaft Zei- wenn Diktaturen errichtet, Menschen reihenwei- chen der Dekadenz dar. „Amerika, das es besser se ermordet werden. Tatsächlich lieferte Kraus hat, und die Welt der alten Formen vereinigen mit dieser Fackel eine Demonstration seiner sich […].“34 Amerika, das es in Goethes „Xenien“ Sprachtheorie, seinen Beweis, warum es zu Hitler nur besser hat, weil keine geschichtliche Last kommen konnte. Die Menschen fielen dem herr- seine Gegenwart beschwert, steht hier für den schsüchtigen Demagogen zum Opfer, weil sie grassierenden Pluralismus, jene Vielfalt der Stim- durch jahrelange Zeitungslektüre bereits gleich- men, die nun auch den europäischen Kontinent geschaltet waren, weil jenes gedankenlose, instru- verwirre. Und obwohl dem Satiriker bewusst ist, mentelle Schreiben der Journalisten die Sicht auf dass er auf verlorenem Posten kämpft, gehorcht er die urteilsstärkende, persönlichkeitsbildende dem Dämon, der seine Lebensfäden zieht. Denn Kraft der Sprache verstellte. Ohne Feuilleton also die Fantasie wendet sich von den Entmenschten kein Hitler. Denn wenn sich die Presse auf ihre jenem Schönheitswesen zu, „das gegen die uner- Aufgabe beschränkt hätte, nämlich für Geld bittliche Wut der Zeit seine Trümmer vertei- Information zu liefern, wäre dem Publikum Fan- digt“35.

31 Ebd., S. 373. 34 Ebd. 32 Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 218. 35 Ebd. 33 Ebd., S. 219.

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Wenn es im Krausschen Werk eine Figur gibt, in sende Haltung bereithält. Was dieser „Proteus“38 der sich jenes zersetzende Konglomerat der als Manifeste der Kunst präsentierte, als Ausdruck modernen Welt musterhaft repräsentiert, dann permanenter Veränderung, stellte sich für Kraus heißt sie Hermann Bahr. Seit den Jugendjahren als Assimilation an den sich wandelnden Zeitgeist verkörpert der Wortführer Jung-Wiens die haltlö- dar. sende Kraft des empirischen Fortschritts, steht als Im Ensemble des Wiener Fin de Siècle scheint es abschreckendes Exempel für das, was diese tatsächlich nur einen Zarathustra gegeben zu Modernisierung aus einem macht. Bahr hatte haben, nur einen Dandy39, der imstand war, sich metaphysische Begriffe wie Wahrheit, Sein und selbst zu erfinden, allen Konformismen zu entge- Subjekt verabschiedet, trat in vermeintlicher hen, tradierte Moralvorstellungen zu demontie- Gefolgschaft Nietzsches für ein ewiges Werden ren, ohne die kritische Arbeit aufzugeben; ja der ein, das von der quälenden Pflicht der Verant- die Kongruenz von Kritik und Leben erkannte, wortung befreie und die Tür zu einem angstlo- wie Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ in sen, auf den Augenblick gerichteten Dasein öffne, fluktuierender Existenz die Einheit der Persön- in dem Kritik und Vernunft wie neurotische lichkeit infrage stellte. Also sprach Peter Alten- Zwänge anmuten. Im Gegensatz zu Kraus berg: „Der ,Einzige’ sein ist wertlos, eine armse- begrüßte sein Antipode die Unrettbarkeit persön- lige Spielerei des Schicksals mit einem Individu- licher Identität, die sich in Ernst Machs Analyse36 um. […] Wahre Individualität ist, das im vor- in Empfindungen aufgelöst hatte: aus allein zu sein, was später alle, alle werden müssen!“40 Adorno sah in diesem Künstlerleben Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten daher kein romantisches L’art pour l’art, sondern Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. kritische Prophetie, in der Nerven negativ jene Nun droht sie, auch uns zu vernichten. Da wer- Reize abwehren, die nicht mit Ansprüchen korre- den wir erkennen, daß das Element unseres spondieren. „Mit solcher Kritik schlagen bei Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Altenberg Aesthetentum, Impressionismus und Illusion. Für mich gilt, nicht was wahr ist, Dekadenz um in eine subjektive Technik zur Vor- sondern was ich brauche, und so geht die Sonne wegnahme besserer gesellschaftlicher Zustände.“41 dennoch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin Auch Karl Kraus hatte dies Anderssein des Ich. 37 befreundeten Poeten erkannt, der Angst als akti- ve Kraft interpretierte, aus der sich Fantasie Hermann Bahr erscheint im Spiegel der Fackel als schöpfen lässt – jene glaubhaft postmoderne Antizipation des Postmodernisten, eines Men- Weise, in einer babylonischen Welt zu leben, die schen also, der vor der Diktatur des Verstandes, er, der aufklärende Kantianer, wohl als hoff- dem Totalitarismus der Aufklärung in eine sinnli- nungsvoll begreifen, aber nicht nachvollziehen che Welt flüchtet, in der sich Dinge nach indivi- konnte: „Treue im Unbestand, rücksichtslose duellen Bedürfnissen richten, Geschichte als Selbstbewahrung im Wegwurf, Unverkäuflichkeit Kramladen dient, der für jede Situation die pas- in der Prostitution.“42

Simon GANAHL (1981) Geboren in Bludenz, studierte in Wien und Hamburg Kommunikationswissenschaft, Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie. Für den Herbst 2005 ist die Aufnahme eines Doktoratsstudiums geplant. Neben dem Studium journalistische Publikationen (Berichte, Reportagen und Rezensio- nen) in den Tageszeitungen „Der Standard“ und „Vorarlberger Nachrichten“ sowie dem Nachrichtenmagazin „profil“.

36 Vgl. dazu Ernst Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. 39 Vgl. zu dieser Interpretation des Dandyismus Michel Abgedruckt in Kurt Rudolf Fischer (Hrsg.): Das goldene Foucault, Was ist Aufklärung, S. 44f. Zeitalter der Österreichischen Philosophie. Wien 1995, 40 Peter Altenberg: Auswahl aus seinen Büchern von Karl S. 93-116. Kraus. Frankfurt a. M. 1997, S. 135f. 37 Hermann Bahr: Das unrettbare Ich. In: Gotthart Wunberg 41 Theodor W. Adorno: Physiologische Romantik. In: (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik Frankfurter Zeitung, 16.2.1932, S. 2. zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981, S. 148. 42 Karl Kraus: Rede am Grabe Peter Altenbergs. In: Peter 38 Karl Kraus: Zur Ueberwindung des Hermann Bahr. In: Altenberg, Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus, Frühe Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. Johannes J. Braakenburg. S. 521. München 1979, S. 107.

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Ein „einsamer“ Wissenschaftler? Erich Everth und das Leipziger Institut für Zeitungskunde zwischen 1926 und 1933. Ein Beitrag zur Bedeutung des Biographischen für die Geschichte der Zeitungswissenschaft Erik Koenen

1. Aufriss mit seinen Kollegen in Berlin, München, Frei- burg, Nürnberg, Halle, Heidelberg, Köln oder er Wissenschaftshistoriker und -soziologe Münster pflegte. Umgekehrt blieb sein eigentli- DTerry N. Clark beschreibt fünf „Stadien wis- ches wissenschaftliches Anliegen, an der Frage der senschaftlicher Institutionalisierung“: den einsa- kognitiven Identitätsfindung des Faches orien- men Wissenschaftler, Amateurwissenschaft, ent- tiert, der Zeitungswissenschaft ein exklusives stehende akademische Wissenschaft, etablierte Erkenntnisobjekt zu offerieren, von den meisten Wissenschaft und Big Science.1 seiner Kollegen unreflektiert. Anhand der ersten vier Stadien dieser Systemati- Abgesehen des Materialobjekts „Presse“, das eine sierung kann man die generelle institutionelle erste, formale Gemeinsamkeit des Faches Zei- Entwicklung des Faches Zeitungswissenschaft bis tungswissenschaft definierte, existierte kein eini- 1933 darstellen.2 Aber geht man ferner auf die gendes und identitätsstiftendes Formalobjekt.6 Ebenen der Akteure, der Institute sowie der wis- Bereits in der Leipziger Antrittsvorlesung „Zei- senschaftlichen Leistungen und Ressourcen ein, tungskunde und Universität“ (1926) machte so zeigt sich eine „erhebliche professionelle Ano- Everth auf dieses Defizit aufmerksam und ent- mie“3 in der Institutionalisierung der Zeitungs- wickelte die Konturen seiner originären Konzep- wissenschaft: Ausbildung und Lehre an den ein- tion: Den Journalismus in seiner allgemeinsten zelnen Instituten waren lokal organisiert, die Funktion als Vermittler zwischen Gesellschaft Arbeitsbedingungen und -möglichkeiten waren und Öffentlichkeit zu sehen, war seine Anregung desolat und miserabel, zu den Aufgaben, Wegen für die Bündelung des materialen Gegenstands- und Zielen des Faches wurde bei seinen Vertre- feldes und die Begründung einer spezifischen tern kein Konsens erreicht, sie forschten meist Gegenstandsperspektive der Zeitungswissen- einsam für sich und vernetzten wissenschaftliche schaft. Entsprechend charakterisierte er „Presse“ Leistungen wenig miteinander.4 und „Zeitung“ nicht als materiale, sondern sozia- Ein Beispiel:5 Der Journalist Erich Everth hat le Formen, die mit ihrer weiteren Umwelt in 1926 als Nachfolger von Karl Bücher einen Ruf Wechselwirkung stehen.7 an das Leipziger Institut für Zeitungskunde be- Es ist für die Beurteilung des kognitiven und so- kommen und dort das erste, für die weitere Eta- zialen Institutionalisierungsstatus des Faches in blierung und Formierung des Faches wichtige der Zeit der Weimarer Republik wichtig zu fra- Ordinariat für Zeitungswissenschaft in Deutsch- gen, warum sich Everth damit gegenüber ande- land übernommen. Betrachtet man die kärglich ren, konkurrierenden Ansätzen und Ideen nicht überlieferten, primären Quellenreste zu Everths behaupten und seine Konzeption durchsetzen zeitungswissenschaftlichem Wirken, so ist zu konnte – was dann auf die allgemeine Frage nach bemerken, dass er in dieser äußerst fachrelevanten den Gründen für die Ablehnung, die Diversifika- Position nur gelegentliche persönliche Kontakte tion, den Progress, die Sanktionierung oder die

1 Terry N. Clark: Die Stadien wissenschaftlicher 4 Vgl. Stefanie Averbeck: Kommunikation als Prozess. Institutionalisierung. In: Peter Weingart (Hrsg.): Soziologische Perspektiven in der Zeitungswissenschaft. Wissenschaftssoziologie II. Determinanten wissenschaftlicher Münster 1999, S. 43-101; hier S. 43. Entwicklung. Frankfurt a.M. 1974, S. 105-121. 5 Vgl. Hans Bohrmann/Arnulf Kutsch: Pressegeschichte und 2 Rüdiger vom Bruch: Einleitung zu: ders./Otto B. Roegele Pressetheorie. Erich Everth (1878-1934). In: Publizistik 24. (Hrsg.): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Jg. (1979), Heft 3, S. 386-403. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen 6 Vgl. Stefanie Averbeck/Arnulf Kutsch: Thesen zur Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Geschichte der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft 1900- Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1986, S. 1-30 gliedert die 1960. In: Medien & Zeit 17. Jg. (2002), Heft 2-3, S. 57- institutionelle Entwicklung der Zeitungswissenschaft in 66; S. 58, S. 60. eine Vor-, Früh-, Etablierungs- und Formierungsphase. 7 Erich Everth: Zeitungskunde und Universität. 3 Clark, Die Stadien wissenschaftlicher Institutionalisierung, Antrittsvorlesung, gehalten am 26. November 1926. Jena S. 110. 1927.

