Humangeographische Prozesse und Strukturen

in Litauen

unter besonderer Berücksichtigung regionaler Disparitäten

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Naturwissenschaften

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Philipp GUNZER

Am Institut für Geographie und Raumforschung Begutachter Ao. Univ. Prof. Dr. Phil. Peter Čede

Graz, 2011

Ehrenwörtliche Erklärung Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Datum: Unterschrift:

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Vorwort

Die Masse der Westeuropäer sieht das Baltikum als Einheit, welche irgendwo vor Russland liegt. Auch bei der Zuordnung der jeweiligen Hauptstädte zu ihren Ländern gibt es in unseren Breiten Probleme.

Als ich im Rahmen meines Erasmus Auslandsstudiums ein Jahr in Litauen verbringen durfte, wurden mir die Eigenheiten und Besonderheiten dieses Landes näher gebracht. Speziell der lange Kampf um die Selbstständigkeit hat das Land in seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung geprägt.

Durch die erlebten Eindrücke war es für mich von Anfang an selbstverständlich das Thema meiner Diplomarbeit diesem Land zu widmen, in welcher ich humangeographische Aspekte durch wissenschaftliche und persönliche Hintergründe beleuchte. Vor allem der Wechsel der politischen Systeme in den vergangenen 100 Jahren hat in Litauen seine Spuren im Landschaftsbild hinterlassen

Mein Dank gilt in erster Linie meinen Eltern, sie unterstützten mich in meinen Entscheidungen, finanzierten mir mein Studium und ermöglichten mir auch den Auslandsaufenthalt in der getätigten Form. Danke sagen darf ich aber auch Ao. Univ. Prof. Dr. Peter Čede, dem Betreuer meiner Diplomarbeit für seine Geduld mit mir bei der Durchführung meiner Diplomarbeit aber auch für die gemeinsam getätigten Exkursionen. Weiters möchte ich mich noch bei meinen litauischen Professoren Dr. Giedre Beconyte und Assoc. Prof. Dr. Donatas Burneika für ihre sehr persönliche Unterstützung und Fachinformationen bedanken. Tomas Cerkasas gilt meine letzte Anerkennung, bei jeder Frage und jedem Problem war er bereit, mir zu helfen. Vielen Dank – Aciu Labai!

Zuletzt erfüllt es mich noch mit großer Freude, dass alle 40 Personen, denen ich Litauen näher bringen konnte, von den Reizen dieser unbekannten Region angetan waren.

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Zusammenfassung Obwohl die wiederhergestellte Souveränität Litauens bereits 20 Jahre zurückliegt, befindet es sich noch immer in einem nicht abgeschlossenen Transformationsprozess. Trotz sofortiger Reformen und der Orientierung Richtung Westen, waren die ideologischen Unterschiede der beiden Systeme zu groß um einen raschen Übergang zu gewährleisten.

Wirtschaftlich gesehen zählt Litauen zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Europas. Ein durchschnittliches Wachstum von sechs Prozent lässt für die Zukunft hoffen, allerdings war die wirtschaftliche Ausgangslage auf einem entsprechend niedrigen Niveau. Die Konzentration der Entwicklungsprozesse richtet sich leider meist auf den litauischen Zentralraum. Die Achse – Klaipeda trägt über zwei Drittel zum gesamten Bruttoinlandsprodukt bei.

Problematischer fällt die Bevölkerungsanalyse aus. Der Großteil der statistischen Bevölkerungsdaten zeigt negative Entwicklungen. Kein einziger Bezirk kann eine positive Bevölkerungsentwicklung vorweisen. Die größten Sorgen bereiten die Migrationssalden. So ist dieses junge Land in den ersten 20 Jahren der Unabhängigkeit bereits um mehr als zehn Prozent von der Gesamtbevölkerung geschrumpft. Hauptgrund sind mangelnde Perspektiven in der Heimat und seit dem EU-Betritt die Möglichkeit, in Ländern mit höherem Lohnniveau einer Tätigkeit nachzukommen.

Trotzdem bestehen Potentiale für eine positive Entwicklung. So könnte sich Litauen als Knotenpunkt zwischen West- und Osteuropa positionieren, abhängig von einer wirtschaftlichen Grenzöffnung in Russland und Weißrussland. Wie in der Landwirtschaft besteht auch im Tourismus die Möglichkeit der Intensivierung. Dazu bedarf es einer Modernisierung der veralteten Infrastrukturen. Sind die drei größten Städte schon sehr am westlichen Niveau orientiert, so vergrößern sich die Disparitäten innerhalb des Staatsgebietes leider zunehmend. Das sind auch die Hauptaufgaben der EU sowie der lokalen Politik um die derzeit noch funktionierenden Strukturen zu erhalten.

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Abstract Tough the lithuanian sovereignity took place almost twenty years ago, is still in an ongoing transformation process. In spite of prompt reforms and the orientation towards western , the ideologic differences had been too big to bring a quick transfer to the new system.

From an economic point of view Lithuania belongs to one of the fastest growing countries in Europe. The average increase can be pointed at six percent, however on a low level, but it is a strong sign for future developments. Unfortunately the main focus of these development processes is concentrated on the central lithuanian region. More than two thirds of the total gross domestic product is contributed by the axis Vilnius – Kaunas – Klaipeda.

A more problematic scene is shown by the analysis of the demographic changes. The major part of all statistical data provides negative tendencies. Not a single did have a growth of it´s population. The most serious problem is definitely the balance of migration. As a result this young republic already lost more than 10 percent of its population since the independence. Main reasons for leaving homecountry is a lack of prospects and since becoming member of European Union to have the posibility of an employment in a country with higher saleries.

Nevertheless there are excisting potentials to turn these facts into positive tendencies. Lithuania could play a role as a junction between East and West in European economy. Of course dependent on a liberalization of russian and belarussion borders. Specially in the agriculture or tourism ressources are wasted, indeed there is a need of modernization of the obsolete infrastructure. The three big cities already reached a relative high level, so the inner disparities of the Republic of Lithuania are aggravating. So European Union and Lithuania focus their main tasks to equalize the regional developement.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung……...…………………………………………………………………..…….10 1.1 Problemstellung und Zielsetzung ...... 10 1.2 Arbeitsgrundlagen und Arbeitsmethodik ...... 11 1.3 Die administrative Gliederung Litauens ...... 12 2 Historische Entwicklung………………………………………………………………...15 2.1 Das Baltikum – Einheit oder Vielfalt ...... 15 2.2 Vom Großfürstentum zur staatlichen Unabhängigkeit ...... 16 2.3 Die Staatsbildung nach dem Zusammenbruch der UdSSR ...... 22 2.4 Die sozioökonomische Entwicklung ...... 22 3. Humangeographische Prozesse und Strukturen auf nationaler Ebene…………………..24 3.1 Demographie ...... 24 3.1.1 Bevölkerungsentwicklung……………………………………………………...24 3.1.2 Ethnische Minderheiten………………………………………………………..28 3.1.3 Migration……………………………………………………………………….31 3.1.4 Demographische Eckdaten im EU Vergleich………………………………….34 3.1.5 Bevölkerungsprognosen……………………………………………………….37 3.2 Wirtschaft ...... 38 3.2.1 Die Landwirtschaft Litauens…………………………………………………...41 3.2.2 Sekundär- und Tertiärsektor……………………………………………………44 3.2.3 Stabilisierungsmaßnahmen…………………………………………………….46 3.2.3.1 Indikatoren der Makrostabilisierung………………………………………….47 3.2.3.2 Indikatoren der Mikroliberalisierung…………………………………………48 3.2.4 Die ersten 10 Jahre der Transformationspolitik………………………………..49 3.3 Siedlungsgeographie...... 52 3.4 Regionalentwicklung ...... 54 3.5 Natur und Umwelt – Potential und Problematik ...... 54 4. Regionale Disparitäten…………………………………………………………………..58 4.1 Bevölkerung nach Regionen ...... 58 4.2 Bruttoregionalprodukt ...... 66 4.3 Beschäftigung ...... 70 4.4 Landwirtschaft ...... 71

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4.5 Industrie ...... 74 4.6 Tourismus ...... 75 5. Fallbeispiele……………………………………………………………………………..79 Aktivraum Klaipeda – Passivraum Panavezys ...... 79 6. Maßnahmen zur Regionalentwicklung ...... 85 7. Resümee und Ausblick ...... 89 8. Verzeichnis der Arbeitsgrundlagen ...... 91 8.1 Literatur……………………………………………………………………………...91 8.2 Statistiken……………………………………………………………………………93 8.3 Internet………………………………………………………………………………93

Abbildungsverzeichnis

ABBILDUNG 1: DIE BEZIRKE UND GEMEINDEN IN LITAUEN ...... 14

ABBILDUNG 2: , HAUPTSTADT LITAUENS VON 1316 – 1323...... 16

ABBILDUNG 3: DAS GROßE LITAUISCHE KÖNIGREICH IM 14. UND 15. JAHRHUNDERT ...... 17

ABBILDUNG 4: DER RIBBENTROP – MOLOTOW VERTRAG AUS SICHT LITAUENS ...... 19

ABBILDUNG 5: BERG DER KREUZE BEI SIAULAI ...... 21

ABBILDUNG 6: BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG IN LITAUEN SEIT 1939 ...... 26

ABBILDUNG 7: ALTERS - UND GESCHLECHTSVERTEILUNG IN LITAUEN 1990, 2000 UND 2010 .. 27

ABBILDUNG 8: DIE ENTWICKLUNG DER ETHNISCHEN MINDERHEITEN IN LITAUEN

VON 1979-2010 ...... 29

ABBILDUNG 9: HINWEIS AUF DEUTSCHE BESIEDELUNG ...... 30

ABBILDUNG 10: AUSWANDERUNG NACH KONTINENTEN 2008 (%) ...... 31

ABBILDUNG 11: AUSWANDERUNG NACH BELIEBTESTEN ZIELLÄNDERN 2008 (%) ...... 31

ABBILDUNG 12: AUSLÄNDISCHE WOHNBEVÖLKERUNG IN LITAUEN NACH HERKUNFT 2006 .... 34

ABBILDUNG 13: BEVÖLKERUNGSDICHTE DER EU STAATEN 2006...... 35

ABBILDUNG 14: BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG IN DER EU VON 2003 BIS 2008 ...... 36

ABBILDUNG 15: GESCHÄTZTER ALTERSQUOTIENT IN DER EU IM JAHR 2060 ...... 38

ABBILDUNG 16: SCHREBERGARTENSIEDLUNG, STRAßENKARTE VILNIUS – STADTTEIL ...... 42

ABBILDUNG 17: EHEMALIGER LANDWIRTSCHAFTLICHER GROßBETRIEB BEI ...... 43

ABBILDUNG 18: REALES WIRTSCHAFTSWACHSTUM IN DEN BALTISCHEN STAATEN

VON 1991 – 1996 ...... 49

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ABBILDUNG 19: WIRTSCHAFTSWACHSTUM 2000 – 2010 IM EU-VERGLEICH ...... 51

ABBILDUNG 20: SENSIBLE NATURLANDSCHAFT - KURISCHE NEHRUNG ...... 55

ABBILDUNG 21: GESAMTE LUFTVERSCHMUTZUNG IN LITAUEN VON 1996 BIS 2008 ...... 57

ABBILDUNG 22: VERTEILUNG DER ENERGIEGEWINNUNG IN LITAUEN VON 1983 BIS 2015 ...... 57

ABBILDUNG 23: DIE VERORTUNG DER GEMEINDEN MIT DER NEGATIVSTEN

BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG 2001-2009 ...... 60

ABBILDUNG 24: DIE UMLANDGEMEINDEN MIT POSITIVER (ROT ) UND NEGATIVER (BLAU )

ENTWICKLUNG VON 2001 BIS 2009 ...... 61

ABBILDUNG 25: GEMEINDEN MIT EINER BEVÖLKERUNGSDICHTE UNTER 15 EINWOHNER

PRO KM ² ...... 64

ABBILDUNG 26: INTERNE MIGRATION IN LITAUEN 2007...... 65

ABBILDUNG 27: INTERNATIONALE MIGRATION IN LITAUEN , 2007 ...... 66

ABBILDUNG 28: BRUTTOREGIONALPRODUKT UND ANTEIL DER SEKTOREN AUF

BEZIRKSEBENE 2007 ...... 69

ABBILDUNG 29: BESCHÄFTIGUNG NACH WIRTSCHAFTSSEKTOREN AUF BEZIRKSEBENE 2007 .. 70

ABBILDUNG 30: DURCHSCHNITTLICHER GETREIDEERTRAG IN DEN GEMEINDEN

LITAUENS 2008 ...... 73

ABBILDUNG 31: VERTEILUNG DER INDUSTRIE - UND TECHNOLOGIEPARKS IN LITAUEN 2010 .... 74

ABBILDUNG 32: HOTEL AUS DEM 19. JH. AUF DER KURISCHEN NEHRUNG ...... 76

ABBILDUNG 33: STRAND BEI KLAIPEDA , 2005 ...... 78

ABBILDUNG 34: TOURISTISCHE ATTRAKTION AUS SOWJETZEITEN ...... 79

ABBILDUNG 35: BEVÖLKERUNG NACH GESCHLECHT UND ALTER IN KLAIPEDA , 2008 ...... 81

ABBILDUNG 36: BEVÖLKERUNG NACH GESCHLECHT UND ALTER IN PANEVEZYS , 2008 ...... 81

ABBILDUNG 37: BESCHÄFTIGUNGSANTEIL DER BEVÖLKERUNG VON 15-64 ZWISCHEN

2001 UND 2007 ...... 82

ABBILDUNG 38: BESCHÄFTIGUNG NACH WIRTSCHAFTSSEKTOREN VON 2001 BIS 2007 ...... 83

ABBILDUNG 39: ANTEIL DER ARBEITSLOSEN AN DER GESAMTBEVÖLKERUNG , 1999-2009 ...... 84

ABBILDUNG 40: EINTEILUNG DER NUTS 2 REGIONEN ...... 86

ABBILDUNG 41: BEITRAG DER KOHÄSIONSPOLITIK FÜR DEN ZEITRAUM VON 2007-2013

IN MIO € ...... 87

ABBILDUNG 42: 2 PHOTOS VOM STADTTEIL SNIPISKES (V ILNIUS ) ...... 90

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Tabellenverzeichnis

TABELLE 1: VERÄNDERUNG DER BEVÖLKERUNGSZAHLEN IN LITAUEN UND DEREN URSACHEN

VON 1939 BIS 1945 ...... 20

TABELLE 2: BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG IN LITAUEN SEIT 1939 ...... 25

TABELLE 3: AUSWANDERUNG NACH STAATSANGEHÖRIGKEIT VON 2001 BIS 2009 ...... 32

TABELLE 4: BEVÖLKERUNGSPROGNOSE BIS 2060 IN AUSGEWÄHLTEN LÄNDERN ...... 37

TABELLE 5: BEISPIEL DER KOSTEN AM SCHWARZMARKT UND OFFIZIELL FESTGELEGT

(R IGA 1990) ...... 39

TABELLE 6: ENTWICKLUNG DER VERKAUFTEN PRODUKTION IN EINZELNEN

INDUSTRIEBRANCHEN 1990-1992 (V ERÄNDERUNG GEGENÜBER DEM VORJAHR ) ...... 45

TABELLE 7: BIP PRO KOPF IN AUSGEWÄHLTEN EU STAATEN VON 1998 BIS 2008 ...... 50

TABELLE 8: MODELL DES ZUSAMMENHÄNGENDEN SIEDLUNGSSYSTEMS IN LITAUEN 1964 ...... 53

TABELLE 9: SCHADSTOFFENTWICKLUNG IN LITAUEN VON 1996 BIS 2008 ...... 56

TABELLE 10: BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG DER BEZIRKE VON 1996 BIS 2009

(A BSOLUT UND DICHTE ) ...... 58

TABELLE 11: GEMEINDEN MIT STARK NEGATIVER ENTWICKLUNG ZWISCHEN 2001 UND 2006 . 60

TABELLE 12: BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG DER GRÖßTEN STÄDTE UND UMLANDGEMEINDEN 2001-2009 ...... 61

TABELLE 13: BRP DER BEZIRKE 2007 ...... 70

TABELLE 14: ANZAHL DER BETTEN UND DEREN ENTWICKLUNG 2000, 2004 UND 2008 ...... 77

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1. Einleitung

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

„Die Mitte liegt ostwärts“ Karl Schlögel 1986. Dieser Ausspruch sorgte für viel Irritation im westlichen Denken. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass es ein Mitteleuropa östlich des ehemaligen eisernen Vorhangs gibt. Bestätigt wurde dies auch 1989 von französischen Kartographen, welche den Mittelpunkt Europas in Litauen lokalisierten. War es doch Litauen, welches 1918 ein respektables staatliches Gemeinwesen aufbaute und sich unmittelbar vor der stalinistischen Sowjetunion als Vorposten der westlichen Demokratie präsentierte und die Grenze zu einer anderen Welt bildete. Erst in den letzten Jahren im Zuge der EU Erweiterung wird unsere Europaansicht wieder Richtung Osten vergrößert. Somit ergeben sich einige Fragen wie das kleine Land zwei gravierende Systemwechsel überstand. Auf sozialer wie wirtschaftlicher Ebene gab es ständig Umstrukturierungen, welche in Gesellschaft und Landschaftsbild ihre Spuren hinterließen.

Ein essentieller Punkt am Beginn meiner Arbeit ist die historische Entwicklung dieser Region. Speziell im 20. Jahrhundert gab es eine Vielzahl externer Einflüsse. Mit dem historischen Hintergrundwissen werden somit auch die restlichen Ausführungen leichter verständlich sein.

Danach werden die wichtigsten demographischen wie sozioökonomischen Fragen auf Bezirksebene analysiert. Daraus resultierend kristallisieren sich Peripher- und Zentralräume heraus. Auch wird gezeigt, wie sich diese Räume im Laufe der letzten 40 Jahren veränderten. Anschließend werden noch Maßnahmen des Staates sowie der Europäischen Union erläutert dieses Ungleichgewicht zu verringern.

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1.2 Arbeitsgrundlagen und Arbeitsmethodik

Zu meinen Arbeitsgrundlagen gehörten Monographien, Zeitschriften, Fachaufsätze, statistische Daten, Karten, persönliche Interviews und das Internet. Während meiner Literatursuche wurde ich unter anderem auf der Hauptbibliothek und der Institutsbibliothek in Graz fündig. Aufgrund der geringen Aktualität der vorhandenen Literatur musste ich oft die Fernleihe nutzen. Die statistischen Daten wurden einerseits über die Homepage des litauischen statistischen Amtes heruntergeladen, aber auch im Geschäft des statistischen Amtes in Vilnius in der Druckausgabe erworben. Auch Daten von Eurostat wurden zu Analyse- und Vergleichszwecken herangezogen. Als erschwerend stellte sich heraus, dass die Angaben der Daten während der Sowjetzeit nur bedingt umrechenbar sind oder nicht dem Ist- Zustand entsprachen.

Dem Hintergrundwissen dienlich war auch mein Erasmus Auslandsjahr in Litauen, wo ich jeweils in Vilnius und Klaipeda einen längeren Aufenthalt genießen konnte. Insgesamt dauerte mein Aufenthalt 11 Monate, in diesem Zeitraum konnte ich den Untersuchungsraum intensiv bereisen, aber auch an geographischen Exkursionen teilnehmen. Hilfreich waren auch die damit erlangten Kontakte, welche ich bei etwaigen Problemen nutze. Entweder war es Donatas Burneika, Professor für Geographie an der Universität Vilnius, oder mein Studienkollege Tomas Cerkasas, die mir bei Unklarheiten dienliche Information geben konnten.

Das gesamte Fotomaterial wurde von mir aufgenommen, entweder während meines Auslandsstudiums oder den zahlreichen weiteren Reisen nach Litauen.

