Das Beamtentum in ausgewählten Werken N. V. Gogol’s und P. Villaggios im Hinblick auf Satire und Sozialkritik

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (MA)

an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Simone Lo Bue am Institut für Slawistik

Begutachter(in) Univ.-Prof. Dr. phil Renate Hansen-Kokoruš

Graz, 2017

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Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Graz, Jänner 2017

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Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung ...... 1

1 Methodik ...... 5

1.1 Stand der Forschung ...... 5

1.2 Theoretischer Hintergrund ...... 11

1.2.1 Das Komische ...... 12

1.2.2 Das Groteske ...... 14

1.2.3 Die Satire ...... 19

1.2.4 Die groteske Satire ...... 21

1.3 Theorie der Figurenanalyse ...... 23

1.3.1 Figurenverständisse ...... 24

1.3.2 Figurenkonzeptionen ...... 29

1.3.3 Figurencharakterisierung ...... 33

1.3.4 Fazit ...... 34

2. Analyse ...... 37

2.1 Pošlost' ...... 43

2.2 Ignoranz (und sprachliches Unvermögen) ...... 46

2.2 Vulgarität ...... 57

2.3 Selbstgefälligkeit ...... 64

2.4 Konformismus ...... 73

2.5 Scheinheiligkeit ...... 78

2.6 Gewalt ...... 82

2.7 Korruption ...... 86

2.8 Anbiederung ...... 93

2.9 Parasitentum (und Amtsmissbrauch) ...... 99

2.10 Auflehnung ...... 104

3 Schlussfolgerungen ...... 112

4. Резюме ...... 117

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5 Literaturverzeichnis ...... 122

5.1 Primärliteratur ...... 122

5.2 Sekundärliteratur ...... 123

5.3 Internetliteratur ...... 128

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0 Einleitung

Im 20. Jh. wurde die Komik in Italien weniger wertgeschätzt als in anderen Ländern, denkt man z. B. an die internationalen Erfolge von Alfred Jarry oder Charlie Chaplin. Erst ab den Neunzigern konnte eine eindeutige Trendwende festgestellt werden, zumindest im Filmbereich, als 1992 den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk bekam und Roberto Benigni 1999 den Oscar gewann (vgl. Buratto 2003: 13). Was jedoch die Literatur betrifft, waren Dario Fo, der 1997 den Nobelpreis bekam, und Stefano Benni die ersten italienischen Autoren, die sich in diesem Bereich durchsetzen konnten.

Ab den ersten Jahren des 21. Jh. konnte eine stetige Aufwertung von einigen italienischen Komödienautoren konstatiert werden, deren in der Vergangenheit unterschätzte Werke nun von den wichtigsten Verlagen neu herausgegeben werden. Unter diesen Autoren sticht zweifellos Paolo Villaggio hervor, der der breiten Öffentlichkeit in erster Linie als Schauspieler und Drehbuchautor von Komödien bekannt ist. Unter seinen bekanntesten kinematografischen Werken befindet sich auf jeden Fall die Filmreihe, die den Beamten Fantozzi als Protagonist hat: Fantozzi (1975), Il secondo tragico Fantozzi (1976), (1980), Fantozzi subisce ancora (1983), Superfantozzi (1986), (1988), (1990), (1993), Fantozzi il ritorno (1996), Fantozzi 2000 – La clonazione (1999). In jedem Film der Reihe tritt Villaggio in der Rolle des Protagonisten und des Drehbuchautors auf. Alle Filme haben einen großen Erfolg beim Publikum gehabt, nicht nur in Italien, sondern auch im Ausland, da einige Filme dem russischen, tschechoslowakischen und deutschen Publikum präsentiert worden sind. Zu dieser Zeit wurden aber auch einige Essays über die Filme Villaggios veröffentlicht. Nicht alle wissen, dass er aber zuvor als Schriftsteller bekannt war. 1971 begann Villaggio mit der Wochenzeitung L’Europeo zu arbeiten, wo er Kurzerzählungen publizierte, die das Leben der italienischen Beamten der siebziger Jahre mit einem satirischen Ton darstellten und den Buchhalter Fantozzi als Protagonist hatten. Diese Erzählungen wurden danach in den Büchern Fantozzi (1971), Il secondo tragico libro su Fantozzi (1974), Fantozzi contro tutti (1979) e Fantozzi alla riscossa (1983) gesammelt, auf die die jeweiligen kinematografischen Umsetzungen folgten. Seine anderen literarischen Werke kamen hingegen erst nach den jeweiligen Filmen heraus, auf welchen sie basierten. Diese Bücher sind: Rag. : caro direttore, ci scrivo... - Lettere del tragico ragioniere, raccolte da Paolo Villaggio (1993), Fantozzi saluta e se ne va: le ultime lettere del rag. Ugo Fantozzi (1994). Über seine literarischen Werke sind jedoch überhaupt keine Arbeiten zu finden.

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Im Bereich der Slawistik bieten die Werke Villaggios unzählige Ansätze zur Vertiefung. Wie bereits der russische Dichter Evtušenko erklärte (vgl. http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/1990/01/28/sono-un-attore-lo-dice- federico.html), sind besonders die zahlreichen Ähnlichkeiten zu den Werken Gogol’s interessant. Nicht umsonst bekam Villaggio 2012 den renommierten literarischen Preis der des Vereins Premija im. N.V.Gogolja v Italii „за создание […] персонажа Уго Фантоцци – замечательной маски [...], которая продолжает художественную традицию исследования униженного и оскорбленного человека, вышедшего из знаменитой повести Гоголя Шинель1“ (http://premiogogolitalia.org/files/season-2012.pdf). Die Protagonisten bei Gogol’ sind nämlich kleine Beamte, korrupte Bürokraten und fiese Vorgesetzte, genau wie in den Abenteuern des Buchhalters Ugo Fantozzi, Protagonist in den ersten Erzählungen Villaggios. Das Leben der russischen Beamten der ersten Hälfte des 19. Jh. wird von Gogol’ in zahlreichenden Werken wie z. B. Mertvye duši, Nevskij prospekt, Nos, Revizor, Šinel’, Zapiski sumasšedšego und Ženit’ba hervorragend dargestellt. Es scheint, als haben Villaggios Figuren viel gemeinsam mit jenen von Gogol’, da sie sich nicht nur auf physischer und charakterlicher Ebene ähnlich sind, sondern auch ethische und kulturelle Werte teilen. Die Armseligkeit dieser Eigenschaften wird von beiden Autoren durch einen komischen sowie grotesken Stil bloßgestellt, weshalb ihre Werke als satirisch und sozialkritisch betrachtet werden können.

Wenn man einerseits viele Ähnlichkeiten sowohl in den von beiden Autoren behandelten Themen, als auch in den Figurentypologien ihrer oben genannten Werke findet, muss man andererseits auch die gründlichen Unterschiede in den Gesellschaften berücksichtigen, in denen die Autoren gelebt und ihre Werke gespielt haben. Die bedeutendsten Merkmale der Gesellschaften, in denen die Autoren gelebt haben, können folgendermaßen schematisiert werden:

Russische Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jh.:

 Politisches System: Zarismus (Nikolaj I)  Gesellschaftliche Struktur: Adelsherrschaft, Feudalherrschaft, Leibeigenschaft  Wirtschaft: Landwirtschaft und Handel

1 Aufgrund der Schaffung […] der Figur Ugo Fantozzi, wunderbarer Maske, die die literarische Tradition des erniedrigten und beleidigten Menschen fortsetzt, die mit der berühmten Gogol’schen Erzählung Šinel' begann. 2

Italienische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jh.:

 Politisches System: parlamentarische Demokratie unter Führung der Christdemokraten  Gesellschaftliche Struktur: große Kluft zwischen Reichen und Armen  Wirtschaft: Marktwirtschaft, v.a. Industrie und Landwirtschaft

Dieses Schema hebt hervor, dass die beiden Gesellschaften anscheinend wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Tatsache, dass einige Aspekte der Werke der beiden Schriftsteller in gewisser Weise vergleichbar sind, scheint aber sehr interessant. Ziel der Kritik Gogol’s und Villaggios waren eben diese zwei Arten von Gesellschaften und deren Ungerechtigkeiten und Widersprüche, die von beiden Autoren in ihren Werken ausführlich behandelt wurden.

Fragestellung

Das gänzliche Fehlen von kritischen Arbeiten über den Zusammenhang von Gogol’ und Villaggio ist sehr seltsam. Diese Masterarbeit hat deshalb den Zweck, diese Lücke innerhalb der Literaturwissenschaft, zumindest teilweise, zu füllen, indem Antworten auf folgende Fragestellungen gesucht werden:

 Ist ein satirischer Interpretationsschlüssel beim Vergleich oben genannter Werke Gogol’s und Villaggios überhaupt passend? Welche Literaturwissenschaftler könnten interessante Beiträge zum satirischen Interpretationsschlüssel der Werke Gogol’s und Villaggios bieten?  Ist es möglich, dass diese literarischen Figuren so viel gemeinsam haben können? Wie kann das ethisch-moralische Wertesystem dieser Figuren beschrieben werden? Woraus besteht es? Welches sind die Gemeinsamkeiten, und welches die Unterschiede der jeweiligen Wertesysteme? Wie beziehen sich die Figuren auf diese Werte?  Enthüllt die Satire Gogol’s und Villaggios das Vorhandensein von starken Ähnlichkeiten hinsichtlich der Probleme der beiden von den Autoren beschriebenen Gesellschaften (wie z. B. der sozialen Ungerechtigkeit, des Amtsmissbrauchs, der Korruption, des Absentismus am Arbeitsplatz, des Mangels an positive Werte und Idealen unter den Menschen, der Gleichgültigkeit, usw.)?

Da Gogol’ seine Werke im zaristischen Russland der ersten Hälfte des 19. Jh. verfasste, während Villaggio im demokratischen Italien der zweiten Hälfte des 20. Jh. tätig war, könnte man folgern, dass es sowohl wenige Ähnlichkeiten in den Figuren als auch wenige gemeinsame Problemen in den Gesellschaften gäbe. Bereits eine oberflächliche Kenntnis 3

der Werke beider Autoren, obwohl verschiedenen Epochen zugehörig und zeitlich weit auseinanderliegend, genügt jedoch, um festzustellen, dass es weit mehr sind.

Struktur der Arbeit

Gegenstand dieser Masterarbeit sind ausgewählte literarische Werke Gogol's und Villaggios, die in der Welt der Beamten und staatlichen Verwalter spielen. Die Werke des ersten Autors haben das zaristische Russland der ersten Hälfte vom neunzigsten Jh. im Hintergrund und, was den Zweiten betrifft, spielen seine Werke im demokratischen Italien der zweiten Hälften des zwanzigsten. Die in dieser Arbeit analysierten Werke sind die Erzählungen Nevskij prospekt, Nos, Šinel', Zapiski sumasšedšego, die Komödien Igroki, Revizor, Ženit'ba und das Epos Mertvye duši. Was Villaggio angeht, werden, im Rahmen dieser Arbeit, die in den Büchern Fantozzi, Il secondo tragico Fantozzi und Fantozzi contro tutti gesammelten Erzählungen analysiert.

Es wurde die Entscheidung getroffen, die Bücher Villaggios im Rahmen dieser Masterarbeit zu berücksichtigen, und nicht die Filme, obwohl beide Medien dasselbe Subjekt, dieselben Figuren und Titel haben, weil, wie im Laufe der Analyse aufgezeigt wird, viele Eigenschaften Fantozzis in den Filmen weggelassen werden. Diese Eigenschaften wurden nämlich als für das breite Publikum, das durch die kinematografische Umsetzung der Bücher Villaggios erreicht werden konnte, ungeeignet angesehen. Diese Eigenschaften sind aber sehr wichtig bei dieser Analyse, da sie die Figuren besser darstellen. Diese Masterarbeit besteht aus einer Recherche zur satirischen Darstellung des Beamtentums beider Autoren und strebt danach, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ermitteln. Die Recherche wird durchgeführt, indem ausgewählte Ausschnitte oben genannter Werke verglichen und kommentiert werden.

Die Masterarbeit ist vierteilig aufgebaut. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Methodik der vorliegenden Arbeit. Hier wird erstens der Stand der Forschung zu Gogol’ und Villaggio behandelt, zweitens die möglichen Interpretationsschlüssel definiert, drittens das Verfahren der im zweiten Kapitel durchgeführten Analyse wissenschaftlich begründet. Im zweiten Teil werden die Figuren analysiert. Hier werden Eigenschaften und Themen behandelt, die in den ausgewählten Werken beider Autoren oft vorkommen. Da sich diese Arbeit mit Satire und Sozialkritik beschäftigt, werden hauptsächlich negative Eigenschaften und Themen analysiert. Für jeden analysierten Aspekt wird ein Vergleich zwischen verschiedenen ausgewählten Ausschnitten beider Autoren angestellt, wodurch aufgezeigt wird, wie die jeweiligen Aspekte von beiden wahrgenommen und beschrieben werden. Dabei werden die Unterschiede zwischen russischer und italienischer Gesellschaft berücksichtigt, die Gegenstand der Satire sind. Der dritte Teil wird den Schlussfolgerungen gewidmet. Hier wird der Versuch unternommen, die Fragenstellungen in direkter Weise zu beantworten. Im

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vierten und letzten Teil wird hingegen ein Resümee auf Russisch über die im Rahmen dieser Masterarbeit durchgeführte Forschung dargeboten.

1 Methodik

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Methodik der vorliegenden Masterarbeit. In diesem Teil werden die theoretischen Grundlagen der Arbeit dargelegt und das Verfahren der Analyse wissenschaftlich begründet. Das erste Unterkapitel wird dem Stand der Forschung gewidmet, um einen Überblick über die möglichen Interpretationen der beiden Autoren aus der Sicht der internationalen Kritik zu geben und einen gemeinsamen literarischen Interpretationsschlüssel für Gogol’ und Villaggio zu finden. Im zweiten Unterkapitel hingegen wird dieser Interpretationsschlüssel genauer definiert bzw. analysiert. Im letzten Unterkapitel wird das Verfahren der im dritten Kapitel durchgeführten Analyse wissenschaftlich begründet.

1.1 Stand der Forschung

Dieser Teil der vorliegenden Masterarbeit beschäftigt sich mit dem Stand der Forschung zu Gogol’ und Villaggio. Da diese Arbeit die Analyse von literarischen Figuren aus ausgewählten Werken der beiden Autoren vorsieht, besteht nun die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Interpretationsschlüssel zu finden, der eine solche Analyse unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt ermöglicht. Daher ist es sinnvoll, dem ersten Unterkapitel den Stand der Forschung zu widmen. Durch einen Überblick über die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, mit Hilfe derer die Werke der beiden Autoren klassifiziert werden können, wird man einen gemeinsamen Interpretationsschlüssel finden, der die im darauffolgenden Kapitel durchzuführende Analyse begründen wird. Dieses Unterkapitel ist dreiteilig aufgebaut. Zuerst wird der Stand der Forschung über Gogol’ präsentiert, danach wird der über Villaggio vorgestellt. Schließlich wird im Fazit der gemeinsame Interpretationsschlüssel formuliert. Dieses Unterkapitel stützt sich in erster Linie auf die Werke von Seidel-Dreffke, Bartezzaghi und Buratto.

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Gogol’

Die Einordnung des Gogol’schen Werkes ist ein sehr problematisches Thema. Die Literaturwissenschaftler haben unterschiedliche Zugänge festgestellt, die die Interpretation des Gogol’schen Werkes ermöglichen. Aufgrund seiner Komplexität und Vielfältigkeit unterliegt das Gogol’sche Werk einer großen Anzahl möglicher Interpretationen. Zudem besteht die Tatsache, dass die literarische Kritik in einer gewissen Beziehung zu gesellschaftlichen und politischen Konstellationen der jeweiligen Länder steht, die die Literaturwissenschaftler unvermeidlich beeinflussen. Während manche Interpretationen als miteinander kohärent bzw. ähnlich angesehen werden können, stehen andere hingegen vollkommen im Widerspruch zueinander. Es ist festzustellen, dass eine immer noch aktuelle Debatte um die Interpretation des Gogol’schen Werkes geführt wird. Um sich in diesem Labyrinth orientieren zu können, wird nun ein Überblick über die Rezeption und die Interpretation des Gogol’schen Werkes präsentiert. Dieser Überblick stützt sich auf das Werk von Seidel-Dreffke. Der Autor geht von der Unterscheidung zwischen westeuropäischer bzw. amerikanischer und sowjetischer Kritik aus und analysiert die wichtigsten Beiträge renommierter Literaturwissenschaftler. Die Kritik hat sich im Laufe der Zeit vor allem mit den folgenden Problemen beschäftigt:

 Bewertung der Gogol’schen Wirklichkeitssicht  Zusammenwirken von romantischen und realistischen Elementen in seinem Schaffen  Fragen der Poetik  Diskussion zu den in Vybrannye mesta iz perepiski s druzjami vertretenen Positionen wie z. B. Religion und Fanatismus  Probleme des Gogol’schen Lachens  Besonderheiten seiner Typisierungsmethode u. a. des Skaz  Einordnung des Gogol’schen Werkes  Problem der Seele

Was die sowjetische Kritik anbelangt, konstatiert Seidel-Dreffke das Vorhandensein eines Bruchs zwischen den Interpretationen vor und nach den siebziger Jahren, wobei die ersten noch der Differenzierung zwischen den Interpretationen vor und nach 1945 unterliegen. Während sich die Interpretationen vor den siebziger Jahren durch eine ideologisch geprägte sozialistische Betrachtung auszeichnen, heben hingegen die späteren Interpretationen die Religiosität Gogol’s hervor. Erst nach der Publikation des Sammelbandes anlässlich von Gogol’s 175. Geburtstag gelangt man zu einer homogenen Betrachtung seines Werkes, die die beiden Standpunkte berücksichtigt.

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Die russische Kritik im 19. Jh. und die sowjetische Kritik vor 1945 lässt sich durch eine bunte Mischung verschiedener Strömungen charakterisieren, unter denen gesellschaftskritische, slawophile, strukturalistische, symbolistische und religionsphilosophische Vorstellungen zu Gogol‘ ausgemacht werden können. Jede Strömung interpretiert die jeweiligen Probleme aus ihrer eigenen Perspektive bzw. fokussiert sich auf ein bestimmtes Thema. Die Vertreter der gesellschaftskritischen Auffassung – u. a. Belinskij, Gercen, Černičevskij und Dobroljubov – gehen von einer Betrachtung Gogol’s als Realist aus und ignorieren sowohl seine Religiosität als auch das, ob und inwieweit sich die innere Befindlichkeit des Autors in seinem Schaffen wiederspiegelt. Was den Anfang der soziologischen Interpretation Gogol’s betrifft, kann festgestellt werden, dass diese Probleme impliziert, die sich in der soziologischen marxistischen Kritik widerspiegeln. Es handelt sich um die Betrachtung eines literarischen Werkes vom utilitären Standpunkt bzw. aus der Perspektive einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, die sich als Opposition zur herrschenden Klasse begreift. Demzufolge seien die Hauptmotive des Gogol’schen Werkes der Kampf, der Wille zum Aufstand gegen verschiedene Unterdrückungsaspekte, die Anklage sowie die realistische Widerspiegelung der dunklen Seiten der Wirklichkeit. Sie wollten in Gogol‘ einen bewussten Wegbereiter gesellschaftlicher Umwälzungen sehen: Belinskij verweist auf die demokratischen Tendenzen im Gogol’s Werk; Gercen ruft Gogol‘ zum Unterstützung im Kampf auf (vgl. Seidel-Dreffke 1992: 14 ff.). Im Vergleich zu den anderen Werken wurde Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami stark kritisiert, u. a. auch von Belinskij, dessen Kritikbriefe an Gogol' später veröffentlicht wurden. Dabei ist Dostoevskijs Gogol’rezeption auch zu beachten. Dostoevskij sieht Gogol’ als einen der bedeutsamsten Schriftsteller seiner Zeit und betont die Wichtigkeit der Ironie in Gogol’s Werk.

Die Symbolisten – u. a. Belyj, Brjusov und Rozanov – fokussieren sich hingegen auf die Gogol’sche Darstellungsweise, die sich vor allem durch eine besondere Mimik bzw. Gestik sowie die typische Verwendung der Verneinung auszeichnet, und decken Symbole in Gogol’s Werk auf, hinter denen sich die Welt des Dichters verbirgt. Die Strukturalisten, wie z. B. Ėjchenbaum, beschäftigen sich in erster Linie mit der Struktur literarischer Werke. In seinem Aufsatz über Šinel' stellt Ėjchenbaum das Vorhandensein zweier Stilebenen – die melodramatische bzw. deklamatorische einerseits und den komischen Skaz andererseits – in der Novelle fest, durch die der Autor ein Spiel mit der Realität betrieben habe, in der die logischen und die psychologischen Verbindungen nicht mehr funktionieren. Laut Ėjchenbaum hat Gogol’ eine Welt durch freies Spiel mit der Sprache geschaffen, in der jedes Element grandiose Ausmaße annehmen kann und der Autor eine Art Gott sei. Hinzufügend kann der Standpunkt der Slawophilen – u. a. Aksakovs – angeführt werden, die Gogol’ als einen neuen Homer ansahen, welcher die Wiedergeburt des Epos vertrat. Abschließend kann das Gogol’sche Werk auch aus der religionsphilosophischen Sicht betrachtet werden, 7

deren Hauptvertreter der Literaturwissenschaftler Merežkovskij war. Laut Merežkovskij hat Gogol’ den Kampf zwischen der Menschheit und dem Böse bzw. Teufel dargestellt, wobei diese in seinem Werk von Čičikov und Chlestakov personifiziert worden sind.

Nach 1945 sind drei Standpunkte in der sowjetischen Gogol’interpretation zu bemerken. Wie bereits zuvor erwähnt, herrschen vor den siebziger Jahren ideologiekritische bzw. soziologisch orientierte Bewertungsweisen vor, die die adäquate Darstellung von Klassenkampf und Gesellschaftskritik in der Literatur zum Bewertungsmaßstab nahmen. Literaturwissenschaftler wie Chrapčenko, Ermilov, und Stepanov gehen von einer Interpretation Gogol’s als Realist bzw. als Vorfahre des kritischen Realismus aus und geben als wichtigstes Merkmal der Verbindung Gogol’s mit seiner Zeit an, dass dieser in seinem Werk einen zornigen Protest gegen das sklavische Leben seiner Epoche und gesellschaftliche Ungerechtigkeit geführt habe (vgl. Seidel-Dreffke 1992: 139). Nach den siebziger Jahren verbreiten sich Interpretationen, die Gogol‘ aus anderen Perspektiven analysieren. Literaturwissenschaftler wie Gukovskij und Zolotuskij heben die Religiosität des Autors hervor. Sie sehen die Vybrannye mesta iz perepiski s druzjami als Hauptwerk Gogol’s an und sind der Meinung, dass er eher von moralischem als sozialem Bewusstsein geprägt gewesen sei. Andere Literaturwissenschaftler wie Lotman, Bachtin und Mann legen ihr Augenmerk auf die Poetik Gogol’s. Lotman demonstriert die fundierte Kenntnis von Archivmaterialien, die mit dem Ziel analysiert werden, tatsächlich existierende Prototypen für Kopejkin und Chlestakov herauszufinden und ihre tiefe typologische Verbindung mit der russischen Kultur des 19. Jh. herauszustellen. Mann war hingegen der Auffassung, dass Gogol’s gesamtes Werk darauf gerichtet war, den Teufel zu überwinden. Mann bietet noch viele weitere Theorien an. Ihm zufolge sei Kovalev nicht so sehr Spiegel der Eigenschaften einer bestimmten Klasse, sondern allgemeiner Befindlichkeiten; Revizor ist für ihn ein charakteristisches Beispiel der herausragenden Tendenz Gogol’s zu Verallgemeinerungen; der Hauptgedanke von Šinel’ sei, dass der Tod des kleinen Mannes Mitleid hervorrufe bzw. hervorrufen könne (das Mitleid der Reichen eingeschlossen). Bachtin fokussiert hingegen auf das Gogol’sche Lachen und seine grotesken Konnotationen.

In den vierziger Jahren beginnt die Entdeckung Gogol’s im europäischen und amerikanischen Raum. Die von der Kritik am häufigsten vertretenen Standpunkte sind die psychoanalytischen, die religionsphilosophischen und die strukturalistischen Interpretationen. Der ersten Gruppe können Autoren wie Mc Lean, Rancour-Laferriere, Driessen, Obolensky und Karlinsky zugeordnet werden. All diese Literaturwissenschaftler gehen von der Feststellung einer kontroversen Sexualität bei Gogol’ aus. Šinel’ als das von diesen Literaturwissenschaftlern am meisten analysierte Werk Gogol’s und der Mantel wird als eine Art Geliebte von Akakij angesehen. Das führt zur Aufdeckung angeblich perverser

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Leidenschaften bei Gogol’. Der zweiten gehören hingegen Autoren wie Zenkovskij, Schreier, Holquist, Remizov, Seeman, Busch und Amberg an. Bei ihnen geht die Debatte über die Religiosität Gogol’s um das Wesen ihrer selbst: Während manche der Meinung sind, dass Gogol’ erst nach einem Umbruch zu seinem tiefen Interesse an der Religion gekommen sei, sprechen andere hingegen von einer Entwicklung dieser Religiosität, die schon in seinen ersten Werken zu spüren sei. Diese Autoren untersuchen auch Themen wie die Seele, das Lachen, der Teufel und die Todesproblematik. Der Gruppe der strukturalistischen Interpretationen können viele Literaturwissenschaftler zugeordnet werden, die das Gogol’sche Werk aus anderen Perspektiven analysieren. Erlich, Lindstrom, Woodward und Peace setzen die Symboldeutung als Erkenntisgrundlage für das Gogol’sche Werk und entdecken viele Symbole, die zur Enthüllung der Weltanschauung des Autors beitragen sollten. Ein anderer Autor, der eine große Rolle in der strukturalistischen Interpretation Gogol’s gespielt hat, ist Nabokov. Er analysiert die Musikalität im Gogol’schen Werk, die Symbole und die im Schaffen verborgene Identität des Autors. Unter den deutschsprachigen Strukturalisten, die sich mit Gogol’ beschäftigten, befinden sich Literaturwissenschaftler wie Günther, Kasack und Tschižewskij. Während sich die ersten vor allem mit dem Stil des Autors beschäftigten, Günther mit dem Grotesken und Kasack mit der Personendarstellung, betont Tschižewskij die symbolische Bedeutung, die Religiosität und die Rolle der Seele im Gogol’schen Werk.

Villaggio

Wie in der Einleitung erwähnt, wurde das Werk Villaggios von der Kritik noch nicht ausführlich gewürdigt. Es fehlt sogar eine glaubwürdige Biografie des Autors, da die von demselben Villaggio geschriebene Biografie keine wissenschaftliche Relevanz beanspruchen kann. Darüber hinaus wurden in der Vergangenheit die Werke von Villaggio von der italienischen Kritik immer unterschätzt bzw. als trash bezeichnet. Die in seinem Werk unter grotesken Kunstgriffen verborgene Satire wurde nämlich von der damaligen konservativen Kritik nicht wahrgenommen. Heutzutage hingegen fängt die Kritik an, sich ohne Vorurteile mit seinem Werk zu beschäftigen. Während seinen Filmen bereits einige interessante Arbeiten gewidmet wurden, sind seine literarischen Werke noch ein Thema, das noch nicht in der Fachliteratur behandelt wurde. Die einzigen Nachschlagewerke zu den literarischen Werken Villaggios sind die Arbeiten von Bartezzaghi (2013), die als Vorwort bzw. Appendix des Sammelbandes Fantozzi rag. Ugo, la tragica e definitiva trilogia (2013) erschienen sind und von einer Interpretation Villaggios als Satiriker ausgehen. In Così Fantozzi beschäftigt sich Bartezzaghi mit der für das italienische Publikum kathartischen Funktion der Figur Fantozzi und ihre Auswirkungen auf die heutige italienische Gesellschaft. In Il Fantozzi della lingua italiana (2013) setzt sich Bartezzaghi hingegen mit der Sprache Villaggios auseinander und

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fokussiert sich auf die Bedeutung seiner bekanntesten und am meisten verwendeten Wörter bzw. Redewendungen. Hinzufügend kann die Arbeit Fantozzi, una maschera italiana (2003) von Buratto angeführt werden, der die kinematografische Figur Fantozzi analysiert. Da die ersten drei Bücher Villaggios von ihm selbst auch für die Verfilmung als Drehbücher umgeschrieben wurden, kann festgestellt werden, dass die kinematografische Version von Fantozzi der literarischen entspricht. Daher habe ich mich dafür entschieden, auch das Werk von Buratto zu berücksichtigen. Er analysiert die Figur Fantozzi im Kontext der komplexen politischen, kulturellen und sozialen Lage der italienischen Gesellschaft in den sechziger und siebziger Jahren, hebt ihre sozialkritische Funktion hervor und vergleicht Fantozzi mit anderen bekannten Beamten der Weltliteratur bzw. Kinematografie.

Es gibt aber auch andere Werke zum Thema Fantozzi, die aufgrund ihrer Fokussierung auf andere Aspekte der Interpretation Fantozzis in dieser Arbeit nicht aktiv wahrgenommen werden aber als Beiträge für weitere wissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich verwendet werden können. Das erste sei Fantozzi Kafka: Il ragioniere sotto processo e le sue tragiche metamorfosi (Cagnoni, 2007), in dem der Autor die Verbindung zwischen dem deutschsprachigen Schriftsteller und die Figur Villaggios analysiert. Ein zweites interessantes Werk stellt Fantozzi aveva ragione. Manuale per un management assolutamente catastrofico (De Filippi, 2010) dar, in dem der Autor eine Kritik des Managements anhand von Beispielen aus den Filmen bzw. Büchern von Villaggio formuliert.