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Verzögerung methodischer und theoretischer 2. Fachgeschichte – Lebensge- Innovationen in der Entwicklung der Zeitungs- schichte – Theoriegeschichte wissenschaft hinweist. Aus den disparaten Entstehungsmilieus der Zei- Hans Bohrmann und Arnulf Kutsch charakteri- tungswissenschaft resultierte ein heute kaum sieren die Geschichte der Zeitungswissenschaft mehr zu entwirrendes Gemenge von auseinander- bis 1933 als eine „Geschichte ihrer Fachvertre- laufenden, ungleichen und unterschiedlichen ter.“11 Das spiegelt sich auch in der jüngeren Interessen, Motiven und Zielen, in das die „betei- Fachgeschichtsschreibung wider, die die Ge- ligten Gelehrten“ und die „mitwirkenden Perso- schichte der einzelnen zeitungswissenschaftlichen nen des Verleger- und Pressewesens“ eingebun- Einrichtungen und Institute meist entlang der den waren.8 Sicher beschäftigte man sich mit ähn- Lebensgeschichte, des Lebensweges und des Le- lichen Fragen und Problemen, doch war man benswerks der beteiligten Personen schreibt.12 Es dabei nicht zuerst an der Etablierung eines ist dann allerdings um so verwunderlicher, dass gemeinsamen identitätssiftenden Kanons von die Anlage, der Ertrag, die Fragen, die Schwierig- fachlich leitenden Erkenntnisinteressen und keiten, die Reichweite und die Systematik des institutionellen Normen interessiert, der in biographischen Ansatzes in der Fach- und Theo- gegenseitiger Anerkennung und letztlich in der riegeschichte nur gelegentlich diskutiert werden.13 wissenschaftlichen Reputation des Faches und Meist bedienen sich die „biographisch-institutio- seiner Vertreter mündete, sondern ließ sich eben- nellen“ Studien einer Reihe an Determinanten, so von kleinlichen Animositäten und Intrigen, die von biographischen Elementen (besonders persönlichen Interessen und Konkurrenzen wie Faktoren der primären und sekundären Sozialisa- konfessionellen oder politischen Motivationen tion) zu wissenschaftsinternen (bspw. Aufbau, und Werten leiten. Lehre, Forschung, Struktur und Ressourcen von Erst in der Folge des Berliner „Siebenten Deut- Instituten) und -intervenierenden Momenten schen Soziologentages“ zum Thema „Presse und (u.a. Gesellschaft, Staat, Medien, Politik, Wirt- öffentliche Meinung“ (1930) entfaltete sich, schaft) reicht. Aber dabei bleiben bedeutsame getragen von einigen wenigen Nachwuchswissen- methodische Fragen eines biographischen Zu- schaftlern, ein interdisziplinäres Adaptions- und gangs zur Fach- und Theoriegeschichte schlicht- Rezeptionsmilieu zwischen Soziologie und Zei- weg offen: Darf man von der Biographie und der tungswissenschaft, in das manches von den Ideen Sozialisation eines Wissenschaftlers auf seine wis- und Konzepten Everths wieder einfloss.9 senschaftlichen Interessen und Perspektiven Damit bestätigt sich das bei Stefanie Averbeck schließen? Was bringt die Entschlüsselung bio- gezeichnete Bild von der Zeitungswissenschaft in graphischer Kontexte der Fach- und Theoriege- der Weimarer Republik: Sie blieb oftmals Einzel- schichte, wo liegen der Gewinn und die Grenzen? forschung ohne inhaltliche oder organisatorische Wie kann man die Wechselwirkung zwischen Kooperationen. Die „einsamen“ Wissenschaftler biographischen Erfahrungselementen und wis- dominierten, trotz Fortschritten in der Institutio- senschaftlichen Ideen und Leistungen rekonstru- nalisierung, in dieser Zeit die Zeitungswissen- ieren? schaft.10 Und das lenkt den Blick auf eine Fach- Lothar Peter hat diese Fragen für die Geschichte geschichte, die die Bedeutung der Akteure, der Soziologie aufgeworfen und darauf hingewie- deren Biographien und ihr Handeln in wissen- sen, dass biographische Momente nicht an sich, schaftlichen Milieus und Prozessen für die sondern nur insofern sie Faktoren der „Produk- Entwicklung der Ideen- und Sozialgestalt tion“ wissenschaftlicher Erkenntnisse sind, eine der Zeitungswissenschaft in den Mittelpunkt Relevanz für die Fach- und Theoriegeschichte rückt. erlangen können: Sie haben dabei erstens eine

8 Vgl. vom Bruch, Einleitung, S. 13f., S. 19f., S. 20. Entwicklungsperspektiven zukünftiger Informationssysteme. 9 Vgl. Averbeck, Kommunikation als Prozess, S. 76-91. München/New York/London/Paris 1983, S. 213-232, S. 10 Vgl. ebd., S. 43f. 224f.; Michael Meyen/Maria Löblich: Warum 11 Bohrmann/Kutsch, Pressegeschichte und Pressetheorie. Erich Institutsgeschichte, warum Bausteine, warum gerade diese? Everth (1878-1934), S. 386. Einleitung zu: dies. (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und 12 Vgl. Averbeck/Kutsch, Thesen zur Geschichte der Zeitungs- Kommunikationswissenschaft in München. Bausteine zu und Publizistikwissenschaft 1900-1960, S. 58. einer Institutsgeschichte. Köln 2004, S. 9-19, S. 12ff.; Maria 13 Vgl. vom Bruch, Einleitung; Arnulf Kutsch: Zur Löblich: Das Menschenbild in der Bedeutung von Archivalien für die Historiographie der Kommunikationswissenschaft. Otto B. Roegele. Münster Zeitungswissenschaft. In: Fachgruppe Presse-, Rundfunk- 2004, S. 14-17. und Filmarchivare im Verein Deutscher Archivare (Hrsg.):

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„mitgestaltende“ Funktion in Bezug auf charakte- Aus finanziellen Gründen scheiterte der Versuch ristische Dispositionen in der Auswahl, Bearbei- einer Habilitation in dieser Richtung. Doch blieb tung, Entwicklung und Zielsetzung wissenschaft- er diesem Gegenstandsfeld insofern treu, als er in licher Fragen, Ideen, Interessen, Perspektiven und den folgenden Jahren kontinuierlich zu Fragen Themen sowie zweitens in Bezug auf spezifische und Themen der Ästhetik, der Kunst und der Eigenschaften und Kompetenzen in der Kommu- Literatur publizierte. nikation in wissenschaftlichen Diskursen und Hauptberuflich arbeitete Everth nach seinem Milieus.14 Studium als Journalist anderthalb Jahrzehnte für Ähnlich bewerten Stefanie Averbeck und Arnulf große deutsche Zeitungen: Erst war er als Feuille- Kutsch in ihrer Forschungs- tonist bei der in Essen systematik zur Geschichte Mit seiner Antrittsvorlesung erscheinenden alldeutschen der Zeitungs- und Publizi- wollte Everth den Bedenken und industriellenfreundli- stikwissenschaft die Bedeu- von Journalisten, Verlegern chen Rheinisch-Westfäli- tung und Berücksichtigung schen Zeitung sowie als Kor- von Akteuren und biogra- und Zeitungswissenschaftlern respondent der konservati- phischen Momenten: „Hier entgegenwirken. ven Magdeburgischen Zei- zeigt sich die Verschrän- tung in Berlin beschäftigt. kung von Ideen- und Sozialgestalt, vermittelt ins- Gegen Ende des Ersten Weltkrieges und in der besondere über die Motivation der Forschenden, Weimarer Republik war er dann nacheinander in hohem Maße.“15 Hauptschriftleiter und Ressortleiter bei dem Leipziger Tageblatt, der Vossischen Zeitung, der 3. Biographische Orientierung: Deutschen Allgemeinen Zeitung sowie als Erich Everth (1878-1934) Korrespondent des Berliner Tageblatts in Wien tätig. Ausgehend von diesen ersten orientierenden Hin- Als man Everth 1926 auf den gerade errichteten weisen möchte ich nun die Tragfähigkeit und die zeitungswissenschaftlichen Lehrstuhl an die Uni- Reichweite des biographischen Ansatzes für die versität Leipzig berufen hat, konnte er nur auf Fach- und Theoriegeschichte der Zeitungswissen- sein geisteswissenschaftliches Studium, seine schaft weiter erörtern und zu Erich Everth Beschäftigung mit ästhetischen, kunst- und lite- zurückkommen. raturwissenschaftlichen Gegenständen sowie Erich Everth,16 am 3. Juli 1878 in Berlin geboren, seine journalistische Tätigkeit verweisen. Insofern begann nach dem Abitur an den Universitäten gaben sich die alten und die neuen Kollegen Berlin und Leipzig Rechtswissenschaft, Geschich- abwartend, irritiert und überrascht. Seine Beru- te, Philosophie, Kunstwissenschaft und Philoso- fung verband man ebenso in journalistischen wie phie zu studieren. In Berlin gehörten Gelehrte in wissenschaftlichen Kreisen mit dem Ausbau wie die Philosophen Eduard von Hartmann und der Beförderung einer mehr oder weniger (1842-1906) und Friedrich Paulsen (1846-1908) praktizistischen Perspektive in der Zeitungswis- sowie die Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin senschaft. (1864-1945) und Max Dessoir (1867-1947) zu Mit seiner Antrittsvorlesung wollte Everth diesen seinen Lehrern. Angeregt von Dessoir, arbeitete Bedenken und Vorstellungen von Journalisten, Everth vornehmlich an ästhetisch-kunstphiloso- Verlegern und Zeitungswissenschaftlern entge- phischen Fragen und reichte 1908 eine Promoti- genwirken. Entsprechend präsentierte er ein kla- onsschrift zu dieser Thematik an der Universität res Programm und setzte den Schwerpunkt gera- Leipzig bei dem Philosophen August Schmarsow de nicht in der Ausbildung von Journalisten, son- (1853-1936) und dem Kunsthistoriker Johannes dern in der Forschung und Lehre. Seine Aufgabe Volkelt (1848-1930) ein. Am 6. Mai 1909 erwarb sah er dabei insbesondere in der Schärfung der er dort an der Philosophischen Fakultät für seine begrifflichen und methodologischen Ausgangsla- Arbeit „Der Bildrahmen als ästhetischer Aus- ge und der wissenschaftlichen Erkenntnisziele des druck von Schutzfunktionen“ die Doktorwürde. Faches.

14 Lothar Peter: Warum und wie betreibt man 16 Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Philosophische Fakultät, Soziologiegeschichte? In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte Promotionsakte Nr. 943: Erich Everth; Personalakte Nr. 1997/98. S. 9-64; S. 33-40. 448: Erich Everth; Bohrmann/Kutsch, Pressegeschichte und 15 Averbeck/Kutsch, Thesen zur Geschichte der Zeitungs- und Pressetheorie. Erich Everth (1878-1934). Publizistikwissenschaft 1900-1960, S. 57.

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4. Journalismus und Zeitungs- Theorie“ der Presse eben genauso viel, wenn wissenschaft: Fragen und Thesen nicht mehr, beizutragen wie ein weltfremder Zei- tungstheoretiker. Erich Everth, der vor seiner Berufung allein am Folgt man den Hinweisen, dass bei einer sich eta- Rande, tagesaktuell und publizistisch orientiert, blierenden Disziplin von dem besonderen Ein- zu Fragen und Themen von Öffentlichkeit, fluss der einzelnen Fachvertreter auszugehen ist,21 Pressewesen und Zeitungswissenschaft Stellung so formuliere ich als Annahme und Fragen: nahm,17 veröffentlichte seinen ersten, genuin zei- All seine Erfahrungen in der journalistischen Praxis tungswissenschaftlichen Aufsatz in einer Sonder- nutzte Erich Everth als eine Quelle für die Ausge- nummer der Verbandszeitschrift des Reichsver- staltung seines zeitungswissenschaftlichen Ausbil- bandes der deutschen Presse – Deutsche Presse – dungs- und Forschungsprogramms. zum Thema „Zeitungskunde und journalistische Was sind dies für Erfahrungen und Vorstellungen, Berufsbildung“. Für Everths Weg in die Zei- die bei Everth ebenso in sein journalistisches Ausbil- tungswissenschaft ist dieser kleine Beitrag mit dungskonzept wie in seine zeitungswissenschaftliche dem Titel „Was kümmert Zeitungskunde den Theorie einfließen? Wann, wie und wo werden sie Pressemann?“ programmatisch zu verstehen:18 von ihm weiter reflektiert? Ausgehend von der beobachteten „Unkenntnis“ Dabei berühren meine Annahme und Fragen bei einem Gros der „Zeitungsleser“ und „Zei- zugleich ein ideengeschichtliches Forschungspro- tungstheoretiker“ gegenüber der „Natur der Zei- blem in der Entwicklung der Zeitungswissen- tung“ verweist er darauf, dass es für die Aus- und schaft: Vorbildung im Journalismus und eine Theorie Inwiefern bildeten und formten individuelle Erfah- der Presse nur „ersprießlich“ und „produktiv“ rungen und strukturelle Entwicklungen im journa- sein kann, wenn hier vermehrt die „praktischen listischen Feld den Kontext für eine wissenschaftliche Erfahrungen“ derer Eingang finden, die in die- Reflexion von Journalismus und Presse? sem Metier wirken.19 Damit griff Everth nicht allein einen Gedanken ie Zeitungswissenschaft entwickelte sich in im Ausbildungskonzept des Leipziger Instituts- DDeutschland (ab 1892), geprägt von den gründers Karl Bücher (1847-1930) auf, sondern Erkenntnisinteressen, den Denkmotiven und den wirkte zugleich dem Zweifel um die eigene Qua- methodischen und theoretischen Perspektiven lifikation für die Zeitungswissenschaft entgegen:20 einer Reihe von Leitwissenschaften (wie Ge- Aufgrund einer fast anderthalb Jahrzehnte umfas- schichts-, Literatur-, Staats- und Rechtswissen- senden journalistischen und publizistischen Tä- schaften) als ein primär multiperspektivisch, tigkeit hat ein – hier beschreibt er sich selbst – sekundär kulturwissenschaftlich orientiertes „im praktischen Beruf ergrauter Professor“ und Fach.22 Im Mittelpunkt der Zeitungswissenschaft Zeitungsfachmann zur „Beschäftigung mit der standen die gesellschaftliche Funktion der Presse

17 Vgl. bspw. Erich Everth: Der zukünftige Pressedienst der zur Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin in Deutschland. deutschen Auslandsvertretungen. In: Die Gegenwart 46. Jg. In: Publizistik 49. Jg. (2004), Heft 2, S. 194-206; S. 194. (1917), Heft 21-22, S. 250-253 oder ders.: Öffentlichkeit. 22 Vgl. Averbeck/Kutsch, Thesen zur Geschichte der Zeitungs- In: Leipziger Tageblatt. Nr. 25, 14.1.1918 (Abendblatt), und Publizistikwissenschaft 1900-1960, S. 58, 59. Vgl. zum S. 1-2. Begriff und zum Programm der Kulturwissenschaften 18 Erich Everth: Was kümmert Zeitungskunde den Pressemann? Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf In: Deutsche Presse 16. Jg. (1926), Heft 50-51, S. 8-9. Hübinger: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissen- 19 Aus allgemeiner wissenschaftshistorischer Sicht schaften um 1900. Einleitung zu: dies. (Hrsg.): Kultur und argumentiert Everth hier mit dem neuen „Forschertypus“ Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und des „Experten“, der in der Weimarer Republik immer Glaube an die Wissenschaft. Wiesbaden 1989, S. 9-24; mehr an Relevanz gewinnt. Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Die Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Graf: Idealismus – Positivismus. Grundspannung und Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik; Vermittlung in Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Jonathan Harwood: Forschertypen im Wandel 1880-1930. Einleitung zu: dies. (Hrsg.): Kultur und Kulturwissen- In: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.): schaften um 1900 II. Idealismus und Positivismus. Stuttgart Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen 1997, S. 9-23. Für die Einordnung der Zeitungswissen- zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im schaft in die Kulturwissenschaften sprechen die zwei Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, S. 60-74 frühen, fachgeschichtlich zentralen Publikationen von und 162-168. Emil Löbl: Kultur und Presse. Leipzig 1903 und Karl 20 Vgl. bspw. die Reaktionen Zeitungswissenschaftlicher Bücher: Das Zeitungswesen. In: Paul Hinneberg (Hrsg.): Lehrstuhl in Leipzig. In: Deutsche Presse 16. Jg. (1926), Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele. Heft 40-41, S. 22 oder Prof. Dr. Erich Everth. In: Bd. 1: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Zeitungswissenschaft 1. Jg. (1926), Heft 11, S. 177. Gegenwart. Leipzig 1906, S. 481-517. Eine konkrete 21 Vgl. Michael Meyen: Wer wird Professor für Fruchtbarmachung dieses Konzepts für die Geschichte der Kommunikationswissenschaft und Journalistik? Ein Beitrag Zeitungswissenschaft steht noch aus.