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1.3 Die administrative Gliederung Litauens

Litauen liegt in Osteuropa und grenzt an folgende Staaten: Weißrussland (724 km), Lettland (610km), an die russische Exklave Kaliningrad (303km) und an Polen (110km). Die Gesamtfläche beträgt 65 301 km² und 3 329 000 Personen bevölkern Litauen. Davon leben 2,23 Millionen in Städten und 1,10 Millionen am Land. (ZUM 2007a)

Während es in Litauen vier beziehungsweise fünf historische Regionen gibt, musste die administrative Verwaltung nach der Unabhängigkeit 1991 neu eingeteilt werden. Seit 1995 gibt es eine neue administrative Einteilung des litauischen Staatsgebietes. Einerseits gibt es die Savivaldybé (Gemeinde) und die Apskritis (Regierungsbezirke). Die Apskritis, jeweils nach ihrer Hauptstadt benannt, ist die zweithöchste Verwaltungseinheit nach dem (Parlament), wobei hier jedoch die Administration von der Regierung des litauischen Staates eingesetzt wird. Als nächste Verwaltungsebene gilt die Savivaldybe (Gemeinde), zu welcher die kreisfreien Städte und Kommunalkreise zählen, welche wiederum aus 526 Seniunijos (Katastralgemeinde) bestehen. Die Gemeinde ist eine administrative Einheit geleitet von einer Selbstverwaltung, die von der ansässigen Bevölkerung gewählt wird. Am Ende der Verwaltungsstruktur befindet sich die Seniunijos oder Katastralgemeinde. Diese hat jedoch keine gewählte Bürgervertretung. Sie wird von den Gemeindevorstehern regiert, welche in Ausschreibungsverfahren von den Verwaltungsdirektoren bestellt werden. Die Bildung eines ehrenamtlichen Gemeinderates ist vorgesehen, welcher aber lediglich eine beratende Funktion ausübt. Basierend auf dem Gesetz für territoriale und administrative Einheiten in Litauen von 1994, wurden in der ersten Phase 56 Gemeinden und 10 Bezirke eingerichtet. Somit haben wir die 10 Bezirke: , Kaunas. Klaipeda, Marijampole, Panavezys, Siaulai, Taurage, Telsiai, und Vilnius. Während es bei den Bezirken im Laufe der Jahre keine Veränderungen gab, hat es am Gemeindesektor sehr wohl einige Verschiebungen in der jungen Republik gegeben. So gab es in der zweiten Phase seit 2000 einige Neugründungen von Gemeinden, Territorial- und Grenzverschiebungen sowie Namensänderungen bestehender Gemeinden. Derzeit beinhaltet das Gebiet der Republik Litauen 10 Bezirke und 60 Gemeinden. (LIT STAT 2006, S.5-6)

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Die Bezirke beinhalten folgende Gemeinden: Der Bezirk Alytus umfasst die Gemeinden: Stadt Alytus, Alytus Umgebung, , und Varena Der Bezirk Kaunas umfasst die Gemeinden: Birstonas, , Kaisiadorys, Stadt Kaunas, Kaunas Umgebung, Kedainiai, und Rasenai. Der Bezirk Klaipeda umfasst die Gemeinden: Stadt Klaipeda, Klaipeda Umgebung, Kretinga, Neringa, Stadt , und Silute. Der Bezirk Marijampole umfasst die Gemeinden: Kalvarija, Kazlu Ruda, Marijampole, Sakiai und Vilkaviskis. Der Bezirk Panavezys umfasst die Gemeinden: Birzai, Kupiskis, Stadt Panavezys, Panavezys Umgebung, und Rokiskis. Der Bezirk Siaulai umfasst die Gemeinden: Joniskis, Kelme, , Akmene, Radviliskis, Stadt Siaulai und Siaulai Umgebung. Der Bezirk Taurage umfasst die Gemeinden: , Pagegiai, Silale und Taurage. Der Bezirk Telsiai umfasst die Gemeinden: Mazeikiai, Plunge, Rieetavas und Telsiai. Der Bezirk Utena umfasst die Gemeinden: Anyksciai, , Moletai, Utena, Visagnina und . Der Bezirk Vilnius umfasst die Gemeinden: Elektrenai, Salcininkai, Sirvintos, Svencionys, Trakai, Ukmerge, Stadt Vilnius und Vilnius Umgebung.

Flächenmäßig ist der Bezirk Telsiai der kleinste, Vilnius der größte Bezirk, welcher gleichzeitig am einwohnerstärksten ist. Die wenigsten Einwohner befinden sich im Bezirk Taurage. Gemessen an der Bevölkerungsdichte liegt Vilnius knapp vor Kaunas (86,9 Einw./km² und 85,1 Einw./km²), Schlusslicht ist der Bezirk Utena mit 24,9 Einw./km²).

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Abbildung 1: Die Bezirke und Gemeinden in Litauen

Arbeitsgrundlage: eigene Anfertigung 2010

Somit ist das System der administrativen Einteilung nicht mit dem österreichischen vergleichbar. In Österreich gibt es historische Gebiete, welche sich auch bei der Einteilung der NUTS Regionen widerspiegeln. In Litauen gibt es keine Unterteilung in NUTS I oder NUTS II Gebiete, lediglich auf dritter Ebene findet man die 1995 gegründeten Verwaltungsbezirke (Apskritis). Was den Vorteil mit sich bringt, dass die nationale und die internationale Gliederung übereinstimmen.

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2 Historische Entwicklung

2.1 Das Baltikum – Einheit oder Vielfalt

Oft wird über die Geschichte der baltischen Länder gesprochen, beziehungsweise das Baltikum von den westeuropäischen Staaten als Einheit gesehen. Beschäftigt man sich mit diesen Staaten intensiver, wird sich bald herausstellen, dass außer der geographischen Lage nicht allzu viele Gemeinsamkeiten zu finden sind. Erst seit der Zwischenkriegszeit und dem Versuch gemeinsam gegen Deutschland und Russland die Unabhängigkeit zu wahren, werden diese drei Staaten mit dem Begriff Baltikum verbunden. Speziell die dortige Bevölkerung legt großen Wert auf die Unterschiede der Länder. Schaut man weiter in die Vergangenheit zurück, wird man bemerken, dass Lettland und Estland sich noch teilweise im Ethnischen und Sozialen überschneiden. Litauen jedoch hat eine eigene Geschichte, welche eher Gemeinsamkeiten mit Polen, Weißrussland und der Ukraine aufweist. Vor dem ersten Weltkrieg entsprachen diese Staaten auch eher Konglomeraten aus Landesteilen als einheitlichen Staatsgebieten. (TUCHTENHAGEN 2005, S.7)

Schon der Begriff „Baltisch“ bringt eine gewisse Problematik mit sich. Galt ursprünglich doch nur die dort ansässige deutsche Oberschicht als Balten. Weiters wird in der Linguistik Baltisch als Sprachfamilie des Lettischen, Kurischen, Prusischen und Litauischen verwendet. Die estnische Sprache zählt allerdings nicht zur baltischen Sprachfamilie. Ein dritter Aspekt zielt auf die Länder welche an der baltischen See (Ostsee) liegen, allerdings würde sich die Anzahl der baltischen Länder nach dieser Definition um einiges erhöhen. Zum Ostseeraum gehören Litauen, Lettland, Estland, Finnland, Russland, Schweden, Dänemark und Teile Deutschlands. Auch Weißrussland und Norwegen gehören, obwohl kein direkter Ostseezugang besteht, zu dieser Region. Trotzdem hat sich dieser Begriff für die drei Staaten durchgesetzt, wobei die Bewohner sehr bewusst auf ihre Eigenständigkeit und Unterschiede aufmerksam machen. (TUCHTENHAGEN 2005, S.8)

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2.2 Vom Großfürstentum zur staatlichen Unabhängigkeit

Anders als bei seinen baltischen Nachbarn Lettland und Estland kann Litauen auf eine schon im Mittelalter erlangte Eigenständigkeit zurückblicken. So musste sich Litauen in diversen Kämpfen immer wieder gegen seine Nachbarn behaupten. Einerseits drohte im Westen immer wieder Gefahr durch die deutschen Ritterorden, andererseits gab es im Osten durch diverse russische Stämme auch stetes Gefahrenpotential. Nach Zusammenbruch des Kiewer Reiches haben einige westrussische und südwestrussische Gebiete Anlehnung beim litauischen Reich gesucht. Somit entstand hier im 13. Jahrhundert ein Reich mit einer maximalen Ausdehnung von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer im Süden. Die relative geringe Anzahl von Litauern in diesem multiethnischen Staat behielt jedoch seine Eigenständigkeit, speziell wegen der unterschiedlichen Konfessionen. Während alle benachbarten Völker entweder römisch katholisch oder orthodox waren, war Litauen im Mittelalter noch ein heidnisches Land. Erst durch die Litauisch – Polnische Union wurde dieser Anachronismus abgeschafft. Fürst Jogaila und die polnische Königin Hedwig vermählten sich 1386 in Krakau und so kam das Polnische Königreich und das Litauische Großfürstentum unter eine gemeinsame Herrschaft. Durch diese Heirat transformierte sich Litauen nicht zu den orthodoxen Christen sondern zur römisch katholischen Kirche. Was wiederum zur Folge hatte, dass dem deutschen Ritterorden das Kreuzzugsargument entzogen wurde. (BUTENSCHÖN 2002, S.79)

Abbildung 2: Trakai, Hauptstadt Litauens von 1316 – 1323

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme, 2005

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Eckpfeilercharakter in der litauischen Geschichte hat auch der Sieg über den Deutschen Orden 1410. In der Schlacht bei Zalgiris (Grünwald/Tannenberg) konnte das vereinigte Heer von Polen und Litauen die stete Bedrohung des Ordens für immer brechen. Der Name Zalgiris ist auch heute noch für viele Sportvereine in Litauen Namen gebend, da er Symbol nationaler Selbstbehauptung ist und an einen großen Sieg erinnert. (BUTENSCHÖN 2002, S.80)

Abbildung 3: Das Große Litauische Königreich im 14. und 15. Jahrhundert

Arbeitsgrundlage: Litauischer Historischer Atlas

In der Union von Lublin 1569 wurden dann wirklich die beiden Reichshälften vereint. Jedoch erfolgte mit der Vereinigung auch eine schleichende Polonisierung, welche die litauische Sprache zu einer Stallsprache degradierte und einen sozialen Aufstieg nur mit polnisch möglich machte. Diese Republik beider Nationen währte bis 1795, dem gemeinsamen Untergang dieser beiden Staaten. In den zwei Jahrhunderten drang die polnische Kultur und 17

Sprache in weite Teile des Großfürstentums ein, der Adel aber wahrte seine historischen Wurzeln und alten Bräuche. So war zwar Polnisch weit verbreitet, die Muttersprache blieb aber Litauisch. Da in der Union eine zentrale Macht fehlte, wurden sie immer mehr zu einer Geisel der Gruppierungen und schließlich von den übermächtigen ausländischen Nachbarn zum Zusammenbruch gedrängt. 1795 wurde das Staatsgebiet dann unter Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt. (BUTENSCHÖN 2002, S. 82-85)

Das heutige Staatsgebiet von Litauen wurde auf Preußen und Russland aufgeteilt, als natürliche Grenze wurde die Memel (Nemunas) herangezogen, westlich von ihr war Preußen und östlich Russland. Und Litauen war für die nächsten 150 Jahre im russischen Zarenreich integriert, in einem strengen Polizeiregime mit wachsender Russifizierung. In der Hoffnung auf Wiederherstellung des Großfürstentums wurden vier Infanterie- und fünf Kavallerieregimenter der Grande Armée Napoleons bereitgestellt, doch am Ende des Krieges richteten sich wieder die Russen in Litauen ein. Auch wenn der französische Einfluss nur von kurzer Dauer war, der Geist des Aufruhrs der französischen Revolution war von nun an nicht mehr zu unterdrücken. 1830/31 kam es zum ersten Aufstand von Polen ausgehend, doch wurde er mit geringen Maßnahmen niedergeschlagen. Die Strafen dafür waren umso härter, Güter der Aufständigen wurden beschlagnahmt, Kirchen und Schulen geschlossen oder in russisch-orthodoxe Einrichtungen umgewandelt und mit der Schließung der Universität von Vilnius wurde Litauen das geistige Zentrum genommen. Während die orthodoxe Staatskirche mittels Land versuchte Bauern zur Konversion zu bringen, riefen die katholischen Geistlichen zur Verteidigung des Glaubens auf. Mitte des 19. Jahrhunderts war die antirussische Stimmung so groß, dass sich die Litauer am zweiten Aufstand viel stärker beteiligten. Dieser Aufstand von 1863/64 wurde wiederum blutig niedergeschlagen. Wieder folgten Strafen, welche die Litauer bereits vom ersten Aufstand kannten. Hinzu kam jedoch das Druckverbot von litauischen Texten und russisch als Unterrichtssprache. Doch langfristig waren alle Maßnahmen kontraproduktiv, es entwickelte sich ein Nationalbewusstsein und man wollte nicht mehr als anders sprechende Polen angesehen werden. (BUTENSCHÖN 2002, S.86-92)

1904 begann das litauische Volk sein Unabhängigkeitsstreben mit den ersten Auflagen litauischer Zeitungen und 1905 mit der Ausrufung der Autonomie innerhalb des Russischen Reiches. Im Ersten Weltkrieg wurde Litauen vorerst von Deutschland besetzt, doch das Ende des Weltkrieges besiegelte auch das Ende des Preußischen Reiches und Litauen konnte die

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unabhängige Litauische Republik ausrufen. Die junge Republik konnte sich nicht einmal innenpolitisch organisieren, schon gab es wieder außenpolitische Probleme. Polen stellte Gebietsansprüche und so musste man schließlich im Polnisch-Litauischen Krieg Vilnius und Umgebung an Polen abtreten. Im Gegenzug dazu annektierte Litauen das Memelland, den nördlichsten Teil Preußens und machte Kaunas zur Übergangshauptstadt. Die Unabhängigkeit sollte aber nicht lange währen, mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde im deutsch – russischen Grenz- und Freundschaftsvertrag (Ribbentrop – Molotow Vertrag) die Aufteilung Litauens beschlossen. Zunächst hätte das gesamte Staatsgebiet ins Deutsche Reich integriert werden sollen. In Nachverhandlungen wurde es aber in die Sowjetunion eingegliedert und nur das historische Memelland gelangte zu Deutschland. (GARLEFF 2001, S. 167)

Abbildung 4: Der Ribbentrop – Molotow Vertrag aus Sicht Litauens

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme, KGB Museum Vilnius 2006 (Übersetzung: die Folgen des Sowjet – Nazi Liquidationspaktes! 1939 der Ribbentrop Molotov Pakt legitimiert die Russische Okkupation Estlands, Lettlands und Litauens)

Unter dem Druck der Roten Armee wurde der russisch-litauische Vertrag geschlossen, die Regierung durch Moskau treue Politiker ausgetauscht und schließlich bat Litauen um die Aufnahme in die UdSSR. In den folgenden 12 Monaten wurden alle Grundbesitzer enteignet und alle antikommunistisch eingestellten Gruppierungen inhaftiert oder in die Gulags nach Sibirien transportiert. 1941 rückten deutsche Truppen Richtung Osten vor. Im Blitzkrieg 19

wurde Litauen eingenommen (1 Woche). Mit der deutschen Okkupation wurden nun die Juden und Kommunisten verfolgt, verschleppt und ermordet. Mit besonderer Härte wurde die jüdische Bevölkerungsschicht getroffen, welche auch durch litauische Kollaboration bis auf 10% reduziert wurde (von 230.000). Der zweite Einmarsch der Roten Armee traf das litauische Volk nochmals mit voller Wucht. Viele Litauer schlossen sich dem deutschen Rückzug an oder emigrierten nach Übersee. (GARLEFF 2001, S. 167/168)

Tabelle 1: Veränderung der Bevölkerungszahlen in Litauen und deren Ursachen von 1939 bis 1945 Bevölkerung Oktober 1939 2 950 000 Emigration Nov 1939 – Mai 1941 - 50 000 Sowj. Deportationen und Exekutionen 194040/41 - 35 000 Mobilisation zur Sowjetarmee 1941 und 1944/45 - 60 000 Flucht in Sowjetunion 1941 - 20 000 Exekutionen und Deportationen unter deutscher Herrschaft - 200 000 1941/44 Nach Deutschland verschickte Zwangsarbeiter 41/44 - 75 000 Auf deutscher Seite Gefallene - 10 000 Sowjetische Exekutionen und Deportationen 1944/45 - 50 000 Flucht in den Westen 1942/45 - 50 000 Rückkehr nach D verschickter Zwangsarbeiter 1945 + 20 000 Rückkehr auch Sowjetunion und Sowjetarmee 1944/45 + 20 000 Auswanderung nach Polen - 150 000 Gebietsgewinne 1940-45 +125 000 Andere Verluste - 15 000 Bevölkerung Ende 1945 2 400 000 Sowjetische Deportationen 1946 - 53 - 260 000 Opfer des Partisanenkrieges - 50 000 Rückkehr aus Sowjetunion oder Armee nach 1945 + 40 000 Einwanderung von Russen (Weißrussen + Ukrainer) + 160 000 Geburtenüberschuss + 350 000 Bevölkerung Anfang 1955 2 654 000 Arbeitsgrundlage: GARLEFF, 2001, S.168

Wie man aus der Tabelle gut erkennen kann, haben sich die größten Bevölkerungsverschiebungen in Litauen vor allem nach Beendigung des zweiten Weltkrieges ergeben. Einerseits dauerte der Partisanenkampf in Litauen noch bis zum Jahre 1953,

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andererseits wurden die neuen Bereiche des Staatsgebietes, das Memelland und das Wilna Gebiet, mit russischen Bevölkerungsschichten aufgefüllt. (GARLEFF, 2001, S.169)

Mit dem erneuten Einmarsch der Sowjettruppen im Herbst 1944 wurde die Politik der Sowjetisierung der baltischen Länder mit noch größerer Intensität vorangetrieben als zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Speziell Litauen wurde durch Hinrichtungen, Verhaftungen und Deportationen stark dezimiert und das sowjetische Gesellschaftsformat und die Wirtschaftsstruktur angepasst. Aber auch am Sektor der Kulturarbeit trat, obwohl offiziell das eigene Sprach- und Liedgut gefördert, eine nationale Angleichung an die UdSSR ein. Während in Estland und Lettland der Anteil der russischen Bevölkerung auf bis zu 45% anstieg, blieb dieser in Litauen konstant. Lediglich der Anteil der russischen sprechenden Bevölkerung stieg aufgrund der offiziellen Staatssprache. Ein besonderer Dorn im Auge der Kommunisten war in Litauen die Rolle der katholischen Kirche. So wurde auch 1 Drittel der Geistlichkeit Opfer des sowjetischen Terrors. Die Wallfahrtsstätte Berg der Kreuze (Kryži ų kalnas), welche mehrmalige russische Einplanierungsversuche überdauerte, erlangte Symbolkraft für den Glauben wie nationales Bewusstsein. (GARLEFF 2001, S. 176/177)

Abbildung 5: Berg der Kreuze bei Siaulai

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme, Januar 2006

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2.3 Die Staatsbildung nach dem Zusammenbruch der UdSSR

Während von Anfang der 70er Jahre bis 1985 jegliche Bemühungen des Widerstandes mit aller Härte gestoppt wurden, änderte sich die Situation 1985 schlagartig. Mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow und Begriffen wie Glasnost und Perestroika wollte er die Union reformieren, jedoch bedeutete dies den Beginn des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Die politische Liberalisierung in den Gorbatschow Jahren entwickelte sich rasant zu einer Unabhängigkeitsbewegung. Singende Revolution genannt deshalb, weil die Kundgebungen Volksfestcharakter mit Folklore Umrahmung hatten, so begann mit dem 3. Juni 1988 und der Gründung der Sajudis (Aufbruch) Bewegung das organisierte Unabhängigkeitsstreben in Litauen. Die Bewegung trat in den folgenden Jahren auch als Oppositionspartei in Erscheinung und erreichte 1990 bereits 106 von 141 Sitzen, und nur wenige Tage später am 11. März 1990 wurde von diesem Parlament die Unabhängigkeit Litauens ausgerufen. Moskau hatte diese Wahl zunächst nicht anerkannt und mit einem Wirtschaftsembargo Druck ausgeübt. Als 1991 auch der Versuch, mit militärischem Druck die Lage zu beruhigen fehlschlug, war der Weg für die erneute Unabhängigkeit geebnet. (DAPSYS 2002, S. 102)

2.4 Die sozioökonomische Entwicklung

Die Sowjetische Okkupation und somit auch Sowjetisierung begann im Jahre 1940, als wie im Hitler – Stalin Pakt vorgesehen, das Baltikum im Einflussbereich Russlands stand. Zuerst noch durch eine kurze Deutsche Besetzung unterbrochen (1941 – 1944/45) dauerte diese rund 50 Jahre und beeinflusste die junge Republik markant. Mit Ende des 2. Weltkriegs flohen viele Litauer aus Angst vor den Russen in Richtung Westeuropa und von dort weiter nach Süd- und Nordamerika. Schätzungsweise leben cirka 1 Million Litauer außerhalb der Republik. (MALEK 1999, S.24)

Die Sowjetisierung umfasste die völlige Enteignung des privaten und öffentlichen Vermögens, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die punktweise Industrialisierung im Dienste der Sowjetunion, ohne ausreichende einheimische Rohstoffe, auch ohne ausreichende einheimische Arbeitskräfte und dazu auch noch zu Lasten einer erheblichen Naturzerstörung. Man denke nur an die Errichtung des Atomkraftwerkes Ignalina am Rande des Nationalparks

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Aukstatija. Mit der Industrialisierung und der Einrichtung der Sowjetmacht war eine massive, fremdvölkische Einwanderung verbunden. Speziell russische Industriearbeiterfamilien, Militärs und Verwaltungsbeamte füllten die durch die Kriegswirren geleerten Städte Klaipeda und Vilnius. Durch den Austausch der Führungselite, dem Verbot der katholischen Kirche und der Umstrukturierung des Bildungswesens wurde versucht die Eckpfeiler der litauischen Identität zu vernichten. Das Ergebnis der Sowjetherrschaft wurde als katastrophal empfunden, obwohl es den Litauern, sowie den übrigen Balten, verhältnismäßig gut gegangen ist (Realeinkommen 130% vom Sowjetdurchschnitt). Einerseits wurde die gut funktionierende Landwirtschaft der Zwischenkriegszeit reformiert, andererseits wurden Industriebetriebe ohne Rücksicht auf den eigenen Bedarf und der Rohstoffbasis errichtet. Noch heute gibt es genügend Zeugen von Industrieruinen, verteilt über das ganze Land. (BERTELSMANN 1996, S.83)

Nach dem ersten harten Durchgreifen des Stalin Regimes, erfolgten unter Nikita Chruschtschow eine Liberalisierung, eine Reduktion der Schwerindustrie und Investitionen in der Landwirtschaft. Auch im Bereich der Kultur wurde der sozialistische Realismus etwas freier interpretiert und auch Reisen ins sozialistische Ausland durften im begrenzten Umfang unternommen werden. In der Brezhnev Periode kehrte man allerdings wieder zum zentralistischen Machtgefüge zurück. Sowchosen prägten immer stärker das Bild am Land und damit verbunden die aufgelassen Dörfer. In den 1970er Jahren entstanden Bewegungen für eine größere Meinungsfreiheit und Bewahrung der nationalen Kultur, Tradition und Sprache. Gleichzeitig drangen verstärkt angloamerikanische Elemente in den baltischen Raum, dem Moskau hilflos zusah. (TUCHTENHAGEN 2005, S.95/96)

Schließlich erreichte die Unzufriedenheit in den 80er Jahren ihren Höhepunkt, hinzu kamen noch die Versorgungskrisen (Lebensmittel, Industriegüter, Dienstleistungen) sowie die fortgeschrittene Umweltzerstörung. Glasnost und Perestroika erlaubte es den einzelnen Nationen etwas transparenter mit solchen Themen umzugehen und die Dissidentenbewegungen spielten eine immer größere Rolle bis letztendlich am 11. März 1990 Litauen als erstes Land der ehemaligen UdSSR seine Eigenständigkeit proklamierte. Wie man also sieht, hat es durch das sozialistische System in circa 50 Jahren massive, teils irreparable Einschnitte in sozialen und ökonomischen Bereichen gegeben. Vieles wurde unternommen um die Eigenständigkeit der Kultur und Sprache zu brechen und auf wirtschaftlicher Ebene

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erfolgte der Wechsel von einer funktionierenden exportorientierten Landwirtschaft hin zu kollabierten Großbetrieben welche nicht einmal mehr fähig waren die eigene Bevölkerung zu ernähren. Doch auch die ersten Jahre der Unabhängigkeit brachten nicht den erhofften schnellen Wandel mit sich. (TUCHTENHAGEN 2005, S.97/98)

3. Humangeographische Prozesse und Strukturen auf nationaler Ebene

Im folgenden Kapitel werden die Indikatoren betrachtet um Aufschluss über die humangeographischen Prozesse und Strukturen in Litauen geben zu können. Um eine vernünftige Ausgangslage zu schaffen muss man eine einheitliche Regionsabgrenzung finden. Wie bereits erwähnt, spielt der historische Einfluss auf die Regionsbildung eine geringe Rolle, zu lange war Litauen von diversen Nachbarstaaten okkupiert und geteilt. Im sozialistischen Regime wollte man in der Republik Litauen fünf gleich große Zentralstädte errichten. Deswegen gab es auch Beschränkungen in den traditionellen Ballungsgebieten die Zuwanderung betreffend.