Fazit

Durch den Überblick über diese verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten für Gogol’ und Villaggio, erschließt sich, dass einer der möglichen gemeinsamen Interpretationsschlüssel der satirische sein könnte. Beide Autoren können als Satiriker angesehen werden, wobei ihre Gesellschaftskritik über groteske Konnotationen verfügt. Ziel der Masterarbeit ist auch festzustellen, ob der satirische Interpretationsschlüssel für beide Autoren zutreffend ist. Daher wurde nun die Entscheidung getroffen, die im dritten Kapitel durchzuführende Figurenanalyse anhand von den Werken der Literaturwissenschaftler zu unterstützen, die Gogol’ und Villaggio als Satiriker ansehen. Was den russischen Schriftsteller anbelangt, stützt sich die Analyse in erster Linie auf Werke der sowjetischen Literaturwissenschaftler Ermilov, Chrapčenko und Stepanov. Obwohl diese Literaturwissenschaftler unter besonderen Bedingungen zur Zeit der Sowjetunion tätig waren, sieht Seidel-Dreffke ihre Werke immer noch als gültig an, wobei manche Anspielungen auf ihre damalige politische Situation nicht zu berücksichtigen sind (vgl. Seidel-Dreffke 1992: 139). Was den italienischen Autor hingegen betrifft, werden vor allem die Werke von Bartezzaghi und Buratto berücksichtigt.

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1.2 Theoretischer Hintergrund

In diesem Kapitel soll der theoretische Hintergrund zu dieser Masterarbeit begründet werden. Es handelt sich um einen Überblick über die literarischen Formen, die Gogol‘ und Villaggio verwenden und die im Rahmen der Masterarbeit berücksichtigt werden. Diese sind das Groteske und die Satire. Da diese aber in der Forschung dem Komischen zugeordnet werden, wird am Anfang dieses Teils der vorliegenden Masterarbeit auch ein Überblick zu diesem Thema geboten. Schließlich wird noch die groteske Satire als Unterkategorie der Satire analysiert. Die Analyse der jeweiligen literarischen Formen ist zweiteilig aufgebaut. Jeder Teil befasst sich mit einem Aspekt – Geschichte und Wesen – der jeweiligen Kategorie, die hier mithilfe von wichtigen Aufsätzen relevanter Literaturwissenschaftler analysiert und kommentiert werden. Die präsentierten Geschichten der jeweiligen literarischen Kategorien werden in Form einer Übersicht dargestellt, die die wichtigen Etappen ihrer Entwicklung präsentiert. Da die groteske Satire hier nur als Unterkategorie des Grotesken bzw. der Satire angesehen wird, wurde bewusst darauf verzichtet, ihre Geschichte zu behandeln. Was die Geschichte der Satire anbelangt, wurde hingegen die Entscheidung getroffen, diesen Teil nur auf die Analyse der römischen Satire zu beschränken, da sich diese schon damals als literarische Form etabliert hatte, die ähnliche Charakteristiken wie die heutigen aufweist. Die Analyse vom Wesen der jeweiligen literarischen Formen bietet den Lesern einen Exkurs über ihre Merkmale und Wirkungen auf den Rezipienten an.

Es muss aber berücksichtigt werden, dass man bei einer solchen Analyse immer auf das Problem der Subjektivität stößt. Faktoren wie Mentalität, Bildung, Persönlichkeit, Erwartungshorizont eines Individuums, geographische, historische sowie zeitliche als auch psychologische Aspekte spielen nämlich eine wichtige Rolle bei der Rezeption literarischer Werke. Da eine solche Analyse, die all diese Elemente berücksichtigt, den Rahmen dieser Masterarbeit unweigerlich sprengen würde, beschränkt sich dieses Kapitel auf grundsätzliche Aussagen zu wirkästhetischen Komponenten der jeweiligen literarischen Formen sowie auf die Nennung einiger sprachlicher Merkmale und strebt daher keine systematische bzw. detaillierte Analyse an. Dieses Kapitel stützt sich in erster Linie auf die Studien von Elliot, Feinberg, Frye, Günther, Horn, Kreithner, Krziwon, Melville Clark, Sinic und Weinreich.

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1.2.1 Das Komische

Geschichte des Komischen

Das Komische ist eine der ältesten Kategorien der Ästhetik. Es umfasst sehr viele Bereiche der Dichtkunst und hat sich in jeder Kultur vielfältig manifestiert. Es ist daher unmöglich, eine homogene bzw. umfassende Geschichte des Komischen zu schreiben, da es über die Themenstellung der Masterarbeit hinausgehen würde. Deswegen geht es in diesem Teil lediglich um einige Skizzen über das Komische in der Literatur. Als Vorläufer des Komischen bezeichnet Aristoteles den Dichter Hipponax, dessen Werke vor allem eine Satire über die damalige Gesellschaft enthielten. Die satirische Funktion des Komischen spielte eine sehr wichtige Rolle in der lateinischen Literatur, wie im übernächsten Unterkapitel erläutert wird. Im Laufe der Zeit hat sich das Komische auch im Bereich des Phantastischen, wie z. B. bei Autoren wie Apuleius oder Raspe, des philosophischen Romans sowie des Surrealismus des 20. Jh. verbreitet. Nach der russischen Revolution kritisiert Majakovskij die Bürokratie in Klop oder Banja, wobei dieses Thema schon bei Gogol’ mit Revizor und Mertvye duši beginnt und bei Bulgakov mit Sobač’e serdce kulminiert. In Frankreich können u. a. das absurde Theater von Jonesco und Tardieu, einige Werke von Queneau oder Pennac dem Komischen zugeschrieben werden. In Italien ist hingegen eine parodistische Tradition bei Autoren wie Fo oder Benni zu finden. Anzumerken sei noch die Neigung zum Realismus, die schon bei Petronius oder später bei Boccaccio und Chaucer zu spüren sei.

Als essenzielles Phänomen innerhalb der Gesellschaft läuft das Komische jede Art von Literatur durch und schafft spezifische literarische bzw. künstlerische Genres. Es stellt auch ein stilistisches Prinzip dar, das in der Tradition mit der Darstellung des Niedrigen verbunden war. Früher nämlich identifizierte man oft den niedrigen Stil mit dem Komischen. Diesem wurden im Laufe der Geschichte alle sprachlichen Formen zugeschrieben, die mit einer niedrigen, materiellen, körperlichen, vielförmigen und unbestimmten Realität verbunden waren. Das Komische hat höhere Formen aufgegriffen und verdreht, indem es Genre, Stile und Sprachen miteinander vermischte. Dem Komischen, das anfangs meistens im Bereich des Karnevals auftrat, werden nun verschiedene literarische Formen zugeschrieben, in denen sich das Wesen des Komischen bei den Schriftstellern und in ihren Werken zeigt und die insofern als literarische Wesensformen des Komischen bezeichnet werden können. Zu diesen zählt man die Ironie, die Satire, die Parodie, den Scherz, den Witz, den Nonsens, die Karikatur und das Groteske.

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Das Wesen des Komischen

Der Kontrast zwischen ernst und komisch ist ein Teil der Alltäglichkeit und spiegelt zwei verschiedene Aspekte der menschlichen Seele wieder, in der diese entgegengesetzt wirkenden Kräfte einander aufheben sollten. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das Komische (aus dem Griechischen komikós, bezogen auf das Genre der Komödie) als die Darstellung des Lächerlichen auf der kulturellen Ebene sowie die Gesamtheit der Mechanismen, die Lachen erregen und das Lächerliche in Form einer allgemeinen Kommunikation äußern, zu bezeichnen ist. Das Komische sei daher etwas, das man primär im Alltagsleben und alltäglichen Taten und nur sekundär in kulturellen Formen erkennen kann. Das Ernste macht das Leben zu einer mit sich selbst kohärenten Menge, die mit ihren Grundlagen konsequent ist. Das Komische hingegen verdreht die normalen und gewöhnlichen Verhältnisse und verursacht dauernde Kontraste zwischen den Objekten und der Erfahrungssphäre.

Damit das Komische stattfindet, braucht man aber sowohl ein Subjekt bzw. einen Rezipienten, der fähig ist, ein komisches Moment zu schaffen, indem er das Komische genießt, als auch einen Erzeuger bzw. ein Opfer, die das komische Objekt darstellen. Darüber hinaus spielt auch die Funktion des komischen Objekts eine sehr relevante Rolle. Je nachdem, ob das Objekt selbst Erzeuger des Komischen bzw. Opfer ist, kann man nämlich mit ihm oder über ihn lachen und dadurch unterscheiden sich zwei Arten des Komischen. Dieses Thema wurde von vielen berühmten Sprach- und Literaturwissenschaftlern behandelt. Während Horn das Lustige – den Produzenten des Komischen – und das Lächerliche – den ausgelachten, komischen Gegenstand – unterscheidet, bevorzugen andere wie Krziwon (1994: 40) die Termini Überlegenheits- und Unzulänglichkeitskomik.

Um den Rezipienten zum Lachen zu bringen, braucht sowohl das Objekt als auch das Subjekt bestimmte Bedingungen. Innerhalb der objektiven Bedingungen soll aber der zuvor erwähnte Unterschied zwischen dem Lustigen und dem Lächerlichen berücksichtigt werden. Die objektive Bedingung, die ein „Lachen-mit“ bewirkt, ist laut Horn (1988: 118) die Freiheit zum Unnötigen und Unmöglichen. Den objektiven Bedingungen, die hingegen ein „Lachen- über“ bewirken, sind nach Horn (1988: 117) der harmlose Fehler und die harmlose Inkongruenz von Sein und Sollen zuzuordnen. Darüber hinaus seien Plötzlichkeit und Anschaulichkeit Eigenschaften, die sich auf die beiden Gruppen beziehen. Wie bereits erwähnt, ergibt sich aber das Komische aus einer Art Dialektik zwischen Objekt und Subjekt. Das heißt, dass auch die subjektiven Bedingungen hier zu berücksichtigen sind. Unter diesen unterscheidet Horn (1988: 119) zwischen subjektiven Bedingungen formaler und relationaler

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Art und subjektiven Bedingungen inhaltlicher und psychologisch-anthropologischer Art. Die erste Gruppe beinhaltet die Distanz zu dem, worüber gelacht wird, und bestimmte Erwartungen hinsichtlich dessen, was sein soll. Der zweiten sind hingegen Überlegenheitsgefühl, Aufwandersparnis und Scharfsinn zuzuordnen.

1.2.2 Das Groteske

Geschichte des Grotesken

Im Vergleich zum Komischen, Tragischen und weiteren Einstellungen ist das Groteske eine relativ junge Kategorie der Ästhetik. Im 16. Jh. fand das Groteske Eingang in die Kunstwissenschaft und erst im 18. Jh. in die Literaturwissenschaft. Der Begriff grotesk ist aus dem Italienischen entlehnt und stammt aus der Bezeichnung für Höhle bzw. Grotte. In Italien wurden Fresken aus der römischen Zeit am Ende des 15. Jh. gefunden, die die Gesetze der Statik missachteten und pflanzliche und tierische Elemente mit Abbildungen von Menschen vermischten. Diese Ornamentik hatte lediglich eine dekorative und keine darstellende Funktion. Nach Gradmann (1957: 64) bestand die Eigenart dieser grotesken Ornamentik in der willkürlichen Verknüpfung von Gegenständen der gesamten anschaulichen Welt ohne logischen, statischen sowie mechanischen Zusammenhang, deren Bewegtheit und irrationale Handlung im Wechsel von noch Möglichem und Unmöglichem den scharf wirkenden Eindruck eines transitorischen Moments erstreben.

Laut Sinic (2003: 9) hat das Wort grotesk im 16. Jh. schon eine negative Konnotation, sobald klassische Prinzipien wie Realitätstreue normbildend waren, an die sich das Groteske nicht hielt. Das Adjektiv grotesk fing damals an, nicht nur in der Ornamentik, sondern auch in anderen Bereichen verwendet zu werden – wobei am Anfang die Konnotation mit dem Unnatürlichen und Phantastischen dominierte –, wie die Skulptur und Architektur. Das geschah in Frankreich, als der Philosoph Montaigne 1580 in seinen Essays das Groteske zu einem Stillbegriff abstrahierte, indem er – innerhalb einer Parallele zwischen Malerei und Literatur – es auf das Gebiet der Sprachkunst zog.

Im 17. Jh. erhält im Französischen und Deutschen das Wort grotesk die Konnotation des Lächerlichen und damit verblasste seine ursprüngliche Bedeutung. Kreithner (1993: 7) ist der Überzeugung, dass der eigentliche Sinn des Wortes ausgelaugt wurde, sodass grotesk als Synonym von lächerlich, komisch, unnatürlich, seltsam und fratzenhaft gebraucht werden könne. Barasch (1971: 80) begründet diese Begriffserweiterung damit, dass die Karikaturen des Zeichners der Commedia dell’arte Callot, deren Werke sich durch den Zusammenhang

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von außergewöhnlicher Technik und niedrigen sowie lächerlichen Figuren auszeichneten, als grotesk bezeichnet wurden. Hinzufügend kann man den Ansatz von Sinic (2003: 13) anführen, die diese beiden Konnotationsebenen insofern als vereinbar ansieht, als es sich hier jeweils um eine Abweichung von der Norm und dem Ideal handelt.

Erst im 18. Jh. gelang es dem Grotesken, als ästhetische Kategorie prononciertere Konturen zu gewinnen. Kreithner (1993: 7) ist der Auffassung, dass es durch die Popularisierung der Karikatur ermöglicht wurde. Die Karikatur lief nämlich dem damaligen dominierenden Kunstprinzip zuwider (nach dem die Kunst das Ziel habe, Mimesis der schönen, idealen der Natur zu sein), indem diese darauf abzieht, auffällig Unschönes und Disproportioniertes in provozierender Übersteigerung zu illustrieren. Im 18. Jh. wurde der Begriff grotesk weiterhin auf den literarischen Bereich definitiv übertragen, da niedrigkomische Werke, wie z. B. Burlesken und Farcen, mit dem Attribut grotesk immer öfters versehen wurden. Nach Sinic (2003: 15 ff.) waren sich die Literaturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 18. Jh. bei der Bewertung des Grotesken nicht einig. Es gebe nämlich verschiedene Strömungen, wobei eine das Groteske ausschließlich in den Bereichen des Lächerlichen und des Ekeligen angesiedelt sah und es daher negativ bewertete und die zweite Strömung das Groteske hingegen positiv bewertete, da die Menschen durch das Lachen zu sinnvollen Überlegungen gebracht worden seien. Darüber hinaus verstanden die Anhänger dieser letzten Strömung die Wichtigkeit der satirischen Funktion des Grotesken, die zuvor total unterschätzt bzw. nicht wahrgenommen wurde. Dies führte auch zur Betonung der Bedeutungsverlagerung des Grotesken, nämlich weg von der Phantastik und hin zur Komik mit Realitätsbezug und zur Erkenntnis ihrer Fähigkeit, wahre Gefühle erzeugen zu können, indem es den Beigeschmack des Niedrigen verloren habe.

Laut Kayser (1961: 45) fing man zur Zeit des Sturm und Drangs und der Romantik am Ende des 18. Jh. bzw. im 19. an, das Groteske als ästhetische Kategorie zu betrachten. Darüber hinaus wurde der dämonische und unheimliche Charakter des Grotesken erstmals mit der Romantik hervorgehoben. Das dämonische Weltempfinden fand viel Platz in der damaligen Literatur und Autoren wie z. B. E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe machten es weltweit bekannt.

Zusammenfassend konnte man seit dem 19. Jh. insgesamt drei verschiedene Definitionen zu der literarischen Kategorie des Grotesken zählen, die es entweder als Unterart des Komischen oder als besondere Ausprägung der Satire oder als Gestaltungsmittel einer dämonischen Weltansicht betrachteten. Nach Günther (1968: 20) handelt es sich hier nur um einseitige Zuordnungen, die oft aufgrund der Auswahl des Materials entstanden sind und das Groteske in seiner Totalität nicht umfassen. Die Frage nach dem Maßstab für die Beurteilung des Grotesken bleibt daher letztendlich offen. 15

Das Wesen des Grotesken

Nachdem im 19. Jh. die Literaturwissenschaftler anfingen, das Groteske als literarische Kategorie zu betrachten und von der Ornamentik zu trennen, entstanden im 20. Jh. verschiedene Theorien, die die Merkmale des Wesens und der Struktur grotesker literarischer Objekte definierten. Was die Definition des Grotesken angeht, schrieb Günther, nach der Analyse verschiedener Ansätze, dass die beste die von Mensching sei, die er folgendermaßen vervollständigt bzw. kommentierte:

Das Groteske definiert Mensching nun als Wechsel der Darstellungsebenen. Er schreibt über die groteske Struktur: Zwei Aspekte überschneiden sich, zwei Ebenen werden überlagert, der Betrachter findet keinen festen Ort, keinen Blickwinkel, von dem aus das Dargebotene eine sinnvolle Ordnung offenbarte. Das Groteske zeichnet sich durch Zwitterhaftigkeit, Täuschung und Irreführung aus. Jedes Groteske eignet sich für die gebrochene Form. Paradoxie und Unstimmigkeit sind nicht allein zu beobachten, die Vereinigung des Disparaten, ein Grundzug allen grotesken Gestalten, führt nun dann wirklich zur Groteske, wenn zugleich die Vereinigung disparater Darstellungsebenen vorliegt. (Günther 1968: 27)

Diese Definition des Grotesken als Wechsel der Darstellungsebenen ist laut Günther (1968: 34 f.) keine Gattungsbezeichnung. Er weist darauf hin, dass das Groteske tatsächlich keine literarische Kategorie sei, sondern eine literarische Struktur (das Kompositionsgroteske), die sich in zwei Arten unterteilt: das komische Groteske (als Vermischung von komischer und tragischer Darstellungsebene) und das phantastische Groteske (als Vermischung von phantastischer und realistischer Darstellungsebene). Des Weiteren wurden die in der Vergangenheit von der Kritik als gültig geschätzten einseitigen Bestimmungen definitiv fallen gelassen, die das Groteske als Unterart der Komik, der Satire oder des Dämonischen betrachteten. Man fing jedoch an, von den Funktionen des Grotesken in literarischen Werken zu sprechen, die sich auf die zuvor erwähnten Bestimmungen beziehen. Dementsprechend lassen sich auch drei Funktionen unterscheiden: Die spielerische, die satirische und die absurde bzw. dämonische. Infolgedessen kann man sagen, dass das Groteske als literarische Struktur zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden und somit in den Dienst diverser literarischer Kategorien – wie des Komischen, der Satire und des Absurden – treten kann.

Das wichtigste Merkmal des Grotesken ist die Vereinigung heterogener Elemente. Wie zuvor festgestellt, wurde die Vermischung menschlicher, tierischer oder pflanzlicher Elemente als konstitutiv für die groteske Ornamentik angesehen. Folglich sei auch für das Groteske als literarische Kategorie die Vereinigung heterogener Elemente ein essentieller Bestandteil. Diese Vereinigung heterogener Elemente findet man sowohl im Inhalt als auch in der Struktur

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grotesker Werke. Was den ersten Fall angeht, erwähnt Sinic (2003: 57) in der Besprechung der Arbeit von Bachtin über Dostoevskij, dass bei dem russischen Schriftsteller eine Vermischung nicht zu vereinbarender Bereiche – wie z. B. Liebe und Hass, Hohes und Niederes, Atheismus und Glaube, Edelmut und Gemeinheit – beobachtet werden kann, wobei alles an der Grenze seines Gegenteils lebt. Was den zweiten Fall betrifft, schreibt Günther (1969: 22 f.) in Besprechung der Arbeit von Tamarin, dass das Wesen des Grotesken in der Montage disparater Darstellungsebenen liegt. Man spricht von Darstellungsebenen in Bezug auf den Grundcharakter eines Kunstwerkes. Ein Werk kann nämlich auf der Ebene der Realistik, der Phantastik, des Komischen oder Tragischen gestaltet sein. Günther (1969: 23) fügt hinzu, dass die häufigsten Kombinationen Tragik + Komik – Pathos; Grausamkeit + Komik oder Unsinn; Komik + Alogismus oder Phantastik; Entartung des Komischen oder Tragischen sind. Dies ist vielen Literaturwissenschaftlern zufolge der Kern des Grotesken.

Wie im vorangehenden Teil schon festgestellt, wo das Groteske wechselweise mit Phantastik oder Realismus in Verbindung gebracht wurde, ist das Zusammenwirken dieser zwei Elemente ein Merkmal dieser literarischen Kategorie. Im 20. Jh. lassen sich zwei Theorien beobachten, die sich mit dem Zusammenwirken von Realität und Phantastik im Grotesken beschäftigen. Während die eine, die beispielsweise von Kayser und Bachtin vertreten wurde, das Phantastische als essentiellen Bestandteil des Grotesken sah, betonte die andere das Ungewöhnliche und Nichtalltägliche und schränkte dieses nicht auf die Phantastik ein, indem sie eine Vermischung von Realem und Phantastischem als konstitutiv für das Groteske ansah (vgl. Sinic 2003: 35). Hinzufügend kann man den Ansatz von Sinic (2003: 41) aufführen, die es als sinnvoll erachtet, nicht von der Vermischung von Realität und Phantastik, sondern vom Durchbrechen des Erwartungshorizonts zu sprechen.

Das Groteske zeichnet sich auch durch Übertreibungen und Verzerrungen des real Vorgegebenen aus. Daher kann man auch über eine Ähnlichkeit mit der Karikatur sprechen, die auch von den meisten Literaturwissenschaftlern schon bemerkt wurde. Sinic (2003: 65) stellt aber fest, „dass die Verzerrung so weit geht oder derartige Bereiche betreffen muss, dass der Leser verunsichert wird, damit auch das Element des Grauens auftreten kann. [...] Der Leser muss sich durch die Verzerrung betroffen fühlen, was am wahrscheinlichsten ist, wenn Allgemeinmenschliches, wie eben Normen, Werte oder Ordnungsschemata, verzerrt werden“. Noch einmal wird hier der Bezug zur Realität bei grotesken Objekten betont. Ohne diesen Bezug könne das Allgemeinmenschliche nicht verzerrt werden und dadurch keine Verunsicherung im Leser entstehen.

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Als weiteres Merkmal des Grotesken wird oft der Widersinn angeführt, wobei darunter meistens eine Abweichung von der herkömmlichen Kausalität gemeint ist. Durch das Groteske könne man nämlich die Logik ignorieren und Paradoxien der Realität aufdecken. Sinic (2003: 65 f.) analysiert diesbezüglich die Meinungen verschiedener wichtiger Literaturwissenschaftler und stellt fest, dass das Groteske der Vernunft und der Logik widerspreche, indem es den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zerstört, ohne aber deswegen auf anderer Ebene unlogisch sein zu müssen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Groteske allgemeinmenschliche Ordnungen und Normen in der Literatur ignoriert. Die zuvor aufgelisteten Merkmale (die Vereinigung heterogener Elemente, das Zusammenwirken von Realem und Phantastischem, Übertreibungen, Verzerrungen und Widersinn) zerstören die Normen und Kategorien, die die Menschen normalerweise im Laufe des Lebens verwenden. Besonders interessant ist das erste hier eingeführte Merkmal des Grotesken, und zwar die Vereinigung heterogener Elemente auf den Darstellungsebenen.

Wie zuvor festgestellt, charakterisieren sich groteske Objekte hauptsächlich durch das gleichzeitige Vorhandensein zweier Ebenen, wobei die häufigsten Kombinationen Komik + Tragik und Komik + Grausamkeit sind. Die zwei Ebenen erzeugen daher bei den Rezipienten zwiespältige Gefühle, wobei das Entsetzen (angesichts des Grauenvollen) dem Lachen über das Komische widerspricht. Das Lachen wirkt deshalb nicht frei und ungezwungen wie bei einer komischen Darstellung, sondern gekünstelt, unfrei und hysterisch. Nach dieser Feststellung entsteht die Frage, ob das Lachen über das Groteske positiv oder eher negativ ist. In Betrachtung der Arbeiten von Kayser und Bachtin schreibt Sinic (2003: 71), dass diese Literaturwissenschaftler zwei verschiedene Meinungen vertreten: Während Kayser der Meinung war, dass das Lachen über das Groteske spöttische, zynische und sogar satanische Züge habe, geht es bei Bachtin um ein positives, lebensbejahendes Lachen, das aber auch kritische Aspekte mit sich führe. Die beiden sind sich aber darin einig, dass eine Verquickung von positiven und negativen Gefühlsmomenten besteht. Hinzufügend kann man auch die Meinung von Kreithner (1993: 37 f.) anführen. Sie betont vor allem, dass das Lachen über das Groteske Elemente eines primitiven, unbewussten, sadistischen Vergnügens am Grausamen birgt und Ausdruck der Genugtuung, einer Lust an der Vernichtung und von Schadenfreude ist.

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1.2.3 Die Satire

Die Geschichte der Satire

Die literarischen Gattungsbezeichnungen, die heutzutage immer noch verwendet werden, stammen überwiegend aus der altgriechischen Sprache. Diese Gattungen hat die hellenistische Kultur als erste entwickelt und kodifiziert. Da die Römer viel von der hellenistischen Kultur übernommen haben, sind diese Worte in die lateinische Sprache übergegangen und die Gattungen wurden in die lokale Kultur eingefügt und dort weiterentwickelt. Eines dieser Wörter ist aber lateinischen Ursprungs und bezeichnet daher die einzige literarische Gattung, die ausschließlich aus der römischen Kultur stammt: Die Satire. Diesbezüglich seien die berühmten Worte des Rhetors Quintilian (30-96 n. Chr.) sehr bedeutungsvoll, der nämlich „satura quidem tota nostra est“ schrieb. Der alte Name dieser Gattung war Satura; dann in der späteren Kaiserzeit trat – unter Einwirkung einer antiken literarhistorischen Konstruktion, welche die Satura mit dem Satyrspiel der Griechen in Bezug setzte und ihren Name als Satyra deutete (wobei man das griechische y gern durch i ersetzte) – die Wortform Satira und das Adjektiv satiricus auf die Bildfläche (vgl. Weinreich 1975:16). Was die Etymologie des Wortes betrifft, sind sich heutzutage die Literatur- und Sprachwissenschaftler einig, die Herkunft aus dem Lateinischen zu erkennen. Das Wort Satire wird dennoch auf den lateinischen Begriff Satura bzw. Satura Lanx zurückgeführt. Weinreich (1975:19) unterscheidet drei mögliche ursprüngliche Bedeutungen dieses Wortes. Ihm zufolge, könnte es primär eine Schüssel bezeichnet haben, die im Kult der Alten den Göttern aufgetragen wurde und nach der Menge und Fülle des Inhalts Satura benannt war, wobei das Adjektiv satur ins Deutsche als sat übersetzt werden könnte. Die zweite von ihm vorgeschlagene ursprüngliche Bedeutung bezieht sich auf eine Art aus vielen Ingredienzien zusammengestopftem Füllsel bzw. Pastete. Drittens sei die Satire nach der Lex Satura benannt, die in einem einzigen Antrag mehrere Einzelmaterien umfasste.

Um 200 v. Chr. wird Satura zum ersten Mal als Bezeichnung literarischer Werke verwendet und bezog sich auf eine Sammlung von Gedichten des Dichters Ennius mit unterschiedlichen Inhalten, Themen, Metren und ohne spezifische satirische Form im aktuellen Sinne. Erst um 130 v. Chr. wird Satura als Bezeichnung für Spott- und Rügegedichte verwendet, als die Verse des römischen Autors Lucilius bekannt worden. Diese zeichnen sich durch einen niedrigen Stil, eine lockere Hexameterform und die Konfrontation mit den damaligen Lastern und Fehlern der Gesellschaft aus. Danach verbreitete sich die Satire weiter in die Literatur und fand in Horaz (65-8 v. Chr.) und Juvenal (60 -127 n. Chr.) seine bedeutendsten Vertreter. Ersterer setzte sich in seinen durch einen heiter-ironischen Stil gekennzeichneten berühmten Sermones mit den Schwächen und Dummheiten der Menschen auseinander, während der 19

Letztere in seinen Saturae eine gnadenlose, im Gegensatz zu Horaz pessimistische, aber sprachlich und stilistisch oft brillante Kritik an verschiedenen Gesellschaftszuständen führte.

Das Wesen der Satire

Die Frage über eine mögliche Definition der Satire scheint heutzutage immer noch kompliziert. Die Literaturwissenschaftler sind sich nämlich nicht darin einig, eine allgemeingültige Definition zu geben. Wie im vorherigen Unterkapitel schon erläutert, wurde dieses Problem bei den Römern folgendermaßen gelöst. Laut Quintilian war die Satire ein von Lucilius ausgedachtes Genre, das meistens in Hexametern, über die Fehler der Gesellschaft und mit dem typischen Ton von Lucilius und Horaz geschrieben worden war. Nach der Zeit von Quintilian wurden aber auch Werke als satirisch bezeichnet, die lediglich einen satirischen Ton und keine satirische Form – im damaligen Sinne – aufwiesen. Das führte dazu, eine Dichotomie in der Bedeutung des Wortes Satire zu konstatieren: Zum einen verstand man unter diesem Wort eine literarische Gattung, zum anderen einen Ton oder einen Stil (vgl. Elliot 1975: 66). Heutzutage, über 2000 Jahren nach der Zeit von Lucilius kann man feststellen, dass sich die Satire vielfältig entwickelt hat. Einerseits ist nun die traditionelle Form der Satire im Hexameter nicht mehr aktuell, andererseits hat der sogenannte satirische Ton im Laufe der Zeit floriert, sodass er in verschiedenen Formen gefunden werden kann: Beispielsweise in einer Gogol’schen Erzählung, in einem Theaterstück von Shaw und in einem Gedicht von Trilussa. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass dieser Ton in der Literatur und Folklore aller Leute, früh und spät, unbelesen und zivilisiert, immer vorhanden war (vgl. Elliot 1975: 68).