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und deren strukturelle Wirkungen auf die Gesell- Verantwortlichkeit von Journalisten sowie drit- schaft. Dem folgten – immer bezogen auf das tens die Vorstellung von Journalismus als das Materialobjekt „Presse“ – erstens die bevorzugten alleinige Handeln, Tun und Werk einiger begab- Gegenstände, deren Explikation und Konzepti- ter und talentierter „publizistischer Persönlichkei- on: Beschreibung der „Eigengesetzlichkeit“ und ten“ (Emil Dovifat) ohne die weitergehende der „Wesensmerkmale“ der Presse (Medienzen- Berücksichtigung von gesellschaftlichen Bedin- trierung) sowie Bestimmung des Verhältnisses gungen und organisatorischen Bezügen.25 zwischen aktiven „publizistischen Persönlichkei- Aus ideengeschichtlicher Sicht wurden die Ele- ten“, ihren Mitteilungen und einem passiven mente und Komponenten dieser ethisch-normati- Massenpublikum (Kommunikatorzentrierung). ven Journalismuskonzeption den am Ende des 19. Hierauf gründete zweitens ein elitäres und hierar- Jahrhunderts erforderlich gewordenen, standes- chisches, monologisches und massenpsychologi- politischen Strategien, Semantiken und Rhetori- sches Verständnis von Kommunikation und Wir- ken zur Formierung des Berufsfeldes Journalis- kung: Mitteilungen werden über das Medium mus und Presse und zur Konsolidierung des Presse vom Kommunikator an die Rezipienten Berufsprestiges der einzelnen Journalisten ent- weitergegeben, die Inhalte der Mitteilungen und lehnt. Dieser normative Rahmen hinderte die ihre Wirkungen werden als vom Kommunikator Zeitungswissenschaft an der Begründung eines festgelegt und gleichgesetzt gedacht.23 eigenen Erkenntnisinteresses am Journalismus Auch wenn damit die Annahme nahe liegt, dass und von stringenten Forschungsperspektiven zur in diesem zeitungswissenschaftlichen Erklärungs- Ergründung des journalistischen Feldes.26 und Erkenntnisangebot mit der wechselseitigen Angefangen mit den sog. „Berufspraktikern“ Bedingung und Verknüpfung von Inhalten, wurde das ideengeschichtliche Spektrum von Kommunikatoren und Presse der Erforschung Journalismuskonzeptionen in der Zeitungswis- des journalistischen Feldes ein zentraler Stellen- senschaft neben standespolitischen Rhetoriken wert zukam, so ist zu konstatieren, dass das Fach um Reflexionen zur journalistischen Praxis und seine Vertreter lediglich an einer historisch- ergänzt. Die einzelnen Arbeiten der sog. „Prakti- monographischen Erforschung von Journalismus kerliteratur“ sind in ihren Inhalten und Intentio- und Presse und keiner sozialwissenschaftlichen nen weit gespannt: Sie gehen in weiten Teilen auf Untersuchung von Journalismus interessiert Fragen der allgemeinen journalistischen Berufs- waren.24 Man erkannte die Bedeutung und Funk- kunde ein, liefern Beschreibungen von Redakti- tion von Journalisten und Publizisten bei der onsalltag und Verlagspraxis und erörtern zudem Koordination der modernen Gesellschaft und für journalismus- und zeitungswissenschaftliche Pro- die Orientierung in einer pluralen Öffentlichkeit, bleme.27 Insgesamt zeigt die Durchsicht dieser insbesondere ihre Verantwortung in dem Dreieck Publikationen: Immer erweitern sie, mit dem Presse, Politik und Öffentlichkeit, aber reduzierte Blick auf und unter dem Eindruck der journali- diese Einsicht zumeist auf ethische, normativ- stischen Erfahrung, die ethisch-normative Journa- ontologische und subjektivistische Annahmen lismuskonzeption der Standespolitik um explizit und Vorstellungen: Erstens die Annahme einer reflexive Momente. journalistischen Begabungsideologie, zweitens die Aus sozialgeschichtlicher Sicht ist zu beobachten, Mutmaßung eines hohen journalistischen Berufs- dass von den Fachvertretern der ersten und der ethos und die Unterstellung einer großen sozialen zweiten Generation nicht wenige als Journalisten

23 Vgl. die Idealkonzeption der sog. „Konservativen Theorie des Journalismus. In: Roland Burkart/Walter Dogmatik“ in der Weimarer Zeitungswissenschaft von Hömberg (Hrsg.): Kommunikationstheorien. Ein Textbuch Averbeck, Kommunikation als Prozess, S. 31ff., S. 145-173. zur Einführung. Wien 2004, S. 117-140. 24 Vgl. Achim Baum: Journalistisches Handeln. Eine 26 Vgl. Joachim Heuser: Zeitungswissenschaft als kommunikationstheoretisch begründete Kritik der Standespolitik. Martin Mohr und das „Deutsche Institut für Journalismusforschung. Opladen 1994, S. 114-131; Frank Zeitungskunde“ in Berlin. Münster/Hamburg 1994, S. 27- Böckelmann: Journalismus als Beruf. Bilanz der 35; Petra Klein: Die Positionen der Zeitungsverleger und - Kommunikatorforschung im deutschsprachigen Raum von redakteure zur Journalistenausbildung zwischen 1945 bis 1990. Konstanz 1993, S. 31-36. Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Magisterarbeit. 25 Vgl. Martin Löffelholz: Theorien des Journalismus. Leipzig 1997. Entwicklungen, Erkenntnisse, Erfindungen. Eine meta- 27 Vgl. Otto Groth: Die Geschichte der deutschen theoretische und historische Orientierung. In: ders. (Hrsg.): Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München Theorien des Journalismus. Ein diskursives Handbuch. 1948, S. 301-331; Sieglinde Osang: Vom freien Beruf des Wiesbaden 2000, S. 15-60; ders: Journalismuskonzepte. Journalisten. Eine Inhaltsanalyse journalistischer Eine synoptische Bestandsaufnahme. In: Irene Neverla/Elke Praktikerliteratur von 1900 bis 1930. Diss. phil. Salzburg Grittmann/Monika Pater (Hrsg.): Grundlagentexte zur 1977; Sylke Müller: Deutsche Presselehrbücher 1890-1918. Journalistik. Konstanz 2002, S. 35-51; Manfred Rühl: Ein Literaturbericht. Diplomarbeit. Leipzig 1990.

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oder wenigstens mit langjährigen journalistischen mus) in der Weimarer Republik (der Journalis- Erfahrungen den Weg in die Zeitungswissen- mus wurde erstmals als gesellschaftliche Instanz schaft gingen – hier liegt eine intellektuelle Wur- zwischen Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit zel der Zeitungswissenschaft. Ich nenne einige gesehen) seine zeitungswissenschaftlichen Annah- wenige bekanntere Persönlichkeiten: Karl men und Vorstellungen prägten. Bücher, Martin Mohr (1867-1927), Leo Benario Everths „Theorie der Öffentlichkeit und der (1875-1947), Kurt Baschwitz (1886-1968), Emil Interessen“ basiert auf einer funktionalen Vorstel- Dovifat (1890-1969) und Erich Everth. Sie ent- lung der Aufgaben und Leistungen der Presse für wickelten aus ihren journalistischen Erfahrungen die moderne Gesellschaft und in einer pluralen heraus alle eine eigene Vorstellung von Journalis- Öffentlichkeit. mus, man vergleiche nur die Konzeptionen von Baschwitz, Dovifat oder Everth. Diese sind 6. Erfahrungswelten jeweils zwischen den Vorstellungen von Prakti- kern und Standespolitikern zu verorten. Im Folgenden möchte ich in groben Zügen auf Genau dieser Konnex der beruflichen journalisti- die bislang kaum erforschte Biographie von Erich schen und publizistischen Erfahrungen und der Everth eingehen und mit seinen Erfahrungen im Reflexion des journalistischen Handelns späterer Ersten Weltkrieg und im Journalismus in der Zeitungswissenschaftler und die Relevanz dieser Weimarer Republik wesentliche biographische Erfahrungen für die fachliche Ausbildung, Lehre Kontexte umreißen, vor dem sein zeitungswissen- und Forschung ist bislang lediglich am Rande schaftliches Werk entstanden und zu verstehen erforscht und untersucht worden.28 ist. Bei dem breiten journalistischen und publizisti- schen Schaffen sowie dem originären zeitungswis- Erster Weltkrieg senschaftlichen Werk bietet sich eine Beschäfti- Am Anfang des Ersten Weltkrieges als Soldat an gung mit der Biographie von Erich Everth an, um der Ostfront, war Erich Everth nach einer Ver- solche Fragen an dieser Stelle wenigstens in zwei wundung Referent und Zensor in der Militärver- Thesen zu vertiefen: waltung: Ende 1915 ging er nach Kowno zur Presseabteilung Ober-Ost, die der Pressedezer- 1. Auf einer pragmatischen Ebene: Es ist anzu- nent Erich Ludendorffs (1865-1937) Friedrich nehmen, dass die journalistischen Erfahrungen Bertkau (1876-1956) leitete. Im Sommer 1917 Everths sein Verständnis von journalistischer Aus- ging er zum „Literarischen Dienst“ der Pressever- und Vorbildung prägten. Die drei Komponenten waltung des Generalgouvernements Warschau, waren Berufsvorbereitung, Presseethik und Zei- den Martin Mohr (1867-1927) leitete.29 tungskompetenz. Martin Mohr30 befasste sich bereits seit Anfang Die Presseethik war der Anteil Everths und sie des Jahrhunderts mit der Etablierung und Kon- meinte nicht die Vermittlung eines festen Kanons stituierung eines Faches Zeitungswissenschaft an von Tugenden im Sinne der Standespolitik, son- den Universitäten. Er arbeitete dabei u.a. in den dern sie wollte bei den angehenden Journalisten „Zeitungswissenschaftlichen Kommissionen“ des zum Verständnis ihrer gesellschaftlichen Funkti- Reichsverbandes der deutschen Presse und des on beitragen, indem sie am Beispiel konkreter Vereines der deutschen Zeitungs-Verleger und journalistischer Handlungsprobleme die generel- engagierte sich dort für die Entwicklung einer len Annahmen, Bedingungen, Folgen und genuinen Fachbildungskonzeption und ihrer Ver- Schwierigkeiten eines verantwortungsvollen jour- wirklichung in zeitungswissenschaftlichen Insti- nalistischen Handelns reflektierte. tuten. In den Jahren des Krieges nutzte er nun die Situa- 2. Auf einer theoretischen Ebene: Es ist zu ver- tion, um die primären Aufgaben der Pressever- muten, dass die spezifischen journalistischen waltung im Generalgouvernement Warschau, die Erfahrungen Everths (er war immer als Elite- Analyse, Beobachtung und Zensur der deutschen Journalist bei großen Zeitungen tätig; sein und polnischen Presse, mit zeitungswissenschaft- wesentliches Ressort war der politische Journalis- lichen Fragestellungen zu verknüpfen. Wichtige

28 Vgl. bspw. Dieter Anschlag: Wegbereiter im Exil. Kurt Dokumente zu Leben und Werk. Berlin/New York 1998; Baschwitz. Journalist und Zeitungswissenschaftler. Münster Bernd Sösemann (Hrsg.): Fritz Eberhard. Rückblicke auf 1990; Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein Biographie und Werk. Stuttgart 2001. katholischer Hochschullehrer und Publizist. Mainz 1986; 29 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft als Standespolitik, S. 52. Bernd Sösemann (Hrsg.): Emil Dovifat. Studien und 30 Vgl. ebd., S. 47-50, S. 50-56, S. 57-65.