3.1 Demographie

3.1.1 Bevölkerungsentwicklung

Während im Jahr 1989 in der sowjetischen Teilrepublik Litauen noch 3,7 Mio. Menschen lebten, so waren es 20 Jahre später 2009 nur noch etwa 3,3 Mio. Einwohner. Daraus ergibt sich ein Bevölkerungsrückgang von 400000 Personen oder 10% der Bevölkerung und auch die Zukunft bringt Litauen düstere Aussichten. So wird bis zum Jahr 2050 ein kontinuierlicher Bevölkerungsrückgang prognostiziert, verursacht durch negative Geburtsraten wie auch Migrationssalden. Zwei Migrationswellen verursachten das Defizit. Während in den ersten Jahren der Neugründung vor allem Russen, Weißrussen und Ukrainer das Land verließen, so sind es seit dem EU-Beitritt 2004 vor allem jüngere Leute, die ihre berufliche Zukunft im EU - Ausland suchen.

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Als Einführung zu diesem Kapitel beleuchten wir die Gesamtsituation Litauens. Die Zeitreihe beginnt mit dem Jahr 1939, welches für Litauen von großer Bedeutung war, weil es damals die Souveränität aufgeben musste. In der folgenden Graphik wird die Gesamtbevölkerung, Stadtbevölkerung, Landbevölkerung und schließlich noch die Bevölkerungsdichte dargestellt.

Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung in Litauen seit 1939 Jahr total Stadtbev. Landbev. Bev. Dichte 1939 3037,1 695,5 2341,6 46,6 1959 2696,7 1025,9 1670,8 41,3 1970 3118,9 1557,7 1561,2 47,8 1979 3391,5 2034,9 1356,6 51,9 1989 3674,8 2486,8 1188,0 56,3 1990 3693,7 2513,9 1179,8 56,6 1995 3643,0 2458,2 1184,8 55,8 2000 3512,1 2357,1 1155,0 53,8 2001 3487,0 2334,2 1152,8 53,4 2002 3475,6 2326,2 1149,4 53,2 2003 3462,5 2317,2 1145,3 53,0 2004 3445,9 2297,4 1148,5 52,8 2005 3425,3 2281,4 1143,9 52,5 2006 3403,3 2268,8 1134,5 52,1 2007 3384,9 2260,2 1127,4 51,8 Arbeitsgrundlage: Lithuanian Statistics 2007

Wie man sieht, ist auch in Litauen der Zweite Weltkrieg nicht spurlos vorübergegangen und es dauerte beinahe 20 Jahre bis die Population den gleichen Wert wie vor Beginn des Krieges erreichte. Von 1940 bis 1959 kam es aufgrund von Deportationen, Kriegshandlungen und dem Holocaust zu großen Bevölkerungsverlusten in Litauen. Damals wurde beinahe die gesamte jüdische Bevölkerung Litauens ermordet. Die positive Bevölkerungsentwicklung von 1959 bis zum Jahre 1990 hat auch einen bitteren Beigeschmack. Ein nicht unwesentlicher Teil davon geht zu Lasten der versuchten Russifizierung in Litauen. Planmäßig wurden Russen, Ukrainer und Weißrussen in den baltischen Ländern angesiedelt um die drei Staaten enger an die Zentralmacht Moskaus zu binden und um Unabhängigkeitsgedanken im Keim zu 25

ersticken. Durch Industrialisierungsprozesse gelangten weitere Sowjetbürger nach Litauen. Aber auch das Gegenteil war der Fall, Litauer mussten in den diversen Sowjetrepubliken ihrer Arbeit nachgehen, so betrug 1989 die Zahl der im Ausland geborenen Litauer 10% der Gesamtbevölkerung. (BRAKE 2007, S.1)

Abbildung 6: Bevölkerungsentwicklung in Litauen seit1939

4000000

3500000

3000000

2500000 total 2000000 Stadtbev. 1500000 Landbev. 1000000

500000

0 1939 1959 1970 1979 1990 2000 2010

Arbeitsgrundlage: Litauen Statistik 2010

Auch die Altersstruktur betreffend ergab sich in den letzten 20 Jahren eine Trendwende, zählte Litauen vor 10 Jahren noch zu den Ländern mit dem höchsten Anteil der unter 15 Jährigen gemessen an der Gesamtbevölkerung, so befindet es sich jetzt nur mehr im europäischen Mittelfeld. Waren 1996 noch 21,6% der Gesamtbevölkerung unter 15 Jahren, zählte diese Gruppe 2007 nur noch 15,9%. (EU Schnitt: 1996: 18,1% 2007 15,8% - Österreich 1996 17,8%, 2007 15,6). Einerseits verantwortlich ist der natürliche Geburtenrückgang, andererseits sind es genau die 20-30 Jährigen welche die neu erlangte Bewegungsfreiheit nutzen und zwecks Arbeitsmöglichkeiten ins Ausland emigrieren. Am Anteil der über 65 Jährigen gibt es auf EU Ebene keine wesentlichen Unterschiede. Einzig am Beispiel der Lebenserwartung bildet Litauen mit Lettland eine Ausnahme.

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Abbildung 7: Alters- und Geschlechtsverteilung in Litauen 1990, 2000 und 2010

Arbeitsgrundlage: Statistisches Amt der USA 2010

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3.1.2 Ethnische Minderheiten

Litauen bezeichnet sich selbst als multiethnischer Staat, das heißt litauische Staatsbürger können sich zu verschiedensten ethnischen Gruppen bekennen. Bei der letzten Volkszählung 2001 bekannten sich 83,5% zur ethnischen Mehrheit der Litauer, Polen sind mit einem Anteil von 6,7% vertreten, gefolgt von den Russen mit 6,3%. Erwähnenswert ist noch der weißrussische Anteil mit 1,2% und der Ukrainische 0,7%. Juden, Deutsche, Tataren, Letten, Roma, Armenier und sonstige machten zusammen nur mehr 0,7% der Bevölkerung aus. Eine Besonderheit bilden die ostlitauischen Gebiete rund um Vilnius, wo der litauische Anteil nur rund 50% ausmacht, die dort autochthonen Polen bilden rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung und hin zur polnischen Grenze sind ethnische Polen sogar deutlich in der Mehrheit. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die russische Minderheit auf einige Gebiete, bildet aber nirgends die Mehrheit, außer vielleicht in einer Stadt gebaut in den 80er Jahren um die Techniker des Atomkraftwerks Ignalina zu beheimaten. Die Litauer verhalten sich sehr offen gegenüber Minderheiten und anders als in den restlichen baltischen Staaten werden die Russen nicht als Bedrohung gesehen. In Litauen waren die Russen besser integriert und meist auch der litauischen Landessprache mächtig. Obwohl die ethnischen Minderheiten gesetzlich gleichgestellt sind, ergeben sich doch Abweichungen am Arbeitsmarkt und Bildungssektor. Demnach verfügen die Juden, Armenier gefolgt von Ukrainern und Russen über das höchste Bildungsniveau, Diskriminierungen jedoch gibt es im Falle der Roma. (Brake 2007, S.3-5)

In den Jahren von 1990 bis 2000 verließen 270000 Menschen das Land, meist Russen, Weißrussen und Ukrainer, welche aufgrund des Rückgangs der Industrieproduktion und eines daraus resultierenden Arbeitsplatzmangels in ihre Heimat zurückkehrten. Im Gegensatz zu seinen baltischen Nachbarn entschied Litauen 1990, dass jeder Einwohner mit Stichtag 11. März 1990 auch die litauische Staatsbürgerschaft erhalte, sofern die betroffene Person es wollte. So erhielten auch 90% der Personen anderer Nationalitäten die Staatsbürgerschaft. Die Polnische Minderheit: 90% der Polen leben im Südosten Litauens und bezeichnen sich selber als „Tutejszy“ (Hiesige). Auch in der Hauptstadt Vilnius sind sie mit 18,9% die größte Minderheit. Die Geschichte der Polen in Litauen, begann mit dem gemeinsamen Staatenbund von Polen und Litauen (1569 – 1795). Seit 1697 war Polnisch auch die offizielle Landessprache und damit die polnische Kultur die Leitkultur. In der Zwischenkriegszeit war

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dieser Teil Litauens ebenso in polnischer Hand. Seit 1996 haben die Polen auch eine eigene Partei (AWPL), welche sich speziell bei Regionalwahlen großer Zustimmung erfreut und neuerdings auch im Stadtparlament von Vilnius und im Bundesparlament vertreten ist. Auch im Schulwesen ist polnisch fest verankert, so gibt es 83 polnische bzw. 40 zweisprachige Schulen im Land.

Abbildung 8: Die Entwicklung der ethnischen Minderheiten in Litauen von 1979-2010

400000

350000 Russen Polen 300000 Weißrussen 250000 Ukrainer Juden 200000 Letten 150000 Tataren Deutsche 100000 Rumänen 50000 Andere Ethnizität Nicht angegeben 0 1979 1989 2001 2007 2010

Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik, 2010

Die Russen: Der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung ist generell rückläufig. Waren es 1989 noch 9,4% so sind es jetzt nur noch 5,1%. Die Mehrheit der Russen kam erst ab 1944 als Arbeitsmigranten ins Land und siedelte sich nahe den großen Industriebetrieben an. In Zeiten der Litauischen SSR gab es für diese Minderheit keine Notwendigkeit die litauische Sprache zu erlernen. Russische Schulen gab es zur Genüge, Amtssprache war Russisch und das tägliche Leben zweisprachig. Neben einigen Tageszeitungen, welche ins Russische übersetzt werden, gibt es noch 58 Schulen mit russischer Unterrichtssprache. Trotzdem muss erwähnt werden, dass Englisch längst zur wichtigsten Fremdsprache der Litauer aufgestiegen ist. Die Weißrussen sind auf das weißrussische Grenzgebiet verteilt. Jedoch war ihre Bedeutung nur bis 1939 wesentlich, heute gibt es noch immer eine Schule in Vilnius, welche diese Minderheit in ihrer Muttersprache ausbildet. 29

Die Ukrainer sind vor allem als Arbeitskräfte nach 1944 ins Land gekommen, meist in den größeren Städten angesiedelt. (LEISEROWITZ 2008, 55-59)

Aufgrund eines Privilegs war es den Juden gestattet auf litauischem Gebiet zu wohnen, und sich selbst zu verwalten. Speziell Vilnius erlangte aufgrund der Anzahl und kulturellen Tätigkeit große Bekanntheit und wurde deswegen Jerusalem des Nordens genannt. So standen einst über 100 Synagogen in der litauischen Hauptstadt. Neben einem Kultur- und Informationszentrum wird auch eine Primär- und Sekundärschule betrieben. Aufgrund von Abwanderungstendenzen ist die Minderheit heute stark überaltert. Die Deutschen in Litauen haben unterschiedliche Abstammung. Unter anderem gab es deutsche Handwerker in fast allen Städten, dann sind es die Memelländer: die Bewohner jenes Gebietes, das bis 1918 zu Preußen gehörte. Die dritte Gruppe sind die Wolfskinder, ostpreußische Kriegswaisen, welche unter litauischer Identität aufgenommen wurden und als vierte Gruppe sind es Rußlanddeutsche, welche zwecks Arbeit nach Litauen zogen. Heute sind naturgemäß die Memelländer am zahlreichsten vertreten, gefolgt von den Russlanddeutschen.

Abbildung 9: Hinweis auf deutsche Besiedelung

Arbeitsgrundlage: Eigene Aufnahme, Friedhof von Nida, 2006

Im Allgemeinen hatte diese Minderheit keinen leichten Stand, wurde sie doch öfters delogiert und deportiert. Einst nach dem Hitler Stalin Pakt musste sie in den Warthegau übersiedeln, wurde sie nach Kriegsende von der Roten Armee wieder nach Litauen repatriiert. Weitere

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Minderheiten sind die Tataren rund um Trakai und Vilnius, Letten im Norden des Landes und rund um Palanga und Klaipeda. Roma, Armenier, Karäer, Griechen, Esten, Rumänen und Tschetschenen haben meist schon ihre Identität verloren und werden nur noch vereinzelt in den größeren Städten registriert. (LEISEROWITZ 2008, S. 59-63)

3.1.3 Migration

Abbildung 10: Auswanderung nach Kontinenten 2008 (%)

0,2 4,1 12 0,2 EU 27 restl. Europa Africa 20,2 Amerika

63,3 Asien Ozeanien

Abbildung 11: Auswanderung nach beliebtesten Zielländern 2008 (%)

Großbritannien Irland USA Deutschland Russland Weißrussland Spanien Ukraine Norwegen Rest

Arbeitsgrundlage Abb10 + 11: Litauische Statistik 2008, International Migration of Lithuania 31

Aufgrund der Tatsache, dass Litauen seit der Unabhängigkeit sich Richtung Westen orientiert und seit dem EU Beitritt 2004 freier Personentransfer besteht, hat sich die Wanderungsbilanz auch dementsprechend geändert. War es bis zum Ende der Sowjetunion noch ein Zuwanderungsland mit jährlichem Zuwachs von 6000-8000 Personen, so hat sich mittlerweile diese Bilanz ins Negative, teilweise sogar ins stark Negative gewendet. Größtes Problem der Aussagekräftigkeit dieser Bilanz ist jedoch die Dunkelziffer der Auswanderungen. Schätzungen der litauischen Statistik zufolge geben weniger als 50% ihre Ausreise offiziell bekannt. 2005 haben 15600 Personen ihre Ausreise deklariert, 32500 haben es jedoch nicht gemacht. Und auch 2006 liegt diese Zahl bei 12600 offiziellen beziehungsweise 15200 inoffiziellen Auswanderungen. Vergleicht man die Einreisen mit den Ausreisen von 1990- 2006 so stehen 447 000 Emigrationen lediglich 87 000 Immigrationen gegenüber. Es ergibt sich daraus eine negative Migration von 360 000, in anderen Zahlen bedeutet das, dass Litauen in 15 Jahren 10% seiner Bevölkerung verlor. (LIT STAT 2006, S.167)

Tabelle 3: Auswanderung aus Litauen nach Staatsangehörigkeit von 2001 bis 2009 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Gesamtzahl 7253 7086 11032 15165 15571 12602 13853 17015 21970 Weißrussland 375 331 369 133 203 312 356 782 1939 USA 281 176 191 177 163 236 180 178 127 Litauen 3421 3471 7574 13182 13306 10281 11422 13374 16421 Russland 1206 1302 1220 484 546 503 412 635 675 Ukraine 443 441 523 127 155 209 334 640 895 Staatenlos 138 134 80 146 365 89 284 49 37 andere Länder 1345 1202 1051 892 833 972 865 1357 1876 Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik 2010

Anfang der 90er Jahre waren es meist ethnische Minderheiten, welche nach Russland und in die Ukraine zurückkehrten. Seit Mitte der 90er ist Westeuropa Zielgebiet der Emigranten, was der EU Beitritt 2004 mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit erleichterte. Circa 70% der Emigranten wanderten in die EU Länder aus. Die beliebtesten Länder sind Großbritannien (26%), Irland (20%), Deutschland (9%) und Spanien (6%). Aber auch andere Länder wie die USA (14%) und noch immer Russland (7%) und Weißrussland (6%) zählen zu den wichtigsten Auswanderungsländern.

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Ausschlaggebend für die Emigration sind meist wirtschaftliche Aspekte. So ist es wenig verwunderlich, dass 6 von 10 Personen davor nicht berufstätig waren. Auch persönliche Gründe wie Familienzusammenführungen sind ein nicht unwesentlicher Faktor. Die Bereitschaft im Ausland zu studieren hat sich von 2001 4% auf 7% in Jahre 2006 fast verdoppelt. (LIT STAT 2006, S.168)

Betrachtet man die Immigration ist es wenig verwunderlich, dass auch hier Großbritannien, Irland, Russland und Weißrussland an der Spitze liegen, weil rund drei Viertel der Einwanderer litauische Staatsbürger sind. Es sind Litauer, die ihren Auslandsaufenthalt aufgrund persönlicher, beruflicher oder sozialer Gründe aufgeben und in ihr Heimatland zurückkehren. Von der Asylproblematik ist Litauen bis jetzt noch nicht betroffen, so gab es 2006 lediglich 459 Anträge, wobei 86% bewilligt wurden. Mit der Zahl der Asylanträge liegt Litauen am Ende der EU Staaten. Im Vergleich zu den Auswanderungsstatistiken ergaben sich im Bereich Einwanderung nur geringfügige Veränderungen. 2001 waren 5,9% der Bevölkerung im Ausland geboren und somit Einwanderer erster Generation. Am stärksten vertretenes Herkunftsland war die Russische Föderation (47%), Weißrussland (28%), die Ukraine (10%) Lettland (4%) weiters folgen Kasachstan (3%), Polen (2%), Deutschland (0,7%) und die USA (0,5%). Somit sind die Wanderungsmuster aus Sowjetunion Zeiten erhalten geblieben. Insgesamt waren 2006 nur 35300 Ausländer temporär (7100) oder dauerhaft (28200) in Litauen registriert, das macht nur knapp 1% der Gesamtbevölkerung. Was wiederum ein wesentlicher Unterschied zu den anderen baltischen Staaten ist, wo ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung als Ausländer registriert, beziehungsweise staatenlos ist.

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Abbildung 12: Ausländische Wohnbevölkerung in Litauen nach Herkunft 2006

Ausländische Wohnbevölkerung nach Herkunft

Russland Weißrussland EU-Staaten Ukraine asiatische Länder Staatenlose andere

Arbeitsgrundlage: Migrationsdepartment Litauen, 2006

Grund für den geringen Anteil der Ausländer ist, dass die gesamte Wohnbevölkerung Litauens, welche bis zu einem gewissen Stichtag in Litauen wohnhaft war, auch die Staatsbürgerschaft erhielt. Ausgenommen davon waren lediglich ehemalige Angehörige des sowjetischen Militärs und der Geheimdienste inklusive deren Familien.

3.1.4 Demographische Eckdaten im EU Vergleich

Bei den folgenden Statistiken soll gezeigt werden inwieweit sich Litauen dem EU Schnitt angeglichen hat oder ob die Strukturen aus Sowjetzeit noch persistent sind. In absoluten Zahlen gemessen, ist Litauen das siebent-kleinste Land der EU-27. Sieht man von den 3 Kleinstaaten Zypern, Malta und Luxemburg ab, so ist Litauen bevölkerungsmäßig eindeutig am unteren Ende der Tabelle einzureihen. Während sich die Gesamtbevölkerung in der EU vergrößerte, sind einige Einzelstaaten von dieser Entwicklung ausgenommen. Neben Litauen sind auch Bulgarien, Estland, Lettland, Ungarn, Rumänien und Polen von einer negativen Entwicklung betroffen.

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Abbildung 13: Bevölkerungsdichte der EU Staaten 2006

Arbeitsgrundlage: Eurostat 2006

Noch eindeutiger zeigt sich die geringe Bevölkerung anhand der Bevölkerungsdichte. Natürlich sind aufgrund ihrer Größe und der extremen nördlichen Breite Finnland und Schweden die am dünnsten besiedelten Gebiete Europas, gleich danach folgt aber Litauen und die restlichen baltischen Staaten. Nimmt man vergleichsweise Dänemark, Großbritannien und Irland, welche auf ähnlicher geographischer Breite liegen, so ist Litauen doch eindeutig dünner besiedelt. Interessant ist der direkte Vergleich mit Irland. Irland ist flächen- und einwohnermäßig sehr ähnlich. Während Irland aufgrund positiver Wirtschaftsentwicklung seine Bevölkerungsdichte in den letzten 11 Jahren um fast 10 Personen pro km² (von 52,7 auf 62,3) steigern konnte, geht der Trend in Litauen in die entgegengesetzte Richtung. Wohnten im Jahr 1995 noch 57,9 Menschen auf einem Quadratkilometer, sind es 2006 nur noch 54,2. Nimmt man den Bevölkerungsrückgang anhand der Dichte, so ist Litauen nach Bulgarien und Rumänien das Land mit dem größten Rückgang (-3,7 Personen). Aufgrund der Prognosen ist mit einem steten Bevölkerungsrückgang bis 2050 und mit einer Trendumkehr in Litauen nicht zu rechnen.