Was die Definition der Satire angeht, muss ihre vielfältige Entwicklung berücksichtig werden. Das hat viele renommierte Literaturwissenschaftler, wie z. B. Elliot und Feinberg dazu geleitet, die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Definition der Satire zu fassen. Daher wird in diesem Unterkapitel bewusst darauf verzichtet, diese Frage aufzuwerfen, da es den Rahmen der Masterarbeit unweigerlich überschreiten würde. In diesem Unterkapitel wird der Versuch unternommen, die Eigenschaften des sogenannten satirischen Tons aufzulisten. Dieses Thema wurde von verschiedenen Literaturwissenschaftlern schöpferisch verarbeitet, zu denen sich sicherlich Frye zählen lässt. In seiner Arbeit über das Wesen der Satire (1975: 109 ff.) geht er davon aus, dass der satirische Ton aus zwei Elementen besteht: Zum einen aus dem Humor oder Witz, zum anderen einem zu attackierenden Objekt. Darüber hinaus lag dem satirischen Ton eine balancierte Mischung dieser Elemente zugrunde. Frye fügt noch hinzu, dass sowohl der Angriff als auch der Humor von bestimmten sozialen Vereinbarungen abhängen würden, die von den Satirikern für gültig erklärt werden. Um den Angriff effektiver zu machen, sollte der Satiriker eine unpersönliche Ebene erreichen, die ihm einen moralischen Standard verleiht, sodass sein Ton, und dementsprechend auch die Satire, die 20

Verteidigung eines moralischen Prinzips impliziert. Laut Frye (1975: 111) sei der Satiriker demzufolge „a prophet sent to lash the vices and follies of the time", wobei sich seine moralischen Angriffe durch Heiterkeit und Exuberanz charakterisieren lassen. Diese zwei Eigenschaften tragen dennoch dazu bei, dem satirisch-moralischen Angriff eine absurde bzw. groteske Nuance zu verleihen. Anhand dieser Analyse gewinnt man schließlich die Ansicht, dass sich der Satiriker durch seine moralischen Angriffe als konservativ erweist.

Was die Wirkung der Satire auf den Rezipienten betrifft, lassen sich in erster Linie zwei Phänomene konstatieren. Wie zuvor beobachtet, greift der satirische Angriff auf soziale Vereinbarungen und auf die Moral zurück. Demzufolge sei das Ziel des Satirikers, eine negative Situation oder Verhaltensweise an den Tag zu bringen bzw. zu tadeln. Analog dazu sollte die Satire bei den Rezipienten divergierende Gefühle wie Empörung oder Wut einerseits und Heiterkeit andererseits erwecken. Diese Emotionen entstehen aber nicht gleichzeitig, sondern separat: Der Satiriker strebt nämlich an, die Rezipienten über moralisch ungerechte Situationen zum Lachen zu bringen, die danach als solche anerkannt werden und daher Empörung verursachen. Die komischen Elemente der Satire haben demnach eine relevante soziale Funktion. In seinem Aufsatz über die Satire weist Melville Clark (1975: 131) jedoch darauf hin, dass „the general purpose of satire is not to cure anything or reform anybody, but to give to the reader a kind of astringent pleasure like an acid drop or a dash of bitters“. Er begründet seine Behauptung, indem er auf die von der Psychoanalyse bestätigte Tatsache zurückgreift, die besagt, dass es in jedem Menschen eine Art Tücke gibt. Dieses Gefühl sei aber von der Kultur und der Moral sowie der Religion zu dämpfen, da es als barbarisch und asozial betrachtet wird.

Davon ausgehend sei die Satire in diesem Sinne ein von der Gesellschaft toleriertes Moment, in dem man diese Lust auf Tücken frönen lassen könne. Die satirische Darstellung übt daher eine kathartische Funktion auf den Rezipienten und auch den Satiriker aus, die zur Reinigung von negativen Gefühlen beiträgt. Die daraus entstehende Befriedigung sei aber für den Satiriker unmittelbar und besonders für die Aufnehmenden indirekt und allgemein.

1.2.4 Die groteske Satire

Das Wesen der grotesken Satire

Die Beziehung zwischen Satire und Groteske ist kein einfaches Thema. Die Satire und das Groteske sind Typen des Komischen, die in verschiedenen Bereichen dieses vielfältigen Literaturgebiets angesiedelt sind und die daher miteinander in Beziehung stehen. Mithilfe

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einiger wichtiger Ansätze von Sinic und Kreithner wird in diesem Teil versucht, die Konturen dieser Beziehung besser zu definieren.

Wie in der Begriffsgeschichte des Grotesken schon zu sehen war, wurde es seit dem 19. Jh. u. a. als Unterordnung der Satire betrachtet. Diese These wurde von wichtigen Literaturwissenschaftlern, wie z. B. Schneegans und der Mehrheit der sowjetischen Literaturwissenschaftler unterstützt. In seinem Werk über das Groteske bei Gogol’ gibt Günther der sowjetischen Kritik besonders viel Raum und unterscheidet verschiedene Tendenzen: Zum einen hielten manche die Satire und das Groteske für identisch oder gestanden dem Grotesken einen Eigenbereich innerhalb der Satire zu (1968: 13). Zum anderen vertraten Persönlichkeiten wie Mann die Meinung, dass das Groteske einen größeren Grad an Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit hatte, ohne aber dabei der Satire untergeordnet zu sein (1968:15). Im Teil über die Struktur grotesker Werke wurde schon erwähnt, wie diese Ansätze von der modernen Kritik bestritten und durch neue Theorien ersetzt wurden. Unter dem Grotesken versteht man nun keine je nach Wirkung auf den Rezipienten untergeordnete literarische Kategorie, sondern eine literarische Struktur, die je nach Funktion in den Dienst verschiedener literarischer Kategorien treten kann. Besonders interessant ist dabei die satirische Funktion des Grotesken.

Parallel dazu sollte man aber auch die Perspektive von der Seite der Satire berücksichtigen. Im Teil über die Begriffsgeschichte der Satire war schon zu sehen, wie sich diese literarische Gattung im Laufe der Zeit vielfältig entwickelt hat. Daher scheint es dem Literaturwissenschaftler besonders kompliziert, eine allgemeingültige Definition für die Satire festzulegen. Darüber hinaus wurde im Teil über die Struktur satirischer Werke auch festgestellt, dass sich satirische Objekte durch das gleichzeitige Vorhandensein zweier Elemente charakterisieren: Zum einen der Humor, zum anderen ein zu attackierendes Objekt. Demzufolge erscheinen die satirischen Angriffe den Rezipienten eher als lustig und es entsteht aus diesem Kontrast eine Diskrepanz, die dem satirischen Angriff eine groteske Nuance verleiht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine groteske Gestaltung auf die satirische Funktion ausgerichtet sein kann oder groteske Elemente in satirischen Werken zur Erzeugung des gewünschten Tenors beitragen können. Was die Frage nach der Beziehung zwischen dem Grotesken und der Satire betrifft, wird sie von den letzteren Theorien grundsätzlich als ein Verhältnis zwischen Mittel und Zweck angesehen, da das Groteske das bevorzugte Mittel der modernen Satire sei (vgl. Sinic 2003: 123). Kreithner (1993:50) beschreibt ganz präzise die Beziehung zwischen dem Grotesken und der Satire. Sie beginnt ihre Analyse, indem sie konstatiert, dass die Eigenschaften des Grotesken – die Darstellung der Welt in verzerrender Verfremdung, die Vermischung kontradiktorischer Bereiche sowie 22

des Realen und des Phantastischen, das Suggerieren der alternierenden Variation von Spaß und Ernst – als besonders geeignet für die Enthüllung, vonseiten der Satire, negativer gesellschaftlicher Phänomene erscheinen. Darüber hinaus merkt sie an, dass das Groteske formale Mittel zur Gestaltung paradoxer Situationen und spannende Vorgänge beisteuert und das jeweilige Objekt der Satire in Verzerrung und Verfremdung darstellt, sodass das Groteske einen ersten positiven Ansatz zur Bewusstseinsbildung und in der weiteren Konsequenz zur Überwindung der Missstände schaffen kann.

1.3 Theorie der Figurenanalyse

In den literarischen Werken sind Figuren die Elemente, die die Rezipienten am meisten mitreißen und daher länger in Erinnerung bleiben. Manche Schriftsteller stellen sogar eine oder mehrere Figuren wie z. B. Sherlock Holmes oder Pepe Carvalho in den Mittelpunkt einer Reihe von Büchern bzw. Erzählungen. Andere Figuren sind hingegen so tief ins Alltagsleben und dann in die Alltagssprache eingedrungen, dass Adjektive oder Substantive aus ihren Namen gebildet wurden wie z. B. „hamletisch“ oder „Donquixoterie“, die sich auf eine bestimmte Eigenschaft oder Tat einer realen Person beziehen. Dennoch wird von Literaturwissenschaftlern wie Jannidis (2004: 1) festgestellt, dass die Literaturwissenschaft dieser gewichtigen Rolle der Figuren bislang kaum gerecht geworden ist.

Da diese Masterarbeit in erster Linie von literarischen Figuren handelt, besteht die Notwendigkeit, dem Thema ein Unterkapitel zu widmen, das einerseits die theoretischen Grundlagen zur Figurenanalyse im Allgemeinen behandelt und andererseits die Vorgehensweise der in der vorliegenden Arbeit durchgeführten Analyse wissenschaftlich rechtfertigt. Die Figurenanalyse wird hier in drei Teile gegliedert. Jeder von ihnen befasst sich mit einem wichtigen Aspekt der Figurenanalyse: Figurenverständisse, Figurenkonzeptionen und Figurencharakterisierungen. Im Teil über die Figurenverständisse werden die wichtigsten Ansätze zur Figurenauffassung des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jh. präsentiert und chronologisch geordnet. Im darauffolgenden Teil sollen einige wichtige Stationen der internationalen Diskussion zur Kategorisierung der Figuren rekonstruiert werden, die die interessantesten Modelle zur praktischen Analyse von Figuren per se bzw. in anderen Zusammenhängen anbieten. Im letzten Teil werden hingegen einige formale Techniken der Informationsvergabe präsentiert, mit deren Hilfe die Figuren dargestellt werden. Anschließend wird ein Fazit geboten, in dem die Vorgehensweise der im nächsten Kapitel durchgeführten Analyse, angesichts dieses Überblicks, erklärt wird. Dieses

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Unterkapitel stützt sich in erster Linie auf die Werke von Bachorz, Jannidis, Lahn und Meister, Pfister.

1.3.1 Figurenverständisse

Im diesem Teil der vorliegenden Masterarbeit werden die wichtigsten Ansätze zur Figurenauffassung analysiert und chronologisch geordnet. Es wird nun den Versuch unternommen, zu beantworten, was eine Figur ist.

Mimetische Ansätze

Unter mimetischen Ansätzen versteht man das psychologisierende, über den Text hinaus spekulierende Analysieren von Figuren, die die Literatur als Nachahmung der realen Welt auffassen und nach außertextuellen Grundsätzen beurteilen (Bachorz 2004: 53). Für manche Literaturwissenschaftler bestand nämlich das wichtigste Grundprinzip des Textverstehens darin, die Figuren zu psychologisch realen Personen zu ergänzen. Laut Lahn und Meister (2008: 232 f.) wird das Verhalten von Figuren in diesem Fall psychologisch oder psychoanalytisch analysiert und ihnen wurden dabei nicht notwendigerweise angemessene Modelle (Ödipus-Komplex, C.G. Jungs Archetypen etc.) aufgedrückt. Bis ins späte 20. Jh. waren die mimetischen Ansätze von Literaturwissenschaftlern ohnehin primär vertreten.

Heutzutage sind sich die meisten Literaturwissenschaftler einig, diese Ansätze als überholt zu definieren. Nach Lahn und Meister (2008: 233) gelangt man dadurch zu einem falschen Verständnis des literarischen Werkes, weil Figuren eben keine realen Menschen sind. Es ergibt daher wenig Sinn eine psychologische oder psychoanalytische Analyse der Figuren durchzuführen. Allerdings hebt Bachorz (2004: 53) hervor, dass eine solche spekulative, methodisch anfechtbare Interpretation eine notwendige Grundvoraussetzung des Lesens ist. Das Ansehen von Figuren als anthropomorphe Vorstellungen ist nämlich ein normaler Prozess, der beim Lesen automatisch erzeugt wird.

Strukturalistische Ansätze

Im Vergleich zu der oben genannten Position steht bei den strukturalistischen Ansätzen nicht mehr der Inhalt, sondern die Struktur des literarischen Werkes im Mittelpunkt. Die Struktur bzw. die Gesamterzählung werden nun als übergeordneter Forschungsgegenstand betrachtet. Die Strukturalisten gehen davon aus, dass die Bedeutung des Werkes auf seinem eigenen System beruht, und dass der Text als Zeichensystem seine eigene Bedeutung konstituiert und sich auf wenige funktionale Elemente reduzieren lässt (Bachorz 2004: 53 f.).

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Es wird nun darauf verzichtet, die Figuren als autonome und real existierende Personen anzusehen. Innerhalb von diesem System haben Figuren daher lediglich eine untergeordnete Rolle und lassen sich als funktional betrachten. Was die Figurenanalyse angeht, bieten die Strukturalisten Modelle an, die auf grammatische Systeme zurückgreifen und, analog zu diesen, beispielsweise das Vorhandensein eines Subjekts und eines Objekts in der Handlung vorsehen. Eines der bekanntesten Modelle ist das von Greimas, in dem die Figuren anhand ihrer Funktionen bzw. Aktanten in der Handlung klassifiziert werden.

Während das Modell von Greimas den strukturalistischen Ansätzen, die die Figuren als Oberflächenerscheinungen der Sujetfunktionen betrachten, zugeschrieben werden kann, gibt es auch solche, die andere Aspekte der Figuren wahrnehmen. Beispielsweise integriert Lotmans Modell den von Literaturwissenschaftlern wie Greimas vertretenen Standpunkt mit der Position anderer Strukturalisten, die Figuren als Merkmalsbündel ansehen (Jannidis 2004: 154 f.). Laut Lotman (1972: 356) ist der Charakter der Figuren ein Satz von Differentialmerkmalen, da er sich aus der Summe aller im Text gegebenen binären Oppositionen und der Gesamtheit ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen anderer Figuren ergibt. Jannidis (2004: 156 f.) weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass diese Gesamtmenge der Figur zugeschriebener Merkmale sowohl eine externe als auch eine interne Struktur hat. Während sich die externe Struktur mittels Parallel- und Kontrastrelationen ergibt, ist die interne in Form eines kulturellen Codes des Autors vorhanden. Also wird die Figur von Lotman als Merkmalsbündel betrachtet, wobei diese Merkmale „ein Paradigma bilden, das gleichzeitig intern nach dem kulturellen Code des Autors strukturiert ist, und extern zu parallelen und kontrastierenden Beziehungen zu sämtlichen anderen Merkmalen aller Figuren des Textes“ (Jannidis 2004: 157).

Poststrukturalistische Ansätze

Sowohl der für die mimetischen Ansätze typische Bezug auf außerliterarische Größen, der schon bei einigen strukturalistischen Analysen kritisiert wurde, als auch die Auffassung, dass die Figur lediglich als Handlungsfunktion betrachtet werden kann, wurde später in poststrukturalistischen Arbeiten noch schärfer angegriffen bzw. überwunden. Der französische Literaturwissenschaftler Barthes stellt beispielsweise fest, dass die Figur ein unpersönliches Netz von Symbolen ist, das unter einem Eigennamen gehandhabt wird, wobei diese Symbole – oder auch Seme, wie der Literaturwissenschaftler diese nennt – größtenteils nichts anderes als psychische Merkmale der Figur sind (Jannidis 2004: 158 f.). Im Vergleich zu Lotmans Modell werden die Merkmale allerdings nicht durch Parallel- und Kontrastrelationen aus dem Text abgeleitet. Jannidis (2004: 159) widmet einen Teil seiner Arbeit der Analyse von Barthes: Er konstatiert, dass die Ermittlung dieser Seme einerseits ein wörtliches Übertragen von der Ebene des Textes auf die der Seme ist, was bedeutet, 25

dass diese Merkmale der Figur schon explizit im Text stehen. Im Falle indirekter Charakterisierungen wird andererseits eine hermeneutische Operation zur Ableitung der Seme vom Text benötigt, die folgendermaßen schematisiert werden kann: Erstens wird das Gemeinsame in den verschiedenen einzelnen Handlungen gesucht; zweitens wird daraus auf ein psychisches Merkmal geschlossen. Im Vergleich zur mimetischen Auffassung der Figur führt die Analyse von Barthes nicht dazu, die Figuren zu psychologisch realen Personen zu ergänzen. Obwohl er auch von psychologischen Merkmalen spricht, sind nun diese lediglich auf Elemente innerhalb des Textes zurückzuführen, ohne die Figur nach außertextuellen Grundsätzen zu beurteilen. Damit wird bewiesen, dass das Modell von Barthes die Überholung der mimetischen Auffassung der Figur impliziert. In seinem Aufsatz über Barthes weist Jannidis (2004: 160) noch darauf hin, dass sich der französische Literaturwissenschaftler auch von der strukturalistischen Auffassung der Figur als Handlungsfunktion distanziert. Barthes sei nämlich der Meinung, dass die Motivierung der Handlung mit der der Figuren in Beziehung steht. Das Handeln der Figuren sei nicht nur von der Struktur der Handlung bestimmt, sondern auch von der Motivation der Figuren, die ihr Handeln gewissermaßen determinieren kann. Dieser Aspekt soll auch bei der Analyse der Verhältnisse zwischen Handlung und Figuren berücksichtigt werden.

Diese neue poststrukturalistische Auffassung der Figur wird vom Literaturwissenschaftler Chatman folgendermaßen erweitert: Er legt die Unterscheidung von discours – der Art und Weise der Darstellung einer Geschichte – und histoire – der chronologischen Aufzählung aller Inhalte einer Geschichte – seinen Ausführungen zugrunde und modifiziert damit das Modell von Barthes, indem er die Darstellung auf die histoire bezieht und nicht auf die semantische Struktur (Jannidis 2004: 160 f.). Analog zu Barthes basiert bei ihm die Figurenanalyse auf der Merkmalanalyse. Diese Merkmale greifen immer noch auf psychischen Eigenschaften zurück, werden aber nicht mehr als Seme bezeichnet, sondern als traits. Dieser Wandel impliziert eine Distanzierung sowohl von der strukturalistischen als auch von der Barthesschen Auffassung der Figur.

Theorie der fiktionalen Welten

Zwischen den achtziger und den neunziger Jahren verbreitet sich in der Literaturwissenschaft eine neue Auffassung von der Figur. Literaturwissenschaftler wie Margolin und Doležel sind nun der Meinung, dass die Figuren weder als bloße textuelle Bezüge noch als direkte Wiedergabe von realen Personen angesehen werden können. Diese neue Auffassung betrachtet hingegen die Figuren als menschenähnliche Wesen, die durch sprachliche Referenzen erschaffen werden und in einer fiktionalen literarischen Welt leben (Lahn und Meister 2008: 235). Laut Jannidis (2004: 172) besteht der Vorteil dieses Ansatzes darin, „dass er zwischen den sprachlichen Referenzen auf die Figur und der Figur selbst 26

unterscheiden kann, ohne aber die Figur gleich zu einer lebensweltlichen Person zu machen“. Die Figuren werden nicht mehr mit ihrer sprachlichen Referenz gleichgesetzt, nun hingegen seien sie denkbare Personen, die in einer fiktionalen Welt leben, deren Regeln bzw. Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um dort bestehen und zusammenwirken zu können.

Laut Lahn und Meister (2008: 235) ist die ontologische Homogenität die Voraussetzung dafür. Sie erklären diesen Begriff anhand des Umgangs von Kindern mit Spielen und nehmen die Figuren von Harry Potter, Batman, Superman und Spiderman als Beispiel. Kinder führen meistens in den Spielen Figuren zusammen, die aus vergleichbaren Erzählwelten stammen, ähnliche Anliegen verfolgen und sich durch ähnliche Charakteristika auszeichnen, wie Batman, Superman und Spiderman. Harry Potter würde hingegen in dieses Spiel nicht aufgenommen werden. Obwohl er ebenfalls gegen das Böse kämpft und übernatürliche Fähigkeiten besitzt, gehört er einer anderen Erzählwelt an, die der Welt der anderen Figuren gegenüber ontologisch zu verschieden ist.

Was das Verhältnis von Figuren und Realität anbelangt, muss berücksichtigt werden, dass die Figuren von den Regeln der Erzählwelt bestimmt werden. Der Text erschafft durch performative Sprechakte lediglich nichtwirkliche Personen, die in einer nichtwirklichen Welt leben, die den Regeln der realen Welt nicht folgt, weil sie eher fiktional ist. Des Weiteren definieren Lahn und Meister (2008: 236) die Lebensweise der Figuren folgendermaßen: „Figuren werden als Existenzen jenseits von Sprache erachtet, treten aber nur durch Sprache in Erscheinung”.

Figuren als mentale Modelle (die kognitive Wende)

In den neunziger Jahren ist die sogenannte kognitive Wende in der Erzähltheorie zu beobachten. Diese greift auf die Studien der kognitionswissenschaftlichen Leserforschung zurück, die eine stärkere Berücksichtigung der Rezeption vonseiten der Leser forderte und das sogenannte Konzept des mentalen Modells der Figuren und Situationen formulierte. Genauso wie bei der Theorie der fiktionalen Welten postulieren die Exponenten dieser neuen Richtung, dass die Figur eine mentale Repräsentation ist, die in einer narrativen Kommunikation gebildet wird. Nach Jannidis (2004: 179) analysiert dieses Modell nun in erster Linie die Informationsverarbeitungsprozesse der Leser und wird aus dem Text aufgrund der im Text gegebenen Informationen und des Weltwissens des Lesers konstituiert.

Als eines der wichtigsten Modelle dieser Strömung kann das von Schneider angesehen werden, da es die Informationsverarbeitungen des Lesers sehr präzise abbildet. Jannidis (2004: 181 f.) analysiert die drei idealtypischen Formen von Schneiders Modells und skizziert sie folgendermaßen: 27

 Kategorisierung: Zuordnung der Figur zu einer bekannten literarischen oder sozialen Kategorie. Die Kategorisierung ermöglicht dem Leser, starre Erwartungen an eine Figur zu richten und nachher das geschilderte Verhalten auf Grundlage dieser Einschätzungen zu erklären. Die Kategorisierung beruht auf sogenannten top-down- Prozessen in der Informationsverarbeitung des Rezipienten. Durch einen Hinweis im Text wird Wissen abgerufen, das seine weitere Wahrnehmung der Figur organisiert und Erwartungen aufbaut.  Individualisierung: Entkategorisierung der Figur. Das geschieht, wenn die Figuren den aus der anfänglichen Kategorisierung abgeleiteten Erwartungen nicht entsprechen. Anfänglich muss das Modell in diesem Fall nicht nur um weitere Informationen ergänzt, sondern in Teilen modifiziert werden. Diese Prozesse stellen die Kategorisierung in Frage und erlauben die Entkategorisierung der Figur.  Personalisierung: Speicherung der im Text gegebenen Informationen zu einer Figur als einzelne Merkmale. Das geschieht, wenn die Mängel an Hinweisen über eine Figur eine Kategorisierung nicht ermöglichen.

Basistypus

In den letzten Jahren hat sich eine neue Strömung in der Erzähltheorie verbreitet, die einen genaueren Blick auf die Struktur der Figur als mentale Repräsentation wirft. Es wird nun auf die Studien der Alltagspsychologie zurückgegriffen, die einen kognitiven Kern beschreiben, der allen menschlichen Erklärungen und Wahrnehmungen anderer Menschen zugrunde liegt, wobei er in jeder Kultur mit verschiedenen Inhalten gefüllt und immer in zahlreiche weitere Regelmäßigkeitsannahmen eingebettet wird (Jannidis 2004: 192). Laut diesen Studien nehmen Menschen „andere Menschen zwar als Entitäten in der psychischen Welt wahr, schreiben ihnen aber prinzipiell andere Eigenschaften zu als Objekten und erklären ihr Verhalten auch anders” (Jannidis 2004: 192).

Darüber hinaus bietet diese Disziplin ein Erklärungsmodell an, das auch den Literaturwissenschaftlern dabei helfen kann, die Theorie der fiktionalen Welten mit einigen Überlegungen über die Struktur der Figur als mentale Repräsentation zu komplementieren. Analog zu der oben genannten Personenwahrnehmung werden nun die Figuren von den Lesern wahrgenommen, denen Informationen zugeschrieben werden. Diese Informationen in der mentalen Repräsentation der Figur verfügen nun über eine basale Struktur: den sogenannten Basistypus.

In seinem Aufsatz über den Basistypus weist Jannidis (2004: 193 f.) darauf hin, dass er sowohl über eine Außen- als auch über eine Innenseite verfügt, wobei der ersten die Körperlichkeit der Figur und der zweiten mentale Zustände, Wünsche, Überzeugungen,

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Intentionen und Emotionen zugeschrieben werden können. Während die Außenseite den Lesern ermöglicht, sich die Figur vorzustellen und ihr eine Position im Raum der narrativen Welt zu geben, bietet die Innenseite die Gelegenheit, die mentalen Zustände der Figur durch die Begriffe der jeweiligen Sprache zu definieren bzw. zu analysieren (Jannidis 2004: 194).

1.3.2 Figurenkonzeptionen

Unter Figurenkonzeption versteht man das anthropologische Modell, welches der Figur zugrunde liegt, und die Konventionen seiner Fiktionalisierung (vgl. Pfister 1977: 240). Es handelt sich also um eine Kategorisierung bzw. Typologisierung der Figuren. Dieses Modell wird im Text durch performative Sprechakte erzeugt, von denen die Komplexität der Figur abhängt. Der Literaturwissenschaftler Foster unterscheidet nämlich zwischen runden und flachen Figuren. Unter flachen versteht man Figuren, die in ihrer reinsten Form eine einzige Idee oder Eigenschaft als Struktur aufweisen. Als runde werden Figuren bezeichnet, in denen mehr als ein Motiv wirkt und sie daher vielschichtiger angesehen werden können. Am Beispiel von Bulgakovs Master i Margarita können die Figuren von Meister, Margarita und Voland als runde Figuren angesehen werden, da diese über eine Palette divergierender Eigenschaften bzw. Gefühle verfügen, während andere, wie die literarischen Literaturwissenschaftler und die sowjetischen Beamten, lediglich die Rolle korrupter regimetreuer Funktionäre spielen, d.h. sie sind eindimensional konzipiert. Laut Lahn und Meister (2008: 236) ist die bildliche Terminologie Forsters nicht unproblematisch, da andere Wörter wie einfach und komplex angemessener zu sein scheinen. Jannidis (2004: 86) betont, dass diese Unterscheidung so populär und verbreitet ist, dass sie trotz aller Erneuerungsversuche immer noch gültig ist.

Einen anderen Standpunkt vertritt der Literaturwissenschaftler Beckermann, der im Unterschied zu Foster drei Dimensionen für die Figurenkonzeption nennt: Weite, Länge und Tiefe. Nach Pfister (1977: 241) versteht man „unter Weite [...] die Brandbreite der Entwicklungsmöglichkeiten einer Figur, ihre Offenheit bzw. Festgelegtheit, unter Länge die von ihr zurückgelegte Entwicklung aufgrund von Veränderungen, Verstärkungen oder Enthüllungen und unter Tiefe die Beziehung zwischen dem äußeren Verhalten und dem inneren Leben“. Dieses Modell kann zwar den Literaturwissenschaftlern dabei helfen, die Figuren besser zu analysieren, reicht aber noch nicht, um die Vielschichtigkeit mancher Figuren erfassen zu können.

Einer der erfolgreichsten Erneuerungsversuche von Fosters Modell ist der von Pfister, der auch die drei Dimensionen von Beckermann berücksichtigt. In seiner Arbeit beschäftigt sich 29

Pfister in erster Linie mit dem Drama, wobei seine Figurenkonzeption problemlos der Erzähltheorie angepasst werden kann. Seine Theorie bietet eine Reihe oppositiver Modelle zur Figurenkonzeption an, die er (1977: 241 ff.) folgendermaßen schematisiert:

 Statische – Dynamische Figurenkonzeption: Statische Figuren bleiben während des ganzen Textverlaufs gleich und verändern sich nicht. Dynamische Figuren verändern sich hingegen entweder in einer kontinuierlichen Entwicklung oder diskontinuierlich.  Eindimensionale – mehrdimensionale Figurenkonzeption: Eindimensionale Figuren können durch einen kleinen Satz von Merkmalen definiert werden. Mehrdimensionale Figuren verfügen hingegen über eine komplexe Merkmalpalette.  Personifikation – Typ – Individuum: Unter Personifikationen versteht man Figuren, die lediglich einen abstrakten Begriff wie z. B. ein Laster oder eine Tugend verkörpern. Der Typ hingegen personifiziert eine soziologische oder eine psychologische Merkmalkomplexion. Mit dem Individuum sind anschließend Figuren gemeint, die durch eine Fülle charakterisierender Details mehrdimensional auf vielen Ebenen (z. B. Sprache, Aussehen und Verhalten) auftreten.  Geschlossene – offene Figurenkonzeption: Bei dieser Unterscheidung stützt sich Pfister auf der Arbeit Bentleys, der die Termini fully explained und enigmatic characters bevorzugte. Enigmatic characters sind Figuren wie Hamlet, Raskol’nikov, Stavrogin, die über eine Palette divergierender Eigenschaften verfügen. Fully explained sind hingegen Figuren, deren Verhalten und Gefühle einfach zu interpretieren sind.  Transpsychologische – psychologische Figurenkonzeption: Figuren, die psychologisch realistisch gestaltet sind und daher reale Gefühle und Stimmungen zeigen, gehören zur psychologischen Figurenkonzeption. Der ersten Kategorie werden hingegen Figuren zugeschrieben, deren psychologische Züge nicht völlig realistisch sind und mit denen der Autor den Lesern eine bestimmte Botschaft hinterlassen möchte.