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Ergebnisse waren die „Warschauer Tafeln“ (1917) Sommer 1926 auf den vakanten zeitungswissen- mit ihren Darstellungen zur Struktur der polni- schaftlichen Lehrstuhl in Leipzig hingewiesen schen Presse sowie seine Denkschrift „Zeitung hat.35 Friedrich Bertkau promovierte 1928 bei und neue Zeit“ (1919). In dieser fasste er seine Erich Everth und Walter Goetz (1867-1958) in bisherigen organisatorischen Erfahrungen und Leipzig mit seiner Studie „Das amtliche Zei- wissenschaftlichen Vorstellungen zur Konzeption tungswesen im Verwaltungsgebiet Ober-Ost“.36 eines zeitungswissenschaftlichen Instituts zusam- Bertkau hatte sich, aufgrund seiner jahrelangen men, die er 1924 in Berlin mit der Einrichtung praktischen Erfahrungen im Journalismus und des „Deutschen Instituts für Zeitungskunde“ ver- im Pressewesen, als späterer Assistent Mohrs und wirklichte. schließlich nach dessen Tod kommissarischer Lei- Martin Mohrs Denkschrift markierte aber nicht ter des „Deutschen Instituts für Zeitungskunde“, nur „den Durchbruch zur Institutionalisierung“ eine Chance auf die Nachfolge von Mohr ausge- der Zeitungswissenschaft,31 sondern war ebenso rechnet, scheiterte dabei jedoch an seiner man- einer der ersten Versuche zur Formulierung eines gelnden wissenschaftlichen Qualifikation für die expliziten zeitungswissenschaftlichen Erkenntnis- Zeitungswissenschaft. Anders als bei seinem Für- interesses: Das Erkenntnisobjekt der Zeitungs- sprecher Everth lange bei Bertkau sein ebenso rei- wissenschaft blieb für ihn freilich das Materialob- cher Erfahrungsschatz nicht hin, um den Sprung jekt „Presse“, gleichwohl öffnete er deren Er- in die erste Riege der Zeitungswissenschaft zu kenntnisperspektive mit einer „funktionellen“ schaffen.37 Sichtweise in zwei Richtungen. Erstens erkannte er die spezifische soziale Organisationsstruktur Journalismus in der Weimarer Republik von Journalismus: Der geschäftliche und der Ab Oktober 1917 arbeitete Erich Everth wieder technische Apparat, die einzelnen Berichterstat- als Journalist und wurde – betrachtet man seine ter, Redakteure und Verleger sowie der Vertrieb vorherigen Anstellungen als Feuilletonist der sind in dem „Unternehmen“ „Zeitung“ zu einer Rheinisch-Westfälischen Zeitung sowie Korrespon- sozialen „Einheit“ verbunden. Zweitens sah er die dent der Magdeburgischen Zeitung, zeigt sich hier mannigfaltigen ökonomischen, politischen und ein großer Karrieresprung – Hauptschriftleiter sozialen Beziehungen zwischen „Gesellschaft“ des Leipziger Tageblatts. und „Zeitung“ und rückte sie „mitten in die Die ersten anderthalb Jahre, die er für das Leipzi- Erscheinungen des öffentlichen Lebens.“32 Damit ger Tageblatt arbeitete, waren einerseits dadurch umriss Mohr genau jene „funktionale Perspekti- geprägt, nun auf der anderen Seite der deutschen ve“, die dann originär von Erich Everth und Karl Pressezensur zu stehen wie die Zeit der deutschen Jaeger (1897-1927) aufgegriffen und weiterent- Revolution 1918/19, in der seine Redaktion wickelt wurde.33 „wiederholt von sozialistischen Horden besetzt Erich Everth, der anderthalb Jahre in der polni- und auf viele Wochen unterdrückt“ wurde.38 schen Presseverwaltung arbeitete, fand mit Mar- Diese Erfahrungen und Everths Erlebnisse im tin Mohr und Friedrich Bertkau eine erste per- Krieg, von denen er eindrücklich in seiner Schrift sönliche Bande zur Zeitungswissenschaft und „Von der Seele des Soldaten im Felde“ (1915) pflegte diese Beziehungen nach dem Ende des berichtet, lösten bei ihm einen auffälligen, aber Krieges weiter.34 Es war mit einiger Sicherheit damals nicht ungewöhnlichen Auffassungswan- Martin Mohr, der, in personelle Entscheidungen del aus:39 Er vollzog einen politischen Einstel- der kleinen Fachgemeinde eingeweiht, Everth im lungswandel von einem Gemisch nationallibera-

31 Vgl. Hans Bohrmann: Martin Mohr, Zeitung und neue 35 Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Philosophische Fakultät, B Zeit. In: Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch (Hrsg.): 2, 20/12: Professur für Zeitungskunde 1921-1942. Darin: Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Brief von Erich Everth an Felix Krueger, Dekan (Wien, Wiesbaden 2002, S. 317-318; S. 318. 22. Juni 1926), Bl. 12. 32 Martin Mohr: Zeitung und neue Zeit. Vorschläge und 36 Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Philosophische Fakultät, Forderungen zur wissenschaftlichen Lösung eines sozialen Promotionsakte Nr. 1438: Friedrich Bertkau. Grundproblems. München/Leipzig 1919, S. 4-16; S. 4, 10. 37 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft als Standespolitik, 33 Vgl. Arnulf Kutsch/Stefanie Averbeck: Das Fachstichwort: S. 221f., S. 255-258. Publizistische Wissenschaft versus Zeitungskunde. In: dies. 38 Vgl. Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für (Hrsg.): Karl Jaeger. Mitteilung statt Medium. Probleme, Volksbildung Sachsen, Nr. 10281/135: Erich Everth. Methoden und Gegenstände der publizistischen Wissenschaft. Darin: Brief von Erich Everth an Wilhelm Hartnacke, München 2000, S. 259-296; S. 262. Volksbildungsminister (Leipzig, 18.7.1933), 34 Vgl. Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für Volks- Bl. 110-124; 113. bildung Sachsen, Nr. 10281/135: Erich Everth. Darin: 39 Vgl. Bohrmann/Kutsch, Pressegeschichte und Pressetheorie. Brief von Erich Everth an Wilhelm Hartnacke, Volks- Erich Everth (1878-1934), S. 388. bildungsminister (Leipzig, 18.7.1933), Bl. 110-124; 118.

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ler, konservativer und monarchistischen Ideen blik 1918/19 an, über die Konstituierung, die und Positionen zu einem liberal denkenden Konflikte und Krisen 1919-23 bis zur Phase der Demokraten, der die neue Staats- und Rechtsord- Stabilisierung der Weimarer Republik 1924-26. nung der Weimarer Republik beharrlich und ent- Liest man seine Artikel heute wieder, so ist immer schlossen vertrat und verteidigte.40 noch die Akribie auffallend und bemerkenswert, Seine Arbeit für das Leipziger Tageblatt war dabei mit der er jederzeit das aktuelle Geschehen beob- entscheidend: Als Hauptschriftleiter äußerte er achtete, sowie sein Engagement und Interesse, sich meist in Leitartikeln und prägte mit den mit denen er dieses kommentierte. rund 450 Aufsätzen und Beiträgen, die er in den Gleichzeitig wandelte sich in der Weimarer Repu- sechs Jahren seiner Tätigkeit schrieb, maßgeblich blik der strukturelle Erfahrungskontext, sprich den politischen Standort der Zeitung. Steffen das journalistische Feld, dessen organisatorische, Reichert hat den politischen Richtungswechsel rechtliche und wirtschaftliche Bedingungen, und des Leipziger Tageblatts unter der redaktionellen die journalistische Profession, deren Rolle in Verantwortung von Erich Everth untersucht: „Bis Gesellschaft und Öffentlichkeit.42 zur Novemberrevolution auf nationalliberalen Positionen stehend, trat das Leipziger Tageblatt 7. Zeitungswissenschaft danach mit liberaldemokratischen Standpunkten für die Weimarer Republik und ihre Verfassung Bei der Auswahl eines Amtsnachfolgers von Karl ein. Das Leipziger Tageblatt sprach sich für eine Bücher als Direktor des Leipziger Instituts für Zusammenarbeit mit der reformistischen Arbei- Zeitungskunde und in der Frage der Besetzung terbewegung und besonders mit der Sozialdemo- des Ordinariats für Zeitungswissenschaft spielten kratie (Unterstützung des Weimarer Koalitions- die praktischen Erfahrungen und Kenntnisse gedankens) aus. Dagegen lehnte das Blatt alle sowie die mediale Prominenz der Kandidaten Versuche zur Zerstörung der Weimarer Koalition eine gewichtige Rolle. Sowohl Emil Dovifat, auf Länder- und Reichsebene ab und wies alle Alfred Herrmann (1879-1960) und Erich Everth, Angriffe auf die Republik scharf zurück (Kapp- die drei letztlichen Kandidaten des Berufungsvor- Putsch und Rathenau-Mord). (...) Außenpoli- schlags der Philosophischen Fakultät, zeichneten tisch forderte die Zeitung die Akzeptierung des sich neben einem geisteswissenschaftlichen und Versailler Vertrages und eine Politik der Verstän- historischen Studium durch ein exponiertes jour- digung vor allem mit den Ententemächten.“41 nalistisches Wirken aus.43 Auch in den Redaktionen der Vossischen Zeitung“, Gleichwohl hatte die Fakultät ihrerseits den der Deutschen Allgemeinen Zeitung und des Berli- „größten Wert“ darauf gelegt, dass „in erster Linie ner Tageblatts blieb er seiner in diesen Jahren mit Dr. Dovifat verhandelt werde.“44 Dass gefestigten liberalen Orientierung treu. Seine schließlich Erich Everth, der eigentlich nur der häufigen Redaktionswechsel deuten eher auf eine dritte Kandidat war, vom Dresdener Kultusmini- Abneigung gegen das Lavieren des demokrati- sterium zum 1. November 1926 zum Direktor schen Lagers und seiner Presse in den Krisenmo- und Ordinarius des Instituts für Zeitungskunde menten der Weimarer Republik wie eine Unste- ernannt wurde, hatte „ausschließlich parteipoliti- tigkeit hin. sche Gründe“.45 Der Sächsische Kultusminister Insgesamt begleitete Erich Everth mit seinen hielt – wie er in einer mündlichen Unterredung journalistischen Artikeln das öffentliche Leben den Dekan der Philosophischen Fakultät unter- und die politische Kultur in Deutschland vom richtete – ebenso Dovifat wie Herrmann für diese letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, der Abdan- Aufgaben „nicht geeignet“, da beide „ausgespro- kung des Kaisers und der Ausrufung der Repu- chene Zentrumsmänner“ seien:

40 1922 unternahm Everth eine Befragung unter demokra- 43 Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Philosophische Fakultät, B tisch gesinnten Professoren, 1931 und 1932 unterschrieb 2, 20/12: Professur für Zeitungskunde 1921-1942. Darin: er die Erklärungen des Weimarer Kreises. Vgl. Herbert Berufungsvorschlag der Philosophischen Fakultät an das Döring: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Ministerium für Volksbildung Sachsen (Leipzig, 22. Juli Verhalten verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer 1926), Bl. 18-24. Republik. Meisenheim am Glan 1975, S. 73-76, S. 257. 44 Universitätsarchiv Leipzig, Philosophische Fakultät, B 2, 41 Steffen Reichert: Politische Differenzierungsprozesse in den 20/12: Professur für Zeitungskunde 1921-1942. Darin: Leipziger nichtproletarischen Tageszeitungen 1918 bis 1933. Berufungsvorschlag der Philosophischen Fakultät an das 2 Bde. Diplomarbeit. Leipzig 1989, Bd. 1, S. 14f., S. 19- Ministerium für Volksbildung Sachsen (Leipzig, 22. Juli 52, S. 53-67, Bd. 2, S. 1-8; S. 7. 1926), Bl. 24. 42 Vgl. Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Einführung, 45 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft als Standespolitik, Systematik, Glossar. Konstanz 2000, S. 113-257. S. 260f.; S. 261.

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Es geht doch nicht an, dass wir (...) gerade eine man nur an der Universität Leipzig Zeitungswis- solche Professur mit einem Zentrumspolitiker senschaft im Haupt- und Promotionsfach studie- besetzen lassen, in einer Zeit, da dem Zentrum ren konnte.50 nahestehende Kräfte auch in Sachsen jede Gele- Die Lehre, die Erich Everth anbot, bezog sich genheit zu benutzen verstehen, um Männer ihrer hauptsächlich auf die Geschichte der Presse im geistigpolitischen Farbe auf leitende Beamten- 19. und 20. Jahrhunderts, die Ethik, Psychologie und Berufsstellen zu bringen.46 und Soziologie der Presse, die Organisation, Sta- tistik und Technik der Presse, die begrifflichen Everth selbst, dem die Debatte zwischen der Phi- Grundlagen des Zeitungswesens sowie schließlich losophischen Fakultät und dem Ministerium erst die systematische Zeitungswissenschaft – und im Nachhinein zu Ohren kam, verwies in seinem verweist auf sein Grundverständnis von Zeitungs- Empfehlungsschreiben prononciert auf seine wissenschaft: Sie „ist ein theoretisches Fach wie langjährigen „praktischen Erfahrungen“ und „Er- alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die lebnisse“ als „Zeitungsfachmann“ und im „Zei- an der Universität“ angeboten werden, den künf- tungsberuf“.47 All dies, betonte er in Absetzung zu tigen Journalisten kann sie keine Ausbildung, den fachlich prominenteren Kandidaten Dovifat sondern nur eine Vorbildung vermitteln.51 In die- und Herrmann, die bereits eine gewisse Reputati- sem Sinn hielt er an den bereits von Karl Bücher on in der Zeitungswissen- initiierten Kursen von Prak- schaft hatten, „kann durch „Die Zeitungswissenschaft tikern der Presse fest, die eine rein theoretische auf die Arbeit des politi- Beschäftigung mit Zei- kann künftigen Journalisten schen Journalisten, des tungsproblemen nicht keine Ausbildung, sondern Wirtschaftsjournalisten, des ersetzt werden und in einer nur eine Vorbildung vermit- Feuilleton-, des Lokal-, kürzeren Praxis kaum Kommunal- und Provinzi- erreicht werden.“48 Indes teln.“ (Erich Everth) al- oder des Sportredakteurs zeigen Everths Antrittsvor- vorbereiten sollten. lesung „Zeitungskunde und Universität“ (1926) Neben der Lehre betreute er in den sieben Jahren und sein Curriculum „Das Studium der Zei- seines zeitungswissenschaftlichen Wirkens 59 tungskunde an der Universität Leipzig“ (1928), Promotionen, deren inhaltliche Schwerpunkte in in denen er sein Ausbildungs- und Forschungs- der Geschichte der deutschen Presse, der Presse- programms darlegte, dass er sich nicht allein auf statistik und Pressewirtschaft lagen. Auffallend „einem großen Reservoir eigenen Erlebens“ aus- ist, dass die pressehistorischen Studien nicht ruhen wollte, sondern vielmehr versuchen wollte, allein als monographische Untersuchungen von seine „persönlichen Erinnerungen“ zugunsten einzelnen Blättern oder publizistischen Persön- einer historisch-systematischen Profilierung der lichkeiten angelegt sind, sondern die jeweils Zeitungswissenschaft zu nutzen.49 besonderen gesellschaftlichen und historischen Die besondere Stellung, die das Leipziger Institut Bedingungen beachten sowie unter politischen, für Zeitungskunde mit der Einrichtung der psychologischen, soziologischen oder wirtschaft- ordentlichen Professur in den Jahren zwischen lichen „Gesichtspunkten“ verfasst sind.52 1926 und 1933 einnahm, spiegelt sich in den Die Basis für diese Perspektive ist Everths Defini- Zahlen der Hochschulstatistik wider: Nicht nur tion der Erkenntnisgegenstände der Zeitungswis- dass das Fach insgesamt unter den Studierenden senschaft: Ausdrücklich begriff er die Presse als an Beliebtheit gewann (1928/29: 133, 1932/33: im „geistigen Leben“ der Zeit eingebettet und 220 Immatrikulationen), das Leipziger Institut bezeichnete deren gesellschaftliche Beziehungen, war mit 89 Immatrikulationen (1932/33) das die politischen, sozialen und wirtschaftlichen größte Institut des Faches in Deutschland gewor- „Verbindungsfäden“ der Zeitung als genuine den – was auch im Wesentlichen daran lag, dass Erkenntnisobjekte.53 Folglich verstand er Zei-