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Abbildung 14: Bevölkerungsentwicklung in der EU von 2003 bis 2008

Arbeitsgrundlage: Eurostat, 2010

Die Lebenserwartung im EU-Schnitt beträgt 78,8 Jahre, die litauische Lebenserwartung liegt bei geringen 71,2 Jahren. Einen Extremwert findet man bei der geschlechterspezifischen Lebenserwartung. Während eine litauische Frau im Durchschnitt ein Alter von 77 Jahren erreicht, stirbt der Litauer im Schnitt mit 65,3 Jahren. Aus dem Altersunterschied von knapp 12 Jahren ergibt sich, dass 17% der Litauerinnen verwitwet sind, aber lediglich 3% der Litauer ihren Lebenspartner verloren haben. Somit ist die männliche Lebenserwartung die niedrigste der EU und gleichzeitig hat Litauen den größten Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Lebenserwartung. Schuld daran sind die schlechte medizinische Vorsorge aber auch Faktoren wie zum Beispiel die Toten im Straßenverkehr, wo Litauen EU Spitzenreiter ist.

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3.1.5 Bevölkerungsprognosen

Tabelle 4: Bevölkerungsprognose bis 2060 in ausgewählten Ländern Bevölkerungsprognose 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060 EU (27) 499,38 507,73 513,84 517,81 519,94 520,65 520,1 518,36 515,3 510,99 505,72 Estland 1,33 1,32 1,31 1,29 1,27 1,24 1,22 1,2 1,18 1,16 1,13 Irland 4,61 5,05 5,4 5,67 5,88 6,06 6,22 6,38 6,53 6,65 6,75 Lettland 2,25 2,2 2,15 2,1 2,03 1,97 1,91 1,86 1,8 1,75 1,68 Litauen 3,34 3,28 3,22 3,16 3,08 3 2,91 2,83 2,74 2,65 2,55 Österreich 8,4 8,57 8,72 8,87 8,99 9,07 9,12 9,14 9,13 9,09 9,04

Arbeitsgrundlage: Eurostat, 2009

Der generelle Trend auf EU Ebene zeigt ein West – Ost Gefälle. Während in den westlichen EU–Ländern ein leichter Bevölkerungszuwachs beziehungsweise eine Stagnation zu beobachten ist, muss man in östlichen Regionen mit zum Teil gravierenden Rückgängen rechnen. So wird für die nächsten 50 Jahre in Bulgarien, Lettland und Litauen eine Abnahme von bis zu 25% prognostiziert. Aber auch auf gesamter EU Ebene wird das derzeitige leichte Wachstum 2040 in einen Rückgang übergehen.

Die wohl düsterste Prognose gibt der Altersquotient, das heißt der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre. Sind es in Litauen 2010 lediglich 23,18%, wobei man im unteren Drittel des EU Schnitts liegt so werden es 2060 schon 65,65% sein. Nur Polen und die Slowakei dürften diesen Wert noch überschreiten (EU Schnitt 53,47%). Der Trend der Bevölkerungsentwicklung stellt einerseits die EU vor schwierige Aufgaben und Reformen, noch schlimmer werden aber die Baltischen Staaten getroffen. Speziell was die Arbeitskraftressourcen und die Finanzierung des Sozialsystems betrifft, werden viele Probleme zu lösen sein.

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Abbildung 15: Geschätzter Altersquotient in der EU im Jahr 2060

Arbeitsgrundlage: Eurostat 2008

3.2 Wirtschaft

Durch den Sieg der Marktwirtschaft im Systemwettbewerb und die vielen Beispiele schlechter staatlicher Planung, ist das Vertrauen in den Staat einerseits gesunken, andererseits musste sich Litauen und die anderen baltischen Staaten nach circa 50 Jahren kommunistischer Herrschaft dem System abwenden und an die westliche Marktwirtschaft angleichen. Dass dieser Schritt nicht von heute auf morgen ging, und dass vor allem die ersten Krisenjahre die Bevölkerung mit aller Härte traf, wurde den Litauern erst nach der anfänglichen Euphorie

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bewusst. In Sowjetzeiten waren wenigstens einigermaßen die Grundbedürfnisse für die Bevölkerung gesichert. (BOLZ 1999, S.11)

Bevor ich aber auf die Chancen und Entwicklung der Wirtschaft in Litauen eingehe, sollten wir kurz einen Blick in die jüngere Vergangenheit werfen und die Ursachen für den Aufholbedarf suchen. Wie wurde ein Land mit relativem, dem europäischen Vorkriegsniveau entsprechendem Wohlstand allmählich zu einer spärlich entwickelten Mangelgesellschaft. Folgende Reformen bildeten die Eckpfeiler im Wirtschaftssystem der UdSSR: Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die rücksichtslose Industrialisierung verbunden mit einem Zustrom russischer Arbeiterfamilien. Es waren nicht fachliche Referenzen sondern die richtige Gesinnung entscheidend für die Bestellung der Führungskräfte in den Betrieben. Und schließlich gab es ein Lohnsystem, welches Ausbildung und Leistung nicht unterstützte. Daraus resultierend fiel die Arbeitsmoral und Effektivität, nachdem man ja sozial abgesichert war, also weder Lohn noch Arbeitsplatz verlieren konnte. Jedoch nicht nur Arbeitsmoral, sondern auch die strikte Erfüllung der Produktionspläne ohne Berücksichtigung des Bedarfs wirkte sich negativ aus. So wurde die Diskrepanz zwischen staatlichen Publikationen und der Sicht der Zivilbevölkerung jährlich größer. Jedes Jahr wuchs der Versorgungsengpass und die Sowjetregierung propagierte Rekorde in der Erfüllung ihrer Pläne. Höchstens ein bis maximal zwei Prozent der Technologien entsprachen westlichen Standards, denn um die Technologien zu verbessern, bedarf es Technikern und Lehrern, doch versuchten die gut ausgebildeten Kräfte meist ins Ausland zu flüchten. Das Lohnniveau war sehr eigenartig gestaltet. So verdiente beispielsweise ein Arzt bedeutend weniger als ein gewöhnlicher Arbeiter. Allerdings war es schwer die Kaufkraft zu bemessen, da bis auf Grundnahrungsmittel von offizieller Seite fast nichts erhältlich war. Der Schwarzmarkt bestimmte die Kaufkraft. (LUDWIG 1991,S88-91)

Tabelle 5: Beispiel der Kosten am Schwarzmarkt und offiziell festgelegt (Riga 1990) Produkt Staatlich festgelegter Preis (Rubel) Schwarzmarkt (Rubel) Neues Auto 9- 16000 35-75000 Sowj. Fernseher 800-900 2000 Jap. Fernseher Nicht erhältlich 17000 Sowj. Video 1200 3000 Jap. Video 2000-3000 8000

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Kühlschrank 450 1500 Sowj. Schuhe 100 250-300 Ausl. Modeschuhe 120-130 1000 Jeans 100 300 Zigaretten 0,6-2 3-10 1 Liter Benzin 0,4 2 Arbeitsgrundlage: Ludwig 1991, S. 92

Als die Litauer dann 1990 sich in der Unabhängigkeit versuchten, wurden sie durch das Sowjetregime nicht nur durch ein Wirtschaftsembargo, sondern auch mit einer Rechnung von 21 Mrd. Rubel für getätigte Investitionen belastet. Aber litauische Finanzexperten errechneten eine Gegensumme für Reparationszahlungen wegen zu Unrecht erlangter Besitzungen; weiters war man der Ansicht, dass in der Zeit der Unabhängigkeit die Wirtschaft weit stabiler war als in den darauf folgenden Jahren, während denen man zum Beispiel landwirtschaftliche Produkte um ein Sechstel vom handelsüblichen Preis an die Zentralregierung abtreten musste. Fakt ist, dass das Hamburger Institut für Ost-Markt-Forschung Litauen eine sehr düstere Zukunft voraussagte. Einerseits sind hier die Probleme mit Russland zu erwähnen, andererseits, dass man nur zu 3% Energie-autark ist und somit vom Rohstoffimport abhängig. Hier wiederum war es Russland wo man günstiges Öl und Gas bezog. Bei den Verhandlungen hatte Litauen nur in 3 Sparten quasi ein Monopol in der Sowjetunion (Elektromessgeräte, Autokompressoren und Teile der Fernsehproduktion), was ein kleiner Trumpf war; allerdings konnten diese Produkte nur am sowjetischen Markt abgesetzt werden. Für westliche Standards waren sie entweder nicht kompatibel oder von veralteter Technologie. Somit war das erste Ziel nicht die wirtschaftliche Unabhängigkeit sondern viel mehr, die Abhängigkeit von nur einem Land auf weitere zu verteilen. (LUDWIG 1991, S.94-100)

Die politische Unabhängigkeit brachte den überaus schweren Schritt in die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die damit verbundene Öffnung des Marktes Richtung Westen mit sich. Von allen mittelosteuropäischen Transformationsländern erlitt Litauen mit -70% zwischen 1990 und 1994 den stärksten Einbruch seiner Wirtschaftsentwicklung und die massivste Verarmung seiner Bevölkerung mit einem 60%igen Fall der Reallöhne. Die lähmenden Streitereien der Politik waren ausschlaggebend, dass Litauen als erster Reformstaat die besser organisierten Postkommunisten 1992 wieder an die Macht wählte. Mit den Betriebsleitern der

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alten Garde fest im Bund, kam jedoch der Reformprozess erneut ins Stocken. (ROTHACHER, S.123)

3.2.1 Die Landwirtschaft Litauens

In den letzten 60 Jahren war die Landwirtschaft Litauens gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen unterworfen. Mit der Mitgliedschaft zur UdSSR wurde die Struktur am Land durch eine bauernfeindliche Agrarpolitik zerstört. Erstens wurden alle enteignet und der gesamte Grund und Boden zum Staatseigentum gemacht. Jeder landwirtschaftliche Betrieb durfte nicht mehr als 30 Hektar an Boden haben, die überschüssige Fläche wurde im Reformfond an bedürftige Kleinbauern aufgeteilt. An Stelle der Gutswirtschaften traten die Sowchosen. Von 1941-45 kehrte man zum früheren System zurück und die ursprünglichen Eigentümer bekamen ihr Land zurück. Deswegen musste im Jahre 1945 die Bodenreform erneut durchgeführt werden, welche dann aber aufgrund des geringeren Zeitdrucks viel vehementer und genauer ausfiel. Jedoch waren diese Vor- und Nachkriegsreformen nur der Grundstein für eine neue Bodenreform (1948-1953). Diese Reform änderte die wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Grundlagen gravierend. Es war die Bildung großer Kollektivwirtschaften, welche nicht aus wirtschaftlichen Beweggründen sondern vielmehr aus politischer und ideologischer Sicht entstand. Die Bauern mussten den Kolchosen durch hohe Produktionsablieferungspflichten beitreten, leistete ein Landwirt Widerstand, wurde er enteignet und deportiert. Beinahe das ganze Privateigentum wurde in die Kolchose eingebracht, das Haus und 0,6 ha Hofparzellen durften im Eigenbesitz bleiben, weiters wurden auch alle Maschinen der Kolchose übergeben. Obwohl bäuerliche Familienwirtschaften offiziell nicht verboten waren, wurden sie durch gewisse Sanktionen unter die Existenzgrundlage gedrückt. (DELHAES 1993, S80)

Die Kolchosen und Sowchosen, eigentlich geschaffen um die Landwirtschaft mit industriellen Arbeitsmethoden zu intensivieren, haben ihre Effizienz bis 1989 stets verringert. Eine immer wichtigere Stellung nahm dagegen die Produktion im individuellen Sektor ein. Ursprünglich als Bedarfsbefriedigung der Erzeuger geplant, wurde sie immer marktorientierter ausgerichtet. Einige Beispiele hierfür sind: 1990 wurden 38% der Kühe in diesem Sektor gehalten oder gar 72% der Schafe. Insgesamt produzierte dieser Sektor 30,6% des gesamten landwirtschaftlichen Produktion. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass oftmals 41

Futtermittel aus der Gemeinschaftsproduktion stammten, was diese Statistiken etwas verzerrt. Aber nicht nur Landwirte durften einen kleinen Individualbesitz haben. Zunächst war es auch Dorflehrern und Dorfärzten erlaubt, eine kleine Hilfswirtschaft zu führen und letztendlich war es auch der Stadtbevölkerung erlaubt ein kleines Stück Boden zu bestellen. Aus dieser Zeit resultieren die Schrebergärten ähnlichen Siedlungen am Stadtrand, welche noch heute persistenten Charakter im Stadtbild von Vilnius und Kaunas haben. Die folgende Abbildung zeigt als Beispiel einen Vorort von Vilnius. Die Vielzahl von Wegen deutet diese kleinen Parzellen an. (DELHAES 1993, S.81-82)

Abbildung 16: Schrebergartensiedlung, Straßenkarte Vilnius – Stadtteil 2010

Arbeitsgrundlage: google maps

1988 wurde ein Gesetz herausgegeben, welches den Landwirten erlaubte einen landwirtschaftlichen Betrieb zu betreiben und den Boden als erblichen Besitz weiterzugeben. Jedoch ging das nötige Knowhow um einen Betrieb wirtschaftlich zu führen in den vergangenen Jahrzehnten leider verloren. Nachdem sich jeder nur auf Teilbereiche innerhalb des gemeinschaftlichen Betriebs konzentrierte, gab es keine universellen Landwirte mehr. Auch die maschinelle Ausstattung dieser neuen Betriebe war äußerst dürftig. Trotzdem muss man sagen, dass die landwirtschaftliche Produktion während des Sowjetregimes gesteigert werden konnte. Sie betrug 1990 etwa den 2,6 fachen Wert der Vorkriegszeit, allerdings haben 42

sich die Lebens- und Produktionsbedingungen grundlegend verändert. Ein monopolisierter bürokratischer Verwaltungsapparat hatte die Befehlsgewalt und er zeichnete sich für Kostspieligkeit und geringe Effizienz aus. Daraus ergaben sich erhöhte Produktionskosten und auch eine Qualitätsverringerung. Somit war die litauische Landwirtschaft am Auslandsmarkt nicht wettbewerbsfähig. (DELHAES 1993, S.86)

Abbildung 17: Ehemaliger Landwirtschaftlicher Großbetrieb bei Kretinga

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme 2008

Wie in den anderen Sektoren auch, traf der Transformationsschock die Landwirtschaft. Speziell in den ersten fünf Jahren schrumpfte die landwirtschaftliche Produktion rapide. Erst ab Mitte der 1990er Jahre konnte zumindest die Pflanzenproduktion stabilisiert und in eine positive Entwicklung gedreht werden. Bei der Tierproduktion konnte noch keine Trendumkehr beobachtet werden. Insgesamt gesehen, bleibt Litauen auch nach Erreichen der Unabhängigkeit ein agrarisch geprägtes Land. Und es war die Landwirtschaft, welche das Wachstum des BIP in den ersten 5 Jahren ausmachte. Auch war die litauische Landwirtschaft eine markante Stütze in der Außenwirtschaft mit einem Exportanteil von 40 Prozent. (BOLZ 1999, S. 15/16)

Auch wenn die Rolle der Landwirtschaft in den letzten Jahren etwas an Bedeutung verloren hat, ist sie im europäischen Vergleich noch immer mit einem hohen Prozentsatz in den Wirtschaftsparametern vertreten. So waren 2002 noch immer 19% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, ungefähr 7% des BIP werden vom Primärsektor beigesteuert und auch 43

12% der Exporteinnahmen gehen über die Landwirtschaft. Vor einer Dekade gab es auch in der litauischen Landwirtschaft den Trend zum biologischen Anbau, welcher mit jährlichen Zuwachsraten von 20-30% deutlich ansteigt. (DAPSYS 2002, S.132)

Noch immer gibt es die landwirtschaftlichen Großbetriebe, denn weniger als 5% der landwirtschaftlichen Betriebe kultivieren 44% der landwirtschaftlichen Fläche. Vergleicht man anhand der Strukturanalyse der Landwirtschaft von 2005 Litauen mit Österreich ergeben sich nur mehr geringe Unterschiede. In Litauen gab es 129 000 landwirtschaftliche Betriebe (Österreich 137 000) mit einer wirtschaftlichen Größe von mindestens einer europäischen Größeneinheit. Diese Betriebe beschäftigen 153 000 Vollbeschäftigte (Ö 152 300). Die durchschnittliche Betriebsgröße beträgt in Litauen 18,2 ha pro Betrieb, in Österreich 19,6. Jedoch hat sich die Betriebsgröße in Litauen in den letzten zwei Jahren verkleinert, in Österreich war es umgekehrt, hier hat sich die durchschnittliche Fläche vergrößert. Gravierende Unterschiede ergeben sich beim Prozentsatz der benachteiligten Flächen. Während in Österreich 61% der landwirtschaftlichen Fläche in benachteiligten Regionen oder Berggebieten liegt, sind es in Litauen lediglich 38%. Nachdem in Litauen die höchste Erhebung 292 Meter aufragt, sind Bodenqualität, klimatische Voraussetzungen und geringe Bevölkerungsdichte die Hauptgründe für benachteiligte Gebiete. Besonderer Aufholbedarf besteht beim ökologischen Anbau. Weniger als 1% der Betriebe waren Betriebe mit ökologischem Landbau (Österreich 12%). Und so erhielt auch nur 1% der Betriebe direkte Investitionsbeihilfen (Ö: 20%).

3.2.2 Sekundär- und Tertiärsektor

Mit der sowjetischen Okkupation und Annexion war eine Sowjetisierung verbunden. Den baltischen Staaten wurde das sozialistische Rechts- und Wirtschaftssystem aufgezwungen. Spürbar wurde dies mit der kommunistischen Einparteiherrschaft und der zentralen Planwirtschaft. Neben der Kollektivierung der Landwirtschaft wurde unter Stalin die Industrialisierung vorangetrieben, hier allerdings mit Hauptaugenmerk auf die Schwerindustrie mit wehrwirtschaftlichen Tendenzen. Auch das zentralistisch ausgelegte Verwaltungssystem machte die Sowjetrepubliken von Moskau abhängig. (MEISSNER 1992, Seite 10) 44

Nachdem 1989 die Sowjetunion de facto bankrott war, die zentrale Planwirtschaft gescheitert und es als Folge zur Auflösung der Union kam, standen speziell die nach Westen orientierten baltischen Staaten vor massiven Schwierigkeiten. Und alle, die an ein schnelles Wirtschaftswunder glaubten, wurden von der Realität eines Besseren belehrt. All das brauchte allerdings einen entsprechenden Zeitrahmen. Und so waren die ersten Jahre der Unabhängigkeit wohl ein echter Prüfstein für das junge Land. Während die verkaufte industrielle Produktion 1992 gegenüber 1991 real um 51,6 Prozent und somit auf das Niveau von 1973 sank, traf es einzelne Branchen noch schlimmer. Beispielsweise musste die Brennstoffindustrie einen Produktionsrückgang von 75,7% hinnehmen, die Eisenmetallurgie 67%, und die pharmazeutische Industrie 70%. Klarerweise sind die Rückgänge bei Brennstoffindustrie und Metallurgie auf den Rückgang der Rohstoffimporte aus der Sowjetunion herbeizuführen. Allerdings traf dieser Importrückgang auch die nachgelagerten Industriezweige. So gab es im Bereich des Maschinenbaus Einbußen von 48% und in der chemischen und petrochemischen Produktion Rückgänge um 50%. Die konstantesten Sparten hingegen waren die Leicht-, die Nahrungsmittel-, und Futtermittelindustrie, welche über eine solide Rohstoffbasis verfügten. (PISULLA 1993, S. 8)

Tabelle 6: Entwicklung der verkauften Produktion in einzelnen Industriebranchen 1990-1992 (Veränderung gegenüber dem Vorjahr) 1990 1991 1992

Industrie gesamt -2,8 -4,9 -51,6

Brennstoffe -22,5 12,0 -75,7

Eisenmetallurgie -16,5 -21,8 -67,0

Nichteisenmetallurgie -19,7 52,9 -9,0

Chemie u. Petrochemie -0,7 -2,2 -50,4

Maschinenbau 0,5 -3,2 -47,8

Holz, Papier und Zellstoff -3,2 -3,3 -52,3

Porzellan -4,1 26,9 -39,3

Baumaterialien -4,1 -6,4 -52,3

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Leichtindustrie 2,0 4,9 -34,1

Nahrungsmittelindustrie -6,9 -11,3 -38,7

Futtermittelindustrie -3,1 -24,4 -36,5

Pharmaindustrie 13,4 -11,4 -70,1 Arbeitsgrundlage: Lithuania Today, March 1993, Issue 2 (9) S.14)

Wie in der Tabelle gut ersichtlich, waren die ersten Jahre noch von einer gewissen Stabilität geprägt, erst ab dem Jahr 1992 wurden der Staat und die Bevölkerung in eine tiefe Rezession gedrückt.

