Klang, Farbe, Emotion Pierrot Lunaire Und Die Synästhesie
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VIOLETTA L. WAIBEL, UNIVERSITÄT WIEN Klang, Farbe, Emotion Pierrot lunaire und die Synästhesie Das Werk Pierrot lunaire von Arnold Schönberg gilt heute nicht nur als Hö- hepunkt der expressionistischen Schaffensphase des Komponisten, sondern überhaupt als ein Schlüsselwerk der Moderne. Mit seiner Ausarbeitung 1912 wurde eine neue Kunstgattung erfunden, der Sprechgesang, in dem die Stimmgestaltung der Dichtung und die Instrumentalausdeutung gleichwertige Partner der Komposition sind. Sprechgesang versteht sich als Ausdrucksform, die dezidiert nicht Gesang, die aber auch nicht Deklamation von Dichtung durch die Stimme eines Schauspielers ist. Tatsächlich wird das Werk bald von Schauspielern, bald von Sängern zur Aufführung gebracht, die Begabung und Kompetenzen an der Grenze und im Übergriff zur jeweils anderen Kunstgat- tung aufweisen können. Eine Schauspielerin war es auch, Albertine Zehme (1857–1946), wie Schönberg eine gebürtige Wienerin, die Schönberg veranlasste, das Werk zu komponieren, nachdem sie die 1884 erschienene Gedichtsammlung Pierrot lunaire. Rondels bergamasques des französischen Dichters Albert Giraud in der 1892 veröffentlichten Übertragung ins Deutsche von Otto Erich Hartleben mehrmals bei Rezitationen zur Darstellung gebracht hatte. Hartlebens Über- setzung gilt als kongenial.1 Schönberg nahm diese Anregung mit Begeisterung auf und wählte aus den 50 Gedichten drei mal sieben Gedichte aus, die er in drei Zyklen anlegte, wie es auch der genaue Titel des Werkes besagt: Arnold Schönberg, Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot Lunaire für eine Sprechstimme und fünf Instrumentalisten, op. 21 (1912), Deutsch von Ot- to Erich Hartleben. Die fünf Instrumentalisten spielen in wechselnder Besetzung der einzelnen Stücke Flöte (oder Piccoloflöte), Klarinette (oder Bassklarinette), Geige (oder Bratsche), Violoncello und Klavier. 1 Der Dichter Otto Erich Hartleben gehörte dem ‚Friedrichshagener Dichterkreis‘ an, zu dem auch Gerhart Hauptmann, August Strindberg, Richard Dehmel und Frank Wedekind zählten. Vgl. Manuel Gervink, Pierrot lunaire, in: Ders., Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber, 2000, S. 205–216, S. 209. 210 VIOLETTA L. WAIBEL Die Einzelnummern sind in der Zeit von 12. März bis 9. Juli 1912 entstan- den, die zyklische Ordnung und Fertigstellung hat Schönberg bis spätestens 25. Juli 1912 vorgenommen.2 Der Pierrot lunaire ist dieser Datierung zufolge bald nach Schönbergs Um- zug von Wien nach Berlin geschrieben worden. Arnold Schönberg, 1874 in Wien geboren, wo er 1901 auch Mathilde Zemlinsky, die Schwester von Ale- xander (von) Zemlinsky heiratete, hatte 1910 an der Wiener Musikakademie nach umständlichen Prozeduren eine unbesoldete Dozentur bewilligt bekom- men, freilich ohne Aussicht auf eine baldige Professur. Da er sich deswegen nicht mehr an Wien gebunden fühlte, zog er 1911 nach Berlin. Trotz der faktischen Entstehung in Berlin bald nach Schönbergs Umzug ist der Pierrot lunaire ein Werk, das wesentliche Impulse aus der Kultur und So- zialisation Wiens bezieht. Es gilt als ein Werk der Musik, das Musik reflek- tiert, weil in ihm zahlreiche Allusionen an andere Werke ausfindig gemacht werden können, so die These von Richard Brinkmann.3 Brinkmann weist in seiner Studie The Fool as Paradigm. Schönberg’s Pierrot Lunaire and the Modern Artist darauf hin, dass am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahr- hunderts eine Vielzahl von Bühnen- und Musikwerken zur Gestalt des Pierrot erschien. Die meisten dieser Werke sind, selbst von bekannten Komponisten wie Franz Schreker, Max Reger, Erich Wolfgang Korngold, Claude Debussy, kaum oder gar nicht im kulturellen Gedächtnis präsent. So fragt sich, was Schönbergs Pierrot lunaire vor den anderen auszeichnet. Brinkmann versteht ihn als paradigmatischen Typus des modernen Künstlers im Umbruch zur Wiener Moderne und weist Selbstidentifikationen in der Komposition Schön- bergs nach. In Mondestrunken fügte Schönberg nachträglich sein Instrument, das Instrument also, das er selbst spielte, eine Cellostimme dort ein, wo der „Dichter“ als paradigmatischer Künstler erstmals genannt wird. Die Cello- stimme verdoppelt die Tenormelodie des Klaviers.4 Wichtig ist auch das Wal- zermotiv im Dandy, in dem Brinkmann kein direktes Zitat eines Werkes er- kennt, wohl aber ein Aufgreifen der Klangwelt des Wiener Walzer als sol- chem, in dem sich vielleicht auch eine entfernte Anspielung auf Johann 2 Die Erstaufführung des Pierrot lunaire erfolgte am 9. Oktober 1912 in Berlin, im Choralion- Saal als eine Aufführung für geladene Gäste. Albertine Zehme war in der Rezitation zu hören, begleitet von Eduard Steuermann am Klavier. (Die übrigen Musiker waren Jakob Masiniak, Violine und Bratsche; Hans Kindler, Violoncello; Hendrik W. de Vries, Flöte und Piccolo; Karl Eßberger, Klarinette und Bassklarinette). Die öffentliche Uraufführung erfolgte am 16. Oktober 1912 in Berlin, im Choralion-Saal, mit den gleichen Interpreten wie am 9. Oktober. Die Angaben zur Entstehung und Erstaufführung des Pierrot lunaire sind der Homepage des Arnold Schönberg Centers entnommen: http://www.schoenberg.at/index.php?option=com_ content&view=article&id=190&Itemid=365&lang=de (Zugriff am 5.6. 2011). 3 Das ist eine der zentralen Thesen von Reinhold Brinkmann in seinem Beitrag The Fool as Paradigm. Schönberg’s Pierrot Lunaire and the Modern Artist, in: Schönberg and Kandin- sky. An historic encounter, hg. v. Konrad Böhmer, Amsterdam u.a., 1997, S. 139–167, S. 160. 4 Vgl. Brinkmann, Schönberg’s Pierrot Lunaire and the Modern Artist, S 160–162. Eine Auf- listung der Pierrot-Werke um 1900 findet sich ebenda, S. 163–166. .