46 Universitätsarchiv Leipzig, Philosophische Fakultät, 49 Ebd. Personalakte Nr. 448: Erich Everth. Darin: Notiz von 50 Vgl. Josef Wilkens: Entwicklung und heutiger Stand des Felix Krueger, Dekan (Leipzig, 27.10.1926), Bl. 5. zeitungswissenschaftlichen Studiums. In: Zeitungs-Verlag 47 Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für Volksbildung 34. Jg. (1933), Heft 33, S. 542. Sachsen, Nr. 10281/135: Erich Everth. Darin: Brief von 51 Vgl. Erich Everth: Das Studium der Zeitungskunde an der Erich Everth an F. Kaiser, Volksbildungsminister (Wien, Universität Leipzig. Leipzig 1928, S. 3f., S. 5-8; S. 3. 6.8.1926), Bl. 11-13; 11. 52 Everth, Zeitungskunde und Universität, S. 6. 48 Ebd., Bl. 12. 53 Ebd., S. 13.

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tungswissenschaft als ein Fach, das nicht auf einer ersten Band einer umfangreichen Untersuchung Methode aufbauen kann, sondern eher eine zum Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit im Reihe von Methoden verschiedener Wissenschaf- Wandel der europäischen Geschichte vor, die sich ten integrieren muss.54 historisch-komparativ und -systematisch der Analyse der Geschichte der modernen Öffent- Presse und Öffentlichkeit: Form und Prozess lichkeit und der Historizität ihrer Bedingungen, Angelehnt an die Konzeptionen der Soziologen Formen und Funktionen widmete.58 Im Winter der formalen Schule Georg Simmel (1858-1918) 1923 berichtete er in einer Artikelreihe für die und Leopold von Wiese (1866-1969), die ab- Vossische Zeitung von der aufkommenden und strakte soziale Formen historisch spezifischen In- sich formierenden nationalsozialistischen Bewe- halten gegenüberstellten, beschrieb Erich Everth gung in München und warnte bereits zehn Mo- die „Presse“ als „Sozialform“, die mit „allen ande- nate vor dem Hitler-Putsch im November 1923 ren gesellschaftlichen Institutionen“, seien es nun vor den Gefahren, die daraus erwachsen könn- „gegenseitige Abhängigkeiten“ oder „mannigfa- ten.59 Und er erkannte hinter all dem „Klamauk“ che Beziehungen“, in „vielfacher Wechselwir- und „Zirkus“ klar die Öffentlichkeitsstrukturen kung“ steht, und maß ihr die elementaren und sowie die gefährlichen ideologischen Züge der spezifischen „Funktionen“ der „Vermittlung“ in nationalsozialistischen Bewegung: Antisemitisch, einer Gesellschaft zu.55 gegen Liberale und Sozialdemokraten, für eine Ferner bestimmt dieses Denkmotiv einer prozes- nationalsozialistische Revolution, Progrome und sual ablaufenden und vermittelnden Kommuni- Terror. kation sein Verständnis über die Wechselwirkun- gen zwischen Presse und Öffentlichkeit. Ausge- Erforschung der journalistischen Profession hend vom Standpunkt einer interessenorientier- Für Erich Everth ist der Journalist ein „Abhängi- ten Wechselwirkung zwischen Presse, Politik, und ger“ im „gesellschaftlichen Gefüge“ und keine Publikum definierte er Öffentlichkeit als eine all- autonom handelnde „publizistische Persönlich- gemein zugängliche Sphäre des demokratischen keit“, was in einer damals originären soziologi- Ausgleichs und der diskursiven Vermittlung von schen Bestimmung der journalistischen Professi- Interessen in der modernen Gesellschaft.56 on mündete.60 Brachte Everth alle „Funktionen“ Als individuelles Motiv dafür ist Everths politi- der Presse „auf einen Generalnenner, der Ver- sche Orientierung als liberaler Demokrat und mittlung heißt“, dann hat der „Journalist“ die Journalist anzusehen; die parlamentarische De- „Grundfunktion“ des „Vermittlers“ inne:61 mokratie Weimars ist der weitere Kontext. Diese Haltung spiegelte sich bei ihm in einer normativ Er stellt Verbindungen her zwischen der Welt postulierten publizistischen Pflicht der Presse, im und dem Einzelnen, zwischen den Leitern des öffentlichen Interesse und zum öffentlichen Staates und den Machern der Politik überhaupt Wohl zu handeln, wider: „Eine ‘freie Presse’ kon- einerseits, dem Publikum auf der anderen Seite, trolliere diese ‘innere Art von Öffentlichkeit’, und zwar hin und her; und ebenso ist es auf indem sie dafür sorge, daß die ‘öffentlichen Ange- allen anderen Gebieten journalistischer Tätig- legenheiten wirklich öffentlich werden’.“57 keit, auf dem wirtschaftlichen, geistigen, Die inhaltliche Beschäftigung mit Formen und lokalen. 62 Strukturen von Öffentlichkeit ist eine Konstante im journalistischen Schaffen und zeitungswissen- Entsprechend entwickelte er in seiner Antritts- schaftlichen Werk von Erich Everth. Mit seiner vorlesung die Leitlinien zu einer „soziologischen Studie „Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik Betrachtung“ der Presse mit berufs-, betriebs- von Karl V. bis Napoleon“ (1931) legte er den und organisationssoziologischen Komponenten.63

54 Vgl. ebd., S. 6. Nr. 41, 25.1.1923 (Morgenblatt), S. 4; ders.: Ein- 55 Vgl. Stefanie Averbeck: Erich Everth. Theorie der Hitler.Putsch. In: Vossische Zeitung Nr. 45, 27.1.1923 Öffentlichkeit und der Interessen. In: Arnulf Kutsch/Stefanie (Morgenblatt), S. 1-2; ders.: Nationalsozialistische Ziele. In: Averbeck (Hrsg.): Großbothener Vorträge III. Bremen Vossische Zeitung Nr. 47, 28.1.1923 (Sonntagsblatt), S. 4; 2002, S. 9-31, S. 19ff.; Everth, Zeitungskunde und ders.: Hitler und die Seinen. In: Vossische Zeitung Nr. 93, Universität, S. 22, 23, 15, 16, 18. 24.2.1923 (Morgenblatt), S. 4. 56 Vgl. Averbeck, Erich Everth, S. 11ff. 60 Averbeck, Erich Everth, S. 14. 57 Ebd., S. 13; Everth, Zeitungskunde und Universität, 61 Everth, Zeitungskunde und Universität, S. 18, 22. S. 7, S. 30. 62 Ebd., S. 22. 58 Vgl. Averbeck, Erich Everth, S. 21-26. 63 Vgl. ebd. 59 Erich Everth: Die Nationalsozialisten. In: Vossische Zeitung

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Dabei problematisierte er die Handlungen in journalistischer Praxis sowie der Rolle des Journa- Redaktionen und Verlagen, die Rollen von Jour- listen in Gesellschaft und Öffentlichkeit. nalisten, Redakteuren und Verlegern wie die In genauer Kenntnis der ideologisch aufgela- Strukturen von Betrieben und Unternehmen der denen und vorbelasteten Debatten und Kontro- Presse: versen zur Aus- und Vorbildung von Journalisten wies er jedwedes Gerede von „Begabung“ und Als Unternehmen und Betrieb ist die Zeitung „spezifischer Eignung“, von „geborenen Journali- eine Sozialform in sich (...). Die Organisation sten“ oder „journalistischem Instinkt“, „Talent“ dieses Betriebes ist mit den Methoden der Orga- und „Temperament“ zurück.68 Und er umriss die nisationssoziologie zu behandeln. Die Redaktion Schwerpunkte einer ebenso „brauchbaren“ wie im besonderen (...) ordnet sich wieder in arbeits- „praktischen“ Bildung und Schulung der ange- teilige Untergruppen, in sogenannte Ressorts, henden Journalisten und künftigen Redakteure: nach dem Inhalt der Arbeit, Abteilungen, die eine Ethik der Presse, eine Pädagogik der Leser natürlich untereinander in Wechselwirkung ste- sowie eine Psychologie der Journalisten und Ver- hen, nicht bloß in gemeinsamer Unterordnung leger.69 unter eine Spitze (...). (...) Dieser Gemeinschaft Es ist zu betonen, dass Erich Everth die pragma- steht (...) der Verlag gegenüber mit den kauf- tische Dimension der journalistischen Aus- und männischen Abteilungen, und das Verhältnis Vorbildung in Relation zur theoretischen Dimen- zwischen beiden ist abermals nicht bloß geschäft- sion seines zeitungswissenschaftlichen Werkes lich, sondern auch menschlich, mit positivem entwickelt hat. Unter den Bedingungen seiner oder negativem Vorzeichen; die Regel wird eine demokratischen und diskursiven Vorstellung von Mischung zwischen Harmonie und Gegensatz Öffentlichkeit reflektierte er in seinen Entwürfen sein. (...) Zwischen Verlag und Redaktion steht zur „Theorie der Öffentlichkeit und der Interes- der Chefredakteur, doch seiner Aufgabe gemäß sen“ genau jene ethischen Prämissen und Prinzi- so, daß er enger zur Redaktion als zum Verlag pien, die den funkionalen Kern der Rolle des gehört (...).64 Journalisten in einer modernen Gesellschaft und Öffentlichkeit bilden: Angesichts der öffentlichen Mit diesem Forschungsprogramm war Erich Aufgabe der Presse zur „Gestaltung der Gemein- Everth einer der wenigen im Fach, der seinen schaft“ sind in der journalistischen Arbeit eben Blick bei der Erforschung des Journalismus nicht nicht die „persönlichen, subjektiven Interessen mehr nur in die Vergangenheit richtete und die des Redakteurs (...) maßgebend“, sondern dieser „publizistischen Persönlichkeiten“ in den Mittel- muss sich an seiner „Verpflichtung zur Vertretung punkt der Zeitungswissenschaft stellte. Allerdings öffentlicher Interessen“ orientieren.70 Dennoch, konnte er dieses anspruchsvolle Programm nur in den schwierigen Weg zwischen dem Bedarf der einigen wenigen Promotionen verwirklichen65 – Leser nach „Klatsch“ und „Skandal“, der Wah- wie Max Webers Presse-Enquete (1910) waren rung des „öffentlichen“ „Interesses“ und „Wohl- doch solche Untersuchungen immer noch vom es“, letztlich der „Gemeinschädlichkeit“ und Wohlwollen der Verleger abhängig.66 „Gemeinnützlichkeit“ der Presse, hat der Journa- list gemäß seiner Erfahrungen und seines Gewis- Ethik der journalistischen Profession sens selbst zu gehen – hier wird man sich mit dem Mit seinem Verständnis und seinen Vorstellungen „Appell an die Überzeugung des Einzelnen als zur journalistischen Profession gelang Erich letzte Instanz begnügen müssen.“71 Everth die „Entemotionalisierung“67 der landläu- Erich Everth, der alle Forderungen nach einer figen zeitungswissenschaftlichen Betrachtung von Lenkung, Reglementierung oder Zensur der Pres-

64 Ebd., S. 23. 67 Karl-Ursus Marhenke: Die Disziplinierung medialer 65 Vgl. Manfred Rietschel: Der Familienbesitz in der Kommunikation und die Anonymität des Journalisten. Eine deutschen politischen Tagespresse. Leipzig 1928; Wolfgang Debatte um 1900. Magisterarbeit. Leipzig 1999, S. 97. Hellwig: Unternehmungsformen der deutschen Tagespresse. 68 Everth, Zeitungskunde und Universität, S. 7-10. G.m.b.H. und A.-G. Leipzig 1929; Horst Heenemann: 69 Vgl. ebd., S. 7-10, S. 19-22. Die Auflagenhöhen der deutschen Zeitungen. Ihre 70 Erich Everth: Die Zeitung im Dienste der Öffentlichkeit. Entwicklung und ihre Probleme. Berlin 1929. Eine begriffliche Grundlegung. In: Archiv für Buchgewerbe 66 Vgl. Arnulf Kutsch: Max Webers Anregung zur empirischen und Gebrauchsgraphik 65. Jg. (1928), Heft 4, S. 1-30; S. 7, Journalismusforschung. Die „Zeitungs-Enquete“ und eine S. 13. Redakteurs-Umfrage. In: Publizistik 33. Jg. (1988), Heft 1, 71 Ebd., S. 24, S. 25. S. 5-31; S. 22f.