3.2.3 Stabilisierungsmaßnahmen

Für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft mussten allerdings entsprechende Maßnahmen getroffen werden. • Gewährleistung der inneren und äußeren politischen Stabilität • Schaffung einer Rechtsordnung • Herstellung eines geeigneten Umfeldes im materiellen wie geistigen Bereich. Die äußeren politischen Bedingungen hatten sich nach der Anerkennung der baltischen Staaten einigermaßen gebessert. Die peniblen Grenzkontrollen und die militärische Gegenwärtigkeit gehörten der Vergangenheit an. Außerdem sind die baltischen Staaten sowie Georgien (erst 1993 beigetreten) nicht der Gemeinschaft GUS beigetreten. Zu groß war die Orientierung Richtung Westen und die erlangte Unabhängigkeit, wenn auch trotzdem Wirtschaftskontakte Richtung Russland von immenser Bedeutung waren. Zu den ehemaligen Sowjetrepubliken wurden bilaterale, an die freie Marktwirtschaft anlehnende Verträge geschlossen. (DELHAES 1993, S. 73-74)

Innenpolitisch gesehen war die schwierige Startphase des unabhängigen Litauen eher vom konservativen Flügel geprägt, begründet durch den steten Konflikt mit der Sowjetunion und deren Aggressionen. Jedoch erwies sich der eingelegte Weg des ersten Präsidenten Landsbergis als wenig effizient, da jegliche Kompromissbereitschaft fehlte und jeder abweichende Lösungsvorschlag als unpatriotisch und nicht dem nationalen Interesse dienend,

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abgestempelt wurde. Es wurde mit allen Mitteln versucht das unabhängige Litauen von 1939 wiederherzustellen und sogleich alle sowjetischen Strukturen zu zerschlagen, ohne alternative Konzepte zu besitzen. So wurden beispielsweise ehest möglich die Kolchosen und Sowchosen aufgelöst, obwohl man nicht über Betriebsmittel und Knowhow für eine einzelbäuerliche Bewirtschaftung verfügte. Bei der Wahl der Führungskräfte und Spezialisten ging die Konservative leider den gleichen Weg wie der eben gescheiterte Kommunismus. Hier wurde nicht an Erfahrung und Professionalismus sondern an der Loyalität zur Rechten ausgewählt. (DELHAES 1993, S. 75-76)

Für die rechtlichen Grundlagen der Wirtschaftsreformen galt Revolution statt Reform. Man wollte das idealisierte Bild der Zwischenkriegszeit wiederherstellen. Einerseits die Rückgabe an den Alteigentümer und die Vernachlässigung der Wirtschaftsbeziehungen standen im Mittelpunkt. Hinzu kommt die feindliche Einstellung der Bevölkerung gegenüber unterschiedlichen Einkommen. Die Regierung hat sich nur die Eigentümerfrage gestellt, die aktive Suche nach Investoren wurde aber vernachlässigt. Die Politisierung der Wirtschaftsreformen stand den Wachstumsfaktoren jedenfalls im Weg. Für personelle und infrastrukturelle Voraussetzungen gilt die Einstellung und Ausbildung der Arbeitskräfte sowie das Vorhandensein einer qualifizierten Schicht zur Wirtschaftsführung als Erfolgsfaktor. Hier ist Litauen in einer besseren Lage als die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken, da die Litauer tüchtig und motiviert sind den eigenen Lebensstandard zu verbessern. Litauen ist quasi Drehscheibe zwischen Ost und West. Hat einerseits jahrzehntelange Erfahrung im Verkehr mit Russland und den restlichen Republiken, andererseits ist der Abstand litauischer Menschen zur westlichen Lebensart und Mentalität nicht allzu groß. (DELHAES 1993, S. 77- 78)

3.2.3.1 Indikatoren der Makrostabilisierung

Die Inflationsrate kann als Parameter für die erfolgreiche Geld- und Währungspolitik genommen werden. Auch hier waren es die ersten Jahre der Unabhängigkeit, welche extrem negative Zahlen brachten. Jedoch ist eine Preiserhöhung während einer Preisliberalisierung unumgänglich, weil der zentralwirtschaftliche Geldüberhang abgebaut werden musste. Der Geldüberhang ergab sich daraus, dass die Planwirtschaft generell unter den kalkulierten Prognosen blieb. Somit konnte das Geld nicht verbraucht werden und man wurde zum Sparen

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gezwungen. Der Spitzenwert für Litauen wurde im Jahr 1992 mit einer Inflationsrate von 1021% erreicht. Bis 1996 lag sie dann noch im zweistelligen Bereich, ehe man ab der Jahrtausendwende die Inflation auf 1 bis 5% drückte und somit den Ländern der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion entsprach. Auch hat die Fixierung der Wechselkurse die nötige Stabilisierung der Inflationsrate mit sich gebracht. In punkto Haushaltsdefizit musste Litauen lange um das Erreichen eines ausgeglichenen Ergebnisses kämpfen. Immer wieder wurde es durch einige Dämpfer zurückgeworfen, erwähnenswert ist hier die Bankenkrise, die hohen Ausgaben für das Sozialsystem und die russische Finanzkrise. Erst mit 2001 und dem Einlenken auf EU Kurs hat man das Budget den westeuropäischen Staaten angeglichen. (BÖLLHOFF 2002, S. 149/152)

3.2.3.2 Indikatoren der Mikroliberalisierung

Die Außenhandelsintensität hat sich in den ersten zehn Jahren kontinuierlich gesteigert. Ausnahme ist wiederum das Jahr 1999. Durch die Russlandkrise wurden die Exporte und Importe Richtung Osten reduziert. In den ersten zehn Jahren der Unabhängigkeit konnte Litauen sein Außenhandelsvolumen um das siebenfache steigern. Aber nicht nur das Außenhandelsvolumen, auch in der Struktur gab es eine Trendwende von Ost nach West. Waren Anfang der 90er Jahre noch die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wichtigster Handelspartner, so sind es nur wenige Jahre später die Mitgliedsstaaten der EU. 1990 war 90% des Außenhandels Richtung Osten orientiert, dessen Wert sich aber bis zum Jahr 2000 auf 37% reduzierte. Das reziproke Ergebnis spiegelt sich in der Bilanz mit der EU wider. Einzig im Bereich der Importe blieb Russland aufgrund der Energieabhängigkeit Handelspartner Nummer eins. Als ein weiterer Parameter der Außenhandelsliberalisierung gelten die ausländischen Direktinvestitionen. In Zahlen pro Kopf ergibt sich eine Steigerung von 8 US $ im Jahre 1993 auf 767 US $ im Jahr 2001. Vergleicht man allerdings die anderen baltischen Staaten hinkt Litauen in diesem Fall hinterher. So erreicht Estland beispielsweise den doppelten Wert Litauens. Hauptgrund für das Interesse ausländischer Investoren ist wohl die mit Vehemenz vorangetriebene Privatisierungswelle. Lag der Anteil der Privatwirtschaft 1993 noch unter 10%, lag der Anteil zehn Jahre später bei 70%. Ausschlaggebend sind hier die Privatisierungen im Infrastrukturbereich wie Telekom oder Post sowie der Einstieg großer ausländischer Banken ins Osteuropageschäft.

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Nachdem also die ersten Jahre der Neuformation überstanden waren, kamen sogleich neue Kriterien hinzu. Wollte man doch den eingeschlagenen Weg der Europäisierung fortsetzen, galt es die Wirtschaft und Politik an die Richtlinien der Europäischen Union zu orientieren. Vergleicht man die wirtschaftliche Entwicklung Litauens anhand des Wirtschaftswachstums und des BIP pro Kopf, dann hatte Litauen neben den anderen baltischen Staaten den größten Fortschritt. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Voraussetzungen in den Baltischen Ländern nicht mit denen der westeuropäischen Länder vergleichbar sind, liegen sie doch auf einem viel niedrigeren Niveau. (BÖLLHOFF S. 153/164)

3.2.4 Die ersten 10 Jahre der Transformationspolitik

Hierzu muss man einen Blick auf die Wirtschaftsdaten werfen, um über Erfolg oder Misserfolg des eingeschlagenen Weges urteilen zu können. Folgende Indikatoren werden für die Analyse benötigt: Wirtschaftswachstum, Makrostabilisierung, Mikroliberalisierung und die Indikatoren zum institutionellen Aufbau.

Abbildung 18: reales Wirtschaftswachstum in den baltischen Staaten von 1991 – 1996

10

5

0

-5 1991 1992 1993 1994 1995 1996

-10 Estland -15 Lettland

-20 Litauen

-25

-30

-35

-40

Arbeitsgrundlage: European Bank for Reconstruction and Development (EBRD ) 1999

In dieser Abbildung sind auch die anderen baltischen Republiken, Estland und Lettland mit einbezogen, um einen direkten Vergleich zu den Nachbarstaaten zu bekommen. Generell

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kann man hierzu sagen, dass in den ersten Jahren die Regression in Litauen etwas zeitversetzt einsetzte, dafür aber auch um circa ein Jahr länger dauerte. In der Planwirtschaft musste man sich nach der Leistungsvorgabe richten, in der freien Marktwirtschaft richtet sich jedoch der Output an der Nachfrage, beziehungsweise wird bewusst niedrig gehalten. Auch wurde damit der ineffiziente Einsatz der Ressourcen beseitigt, was kurzfristig das Wirtschaftswachstum bremst, langfristig können diese aber anderwärtig effizient eingesetzt werden, was wiederum zur Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Ergebnisses führt. Generell kann man sagen, dass ab 1995 das reale Bruttoinlandsprodukt in Litauen im Steigen ist. Einzig 1999 kam der Wirtschaftsmotor, aufgrund der Finanzkrise in Russland, ein wenig ins Stocken. Grund für die Konjunktur war und ist der Export, welcher sich, speziell durch die billigen Arbeitskräfte, im Wachsen befindet. (BÖLLHOFF 2002,S.145/146)

Tabelle 7: BIP pro KOPF in ausgewählten EU Staaten von 1998 bis 2008 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007* 2008* Estland 42 42 45 46 50 55 57 63 68 72 71 Lettland 36 36 37 39 41 43 46 50 54 58 59 Litauen 40 39 39 42 44 49 51 53 56 60 62 Österreich 133 133 134 127 128 129 129 129 127 128 126 Polen 48 49 48 48 48 49 51 51 52 55 55 Ungarn 53 54 56 59 62 63 63 64 65 65 64 Slowakei 52 51 50 52 54 56 57 61 64 69 71 Tschechien 71 70 69 70 71 74 75 77 79 81 82 EU (15) 115 115 115 115 114 114 113 113 112 112 111 EU (27) 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 Arbeitsgrundlage: Eurostat 2006

Anhand dieser ausgewählten Staaten sieht man beim direkten Vergleich mit Ungarn und Polen, dass das Baltikum trotz der schlechtesten Ausgangsposition mittlerweile mit dem restlichen Osteuropa beinahe gleichzog. Nimmt man Österreich als Vertreter eines westeuropäischen Staates, dann sieht man, dass auf hohem Niveau eine Stagnation vorherrscht.

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Abbildung 19: Wirtschaftswachstum 2000 – 2010 im EU-Vergleich durchschnittliche jährliche Zuwachsrate (in %)

Wirtschaftswachstum

Italien Portugal Italien Deutschland Portugal Dänemark Deutschland Frankreich Dänemark EU (15) Frankreich Belgien EU (15) Niederlande Belgien EU (27) Niederlande EU (27) Großbritannien Großbritannien Österreich Österreich Malta Malta Schweden Schweden Spanien Spanien Finnland Finnland Ungarn Ungarn Zypern Zypern Luxenburg Luxenburg Griechenland Griechenland Irland Irland Polen Polen Slowenien Slowenien Tschechien Tschechien Bulgarien Bulgarien Estland Estland Litauen Lettland Litauen Slowakei Lettland Rumänien Slowakei Rumänien

0 1 2 3 4 5 6 7

Arbeitsgrundlage: EU-Komission, Eurostat, OECD.

Somit gehört Litauen in den letzten zehn Jahren zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Europas. Trotz Nato- und EU- Beitritt blieb Russland nach wie vor wichtig(st)er Handelspartner Litauens. Auf der Importseite ist die Abhängigkeit des rohstoffarmen Litauens am deutlichsten. Leider erfolgte die wirtschaftliche Entwicklung meist nur im litauischen Zentralraum, entlang der Linie Vilnius – Kaunas – Klaipeda. So wird es noch Jahre dauern, den Peripherraum Litauens durch infrastrukturelle Maßnahmen zu fördern und somit das Stadt – Land Gefälle abzupuffern.

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3.3 Siedlungsgeographie

Die Ursprünge des litauischen Siedlungssystems gehen auf die Staatsbildung im 13. Jahrhundert zurück. Die einzelnen Siedlungen erlebten durch ständig wechselnde politische und wirtschaftliche Verhältnisse einen steten Wandel. Mit der neu geschaffenen Rechtslage wie Agrarreform (Sigismund Augustus) und Stadt- und Marktrechten kam eine Hierarchie ins litauische Siedlungswesen. Vom 16. Jahrhundert bis zur kurzen Unabhängigkeit änderte sich nichts Gravierendes an diesem System. (ALTROCK 2005, S.109/110)

Historisch gesehen waren im Gegensatz zu Mitteleuropa eher Siedlungsinseln vorhanden. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte wurde die geschlossene Waldfläche immer wieder von Siedlungen unterbrochen. Als typisches Haus galt das Holzhaus mit Stroh- bzw. Schilfdach. Auch heute ist dieser Bautyp noch in diversen Gebieten wie zum Beispiel im Memeldelta oder im Aukstatija Hochland anzutreffen. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten selbst die Städte einen dörflichen Charakter und das Dorf prägte das Landschaftsbild. Einzelsiedlungen und Güter waren selten, Güter waren meist Nichtlitauern vorbehalten und geographisch im Westen, dem ehemals ostpreußischen Teil, vertreten. Viel häufiger fügte sich aber das Dorf ins Landschaftsbild meist als Straßendorf. Generell waren diese Dörfer ohne funktionelle Ausstattung. Kirche, Gasthaus und Geschäfte kurzum alles was der Bauer nicht selbst produzierte, konnte erst in der nächsten Stadt (Städtchen) besorgt werden, welche in einer ungefähren Entfernung von 10-15km lag. Das litauische Stadtbild ähnelte dem deutschen Dorfbild. Die Häuser waren Wand an Wand gebaut und die Straßen enger. Eine große Rolle spielten die Städte aber nicht, um 1930 lag der Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung bei ca. 15%, auch gab es lediglich 4 Städte, welche die 10.000 Einwohner Marke überschritten, allerdings sei noch zu erwähnen, dass zu dieser Zeit das Gouvernement Vilnius in polnischem Besitz war und somit nicht zur Statistik beitrug. Mit Vilnius wären es fünf Städte gewesen. Aus städtemorphologischer Sicht sind die litauischen Städte dem Typus der osteuropäischen Kolonialstadt anzurechnen, charakteristisch mit rechteckigem Grundriss. (HALTENBERGER 1926 , S. 60-66 )

Erst im 20. Jahrhundert, im Zuge der Industrialisierung und Errichtung der Haupteisenbahnlinien, kam wieder Bewegung in den modernen Städtebau, welche die aufkommende Verkehrsproblematik zu lösen hatte. So war es die sowjetische Kollektivierung

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und Industrialisierung welche Bewegung in das litauische Siedlungsverhalten brachte. Eine Land-Stadtflucht setzte ein um den Arbeitskräftebedarf zu stillen. Im Gegenteil zu Westeuropa und weiten Teilen der Sowjetunion setzte man in Litauen ab 1960 planerische Konzepte ein um das ausartende Wachstum der Großstädte zu bremsen. Die Entwicklung kleinerer Städte wurde forciert und das Netzwerk von Stadt und Dörfern als Planungseinheit gesehen. Die Versorgung mit sozialen und gewerblichen Gütern des Gesamtraumes galt es zu gewährleisten. Litauen sollte sich zu einem polyzentrischen Land entwickeln, in Regionen wo solche Zentren fehlten, sollten Mittelzentren entstehen und Leute angesiedelt werden. Die Umsetzung dieses Konzeptes spiegelt sich auch in der demographischen Entwicklung wider. Von 1950 bis 1990 wuchs der Urbanisierungsgrad von 28,3% auf 68,5%, und lediglich 31,5% der Bevölkerung besiedelten den ländlichen Raum. Betrachtet man die Entwicklung der einzelnen Städte genauer, fällt auf, dass die Wachstumsrate der zwei größten Städte (Vilnius und Kaunas) um 11% unter dem Landesschnitt lagen, während die 16 mittelgroßen Städte um 36% darüber lagen. Durch dieses strikte Konzept war Litauen bis zum Ende der Sowjetunion im Gegenteil zu den anderen baltischen Staaten vom Problem der Entvölkerung weitgehend bewahrt. (ALTROCK 2005, S110-112)

Tabelle 8: Modell des zusammenhängenden Siedlungssystems in Litauen 1964 Strukturelles Hierarchische Quantitative Indikatoren Level Abhängigkeit Raumeinheiten Raumbezogene Zentren Anzah Größe Bevölkerung Zugang Bev l (Anreise - h) I Land 1 65000 >300 000 - >500000 II Region 10 6500 >200 000 2,0 > 50000 III Bezirk 36 1800 >30 000 0,5 – 0,75 >10000 IV Landkreis 250 150 >3 000 0,25 >1000 Arbeitsgrundlage: ALTROCK 2005, S.111

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3.4 Regionalentwicklung

Im Zentrum des Landes befindet sich das städtische Herz mit den vier größten Städten, welche kulturelle, wirtschaftliche und infrastrukturelle Vorteile haben. Um Voraussetzungen für eine positive Entwicklung zu schaffen, sollte man die Strategien auf die in Litauen noch persistenten Strukturen bauen und die Ressourcen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich gezielt verteilen. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte ist es wichtig auch die kleinen Gemeinden mit funktionaler Infrastruktur auszustatten um der Entsiedelung entgegenzuwirken. (ALTROCK 2005, S.113-114)

Um das recht gut funktionierende System Litauens aufrecht zu halten und um den nationalen Disparitäten entgegenzuwirken hat Litauen einige Maßnahmen ergriffen. Im nationalen strategischen Rahmenplan Litauens sind diese Projekte für den Zeitraum von 2007 bis 2013 festgelegt. Um die Randgebiete zu stärken nimmt man an drei Programmen für grenzübergreifende Zusammenarbeit teil, an einem für transnationale und an vier für interregionale Zusammenarbeit. Ziel ist es die Kluft zwischen den drei größten Städten und den restlichen Städten zu verkleinern, sowie zwischen dem Zentrum und den Randgebieten. Ein Viertel der Strukturfondsmittel der EU sollen dabei in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs gehen. Momentanes Hauptproblem sind ineffiziente Verbindungen sowie überalterte Fortbewegungsmittel. Durch die Unterstützung des Unternehmertums in den peripheren Lagen sollen sich Betriebe entwickeln. Bisweilen ist es ein markantes Problem, Zugang zu Krediten oder Kapitalfonds zu erhalten. Auch die Förderung der beruflichen Flexibilität soll zur Stärkung der Regionen beitragen, um der Arbeitsmarktsituation gerecht zu werden. Auch muss die Administration gestrafft beziehungsweise kundenorientierter werden. Laut einer Umfrage trauen nur 35% der Litauer den Behörden, es muss also die Kooperation zwischen öffentlichem und privatem Sektor gesteigert werden. (EU 2006)

3.5 Natur und Umwelt – Potential und Problematik

Aufgrund der geomorphologischen Beschaffenheit und der klimatischen Bedingungen prägen Seen und Moore das Landschaftsbild und ein weiteres markantes Erscheinungsbild macht der Anteil der Waldflächen (30%, vorwiegend Mischwälder). Bodenschätze sind Mangelware in

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Litauen, einzig die Offshore Ölgewinnung stellt ein Potential dar, welches aber durch die Grenzproblematik gebremst wird, denn auch Lettland stellt Ansprüche auf diese Lagerstätten. (DAPSYS 2002, S.15)

Abbildung 20: Sensible Naturlandschaft - Kurische Nehrung

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme, 2005

Im Allgemeinen ist die Umweltverschmutzung weit hinter Mitteleuropa. Aufgrund der geringen Siedlungsdichte und der Konzentration der Schwerindustrie auf einige Städte ist das natürliche Populationssystem der meisten Arten von Flora und Fauna noch funktionsfähig. Paradoxerweise war es speziell die militärisch strategische Lage, welche die heutigen Schutzgebiete über Jahre von anthropogenen Einflüssen bewahrte. Nimmt man als Beispiel die Kurische Nehrung, welche über Jahre Sperrgebiet war und sich uns heute somit als Naturlandschaft und nicht mit einer Skyline von Hotelanlagen präsentiert. Dennoch sind zwei Bereiche nennenswert, welche eine gewisse Problematik darstellen, einerseits ist es die hohe Schadstoffemission in die Luft und zweitens der ökologische Zustand der Ostsee. Beide Lasten sind eigentlich ein Erbe der Sowjetzeit, die UdSSR betrieb im Bereich der Energie- und Rohstoffgewinnung Raubbau. Bis Ende 2009 galt in Litauen der Straßenverkehr als Emissionsquelle ersten Ranges, wurde doch die elektrische Energie zu fast 80% aus Atomenergie gewonnen. Speziell seit der Unabhängigkeit hat der Individualverkehr enorm zugenommen, doch nicht nur das, meist werden alte westeuropäische Autos verwendet,

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welche den heutigen Umweltrichtlinien nicht entsprechen. Das Abschalten des Atomkraftwerks und einer damit verbunden Steigerung der Produktivität in den kalorischen Kraftwerken des Landes könnte negative Effekte auf die Luftqualität des Landes haben. Allerdings bringt die Abschaltung dieses störanfälligen Reaktortyps mehr Sicherheit für die Bevölkerung. Der Zusammenbruch der UdSSR wirkte sich positiv auf die Umwelt Litauens aus, die riesigen rohstoffverschwendenden Schwerindustriebetriebe waren nach Einführung der Marktwirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig und sperrten die Produktion. Altlasten, für welche sich niemand verantwortlich zeigt, stellen jedoch nach wie vor ein Problem für Atmosphäre und Hydrosphäre dar. Landwirtschaft und Abwässer belasten die Gewässer Litauens. Aufgrund von fehlendem Knowhow werden leider noch immer Stickstoff- und Phosphordünger eingesetzt, und Anfang der 90er Jahre waren 42% der Kläranlagen nicht funktionsfähig. Ausgerechnet der Nemunas (Memel) ist der am meisten verschmutzte Fluss der drei baltischen Staaten und er mündet im Kurischen Haff einer ohnehin sehr sensiblen Naturlandschaft. Auch in Hinsicht auf den EU Beitritt musste sich Litauen gewisse Umweltstrategien überlegen, als erstes wurden die Umweltrichtlinien der EU übernommen und dann sind noch einzelne Problemfälle von hoher Urgenz. Die Verhinderung von Erdölverseuchung durch Erneuerung der Raffinerie in Mazeikai, Beschränkung des Transitverkehrs vor allem den militärischen von Russland nach Kaliningrad, Verringerung der Landschaftsdegradation. (PUNNING 1999 S. 184-187)

Tabelle 9: Schadstoffentwicklung in Litauen von 1996 bis 2008 1996 2000 2004 2008 Gesamte Luftverschmutzung 148892,9 91210,4 91230,3 71179,6 Feste Schadstoffe 10287,9 4765,3 4774,1 4107 Gase und Flüssigkeiten 138605 86445,1 86456,2 67072,6 Sulfurdioxid 62984,3 30993,6 23961,4 16804,8 Nitrogenoxid 13878,3 11101,6 12146,5 11383,4 Kohlenmonoxid 26195,4 21212,5 22401,5 19172,6 unbeständige organische Stoffe 8413,1 19516,4 26900,8 18816,7 Fluor und andere Luftschadstoffe 27133,9 3620,9 1046 895,1 Arbeitsgrundlage: Environmental Protection Agency Lithuania

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Abbildung 21: Gesamte Luftverschmutzung in Litauen von 1996 bis 2008

Gesamte Luftverschmutzung In Litauen

160000 140000 120000 100000

80000 Gesamte Luftverschmutzung 60000 40000 20000 0

Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik 2008

Ein neues umweltspezifisches Problem macht sich erst seit 2010 bemerkbar. Mit der Abschaltung des einzigen Atomkraftwerkes fällt der Hauptlieferant an elektrischer Energie weg. Nun sind es die Kohlekraftwerke, welche den Ausfall kompensieren. Nachdem aber auch Lettland, Estland und Weißrussland vom Ignalina Kraftwerk profitierten, gibt es bereits Überlegungen ein oder zwei Atomkraftwerke zu errichten. Die Standortwahl wird mit größter Wahrscheinlichkeit auf Visaginas fallen. Das neue Kraftwerk soll gleich neben dem stillgelegten gebaut werden, um die vorhandenen Arbeitskraftressourcen nützen zu können.