Nach Jannidis (2004: 94) ist aber Hochmans Figurentypologie die ausführlichste. Hochman legt nämlich ein Modell vor, das die Personenwahrnehmung in die Figurenanalyse hineinbezieht und in dem auch die Ähnlichkeit der Figuren mit realen Menschen eine relevante Rolle spielt. Einerseits distanziert er sich dergestalt von den strukturalistischen und poststrukturalistischen Auffassungen der Figur als Handlungsfunktion bzw. Muster von Worten und erweitert andererseits das Modell von Pfister durch diese Integration. Das neue Modell von Hochman besteht in erster Linie aus einer Reihe oppositiver Modelle zur Figurenbeschreibung, die von Jannidis (2004: 94 f.) folgenderweise skizziert werden:

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 Stilisierung – Naturalismus: Die Norm der Ähnlichkeit mit realen Menschen ist hier das Bestimmungskriterium: Je weiter eine Darstellung von der Norm abweicht, desto stilisierter ist die Figur.  Kohärenz – Inkohärenz: Inkohärent sind Figuren, die keine stabile Eigenschaft aufweisen. Kohärent sind hingegen Figuren, deren Identität auf einer bestimmten Eigenschaft beruht.  Ganzheit – Fragmentarität: Wenn die Eigenschaften einer Figur so zusammenhängend dargestellt werden, als würden diese das Ganze der Figur präsentieren, spricht man von einer Ganzheit der Figur. Fragmentarität ergibt sich hingegen, wenn die Merkmale der Figur bruchstückhaft präsentiert werden.  Eigentlichkeit – Symbolismus: Laut Hochman können Figuren auf eine Skala der Uneigentlichkeit zurückgeführt werden. Figuren sind eigentlich, wenn sie das Jeweilige darstellen, was sie sind, und symbolisch, wenn sie etwas bezeichnen, wie z. B. Qualitäten.  Komplexität – Einfachheit: Nicht nur die Anzahl der Merkmale einer Figur bestimmt ihre Komplexität. In diesem Fall spielt die Widersprüchlichkeit ihrer Eigenschaften auch eine relevante Rolle.  Transparenz – Opazität: Je nach Verständlichkeit der Innenlebensdarstellung der Figur spricht man von Transparenz bzw. Opazität.  Veränderlichkeit – Unveränderlichkeit: Diese Opposition entspricht Fosters bereits analysierter Unterscheidung zwischen runden bzw. flachen Figuren.  Geschlossenheit – Offenheit: Diese Opposition entspricht Pfisters bereits analysierter Unterscheidung zwischen geschlossener bzw. offener Figurenkonzeption.

Weitere Modelle

Neben der Analyse der klassischen Figurentypologien sind auch andere Modelle zu nennen, die den Forschern dabei helfen können, die Figuren aus anderen Perspektiven zu analysieren bzw. zu klassifizieren. Anzumerken sind beispielsweise die von den Strukturalisten vorgeschlagenen Modelle zur Figurenanalyse. Eines der bekanntesten Modelle für diesen Ansatz ist das vom französischen Literaturwissenschaftler Greimas. In diesem Modell werden die Figuren anhand ihrer Funktionen bzw. Aktanten in der Handlung klassifiziert. Am Beispiel von Bulgakovs Master i Margarita und mithilfe der Analyse von Bachorz (2004: 54 f.) können die sechs von Greimas vorgesehenen Kategorien von Aktanten folgendermaßen repräsentiert werden:

 Das das Objekt begehrende Subjekt, häufig in der Rolle des Helden. In Master i Margarita ist der Meister das Subjekt.

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 Das begehrte Objekt, konkret in Form einer Prinzessin, die es zu erringen gilt, oder als abstraktes Gut, Macht, Glück, etc. Das Meisters Objekt ist Margarita.  Der Opponent oder Gegenspieler, der sich zwischen Subjekt und Objekt stellt. Dies ist oft der Bösewicht der Handlung. Es kann aber auch ein abstraktes Verlangen des Subjekts sein, das mit dem Objekt in Widerspruch steht. Opponenten des Meisters sind die literarischen Literaturwissenschaftler.  Der Schiedsrichter, der diesen Konflikt entscheidet. Diese Funktion wird häufig durch eine Figur erfüllt, z. B. durch den reichen Onkel aus Amerika, der dem Helden Geld hinterlässt, sodass dieser sein Objekt erlangen kann. Diese Rolle kann aber auch abstrakt oder passiv sein, in Form von Gesellschaft, Schicksal oder Zufall, und sie kann auch gegen den Helden und für den Opponenten ausfallen. Im Falle von Master i Margarita wird diese Rolle von Voland besetzt, da dieser dem Meister ermöglicht, zusammen mit Margarita leben zu können.  Der Helfer kann direkt eingreifen, um dem Subjekt (oder dem Opponenten) im Auftrag des Schiedsrichters zu helfen. Korovev, Begemot und Azazel‘ können hier als Beispiel für Helfer angesehen werden, da ihre Einmischung dem Meister eine unmittelbare Hilfe leistet.

Einen anderen Standpunkt vertritt der Literaturwissenschaftler Hansen. Er betrachtet die Figur als die zwischen den verschiedenen Textaspekten und Ebenen vermittelnde Verbindung und bietet ein Modell zur Figurenanalyse an, das sowohl die anthropomorphe Konnotation als auch die textlichen Aspekte der Figur berücksichtigt (vgl. Lahn, Meister 2008: 237). Darüber hinaus kann das Modell in der Forschung als Instrument verwendet werden, damit die Konturen des Verhältnisses zwischen Figurenbeschreibungen und historischen, gesellschaftlichen und psychologischen Hintergründen besser definiert werden können. Dieses Modell beruht auf der Unterscheidung zwischen showing – dem Handeln, dem Sprechen und den Eigenschaften der Figur – und telling – der Präsentation der Figureneigenschaften vonseiten des Erzählers. Davon ausgehend werden die im Text gesammelten Informationen zur Figurenanalyse auf drei Ebenen erfasst, die folgendermaßen skizziert werden können:

 Oberflächenstruktur: Hier werden das im Text dargestellte Handeln der Figuren und ihre Beschreibungen gesammelt.  Struktur der Mitte: Hier werden die Charaktereigenschaften bzw. die Typologie der Figuren von den zuvor gesammelten Elementen abgeleitet.  Tiefenstruktur: Hier werden einige hinter dem Text verborgene Elemente wie Ideologie, thematische Struktur, Erzählschema, Erzählmuster sowie intertextuelle Bezüge deduziert. 32

Das Modell von Hansen kann mittels dieser Abbildung (vgl. Lahn, Meister 2008: 237) folgenderweise schematisiert werden:

1.3.3 Figurencharakterisierung

In seinem Aufsatz über die Figuren weist Pfister (1977: 240) darauf hin, dass man unter Figurencharakterisierung die formalen Techniken der Informationsvergabe versteht, mit denen die Figur auf der Ebene des discours präsentiert wird. Pfister ist einer der ersten Literaturwissenschaftler, der sich mit diesem Thema ausführlich befasst. Obwohl sich sein Werk primär auf das Drama bezieht, kann seine Theorie im Bereich der Erzähltextanalyse teilweise angewendet bzw. als wichtige Ausgangsüberlegung für eine Analyse eingesetzt werden, die lediglich die Erzähltextanalyse umfasst. Sein Modell beruht auf der Unterscheidung zwischen figuralen und auktorialen Techniken der Figurencharakterisierung, die ihrerseits in expliziten und impliziten Techniken untergliedert sind (Pfister 1977: 251). Der Unterschied zwischen expliziten und impliziten Techniken liegt in der Art und Weise der Informationsvergabe im Text. Ein wörtliches Übertragen einer Information zur Figur auf die Textebene gehört zur ersten Kategorie. Der zweiten werden Techniken zugeschrieben, deren Informationen mittels einer hermeneutischen Operation bzw. Interpretation vom Text abzuleiten sind. Während die von Pfister aufgelisteten auktorialen Techniken aufgrund ihrer Subjektivität im Bereich der Erzähltextanalyse nicht ganz zutreffend sind, sind hingegen die figuralen, wie Eigen- und Fremdkommentar, Physiognomie, Verhalten und sprachliches Verhalten, in diesem Fall sehr einschlägig.

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Dieses Modell wird danach von den Literaturwissenschaftlern Fricke und Zymner dem Bereich der Erzähltextanalyse besser angepasst, indem sie die auktorialen Techniken mit denen des im Text vorhandenen Erzählers ersetzen. Es werden nun dem Erzähler Techniken zugeschrieben, wie die Beschreibung und die Kommentare. Daraus ergibt sich ein neues Modell, das folgendermaßen präsentiert werden kann:

 explizite Informationsvergabe durch den Erzähler  explizite Informationsvergabe durch die Figur  implizite Informationsvergabe durch den Erzähler  implizite Informationsvergabe durch die Figur (Jannidis 2004: 199).

Nach Jannidis (2004: 201) wird aber die Rolle der Zuverlässigkeit des Erzählers von Fricke und Zymner nicht adäquat berücksichtigt. Er schlägt daher ein neues Modell vor, das dieses Thema behandelt und vier Dimensionen aufweist, welche zur Betrachtung der Figurencharakterisierung aus einer anderen Perspektive beitragen. Jannidis (2004: 201) beschreibt die vier Dimensionen wie folgt:

 Zuverlässigkeit: Diese findet statt, wenn die Quelle ihrer Informationen zuverlässig ist.  Modus: Darunter wird der Status der Zuschreibung klassifiziert, der faktisch, kontrafaktisch, konditional oder subjektiv sein kann.  Relevanz: Es geht darum, ob die Information für die Figur relevant ist.  Offensichtlichkeit: Hier wird berücksichtigt, ob die Information direkt oder indirekt zugeschrieben wird. Unter dieser letzten Dimension versteht Jannidis das, was Fricke und Zymner mit der Unterscheidung zwischen expliziter und impliziter Informationsvergabe meinen: die direkte bzw. indirekte Charakterisierung.

1.3.4 Fazit

Die in diesem Kapitel präsentierte theoretische Auseinandersetzung mit den literarischen Figuren ist eine notwendige Voraussetzung für die Masterarbeit. Dadurch gelingt es, das Wesen der Figuren besser zu definieren, eine Reihe an Modellen zur Figurenanalyse anzubieten, anhand derer die Masterarbeit strukturiert werden kann. Was das Wesen der Figuren anbelangt, orientiert sich diese Arbeit an Chatmans poststrukturalistischer Auffassung, die die Figur als ein unter einem Eigennamen gehandhabtes unpersönliches Netz von Symbolen bzw. psychischen Merkmalen (traits) betrachtet, die sich auf die Ebene der histoire beziehen und durch eine hermeneutische Operation vom Text abzuleiten sind. 34

Da Chatmans Theorie die Sammlung von wichtigen Symbolen im Text fordert, um das Wesen und die Psychologie der Figur rekonstruieren zu können, scheint seine Auffassung für diese Arbeit, die eine Analyse der Figurenmerkmale vorsieht, sehr einschlägig zu sein.

Die anderen Modelle wurden aus unterschiedlichen Gründen nicht berücksichtigt. Beispielsweise können die mimetischen Ansätze für diese Analyse nicht angewendet werden, da diese Arbeit keine psychologische oder psychoanalytische Analyse vorsieht. Da die Figuren in Greimas‘ Modell lediglich als Oberflächenerscheinungen der Sujetfunktionen betrachtet werden, reicht dieses der in dieser Arbeit präsentierten Analyse, der Untersuchung der Figurenmerkmale, nicht aus. Die Theorie der Fiktionalen Welt ist für die vorliegende Arbeit nicht geeignet, da sie besagt, dass die Taten der Figuren Regeln und Voraussetzungen einer fiktionalen Welt erfüllen, die analog zu der realen Welt sein kann. Das würde der Interpretation der Autoren als Satiriker widersprechen, die sich mittels ihrer Figuren auf Situationen der realen Welt beziehen. Das Modell von Schneider und die Theorie des Basistypus wurden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt, weil sie sich in erster Linie auf die Informationsverarbeitungsprozesse der Leser fokussieren.

Die Modelle von Lotman, Barthes und Chatman sind sich in vielen Punkten ähnlich. Sie gehen von einer Betrachtung der Figur als Merkmalsbündel aus und fordern eine hermeneutische Operation, um sowohl die Eigenschaften der Figuren als auch außertextuelle Bezüge rekonstruieren zu können. Die in Lotmans Modell präsentierte Art und Weise der Ableitung der Figurenmerkmale vom Text ist wegen ihrer Struktur von Parallel- und Kontrastrelationen unpraktischer als die vom Barthes und Chatman. Ihre Modelle sehen hingegen eine hermeneutische Operation vor, welche die Suche nach dem Gemeinsamen in den Taten der Figuren fordert. In dieser Arbeit wird das Modell von Chatman angewendet, da es – im Gegensatz zum Modell von Barthes – die für die Literaturwissenschaft bedeutsame Unterscheidung zwischen discours und histoire berücksichtigt. Dies erlaubt, die Darstellung nicht auf die semantische Struktur des Werkes, sondern auf die histoire zu beziehen.

Was hingegen die Figurenanalyse und die Methodik der vorliegenden Arbeit angeht, ist hier die Entscheidung getroffen worden, das Modell von Hansen anzuwenden. Dieses Modell ist am besten geeignet, um die Konturen des Verhältnisses zwischen Figurenbeschreibungen und historischen, gesellschaftlichen und psychologischen Hintergründen rekonstruieren zu können. Wie im Teil über die Figurentypologien schon zu sehen war, operiert Hansens Modell auf drei Ebenen: Oberflächenstruktur, Struktur der Mitte und Tiefenstruktur. Dieses Modell wird in der vorliegenden Arbeit angewendet, indem es der im Hauptteil präsentierten Analyse zugrunde liegt. Im Hauptteil wird jedes Unterkapitel einer Eigenschaft der Beamten gewidmet, die analysiert und kommentiert wird. Für jede Eigenschaft werden ausgewählte 35

Ausschnitten aus den Werken Gogol’s und Villaggios präsentiert, die das Vorhandensein dieser Eigenschaft beweisen. Das folgt der Vorgehensweise der Hansens Oberflächenstruktur und im weiteren Sinn der Struktur der Mitte. Die durch die Charakterisierung, die Taten und die Überlegungen der Figuren vorhandenen Anspielungen auf gesellschaftskritische Gedanken werden nun nach Hansens Tiefenstruktur mithilfe von Werken renommierter Literaturwissenschaftler kommentiert.

Die anderen im Kapitel 2.3.2 präsentierten Modelle wurden nicht angewendet, weil sie für diese Arbeit wenig praktikabel sind. Die Literaturwissenschaftler Foster, Beckermann, Pfister und Hochman haben Modelle vorgelegt, die in erster Linie lediglich die Kategorisierung der Figuren ermöglichen. Hansens Modell berücksichtigt hingegen auch die textlichen Aspekte der Figur, indem das Model als Instrument verwendet werden kann, um die Gedanken bzw. die Botschaft des Autors ableiten zu können, was das Ziel dieser Arbeit ist.

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2. Analyse

In diesem Kapitel wird die Analyse der moralischen und ethischen Eigenschaften der Beamten Gogol’s und der Beamten der Erzählungen von Villaggio durchgeführt. Wie bereits im Rahmen der Methodik erläutert, stützt sich die Analyse auf das Modell von Hansen, das am besten zu den Ansprüchen dieser Masterarbeit passt. Das Wertesystem der činovniki bei Gogol’ wird dem der Beamten von Villaggio gegenübergestellt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken. Zudem soll untersucht werden, ob wirklich von einem herrschenden System gemeinsamer verfälschter Werte gesprochen werden kann, die von beiden Autoren in derselben Personenkategorie in chronologisch und strukturell so weit auseinanderliegenden Epochen und Gesellschaften (in der russischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jh. und der italienischen der zweiten Hälfte des 20. Jh.) festgestellt wurden. Parallel dazu ist intendiert, die Personen, Sitten und Gebräuche, die Gegenstand der Satire beider Autoren sind, zu identifizieren und festzustellen, ob diese auf die Entdeckung gemeinsamer Probleme (z. B. die soziale Ungerechtigkeit, den Amtsmissbrauchs, die Korruption, den Absentismus am Arbeitsplatz, den Mangel an positiven Werte und Idealen unter den Menschen, die Gleichgültigkeit usw.) verweisen. Dieser Vergleich wird unter Berücksichtigung der Rangunterschiede zwischen den verschiedenen Beamten bei beiden Autoren fortgeführt. Der malen’kij čelovek Gogol’s wird daher mit dem kleinen Beamten Villaggios verglichen, während dem činovnik von Rang ein megadirettore gegenübergestellt wird.

In jedem der nachfolgenden Unterkapitel wird eine der typischen Eigenschaften der Figuren behandelt, die ironischerweise Axiologie des činovnik genannt werden können. Angesichts des satirischen Interpretationsschlüssels, der der Masterarbeit verliehen werden soll, werden diese Eigenschaften ausschließlich mit negativem Charakter behaftet sein. Darüber hinaus muss betont werden, dass es den im Rahmen dieser Masterarbeit analysierten Figuren tatsächlich an positiven Eigenschaften mangelt. Wie bei der Methodik schon erläutert, wurden die Eigenschaften der Figuren von den Texten abgeleitet. Die Texte wurden mehrmals gelesen und jedes Mal wurden die Abschnitte notiert, die das Vorhandensein einer bestimmten negativen Eigenschaft nachweisen. Die relevantesten Abschnitte werden in den folgenden Unterkapiteln präsentiert und analysiert. Die Abschnitte aus den Büchern Villaggios sind in italienischer Sprache verfasst und werden hier zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt bzw. dem deutschsprachigen Publikum präsentiert. Die Übersetzung ins Deutsche wird in den Fußnoten integriert. Die Passagen aus Gogol’s Werk werden im Original auf Russisch vorgestellt. In den Fußnoten wird auch hier eine Übersetzung ins Deutsche zur

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Verfügung gestellt. Die Übersetzungen der Werke Gogol’s stammen aus den folgenden Büchern:

 Gogol’, N. V. (2009): „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen.“ In: Petersbuger Novellen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 54-81.  Gogol’, N. V. (2009): „Der Mantel.“ In: Petersbuger Novellen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 117-162.  Gogol’, N. V. (2009): „Der Newskijprospekt.“ In: Petersbuger Novellen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 7-53.  Gogol’, N. V. (1987): Der Revizor. Komödie in 5 Aufzügen. Stuttgart: Reclam.  Gogol’, N. V. (2004): Die Heirat. Stuttgart: Reclam.  Gogol’, N. V. (2009): „Die Nase.“ In: Petersbuger Novellen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 82-116.  Gogol’, N. V. (1977): Die toten Seelen. Zürich: Diogenes.

Wie bereits im vorherigen Kapitel betont, stützt sich die Analyse der Werke Gogol’s in erster Linie auf die Beiträge einiger Literaturwissenschaftler der sogenannten sowjetischen marxistischen Kritik wie Chrapčenko (1959), Ermilov (1952) und Stepanov (1952). Die Analyse der Bücher von Villaggio konzentriert sich hingegen auf die Studien von Buratto (2003) und Bartezzaghi (2013). Durch den im Teil über den Stand der Forschung präsentierten Überblick über die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten für Gogol’ und Villaggio wurde festgestellt, dass einer der möglichen gemeinsamen Interpretationsschlüssel der satirische sein könnte. Während die Gogol’schen Werke über viele verschiedene Interpretationsschlüssel verfügen, können die von Villaggio ausschließlich aus einer satirischen Perspektive analysiert werden. Andere gültige Interpretationsansätze für seine Werke sind bislang noch nicht erforscht worden. Daher wurde die Entscheidung getroffen, die in diesem Kapitel durchzuführende Figurenanalyse anhand von Werken der Literaturwissenschaftler zu unterstützen, die Gogol’ und Villaggio als Satiriker ansehen. Diese Autoren sind Ermilov, Chrapčenko und Stepanov für den russischen Schriftsteller sowie Bartezzaghi und Buratto für den italienischen. Die Interpretation der Gogol’schen Werke betreffend wurden einige Autoren nicht berücksichtigt, obwohl sie den russischen Autor als Satiriker bzw. Gesellschaftskritiker ansehen. Hierzu gehören sowohl die Angehörigen der russischen fortschrittlichen Kritik des 19. Jh. (z. B. Belinskij, Černyševskij, Gercen und Dobroljubov), als auch einige modernere Literaturwissenschaftler wie Čiževskij und Braun. Die Erstgenannten wurden ausgeschlossen, weil ihre Beiträge von der aktuellen Kritik als überholt angesehen werden. Čiževskij und Braun halten Gogol’ zwar für einen Satiriker, bezeichnen aber seine Satire als „anthropologische“ bzw. „kosmische“ und lassen ihre zeitbedingte gesellschaftskritische Funktion aus (vgl. Günther 1968: 237 f.). Da diese 38

Arbeit in erster Linie zeitbedingte gesellschaftliche Fragen untersucht, scheiden die Beiträge Čiževskijs und Brauns aus. Andere Autoren, die im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigt werden, sind Freitag (1957) und Günther (1968). Einige interessante Beiträge zur satirischen Interpretation Gogol’s aus dem Werk von Freitag werden als Ausgangüberlegungen für die Analyse eingesetzt. Einige Abschnitte aus dem Buch Günthers haben es ermöglicht, einige Aspekte hinsichtlich der satirischen und komischen Elemente in den Texten zu vertiefen.

Figurencharachterisierung und –konzeption bei Gogol’ und Villaggio

Unter den malen’kie ljudi Gogol’s finden sich Figuren wie Akakij und Popriščin. In den Erzählungen von Villaggio können hingegen Fantozzi und Filini als malen’kie ljudi bezeichnet werden. Als činovniki von Rang können bei Gogol’ beispielsweise Kovalev, Pirogov, die bedeutende Persönlichkeit, der Polizeimeister, Čičikov und Chlestakov angesehen werden. Während sich die ersten vier durch die typischen negativen Eigenschaften der Adelsherrschaft (z. B. Arroganz, Oberflächigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber den Armen usw.) eindeutig auszeichnen und typische Symbole bzw. Gegenstände (z. B. ein schönes Zuhause, eine Kutsche, einige Diener, ein eigenes Büro, schöne Kleidung, Geld usw.) besitzen, ist die Klassifizierung von Čičikov und Chlestakov nicht so deutlich. Einerseits gehören die beiden zur Aristokratie, haben schöne Kleidung, eine Kutsche, einen Diener. Andererseits sind sie nicht reich und es ist nicht klar, ob sie ein Zuhause haben. Moralisch gesehen zeichnen sie sich aber durch die obengenannten typischen negativen Eigenschaften der Adelsherrschaft aus. Daher können Čičikov und Chlestakov nicht als malen’kie ljudi betrachtet werden. In den Erzählungen von Villaggio sind činovnikj von Rang alle megadirettori. Alle sogenannten megadirettori verfügen über dieselben Eigenschaften, unterscheiden sich durch keine relevanten Merkmale voneinander und werden einzeln von Villaggio niemals vollständig charakterisiert. Allerdings beschreibt Villaggio die Kategorie der megadirettori im Allgemeinen und personifiziert sie mit Belotti-Bon, Còbram, Serbelloni- Mazzanti-Viendalmare, Barambani und anderen. Diese Charaktere können daher als eine einzige Figur angesehen werden, die die Rolle des erfolgreichen Beamten in den Erzählungen von Villaggio spielt.

Trotzt dieser negativen Eigenschaften besitzen die činovnikj von Rang bei Gogol’ die Sympathie der Leser. Nach Günther (1968: 240) hat der russische Schriftsteller beschränkte Bürokraten und parasitäre Gutsbesitzer mit Vorliebe vorgeführt. Gogol’ zufolge sind diese Figuren keine persönlich zur Verantwortung zu ziehenden Übeltäter, sondern Opfer der besonderen damaligen Gesellschaft (vgl. Günther 1968: 253 ff.). Die Art, wie der Autor diese Figuren charakterisiert, entspricht vollkommen seinen Gedanken und kann keinen Hass gegenüber diesen Figuren in den Rezipienten verursachen, sondern nur Sympathie. Das

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Gegenteil kann bei den megadirettori Villaggios festgestellt werden. Sie gewinnen die Sympathie des Publikums nicht und werden vom Autor nicht als Opfer, sondern als Übeltäter bzw. Ausbeuter dargestellt.

Sowohl die činovnikj von Rang und die megadirettori, als auch die malen’kie ljudi und die kleinen Beamten von Villaggio werden auf eine ähnliche Art und Weise charakterisiert. Anhand des Modells von Foster könnte man alle Figuren als flache bezeichnen, denn sie sind eindimensional konzipiert und verfügen über keine Palette divergierender Eigenschaften bzw. Gefühle. Die im Rahmen dieser Masterarbeit analysierten Figuren sind – dem Modell Pfisters folgend – Typen, die eine bestimmte soziologische Merkmalkomplexion personifizieren. Sie stellen das Beamtentum und dessen Eigenschaften dar. Sowohl die Beamten von Gogol’, als auch die von Villaggio tragen die typischen Züge ihrer Kategorie bzw. Gesellschaftsschicht. Fantozzi, Akakij und Popriščin sind in erster Linie arm, ungebildet, nicht so intelligent, ängstlich und unterworfen und damit so wie andere kleine Beamten der Weltliteratur. Chlestakov, Čičikov, der Polizeimeister, die bedeutende Persönlichkeit und die megadirettori sind hingegen arrogant, selbstgefällig, vulgär, korrupt und reich wie andere entsprechende Figuren der Weltliteratur. Ihr Verhalten entspricht ihren Eigenschaften vollkommen. Was sie tun, ist mehr oder wenig das, was der Leser erwartet. Darüber hinaus sind ihre Gefühle einfach zu interpretieren. Es geht daher um geschlossene Figurenkonzeptionen.

Sehr interessant ist noch die Tatsache, dass die Figur Fantozzi, Protagonist der Erzählungen von Villaggio, ähnlich wie Akakij charakterisiert wird. Wenn man die Präsentation von Fantozzi mit der von Akakij vergleicht, bemerkt man, dass die Figuren auf eine ähnliche Art und Weise vorgestellt werden. Daher ist den Rezipienten auch deutlich, dass Fantozzi und Akakij über ähnliche physische Eigenschaften verfügen. In Šinel' beschreibt der Erzähler Akakij wie folgt:

Чиновник нельзя сказать чтобы очень замечательный, низенького роста, несколько рябовать, несколько рыжевать, несколько даже на вид подслеповать, с небольшой лысиной на лбу, с морщинами по обеим сторонам щек и цветом лица, что называется, геморроидальным... Что же делать? Виноват петербургский климат.2 (1433)

2 Es lässt sich nicht sagen, dass es ein sehr bedeutender Beamter gewesen wäre: ein kleines Männlein, ein bisschen pockennarbig und ein bisschen rothaarig und allem Anschein nach sogar ein bisschen kurzsichtig, mit einer kleinen Glatze auf der Stirn, Runzeln auf beiden Wangen und einer Gesichtsfarbe, die man als hämorrhoidal bezeichnet. (117) 3 Gogol’, N. V. (2014): „Šinel'.“ In: Peterburgskie povesti. Sankt-Peterburg: Azbuka, 143–179. 40

Genauso wie Akakij ist Fantozzi auch klein und hässlich. In zahlreichenden Erzählungen beschreibt ihn der Erzähler als dick wie ein Boiler, seine Augen sind klein und kurzsichtig, seine Haare sind ölig und die Hände verschwitzt. Während das Aussehen der beiden Figuren sehr ähnlich ist, ist der Charakter hingegen manchmal unterschiedlich. Dieses Thema wird aber in den folgenden Unterkapiteln behandelt. Die beiden Figuren werden als marionettenhafte Gestalte dargestellt. Im Akakijs Leben ist alles schon von vornherein festgelegt, er funktioniert ohne Wille und Bewusstsein wie ein Automat (vgl. Günther 1968: 168). Gleiches kann über Fantozzi gesagt werden, dessen Schicksal immer von externen Faktoren (der Gesellschaft, der Firma, den megadirettori) determiniert wird (vgl. Buratto 2003: 53). Der Name Fantozzi leitet sich von dem Wort Fantoccio ab, das Marionette oder Puppe bedeutet.

Sehr bedeutend bei den beiden Autoren sind auch die Namen der Figuren. In den Werken von Gogol’ sind die Namen der Figuren in der Tat Spitznamen wie z. B. Zemljanika (Erdbeere), Bašmačkin (Schuh), Ljapkin-Tjapkin (Hals über Kopf), Korobočka (Schachtel), Sobakevič (Hund) usw. (vgl. Nabokov 1983: 10). In den Erzählungen von Villaggio bemerkt man, dass die Namen der kleinen Beamten (außer Fantozzi) normale durchschnittliche Namen sind. Nachnamen wie Calboni, Filini, Silvani und Folagra haben nämlich keine besondere Bedeutung und sind in Italien ganz oft zutreffen. Die Namen der megadirettori sind hingegen immer ganz besonders und haben oft eine Bedeutung. Wie bei Gogol’ können diese Spitznamen sein, z. B. Còbram (Kobra), Viperi (Viper), Camorrani (Mafia) und Viendalmare (aus dem Meer). Die meisten sind aber lautmalerisch wie Bumbam, Barambani, Calabar, Balabam und Cembram.

Formen und Funktionen des satirischen Grotesken bei Gogol’ und Villaggio

Wie im Rahmen der Methodik der vorliegenden Arbeit schon erläutert, werden hier die Autoren – aufgrund des ausgewählten Interpretationsschlüssels – dem satirischen Grotesken zugeordnet. Dabei handelt es sich um das Groteske mit satirischer Funktion.

Der Literaturwissenschaftler Günther analysiert das Groteske bei Gogol’ und betont die Unterscheidung von Stil- und Kompositionsgroteske in seinem Werk. Bei einer Stilgroteske handelt es sich um eine durch groteske Merkmale geprägte Art und Weise, etwas schriftlich auszudrücken. Unter Kompositionsgroteske wird hingegen eine literarische Struktur verstanden, die aus der gegenseitigen Durchdringung unterschiedlicher Darstellungsebene entsteht und je nach Funktion in den Dienst verschiedener literarischer Kategorien treten kann.