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se ablehnte, ging statt dessen in einem aktuellen Am Ende komme ich auf meine Ausgangsfrage medienethischen Sinne von einer geteilten und zurück: War Erich Everth ein „einsamer“ Wissen- „gestuften Verantwortung“72 von Journalisten, schaftler? Sein Nachfolger Hans Amandus Mün- Redakteuren, Verlegern und Publikum aus: Nur ster (1901-1963) schrieb 1941 in der Festschrift so kann die Presse gleichzeitig eine „freie Presse“, zum 25-jährigen Bestehen des Leipziger Instituts „Spiegel des Lebens“ wie „Dienerin des Volkes“ für Zeitungskunde: sein.73 Everth hat einen großen Teil (...) seiner Lehr- und Forschungsarbeit darauf verwandt, der Zei- 8. Schluss tungskunde eine begriffliche Grundlegung zu geben, um sie so zur Zeitungswissenschaft zu Ich konnte an dieser Stelle lediglich mit einigen erheben. (...) Everth beschritt, um seinen Ziel wenigen Strichen die Bedeutung des Biographi- näher zu kommen, einen Weg, der von vielen als schen für die Kontinuität des journalistischen zu theoretisch abgelehnt wurde. Man wollte Schaffens und des zeitungswissenschaftlichen praktische Ergebnisse sehen und ließ ihm keine Werks von Erich Everth skizzieren. Zeit, die Voraussetzungen für deren Erarbeitung Deutlich geworden ist, dass sich diese Erfah- zu schaffen. Everth hat sich in den sieben Leipzi- rungswelt systematisch aus vier Dimensionen mit ger Jahren so sehr in sich zurückgezogen, dass jeweils spezifischen Momenten zusammensetzte: man schon glaubte, er wolle sich als Einsiedler Eine individuelle Dimension (geisteswissen- abkapseln.74 schaftliches Studium, Journalist im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik), eine Es gibt mehrere Punkte, die zeigen, Erich Everth historische Dimension (Ereignisse, Epochen und war innerhalb der Fachgemeinde isoliert: Seine Krisen: Erster Weltkrieg, Revolution 1918/19, intensiveren persönlichen Kontakte im Fach Weimarer Republik), eine kognitive Dimension beschränkten sich nach dem Tode von Martin (liberale politische Orientierung) sowie eine Mohr auf den Hallenser Zeitungswissenschaftler soziale Dimension (Bekanntschaft mit Martin Max Fleischmann (1872-1943), der selbst eine Mohr). marginale Position innehatte.75 Bei den großen Diese Erfahrungselemente spiegeln sich in der Fachkongressen wie der Internationalen Pres- besonderen Gestalt des Werks wider: Aufgrund seausstellung Pressa in Köln 1928 oder dem seiner journalistischen Erfahrungen erarbeitete er Deutschen Soziologentag in Berlin 1930, auf eine eng an den Fragen und Schwierigkeiten dem mit dem Thema „Presse und öffentliche öffentlicher Kommunikation orientierte zei- Meinung“ zu seinem Forschungsschwerpunkt tungswissenschaftliche Theorie, die die Wechsel- verhandelt wurde, fehlte er. Und von seinen zei- wirkungen zwischen Gesellschaft und Öffentlich- tungswissenschaftlichen Aufsätzen und Rezensio- keit reflektierte. Dabei legte er aber nicht wie nen sind lediglich vier in der 1926 von Karl andere Praktiker eine Alltagstheorie vor, sondern d’Ester (1881-1960) und Walther Heide (1894- konstruierte eine originäre wissenschaftliche 1957) gegründeten Fachzeitschrift Zeitungswis- Theorie, die sich an der gesellschaftlichen Aufga- senschaft erschienen, alle anderen wurden in den be und Funktion der journalistischen Profession, Verbandsorganen Deutsche Presse oder Zeitungs- im modernen gesellschaftlichen, geistigen und Verlag publiziert. Erst Nachwuchswissenschaftler wirtschaftlichen Leben zu vermitteln, orientierte. wie Alfred Peters (1888-1974), Ernst Manheim Gleichzeitig leitete er daraus die journalistischen (1900-2002) oder Hans Traub (1901-1943) nah- Ausbildungs- und Lehrziele in der Zeitungswis- men seine Anregungen auf und rückten mit ihren senschaft ab, die er ebenso im Erlernen elementa- Ansätzen das Verständnis von „Kommunikation rer Kompetenzen im journalistischen Handeln als sozialem Prozess“ weiter in den Mittelpunkt wie in der Reflexion der journalistischen Rolle des Faches.76 Mit der nationalsozialistischen sah. Machtübernahme 1933 brach diese Entwicklung

72 Vgl. Rüdiger Funiok: Medienethik. Der Wertediskurs über In: Unsere Brücke. Feldpostzeitung der Leipziger Medien ist unverzichtbar. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Zeitungswissenschaftler 2. Jg. (1941), Beilage, S. 18f. B41-42 (2000), S. 11-18; S. 16. 75 Vgl. Alfried Große: Wilhelm Kapp und die 73 Everth, Die Zeitung im Dienste der Öffentlichkeit, S. 25, Zeitungswissenschaft. Geschichte des Instituts für Publizistik 29. und Zeitungswissenschaft an der Universität Freiburg (1922- 74 Hans Amandus Münster: 25 Jahre Institut für 1943). Münster/New York 1989, S. 74ff. Zeitungswissenschaft an der Universität Leipzig (1916-41). 76 Vgl. Averbeck, Kommunikation als Prozess.

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ab, durch Amtsenthebung, Emigration und Ver- Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit treibung wurde das innovative Potential der funk- veranstalteten liberale Journalisten, Politiker, tional und prozessorientierten Konzepte zerstört; Künstler und Wissenschaftler am 19. Februar es galt jetzt wieder das Diktum: „Von der Presse 1933 den Kongress „Das freie Wort“, die letzte kommen wir, bei der Presse bleiben wir.“ freie und größere Kundgebung in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernah- Auch Erich Everths zeitungswissenschaftliches me. Erich Everth blieb mit seinem mutigen Plä- Wirken fand so im Frühjahr 1933 ein Ende:77 doyer für die Pressefreiheit der einzige Zeitungs- Anlass war seine Teilnahme am Berliner Kongress wissenschaftler, der sich öffentlich gegen die „Das freie Wort“ und ein Vortrag, in dem er Gewaltmaßnahmen gegen die deutsche Presse öffentlich für die Wahrung der Pressefreiheit ein- einsetzte. Und er musste sein Engagement mit trat. Bereits die erste Notverordnung „Zum dem Verlust seiner Professur bezahlen: Er wurde Schutz des deutschen Volkes“ vom 4. Februar im April 1933 beurlaubt und mit Ermittlungen 1933 hatten die Nationalsozialisten genutzt, um wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ überzogen. das Erscheinen zahlreicher bürgerlicher, kommu- Ernsthaft erkrankt, bat er im Herbst 1933 um nistischer und sozialdemokratischer Zeitungen zu seine vorzeitige Emeritierung. Erich Everth starb verbieten. Genau gegen diese Eingriffe in die am 22. Juni 1934 in Leipzig.

Erik KOENEN (1974) M.A., Studium der Soziologie, Germanistik und Kommunikations- und Medienwissen- schaft an der Universität Leipzig. 2002 Magisterarbeit zu dem Nationalökonomen Karl Bücher (1847-1930). 2002-2004 Mitarbeiter in dem DFG-Projekt „Programmgeschichte des DDR-Fernsehens – komparativ“ (Halle, Leipzig, Berlin und Potsdam). Seit 2003 Dok- torand am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leip- zig. Dissertationsprojekt zu dem Leipziger Journalisten und Zeitungswissenschaftler Erich Everth (1878-1934). Aufsätze und Rezensionen in verschiedenen Fachzeitschriften.

77 Vgl. Bohrmann/Kutsch, Pressegeschichte und Pressetheorie. Erich Everth (1878-1934), S. 395f.

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Rezensionen

JOACHIM RIEDL (HRSG.): Wien, Stadt der Tradition des Antisemitismus. Er war, wie es Joa- Juden. Die Welt der Tante Jolesch. Wien: chim Riedl in seiner Einleitung formuliert „ein Paul Zsolnay Verlag 2004, 400 Seiten. Schatten, der den Juden in Wien überallhin folg- te und sich nicht abschütteln ließ.“ (S. 13) Dieses Buch erschien anlässlich der Ausstellung Das Buch folgt den 20 Stationen der Ausstellung gleichen Titels im Jüdischen Museum Wien (19. und enthält zusätzlich 22 Beiträge von Autoren Mai – 31. Oktober 2004) und ist doch auf gera- wie Doron Rabinovici, Peter Huemer, Friedrich dezu bewundernswerte Weise viel mehr als ein Achleitner, Dieter Bogner oder Murray G. Hall Ausstellungskatalog. Der Verantwortliche für bei- sowie einen Anhang mit 270 Biographien. Hier des, Joachim Riedl, hat zusammen mit seinen in einer kommunikationshistorischen Fachzeit- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den zahl- schrift besprochen, verweisen diese Texte und Bil- reichen fachlich einschlägigen Beiträgerinnen der auf ein doppeltes Defizit: Die Kommunikati- und Beiträgern eine veritable Monographie onsgeschichte Wiens und die Geschichte des geschaffen. Eröffnet wird das Buch mit einem Journalismus der Moderne und der Rolle, die Zitat aus der legendären Studie „Die Juden dabei das Judentum gespielt hat. Dazu werden Wiens“, des in Prag geborenen, dann in Wien hier nicht wenige Vorgaben geliefert, denn nahe- tätigen und 1938 in die USA emigrierten Kunst- liegenderweise sind Text- und Fotojournalismus historikers Hans Tietze (1880-1954). Eherne wichtige Quellen. So finden sich lange Zitate von Sätze – heute der Erinnerung: „Völker leben Bruno Frei (1897-1988), Hugo Bettauer (1872- gegeneinander, füreinander, ineinander. Das 1925) oder Felix Salten (1869-1945) alle bekann- Wiener Judentum ist vom Überfluss der schön- ten Namen von Joseph Roth bis Alfred Polgar sten und kulturell reichsten deutschen Städte und zahlreiche Beiträge anonymer Verfasserinnen gewachsen; es hat hier die höchste Fruchtbarkeit und Verfasser aus Zeitungen und Zeitschriften. entwickelt, die irgendeinem westlichen Judentum Die geschickte Montage dieser Texte rekonstru- beschieden war. Es hat genommen und gegeben, iert die vielen Themen über die damals in Wien zersetzt und geformt; es hat gelebt und leben öffentlich und privat gesprochen wurde. So wird geholfen, so dass es ein Teil von Wiens Vergan- man hier über das soziale Elend der Ersten Welt- genheit und damit von Wiens Gegenwart gewor- krieg-Nachkriegszeit ebenso informiert wie über den ist. Ohne Juden wäre Wien nicht, was es ist, den Kampf um die Republik, die wissenschaftli- wie ohne Wien ihr Dasein in den neueren Jahr- chen Auseinandersetzungen der Zeit und die hunderten seiner stolzesten Seite verlustig ginge. innovative architektonische Gestaltung der Stadt. Kein Eingriff der Welt vermag diesen Lebenspro- Noch einmal, wie schon in früheren Ausstellun- zess rückgängig zu machen.“ (Wien 1933, gen, entstehen die bis heute unvergleichlichen Reprint Wien 1987) Konturen dessen, was man das „Rote Wien“ Auf der diesem Motto gegenüberliegenden Seite, genannt und dessen politisches Erbe bis heute ist das ausdrucksvolle Bild von Hans Tietze abge- weit über die Stadt hinaus seine Kraft behalten bildet, das Georg Ehrlich (1897-1966) 1931 als hat. Alles was damals gestaltend in der Architek- Bronze schuf. Diese buchgestalterische Ouvertü- tur, in der Gesundheits- und Sozialpolitik oder re ist nicht ohne Pathos, aber dies ist genau der auch in der Musik geschah, war begleitet von leb- richtige Schlüssel, mit dem man sich dieses Werk haften Diskursen, die ein neues Zeitalter lesend, studierend und lernend erschließen muss. beschworen. In den 30iger Jahren wurde diesem Obwohl es nicht zuletzt die Dokumentation Geist und diesen Geistern ein oft schreckliches unendlicher, unwiederbringlicher Verluste ist, ist Ende gemacht und nach dem Ende des Zweiten es den Ausstellungs- wie den Buchmachern Weltkrieges dauerte es oft Jahrzehnte, bis wir auf gelungen, jenen Geist des Aufbruchs nacherleb- dem Wege des Re-Importes an dieses so produk- bar zu machen, den der Bürgermeister der Stadt tive erste Jahrhundertdrittel wieder angeknüpft Wien, Michael Häupl, in seinem Vorwort haben. beschwört. Dies ist geglückt, obwohl man auf jeder Seite die deprimierende Einsicht zur Kennt- Ein gutes Beispiel dafür ist der Teil mit dem Titel nis nehmen muss, dass die vor allem kulturell so „Die Erfindung der modernen Soziologie“, in bedeutsame Symbiose dieser Stadt mit dem dessen Mittelpunkt die Studie und das Buch „Die Judentum immer grundiert war von einer langen Arbeitslosen von Marienthal“ stehen. Ein schönes