Abbildung 22: Verteilung der Energiegewinnung in Litauen von 1983 bis 2015

Arbeitsgrundlage: Statistik Litauen, economic survey 2008 57

4. Regionale Disparitäten

4.1 Bevölkerung nach Regionen

Nachdem im vorangegangen Kapitel bereits Litauen als Gesamtheit analysiert wurde, wird nun eine Ebene tiefer, nach regionalen Besonderheiten gesucht. Eine übergeordnete Bedeutung hat nur Vilnius, Kaunas und Klaipeda, die nächstgrößten Städte, Siaulai und Panevezys, haben lediglich regionale Bedeutung. Eigentlich ist Vilnius verkehrsgeographisch benachteiligt. Vilnius liegt nicht an der Via Baltica, welche von Prag bis Helsinki führt und in Litauen nur durch Kaunas und Panevezys verläuft. So ist es der Faktor Hauptstadt, welcher die Bevölkerungsentwicklung bestimmt. Zum Einen als Universitätsstadt, zum Anderen als Sitz der Ministerien und internationaler Konzerne.

Tabelle 10: Bevölkerungsentwicklung der Bezirke von 1996 bis 2009 (Absolut und Dichte) 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2009 Litauen 3615212 3562261 3512074 3475586 3445857 3403284 3366357 3349872 55,4 54,6 53,8 53,2 52,8 52,1 51,6 51,3 Alytus 196470 192912 189453 187397 184807 180786 177040 175149 ...... 34,5 34,1 33,3 32,6 32,3 Kaunas 731631 719178 708531 699314 691445 680937 673706 670546 ...... 86,8 85,5 84,2 83,3 82,9 Klaipeda 395637 391544 388015 385008 383250 380612 378843 378221 ...... 73,9 73,6 73,1 72,7 72,6 Marijampole 193800 191951 189721 188298 186736 183870 181219 179886 ...... 42,2 41,8 41,2 40,6 40,3 Panevezys 314553 309061 302829 298958 295161 289628 284235 281241 ...... 37,9 37,5 36,8 36,1 35,7 Siauliai 385257 380314 373605 369192 364076 357015 349876 346098 ...... 43,2 42,6 41,8 41 40,5 Taurage 139045 137048 134924 134051 132729 129976 127378 126056

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...... 30,4 30,1 29,5 28,9 28,6 Telsiai 184245 182099 180499 179599 178141 175488 173383 172438 ...... 41,3 41 40,3 39,9 39,6 Utena 197005 193248 188621 184879 181113 176711 172580 170422 ...... 25,7 25,2 24,5 24 23,7 Vilnius 877569 864906 855876 848890 848399 848261 848097 849815 ...... 87 87,2 87,2 87,2 87,3 Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik 2009

Betrachtet man nun die Bevölkerungszahlen der Bezirke erkennt man schnell, dass sich der Großteil der Bevölkerung auf die fünf größeren Städte verteilt. Weitaus negativer ist es aber, dass es in keinem einzigen der zehn Bezirke in den letzten 13 Jahren einen Bevölkerungszuwachs gab. Selbst der Bezirk Vilnius hat über 3% verloren. Auf dem ersten Blick ergibt sich für Litauen ein relativ homogenes Bild mit einer homogenen Bevölkerungsverteilung. Dennoch kann man Litauen zweiteilen. Auf der einen Seite ist der Osten und Südosten mit einem etwas hügeligeren Relief, ärmeren Böden und einem sehr hohen Waldanteil, und somit auch dünner besiedelt. Dem gegenüber stehen das dichter besiedelte Zentralgebiet mit Vilnius und Kaunas und die westlichen Gebiete. Die peripheren Randgebiete im Osten und Südosten leiden sehr unter den Abwanderungstendenzen, speziell in den Gemeinden Ignalina und Moletai. Den Negativrekord nimmt Ignalina ein, mit einem Bevölkerungsrückgang von 14,25% zwischen 2001 und 2009 (Litauen minus 3,97%). Angemerkt sei, dass es sich hier um einen langfristigen Prozess handelt, die Abwanderungstendenzen begannen bereits in den 60er Jahren, weit früher als im restlichen Litauen.

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Abbildung 23: Die Verortung der Gemeinden mit der negativsten Bevölkerungsentwicklung 2001-2009

Arbeitsgrundlage: eigene Anfertigung, 2010

Tabelle 11: Gemeinden mit stark negativer Entwicklung zwischen 2001 und 2006 2001 2003 2005 2006 2008 2009 Litauen 3486998 3462553 3425324 3403284 3366357 3349872 Bezirk Utena 186368 183131 178977 176711 172580 170422 Gemeinde Ignalina 23033 22688 21581 21110 20147 19752 Gemeinde Moletai 25449 24981 24242 23871 23187 22813 Gemeinde Zarasai 22863 22574 21769 21362 20593 20176 Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik 2009

Bevölkerungszuwächse verzeichneten nur wenige Gemeinden in Litauen. Wie im restlichen Europa sind es die suburbanen Räume rund um die überregionalen Zentren, welche eine positive Bevölkerungsentwicklung verzeichnen. Im Falle von Litauen sind es die Räume um Vilnius, Kaunas und Klaipeda, bei den nächstgrößten Zentren, Siaulai und Panavezys, sind solche Tendenzen nicht mehr festzustellen.

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Abbildung 24: Die Umlandgemeinden mit positiver (rot) und negativer (blau) Entwicklung von 2001 bis 2009

Arbeitsgrundlage: eigene Anfertigung 2010

Tabelle 12: Bevölkerungsentwicklung der größten Städte und Umlandgemeinden 2001 bis 2009 2001 2003 2005 2006 2008 2009 Litauen 3486998 3462553 3425324 3403284 3366357 3349872 Kaunas Bezirk 702090 696143 685723 680937 673706 670546 Kaunas Stadt 379706 373671 364059 360637 355586 352279 Kaunas Land 81373 82736 84569 85100 86701 88666 Klaipeda Bezirk 386129 383945 382179 380612 378843 378221 Klaipeda Stadt 193220 191624 188767 187316 184657 183433 Klaipeda Land 46179 46378 47800 48409 50617 51875 Panevezys Land 119808 118824 116247 115315 113653 112619 Siauliai Land 134032 132715 130020 129037 127059 126215 Vilnius Bezirk 850668 848090 848555 848261 848097 849815 Vilnius Stadt 554281 553232 553061 553553 555733 558165 Vilnius Land 88492 89488 92735 93601 95078 96147 Arbeitsgrundlage: Statistik Litauen, 2010

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Diese Zahlen beweisen, dass sich Litauen momentan in einem intensiven Suburbanisierungs- und regionalen Polarisierungsprozess befindet, welcher sich in der Sowjetzeit nicht entfalten durfte. In der wirtschaftlichen Entwicklung haben sich seit der Unabhängigkeit zwei Regionen hervorgehoben: Vilnius und die Küstenregion. Eine etwas langsamere Wirtschaftsentwicklung ist in der Region Kaunas wahrzunehmen. Die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung ergibt sich aus der Geburtenbilanz und der Wanderungsbilanz. In den nordöstlichen Regionen ist die natürliche Geburtenbilanz der Hauptgrund für den Bevölkerungsrückgang. Wobei die Maximalwerte wiederum in den Gemeinden Ignalina (-12,68%) und Zarasai (-10,48%) liegen. Die Wanderungsbilanz ist in dieser Region hingegen mit dem Landesschnitt vergleichbar und drückt den Gesamtwert weiter ins Negative. In den weiteren entvölkerungsgefährdeten Gebieten wie den Peripherräumen Zentrallitauens sind es eine Mischung von Geburtenbilanz und Migration, wobei der Migrationsfaktor von höherer Bedeutung ist, vorbestimmt von sozialen – ökonomischen Prozessen wie der gesteigerten Mobilität. Die suburbanen Gebiete rund um die größten Städte des Landes verzeichnen einen Bevölkerungszuwachs, hervorgerufen durch positive Migration und einer niedrigen, wenn auch negativen Geburtenbilanz. Nach Geburtenbilanz und Wanderungsbilanz bietet die Altersstruktur den nächsten wichtigen Indikator der Bevölkerungsanalyse einer Region. Natürlich haben die Geburtenrate und die Sterberate direkten Einfluss auf die Altersstruktur, jedoch gibt uns die Alterspyramide Informationen über Geschehnisse der Vergangenheit und lässt auf eine Tendenz für die Zukunft schließen. Abermals ist es der Nordosten Litauens, welcher hier die schlechtesten Werte präsentiert. Das Verhältnis der Jugendlichen bis 15 Jahre zu dem der über 65 Jährigen ist meist kleiner als 1. Als Extrembeispiel erweist sich einmal mehr Ignalina mit einem Verhältnis von 1 zu 0,56. Anzufügen ist noch, dass sich in dieser Region weder Fertilität noch die Lebenserwartung von den restlichen Peripherregionen Litauens unterscheiden. In Bezug auf die Geburtenbilanz zeigen sich die Geburtsraten eines Landes meist als mehr oder weniger konstanter Faktor. Sie variieren nur unwesentlich im regionalen Vergleich. Größere Differenzen findet man bei der Sterberate, welche durch äußere Faktoren wie der Umweltverschmutzung, Gesundheitsvorsorge und Lebensstil beeinflusst wird. Es fällt auf, dass die Gemeinde Ignalina die höchste Sterberate hat (20,43 Tote pro 1000 Bewohner) und gleich die Nachbargemeinde Visaginas die niedrigste Rate hat. Die Gemeinde Visaginas beheimatet das einzige Atomkraftwerk im Baltikum und hat die niedrigste Sterberate in

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Litauen mit 6,12 pro 1000 Bewohner. Nachdem die Fertilitätsrate nur geringe regionale Abweichungen zeigt, ist es die niedrigere Sterberate, welche den Urban- und Suburbanräumen ein leichtes Bevölkerungswachstum beschert. Weit Besorgnis erregender als die Geburten- und Sterbezahlen ist jedoch der Faktor der Migration in Litauen. Wenn in Litauen von Migration gesprochen wird, steht vor fast jeder Bilanz ein negatives Vorzeichen. Neben den offiziellen Zahlen gibt es noch einen nicht unwesentlichen Teil von nicht gemeldeter Wanderung, welche dieses markante demographische Problem Litauens noch verschärft. (KRUPICKAITE 2007, S. 158-168)

Klarerweise zeigt sich, dass gerade die dünn besiedelten Regionen unter dieser demographischen Entwicklung leiden. Je dünner ein Gebiet besiedelt ist, desto schlechter sind die demographischen Vorzeichen. Es gibt kleinste administrative Einheiten, in denen die Geburtenrate unter 3 Promille gesunken ist, als Fallbeispiel ist Labaoranas (zw. Ignalina und Moletai gelegen) zu nennen, wo im gesamten Jahr 2005 kein einziges Kind geboren wurde. Demgegenüber stehen Einheiten mit Sterberaten von drei bis fünf Prozent pro Jahr. Und eine positive Entwicklung gab es lediglich in einer Gemeinde (Viesvile) zu protokollieren. Man kann davon sprechen, dass das Aussterben der Bevölkerung das Hauptproblem in den dünn besiedelten Gebieten ist. Leider gibt es kaum Lösungsansätze für diese Entsiedelungstendenzen. Laut der Gesetzgebung von 2000 sind Flächen mit einer Dichte unter 17-20 % dünn besiedelte Gebiete. Als Schwellenwert für eine irreversible Entwicklung kann eine Bevölkerungsdichte von zehn Einwohnern pro km² genommen werden. Im Jahr 2006 waren 35 administrative Einheiten davon betroffen, was einer Fläche von einem Zehntel der Landesfläche entspricht. Nimmt man als Limit für Litauen 15 Einwohner pro km² so gehören 39% der Fläche zu diesem Peripherraum. Auch wird der Terminus des extrem dünn besiedelten Gebietes verwendet. Das sind Gemeinden mit einer Dichte unter 12,5 Einwohnern pro km². Dazu zählen in Litauen derzeit 18,1% des Staatsgebietes und 3,1% der Bevölkerung lebt in solchen Extremregionen.

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Abbildung 25: Gemeinden mit einer Bevölkerungsdichte unter 15 Einwohner pro km²

Arbeitsgrundlage: eigene Anfertigung, Daten: Daugirdas V. 2008

Diese geringe Bevölkerungsdichte bringt auch andere soziale und ökonomische Folgen mit sich. Ungünstige landwirtschaftliche Rahmenbedingungen, große Arbeitslosigkeit, schlechtes Bildungsangebot, Abhängigkeit von staatlichen Förderungen und Überalterung sind die wichtigsten Folgeerscheinungen. Auch weiten sich die bedrohten Flächen aus und dieses Problem sollte ein Hauptaugenmerk der litauischen Regionalpolitik sein, damit diese Verfallserscheinungen verlangsamt werden können. (DAUGIRDAS 2008, S. 5-13)

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Abbildung 26: Interne Migration in Litauen 2007

Arbeitsgrundlage: Statistik Litauen

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Abbildung 27: Internationale Migration in Litauen, 2007

Arbeitsgrundlage: Statistik Litauen

Vergleicht man die beiden Abbildungen ist schnell ersichtlich, dass die ländlichen Gebiete speziell von der internen Migration betroffen sind. Die ländliche Bevölkerung wandert in die litauischen Zentren ab, wandert aber nur in geringerem Maße direkt ins Ausland ab. Die geringen Fremdsprachenkenntnisse im ländlichen Raum spielen hier die wesentliche Rolle. Von der internationalen Migration ist fast das ganze Staatsgebiet betroffen, lediglich einige Ausnahmen weisen ein positives Migrationssaldo auf. Verwunderlicher Weise befinden sich diese in durchwegs peripherer Randlage.

4.2 Bruttoregionalprodukt

Nachdem nun die demographischen Besonderheiten und Probleme litauischer Regionen erarbeitet wurden, sollen nun die ökonomischen Unterschiede analysiert und verglichen 66

werden. Diese sozioökonomischen Faktoren unterlagen großen Schwankungen in der postsowjetischen Periode Litauens. Außer der Region um die Hauptstadt Vilnius und in abgeschwächter Form rund um den Hafen Klaip ėda gab es durchwegs gravierende – meist negative – Veränderungen. Aufgrund des vorliegenden Datenmaterials kann man eigentlich nur die 10 Bezirke miteinander vergleichen. Die Unterschiede zwischen ihnen sind allerdings nicht so groß wie zwischen peripheren und zentralen Lagen. Das Bruttoregionalprodukt ist eines der wichtigsten Instrumente um die volkswirtschaftliche Wertschöpfung einer Region beziffern zu können. Zu Beginn der 90er Jahre war Litauen wirtschaftlich ein relativ gleichmäßig entwickeltes Land. Grund dafür war der Sowjetplan fünf gleiche Zentren übers Land verteilt zu installieren. Kein anderes Land hatte solch strikte Vorgaben in der Regionalplanung. Es wurden eher die mittelgroßen Städte (50000 bis 600000) gefördert. Litauen wurde somit ein polyzentrales Land, Westlitauen zum Beispiel hatte nur geringe Beziehungen mit der Hauptstadt. Und die Entwicklung der Hauptstadt in Form von verstärktem Wirtschaftswachstum und Bevölkerungswachstum wurde bewusst verlangsamt. (BURNEIKA 2007, S. 56-60)

Die erste postsowjetische Dekade war gekennzeichnet von einer Ausdehnung der regionalen Disparitäten. Mit den Krisenjahren 1992 und 1993 schlitterte die wirtschaftliche Entwicklung in eine tiefe Depression mit nur wenigen Ausnahmen. So waren die Hauptstadt Vilnius und die Hafenregion von Klaipeda sowie einige ehemalige Sowjetindustrien, welche trotz freier Marktwirtschaft konkurrenzfähig waren, nicht davon betroffen. Einer dieser Betriebe war das Atomkraftwerk Ignalina, ein Schwesternkraftwerk Tschernobyls gebaut in den 80er Jahren. Ausgestattet mir den leistungsstärksten Reaktoren weltweit produzierte es gut 75% des Eigenbedarfs an Energie und exportierte Strom in die restlichen baltischen Staaten sowie Weißrussland und Russland. Aufgrund des großen Gefahrenpotentials war die Schließung eines der Beitrittskriterien der EU. Der erste Reaktor wurde 2004 vom Netz genommen und mit 31.12.2009 wurde der Betrieb komplett eingestellt. Somit fehlt dem ohnehin benachteiligten Osten ein finanzstarker Betrieb und Litauen die Hauptquelle der Energieversorgung. Auch sei erwähnt, dass in den ersten Jahren die Umlandgemeinden von Vilnius noch nicht in diese positive Entwicklung integriert waren. Zu groß war der Aufholprozess von Vilnius selbst und so befand sich die wirtschaftlich stärkste und schwächste Gemeinde im gleichen Bezirk. Die russische Finanzkrise 1998 verschlimmerte diesen Prozess nochmals und im Großteil des Landes verringerte sich das

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Bruttoregionalprodukt nochmals. Erst seit 2001 weitete sich das Wachstum aus, höchste Wachstumsraten erreichten die 3 Ballungsräume Vilnius, Kaunas und Klaip ėda, in abgeschwächter Form setzte sich dieser Trend auch in den dazugehörigen Umlandgemeinden fort. (BURNEIKA 2007, S. 61-65)

Von 2001 bis 2007 war Litauen eines der am schnellsten wachsenden Länder innerhalb der EU. Hinter der Slowakei und Lettland war Litauen mit 7,9% Wirtschaftswachstum 2007 an dritter Stelle gelegen. Vergleicht man nun das BRP der Bezirke mit dem nationalen Durchschnitt, dann sind es nur 2 Regionen, die den Landesschnitt übertreffen. Die Führungsposition hat klarerweise Vilnius inne (154,9 %) gefolgt von Klaip ėda mit 102,6 Prozent. Im zeitlichen Rahmen von 2006 bis 2008 hat sich das BRP in Vilnius zuerst um rund 21% erhöht und im weiteren Jahr noch um immerhin 11%. Dieses wirtschaftliche Ergebnis beruht auf einer Steigerung im Dienstleistungssektor, welcher mit 71% Anteil deutlich über dem Landesschnitt von 63% liegt, die Industrie hingegen hat einen Anteil von 27,6% (landesweit 32,8%). Ebenfalls Klaip ėda ist eine der am schnellsten wachsenden Regionen Litauens. Hier betrug das Wachstum 2007 18% und 2008 11%. Im Vergleich zu Vilnius spielt die Industrie einen wesentlicheren Faktor, der industrielle Anteil am BRP betrug hier 32,8%. Das geringste Wachstum erreichte mit 11% der Bezirk Panevezys. Noch immer erreichen 6 Bezirke nicht einmal 80% des BIP pro Kopf: Alytus, Mariampole, Panavezys, Siaulai, Taurage und Utena. Somit stiegen diese regionalen Disparitäten weiter an, und Vilnius hat mindestens das doppelte BIP pro Kopf als die sechs vorher genannten Regionen. (LIT STAT 2008a, S.5,6)

Wenn man sich die BIP Verteilung auf Bezirksebene ansieht, stechen einem nicht allzu große Unterschiede ins Auge, viel größer sind die Unterschiede auf Gemeindeebene innerhalb eines Bezirks. Auch sind Wirtschaftsfragen Sache der Gemeinden und nicht des Bezirkes, es gibt keine Wirtschaftsbezirke. Und in Zeiten der Rezession und Krisen treten auch die höchsten Disparitäten auf.

