150 ULRICH HERRMANN ULRICH HERRMANN Die „Schulpläne“ – neu gelesen Aus Anlass des 250. Geburtstages von Wilhelm von Humboldt am 22. Juni 2017

Wilhelm von Humboldt is considered the father of the modern (humanistic) gymnasium. His texts from his time as head of the section for Cultural, Educational and Medicinal Affairs in the Prussian Ministry of the Interior (1809/10) prove the contrary: Following elementary school he endorsed a flexible comprehensive school („Einheitsschule“) for all students, in- tended to provide a general education, whereas specific and especially vocational education was supposed to be taught in special educational institutions. Thus, Humboldt rejected the concept of middle/secondary modern school („Real-/Bürgerschulen“). In fact, educational history already took a new direction since the era of the Prussian reforms. It led to the estab- lishment of a tripartite school system, in which the social class formation has mirrored and reproduced itself since the beginning of the 19th century until today. It was only after the Second World War that comprehensive schools were introduced, across the GDR in general, and in West in most of the federal states as „Gesamtschulen“ (generally) alongside the gymnasium. Humboldt’s reasoning in favor of a comprehensive school remains valid.

1808. Mitteleuropa war unter der Herrschaft Napoleons neu organisiert worden. Das Alte Reich war untergegangen. Preußen war nach der Nie- derlage von 1806 zwar als Staat erhalten geblieben, hatte aber die Hälfte seiner Territorien verloren (alle westlich der Elbe gelegenen sowie die letzten polnischen Erwerbungen). war von den Franzosen be- setzt, der König und die Regierung waren nach Königsberg in Ostpreußen ausgewichen. Reorganisationen und Reformen auf allen Gebieten der Staatstätigkeit waren unausweichlich. Hierzu gehörten auch die Schu- len und Universitäten, die das preußische Allgemeine Landrecht von 1796 zu Angelegenheiten des Staates erklärt hatte. Die preußische Re- formzeit wurde 1807/8 unter Heinrich Friedrich Karl Freiherr von und zum Stein eingeleitet und nach dessen Entlassung von 1810 bis 1819/20 durch Karl August von Hardenberg fortgeführt.1

1. Eine Vorgeschichte: Bildung zum Menschen oder Bildung zum Bürger? Seit Rousseau gab es eine bildungstheoretische Kontroverse: Erziehung zum Menschen oder Erziehung zum Bürger; Bildung des Menschen oder bürgerliche Brauchbarkeit? Friedrich Immanuel Niethammer (den Humboldt aus gemeinsamen Tagen in Jena kannte) hat diese Kontro- 1 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, München 1983, S. 33 ff.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 397 ff.

© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 69, 2 (2017) Also available online - brill.com/zrgg Wilhelm von Humboldt. Die „Schulpläne“ – neu gelesen 151 verse in seinem Buch Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit (Jena 1808) darge- stellt. Das Haupt der deutschen Pädagogen des Philanthropinismus und der Rousseau-Verkünder, Joachim Heinrich Campe, war der Hauslehrer von Wilhelm und in gewesen und 1789 Wilhelms Reisebegleiter nach . Auf der Reise nach Paris im Juli 1789 notiert Humboldt über Campe in seinem Tagebuch: „Zwischen Campe und mir auf dieser Reise wenig Gespräch, noch weniger Interessantes. Ich kann mich nicht in die Art finden, wie er die Dinge ansieht. Seine und meine Gesichtspunkte liegen immer himmelweit auseinander. Ewig hat er vor Augen und führt er im Munde das, was nützlich ist, was die Men- schen glücklicher macht [...]. Für das Schöne, selbst für das Wahre, Tiefe, Feine, Scharfsinnige in intellektuellen, für das Große, in sich Edle in morali- schen Dingen, scheint er äußerst wenig Gefühl zu haben, wenn nicht mit diesem zugleich ein unmittelbarer Nutzen verbunden ist. Vom Rheinfall bei Schaffhausen sagte er mir [...]: ‚Ich sehe lieber einen Kirschbaum, der Früchte trägt, und so schön und groß der Rheinfall ist, so ist es ein unnützes Geplät- scher, das niemandem nützt.‘“2 Nützlichkeit und bürgerliche Brauchbarkeit war das Credo der Philan- thropen, und ihren daraus resultierenden Prinzipien, gerade auch in Fragen der Erziehung und Bildung, war Humboldt zutiefst abgeneigt. Es hatte im ausgehenden 18. Jahrhundert in Sonderheit in Preußen nicht an Versuchen gefehlt, allgemeine Menschenbildung und bürgerli- che Brauchbarkeit zu verbinden – sei es in Form getrennter Bürgerschu- len und Gymnasien, sei es in der gestuften Verbindung beider.3 Humboldt hatte die Trennung von Schulformen im Anschluss an die Elementar- schule zurückgewiesen mit der bildungstheoretischen Begründung der Notwendigkeit, dass alle menschlichen Kräfte durch einen Schulunter- richt als solchen vollständig zu entwickeln seien und man die spezielle Entwicklungsrichtung eines Schülers frühzeitig gar nicht kennen könne.4 Auf dem Gebiet des preußischen Bildungswesens sollten in der Reformzeit nach 1800, genau genommen, Reformen fortgeführt werden, die im ausgehenden 18. Jahrhundert durch den Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz angestoßen worden waren.5 1787 war das Oberschul- 2 Rudolf Freese (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit, Darmstadt 21986, S. 50. 3 So z. B. durch Friedrich Gedike, vgl. Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebilde- ten 1787-1817, Industrielle Welt, Bd. 15, Stuttgart 1974, S. 191 ff. Zu Massow und dem Gegensatz zu Humboldt vgl. Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bänden, hg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Darmstadt 1960 ff. (mehrere Aufl.), hier Werke, Bd. V, S. 521. Die Werke Humboldts werden im Folgenden zit. als Werke mit Band- und Seitenzahl. 4 S. u. Anm. 65 ff. 5 Jeismann, Das preußische Gymnasium (wie Anm. 3), S. 33 ff., Teil I: Die Reformperiode unter dem Oberschulkollegium 1787-1806.