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Dokument hierzu ist ein längerer Text aus dem ter die Finsternis, die über Österreich, über „Kuckuck“ (Nr. 27/Juli 1933) über das Leben im Deutschland und dann über ganz Europa herein- Marienthal, der sich auf die Ergebnisse einer brach. „Gruppe junger Forscher und Studenten“ (!) Die Dokumente zum Thema Kino – in deren bezieht, die im Marienthal die Wirkungen der Mittelpunkt Béla Balázs mit seiner Filmtheorie Massenarbeitslosigkeit zu studieren versuchten. steht – sind nichts weniger als eine Entdeckung. Ein ergänzender Fund ist ein Artikel von Veza Natürlich kennt man Namen wie Billy Wilder Magd (das ist Veza Canetti) aus der „Arbeiter Zei- oder Peter Lorre und Hedi Lamarr, aber viele tung“ (29.6.1932), in der diese das Schicksal Namen, die heute weitgehend vergessen sind, einer Textilarbeiterin schildert, die ihren Arbeits- müssen hier doch erst wieder in Erinnerung geru- platz in einer Leinwandfabrik verliert. Ein ande- fen werden. Und damit auch die Tatsache, dass res Stück besonderer Kommunikations- und sie eine erste große Blütezeit des österreichischen Sozialgeschichte ist die aspektreiche Dokumenta- Films geschaffen haben. Der Filmhistoriker tion unter dem Titel „Die erste sexuelle Revoluti- Armin Loacker spricht von einer goldene Ära in on“ in deren Mittelpunkt die Figur von Hugo den fünf Jahren nach Ende des Ersten Weltkrie- Bettauer steht. ges, in der über 300 Filme mit Spielhandlung Drei der Stationen der Aufstellung der Kapitel entstanden sind. Für Schauspieler wie Fritz Kort- des Buches sind gewissermaßen facheinschlägig ner, Lilian Harvey oder Walter Slezak begann für uns: Es geht darin um das politische Kabarett; damit eine internationale Karriere. Auch für die um das Kino und einige jüdische Schlüsselfiguren Anfänge des Tonfilms spielte Wien noch eine im österreichischen Film der 20iger Jahre und zentrale Rolle. Ohne den Anteil jüdischer Film- Karl Kraus und seinen Kampf gegen den Presse- schaffender ließe sich die österreichische Filmge- zaren Békessy, um Paul Zsolnay und seine bemer- schichte „auf ein paar Blättern Papier nieder- kenswerte Verlagstradition. Zum Thema Kaba- schreiben“ und wäre nicht eine wirklich große rett ist ein Werbeflugzettel abgebildet, den die Epoche dieses Mediums. Ensemblemitglieder von „Der liebe Augustin“ in der Wiener Innenstadt an die Passanten verteilt Ähnliches gilt für die Presselandschaft dieser Zeit. haben: „So lieb kann nur der Augustin sein! Wir Davon ist freilich nur indirekt die Rede, wenn geben Ihnen / Jazz und Butterkipferl / Gugelhupf vom Karl-Kraus-Biographen Edward Timms von und Satire / Sandwiches und Romantik / Bier dessen Kampf gegen den Pressezaren Emmerich und neue Sachlichkeit /Likör und Kitsch / Wür- Békessy erzählt wird. Das ist eine beispiellose stel und Seele / denn / Wir haben nichts in Hei- Journalismusgeschichte über die man durch delberg verloren / wir haben selbst Gemüt / Jeder Texte von Elias Canetti, Anton Kuh und Albert sein eigenes Nachtleben! Wir sind jung und Sie Ehrenstein, Karl Kraus selbst informiert wird. sind schön / Komplexe sind in der Garderobe Auch das berühmte Plakat „Der Schuft den ich abzugeben!“ (S. 201) Soviel Zeitgeist in so weni- aus Wien verjagt habe“ ist abgebildet. Auch gen Zeilen – dafür stehen Personen wie Fritz Békessy selbst kommt mit dem stenographischen Grünbaum und Karl Farkas oder Armin Berg. Sie Protokoll seiner Verteidigung aus einer Schwur- begründeten eine große politische Tradition, die gerichtsverhandlung zu Wort. Ein wunderbarer teilweise im Exil fortgesetzt werden konnte und Abgesang auf diese Epoche findet sich bei Soma teilweise sogar nach 1945 wieder nach Wien Morgenstern, der als Korrespondent seiner zurück kehrte. „Frankfurter Zeitung“ (16.2.1929) von einem Zu ihrer Geschichte liegt eine ganze Reihe von neuen typisch wienerischen Pressephänomen Abhandlungen und Dokumentationen vor, aber berichtet, dem so genannten „Pachtblatt“. Aber vielleicht kann nur ein phantasievoller und ambi- das erscheint nur als ein müder Abglanz jener tionierter kommunikationshistorischer Zugriff „klassischen Zeit der Erpresserfreiheit eines diesem Phänomen gerecht werden. Welche Kon- Emmerich Békessy: wie ein Orgelpunkt der texte, Assoziationen und Bezüge stecken allein in Erpressung saß er in der Symphonie der Korrup- dem von „Jüdisch politischen Kabarett“ bei einer tion und das waren Zeiten! Da hätte ein so arm- Purimfeier aufgeführten Revue „Juden hinaus“, seliges Wort Pachtblatt kaum ruchbar werden die – wie ein zeitgenössischer Berichterstatter können.“ ( S. 163) schreibt – ob ihres Witzes, ihres Geistes und ihrer Auch zu dieser Pressegeschichte und dieser Epo- beißenden Satire vom Publikum mit stürmi- che gibt es manche Veröffentlichungen und man- schem Beifall gefeiert wurde. Wie tief war, vergli- che Dokumentationen. Aber eine Monographie, chen mit solch einem Ereignis, wenige Jahre spä- die das alles in einen großen kommunikationsge-

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schichtlichen Bogen stellt, muss wohl erst noch MIROSLAVA KYSELÁ: „Jüdische Volksstimme“ geschrieben werden. Vielleicht enthält das alles ja 1919-1934 (Thematische und sprachliche auch das Material für eine weitere Ausstellung? Analyse). Scripta Facultatis Philosophicae Schließlich sei auch das von Murray G. Hall ein- Universitatis Ostraviensus 2002, 167 Seiten. geleitete Kapitel über den Paul Zsolnay Verlag erwähnt. Die Verlagsgeschichte ist ein Gebiet, das Sehr versteckt erschien im Jahr 2002 in Tschechi- wir erst noch entdecken müssen und nicht den en auf deutsch die Dissertation der an der Uni- Literaturwissenschaftlern oder gar den Unterneh- versität Mährisch-Ostrau lehrenden Germanistin mensgeschichtlern überlassen können. Der Verle- Miroslava Kyselá über die Wochenzeitung Jüdi- ger – sei es nun des Buches oder der Zeitung – ist sche Volksstimme 1919-1934. eine besondere und faszinierende Figur der Kom- Diese Arbeit ist in mehrfacher Hinsicht bemer- munikationskultur. Hierzu wurde bisher an den kenswert. Sie ist ein wichtiger Baustein sowohl verschiedensten passenden Stellen immer ein für die Erforschung des deutschsprachigen Juden- Text von Samuel Fischer zitiert. Den könnte man tums in Böhmen und Mähren als auch der jüdi- nun ersetzen oder doch ergänzen durch eine ganz schen Publizistik in Mitteleuropa. ähnliche Position, die Paul Zsolnay in einem Vor- Die Jüdische Volksstimme wurde 1901 von trag postulierte und die hier unter dem Titel Robert Stricker und Berthold Feiwelt in Brünn „Hingabe an Bücher und Autoren. Die fünf gegründet. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie Gebote eines erfolgreichen Verlegers“ aus dem von den zionistischen Verlegern Max Hickl und Archiv des Verlages überliefert werden. Den Hugo Gold in Brünn herausgegeben und redi- Kommentar dazu formulierte Joseph Roth 1937, giert. Hickl war einer der Pioniere des Zionismus also kurz vor dem Ende des Ständestaates: „Es in Mähren und der Gründer des Jüdischen gibt in dieser Gesellschaftsordnung keine wir- Kunst- und Buchverlags, in dem er auch Hickls kungsvolle Literatur ohne Verleger. Es gibt in Illustrierten Jüdischen Volkskalender herausgab. einem Staat, der sich als selbstständiger öster- Er starb 1924 in Wien im Alter von nur 51 Jah- reichischer Staat bezeichnet kein wirkliches ren. Sein Neffe Hugo Gold führte danach die Staatsbewußtsein ohne eine eigene Literatur.“ (S. Zeitschrift und den Verlag weiter. 1929 gab er 376, ursprünglich in: Der Christliche Ständestaat den eindrucksvollen Band Die Juden und Juden- 29.8.1937) Diese Sätze könnten zumindest als gemeinden Mährens in Vergangenheit und provozierendes Motto über einer ebenfalls erst zu Gegenwart heraus; 1934 folgte der Band Die schreibenden Monographie zum Thema Verlag Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergan- und Verleger stehen. genheit und Gegenwart. 1940 floh er vor den Dieser Text ist wohl keine „Kritik“. Ich bekenne Nationalsozialisten nach Palästina; in Israel grün- mich dazu und akzeptiere für mich, dass dies viel- dete er in den fünfziger Jahren den Olamenu Ver- leicht daran liegt, dass ich zur Thematik dieses lag, in dem er vielbeachtete, großformatige und Werkes nicht facheinschlägig zuständig bin. reich illustriere Gedenkbücher über die Ge- Natürlich ist es vergnüglich, Verrisse zu schrei- schichte Juden in Österreich, der Tschechoslowa- ben. Aber nicht selten betätigt man sich als kei und der Bukowina herausgab. Rezensent auch gerade deshalb, weil man die Die zionistische Jüdische Volkstimme war eine Begeisterung mit der man ein Buch studiert hat, Wochenzeitschrift und umfasste durchschnittlich an andere weitergeben möchte. Und nicht selten acht Seiten. Die Namen ihrer Autoren und Kor- steckt dahinter die Befürchtung, dass ein solches respondenten zeigen nicht nur ihr hohes Niveau Buch übersehen werden könnte. Dies gilt erst und Ansehen, sondern auch die internationale recht hier, wo es „nur“ um einen Ausstellungska- Verbundenheit der jüdischen Intellektuellen, die talog geht. Zumindest die Leser dieser Zeitschrift alle in zahlreichen jüdischen Zeitschriften schrie- sollten wissen, dass es wirklich um ein Buch geht ben und damit ein intensives Beziehungsnetz und dass uns der Kurator dieser Ausstellung Joa- schufen. In den ersten Jahren schrieben Theodor chim Riedl zusammen mit seinen zahlreichen Herzl, Max Nordau, Adolf Stand und Israel Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine aspekt- Zangwill für die Jüdische Volksstimme. Zu ihren reiche und anregende Vorlage auf den kommuni- Korrespondenten der Zeitschrift gehörten Abra- kationshistorischen Arbeitstisch gelegt hat. Es ist ham Goldberg aus New York, Fabius Schach aus nicht nur gewinnbringend, sie aufmerksam zu Berlin, Israel Cohen aus London, Benzion Moser studieren, sondern sie sollte auch als Impulsgeber aus Lemberg und Hugo Bergmann, früher Prag, begriffen werden. aus Palästina. Unter den Autoren aus der Tsche- Wolfgang R. Langenbucher choslowakei und aus dem nahen Wien waren