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Abbildung 28: Bruttoregionalprodukt und Anteil der Sektoren auf Bezirksebene 2007

Arbeitsgrundlage: Statistik Litauen

Auf Kommunalebene haben sich lediglich einige periphere Regionen dem litauischen Durchschnitt annähern können. Meist waren es solche Gemeinden mit riesigen Unternehmen aus der Sowjetära stammend, welche durch Strukturreformen und die Öffnung des Marktes Richtung Westen profitabel wurden. Auf Bezirksebene ist das BIP pro Kopf von 2001 bis 2007 nur in Vilnius schneller gewachsen als der Bundesschnitt, in einigen Bezirken konstant bis leicht negativ und in den Bezirken Utena, Alytus, Taurage und Panavezys stark gesunken. Das Ungleichgewicht zwischen Vilnius und dem restlichen Staatsgebiet ist noch immer offensichtlich. So leben circa 25% der litauischen Bevölkerung im Bezirk Vilnius, welcher aber fast 40% des gesamten BIP erwirtschaftet. Die Dominanz von Vilnius ist so groß, dass es für die restlichen Bezirke immer schwieriger wird den Landesschnitt zu erreichen. Waren es 1996 noch zwei weitere Bezirke (Klaip ėda und Panevezys) welche über dem Durchschnitt lagen, ist es seit 1997 nur noch Klaip ėda und verfolgt man den Trend wird 2009 kein weiterer Bezirk neben Vilnius darüberliegen.

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Tabelle 13: BRP der Bezirke 2007

Arbeitsgrundlage: Statistik Litauen 2008

4.3 Beschäftigung

Abbildung 29: Beschäftigung nach Wirtschaftssektoren auf Bezirksebene 2007

Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik 70

Die generelle Tendenz des West – Ost Gefälles trifft bei den Beschäftigungszahlen nur bedingt zu. Zu stark wirkt sich der Hauptstadtfaktor auf den ganzen Bezirk aus. Dennoch ist auch hier zu erkennen, dass sich die Regionen im Grenzbereich zu Weißrussland als Problemzonen erweisen. Wirft man einen Blick auf die Verteilung nach Sektoren, fällt klarerweise der geringe Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft in den drei Zentralräumen auf. Der höchste Anteil an Beschäftigten im Primärsektor steht im direkten Verhältnis zur Bodenqualität der betreffenden Bezirke.

Betrachtet man die Einkommensverhältnisse in den verschiedenen Bezirken, ist auch hier das Stadt – Land Gefälle naheliegend. Das Gesamteinkommen pro Haushalt liegt in Litauen zwischen 3365,6 Litas und 2063,7 Litas, umgerechnet sind das 975,50 und 598 Euro. Gut 105 Euro davon beruhen auf sozialen Zuschüssen. In chronologischer Reihung steht Vilnius an erster Stelle, gefolgt von Kaunas, Klaip ėda, Telsai, Panevezys, Marijampole, Alytus, Siaulai, Utena und Taurage. Auch wenn das Einkommen pro Monat 2007 von durchschnittlich 719 Euro sehr niedrig scheint, hat es sich in den letzten vier Jahren immerhin verdoppelt. Die Arbeitslosenquote liegt im nationalen Schnitt bei 4,3% im Jahr 2007. Auf Bezirksebene liegt Panevezys mit 6,5% an der Spitze, überraschenderweise gefolgt von Vilnius und Utena mit 4,5% bzw. 4,4%. Vergleicht man die Arbeitslosenzahlen von 2001 und 2007 sieht man sehr wohl regionale Unterschiede, obwohl sich generell und in allen Bezirken die Zahl der Arbeitslosen verringerte. Negativstes Beispiel ist Panevezys, während Panevezys 2001 noch die geringste Arbeitslosenquote aller Bezirke hatte, war es im Jahr 2007 der Bezirk mit der höchsten. Verringerte sich der Wert in Panevezys lediglich um das 2,25 fache, war es in Alytus beinahe das 7 fache und ist jetzt der Bezirk mit der zweit geringsten Arbeitslosenrate (Ursprünglich mit der höchsten Arbeitslosenquote in Litauen). Generell kann man sagen, dass die ländlichen Bezirke eine bessere Bilanz aufweisen, und die eigentlichen Zentralräume in dieser Statistik hintennach sind. (LIT STAT 2008b)

4.4 Landwirtschaft

Nach der Privatisierungswelle und der damit verbunden Verkleinerung der Betriebsgrößen von durchschnittlich 4000 ha auf 11,5 ha, war es für die neuen Betriebe speziell im peripheren Raum schwer einen Marktzugang zu finden. Vielfach wird auch versucht den Privatgrund in

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Form einer Nebenerwerbswirtschaft zu führen. Einerseits ist diese Form schon seit Sowjetzeiten gebräuchlich und bekannt, andererseits dient der Nebenerwerb lediglich der Eigenversorgung mit Grundnahrungsmitteln. Da auch das Wissen zur wirtschaftlichen Führung eines Betriebes fehlt sowie das Kapital für nötige Investitionen, wird das Risiko des Haupterwerbes gemieden. Hauptproblem bleibt die schlechte infrastrukturelle Ausstattung des ländlichen Raumes. Diese waren zur Zeit der Kollektivwirtschaft kaschiert - die Staatsbetriebe übernahmen einen Teil der Infrastruktur. Mit dem Wegfall dieser Betriebe wurde die Landbevölkerung vor ein schwer zu lösendes Problem gestellt. Zwei Lösungsansätze meist abhängig vom Alter der betroffenen Person sind hier verfolgt worden. Einerseits hat es eher die junge Bevölkerungsschicht vorgezogen, einen Standortwechsel vorzunehmen und in den Ballungsräumen Litauens Arbeit zu finden. Die zweite Möglichkeit, welche bei der älteren Generation zutrifft, ist das Verbleiben am Hof und die Selbstversorgung mit der gewohnten Form weiterzuführen. (KNAPPE und LABANAUSKAITE 2002, S. 100-106)

Doch sind den Abwanderungstendenzen auch ökonomische Grenzen gesetzt, da der Sekundär- und Tertiärsektor aufgrund wirtschaftlicher Turbulenzen nicht viele Arbeitsplätze zur Verfügung stellen kann, bleibt der Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevölkerung im Lauf der letzten Jahrzehnte weitgehend stabil. Aufgrund dieser Situation besteht eine der Hauptaufgaben der Politik, in den ländlichen Räumen Arbeitsplätze abseits der Landwirtschaft zu schaffen. Der noch relative hohe Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft wird sich auch in den nächsten Jahren weiter verringern. Abbildung 28 zeigt uns die Gunstlagen in Litauen, generell ist Mittellitauen von Böden und Klima bevorzugt, im Südosten und im Küstengebiet werden aufgrund geringer Konkurrenzfähigkeit weitere Betriebe aufgelassen und Arbeitskräfte frei. In den Gunstlagen wiederum hat sich die intensive Landwirtschaft etabliert. Aufgrund der Morphologie und der Anbausorten wie Zuckerrüben und Weizen bestehen gute Möglichkeiten zu einem höheren Mechanisierungsgrad. Als Folge wird es auch in den Gunstlagen Litauens zu einer Verringerung der Beschäftigten in der Landwirtschaft kommen. Am schlimmsten ist die Situation in den Bezirken Mariampole und Taurage, wo noch immer ein Anteil von rund 15% in der Landwirtschaft beschäftigt ist. Gegenwärtig sind die Subsistenzwirtschaften die Hauptform der landwirtschaftlichen Betriebe. Mit dieser Form kann man zwar das Überleben sichern, jedoch nicht davon leben.

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Auch kann man davon ausgehen, dass mit dem bevorstehenden Generationswechsel eine lediglich geringe Bereitschaft vorhanden ist, den elterlichen Betrieb zu übernehmen – zu groß ist die Spanne zwischen Arbeitsaufwand und Einkommen. Der Wandlungsprozess der litauischen Landwirtschaft ist noch lange nicht abgeschlossen und leider gibt es keinen generellen Lösungsansatz. Jede Region stellt eigene Anforderungen um einen landwirtschaftlichen Betrieb positiv führen zu können. Im Küstenland könnte der aufkommende Tourismus eine zusätzliche Einkommensquelle sein. Ebenso in der Region Aukstatija, welche noch zusätzlichen Waldreichtum für eine aufkommende Holzindustrie bietet. Die schlechtesten Parameter weisen die südlichen Regionen Litauens vor, welche neben der schlechten Bodenbeschaffenheit auch kaum alternative Einkommensquellen bietet. Aufgrund des Fortschrittes im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie besteht der Wunsch zu einer höheren Lebensqualität, welche aber nur in Stadt- und Stadtrandlagen erreicht werden kann. Anhand dieser Faktoren kann man sagen, dass der Wandlungsprozess noch nicht abgeschlossen ist und weitere Peripherräume sich Richtung Entsiedelung bewegen. (KNAPPE und JUSCIUS 2007, S.26-30)

Abbildung 30: Durchschnittlicher Getreideertrag in den Gemeinden Litauens 2008

Arbeitsgrundlage: Statistical Yearbook 2009,S.619

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4.5 Industrie

Grundsätzlich sind die Industriezentren mit den fünf größten Städten des Landes gleichzusetzen. Sieht man sich die Investitionsprojekte in Litauen an, so liegen sie größtenteils an der Achse Vilnius – Kaunas – Klaipeda oder entlang der Via Baltica. Auch die Verteilung der Technologieparks und Industrieparks lässt sich an diesen beiden Achsen ausrichten.

Abbildung 31: Verteilung der Industrie- und Technologieparks in Litauen 2010

Arbeitsgrundlage: Eigene Anfertigung, 2010

Litauen verfügt derzeit über zwei freie Wirtschaftszonen, um Anreize für Auslandsinvestitionen zu schaffen. Die erste Zone entstand in Klaipeda, am einzigen Hafen, die zweite in Kaunas, an der Kreuzung der Verkehrsachsen des Landes. Seit dem EU Beitritt ist es Litauen aber nicht mehr erlaubt weitere Wirtschaftszonen zu schaffen. Diese Zonen bieten nicht unwesentliche steuerliche wie infrastrukturelle Anreize für Interessenten. Die Steuervorteile umfassen folgende Punkte: keine Grundsteuer, keine Steuer auf Dividenden 74

ausländischer Aktionäre, für Investitionen über € 1 Mio. eine 6-jährige Befreiung von der Körperschaftsteuer und eine 50 prozentige Ermäßigung in den folgenden 10 Jahren. Seitens der Infrastruktur sind für alle Parzellen Anschlussmöglichkeiten für Wasser, Strom, Gas und Telekommunikation vorgesehen. Während die erste Zone direkt am eisfreien Hafen von Klaipeda liegt, grenzt die zweite an den internationalen Flughafen von Kaunas. Beide Zonen wiederum können einen Autobahn- und Eisenbahnanschluss vorweisen. Diese Attraktivität hat Investoren aus vielen Staaten angelockt, so sind momentan Unternehmen aus England, Irland, Thailand, Finland, Dänemark, Japan, Norwegen, Schweiz, Weißrussland, Ukraine und Litauen in der freien Wirtschaftszone von Klaipeda anzutreffen. Im Jahr 2008 brachten es zehn litauische Unternehmen unter Europas Top 500. Das größte Unternehmen ist die Raffinerie Orlen Lietuva in Mazekai, welche als dreizehntes größtes Unternehmen geführt wird. Bei den restlichen litauischen Unternehmen handelt es sich bei fünf um Handelsunternehmen, aber auch die staatliche Eisenbahn und Energie sowie die Chemiekonzerne Lukoil und Lifosa ergänzen diese Liste. (LDA 2010)

4.6 Tourismus

Ab dem 19. Jahrhundert verzeichnete das heutige Staatsgebiet von Litauen, im Speziellen die Ostseeküste erste Entwicklungsansätze im Tourismus. Über Königsberg kamen viele Deutsche zur Kurischen Nehrung und nach Memel. Einer der bekanntesten Touristen war wohl Nobelpreisträger Thomas Mann, welcher von der landschaftlichen Schönheit und Ruhe so angetan war, dass er sich auf der Kurischen Nehrung bei Nidden (Nida) ein Haus errichten ließ. Trotz schwieriger Anreise, mit dem Zug von Berlin nach Königsberg und dann mit dem Boot den Rest bis Nida, verbrachte er jeden Sommer bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges in Nida. Verschiedene territoriale Zugehörigkeiten verhinderten jedoch eine schnellere Entwicklung. Schon zur Sowjetzeit war das Baltikum eine beliebte Destination, staatliche Reglementierungen verhinderten jedoch die Entstehung von Massentourismus. Beispielsweise war Klaipeda, Ausgangspunkt für Reisen auf die Kurische Nehrung bis 1987 für Nicht-Sowjetbürger Sperrgebiet. Ein daraus resultierendes infrastrukturelles Defizit ist bis heute noch spürbar. Mit dem EU- Beitritt Litauens ergeben sich auch für den Tourismus neue

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Rahmenbedingungen, nicht nur positive, denn durch die neue EU Außengrenze wurden die traditionellen Touristenströme aus Weißrussland und Russland unterbrochen.

Abbildung 32: Hotel aus dem 19. Jh. auf der Kurischen Nehrung

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme, 2006

Die neue touristische Ausrichtung gilt dem EU Raum, hier ergeben sich allerdings verkehrs- und infrastrukturelle Probleme. Am Landweg ist Litauen schwer erreichbar, aufgrund fehlender Schnellstraßen und langer Anreisewege. Auch der Bahnverkehr stellt kein befriedigendes Ergebnis dar. Die unterschiedlichen Spurweiten ermöglichen keine durchgehenden Fernverkehrszüge. Litauen ist gemeinsam mit Lettland, Estland und Finnland im Einflussbereich der Breitspur. Es gibt nur 1 tägliche Zugverbindung zwischen Polen und Litauen, wobei man jedoch aufgefordert ist, in der litauischen Grenzstadt Sestokai die Zuggarnitur zu wechseln. Auch am Luftweg gibt es neuerdings Erschwernisse. Am 17. Jänner 2009 stellte die litauische Fluglinie FlyLAL den Linienflugbetrieb ein, wodurch viele Direktflüge ausfielen. Der infrastrukturelle Standard der Hotels spiegelt ein weiteres Problem wider und entspricht nicht den westlichen Kriterien. Obwohl in den drei größten Städten der Standard Großteils bereits erreicht ist, gibt es an den ehemaligen Touristenzentren an der Ostsee oder an den Seen Nachholbedarf. Vergleicht man nun die einzelnen Bezirke anhand ihrer touristischen Eckdaten, dann sieht man schnell, wo die touristischen Attraktionen des Landes liegen.

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Tabelle 14: Anzahl der Betten und deren Entwicklung auf Bezirksebene 2000, 2004 und 2008 2000 2004 2008 Litauen gesamt 16996 19050 20337 Bezirk Alytus 2431 2856 2716 Bezirk Kaunas 1440 1426 2082 Bezirk Klaipeda 6932 6879 6707 Bezirk Marijampole 185 245 294 Bezirk Panevezys 401 479 551 Bezirk Siauliai 781 634 706 Bezirk Taurage 37 70 128 Bezirk Telsiai 181 406 550 Bezirk Utena 1004 1017 991 Bezirk Vilnius 3499 5038 5612 Arbeitsgrundlage: Lithuanian statistics

Beim Anblick dieser Tabelle sticht sofort der Bezirk Klaip ėda ins Auge, auch nicht verwunderlich, da er doch die gesamte litauische Ostseeküste abdeckt. Hier sind es die touristischen Hauptorte Palanga und Neringa (Kurische Nehrung) sowie die Stadt Klaip ėda, welche selbst über Küstenstrände verfügt, die den größten Anteil tragen. Von den 6707 Betten entfallen 3937 Betten auf Palanga, 1128 auf Klaip ėda und 1283 auf Neringa. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung überholte Klaip ėda Neringa. Wie es scheint ist die maximale Bettenzahl bereits erreicht, da sie sich in den letzten Jahren verringert hat. Aufgrund der kurzen Saison ist die Wirtschaftlichkeit kleinerer Betriebe nur schwer gegeben. Im rauen Klima der Ostsee dauert die Saison von Anfang Juni bis Ende August und auch die Wassertemperatur von rund 18-19 Grad Celsius ist nicht sonderlich einladend.

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Abbildung 33: Strand bei Klaipeda, 2005

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme, 2005

Als zweitwichtigster Bezirk folgt Vilnius. Neben der Hauptstadt befindet sich noch die Inselburg Trakai als Attraktion in diesem Bezirk. An dritter Stelle kommt etwas überraschend Alytus, aber nur wegen der Gemeinde Druskininkai. Litauisch Druska bedeutet Salz, was sich auf die Vorkommen von Heilquellen in dieser Gemeinde begründet. Cirka 86% der Betten des Bezirkes stehen in Druskininkai. Bereits vom polnischen König und danach vom russischen Zar wurde Druskininkai als Kurstadt geführt. Im Vergleich mit Palanga erweist es sich als Vorteil, dass der Thermaltourismus nicht saisonabhängig ist. Ebenso der Städtetourismus, weswegen Vilnius anhand der Gästezahlen an erster Position steht, gefolgt von Druskinikai, Palanga, Klaipeda und Kaunas. Speziell im Wintertourismus gibt es noch Entwicklungspotentiale. Klarerweise liegen diese nicht im alpinen Skisport. Die vorliegenden klimatischen und naturräumlichen Verhältnisse würden sich aber bestens für Eislauf und Langlauf eignen. Meinen Erfahrungswerten zufolge sind die Seen von Weihnachten bis Ostern für Eissportarten geeignet.

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Abbildung 34: Touristische Attraktion aus Sowjetzeiten

Arbeitsgrundlage: Eigene Aufnahme, nahe Palanga 2006

5. Fallbeispiele

Aktivraum Klaipeda – Passivraum Panavezys

Wie bereits erwähnt hat Klaipeda neben der Hauptstadt Vilnius eine positive Entwicklung hinter sich. Als einzige Hafenstadt des Landes besitzt diese Region einen wirtschaftlichen Vorteil, aber diese Region war bis 1987 militärisches Sperrgebiet und somit auch in der Vergangenheit ein Gebiet mit wenigen Entwicklungsmöglichkeiten. Bezüglich Bevölkerungsentwicklung ist auch Klaipeda von einer negativen Tendenz betroffen. Als Besonderheit fällt nur der hohe Anteil der russischen Minderheit auf, welche die leer stehenden Häuser der Memelländer nach Ende des Zweiten Weltkrieges besiedelten. Nun möchte ich in einem direkten Vergleich zwei der fünf Zentren gegenüberstellen. Es handelt sich um Klaipeda, die drittgrößte Stadt des Landes, sowie Panevezys die fünftgrößte Stadt Litauens. Wurde die Entwicklung dieser Räume noch bis Ende der Sowjetunion zentral

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gesteuert, so haben sich diese zwei Bezirke in verschiedene Richtungen entwickelt. Verkehrstechnisch liegen beide Bezirke im Gunstbereich Litauens. Einerseits ist Klaipeda der einzige Hafen Litauens und somit Tor zu den skandinavischen Staaten, andererseits liegt Panavezys an der Via Baltica (E67), welche von Helsinki bzw. Tallin bis Warschau führt, sie ist die wichtigste nordosteuropäische Verkehrsachse und befindet sich zum Teil im autobahnähnlichen Zustand. Speziell in Litauen wurde der Ausbau dieser Achse in den letzten Jahren vorangetrieben und befindet sich bereits in der Endbauphase. Vom ohnehin nicht sehr leistungsstarken Eisenbahnnetz wird Panevezys jedoch nicht erfasst. Die Schmalspurbahn nach Panevezys wurde eingestellt, aber auch Klaipeda ist nur schwer erreichbar. Richtung Süden führt die Strecke nach Kaliningrad, was momentan einer Sackgasse gleicht und Richtung Norden führt sie über den Umweg von Siaulai nach Kaunas und Vilnius. Alleine die Tatsache, dass es lediglich drei tägliche Zugverbindungen zwischen Vilnius und Klaipeda gibt, spricht für die Ineffizienz dieser Streckenführung. Die schnellste Zugverbindung beträgt 4h und 30min, für die gleiche Strecke braucht man vergleichsweise mit dem Bus nur 3h und 45min. Wirft man nun einen Blick auf die demographische Entwicklung dieser Bezirke, kann man schnell die Unterschiede erkennen. Nachdem in ganz Litauen die Bevölkerungszahlen rückläufig sind, ist es auch in unserem Untersuchungsgebiet so, aber in Klaipeda lag der Wert von 2001 bis 2008 nur bei -1,9 Prozent in Panevezys sind es schon -5,4%. Blickt man auf die Alterspyramide zeigt sich ein viel dramatischeres Bild. Gerade in der Altersschicht zwischen 20 und 30 Jahren gibt es in Panevezys einen markanten Bevölkerungsschwund, hervorgerufen durch mangelnde Arbeitsplatzperspektiven und Ausbildungsmöglichkeiten. Klaipeda konnte diesem Trend entgegenwirken und durch die Eröffnung einer Universität 1991 die Abwanderung dieser jungen Bevölkerungsschicht eindämmen.

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Abbildung 35: Bevölkerung nach Geschlecht und Alter in Klaipeda, 2008

Arbeitsgrundlage: Portrait der Regionen Litauens

Abbildung 36: Bevölkerung nach Geschlecht und Alter in Panevezys, 2008

Arbeitsgrundlage: Portrait der Regionen Litauens

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Aus demographischer Sicht ist Klaipeda momentan der „jüngste“ Bezirk, während Panevezys zum „ältesten“ wurde. Im Jahr 2008 zählte man in Klaipeda 125 über 60 jährige pro 100 Kinder, in Panevezys waren es 147 pro 100 Kinder (Landesschnitt 134).