Die Stilgroteske Gogol’s betreffend stellt Günther (1968: 63 f.) das Vorhandensein von zwei Elementen fest: die Alogismen und die groteske Personifizierung sowie die groteske 41

Reduzierung des Belebten. Unter Alogismus wird ein sprachlicher Ausdruck verstanden, der Unvernunft bzw. eine Vernunft- und Denkwidrigkeit ausdrückt. Die groteske Personifizierung sowie die groteske Reduzierung des Belebten beruhen hingegen auf einer Vermischung der Grenze zwischen Belebten und Unbelebten (z. B. beim Fall der Nase in der Erzählung Nos).

Günther (1968: 35) unterscheidet bei Gogol’ zwei Arten der Kompositionsgrotesken. Die Vermischung von komischer und tragischer Darstellungseben fasst er als komische Groteske (vorhanden z. B. in der Einleitung der Erzählung Nevskij Prospekt), die von fantastischer und realistischer Darstellungsebene als fantastische Groteske (vorhanden z. B. in Zapiski sumasšedšego, Nos und Šinel') zusammen. Ein besonderer Fall ist aber die Struktur von Mertvye Duši. Laut Günther (1968: 191 f.) ist die Gesamtstruktur des Werks nicht grotesk, da die realistische Darstellungsebene durchgängig dem ganzen Werk zugrunde liegt. Die realistische Darstellungsebene ist jedoch an vielen Stellen entscheidend vom grotesken Still geprägt, sodass die Stillgroteske bis in die Komposition hineinreicht und das Werk mit seiner grotesk gefärbten Realität unter den Oberbegriff des realistischen Grotesken eingeordnet werden kann.

Sowohl das fantastische als auch das komische und das realistische Groteske Gogol’s zeichnen sich durch das Vorhandensein einer satirischen Funktion aus. In einer Besprechung der Beiträge Čiževskijs und Brauns unterstreicht Günther (1968: 237 ff.) die Tatsache, dass diese zwei Literaturwissenschaftler von einer Betrachtung der Gogol’schen Satire als „kosmisch“ und „allgemeinmenschlich“ ausgehen, während er der festen Meinung ist, dass diese eher auf eine zeitbedingte gesellschaftskritische Funktion zurückzuführen sei. Das impliziert, dass die Satire Gogol’s eine konkrete negative gesellschaftliche Erscheinung als Objekt hat. Günther (1968: 239 f.) identifiziert dieses Objekt mit der pošlost'.

Die Werke Villaggios können hingegen lediglich als komische Groteske bezeichnet werden. Die fantastische und die realistische Darstellungsebene fehlen in seinen Erzählungen vollkommen. Ihre Struktur präsentiert immer zwei Darstellungsebenen: die komische und die tragische. Aus der gegenseitigen Durchdringung dieser Ebene entsteht die gesamte Struktur aller seiner im Rahmen dieser Arbeit analysierten Erzählungen. Das Komische und das Tragische sind in seinen Werken so stark miteinander verbunden, dass sie in den Rezipienten ein kompliziertes Gefühl provozieren, das aus Spaß und Mitleid besteht und die Rezipienten nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken bringt (vgl. Buratto 2013: 99 f.). Genauso wie bei Gogol’ hat auch das Groteske der Erzählungen Villaggios eine satirische Funktion. Mittels einer komischen grotesken Perspektive übt der Autor eine scharfe Kritik an der damaligen Gesellschaft, deren Widersprüche und Ungerechtigkeiten an den Tag gebracht werden.

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2.1 Pošlost'

Wenn das Wertesystem der činovniki Gogol’s einen Namen erhalten sollte, wäre das erste Wort, das in den Sinn kommt, zweifelsfrei pošlost'. Dieses russische Wort ist sehr schwer zu übersetzen, da es in der deutschen und in der italienischen Sprache keine wirkliche Entsprechung gibt. Das Substantiv pošlost' und das Adjektiv pošlyj werden zum ersten Mal systematisch im literarischen Bereich Gogol’s verwendet, um den Charakter einiger seiner berühmtesten Beamten zu beschreiben: Kovalev, Pirogov, Chlestakov und Čičikov.

Das ethische Wörterbuch der russischen Sprache (slovar’ po ėtike) gibt für pošlost’ die folgende Definition:

морально-эстетическое понятие, характеризующее такой образ жизни и мышления, к-рый вульгаризирует человеческие духовные ценности, низводит их до уровня ограниченно- обывательского понимания, понижает саму идею достоинства личности. (http://ethics.academic.ru/262/ПОШЛОСТЬ)

Über die Bedeutung der pošlost’ im Werk Gogol’s wurden zahlreiche Essays geschrieben. Sehr bedeutend und umfassend ist die von Lehmann ausgearbeitete Definition:

Als pošlyj wird im Russischen das Banale, Triviale, Platte, Abgedroschene, Gewöhnlichen, Mittelmäßige, Unoriginelle, Fade bezeichnet. Von diesen direkten Wortbedeutungen lassen sich sekundäre Bedeutungen ableiten: in das weitere Umfeld der pošlost’ gehört alles, was klischeehaft, eindimensional, nicht Fisch nicht Fleisch, gesichtlos, indifferent, farblos, alltäglich oder in irgendeiner Weise abgestorben ist. Phänomene wie Klatsch und Schund, das philoströs komfortable Sich-einrichten im diesseitigen Leben, oder auch Pseudoanspruch, mit dem die Provinz sich gerne umgibt – all dies rankt sich um den Begriff der pošlost’. (Lehmann 1997: 58–59)

Für Gogol’ steht die pošlost’ für das Schlechte, das sich im Menschen nicht in Form eines dämonischen, gewalttätigen oder in irgendeiner Weise auf das klassische Bild des Schlechten rückführbaren Verhaltens äußert, sondern in banaler, trivialer und langweiliger Gestalt von etwas, was allerdings nicht weniger schlecht ist.

Sehr bedeutend ist auch die Meinung Nabokovs, der eine weitere Eigenschaft der pošlost’ enthüllt: die geistige Leere. In seiner Arbeit über Gogol’ widmet Nabokov der pošlost’ einen interessanten Teil, in dem er versucht, den nicht russischsprachigen Lesern die Bedeutung dieses Wortes und seine Vielfältigkeit anhand von Beispielen aus der Literatur und dem Alltag zu erklären. Um das Vorhandensein der geistigen Leere in der pošlost’ nachzuweisen, zeigt er ein Bild aus einer Werbeanzeige, das sich durch pošlost’ auszeichnet. Auf dem Bild ist eine Familie zu sehen, die glücklich aussieht, da der Vater ein neues Elektrogerät nach 43

Hause gebracht hat. Laut Nabokov demonstriert dieses Bild das Vorhandensein der geistigen Leere in der pošlost’, weil es implizit besagt, dass ein Elektrogerät eine Familie glücklich machen kann (vgl. Nabokov 1983: 15).

Der Literaturwissenschaftler Heftrich (2006) definiert in der Tat die pošlost’ als Dämon im Alltagskleid. Diese Definition lässt sich auf einen Trend in der Literaturkritik, die die mystische Seite des Schriftstellers wiederentdeckt hat, zurückführen. Die pošlost’ wird als etwas Dämonisches, als eine diabolische Versuchung betrachtet, die den Menschen zur Vulgarität und inneren Abgestumpftheit führt. Laut Nabokov habe Čičikov – von ihm als Personifikation der pošlost’ betrachtet – nicht nur dämonische Züge. Er sei dennoch „the ill-paid representative of the devil, a traveling salesman from Hades“ (Nabokov 1983:17).

Aus Sicht der sowjetischen Literaturkritik nimmt die pošlost' von Gogol’ allerdings eine andere Bedeutung an. Der mystische Aspekt wird vollständig vernachlässigt. Die pošlost' wird nun als ein bürgerlicher Makel und eine Eigenschaft des zaristischen Regimes betrachtet (vgl. Ermilov 1952: 220). Diese Eigenschaft wäre daher nur den hohen Gesellschaftsrängen eigen. In der Tat sind die Figuren Gogol’s, die zum größten Teil niedergeschlagen sind, genau diejenigen, die einen mittleren oder hohen Rang einnehmen, z. B. Kovalev, Pirogov, Chlestakov und Čičikov. Die sowjetischen Literaturwissenschaftler stimmen darüber überein, den malen'kij čelovek an dieser Art Makel als unbeteiligt anzusehen. Da dieser nicht nach einer brillanten Karriere strebt, wird automatisch darauf verzichtet, sich der herrschenden Klasse anzupassen, die in der pošlost' ihre solide Grundlage fand.

Eine andere Meinung vertritt der Literaturwissenschaftler Günther (1968: 240 ff.). Er sieht die pošlost' als eine negative gesellschaftliche Wirklichkeit, die bestimmte Seiten der Entfremdung der damaligen russischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Diese Entfremdung sei von einem sozioökonomischen Faktor determiniert, und zwar vom Verfall der Leibeigenschaft, der den Niedergang der von ihr getragenen Schichten, vor allem des Adels, mit sich bringt. Die Gutsbesitzer werden gesellschaftlich und in ihrer individuellen Existenz überflüssig und parasitär. Einige bleiben in der Provinz und führen dort ein nutzloses Leben. Andere ziehen in die Hauptstadt und werden Teil des großen bürokratischen Apparats im damaligen Russland.

Praktisch ist die pošlost' die Grundlage der russischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jh. Die činovniki erkennen sich in ihren Werten wieder, deren Prahlerei stärkt in ihnen den Sinn der Zugehörigkeit zu ihrem privilegierten sozialen Status und erhöht folglich, wie der Literaturwissenschaftler Chrapčenko (1959: 211) beim Besprechen von Pirogov anmerkt, ihre Sicherheit und ihr Selbstwertgefühl. Pošlost' ist daher der Name, den man der Axiologie der russischen Gesellschaft, die von Gogol’ beschrieben wird, geben kann, da sie die

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Grundlage ihres Systems von Werten ist, die alle vom russischen Wort pošlost' zusammengefasst werden können. Wie vom Sprachwissenschaftler Metzeltin (1997: 33) erläutert, ist die Axiologie das gemeinsame Wertesystem einer Gruppe oder einer Gesellschaft und bestimmt als solche das Verhalten des Einzelnen oder die Ethik gegenüber jeder Art von Situation. Mit Sicherheit stimmen diese allgemeinen Werte nicht immer mit den persönlichen jeder einzelnen Person überein, aber sie sind dennoch für ein normales Verhalten innerhalb einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft als gültig anzusehen. Bei Gogol’ erkennen sich alle činovniki in den Werten der pošlost' wieder. Wer sich wie Popriščin und Piskarёv widersetzt, es wie Akakij aus intellektuellem Unvermögen oder wie die leibeigenen Bauern durch Geburt nicht schafft, ihrer Denkweise zu folgen, ist zu einem Leben am Rande der Gesellschaft verurteilt.

Auch in den Werken Villaggios scheinen die Beamten ein Wertesystem zu besitzen, das auf den ersten Blick dem der činovniki von Gogol’ ähnlich zu sein scheint. Die pošlost', die von Gogol’ im zaristischen Russland der ersten Hälfte des 19. Jh. beschrieben wird, scheint im Italien der zweiten Hälfte des 20. Jh. wieder Lebenssaft zu finden. Auch die Beamten von Villaggio beziehen sich auf ein gemeinsames Wertesystem, in dem derjenige, dem ein Eintreten nicht gelingt, d. h. der italienische malen'kij čelovek, von den Vorteilen einer privilegierten Stellung ausgeschlossen bleibt und zu einem Leben voller Unzufriedenheit verurteilt ist. Da auch Villaggio ein Satiriker ist, ist das Wertesystem, das er seinen Figuren zuschreibt, rein negativ und scheint vieles mit der pošlost' von Gogol’ gemeinsam zu haben.

Wird die pošlost' der Gogol’schen činovniki mit der der italienischen Beamten in den Erzählungen von Villaggio verglichen, sind viele Ähnlichkeiten zu entdecken. Die bedeutendsten Eigenschaften der beiden sind die Ignoranz (auch als sprachliches Unvermögen angesehen), die Vulgarität (auch in Form geistiger Leere), die Selbstgefälligkeit, der Konformismus, die Scheinheiligkeit, die Gewalt (wobei sie bei Gogol’ eine kleinere Rolle als bei Villaggio spielt), die Korruption, die Anbiederung (und Unterwürfigkeit), das Parasitentum und die Auflehnung. Alle diese Eigenschaften der pošlost' werden in folgenden Unterkapiteln analysiert. Bei den Figuren Villaggios fehlt aber etwas, das hingegen bei Gogol’ eine relevante Rolle hat: das Dämonische. Wie bereits betont, haben einige Literaturwissenschaftler dämonische Züge in der pošlost' bei den Gogol’schen Figuren entdeckt. Diese dämonischen Züge fehlen aber bei Villaggios Charakteren vollkommen. Daher wurde dieses Thema in der vorliegenden Masterarbeit nicht berücksichtigt.

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2.2 Ignoranz (und sprachliches Unvermögen)

Der Makel, der die Figuren in den Werken von Gogol’ am stärksten vereint, ist die Ignoranz. Diese manifestiert sich bei fast allen in den fraglichen Werken dargestellten Figuren, ohne zwischen Geschlecht, Rang und sozialer Klasse zu unterscheiden. In den Werken Gogol’s sind sowohl die kleinen Beamten wie Akakij Akakievič und Popriščin als auch die Beamten des mittleren und oberen Rangs wie Pirogov und die Provinzbeamten wie die Protagonisten von Revizor sowie Frauen und Handwerker ignorant. Das Gleiche ist in den Werken Villaggios zu finden, wo die Ignoranz einer der zahlreichen Makel Fantozzis, der verschiedenen megadirettori und der gewöhnlichen Menschen ist.

Die Fremdsprachen

Die Beherrschung einer oder mehrerer Fremdsprachen ist immer als eine Eigenschaft des gebildeten Menschen zu betrachten. Im Russland der ersten Hälfte des 19. Jh. war es unter den Aristokraten üblich, französisch miteinander zu sprechen und zu schreiben. Die russische Sprache wurde von ihnen als eine wenig angesehene Sprache betrachtet. Ausgehend von der Veröffentlichung der ersten Werke des Dichters Puškin in russischer Sprache fand nicht nur die Wiederentdeckung der russischen Sprache, sondern eine wahre Umkehrung der Mode statt, die die zeitgenössischen Literaten dazu brachte, ihre Werke auf Russisch zu verfassen. Die Kenntnisse des Französischen waren für den Adel und das Bürgertum dennoch unerlässlich. Fehlende Französischkenntnisse waren daher ein Symbol für tief greifende Ignoranz.

Daher stellte das Französische ein unüberwindliches Hindernis, den Schwachpunk für viele Figuren Gogol’s dar. Čičikov gibt mehrere Male offenherzig zu, die französische Sprache nicht gut zu beherrschen. In den Werken Gogol’s finden sich viele unterhaltsame Episoden in Zusammenhang mit der falschen Aussprache des Französischen. Dieses wird vom Autor mittels der falschen Transliteration der Wörter dargestellt. In Mertvye duši sprechen zwei vornehme Ehefrauen von „cĸoʜaпель ucmoap“, während der korrekte französische Ausdruck folgender wäre: „Ce qu’on appelle una histoire“ (6214). Dasselbe geschieht auch in Zapiski sumasšedšego, wo der Protagonist Poprišin von „экuвoĸеmы“ und von „бyдyap“ spricht (1875).

4 Gogol’, N. V. (2015): Mertvye duši. Sankt-Peterburg: Azbuka. 5 Gogol’, N. V. (2014): „Zapiski sumasšedšego.“ In: Peterburgskie povesti. Sankt-Peterburg: Azbuka, 180–204. 46

In Zapiski sumasšedšego findet sich ein sehr interessanter Abschnitt, in dem der Protagonist das Büro seines Vorgesetzten beschreibt. Um sich Bedeutung zu verleihen, hat der Vorgesetzte das Büro mit fremdsprachlichen Büchern gefüllt:

Наш директор должен быть очень умный человек. Весь кабинет его уставлен шкафами с книгами. Я читал название некоторых: все ученость, такая ученость, что нашему брату и приступа нет: все или на французском, или на немецком.6 (183)

Sehr interessant ist auch ein Dialog in Ženit’ba. Die činovniki Ževakin, Anučkin, Kočkarev und Jaičnica diskutieren über die Makel des Mädchens, das sie heiraten möchten, und versuchen, dies in den Augen des Rivalen zu diskreditieren. Der Dialog beginnt mit der Analyse der angeblichen körperlichen Fehler und geht dann zu den kulturellen Mängeln über. Die angebliche fehlende Kenntnis der französischen Sprache scheint in diesem Fall der Faktor zu sein, der in der Lage ist, die mögliche zukünftige Hochzeit zu beeinflussen. Am Ende stellt sich allerdings heraus, dass nicht einmal der so anspruchsvolle Beamte in diesem Bereich sehr sachkundig ist:

ЖЕВАЧКИН. А ведь хозяечка-то хороша. Кочкарев (в сторону). Вот черт побери! Этот дурак влюбился. Еще будет мешать, пожалуй. (Вслух.) Совсем нехороша, совсем нехороша. ЯИЧНИЦА. Нос велик. ЖЕВАКИН. Ну нет, носа я не заметил. Она... эдакой розанчик. АНУЧКИН. Я сам тоже их мненья. Нет, не то, не то... Я даже думаю, что вряд ли она знакома с обхождением высшего общества. Да и знает ли она еще по-французски? ЖЕВАЧКИН. Да что ж вы, смею спросить, не попробовали, не поговорили с ней по-французски? Может быть, и знает. АНУЧКИН. Вы думаете, я говорю по-французски? Нет, я не имел счастия воспользоваться таким воспитанием. Мой отец был мерзавец, скотина. Он и не думал меня выучить французскому языку. Я был тогда еще ребенком, меня легко было приучить –

6 Unser Chef muss ein sehr gescheiter Mensch sein. Sein ganzes Kabinett ist voller Schränke mit Büchern. Ich las von einigen die Titel: lauter Gelehrsamkeit, eine solche Gelehrsamkeit, dass sie unsereinem gar nicht zugänglich ist; alles entweder Französisch oder Deutsch. 47

стоило только посечь хорошенько, и я бы знал, и я бы непременно знал.7 (3528)

Im Italien der zweiten Hälfte des 20. Jh. hingegen findet sich keine echte flächendeckende Verbreitung einer bestimmten Fremdsprache. Die Satzung der Pflichtschule sah dennoch das Studium der lateinischen Sprache und wenigstens einer Fremdsprache vor. Die Sprachen, die am häufigsten gelernt wurden, waren Französisch, Englisch und Deutsch. Die perfekte Beherrschung dieser Sprachen war aber keine Pflicht wie in Russland zu den Zeiten Gogol’s. Die perfekte Beherrschung eine dieser Sprache war nur den Mitgliedern der reichsten Gesellschaftsschichten vorbehalten, die die Möglichkeit hatten, im Ausland zu studieren oder während der Kindheit eine ausländische Gouvernante zu haben. Aus diesem Grund sind in den Erzählungen von Villaggio häufig Szenen zu finden, in denen die Fähigkeit des megadirettore der sprachlichen Ignoranz des Buchhalters Fantozzi gegenübergestellt wird. Letzterer muss immer, wenn er sich im Ausland befindet, die Schikanen der ausländischen Beamten erleiden, die sich über ihn aufregen, weil ihn seine sprachliche Ignoranz wehrlos macht. Dem megadirettore gelingt es hingegen stets, sich ausgezeichnet durchzumogeln, ohne Schikanen zu erfahren. In Il secondo tragico libro di Fantozzi beantwortet der megadirettore nach der Landung auf dem Flughafen in New York die einfachen Fragen der Zollbeamten auf Englisch. Fantozzi spricht hingegen beim Zoll:

Gli furono fatte le domande più imbarazzanti: vollero sapere tutto sui suoi rapporti sessuali. Fantozzi, che non sapeva l'inglese, per farsi capire fu costretto a mimarli. I doganieri, non contenti, gli lessero il

7 SHEVAKIN. Das Fräuleinchen ist doch hübsch.

KOTSCHKARJOW (beiseite). Zum Teufel noch mal. Dieser Trottel hat sich verliebt. Der könnte möglicherweise noch stören. (Laut) Gar nicht hübsch ist sie, überhaupt nicht hübsch.

JAITSCHNIZA. Die Nase ist sehr groß.

SHEWAKIN. Ach nein, die Nase habe ich nicht bemerkt. Sie ist… so ein richtiges Rosenknöspchen.

ANUTSCHKIN. Ich bin auch Ihrer Meinung. Nein, es ist nicht das Richtige, nicht das Richtige. Ich glaube sogar, dass ihr der Umgang mit der höheren Gesellschaft nicht vertraut ist. Und spricht sie überhaupt Französisch?

SHEWAKIN. Aber warum haben Sie, erlaube ich mir zu fragen, nicht versucht, mit ihr französisch zu sprechen? Vielleicht kann sie es doch.

ANUTSCHKIN. Sie glauben, ich spreche Französisch? Nein, ich hatte nicht das Glück, eine solche Erziehung zu genießen. Mein Vater war ein Schurke, ein Rindvieh. Er hat gar nicht daran gedacht, mich Französisch lernen zu lassen. Ich war damals noch ein Kind ich hätte es leicht lernen können, man hätte mich nur ordentlich prügeln müssen und ich hätte es unbedingt gelernt. (38) 8 Gogol’, N. V. (2014): „Ženit’ba.“ In: Peterburgskie povesti. Sankt-Peterburg: Azbuka, 322–384. 48

diario, la rubrica degli indirizzi e anche la mano. Poi, a tradimento, lo vaccinarono contro tutto.9 (25110)

Jedes Mal, wenn sich die Beamten ins Ausland begeben, provozieren ihre mangelnden Fremdsprachenkenntnisse Verlegenheit und Missverständnisse. Die Ignoranz des italienischen Beamten wird häufig der Fähigkeit des ausländischen Beamten gegenübergestellt. Sehr bedeutend ist eine Szene der Erzählung Natale a Copenhagen aus dem Buch Fantozzi contro tutti, die die Beamten der megaditta als Protagonisten sieht, die zusammen in den Urlaub gereist sind. Nach Erreichen des Zolls ergreift der Buchhalter Filini das Wort und versucht, sich irgendwie verständlich zu machen:

Filini parlava per tutti una lingua immaginaria: un misto osceno di francese, spagnolo e inglese italianizzato. «Sem pour un gir della cit nus volem passer il Natal acchì.» I funzionari dell’ufficio Immigrazione danese lo guardavano esterrefatti. Lui sudava come una bestia. Gli si erano appannati gli occhiali, ogni tanto si voltava verso il gruppo accampato per terra con le valigie. «Ora ce la facciamo, non perdiamo la calma, ci stiamo lentamente avvicinando a un civile dialogo.» «Capit?» domandava al funzionario. «Nu volem selman visite Copnau, chiar no?» Quelli invece erano molto, molto imbarazzati, non riuscivano a capire le intenzioni di quel branco disperato. «How long will you stay in Denmark?» domandavano gentilmente in inglese. «Occhei d’accordo» rispondeva Filini sorridendo e grondando gocce di sudore sul banco. Rischiò anche l’arresto un paio di volte per oltraggio alle istituzioni. Furono salvati da un gelataio veneto che

9 Es wurden die peinlichsten Fragen gestellt: sie wollten alles über seine sexuellen Beziehungen erfahren. Fantozzi, der kein Englisch sprach, war gezwungen, diese mimisch darzustellen, um sich verständlich zu machen. Die Zollbeamten, nicht zufrieden, lasen das Tagebuch, das Adressbüchlein und auch die Hand. Anschließend impften sie ihn gegen alles. 10 Villaggio, Paolo (2013): „Il secondo tragico libro di Fantozzi.“ In: Fantozzi, rag. Ugo. La tragica e definitiva trilogia. Con un saggio di semiotica fantozziana di Stefano Bartezzaghi. Milano: Rizzoli, 189– 308. 49

d’estate faceva il pendolare e per Natale veniva a trovare la fidanzata danese.11 (43512)

Aber auch die megadirettori haben einen Schwachpunkt. Während sie auf der einen Seite über eine gute Kenntnis der Fremdsprachen verfügen, zeigen sie sich auf der anderen Seite nicht immer sachkundig im Bereich der klassischen Sprachen. Für die gebildeten Italiener ist die Verwendung von gelehrten lateinischen Zitaten unerlässlich, um die gute Bildung zur Schau zu stellen. Der Fauxpas liegt allerdings immer im Hinterhalt: Häufig werden die lateinischen Wörter komisch italienisiert oder es werden hinsichtlich der Sprichworte ganze Abschnitte erfunden. Dies ist z. B. der Fall bei Avvocato Dott. Catellani, der in einer Episode aus dem Buch Il secondo tragico libro di Fantozzi den Protagonisten zum Billard herausfordert und sich mit folgenden Worten an diesen wendet: „Spostiamoci al biliardo di nuovo ... rag. Fantozzi, qui si parrà la sua nobilitate ... osi ... osi ... perché fortuna doces vat” (255). Während die Worte „parrà la sua nobilitate” eindeutig erfunden sind, ist „fortuna doces vat” hingegen eine Verstümmelung des lateinischen Sprichwortes „fortuna audaces iuvat”.

Die Muttersprache

Aber nicht nur die Fremdsprachen stellen ein großes Hindernis für die činovniki, Protagonisten der Bücher Gogol’s und Villaggios, dar. Häufig manifestiert sich ihre Ignoranz auch durch eine mangelnde Kenntnis ihrer Muttersprache.

Vor der Rechtschreibreform von 1917 war das Russische eine sehr schwer zu schreibende Sprache. Eine der größten Schwierigkeiten, auf die der Schreibende traf, bestand durch das jat. Dieses wurde dann mit der letzten Rechtschreibreform abgeschafft. In Zapiski sumasšedšego findet sich ein lustiger Bezug auf dieses Problem. In einer Szene merkt der

11 Filini sprach eine fiktive Sprache: eine obszöne Mischung aus Französisch, Spanisch und italienisiertem Englisch. «Sem pour un gir della cit nus volem passer il Natal acchì.» Die dänischen Beamten schauten ihn bestürzt an. Er schwitzte wie ein Tier. «Jetzt schaffen wir es, verlieren wir nicht die Ruhe, wir nähern uns langsam einem zivilen Dialog an.» «Capit?» fragte er den Beamten. «Nu volem selman visite Copnau, chiar no?» Diese hingegen waren sehr verlegen, sie verstanden die Absichten dieser verzweifelten Bande nicht. «How long will you stay in Denmark?» fragten sie freundlich auf Englisch. «Ok, einverstanden» antwortete Filini lächelnd und schwitzend. Er riskierte ein paar Mal auch die Verhaftung wegen Beleidigung der Institutionen. Sie wurden von einem venezianischen Eisverkäufer gerettet, der seine dänische Verlobte besuchte. 12 Villaggio, Paolo (2013): „Fantozzi contro tutti.“ In: Fantozzi, rag. Ugo. La tragica e definitiva trilogia. Con un saggio di semiotica fantozziana di Stefano Bartezzaghi. Milano: Rizzoli, 311-544. 50

Protagonist beim Lesen eines von einer Hündin geschriebenen Briefes mit Erstaunen an, dass das Tier sogar besser als sein Amtsvorsteher schreibe:

Письмо написано очень правильно. Пунктуация и даже буква ҍ везде на своем месте. Да эдак просто не напишет и наш начальник отделения, хотя он и толкует, что где-то учился в университете.13 (189)

Laut Günther (1968: 153) ist das hier präsentierte Motiv der scheibenden und sprechenden Hunde Teil der fantastischen Darstellungsebene, die in die realistische eingeflochten wird, wodurch eine groteske Struktur entsteht.

In Bezug auf die gesprochene Sprache kommen die činovniki von Gogol’ gewöhnlich sehr gut zurecht. Sie machen aus der Redekunst eine ihrer Stärken, aber vernachlässigen dabei manchmal den Inhalt. Mit seinem Gehabe als Mann von Welt und seiner städtischen Redekunst gelingt es Chlestakov, dem Protagonisten in Revizor, perfekt die armen unwissenden činovniki aus der Provinz zu verwirren. Sehr bedeutend ist daher die Szene, in der Chlestakov versucht, die Tochter des Polizeimeisters zu verführen, indem er seine Redegewandtheit nutzt, die nichts weiter als einige pseudoromantische Sätze beinhaltet. Das junge Mädchen ist beeindruckt von seiner merkwürdigen Art zu sprechen, die dem Leser jedoch falsch erscheint, und drückt ihr Staunen aus: „Вы говорите по-столичномy14“ (29515).

Hinsichtlich der činovniki in den Büchern von Villaggio stellt sich das Thema völlig anders dar. Fast alle haben nicht nur ernsthafte Probleme, sich in Fremdsprachen auszudrücken, sondern auch in der italienischen Sprache, ihrer Muttersprache. Das deutlichste Beispiel ihres Unvermögens wird mit Sicherheit durch die sehr häufigen Fehler bei der Verwendung des Konjunktivs gegeben. Hauptsächlich machen die Figuren Villaggios Fehler beim Beugen des Konjunktivs und verwenden gewöhnlich eine falsche Endung oder gar andere verbale Modi. Die Verwendung des Konjunktivs im Italienischen ist nicht einfach. Jeder Konjunktiv hat seine eigene Beugung. Aus diesem Grund wurde von zahlreichen Sprachwissenschaftlern entdeckt, dass der Konjunktiv immer häufiger von den Italienern vermieden und die Verwendung des Imperfekts oder des Indikativ Präsens bevorzugt wird, auch wenn es sich grammatikalisch um einen Fehler handelt. Fantozzi und seine Kollegen

13 Der Brief ist sehr richtig geschrieben. Die Interpunktion und sogar das è ist überall am richtigen Platz. Ja, ich glaube, so schreibt nicht einmal unser Abteilungsvorstand, obgleich er faselt, irgendwo an einer Universität studiert zu haben. (60) 14 Sie sprechen wie in der Hauptstadt! (33) 15 Gogol’, N. V. (2014): „Revizor.“ In: Peterburgskie povesti. Sankt-Peterburg: Azbuka, 221–322. 51

hingegen geben dieser vereinfachenden Mode nicht nach. Sie beharren auf dem Versuch, den Konjunktiv zu beugen. Die Wirkung ist wirklich sehr lustig.