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Otto Abeles, Max Brod, Oskar Donath, Hugo satz von Hans Otto Horch und Till Schicketanz Herrmann, Hermann Kadisch, Oskar K. Rabino- in Menora 12, Jahrbuch für deutsch-jüdische wicz, Robert Stricker und Felix Weltsch. Oft Geschichte 2001, S. 387-405. schrieben in der Jüdischen Volksstimme auch Der Anhang enthält ein Namensverzeichnis mit Rabbiner, die jedoch im Gegensatz zum Beispiel Kurzbiographien der wichtigsten Namen und zur Wiener Wahrheit selten mit vollem Namen Mitarbeiter, die im Text vorkommen. Es ist aller- unterschrieben. dings nicht als Index zu verwenden, da die dazu- Kyselá stellt ihre Arbeit anfangs in einen zeit- und gehörigen Seitenzahlen fehlen. kulturgeschichtlichen Kontext, indem sie anfangs Nachsatz: Entdeckt habe ich die Arbeit durch auch auf die Geschichte der Juden in Mähren (wo Zufall in einer kleinen Freihandbibliothek in laut der Volkszählung von 1921 45.000 Juden Deutschland. In Wien gibt es die Publikation nur lebten) und auf der noch kaum erforschten in einer einzigen Institution, in der Bibliothek deutschsprachigen jüdischen Presse in diesem des Wiener jüdischen Museums, die ich regel- Raum eingeht. Ihre Hinweise auf Zeitschriften, mäßig benütze. Leider macht diese Bibliothek die sich offensichtlich nicht vollständig erhalten wie sonst üblich nicht auf ihre Neuzugänge auf- haben und ihre Korrekturen früherer Angaben merksam, so dass sie dort für mich unbemerkt der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur blieb. zeigen, wie wichtig und schwierig die Erfor- schung der jüdischen Presse heute ist. Evelyn Adunka Die Jüdische Volksstimme wird von Miroslava Kyselá ausführlich formal, sprachlich und inhalt- lich analysiert. In ihrer Zusammenfassung CHRISTOPH JACKE: Medien(sub)kultur. schreibt sie: „Die ‘Jüdische Volksstimme’ infor- Geschichten – Diskurse – Entwürfe. (Cultu- mierte über politische Schritte der anderen Staa- ral Studies 9, hrsg. von Rainer Winter). Bie- ten aus der Position für und gegen die Juden. Als lefeld: Transcript Verlag 2004, 354 Seiten. besonders schwierig wurde die Lage in der Sowjetunion und in Deutschland dargestellt. Die Der vorliegende Text stellt die Buchfassung von Problematik der zunehmenden antisemitischen Jackes 2004 approbierter Dissertation an der Äußerungen und die Reaktionen der Weltöffent- Universität Münster dar. Seine Studie kann als lichkeit auf die Anschläge gegen die Juden stan- eines jener Werke angesehen werden, die in einer den neben den Berichten über den Aufbau von relativ jungen Debatte eine kulturwissenschaftli- Palästina und über die zionistische Welorganisati- che Bereicherung der Kommunikationswissen- on im Vordergrund der außenpolitischen Infor- schaft fordert. Dies soll auch über eine Zusam- mationen des Wochenblatts.“ „“ menführung jener Theorieversatzstücke gesche- Für die sprachliche Analyse prägt die Autorin den hen, die als diffuses Feld der kulturalistischen Begriff „Kultureme“. Damit bezeichnet sie „kul- Medienforschung (im weitesten Sinne) die Medi- turell spezifische Einheiten und Sinnkomplexe“ en-, Publizistik- und Kommunikationswissen- oder Kulturkodes. Anders ausgedrückt: schaft umgeben. Seine Studie ist, ganz wie im Jüdisch geprägte Worte oder Begriffe wie Barmi- Untertitel angedeutet, ein theoretischer Spazier- zwahanzug, ritueller Haushalt, Sabbatleuchter, gang durch das weite Feld der Kulturforschung: Bocher, Tempel, Synagoge und die Namen jüdi- diese ist hier Medienkulturforschung, und scher und zionistischer Organisationen, wie sie in Medienkulturforschung findet eine theoretische einer jüdischen Zeitschrift selbstverständlich Verankerung in dem was Jacke unter Rückgriff massenhaft vorkommen, die jedoch von ungeüb- auf den Theoriekorpus von Siegfried J. Schmidt ten nichtjüdichen Lesern erst langsam entziffert als Medienkulturwissenschaft skizziert. werden müssen. Die Arbeit könnte damit auch als Vorbild für Christoph Jacke teilt seine Arbeit in drei theoreti- Analysen der großen Wiener jüdischer Zeitungen sche Diskussionen, um diese zum Schluss anhand und Zeitschriften dienen, die bisher noch nicht einer Anwendung zu illustrieren. Die Zielkoordi- geschrieben wurden. Eine große Arbeitserleich- nate ist dabei eine Theorie der Popkultur, die tung in Zukunft wird deren Digitalisierung sein; zugleich viel mehr sein muss als diese: eine (selek- diese ist im Rahmen des deutschen (!) Projektes tive) Bestandsaufnahme von kommunikations- www.compactmemory.de mithilfe der überaus und medienwissenschaftlich relevanten Strängen kooperativen Universitätsbibliothek Wien gerade der Kulturtheorie als (diagnostischer Anteil einer) in Gang. (Zu diesem Projekt siehe auch den Auf- Gesellschaftstheorie.

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Mittel der Wahl ist für Jacke zuerst ein close- das, was bisher zu wenig unternommen wurde: er bzw. re-reading der Kritischen Theorie, was folgt jenen Verbindungslinien, die es erlauben, zugleich das beste Plädoyer für eine differenzierte die Tradition der Kritischen Theorie von der Kul- Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule turindustrie (als vor allem von Massenmedien und ihrer nächsten Generation darstellt. „Erst ausgebildeten Kultur) mit dem Projekt der Cul- durch die Berücksichtigung der veränderten Kon- tural Studies zu verbinden. Auch hier beginnt er texte lassen sich Grundannahmen der klassischen wieder bei den Begründern und bespricht Wil- Kritischen Theorien revidieren und modernisie- liams, Hoggart und Thompson, um über Hall ren, ein starres Hinwegsetzen über die medien- letztendlich bei einem der schillerndsten und kulturellen Wandlungen und ein dementspre- innovativsten Vertreter der zeitgenössischen Cul- chend stures Festhalten an den Originalen führt tural Studies anzukommen: Douglas Kellner. Die keinen Erkenntnis-Schritt weiter.“ (S. 157) Dialektik bewegt sich hier deutlicher als anders- wo zwischen Macht und Widerstand, zwischen Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist Anpassung und Rebellion. Kultur der Medienge- deshalb der logische Ausgangspunkt für Jackes sellschaft heißt hier endlich Medienkultur, wel- Untersuchung, weil auf diese zwei Grundlegun- cher, ihrer Komplexität Rechnung tragend, nur gen zurückgehen, die für sein Vorhaben wesent- mit ebenso komplexen Analysen beizukommen lich sind: erstens die Hinlenkung des wissen- ist. schaftlichen Interesses auf Kultur an sich, und zweitens jene Falle der Normativität die die Kul- Hier ist es auch, wo Jacke von der (medialen) turindustrie-These einerseits so populär und Herrschafts- zur (herrschenden) Medienkultur andererseits analytisch stumpf werden ließ. findet und mit Kellner und anderen Vertretern Anstelle der Einteilung von Kultur (kulturellen der Cultural Studies „Kultur als alles“ letztlich in Phänomenen und Sphären) in High und Low, Kultur als (massenmedial beschleunigte) Populär- versucht Jacke mittels seiner Differenzierung in kultur konkretisieren kann. So nimmt es nicht Main und Sub ein nicht-(bereits)-wertendes Wunder, dass Jackes transdisziplinäres Denken an Kategorienschema vorzustellen. Main und Sub – dieser Stelle zuhause angekommen ist: obwohl er die Besprechung des Mainstreams/Zentrum/ sich explizit in der Kommunikationswissenschaft Masse und der Subkultur/Peripherie/Minorität – verortet, stellt er bereits einen Typus von Denken bilden jenes Analyseraster, durch die er, eins ums dar, welches zwischen Fanzines, Feuilleton und nächste, die Theoriegebäude und Ansätze der von wissenschaftlicher Monographie ebenso problem- ihm zur Besprechung gewählten Theoretiker rat- los umschalten kann, wie zwischen den Attribu- tern lässt. ten Kommunikations-, Medien- und Kulturwis- senschaft. Nach einer ausführlichen Besprechung von Ador- no und Horkheimer sowie Ausflügen zu den The- Den inhaltlichen wie argumentativen Höhe- sen von Löwenthal, Marcuse und Benjamin punkt finden Jackes Bemühungen in jenem Kapi- bilanziert er (wie auch im weiteren Verlauf des tel, das sich mit dem soziokulturellen Konstrukti- Textes immer wieder übersichtlich) ein erstes vismus seines Lehrers Schmidt auseinandersetzt. Fazit der „klassischen“ Kritischen Theorie. Daran Fest verankert im Gedankengerüst von Schmidts schließt er eine Besprechung von Habermas, komplexen Theoriemodellen, synthetisiert er nun Prokop und Behrens an, welche er mit dem Eti- vor dem Hintergrund von „Kultur als Pro- kett der „modernen“ Kritischen Theorie zu fassen gramm“ die zuvor konzentrierten Beobachtungen sucht. War im klassischen Modell die Massenkul- zum Thema (Populär)Kultur in sein Main/Sub- tur als Kulturindustrie undurchdringbar abge- Raster. Kultur ist hier „gesellschaftliche Software, schlossen, und nur durch die „hohe Kunst“ von die kollektives Wissen einordnet und vor allem außen zu penetrieren, so streicht er im Werk der interpretiert“ (S. 217). Nachfolger vor allem jene Momente heraus, die für seine spätere Adaption von Siegfried J. Es verwundert nicht, dass sich in diesem Kapitel, Schmidts Kulturbegriff den Weg bereiten: Kultur in dem auch Luhmann sehr prominent vor- ist weiterhin Kulturindustrie, aber nicht herme- kommt, der Text merklich verdichtet – denn hier tisch, sondern mit eingeschlossenen Potentialen findet Jacke was er sucht: ein tragfähiges Theorie- der Subversion und Innovation. korsett welches ohne Normativierungen zwischen Main und Sub auskommt, einen Kulturbegriff der In einem zweiten theoretischen Schritt tut Jacke die Weichheit (Prozessualität) und Starrheit (Arte-

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faktizität) von Kultur(phänomenen) mitdenkt, Vorläufiges Fazit: Ist innerhalb der Frankfurter und eine Rechtfertigung dafür, sich als Kommuni- Schule Kultur als Ware (S. 30ff) zu fassen, so kationswissenschaftlerIn mit Kultur vor allem in konzipieren die Cultural Studies Kultur als Alles ihren spezifischen medialen Erscheinungen zu (S. 160ff), wohingegen bei Schmidt und Jacke beschäftigen. Ist doch Kultur an sich unsichtbar Kultur zum Programm (S. 216ff) wird. In all die- und nur über die Aktanten und ihre Handlungen sen Perspektiven auf die Sphäre der Kultur spie- beobachtbar. Medien bleiben hier zentral (wenn len Medien eine zentrale, wenn auch nicht immer auch nicht immer vor dem Vorhang), weil sie prominente Rolle. Kultur als wesentlichen Begriff Kognition und Kultur (sensu – eine von Jackes der Kommunikations-, Publizistik-, Medienwis- Lieblingskonjunktionen – Schmidt) koppeln. senschaft ein Stück weit mitzubestimmen, das gelingt Jacke mit seiner synoptischen und synthe- Am Ende folgt eine Umsetzung seiner Dialektik tischen Arbeit vorzüglich. Die Art und Weise wie der Teilprogrammdifferenz in Form einer Behand- er selbstbewusst Medienkulturwissenschaft be- lung von Stardom und Prominenz auf den kultu- treibt – oder wie auch immer ein humanwissen- rellen Ebenen von Main und Sub. Anhand seiner schaftlich geerdetes Interesse am Kulturellen als Unterscheidung in Stars (Main) und Anti-Stars Sozialen (und umgekehrt) irgendeinmal heißen (Sub), sowie die Überführung von Anti-Stars auf wird – ist lesenswert. Darüber hinaus legt Jacke die Main-Ebene als Anti-Star-Stars schafft er mit Medien(sub)kultur ein gelungenes Glied in ein plastisches Beispiel für die Anwendung der noch zu vollendenden Kette zwischen Kriti- seiner Überlegungen. Hier wird dem hohen scher Theorie und Cultural Studies vor. und teilweise abgleitenden Abstraktionsniveau des vierten Kapitels wieder etwas Griffiges beige- Jacke ist also selbst ein Sub im Main, wenn er mit stellt. seiner Dissertation einen Baustein zu einer ent- grenzten und uneitlen wissenschaftlichen Be- „Gesellschaftlicher Wandel ist am Wandel der Kul- schäftigung mit unseren Medienkulturen beitra- tur-Ebenen und deren Manifestationen (z.B. im gen will. Es spricht für ihn und sein akademisches Stil) beobachtbar, beinhaltet aber eine mitlaufende Umfeld, wenn so viel Energie und Arbeit in ein Fähigkeit zur Umstellung seitens professionalisierter Projekt fließen, von dem andere Vertreter des Beobachter wie Journalisten und insbesondere Wis- Faches noch immer nicht gehört haben, oder das senschaftler. Diese verschiedenen Wandlungen, die leichtfertig als esoterisch (kultur- bzw. geisteswis- letztlich in gesamtgesellschaftlichen Veränderungen senschaftliche Entgleisung) abgelehnt wird. Die münden, werden durch divergierende Dialektiken Auseinandersetzung mit den zentralen Proble- dynamisiert. Die Dynamiken spielen sich in einer men der Kommunikationswissenschaft aus einer Gesellschaft wiederum innerhalb funktionaler kulturellen (bei Jacke kultürlichen) Perspektive Raster – eben der Kultur-Ebenen Main und Sub – kann helfen, umfassender zu fragen und wirklich ab. Dieses Muster bleibt bestehen, kann also durch- transdisziplinär zu forschen. aus weiter verwendet werden und löst sich keines- falls auf.“ (S. 157) Marian Adolf

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NEUERSCHEINUNG

Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen 2. Auflage Zeitungswissenschaft.

Der Band will erhellen, wie nach 1945 mit dem Erbe der NS-Zeitungswissenschaft in Deutsch- land und Österreich umgegangen wurde. Wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen verdeck- ten Jahrzehnte des Schweigens folgenreich perso- nelle und inhaltliche Kontinuitäten, verhinder- ten die Remigration vertriebener ForscherInnen und behinderten die Modernisierung des Faches. Das noch junge Fach wurde durch die NS-Herr- schaft in seiner vielfältigen Entwicklung jäh gebrochen, ab 1933 zunächst zu einer politi- schen Führungswissenschaft degradiert, danach zur Kriegswissenschaft. Willfährige Vollstrecker, junge Aufsteiger, angepasste Mitläufer und still Duldende benötigte dieses System. Noch immer zeigen sich weiße Flecken in der Erkundung der „braunen“ Vergangenheit. Renommierte AutorInnen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich stellen sich in diesem Buch brennenden Fragen nach Wurzeln der heutigen Kommunikationswissenschaft.

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