Abbildung 37: Beschäftigungsanteil der Bevölkerung von 15-64 zwischen 2001 und 2007

66

64

62

60 Litauen Klaipeda 58 Prozent Panevezys 56

54

52 2001 2003 2005 2007 Jahr

Arbeitsgrundlage: Portrait der Regionen, Innenministerium Litauen

Auch am Anteil der Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung ist deutlich erkennbar, dass in Panevezys eine Stagnation am Arbeitsmarkt herrscht. Wenn man den beinahe konstanten Anteil der Beschäftigten auf die stete Abwanderung aufrechnet, dann dürfte im Hintergrund auch eine Reduktion der Arbeitsstellen erfolgt sein. Mittlerweile liegt der Prozentsatz von Panevezys am unteren Ende im Vergleich mit den 10 Bezirken Litauens, es zeigt das äußerst schwache Wirtschaftswachstum dieses Bezirkes.

Die Verteilung der Arbeitskräfte in die verschiedenen Wirtschaftssektoren zeigt uns die unterschiedliche Wertigkeit sowie die Entwicklung an. Spielte die Landwirtschaft zur Jahrtausendwende noch eine bedeutende Rolle, so ist sie mittlerweile in Klaipeda auf 6,6 % gesunken und liegt nur noch unwesentlich höher als in westlichen EU Ländern wie zum Beispiel Österreich mit 4,9% (EU 27: 5,6%). In Panevezys liegt der Wert bei 15,5%, was also nach wie vor höher ist als in Klaipeda 2001. Hauptgrund für diese Unterschiede ist der Mangel an alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten in dieser Region. Während Klaipeda

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durch verschiedene touristische Attraktionen und den Ausbau des Hafens über andere und bessere Verdienstmöglichkeiten verfügt.

Abbildung 38: Beschäftigung nach Wirtschaftssektoren von 2001 bis 2007

Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik

Am Anteil der Arbeitslosen sind die Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung der beiden Bezirke besonders deutlich abzulesen. Lag in den ersten 5 Jahren des Jahrzehnts die Arbeitslosenquote in Panevezys bei den niedrigsten des Landes, hat sich diese Situation ab dem Jahr 2003 gewandelt und so wurden in Panevezys in den darauffolgenden Jahren die meisten Arbeitslosen gezählt. Einer der Gründe für den Rollentausch zwischen Klaipeda und Panevezys ist wohl die Schaffung der ersten freien Wirtschaftszone in Litauen, auf welche aber erst bei der wirtschaftlichen Gegenüberstellung näher eingegangen werden soll.

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Abbildung 39: Anteil der Arbeitslosen an der Gesamtbevölkerung, 1999-2009

Arbeitsgrundlage: Litauische Statistik

Ausschlaggebend für das Sinken der Arbeitslosenquote war aber nicht ein Ansteigen der Arbeitsplätze, vielmehr waren es die Arbeitslosen selbst, welche nach der Öffnung des Arbeitsmarktes in westeuropäische Länder emigrierten. Die negative Entwicklung von Panevezys ist begründet in der schlechten Diversifikation der Wirtschaft und der geringen Möglichkeit Investoren anzulocken. Hatte in der Sowjetunion jede Republik ihre Produktionssegmente, wie Flugzeugbau in Usbekistan oder die Erdölproduktion in Aserbaidschan, so war es in Litauen die Lebensmittelherstellung und die TV Geräte Produktion. In Osteuropa, aber mittlerweile auch in USA und Kanada ist Litauen bekannt für die Käsezubereitung. Alleine die Marke Tilsiter ist Zeuge der Bedeutung der Käsezubereitung. Um 1870 siedelten sich Schweizer Käser in der Kornkammer Preußens, dem Memelland an, um die Veredelung und Haltbarmachung von Milch durch ihr Knowhow voranzutreiben. Aufgrund des Grasgemisches war es ihnen aber nicht möglich ihren gewohnten Emmentaler zu erzeugen, erst in Symbiose mit Einheimischen gelang es, den bekannten Tilsiter zu erzeugen. 1945 wurden zwar die deutschsprachigen Käser vertrieben, die Infrastruktur blieb aber erhalten und wurde weiter genutzt. Der zweite Stolz der litauischen Wirtschaft war die Fernsehgeräteproduktion. Große Produktionsstätten waren in Panevezys, Siaulai und Kaunas beheimatet, welche jedoch durch die Westöffnung, den Wegfall des Absatzmarktes und die veralteten Produktionsmethoden und Technologien fernab jeglicher Konkurrenzfähigkeit waren. Alle drei Betriebe mussten Insolvenz anmelden und dadurch wurde die Wirtschaft der Städte Siaulai und Panevezys schwer getroffen, verfügen sie doch über fast keine Alternativen und Neuinvestitionen. Niedrige Lohnkosten sind zwar ein Standortvorteil, jedoch wandern die Arbeitskräfte 84

zusehends auf die Britischen Inseln aus um dort bei Bekannten und Verwandten mehr Geld zu verdienen. (BURNEIKA Interview)

Aber auch die Strukturänderung in der Landwirtschaft lässt Arbeitskraftkapazitäten frei werden. Einerseits verringert sich die Anzahl der Betriebe, andererseits wirkt sich zunehmende Mechanisierung der Betriebe negativ auf die Arbeitsmarktsituation aus. Betrachtet man die Einkommensverhältnisse und den Lebensstandard, ist es wenig verwunderlich, dass Arbeiter in Klaipeda besser verdienen. Klaipeda liegt im Landesschnitt an zweiter Stelle nach Vilnius, Panevezys an 7. Stelle von den zehn Bezirken. Weit negativer fällt aber die Entwicklung seit 2001 aus, wo Panevezys an letzter Stelle rangiert, was ein weiteres Beispiel der negativen Entwicklung Panevezys anzeigt. Panevezys ist ein perfektes Beispiel für die schwierige Situation der sogenannten Mittelstädte in Litauen. In erster Linie sind es die Städte Panevezys und Siaulai sowie mit Abstrichen Kaunas. Diese, in der Sowjetära künstlich entwickelten Zentren, sind für die freie Marktwirtschaft nicht geeignet. Das Bevölkerungsverhältnis zwischen diesen Mittelstädten und dem Landgebiet ist einfach zu groß (circa zwei Drittel) und kann durch die neuen Marktverhältnisse nicht beschäftigt und versorgt werden.

6. Maßnahmen zur Regionalentwicklung

Mit dem EU Beitritt 2004 ergeben sich auch neue Rahmenbedingungen für die Regionalverwaltung in Litauen. Schon bei der Unterteilung des Untersuchungsgebietes ergeben sich erste Probleme. Im Beitrittsvertrag wird Litauen als ein einheitliches Gebiet gesehen, was eine wirtschaftliche und soziale Verbesserung auf Bundesland- oder regionaler Ebene erschwert. In der europäischen Unterteilung der NUTS Regionen wird Litauen auf NUTS 1 sowie NUTS 2 Ebene als Einheit gesehen. Erst auf NUTS 3 Ebene entsteht die erste Unterteilung auf Basis der offiziellen Einteilung der 10 Bezirke.

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Abbildung 40: Einteilung der NUTS 2 Regionen

Arbeitsgrundlage: Eurostat

Auch die Karte zeigt uns, dass Litauen eines der größten Gebiete auf der NUTS2 Ebene ist. Danach folgt erst die Aufteilung in Mikroregionen, welche aber zu den kleinsten im EU Schnitt zählen. Aufgrund der geringen Größe und auch infrastrukturelle r Schwäche sind die Mikroregionen in Litauen nicht in der Lage wirtschaftliche und soziale Pro bleme zu lösen (LEI 2007).

Aus den vorgenannten Gründen muss sich das Regionalmanagement in Litauen mit grundlegenden administrativen Problemen herum schlagen . Um diesen Verwaltungskomplex zu rationalisieren, hätte man auf die historische Regionsbildung zurückgreifen sollen. Wie auch von der EU Kommission vorgeschlagen, hätte die Einteilung in fünf historische Regionen, Aukštaitija, Žemaitija, Suvalkija, S ūduva und Dz ūkija, erfolgen sollen, wodurch sich diese Selbstverwaltungseinheiten besser auf die sozio -ökonomischen Probleme der Bewohner in der betreff enden Region konzentrieren könn en. Um das System der litauischen Regionalentwicklung dem funktionierenden Sys tem der westeuropäischen Länder anzupassen, sind einige markante Mechanismen umzusetzen: Die Funktionsweise und die juristische Basis der Mikroregionen müssen dem der anderen EU Länder angeglichen werden. Bildung von Regionalfonds durch Unternehmen um vera rmten 86

Bürgern zu helfen und auch den Verwaltungsbediensteten eine verhältnismäßige Lohnentwicklung zu gewährleisten. Eine Steigerung der regionalen Wirtschaft durch effizientere Technologien und die damit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen um der Abwanderung entgegenzuwirken. Die Prioritäten der Mikroregionen sind: Förderung von Klein- und Mittelbetrieben, Verbesserung der Infrastruktur, ausreichende Energieressourcen, genügend Gewerbeflächen, Vorantreiben der Privatisierungen und gerechte Entlohnung für qualifizierte Arbeit.

Abbildung 41: Beitrag der Kohäsionspolitik für den Zeitraum von 2007-2013 in Mio €

Arbeitsgrundlage: EU Regionalpolitik

Natürlich gibt es auch seitens der Europäischen Union Programme um in Litauen nachhaltige Strukturen zu schaffen. Die EU stellt Mittel aus dem Strukturfonds und Kohäsionsfonds bereit, durch den Europäischen Sozialfonds werden des Weiteren die Humanressourcen Litauens verbessert und mit Hilfe der Programme für transnationale wie interregionale Zusammenarbeit sollen die vier, im Nationalen Strategischen Rahmenplan Litauens definierten Querschnittsbereiche verbessert werden: Informationsgesellschaft, nachhaltige Entwicklung, Chancengleichheit und Regionalentwicklung. Für den Programmplanungszeitraum von 2007 bis 2013 ist es eines der strategischen Ziele eine territoriale und sozioökonomische Kohäsion zu erreichen. Es gilt den wachsenden 87

Disparitäten zwischen den drei größten Städten und den restlichen Städten sowie zwischen ländlichem und städtischem Raum entgegenzuwirken. Um die regionale Identität zu stärken sollen die lokalen Regierungen bei den Planungs- und Umsetzungsaufgaben stärker integriert werden. Litauen hat 54,6% des Geldes vom Strukturfonds für die Lissabon Agenden reserviert, was einer Steigerung von 5% gegenüber der vorigen Periode entspricht. 80% der Lissabon Strategien nehmen in Litauen die Humanressourcen ein, was den Aufholbedarf bei Arbeitsplätzen, Bildung, Chancengleichheit widerspiegelt. Um dem ländlichen Raum eine gute Entwicklungsbasis zu bieten, muss eine entsprechende Infrastruktur geboten werden. Litauen verfügt zwar über ein recht gut ausgebautes Verkehrssystem, trotzdem müssen Ungleichheiten beseitigt und die verschiedenen Verkehrsträger abgestimmt werden. Deshalb verwendet Litauen 23% der gesamten Strukturfondsmittel (1,57 Mrd. Euro) zur Erneuerung von 1165km Straßen und 220km des Schienennetzes. Ein weiteres Hauptaugenmerk der Strukturverbesserung Litauens liegt in der Unterstützung der Forschung, Entwicklung und Innovation. Ganze 22% der Strukturfonds (1,48 Mrd. Euro) fließen in diese Sparte mit dem Ziel die Ausgaben für FuEuI auf 2,2% des BIP zu steigern sowie die Zahl der Forscher je 1000 Beschäftigen auf über 6% zu steigern. Und genau bei den Staatsausgaben für Bildung und Forschung besteht ein eklatanter Aufholbedarf. Zwar haben sich in den letzten 10 Jahren die aufgewendeten Mittel vervierfacht, mit nur 0,76% des BIP liegt es aber noch immer unter der Hälfte des EU Schnittes. Mit 8% des Strukturfonds wird das Unternehmertum in Litauen unterstützt. Traditionell liegt Litauen aufgrund der Sowjetvergangenheit weit unter dem EU Schnitt was selbstständige Betriebe angeht. Speziell in den ländlichen Regionen ist die Finanzierung durch Kleinstkredite oder Risikokapitalfonds problematisch und wird deswegen mit 516 Mio. Euro subventioniert. Auch der Ausbau der Informations- und Kommunikationstechnologien wird mit dem Ziel einer flächendeckenden Internetzugänglichkeit forciert. (EU, 2006)

Einer der Anreize für Investoren in Litauen tätig zu werden ist das günstige Lohnniveau, allerdings muss man hierzu auch im Bereich der Humanressourcen tätig werden um einen Engpass an Arbeitskräften zu vermeiden. Obwohl die Zahl der Arbeitslosen in den letzten Jahren rückläufig war, besitzen zwei Drittel der Arbeitslosen keine verwertbaren beruflichen Kompetenzen. Daraus folgend gilt es die Mobilisierung und Erhöhung der Kompetenzen und

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Qualitäten der Arbeitssuchenden zu fördern, was vor allem die Regionen mit einer hohen Arbeitslosenquote, sprich die peripheren Räume, betrifft. Um die Regionalentwicklung voranzutreiben ist auch eine funktionierende Hierarchie in der Verwaltung notwendig. Der zentralistisch aufgebaute Staat verfügt über keine gewählten Regionalregierungen, somit obliegt es den eingesetzten Verwaltungen Entscheidungsträger zu sein. Im Besonderen die fehlende Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor kompliziert den Verwaltungsaufwand für Unternehmen. In der litauischen Strukturfondsstrategie gilt für die Jahre 2007 bis 2013 das Partnerschaftsprinzip, was eine Einbindung wirtschaftlicher und sozialer Partner zur Folge hat. Zu dieser Modernisierung des Verwaltungsapparates werden 169 Mio. Euro von der EU bereitgestellt.

7. Resümee und Ausblick

Blickt man auf die sozioökonomischen Veränderungen in Litauen, muss man sagen dass Litauen in kurzer Zeit grundlegende Änderungen durchführte. Trotz düsterer Prognosen Anfang der 90er Jahre ist man mittlerweise in der EU gut integriert und erfüllt annähernd die Kriterien für die Gemeinschaftswährung Euro. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes geht zügig voran, es entsteht eine Vielzahl von Geschäftszentren im Umkreis der größeren Städte. Im Zuge dessen erfolgt aber auch eine Ausdünnung des ländlichen Raumes. Während in den modernen Zentren die Neureichen in Designer Kleidung mit protzigen Geländewagen vorfahren, bestellt 20 Kilometer entfernt der Bauer mit seinem Pferd und nachgespannten Pflug seinen Acker. Selbst in Vilnius stehen neue Business Zentren neben alten Holzhäusern ohne Wasserversorgung. Die beiden Fotos in der folgenden Abbildung sind ungefähr 100 Meter voneinander entfernt.

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Abbildung 42: 2 Photos vom Stadtteil Snipiskes (Vilnius)

Arbeitsgrundlage: eigene Aufnahme und Madis Veskimeister, 2005

Abwanderungstendenzen und Bevölkerungsrückgang sind in fast jeder Gemeinde vorzufinden. Im Zeitraum von 2001 bis 2010 sind neben der Hauptstadt Vilnius und ihrer Umlandgemeinde, die Umlandgemeinden von Kaunas und Klaipeda, sowie die beiden Tourismuszentren von Neringa und Palanga von dieser Tendenz ausgenommen. In Summe dürfen im gesamten Staatsgebiet Litauens nur sechs Gemeinden eine positive Entwicklung verbuchen. Diesen positiven Ausnahmen stehen 11 Gemeinden mit einem Rückgang von mehr als 10% gegenüber. Ich bin der Meinung, dass Litauens Politik den wirtschaftsorientierten Wildwuchs kontrollieren und in die regionalen Entwicklungspläne integrieren muss. Die Neuorientierung des Landes drängte den Osten und Südosten in eine Peripherlage, und durch die wirtschaftliche Isolation Weißrusslands ist kaum bilateraler Handel möglich. Man spürt aber auch bei der Bevölkerung eine Aufbruchsstimmung und den Willen die persönliche Situation zu verbessern. Natürlich wird der Aufholprozess noch einige Jahre oder Jahrzehnte dauern, es gibt aber noch einige Ressourcen welche dazu genutzt werden können. Auch hat die jüngste Vergangenheit gezeigt, dass die Baltischen Staaten zu den Musterschülern unter den neuen EU-Ländern beim Erfüllen der Vorgaben zählen. Die Hauptsache ist die Abwanderung einzudämmen und den damit verbunden Verlust an Humanressourcen zu stoppen.

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8. Verzeichnis der Arbeitsgrundlagen

8.1 Literatur

TUCHTENHAGEN Ralph 2005: Die Geschichte der Baltischen Länder, Beck Verlag, München, 127 Seiten.

BUTENSCHÖN Marianna 2002: Litauen, Beck Verlag, München, 195 Seiten.

GARLEFF Michael 2001: Die baltischen Länder: Estland, Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Pustet Verlag, Regensburg, 269 Seiten.

DAPSYS Algimantas 2002: Lithuania an Outline, Artlora Verlag, Vilnius, 231 Seiten.

MALEK Martin 1999: Die Beziehungen zwischen Russland und den baltischen Staaten, Büro des Bundesministeriums für Landesverteidigung, Wien, 71 Seiten.

BERTELSMANN 1996: Länder, Völker, Kontinente Band 1

LEISEROWITZ Ruth 2008: Die unbekannten Nachbarn - Minderheiten in Osteuropa, Ch. Links Verlag, Berlin, 285 Seiten.

BOLZ Klaus 1999: Die Rolle des Staates in der Wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen, Nomos Verlag, Baden-Baden, 277 Seiten.

LUDWIG Klemens 1991: Das Baltikum, Estland, Lettland, Litauen, Beck Verlag, München 165 Seiten.

ROTHACHER Albrecht 1999:Die Transformation Mittelosteuropas: Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Tschechien, Polen, Ungarn, Slowenien, Kroatien und Litauen, Österreichischer Wirtschaftsverlag, Wien, 142 Seiten.

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MEISNER Boris, LOEBER Dietrich A, LEVITS Egil 1993: Die Wirtschaft der Baltischen Staaten im Umbruch, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln, 165 Seiten.

PISULLA Petra 1993: Aktuelle Entwicklungslinien, Problemfelder der Wirtschaftspolitik und ordnungspolitische Veränderungen in Litauen, HWWA Report 122,, Hamburg, 54 Seiten.

BÖLLHOFF Ute 2002, 10 Jahre Systemtransformation in den Baltischen Staaten, Haufe Verlag, Freiburg i. Br., 278 Seiten.

ALTROCK Uwe 2005: Zwischen Anpassung und Neuerfindung, Raumplanung und Stadtentwicklung in den Staaten der EU- Osterweiterung, Verlag Planungsrundschau, Berlin, 351 Seiten.

HALTENBERGER Michael 1929: Enzyklopädie der Erdkunde, Die baltischen Länder, Deuticke Verlag, Leipzig – Wien, 77 Seiten.

PUNNING Jaan-Mati 1999: Naturpotential und Umweltprobleme der Baltischen Staaten, Geographische Rundschau, Band 4/1999, 62 Seiten.

KRUPICKAITE Dovile 2007, Demographic Crises in Lithuania: Regional Aspects, In Geografski Raksti Nummer 12, 175 Seiten.

DAUGIRDAS Vidmantas, BAUBINAS Ricardas 2008: Sparsely Populated Territories in Lithuania: Social and Demographic Status, in Annales Geographicae, Nummer 1 und 2, Vilnius, 115 Seiten.

BURNEIKA Donatas 2007: Economic Aspects of Regional Disparities in Lithuania, Geografski Raksti Nummer 12, 175 Seiten.

KNAPPE Elke und LABANAUSKAITE Daiva 2002: Die Landwirtschaft als stabilisierender Faktor ländlicher Räume, Beispiele Litauen und Weißrussland, Europa Regional, 10. Jahrgang Heft 3, 58. Seiten.

92

KNAPPE Elke und JUSCIUS Vytautas 2007: Litauen – ein Agrarland im Strukturwandel. Praxis Geographie Nummer 2/2007, 4 Seiten.

BANYS, LUKOSEVICIUS, SINKUNAS: Lietuvos Istorijos Atlasas, Verlag Vilnius Rosma, Vilnius, 31 Seiten.

DELHAES Karl 1993, Die Unabhängigkeit der Baltischen Länder – Geschichte, Probleme, Perspektiven, J. G. Herder Institut, Marburg/Lahn, 131 Seiten.

8.2 Statistiken

LIT STAT 2006a: of Lithuania 2005. LIT STAT 2006b: Statistisches Jahrbuch 2005

8.3 Internet

BRAKE 2007: Focus Migration Nummer 7 Länderprofil Litauen, Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), Hamburg http://focus-migration.hwwi.de/Litauen.1257.0.html

ZUM 2007a Rural Development Programme for Lithuania 2007 – 2013, Ministry of Agriculture of the Republic of Lithuania, Vilnius, 304 Seiten. http://www.zum.lt/min/failai/2007_01_22_RDP_2007-2013_tikrasNAUJAS3.pdf

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LIT STAT 2008a: Survey of the Lithuanian Economy 2008, Lithuanian Statistics, Vilnius, 266 Seiten.

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LIT STAT 2008b: Lithuania in the European Union, Lietuvos regionu portretas, Vilnius, 20 Seiten. http://regionai.stat.gov.lt/pdf/Lietuva%20ES_EN_11_22.pdf

LIT STAT 2008c: Development oft he Regions of Lithuania, Lietuvos regionu portretas, Vilnius, 14. Seiten. http://regionai.stat.gov.lt/pdf/Development%20of%20the%20regions_2008_11_25_.p df

LDA 2010: Invest Lithuania & Enterprise Lithuania www.lda.lt

DUBINAS Valentinas 2007: THE NEW CHALLENGES IN REGIONAL MANAGEMENT IN LITHUANIA, Vilnius Universty Vilnius, 4 Seiten. http://www.leidykla.vu.lt/fileadmin/Vadyba/15/5-8.pdf

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