Die häufigsten Fehler der Beamten sind folgende Verwendungen:

 venghi anstelle von venga,  mi dii anstelle von mi dia,  facci anstelle von faccia,  batti anstelle von batta.

Opfer dieser sprachlichen Fehler sind aber nicht nur die kleinen činovniki, die keine annehmbare Bildung genießen konnten, sondern auch die megadirettori und die professori. Alle begehen diese groben grammatikalischen Fehler. Beispielsweise probiert im Buch Fantozzi Professor Bellotti-Bon, eine Grabrede zu halten, aber er muss sich sehr schnell mit Problemen sprachlicher Natur auseinandersetzen. Ihm gelingt es nicht, das Verb essere in der ersten Person Plural des Konjunktiv Imperfekts zu beugen. Die korrekte Form wäre fossimo, aber ihm fällt dies nicht ein:

E riprese: «Se noi ora fuuu...». E qui si bloccò. Si era trovato di fronte alla tragica barriera di un congiuntivo. Dall’angolo della bocca gli usciva sol quel curioso sibilo «fuuu...». Un collega gli si avvicinò vedendolo in difficoltà e gli chiese: «Professore, cosa diavolo le succede? Ha forato?». E lui: «No, mi trovo in spaventosa difficoltà con un congiuntivo!». Il collega lucidissimo: «Quale?». Il Bellotti: «Congiuntivo imperfetto prima persona plurale... vado per tentativi?». E il collega: «Vadi!».16 (14417)

Literatur und Kultur

Seit jeher ist die Literatur Synonym für Kultur. Die činovniki müssten sich, da sie letztlich Personen mit einer gewissen Bildung sind, auf irgendeine Weise als sachkundig in diesem Bereich zeigen. Die činovniki von Gogol’ scheinen allerdings eben keine Experten zu sein. Fraglich sind vor allem ihre literarischen Präferenzen und Interessen, die mehr von der Mode des Augenblicks als vom eigenen kritischen Sinn gelenkt zu sein scheinen. Dieser Gedanke wird von Gogol’ in der Erzählung Nevskij Prospekt ausgezeichnet dargelegt. Der russische

16 Und er fuhr fort: «Wenn wir nun...». Und hier unterbrach er sich. Er fand sich der tragischen Barriere eines Konjunktivs gegenüber. Aus dem Mundwinkel entwich ihm nur ein merkwürdiges Zischen. Ein Kollege nährte sich und fragte ihn: «Professor, was zum Teufel geht vor?». Und er: «Ich befinde mich mit einem Konjunktiv in großen Schwierigkeiten!». Der äußerst aufmerksame Kollege: «Welcher?». Bellotti: «Konjunktiv Imperfekt, erste Person Plural... soll ich versuchen zu raten?». 17 Villaggio, Paolo (2013): „Fantozzi.“ In: Fantozzi, rag. Ugo. La tragica e definitiva trilogia. Con un saggio di semiotica fantozziana di Stefano Bartezzaghi. Milano: Rizzoli, 19-186. 52

Autor beschreibt wie folgt den literarischen Geschmack der Petersburger činovniki, die den höchsten Kreisen der Gesellschaft angehören:

Oни считаются учеными и воспитанными людьми. Они любят потолковать об литературе; хвалят Булгарина, Пушкина и Греча и говорят с презрением и остроумными колкостями об А. А. Орлове. Они не пропускают ни одной публичной лекции, будь она о бухгалтерии или даже о лесоводстве. В театре, какая бы ни была пьеса, вы всегда найдете одного из них, выключая разве если уже играются какие-нибудь «Филатки», которыми очень оскорбляется их разборчивый вкус.18 (3519)

In diesem Text stellt Gogol’ beim Beschreiben des literarischen Geschmacks der činovniki Namen von Autoren, die in Wirklichkeit in Widerspruch zu einander stehen müssten, nebeneinander. Bulgarin und Greč können in der Tat als reaktionäre Autoren klassifiziert werden, ganz im Gegenteil zu Puškin und Gogol’ selbst. Das Nebeneinanderstellen dieser Namen in der Liste der bevorzugten Autoren ist zumindest ein Synonym für literarische Konfusion. Dasselbe gilt für den Diskurs über die pièce. Die Entscheidung, alle pièce anzusehen, ist mit Sicherheit kein Zeichen für großen kritischen Sinn, allenfalls Anzeichen einer gewissen Notwendigkeit, um jeden Preis an Kulturstätten erscheinen zu wollen. Die Tatsache, dass die činovniki die Filatke, eine Art von volkstümlichen Voudevilles, die sich auf das Leben des einfachen Volkes konzentrieren, ausschließen, verbessert ihre Situation nicht, sondern macht sie vielmehr noch lächerlicher.

Nicht unbedeutender sind aber die Gaben, mit denen die Natur diejenigen ausgestattet hat, die für Gogol’ den typischen Petersburger činovnik darstellen, z. B. Lieutenant Pirogov als Protagonist des zweiten Teils der Erzählung Nevskij Prospekt. Gogol’ beschreibt dessen Talente wie folgt:

Но поручик Пирогов имел множество талантов, собственно ему принадлежавших. Он превосходно декламировал стихи из «Дмитри Донского» и «Горе от ума», имел особое искусство пускать из трубки дым кольцами так удачно, что вдруг мог нанизать их около десяти одно на другое. Умел очень приятно рассказать анекдот о том, что пушка сама по себе, а единорог

18 Im Übrigen hält man sie jedoch für gelehrt und wohlerzogen. Sie unterhalten sich gern über Literatur, loben Bulgarin, Puschkin und Gretsch und sprechen mit Verachtung und geistreichen Sticheleien über A. A. Orlow. Sie versäumen keinen einzigen öffentlichen Vortrag, wobei es gleichgültig ist, ob er die Buchhaltung oder die Forstwirtschaft betrifft. Im Theater, das Stück spielt keine Rolle, werdet ihr ebenfalls stets den einen oder anderen von ihnen treffen, es sei denn, dass gerade Filatka gegeben wird, weil diese Posse ihren wählerischen Geschmack beleidigt. (39) 19 Gogol’, N. V. (2014): „Nevskij prospekt.“ In: Peterburgskie povesti. Sankt-Peterburg: Azbuka, 7–47. 53

сам по себе. Впрочем, оно несколько трудно перечесть все таланты, которыми судьба наградила Пирогова.20 (35–36)

Während in der Hauptstadt Spuren kulturellen Lebens auszumachen sind, fehlen diese in der Provinz hingegen fast vollständig. Die von Čičikov während seiner Wanderschaft beschriebene Wirklichkeit zeigt ein Russland, das weit entfernt von den Standards der Hauptstadt und den europäischen Städten ist. In diesem Umfeld gelingt es sogar einem Ignoranten wie Chlestakov, sich als ein Mann mit Kultur auszugeben. Der činovnik Dobčinskij antwortet der Ehefrau des Bürgermeisters, die fragt, ob Chlestakov ein General sei: „Нет, не генерaл, a не ycтyпит гeнeрaлy: тaкое обрзовaние и вaжные поcтyпки-c21“ (258).

Dies alles entgeht Chlestakov nicht, der davon profitiert und einen Vorteil daraus zieht. In der Szene, in der er versucht, die Tochter des Polizeimeisters zu verführen, beginnt er, um ihren Wunsch, einige von Chlestakov geschriebene Verse zu zitieren, zu erfüllen, einige Verse des Dichters Lomonosov vorzutragen und sie als seine eigenen auszugeben (296). In einer weiteren Szene hingegen erlaubt er sich sogar, beeinträchtigt durch ein wenig Wein, ohne Zurückhaltung folgendermaßen zu lügen:

ХЛЕСТАКОВ. С хорошенькими актрисами знаком. Я ведь тоже разные водевильчики... Литераторов часто вижу. С Пушкиным на дружеской ноге. Бывало, часто говорю ему: «Ну что, брат Пушкин?» – «Да так, брат, – отвечает, бывало, – так как-то все...» Большой оригинал. АННА АНДРЕЕВНА. Так вы и пишете? Как это должно быть приятно сочинителю! Вы, верно, и в журналы помещаете? ХЛЕСТАКОВ. Да, и в журналы помещаю. Моих, впрочем, много есть сочинений: «Женитьба Фигаро», «Роберт-Дьявол», «Норма». Уж и названий даже не помню, И все случаем: я не хотел писать, но театральная дирекция говорит: «Пожалуйста, братец, напиши что-нибудь». Думаю себе: «Пожалуй, изволь, братец!» И тут же в одни вечер, кажется, все написал, всех изумил. У меня легкость необыкновенная в мыслях. Все это, что было под именем барона Брамбеуса, «Фрегат Надежды» и «Московский телеграф»... все это я написал. АННА АНДРЕЕВНА. Скажите, так это вы были Брамбеус?

20 Doch der Leutnant Pirogow hatte eine Menge Talente, die nur im persönlich zu zeigen waren. Er deklamierte ganz vortrefflich Verse aus Dmitrij Donskoj und Verstand schafft Leiden, beherrschte die außerordentliche Kunst, den Rauch aus seiner Pfeife in so vollendeten Ringe auszustoßen, dass er etwa ein Dutzend nebeneinander aufreihen konnte, und verstand sehr angenehm die Anekdote zu erzählen, dass die Kanone ein Ding für sich und das Einhorn ein Ding für sich sei. Übrigens fällt es einigermaßen schwer, alle Talente aufzuzählen, mit denen sich das Schicksal Pirogow bedacht hatte. (40) 21 Nein, kein General, doch er steht keinem General nach. Welch eine Bildung und welch bedeutendes Auftreten. (45) 54

ХЛЕСТАКОВ. Как же, я им всем поправляю статьи. Мне Смирдин дает за это сорок тысяч. АННА АНДРЕЕВНА. Так, верно, и «Юрий Мирославский» ваше сочинение? ХЛЕСТАКОВ. Да, это мое сочинение. АННА АНДРЕЕВНА. Я сейчас догадалась. МАРЬЯ АНТОНОВНА. Ах, маменька, там написано, что это господина Загоскина сочинение. АННА АНДРЕЕВНА. Ну вот: я и знала, что даже здесь будешь спорить. ХЛЕСТАКОВ. Ах да, это правда: это точно Загоскина; а есть другой «Юрий Мирославский», так тот уж мой.22 (266–267)

In diesem Kontext der kulturellen Mittelmäßigkeit scheint auch der Sohn des činovnik Dobčinskij in den Augen des Vaters sehr begabt zu sein, der seine Gaben wie folgt lobt: „дa жaль нacчет cпоcобноcтей. Maльчишкa-то этaкой ... большие нaдежды подaeт: нaизycть cтиxи paзные paccкaжет и, еcли где попaдет ножик, ceйчac делaeт мaленькие дpoжечки так иcкycно, кaк фoкycник-c23“(286).

22 CHLESTAKOW. Und auch mit hübschen Schauspielerinnen bin ich intim. So habe ich unter anderem allerlei Singspielchen verfasst… Und Literaten sehe ich häufig. Mit Puschkin stehe ich auf Freundesfuß. So pflege ich ihm gelegentlich zu sagen: „Na was, Bruder Puschkin?“ – „Nun so, Bruder“, pflegt er dann zu antworten, „alles irgendwie so herum…“ Ein zu großes Original.

ANNA. Dann schreiben Sie also auch? Wie angenehm muss es doch ein Verfasser haben! Und wahrscheinlich erscheinen Sie auch häufig in den Zeitungen?

CHLESTAKOW. Ja, ich veröffentliche auch in Zeitschriften. Im Übrigen gibt es viele Werke von mir: Die Hochzeit Figaros, Robert der Teufel, Norma, ich weiß schon gar nicht mehr alle Titel, und alles das rein zufällig. Ich wollte gar nicht mehr schreiben, da sagte die Theaterdirektion zu mir: „Bitte schön, Brüderlein, schreib doch irgendwas.“ Und da dachte ich mir: Bitte schön, wenn es sein muss, Brüderlein! Und dann habe ich noch am gleichen Abend, wie mir scheint, alles aufgeschrieben, sodass alle ganz platt waren. Die Gedanken strömen mir nur so zu, all das, was unter dem Namen Baron Brambeus erschien, die „Fregatte Hoffnung“ und der „Moskauer Telegraf“… all das ist von mir.

ANNA. Sagen Sie doch, dann sind Sie der Brambeus?

CHLESTAKOW. Klar, ich korrigierte allen ihre Artikel, und Smirdin bezahlt mir dafür vierzigtausend.

ANNA. Dann ist wohl auch der „Jurij Miroslawskij“ Ihr werk?

CHLESTAKOW. Freilich ist das mein Werk.

ANNA. Ich habe es gleich erraten.

MARIJA. Ach, Mamachen, dort steht doch geschrieben, dass es ein Werk von Herrn Sagoskin ist.

ANNA. Na so was, ich konnte mir schon denken, dass du sogar hier Streit suchen wirst.

CHLESTAKOW. Ach ja, stimmt, freilich Sagoskin; es gibt jedoch einen zweiten „Jurij Miroslawskij“, der ist von mir. (54-55) 23 Ich würde es nicht wagen, Sie damit zu belästigen, wenn nicht seine Begabung einem Leid täte … er weckt die allergrößten Hoffnungen: er sagt Ihnen allerlei Gedichte auswendig her, und wenn ihm 55

Die Ignoranz im kulturellen und im literarischen Bereich ist auch eines der Hauptmerkmale der činovniki, die die Protagonisten der Erzählungen von Villaggio sind. In Italien war, um wie Fantozzi činovnik zu werden, das Erreichen der Hochschulreife, gewöhnlich ein Technikum, unerlässlich. Neben den acht Jahren der Pflichtschule musste auch ein anschließender Studiengang abgeschlossen werden. Diese Schulen sahen hauptsächlich das Lehren von technischen Fächern wie Buchhaltung, Wirtschaft und Recht vor. Die Geisteswissenschaften wurden aber nicht völlig vernachlässigt. Ihnen war eine diskrete Anzahl von Wochenstunden gewidmet. Angesichts der Fähigkeiten, die von Fantozzi und seinen Kollegen gezeigt werden, waren diese eher weniger effektiv.

Emblematisch sind in diesem Sinn die gelegentlichen Lektüren von Fantozzi. Es gibt nicht das geringste Anzeichen von literarischen Werken mit einem gewissen kulturellen Wert. Lesen ist nicht wirklich eine seiner bevorzugten Aktivitäten. Nur die Gazzetta dello sport scheint in ihm diese nunmehr schlummernde Leidenschaft zu wecken. Das einzige Mal, dass er beim Lesen eines Buches überrascht wird, ereignet sich in Fantozzi. Hier hat der arme Buchhalter die Absicht, das unbekannte Buch Il venditore meraviglioso24 zu lesen (157).

Der Buchhalter Fantozzi hat dann auch weitere Möglichkeiten, um sich mit der Welt der Kultur auseinanderzusetzen. In keinem Fall gelingt es ihm allerdings, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sehr berühmt ist der Inhalt einer Episode in Fantozzi, deren Verfilmung zu einem Kult des italienischen Kinos geworden ist. Letztere bleibt allerdings dem Buch nicht ganz treu. Zu sehen ist ein noch junger Fantozzi, der aufgrund einer sehr langen sexuellen Abstinenz ein „linker Intellektueller“ geworden ist und daher Interesse an dem berühmten Film Ėjzentsteins Bronenosec Potemkin zeigt:

Alla fine del Potёmkin non si può scappare, no! Comincia la parte più stimolante ed esaltante della serata: il dibattito! Si alza un tipo di santone con barba e baffi da superintellettuale, sguardo illuminato da una luce interiore, ma in realtà illuminato dalla follia e dalla voglia frustrante di una serata normale a vedere Buzzanca con una bella ragazza appoggiata sulla spalla. Il santone in vent’anni ha esaurito ogni possibile argomentazione dialettica in materia ed emette solamente dei fonemi puri: «Uammm...». È questo un lungo ululato che serve a sganciare di colpo tutte le barbe dal soffitto. Si vegliano tutti. E il santone: «... l’occhio della madre... la carrozzella che scende dalla scalinata [...], il più grande film di tutti i tempi... Uammm... uammm...» e termina con un grande ululato a finire.

ein Messerchen in die Hand fällt, dann weiß er gleich einen kleinen Wagen zu schnitzen, so vortrefflich als wäre ein Tausendsassa. (74) 24 Der wunderschöne Verkäufer. 56

Passarono così infruttuosamente vent’anni e mai Fantozzi aveva partecipato agli osanna finali. Una sera davano il Potёmkin. Alla fine [...] si fa nella sala un grande silenzio, assoluto, magico. Da fondosala Fantozzi alzò il pollice della mano destra e disse timidamente: «Scusi, posso dire una cosa io?». «Prego, caro... finalmente uno nuovo, venghi.» (I santoni cadono sui verbi!) Fantozzi attraversò in un clima di generale suspense la sala, arrivò al microfono, si schiarì la voce e disse: «Per me La corazzata Potёmkin è una cagata pazzesca!». Novantadue minuti di applausi!25 (183–186)

2.2 Vulgarität

Die Vulgarität ist ein sehr komplexes Gefühl, das unter verschiedenen Aspekten in Erscheinung treten kann. Dieses Wort bezeichnet im Allgemeinen Verhaltensweisen, Gesten oder Objekte, die die Regeln des guten Geschmacks nicht einhalten. Dieser Erklärung ist angesichts der weiteren Eigentümlichkeiten der pošlost' der činovniki in den Werken von Gogol’ und von Villaggio bereits zu entnehmen, wie die Vulgarität eine andere der unverwechselbaren Qualitäten der in dieser Masterarbeit analysierten Figuren sein kann.

In den Werken Gogol’s ist stets ein Kontrast zwischen dem Adel, der Moral, der Würde und der tatsächlichen Natur der činovniki, hauptsächlich durch die pošlost' charakterisiert, vorhanden. Die Vulgarität stellt in diesem Sinn das Gegenstück des moralischen Verhaltens, das man von Personen, die bedeutende Rollen in der Verwaltung von öffentlichen Angelegenheiten einnehmen, erwarten sollte. Diese zeigt sich eben durch ein Verhalten,

25 Dem Ende von Potёmkin kann man nicht entkommen! Es beginnt der anregendste und aufregendste Teil des Abends: die Debatte! Es erhob sich eine Art Asket mit Bart und Schnurrbart wie ein Super-Intellektueller, mit von innerem Licht erhelltem Blick. Aber in Wirklichkeit war er vom Wahnsinn und der frustrierenden Lust, eines Abends in einem normalen Kino mit einem schönen Mädchen zu verbringen, erhellt. Der Asket hatte in zwanzig Jahren jede mögliche dialektische Argumentation zum Thema erschöpft und stößt nur reine Phoneme aus: «Uammm...». Alle wachten auf. Und der Asket: «... das Auge der Mutter... der Kinderwagen, der die Treppe herunterkommt [...], der größte Film aller Zeiten... Uammm... uammm...» und schließt mit einem großen Geheul ab. So vergehen zwanzig fruchtlose Jahre und Fantozzi hatte niemals an der Diskussion teilgenommen. Eines Abends gaben sie erneut den Potёmkin. Am Ende [...] breitete sich eine große, absolute, magische Stille im Saal aus. Aus dem Hintergrund hebt Fantozzi die Hand und sagt schüchtern: «Entschuldigen Sie, kann ich etwas sagen?». «Bitte, Lieber... endlich ein Neuer, kommen Sie.» Fantozzi durchquert den Saal, gelangte zum Mikrofon, räusperte sich und sagte: «Für mich ist Panzerkreuzer Potёmkin eine unglaubliche Scheiße!». Zweiundneunzig Minuten Applaus! 57

einen Ausdruck oder eine einfache Geste, die in der Lage ist, die gesamte Verworfenheit der činovniki zu erfassen. Darüber hinaus kann die Vulgarität als unverwechselbare Äußerung des Grotesken angesehen werden.

Gogol’s Figuren demonstrieren häufig ihre Vulgarität, z. B. in ihrer Art, sich Frauen gegenüber zu verhalten. In Ženit'ba beispielsweise werden in einer Szene die činovniki beim Ausspionieren der schönen Agaf'ja durch das Schlüsselloch überrascht (347). In Revizor hingegen macht Chlestakov zuerst der Tochter des Polizeimeisters, dann der Ehefrau und schließlich erneut der Tochter unanständige Angebote (265–267). Lieutenant Pirogov hat in Nevskij Prospekt sogar das „Hobby“, die auf der Straße getroffenen Frauen zu verfolgen (34).

Die Vulgarität zeigt sich in den Figuren bei Gogol’ auch durch eine Reihe ihrem Rang und ihrer gesellschaftlichen Stellung unangemessener Verhaltensweisen. In diesem Sinn kann die Vulgarität als Äußerung des Grotesken angesehen werden. Aus dem, was der vulgäre činovnik von Rang macht, und dem, was man von ihm erwarten würde, entsteht ein Kontrast, der sehr grotesk wirkt. Eine der vulgärsten Figuren ist der mutmaßliche Inspektor Chlestakov. Er wäre in Wirklichkeit ein einfacher činovnik des letzten Rangs, dessen schreckliches Benehmen allerdings von den činovniki der kleinen Stadt als absolut unpassend für eine Person, die einen hohen Rang in der Petersburger Gesellschaft einnimmt, angesehen wird (vgl. Ermilov 1952: 216–217). Daher schreibt Gogol’ ihm die mutmaßlichen Eigenschaften eines Inspektors des zaristischen Russlands des 19. Jh. zu; genau darin besteht die satirische Komödie. Chlestakov möchte vornehmlich nur essen und Karten spielen. Nach dem Essen ist es bei ihm üblich, mit den Fingern in den Zähnen zu stochern. Wenn er sich betrinkt, spricht er unangebracht. In den privaten Gesprächen mit den činovniki der kleinen Stadt stellt er ihnen die dümmsten Fragen.

Die činovniki scheinen zudem eine große Leidenschaft für Alkohol zu haben. In Revizor, organisieren die činovniki, um sich bei dem mutmaßlichen Inspektor einzuschmeicheln, ein spezielles Frühstück, bei dem dem Gast sehr viel Wein angeboten wird (256). Ebenfalls in dieser Komödie kann sich zudem ein Polizist wegen eines schrecklichen Katers nicht zur Arbeit begeben und der Stadtrat schwört, dass der Geruch von Wodka, den er ständig ausströmt, auf einen Unfall, den er als Kind hatte, zurückzuführen ist (239). In Šinel' hingegen wird der Protagonist von den Kollegen zu einem Fest eingeladen, auf dem diese fröhlich trinken (163). In der Komödie Ženit'ba versucht die baba Fekla, Agaf'ja zu überreden, den činovnik Akinf Stepanovič zu heiraten, indem sie zu ihr sagt: „впpочем, что ж такого, что иной paз выпьет лишнее, - ведь не вcю же неделю бывает пьян: иной день выбеpетcя и тpезвый“ (339). Die signifikanteste Episode ist aber zweifelsfrei in Mertvye Duši enthalten. Hier wird Čičikov zu einem besonderen Abendessen im Haus des Polizeichefs eingeladen, wo die činovniki dies ausnutzen, um ein wenig die Tassen zu heben: 58

Полицеймейстер, кажется, не любил жалеть вина; тостам не было числа. Первый тост был выпит, как читатели, можеть быть, и сами догадаются, за здоровье нового херсонского помещника, потом за здоровье будущей жены его, красавицы, что сорвало приятную улывку с уст нашего героя. […] "Браво, остается!" - закричали все. - Виват, ура, Павел Иванович! Ура! - И все подошли к нему чокаться с бокалами в руках. Чичиков перечокался со всеми. "Нет, нет, еще!" - говорили те, которые были позадорвнее, и вновь перечокались; потом полезли в третий раз чокаться, перечокались и в третий раз. В непродолжительное время всем сделалось весело необыкновенно. Председатель, который был премилый человек, когда развеселялся, обнимал несколько раз Чичикова, произнеся в излиянии сердечном: "Душа ты моя! Маменька моя!" - и даже, щелкнув пальцами, пошел приплясывать вокруг него,припевая известную песню: "Ах ты такой этакой камаринский мужик". После шампанского раскупорили венгерское, которое придало еще более духу и развеселило общество. Об висте решительно позабыли; спорили, кричали, говорили обо всем: об политике, об военном даже деле, излагали вольные мысли, за которые в другое время сами бы высекли своих детей. Режили тут же множество самых затруднительных вопросов. Чичиков никогда не чувствовал себя в таком веселом расположении, воображал себя уже настоящим херсонским помещником, човорил об разных улучшениях: о трехпольном хозяйстве, о счастии и блаженстве двух душ, и стал читать Совакевичу послание в стихах Вертера к Шарлотте […]. Чичиков смекнул и сам, что начал уже слишком позвязываться […].26 (539)

26 Der Polizeimeister schonte den Wein nicht, zahllose Toaste wurden ausgebracht. Der erste Toast galt, wie leicht zu erraten, der Gesundheit des neuen Chersoner Gutbesitzers, dem Gedeihen der Bauern und ihrer glücklichen Übersiedlung. Dann wurde auf die Gesundheit der künftigen reizenden Frau des neuen Gutbesitzers getrunken, wobei um die Lippen unseres Helden ein angenehmes Lächeln schwebte. […] „Bravo, er bleibt!“ schrien alle. „Vivat, Hurra! Paul Iwanowitsch! Hurra!“ Und alle küssten ihn, die Pokale in den Händen. Nun ging erst das Schmatzen los. „Nein, nein, noch einmal,“ sagten die Eifrigen, und schmatzen unsern Helden zwei- und sogar dreimal. Die ganze Gesellschaft wurde ungewöhnlich lustig. Der Präsident, der, wenn er etwas im Kopf hatte, ungemein liebenswürdig war, umarmte Tschitschikow mehrmals, rief, vom Gefühl überströmend, aus: „Meine Seele, mein Schatz, mein Mütterchen!“ schnalzte vor Lust mit den Fingern, tanzte um Tschitschikow herum, und sang dabei bekannte russische Volksmelodien. Nach dem Champagner wurden ein paar Flaschen Ungarwein entpfropft, und der machte die Gesellschaft noch heiterer. An den zu beendenden Whist dachte niemand; sie schrien, gerieten in freundschaftliche Dispute, sprachen von allem, von Politik, von der Kriegskunst, und gaben sogar liberale Ideen zum Besten, für welche sie im nüchternen Zustand ihren Kindern die Rute gegeben hätten. Die wichtigsten Lebens- und Staatsfragen wurden in der kürzesten Zeit entschieden. Tschitschikow war noch nie so froh gewesen, er bildete sich ein, wirklich Chersoner Gutbesitzer zu sein, sprach von verschiedenen vorzunehmenden Verbesserungen in der Ökonomie, setzte das Glück und die Seligkeit zweier gleichfühlender Seelen auseinander, und 59

In den Werken Gogol’s manifestiert sich die Vulgarität zudem durch eine Reihe von Verhaltensweisen, die nichts mit der Moralität und der Integrität zu tun haben, die man von denjenigen, die privilegierte Stellungen in der Gesellschaft besetzten, erwarten würde. Sehr bedeutend ist in diesem Sinn das Verhalten des značitel’noe lico in Šinel’, der, um die Gewissensbisse zu besänftigen und zu vergessen, seiner Prostituierten-Geliebten einen Besuch abstattet (175). In Nos hingegen wird der Major Kovalev dabei überrascht, wie er sich die Nase mit Tabak füllen möchte, während er mit Damen spricht (76).

Auch in den Erzählungen von Villaggio ist die Vulgarität eine der grundlegenden Eigenschaften der Beamten jeden Grades. Diese kann sich wie bei den Figuren Gogol’s auf verschiedene Weise zeigen. Beispielsweise finden sich der schlechte Geschmack beim Bekleiden, der Kauf von unzüchtigen Gegenständen, der Alkoholmissbrauch und weitere wenig kultivierte Verhaltens- und Benehmensweisen.

Die Figur, die am besten die Vulgarität der italienischen Beamten der zweiten Hälfte des 20. Jh. verkörpert, ist der Geometer Calboni. Obgleich er wie Fantozzi ein malen’kij čelovek ist, stellt er die Art und Weise der feinen Gesellschaft zur Schau, der er anzugehören meint. Er benimmt sich mit der für einen bürgerlichen Dandy typischen Arroganz und Vulgarität, indem er damit angibt, ranghohe Personen zu kennen und Ländereien an exklusiven Orten zu besitzen. Durch die Zuschreibung dieser Eigenschaften macht der Schriftsteller aus Calboni eine Karikatur des Playboys der siebziger Jahre und deckt seine unendliche Vulgarität und seine pošlost’ auf. Seine Darstellung ist auf diese Weise eine Kritik sowohl an dieser Art von Personen als auch an denjenigen, die zu der Zeit aus diesen ein Vorbild machten. Fantozzi scheint der einzige unter den kleinen Beamten zu sein, der versteht, dass nicht nur die von Calboni herausgekehrte Art und Weise äußerst vulgär und anekelnd ist, sondern auch Calboni in Wirklichkeit ein armer Schlucker ist wie er selbst. Dieser Widerspruch löst in Fantozzi einen wahren Hass gegenüber dem Kollegen aus, den er aber nicht äußern kann. Daher gibt er sich heuchlerisch als sein Freund aus. Diese Diskrepanz zwischen dem, was Fantozzi über Calboni denkt, und dem, wie er sich trotzdem ihm gegenüber benimmt, wirkt sehr grotesk. Die Beschreibungen von Calboni sind sehr bedeutend:

Luciano Calboni era uno dell’ufficio Acquisti che aveva fama di gran vitaiuolo, gran conquistatore di donne e gran simpatico. Ma a Fantozzi era odioso perché «sentiva» che sotto quel parlar forbito si nascondeva un imbecille e sotto quella ricercata eleganza, che andava dal fazzoletto nel taschino all’anello con pietra di onice al mignolo, una guitteria di presentatore di balera. Insomma aveva

las Sabakowitsch eine gereimte Epistel Werthers an Charlotte vor […]. Tschitschikow schien zu fühlen, dass er des Guten zu viel getan […]. (215-216) 60

sempre saputo che Calboni era di una volgarità d’animo rivoltante, ma che di lui si diceva un gran bene.27 (266)

Luciano Calboni era di gran lunga il più odioso dei suoi colleghi d’ufficio. [...] Calboni era un disinibito, odiosissimo, stronzo, stupido, bugiardissimo e fastidiosamente profumato di Tabacco d’Harar. Lo riempiva di balle e di vanterie e quel che è peggio raccontava tutto a tutti. [...] Ma fin dalla prima mattina ecco il profumatissimo Calboni. Barzellette, giochi d’abilità e avventure sessuali rivoltanti erano il suo ignobile repertorio.28 (273)

Calboni scheint daher Chlestakov ziemlich ähnlich. Beide sind in der Tat unverschämt, Lügner, dumm und sehr vulgär. Der Unterschied besteht in der Tatsache, dass Calboni in Wirklichkeit ein malen’kij čelovek wie Fantozzi ist, Chlestakov jedoch ein Aristokrat. Und genau dieser Widerspruch macht Calboni lächerlich und grotesk.

Eine der Haupteigenschaften der kleinen Beamten der Erzählungen von Villaggio ist ein äußerst vulgärer Geschmack. Dies zeigt sich jedes Mal, wenn Fantozzi mit den Kollegen der Firma in den Urlaub fährt. Bei diesen Gelegenheiten tragen die činovniki die Kleidung der flegelhaftesten Touristen und benehmen sich auch als solche. Sehr bedeutend ist z. B. die Wahl der Souvenirs für die daheimgebliebenen Verwandten und Freunde. In einer Episode aus Fantozzi contro tutti sind die Protagonisten die Beamten der megaditta bei der Rückkehr aus dem Urlaub in Dänemark und die schweizerischen Zollbeamten überprüfen den Inhalt ihrer Koffer:

Fantozzi passò [...] tutta la settimana di Natale e Capodanno a girare la città sfogliando riviste pornografiche, comprando pillole erotizzanti, fruste, cazzi finti, mutande traforate, preservativi colorati flagellati e anche una sella che la Pina non avrebbe forse mai voluto in casa. [...] Il mattino dopo alla dogana di Ponte Chiasso gli Svizzeri aprirono la valigia di Colsi di fronte a tutti i colleghi: c’erano almeno 40 chili di materiale pornografico! Gliela fecero penosamente richiudere senza obiettare ma per Colsi fu un’umiliazione orrenda.

27 Luciano Calboni war einer aus der Einkaufsabteilung, der einen Ruf als Mann von Welt, Fraueneroberer und sympathische Person hatte. Aber Fantozzi war er zuwider, weil er spürte, dass sich unter dieser geschliffenen Sprache ein Trottel versteckte und unter der gekünstelten Eleganz (die vom Taschentuch in der kleinen Tasche bis zum Ring mit Onyxstein am kleinen Finger reichte) die Armseligkeit eines Tanzsaalansagers. Kurzum, er wusste seit jeher, dass Calboni von einer Vulgarität mit schwankender Seele war. 28 Luciano Calboni war weitaus der gehässigste seiner Bürokollegen. [...] Calboni war enthemmt, äußerst gehässig, ein Scheißkerl, dumm, ein großer Lügner und sehr störend parfümiert. Er erzählte nur Lügen und Prahlereien und erzählte allen alles. [...] Aber seit dem frühen Morgen präsentierte sich der sehr stark duftende Calboni so: Witze, Geschicklichkeitsspiele und abstoßende sexuelle Abenteuer gehörten zu seinem verwerflichen Repertoire. 61

Fantozzi uscì in corridoio con la Silvani e attaccò: «Io proprio non riesco a capire questa mania del sesso, signorina, io certe manifestazioni le trovo decisamente imbarazzan...». Non finì la frase perché il doganiere svizzero gli indicò freddamente di aprire la valigia. Lui impallidì ed ebbe un violentissimo rigurgito di cetriolo. Fu costretto ad aprirla di fronte alla Silvani: aveva una trentina di cazzi finti! Lei lo guardò con un disprezzo inenarrabile. «Fantozzi?» disse. «Si?» fece con una vocetta da suora infermiera. «Lei è proprio uno stronzo!» e si allontanò saltellando lungo il corridoio.29 (443-444)

Das Verhältnis der italienischen činovniki zu den Frauen ist dem der russischen Kollegen sehr ähnlich: Auch Fantozzi und seine Kollegen zeichnen sich nicht durch Freundlichkeit und Eleganz aus. Die Frau, insbesondere die Geliebte, wird als ein Symbol von Macht gesehen. Jeder Beamte versucht, eine Geliebte zu finden, um sich der bürgerlichen chauvinistischen Mode anzupassen, die den erfolgreichen Mann umgeben von schönen Frauen sieht. In diesem Bereich allerdings ist zu bemerken, dass auch für die Figuren Gogol’s ein gewisser Unterschied zwischen malen'kie ljudi und činovniki besteht. Während die Letztgenannten häufig mit Geliebten und Prostituierten (auf Kosten der megaditta) dargestellt werden, haben die Ersten wie Fantozzi gewöhnlich eine schreckliche Ehefrau und sind auf der ständigen Suche nach einer Geliebten oder einem sexuellen Abenteuer. Ein sehr unterhaltsames Beispiel wird in einer Episode in Fantozzi geboten, in der der arme Buchhalter die Nacht in einem Zug in einem Schlafwagen verbringt und von einem Abenteuer mit einer hypothetischen Abteilnachbarin träumt:

Fantozzi entrò emozionatissimo e si preparò per la sua prima notte in vagone letto: era timoroso come una giovane sposa. [...] Attaccando la giacca all’attaccapanni fece toc! toc! nella parete divisoria con lo scompartimento accanto. Toc! toc! rispose qualcuno maliziosamente. Toc... tuc... toc, fece Fantozzi con le nocche. Toc... tuc... toc, rispose

29 Fantozzi verbrachte [...] die gesamte Woche von Weihnachten und Silvester im Urlaub. Er blätterte in pornografischen Zeitschriften und kaufte erotisierende Pillen, Peitschen, künstliche Schwänze, gelöcherte Unterhosen, farbige Präservative und auch einen Sattel, den Pina hätte niemals im Haus haben wollen. [...] Am Morgen danach am Zoll von Chiasso öffneten die Schweizer den Koffer von Ing. Colsi vor allen Kollegen: es waren mindestens 40 Kilo an pornografischem Material! Sie ließen ihn den Koffer penibel verschließen, ohne Einwendungen, aber für Colsi war es eine schreckliche Demütigung. Fantozzi sagte zu Silvani: «Ich kann diese Sex-Manie wirklich nicht verstehen, Fräulein, ich finde diese Dinge ziemlich peinlich». Er beendete den Satz nicht, da der Schweizer Zollbeamte ihn aufforderte, den Koffer zu öffnen. Er wurde blass. Er war gezwungen, ihn vor Silvani zu öffnen: er hatte etwa dreißig künstliche Schwänze! Sie sah ihn mit unsäglicher Verachtung an. «Fantozzi?» sagte sie. «Ja?» sagte er mit der Stimme einer Pflegeschwester. «Sie sind ein wirkliches Arschloch!» und ging weg. 62

certamente una bella sconosciuta. Fantozzi era in piena avventura di viaggio! Si avventò sul lavandino, si pulì i denti, si pettinò e si profumò indecorosamente con del Tabacco d’Harar in zone intime, e questa operazione gli provocò dei bruciori da ululato represso. Stava per uscire in mutande ma ebbe un ripensamento: si fasciò ad arte con un lenzuolo e con passo leggero affrontò in corridoio la prima avventura di viaggio della sua vita. Sembrava Cicerone. Dallo scompartimento accanto uscì un altro Cicerone, anche lui indecorosamente profumato, però con i baffi. I due antichi romani si fissarono per un attimo, poi si sorrisero tragicamente e rientrarono.30 (139)

Die Figur der Geliebten und das Thema des Ehebruchs finden in den Erzählungen von Villaggio großen Raum. Aus offensichtlichen Gründen in Zusammenhang mit der Zensur wird dies nur gelegentlich von Gogol’ erwähnt. Bei der Behandlung dieses Themas durch die beiden Autoren gibt es aber einen wesentlichen Unterschied. Während der malen’kij čelovek Gogol’s nicht an dieser Art Beziehung interessiert scheint, ist der der Erzählungen von Villaggio ständig auf der aussichtslosen Suche nach einer Geliebten. Aber unter Betrachtung der Geliebten als ein Privileg der betuchteren Gesellschaftsschichten ergibt sich diese als eine andere Form der Gesellschaftskritik: Die Armen können sich laut Villaggio nicht einmal mehr eine annehmbare Geliebte leisten, mit der sie sich ein wenig vergnügen und ihre alltägliche Tragödie vergessen können.

Wie für die russischen Kollegen zeigt sich auch für die italienischen Beamten die Vulgarität durch einen nicht immer sittsamen Alkoholkonsum. Interessant ist die Tatsache, dass dieses Detail in der Verfilmung der Erzählungen von Villaggio vollständig weggelassen wurde. In den Erzählungen hingegen sieht man bei vielen Gelegenheiten Fantozzi, der heiter mit den Kollegen die Gläser hebt, aber niemals mit Familienmitgliedern. Diese Episoden treten hauptsächlich während der Reisen auf, die von der megaditta organisiert werden. Sehr vergnüglich ist die Szene in einer Episode aus Fantozzi, in der sich die Beamten nach einem reichhaltigen morgendlichen Gelage zum lächerlichsten Benehmen hinreißen lassen:

30 Fantozzi betrat ganz aufgeregt für seine erste Nacht den Schlafwagon: er war ängstlich wie eine junge Braut. [...] Beim Aufhängen der Jacke an den Kleiderhaken klopft er an der Trennwand zum Nachbarabteil. Tock! tock! antwortet jemand neckisch. Tock... tuck... tock, machte Fantozzi mit den Knöcheln. Tock... tuck... tock, es antwortet sicherlich eine schöne Fremde. Fantozzi war voller Abenteuerlust! Er ging zum Waschbecken, putzte sich die Zähne, kämmte sich und parfümierte sich unanständig in der Unterhose. Er war dabei, in Unterhose bekleidet hinauszugehen, bekam aber Bedenken: er wickelte sich in ein Laken und ging auf den Korridor. Er schien Cicero zu sein. Aus dem angrenzenden Abteil kam ein weiterer Cicero, auch er unanständig parfümiert, aber mit einem Schnurrbart. Die beiden antiken Römer fixierten sich für einen Augenblick, lächelten dann tragisch und kehrten um. 63

Partenza in pullman alle cinque del mattino, quattro gradi sotto zero, sotto una pioggia torrenziale e con qualche nevicata isolata. Si erano attrezzati tutti contro quel tempaccio: fiaschi di vino. Tutti si ripetevano: «Beva, che fa sangue!». Si levarono subito i primi tristissimi canti della montagna, e al casello dell’autostrada il pullman fu anche investito da alcune valanghe. I canti erano così belli che per il vino e per il grande impegno interpretativo e per il freddo molti avevano le lacrime agli occhi. [...]All’autogrill scese a prendere un caffè un branco di avvinazzati. E qui il dottor Lucidi dell’ufficio del Personale, che era stato assunto per una sua bellissima tesi di laurea dal titolo «L'orientamento professionale dei giovani», perse completamente l’orientamento, causa vino, sbagliò scala e salì su un pullman che imboccò la corsia di ritorno: alle nove del mattino di quella domenica era già di ritorno a casa completamente distrutto e in uno stato di ubriachezza molesta, guardato con diffidenza dai vicini che cominciarono a pensarlo un debosciato perdinotte.31 (35–36)

2.3 Selbstgefälligkeit

Die pošlost' zeigt sich auf viele Weisen. Unter diesen sticht die Selbstgefälligkeit in Form einer krankhaften Bindung an materielle Symbole des Bürgertums hervor. Da Gogol’ und Villaggio die Wirklichkeit auf satirische Weise darstellen, fällt die Selbstgefälligkeit hauptsächlich auf nichtige Gegenstände wie eben die materiellen Symbole des Bürgertums. Ihre Zurschaustellung seitens der feinen Gesellschaft wird von Gogol’ in Nevskij Prospekt gewissenhaft beschrieben. Die Erzählung beginnt mit der ironischen Beschreibung des Bürgertums beim Spaziergang durch die Hauptstraße der Hauptstadt. Gogol’ verweilt bei der ausführlichen Beschreibung der Gegenstände und der Kleidung dieser Personen, die tatsächlich spazieren gehen, um sich den anderen Bürgern zur Schau zu stellen:

31 Abfahrt mit dem Bus um fünf Uhr morgens, vier Grad unter null, strömender Regen und etwas Schneefall. Alle hatten sich gegen dieses schlechte Wetter ausgerüstet: Korbflaschen mit Wein. Alle wiederholten sich: «Trinken Sie, das tut gut!». Sie begannen sofort die ersten sehr traurigen Lieder der Berge und an der Autobahnmautstelle wurde der Reisebus auch von einigen Lawinen erfasst. Die Lieder waren so schön, dass (wegen des Weins und wegen des großen interpretativen Engagements und wegen der Kälte) viele Tränen in den Augen hatten. [...] An der Raststätte stieg ein Haufen von Beschwipsten aus, um einen Espresso zu trinken. Und hier verlor Dr. Lucidi von der Personalabteilung wegen des Weins vollständig die Orientierung. Er nahm die falsche Treppe und stieg in einen Reisebus, der zurückfuhr. Um neun Uhr morgens dieses Sonntags war er bereits auf dem Heimweg, vollständig kaputt und in einem Zustand der Trunkenheit. Die Nachbarn schauten ihn argwöhnisch an und begannen, ihn als Wüstling zu betrachten. 64

Все, что вы ни встретите на Невском проспекте, все исполнено приличия: мужчины в длинных сюртуках, с заложенными в карманы руками, дамы в розовых, белых и бледно-голубых атласных рединготах и шляпках. Вы здесь встретите вакендары единственные, пропущенные с необыкновенным и изумительным искусством под галстук, бакендары бархатные, атласные, черные, как соболь или уголь, но, увы, принадлежащие только одной иностранной коллегии. […] вы здесь встретите усы чудные, никаким пером, никакую кистью не изобразимые; усы, которым посвящена лучшая половина жизни, - предмет долгих бдении во время дня и ночи, усы, которые излились восхитительнейшие духи и ароматы и которых умастили все драгоценнейшие и редчайшие сорты помад, усы, которые заворачиваются на ночь тонкою веленевою бумагою, усы, к которым дышит самая трогательная привязанность их посессоров и которым завидуют проходящие. Тысячи сортов шляпок, платьев, платков, - пестрых, легких, к которым иногда в течение целых двух дней сохраняется привязанность их владетельниц, ослепят хоть кого на Невском проспекте. […] А какие встретите вы дамские рукава на Невском проспекте! Ах, какая прелесть! Они несколько похожи на два воздухоплавательные шара, так что дама вдруг бы поднялась на воздух, если бы не поддерживал ее мужчина […]. Тут вы встретите тысячу непостижимых характеров и явлений. Создатель! Какие странные характеры встречаются на Невском проспекте! Есть множество таких людей, которые, встретившись с вами, непременно посмотрят на сапоги ваши, и, если вы пройдете, они оборотятся назад, чтобы посмотреть на ваши фалды. Я до сих пор не могу понять, отчего это бывает. Сначала я думал, что они сапожники […]. В это благословенное время от двух до трех часов пополудни, которое может назваться движущеюся столицею Невского проспекта, происходит главная выставка всех лучших произведений человека. Один показывает щегольской сюртук с лучшим бобром, другой - греческий прекрасный нос,третий несет превосходные бакенбарды, четвертая - пару хорошеньких глазок и удивительную шляпку, пятый - перстень с талисманом на щегольском мизинце, шестая - ножку в очаровательном башмачке, седьмой - галстук, возбуждающий удивление, осьмой - усы, повергающие в изумление.32 (10–12)

32 Alles, was immer ihr auf dem Newskijprospekt seht, alles quillt von Wohlanständigkeit über: die Männer in ihren langen Röcken mit den in den Taschen verpackten Händen, die Damen in ihren rosa, weißen und zartblauen Atlasumhängen und Hütchen. Überall werdet ihr einzigartigen Backenbärten begegnen, die mit ungewöhnlicher und erstaunlicher Kunst hinter die Halsbinde gesteckt sind, Backenbärten, die samten sind, wie Atlas glänzen, schwarz wie Zobel oder Kohle sind, aber oh weh! nur in Auswärtigen Kollegium dienen. […] Hier werdet ihr wunderschönen Schnurrbärten begegnen, wie sie mit keiner Feder, keinem Pinsel darzustellen sind; Schnurrbärten, denen die bessere Hälfte des Lebens geopfert wird, ein Gegenstand ständiger Sorge bei Tag und Nacht, Schnurrbärten, auf die hinreißende Düfte und Wohlgerüche geschüttet und die mit den teuersten und seltensten Pomadensorten gesalbt wurden, Schnurrbärten, die zur Nacht in feines Velinpapier gewickelt werden, 65

In diesem Ausschnitt bemerkt man die Ironie, mit der Gogol’ diese Petersburger Bürger beschreibt und deren Selbstgefälligkeit entblößt. Der Literaturwissenschaftler Ermilov (1952: 156) definiert diesen Teil der Erzählung als eine Ausstellung narzisstischer pošlost', die aus Gegenständen gemacht ist, die keine Beziehung zu den wahren inneren Werten des Menschen haben, aber die externen Manifestationen der moralischen Qualität dieser Personen darstellen. Er führt weiter aus, dass alle diese Gegenstände dazu dienen, die bürgerlichen Werte der pošlost' als den Grad, den Reichtum, den gesellschaftlichen Status, den Ruhm zu identifizieren. Der Literaturwissenschaftler Chrapčenko (1959: 207), im Wesentlichen in Übereinstimmung mit Ermilov, betont die Tatsache, dass Gogol’ in dieser Zeichnung der Petersburger Gesellschaft nur den auffälligen Details des äußeren Erscheinungsbilds der Personen Platz eingeräumt und die Beschreibung der bedeutenden und wichtigen Personen vollständig weggelassen hat. Dadurch habe Gogol’ die Mittelmäßigkeit und die Antiintellektualität der Oberschicht enthüllt. Im ersten Teil der Erzählung Nevskij Prospekt, ist zudem die Beschreibung derjenigen (Bauern, Armen und malen'kie ljudi) vorhanden, denen die Nevskij Prospekt keine Gelegenheit bietet, die eigene pošlost' zur Schau zu stellen, sondern einen Ort der Arbeit oder des Durchgangs. Der Kontrast zwischen diesen beiden Beschreibungen dient dazu, die Unterschiede und die typischen Ungerechtigkeiten der damaligen Gesellschaft zu unterstreichen.

Schnurrbärten, in denen die rührendste Ähnlichkeit ihrer Besitzer atmet und die den Neid aller Vorübergehenden erwecken. Tausend Sorten Hütchen, Kleidchen, Tüchlein, bunt und leicht, denen ihre Besitzerinnen manchmal volle zwei Tage die Anhänglichkeit bewahren, werden jedermann auf dem Newskijpropsekt blenden. […] Und was für Damenärmel ihr auf dem Newskijprospekt begegnen werdet! Ach, welch ein Zauber! Sie gleichen einigermaßen zwei Luftballons, sodass die Dame wohl plötzlich in den Wolken verschwände, würde ihr Mann sie nicht festhalten […]. Hier werdet ihr tausend unvorstellbaren Charakteren und Erscheinungen begegnen. Schöpfer des Himmels und der Erde! was für merkwürdige Charakteren man auf dem Newskijprospekt begegnen kann. Da gibt es eine Menge von Leuten, die, wenn sie euch begegnen, unbedingt eure Stiefel betrachten und sich, wenn ihr vorübergegangen seid, umdrehen werden, um eure Frackschöße zu betrachten. Ich kann bis heute nicht verstehen, weshalb das so ist. Anfänglich dachte ich, dass es Schuster seien […]. In dieser gesegneten Zeit von zwei bis drei Uhr mittags, die man als die auf dem Newskijprospekt auf und ab wogende Hauptstadt bezeichnen könnte, findet die Hauptausstellung der schönsten Erzeugnisse des Menschen statt. Der eine zeigt einen geckenhaften Rock mit dem schönsten Biberkragen, der andere eine herrliche griechische Nase, der dritte einen wundervollen Backenbart, die vierte ein Paar schöne Äugelein, der fünfte einen Ring mit einem Talisman am schöngespreizten kleinen Fingen, die sechste ein Füßchen in einen bezaubernden Schülein, der siebente eine Halsbinde, die Staunen erregt, der achte einen erstaunlich gezwirbelten Schnurrbart. (10-13) 66

Ergänzend kann man auch die Meinung von Günther anführen, der auf die grotesken Elemente dieses Textteils fokussiert. Laut Günther (1968: 127 f.) ist die metonymische Ersetzung menschlicher Gestalten durch äußere Details (statt Menschen sieht man Bärte, Tücher, Klamotten spazieren gehen) das auffälligste Mittel des grotesken Stils. Es geht hier um eine groteske Verdinglichung, in der die hinter einer Fassade von Mode und Wohlanständigkeit verborgene Entpersönlichung des Menschen ihren adäquaten Ausdruck findet (vgl. Günther 1968: 129).

Der selbstgefälligste unter den činovniki Gogol’s ist Čičikov, der seiner Kleidung eine krankhafte bis karikaturistische Aufmerksamkeit widmet. Mithilfe seiner Kunst des Geschichtenerzählens und durch Tragen der modischsten Kleidung gelingt es ihm, in den Augen der Damen der Provinz wie ein schöner und faszinierender Mann zu erscheinen, obwohl er das nicht ist. Der Literaturwissenschaftler Ermilov (1952: 251) bemerkt zudem, dass das Geld dem Protagonisten von Mertvye duši hilft, schön zu erscheinen. Mit Geld schafft er es, die modischste Kleidung zu kaufen, die er auf unvergleichliche Weise anbetet:

Чичиков получил желанье сильное посмотреть на самого себя в новом фраке наваринского пламени с дымом. Натянул штаны, которые обхватили его чудесным образом со всех сторон, так что хоть рисуй. Ляжки так славно обтянуло, икры тоже, сукно обхватило все малости, сообща им еще большую упругость. Как затянул он позади себя пряжку, живот стал точно барабан. Он ударил по нем тут щеткой, прибавив: "Ведь какой дурак, а в целом он составляет картину!". Фрак, казалось, был сшит еще лучше штанов: ни морщинки, все бока обтянул, выгнулся на перехвате, показавши весь его перегиб. […] он стал рассматривать себя на досуге в зеркале, как артист с эстетическим чувством и con amore. Оказалось, что все как-то было еще лучше, чем прежде: щечки интереснее, подбородок заманчивей, белые воротники давали тон щеке, атласный синий галстук давал тон воротничкам; новомодные складки манишки давали тон галстуку, богатый бархатный жилет давал тон манишке, а фрак наваринского дыма с пламенем, блистая, как шелк, давал тон всему. Поворотился направо - хорошо! Поворотился налево - еще лучше! Перегиб такой, как у камергера или у такого господина, который так чешет по- французски, что перед ним сам француз ничего, который, даже и рассердись, не срамит себя непристойно русским словом, даже и выбраниться не умеет на русском языке, а распечет французским диалектом. Деликатность такая! Он попробовал, склоня голову несколько набок, принять позу, как бы адресовался к даме средних лет и последнего просвещения: выходило просто картина. Художник, бери кисть и пиши!33 (442– 443)

33 Es entbrannte in ihm der leberhafte Wunsch, sich in dem neuen Fracke mit der Farbe „Rauch und Feuer von Navarrino“ zu sehen. Er zog die Beinkleider an, die seine Beine überall wunderschön 67

Sehr interessant ist die Meinung des Literaturwissenschaftlers Ermilov (1959: 237), nach dem die Genauigkeit, mit der Gogol’ in Abschnitten wie diesem detailliert die manische Pflege jedes kleinsten Details seiner perfekten Kleidung beschreibt, den Willen des Autors offenbart, den Kontrast zwischen der äußeren Ordnung und der inneren Hässlichkeit des Protagonisten des Epos zu betonen. Dieser Kontrast scheint eine der Haupteigenschaften der pošlost' von Čičikov zu sein. Dieser Dualismus ist in der Tat in zahlreiche Figuren der Werke des russischen Schriftstellers vorhanden.

Laut Gogol’ kann sich allerdings die Selbstgefälligkeit der bürgerlichen činovniki unter anderem auch durch die wahre Verehrung dieser aufgrund des Grads und daher ihrer Stellung innerhalb der Hierarchie der bürokratischen Gesellschaft Russlands zeigen. Der Kontrast zwischen der Manifestation der pošlost' in Form der Selbstgefälligkeit und Haftung am Grad und der ironischen Beschreibung des Benehmens und der eigentlichen Aufgaben der činovniki am Arbeitsplatz macht die Aversion des Schriftstellers gegenüber dieser Art von Gesellschaft deutlich.

Karikaturistisch ist die Anhänglichkeit des Majors Kovalev, des Protagonisten der Erzählung Nos, zum eigenen Rang. Hier muss aber die Tatsache betont werden, dass er kein Major war, sondern ein Kollegreferent, der einen bedeutenderen Titel nutzte, als er tatsächlich

umschlossen, sodass man ihn nur gleich hätte so malen können. Die prallen Lenden traten prachtvoll hervor, desgleichen die Waden; der eng anliegende Stoff ließ alle Einzelheiten erkennen und verlieh den Gliedern eine noch größere Elastizität. Als Tschitschikow hinten die Schnalle zuzog, bekam sein Bauch Ähnlichkeit mit einer Trommel. Er klopfte mit der Bürste darauf und sagte: „Der dumme Bauch! Aber im Ganzen bietet er doch ein malerisches Bild.“ Der Frack war, wie es schien, noch besser gearbeitet als die Hosen: er warf auch nicht ein Fältchen; an den Seiten lag er glatt an; er schmiegte sich eng um die Taille und ließ sie in ihrer ganzen Biegsamkeit erkennen. […] Tschitschikow bezahlte dem Schneider großmütig die Rechnung und betrachtete, sobald er allein geblieben war, sich mit Muße im Spiegel, con amore und mit dem ästhetischen Wohlgefallen eines Künstlers. Es ergab sich, dass alles fast noch schöner war als früher: die Bäckchen interessanter, das Kinn verführerischer: der weiße Kragen hob den Ton der Backen, die blaue Atlaskrawatte den Ton des Kragens, die neumodischen Falten des Vorhemdchens den Ton der Krawatte, die reiche Samtweste den Ton des Vorhemdchens, und der Frack von der Farbe „Rauch und Flammen von Navarrino“, der wie Seide glänzte, hob den Ton des Ganzen. Er drehte sich rechts: sehr gut! Er drehte sich links: noch besser! Er hatte die Figur eines Kammerherrn oder sonst eines vornehmen Mannes, der gewandt französisch parliert und sogar im Zorn es sich nicht erlaubt, auf Russisch zu schimpfen, sondern sich dazu des Französischen bedient: ein ganz besonderes Zartgefühl! Er versuchte, indem er den Kopf etwas zur Seite neigte, eine Positur anzunehmen, als ob er zu einer Dame in mittlerem Lebensalter und von modernster Bildung spräche: es kam ein geradezu entzückendes Bild heraus, man hätte am liebsten gesagt: „Künstler, nimm den Pinsel und male!“ (455-456) 68

hatte. Gogol’ spezifiziert zudem, dass Kovalev nicht irgendein Kollegreferent war, sondern ein „kaukasischer Kollegreferent“. Dieses kleine Detail fügt der Beschreibung der Figuren eine weite ironische Note hinzu. Dank des äußerst schlechten Zustands der Verwaltung im Vergleich zu den anderen Provinzen Russlands war es im Kaukasus nämlich einfacher, diesen Rang zu erhalten (vgl. Chrapčenko 1959: 218). Der Rang war für Kovalev Quelle der Freude, der Sicherheit, der persönlichen Befriedigung und daher, um es wie Gogol’ auszudrücken, von pošlost':

Ковалев был кавказский коллежский асессор. Он два года только еще состоял в этом звании и потому ни на минуту не мог его позабыть; а чтобы более придать себе благородства и веса, он никогда не называл себя коллежским асессором, но всегда майором. «Послушай голубушка, – говорил он обыкновенно, встретивши на улице бабу, продававшую манишки, – ты приходи ко мне на дом; квартира моя в Садовой; спроси только: здесь ли живет майор Ковалев? – тебе всякий покажет». Если же встречал какую-нибудь смазливенькую, то давал ей сверх того секретное приказание, прибавляя: «Ты спроси, душенька, квартиру майора Ковалева».34 (52–53)

Sehr bedeutend ist die Meinung von Günther, der die Figur des Kovalev als satirische Typisierung einer bestimmten Klasse ansieht. Ihm zufolge verkörpert Kovalev „den Typ des gemeinen, eitlen, nach Besitz und Karriere strebenden Bürokraten des nikolaitischen Russland“ (Günther 1968: 143).

Hinsichtlich der Werke von Villaggio spielt die Selbstgefälligkeit eine andere Rolle. Die Figuren, die von ihm besser charakterisiert und auf vollständigste Weise dargestellt werden, sind diejenigen, die der Kategorie der italienischen malen’kie ljudi angehören. In der Regel sind diese Figuren arm und hässlich und haben nur sehr wenige bürgerliche Symbole, die sie zur Schau stellen können. Wenn diese Figuren hypothetisch auf dem Nevskij Prospekt spazieren gehen würden, würden sie nicht mit den Bürgern zusammen sein, die im zu Beginn dieses Kapitels zitierten Ausschnitt Gogol’s beschrieben werden, sondern mit den Bauern und den Armen, die dort am frühen Morgen vorbeikommen, um sich zur Arbeit zu begeben. Die reichsten italienischen činovniki werden von Villaggio niemals vollständig charakterisiert.

34 Kowalew war ein Kaukasischer Kollegienassessor. Er bekleidete diesen Rang erst seit zwei Jahren und konnte ihn deshalb nicht einen Augenblick lang vergessen; und um sich mehr Ansehen und Gewicht zu verleihen, nannte er sich niemals Kollegienassessor, sondern immer Major. „Höre, Täubchen“, sagte er gewöhnlich, wenn er auf der Straße ein altes Weib traf, das Vorhemden verkaufte, „komm zu mir ins Haus, ich wohne in der Sadowaja; frage nur: „Wohnt hier der Major Kowalew?“ – jedermann weiß Bescheid“. Wenn er aber eine artige Schöne traf, erteilte er ihn außerdem noch einen geheimen Auftrag und fügte hinzu: „Frag nur nach der Wohnung des Majors Kowalew, Herzchen“. (87) 69

Im Unterschied zu vielen anderen in den Erzählungen Gogol’s vorhandenen Fällen sind sie keine absoluten Protagonisten der Erzählungen.

In den sogenannten megadirettori zeigt sich die Selbstgefälligkeit hauptsächlich in Form eines karikaturistischen Größenwahns. Viele von ihnen taufen in Hommage an ihre Person die skurrilsten Symbole des Bürgertums mit dem eigenen Namen. Die bezeichnendsten Fälle sind die des spirituellen Führers der Gesellschaft, Ing. Franco Colombani, der sein sehr luxuriöses Boot Franco Colombani I tauft (230), und des Doktor Gran Mascalzon Visconte Ingegnere Cobram, der ein Radrennen nach sich selbst benennt (400).

Die kleinen italienischen Beamten sind hingegen in der Regel nicht selbstgefällig. Sie kleiden sich nicht modisch wie Čičikov. Sie treiben nicht regelmäßig Sport und noch weniger verwenden sie Schönheitsprodukte. Von einer entfernten Eitelkeit getrieben gibt aber Fantozzi manchmal den Konsumversuchungen nach und kauft einige bürgerliche Produkte, die ihn weniger schrecklich erscheinen lassen könnten. Jedes Mal landet er aber bei schrecklichen Betrügern oder er richtet einfach irgendeinen Schlamassel an und macht alles kaputt. Dies wird in einer Episode aus Il secondo tragico libro di Fantozzi beschrieben. Fantozzi schafft es, Frau Silvani zum Essen einzuladen, mit der Absicht, sie zu verführen. Er kauft sich dazu ein sehr teures Hemd bei einem Schneider; aber das Essen verläuft nicht wie geplant:

Si era fatto fare una camicia aderente di lino batista, come aveva visto in «Vogue Uomo». Era andato da Celarmosi, il camiciaio più caro della città. Aveva fatto anche alcune prove con due camiciai! La cifra per lui era stata una mazzata: 30.000 lire. La metteva in quell’occasione per la prima volta senza giacca come i playboy! [...] Fantozzi si era seduto fasciato dalle sue 30.000 lire (un quarto di stipendio!) e si stava assestando. La camicia in quella posizione gli tirava un po’ sullo stomaco, ma cercò di respirare il meno possibile. Il vischioso e infido proprietario gli portò una spaghettata «alla Giggetto» monumentale. Attaccarono. Aveva anche lui una fame mostruosa. Alla dodicesima forchettata esatta gli saltò un bottone. Disse: «Ma porc...». Respirò profondamente per il disappunto e gli si strappò anche l’asola del bottone di sotto. Finì gli spaghetti che era tutto aperto sul davanti. «Si chiuda davanti» consigliò la Silvani, «gli si fermerà la digestione.» Lui sorrise miseramente e indicò tutti i bottoni saltati.

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[...] «Oh, la sua meravigliosa camicia!» disse solo a questo punto la Silvani. Fantozzi non rispose, si alzò lentamente, si avvicinò alla vasca delle trote e cercò di suicidarsi.35 (226–228)

In diesem Ausschnitt ist zu erkennen, wie die bürgerliche Unsitte der Selbstgefälligkeit mit der Unfähigkeit und der Unmöglichkeit von Fantozzi, sich an die Werte dieser Gesellschaftsklasse anzupassen, kollidiert. Laut Villaggio kann die Selbstgefälligkeit keine Unsitte eines malen’kij čelovek sein. Fantozzi hat keine finanziellen Mittel, um schön zu sein. Durch das ganztägige Arbeiten kann er sich nicht an den Schönheitskanon des italienischen Bürgertums der zweiten Hälfte des 20. Jh. anpassen. Dieser verlangte einen schlanken, fitten, gepflegten und gut gekleideten Mann. Fantozzi ist von Natur aus nicht schön, vielmehr hässlich, klein und dick. Er ist sich aber bewusst, dass er, um Karriere zu machen und seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern, sein Erscheinungsbild und nicht seine Kultur verbessern muss. Seine Versuche kollidieren aber jedes Mal mit Hindernissen finanzieller Natur. Da Fantozzi wenig Geld hat, kann er sich nicht an vertrauenswürdige Personen oder Zentren wenden, sondern nur an Betrüger. Sehr bedeutend ist eine Episode aus Fantozzi. Nachdem ihn die Kollegen und Verwandten darauf aufmerksam gemacht haben, dass er in der letzten Zeit erheblich an Gewicht zugenommen hat, beschließt Fantozzi, sich im Fitnessstudio Giovani in un mese anzumelden, das sich dann als ein kolossaler Betrug erweist:

Fantozzi versò la quota. Il lunedì successivo si presentò alla palestra. Gli assegnarono un armadietto e subito si trovò completamente nudo in mezzo ad una ventina di muscolosissimi ragazzotti sui vent’anni. [...] Entrò nella palestra e subito l’istruttore lo mise in fila coi ragazzi. «Venti giri di corsa» ordinò, e il gruppo partì al galoppo sotto la sferza di un fischietto implacabile.

35 Er hatte sich ein eng anliegendes Leinenhemd machen lassen, wie er es in der «Vogue Mann» gesehen hatte. Er war zu Celarmosi gegangen, dem teuersten Hemdenmacher der Stadt. Er hatte auch einige Proben mit zwei Hemdenmachern gemacht! Die Summe war für ihn absurd: 30.000 Lire. Er trug es zu dieser Gelegenheit zum ersten Mal ohne Jackett, wie die Playboys! [...] Fantozzi hatte sich hingesetzt. Das Hemd straffte sich in dieser Position ein wenig über dem Magen, aber er versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Der gemeine Wirt brachte ihm einen riesigen Teller Spaghetti «alla Giggetto». Genau bei der zwölften Gabel explodierte ihm ein Knopf. Er fluchte. Er atmete aus Missmut tief ein und es riss auch das untere Knopfloch. Er beendete den Spaghetti-Teller, da er nun vorne vollständig offen war. «Schließen Sie sich vorn» riet Silvani, «es blockiert die Verdauung» Er lächelte kläglich und zeigte auf die abgesprungenen Knöpfe. [...] «Oh, Ihr schönes Hemd!» sagte an dieser Stelle Silvani. Fantozzi antwortete nicht, er erhob sich langsam, nährte sich langsam dem Becken mit den Forellen und versuchte sich umzubringen. 71

Al terzo giro a Fantozzi si annebbiò la vista. Al quarto sbandò leggermente, ma nessuno ci fece caso. Sentiva solo il ritmo feroce del fischietto trapanargli il cervello. Al quinto giro andò a sbattere contro una parete e lo portarono a braccia in sauna. Era una sauna di fortuna: un vecchio forno di una pizzeria (perché prima della palestra c’era un negozio che faceva pizze e il forno era rimasto) nel quale lo infilarono attraverso uno stretto sportello. Dentro c’erano altri due sciagurati nudi. «Si sente meglio ora?» domandò il vischioso titolare della palestra a Fantozzi, che veniva rianimato da alcuni giovinastri. Lo pesarono: aveva perso un etto e mezzo. Quando uscì bevve due litri di minerale ghiacciata che quasi lo stroncarono e mangiò tre chili di polenta bollente. Quando tornò a casa la signora Pina gli chiese: «Ma cos’hai? Ti senti male?». «Mi sono sentito poco bene in ufficio» rispose Fantozzi. Decise di perdere le 12.000 lire della palestra-pizzeria e si rassegnò ad invecchiare come tutti quelli che non hanno i soldi di Agnelli.36 (104–105)

Auch in diesem Ausschnitt wird eine strenge Gesellschaftskritik deutlich. Laut Villaggio ist Fantozzi in der Tat nicht reich genug, um sich die künstliche Schönheit leisten zu können, die hingegen die Angehörigen der Oberschicht auszeichnet. Wie alle, die nicht das Geld von Agnelli (einem damaligen berühmten italienischen Unternehmer) haben, ist er gezwungen, zu altern. Auch die Schönheit ist letztlich klassizistisch. Die Selbstgefälligkeit ist folglich ein luxuriöses Laster, dem nachzugeben sich die italienischen malen’kie ljudi nicht erlauben können. Obgleich die bürgerliche Axiologie der italienischen Gesellschaft die Schönheit als Symbol aufzwingt, das dem Individuum erlaubt, seine gesellschaftliche und finanzielle Stellung zu verbessern, sind die italienischen Beamten gezwungen, darauf zu verzichten. Sie

36 Fantozzi zahlte die Quote. Am nachfolgenden Montag präsentierte er sich im Fitnessstudio. Sie wiesen ihm ein Schließfach zu und sofort befand er sich nackend inmitten unter etwa zwanzig sehr muskulösen Junges um die zwanzig. [...] Er betrat das Fitnessstudio und sofort stellte ihn der Trainer in eine Reihe mit den Jungs. „Zwanzig Runden Laufen“ befahl er und die Gruppe galoppierte los. Bei der dritten Runde verschwamm Fantozzi die Sicht. Bei der vierte schwankte er leicht, aber niemand bemerkte es. Bei der fünften Runde stieß er gegen eine Wand und sie brachten ihn in die Sauna. Es war keine wirkliche Sauna, sondern ein alter Ofen einer Pizzeria (weil dort vor dem Fitnessstudio ein Laden war, der Pizzen machte und der Ofen war geblieben), in welchen sie ihn über eine schmale Klappe einschoben. Drinnen befanden sich zwei weitere nackte Unglücksmenschen. „Fühlen Sie sich nun besser?“ fragte der gemeine Inhaber des Fitnessstudios Fantozzi, der von einigen Flegeln reanimiert wurde. Sie wogen ihn: er hatte 150 Gramm verloren. Als er herauskam, trank er zwei Liter eisiges Mineralwasser und aß drei Kilo heiße Polenta. Als er nach Hause kam, fragte ihn Frau Pina: „Aber was hast Du? Fühlst du dich nicht gut?“. „Ich habe mich im Büro schlecht gefühlt“ antwortete Fantozzi. Er beschloss, die 12.000 Lire der Fitnessstudios- Pizzeria zu verlieren und fand sich damit ab, wie alle, die nicht das Geld von Agnelli haben, zu altern. 72

sind daher zur Hässlichkeit und zur Armut verurteilt; ein unauflösliches Wortpaar in den Erzählungen von Villaggio.

2.4 Konformismus

Eine weitere grundlegende Eigenschaft der činovniki, der Protagonisten in den Werken von Gogol’ und den Erzählungen von Villaggio, scheint der Konformismus zu sein. Dieses Verhalten, verstanden als Versuch, sich einer Mode oder einem einer Gesellschaft oder einer Gruppe eigenen Verhalten anzupassen, ist in den Werken der beiden Autoren sehr häufig präsent. Das Vorhandensein dieser Eigenschaft in der Gesellschaftsklasse der činovniki wird durch die Tatsache erklärt, dass sich in den Gesellschaften jede Gruppe ein sehr genaues Wertesystem oder eine Axiologie erschafft, im Fall der činovniki heißt es pošlost', die von einem ethischen Verhaltenskodex unterstützt wird. Die Personen, die einer bestimmten Gruppe angehören, müssen ihre Werte anerkennen und sich dem ethischen Kodex anpassen, um intern akzeptiert zu werden (vgl. Metzeltin 1997: 33).

Wie bereits beobachtet, basiert die Axiologie der činovniki im Wesentlichen auf universell anerkannten sowie eigentlich nicht positiven Werten. Dessen sind sich die činovniki genauestens bewusst. Ihr Konformismus nimmt so noch negativere Züge an. Es handelt sich nicht um eine unbewusste Annäherung an nicht eigene Werte, um von einer Gruppe angenommen zu werden, sondern um eine bewusste Entscheidung. Die činovniki sind daher unredlich. Ihr Konformismus wird von ihrem Durst nach Macht und dem Wunsch nach Reichtum diktiert.

In den Werken Gogol’s ist der Konformismus sowohl in den činovniki der mittleren und oberen Schicht als auch in den malen’kie ljudi vorhanden. In Bezug auf die Ersten scheint der eklatanteste Fall der von Čičikov zu sein. Angeregt durch seine unendliche Selbstgefälligkeit ist er immer der Erste beim Befolgen der Petersburger Diktate im Bereich der Mode. Sein Konformismus ist derart ausgeprägt, dass er ihn hindert, die manchmal lächerliche Art der Kleidung, die er trägt, zu erkennen, wie im berühmten Fall des Anzugs mit Rauch und Flammen. Seine affektierte Eleganz und Raffinesse in der Kleidung sind nichts Anderes als blinde Anpassung an die Moden des Petersburger Bürgertums. Čičikov versucht, sich bei den Besitzern von Ländereien, die er in der entfernten Provinz trifft, einzuschmeicheln. Daher stellt er dabei seine angebliche Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft der Hauptstadt zur Schau, indem er die dortigen Sitten und Gebräuche kopiert. Zusammen mit weiteren nicht beneidenswerten Gaben wie Verlogenheit und Scheinheiligkeit führt sein Konformismus sogar dazu, dass er einen gewissen Erfolg verzeichnen kann. 73

Die Bedeutung des Konformismus in der Kleidung wird verschiedene Male in den Werken von Gogol’ betont. Ein guter Mantel scheint Akakij in der Erzählung Šinel’ zu helfen, sich in das Ambiente des städtischen Bürgertums einzuschleichen. Die signifikantesten Überlegungen werden allerdings vom verrückten Popriščin in Zapiski sumasšedšego angestellt:

Я дворянин. Что ж, и я могу дослужиться. Мне еще сорок два года – время такое, в которое, по настоящему, только что начинается служба. Погади, приятель! Будем и мы полковником, а может быть, если Бог даст, то чем-нибудь и побольше. Заведем и мы себе репутацию еще и получше твоей. Что же ты себе забрал в голову, что, кроме тебя, уже нет вовсе порядочного человека? Дай-ка мне ручевский фрак, сшитый по моде, да повяжи я себе такой же, как ты, галстук, – тебе тогда не стать мне и в подметки. Доставок нет – вот беда.37 (185)

Ein weiterer konformistischer činovnik scheint die sogenannte bedeutende Figur in Šinel’ zu sein. Wie ausführlicher im Kapitel über Gewalt analysiert, hat die bedeutende Figur am Ende der Erzählung auf ein Hilfsgesuch durch Akakij eine derart gewalttätige Reaktion, dass sie wörtlich den unterstellten Armen zu Tode erschreckt, sodass er wenige Tage später verstirbt. Hierzu ist die Sichtweise des Literaturwissenschaftlers Chrapčenko (1959: 243) sehr interessant, der dieses Treffen als einen Zusammenprall zwischen malen’kij čelovek und der bestehenden Ordnung interpretiert. Er meint, dass die bedeutende Figur tatsächlich nichts Persönliches gegen Akakij habe und vielmehr von Natur aus sogar ein guter Mensch sei, dem aber seine Rolle und seine Stellung innerhalb der Gesellschaft ein solches Verhalten gegenüber Unterstellten auferlegen würden. Die bedeutende Figur muss daher ihr Verhalten und ihren im Wesentlichen guten Geist der Axiologie der russischen Gesellschaft und in diesem Fall der Unmenschlichkeit und der Gewalt der Mächtigen anpassen (vgl. Chrapčenko 1959: 242). Der im Wesentlichen gute Charakter der bedeutenden Figur kollidiert mit den Sitten der bürgerlichen Gesellschaft, der sie angehört. Sie schafft einen internen Konflikt, den sie löst, indem sie ihr Verhalten der Norm anpasst. Dieser interne Konflikt wird von Gogol’ wie folgt dargestellt:

37 Ich bin ein Edelmann. Was ist schon dabei? auch ich kann mich empordienen. Ich bin erst zweiundvierzig Jahre alt – ein Lebensalter, in dem – wenn es mit rechten Dingen zugeht – der Dienst anfängt. Warte nur, Freundchen! Auch wir werden einmal Oberst sein und vielleicht, so Gott will, noch etwas Höheres. Dann werden auch wir uns eine Reputation verschaffen und eine noch bessere als du. Hast du dir etwa in den Kopf gesetzt, dass es außer dir überhaupt keinen ordentlichen Menschen mehr gibt? Gib mir nur einen maßgeschneiderten Frack nach der letzten Mode, und wenn ich dann noch eine Halsbinde anlege wie du – dann reichst du mir nicht einmal bis zu den Stiefelsohlen. Mittellos bin ich – das ist der Jammer. (60) 74

Впрочем, он был в душе добрый человек, хорош с товарищами, услужлив, но генеральский чин совершенно сбил его с толку. Получивши генеральский чин, он как-то спутался, сбился с пути и совершенно не знал, как ему быть. Если ему случалось быть с ровными себе, он был еще человек как следует, человек очень порядочный, во многих отношениях даже не глупый человек; но как только случалось ему быть в обществе, где были люди хоть одним чином пониже его, там он был просто хоть из рук вон: молчал, и положение его возбуждало жалость, тем более что он сам даже чувствовал, что мог бы провести время несравненно лучше. В глазах его иногда видно было сильное желание присоединиться к какому-нибудь интересному разговору и кружку, но останавливала его мысль: не будет ли это уж очень много с его стороны, не будет ли фамильярно, и не уронит ли он чрез то своего значения? И вследствие таких рассуждений он оставался вечно в одном и том же молчаливом состоянии, произнося только изредка какие-то односложные звуки, и приобрел таким образом титул скучнейшего человека.38 (169)

Nach Günther (1968: 252 f.) handelt es sich in diesem Fall um eine der sogenannten entschuldigenden Anmerkungen Gogol’s zu seinen literarischen Gestalten. Damit wird bestätigt, dass der Autor nicht die Schuld des einzelnen, sondern seine Selbstentfremdung gestalten wollte. Die bedeutende Persönlichkeit ist eigentlich nicht als schlechter oder dummer Mensch dargestellt, sondern als ein durch Rang und die üblichen bürokratischen Gepflogenheiten korrumpierter Mensch.

In den Erzählungen von Villaggio spielt der Konformismus eine noch bedeutendere Rolle. Die meisten Erzählungen konzentrieren sich auf einen Versuch Fantozzis, sich einer bürgerlichen Mode anzupassen. Er möchte es endlich schaffen, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Er weißt, dass eine gute Dosis Konformismus unabdinglich ist, um dies zu erreichen.

38 Übrigens war er im Grunde seines Herzens ein guter Mensch, lieb gegen die Kameraden, dienstbereit, aber der Generalsrang hatte ihn vollständig aus der Fassung gebracht. Nachdem er den Generalsrang erhalten hatte, verlor er den Kopf, geriet aus dem Geleise und wusste überhaupt nicht mehr, was er tun sollte. Wenn er mit seinesgleichen zu tun hatte, war er noch ein Mensch, wie es sich gehört, ein sehr ordentlicher Mensch, in vielen Beziehungen sogar kein dummer Mensch; aber sobald er in einer Gesellschaft sein musste, wo Leute waren, die auch nur eine Rangstufe tiefer als er selber standen, dann war er einfach wie vom Teufel losgelassen: er schwieg, und seine Lage erweckte umso mehr Mitleid, als er sogar selber spürte, dass er die Zeit unvergleichlich besser verbringen könnte. In seinen Augen war manchmal das starke Verlangen sichtbar, sich irgendeinem interessanten Gespräch oder Kreis beizugesellen, aber es hielt ihn der Gedanke zurück: Wird das meinerseits nicht schon zu viel sein, und wird es nicht zu familiär sein, und werde ich dadurch nicht meine Bedeutung verlieren? Infolge solcher Gedanken verblieb er ewig in ein und demselben schweigsamen Zustand, gab nur ganz selten ein paar einsilbige Laute von sich und erwarb dadurch den Ruf eines äußerst langweiligen Menschen. (147-148) 75

Bereits aus dem Titel der Erzählung geht hervor, mit welcher Mode oder welchem Trend Fantozzi versucht, sich anzupassen: Cura dimagrante per Fantozzi, La volta che Fantozzi andò a cavallo, Fantozzi e Fracchia al ballo mascherato, Fantozzi va in crociera, Fantozzi si dà al tennis, Fantozzi e lo sci, Al ristorante giapponese usw. Villaggio gebraucht auf diese Weise die Versuche Fantozzis, sich der aktuellen Mode anzupassen, um unbewusst die Gebräuche und Sitten des Bürgertums zu entweihen und die pošlost' zu entblößen. Der Konformismus von Fantozzi scheint daher dieselbe Funktion wie die aristokratischen Ansprüche des malen'kij čelovek Popriščin zu haben. Wie von Chrapčenko (1959: 225) betont, entweiht Popriščin damit die Umgebung und die Werte der Petersburger Aristokratie.

Zudem muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass die kleinen italienischen Beamten nicht das Geld der megadirettori besitzen, deren Gebräuche und Sitten sie imitieren möchten. Sie haben nicht die Möglichkeit, dieselben Infrastrukturen oder Mittel wie ihre Vorgesetzten zu nutzen. Aus diesem Grund hat Fantozzi, wenn er sich einer bürgerlichen Mode anpassen möchte, häufig nur Zugriff auf eine kostengünstige Version oder er sitzt einem Schwindel auf. Emblematisch ist in diesem Fall eine Episode, die Fantozzi erzählt wird:

In Italia l’equitazione è uno sport per l’élite, e quindi Fracchia e Fantozzi ne erano del tutto esclusi per una serie di ragioni economiche. Fracchia ha notizia che nell’entroterra c’è un tale che affitta dei cavalli a ore. Trova l’idea così seducente che convince Fantozzi: e domenica partono tutti e due, attrezzati per una gita a cavallo. [...] Evitarono allora prudentemente l’autostrada e arrivarono al maneggio un po’ in ritardo sulla tabella di marcia, quando i cavalli erano quasi tutti fuori. Per fortuna il custode del maneggio riuscì a scovare nel fondo delle scuderie due vecchissimi esemplari equini, dei quali non ricordava l’esistenza. Vedendoli ne ricordò però subito i nomi: «Si chiamano uno Fracchia e l’altro Fantozzi» disse l’affitta- cavalli. Ci fu un leggero smarrimento dei nostri per quel curioso caso di omonimia, ma poi faticosamente montarono in sella. Dico faticosamente perché ogni volta che infilavano il piede sinistro nelle staffe per salire i cavalli si spostavano e loro finivano a terra sullo slancio. In un momento di miracolosa immobilità dei cavalli ce la fecero: Fantozzi su Fracchia, Fracchia su Fantozzi.39 (31–32)

39 In Italien ist das Reiten ein Sport für die Elite und daher waren Fracchia und Fantozzi aus einer Reihe von wirtschaftlichen Gründen davon ausgeschlossen. Fracchia hörte von jemandem, der Pferde stundenweise verlieh. Er fand die Idee so verführerisch, dass er Fantozzi überzeugte. Sonntag brachen alle beide zu einem Ausritt auf. [...] Sie kamen ein bisschen verspätet an der Reitbahn an, als die Pferde fast alle besetzt waren. Zum Glück gelang es dem Aufseher, am Ende der Stallungen zwei sehr alte Pferde aufzuspüren, an deren Existenz er sich nicht erinnerte. Als er sie sah, erinnerte er sich aber sofort an ihre Namen: «Eines heißt Fracchia und das andere Fantozzi» sagte der Pferde-Vermieter. Es gab eine leichte Verwirrung 76

Die mangelnde Vertrautheit und die Knappheit von finanziellen Mitteln führen die kleinen Beamten dazu, zahlreiche Fehler zu begehen, wenn sie versuchen, sich der bürgerlichen Mode anzupassen. Einer von diesen ist mit Sicherheit die falsche Ausrüstung oder Kleidung. Jedes Mal, wenn Fantozzi oder einer seiner Kollegen ein neues Abenteuer wagt, präsentiert er sich regelmäßig mit einer lächerlichen Ausrüstung. In einer anderen Episode aus Fantozzi z. B. zeigen sich Fracchia und Fantozzi zum Tennisspiel folgendermaßen:

Fracchia aveva: visiera parasole, gonnellino pantalone bianco di una sua zia ricca, maglietta Lacoste pure bianca, scarpe da passeggio di cuoio grasso con calze nere e giarrettiere e una monumentale racchettona da tennis modello 1913. Era questa un cimelio di famiglia che, per la sonorità delle sue corde, veniva scambiata da alcuni parenti per una chitarra e usata come tale. Fantozzi era in canottiera, mutande aperte sul davanti e chiuse pietosamente con uno spillo da balia, racchetta da ping-pong in tela gommata e sughero, grande visiera verde con la scritta «Casinò municipale di St. Vincent», piedi nudi.40 (116–117)

Fantozzis vollständige Unkenntnis der bürgerlichen Moden, denen er sich ausgesetzt sieht, führt den Leser dazu, diese aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen. Diese Moden gehören in heutiger Zeit zum Alltag aller. Im Italien der siebziger Jahre fanden sie allerdings erst ihren Eintritt in die Gesellschaft. Diese Moden wurden in der Regel von der städtischen Elite eingeführt, dann vom Bürgertum und schließlich von den verschiedenen Fantozzi imitiert. Er in seiner Unbedarftheit, möchte die Freuden, die diese Moden geben sollen, kosten, da sie von allen praktiziert werden. Jedes Mal kollidiert sein Enthusiasmus allerdings mit der harten Realität: Diese Moden sind nichts Anderes als Ausdruck des herrschenden Konsums in der italienischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jh. Fantozzi mit seinem gutgläubigen Ansatz entblößt ihre Absurdität und Nutzlosigkeit.

bei unseren Angestellten aufgrund des merkwürdigen Zufalls der Namensgleichheit, aber dann stiegen sie mühselig in die Sättel. Jedes Mal, wenn sie den linken Fuß in die Steigbügel steckten, um aufzusteigen, bewegten sich die Pferde und sie fielen zu Boden. In einem Moment der wundersamen Unbeweglichkeit der Pferde gelang es ihnen: Fantozzi auf Fracchia, Fracchia auf Fantozzi. 40 Fracchia hatte: Sonnenblende, weißen Rock von einer seiner Tanten, weißes T-Shirt von Lacoste, Wanderschuhe aus fettem Leder mit schwarzen Strümpfen und Strumpfband und einen riesigen Tennisschläger aus dem Jahr 1913. Dieser war ein Familienerbstück, von dem einige Verwandte glaubten, er sei eine Gitarre und sie nutzen ihn als solche. Fantozzi war mit Unterhemd bekleidet, mit vorn geöffneten und mit einer Sicherheitsnadel geschlossenen Unterhosen, Tischtennisschläger, großem grünen Schirm mit der Aufschrift «Stadtcasino von St. Vincent», nackten Füßen. 77

2.5 Scheinheiligkeit

Bei den satirischen Darstellungen von Gogol’ und Villaggio darf unter den Eigenschaften der činovniki die Scheinheiligkeit nicht fehlen. In der Regel als eine falsche Religiosität verstanden, die nicht von einem wahren Glauben getragen wird, ist die Scheinheiligkeit in den Werken der beiden Autoren häufig vorhanden. Aus den üblichen Gründen in Zusammenhang mit der Zensur ist dies im zaristischen Russland der ersten Hälfte des 19. Jh. ein sehr sensibles Thema. Dennoch schreibt Gogol’ diese Eigenschaft häufig den činovniki zu. In seinen Werken sticht aus den scheinheiligsten Figuren der Polizeimeister in Revizor hervor. Der Polizeimeister ist bei zahlreichen Gelegenheiten der Erste, der die christlichen Werte in einer hypothetischen Schlacht gegen die gefürchteten Voltarianer verteidigt. Diese werden in der Person des Richters, der als Freidenker definiert wird, dargestellt. Sehr berühmt ist die Szene, in der der Richter, nachdem er vom Polizeimeister wegen übermäßiger Korruption angeklagt wurde, diesem seinerseits vorwirft, noch korrupter zu sein. Da er keine gültigen Argumente findet, antwortet der Polizeimeister wie folgt:

Ну а что из того, что вы берете взятки борзыми щенками? Зато вы в Бога не веруете; в церковь никогда не ходите; а я по крайней мере в веде тверд и каждое воскресенье бываю в церкви. А вы... О, я знаю вас: вы если начнете говорить о сотворении мира, просто волосы дыбом поднимаются.41 (229)

Nach dem Literaturwissenschaftler Ermilov (1952: 198) wird in dieser Erwiderung des Polizeimeisters auf die Korruptionsvorwürfe die Bedeutung der satirischen und politischen Nachricht Gogol’s enthüllt. Der russische Schriftsteller lenkt mit diesen Worten die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass für den Polizeimeister und damit das zaristische Bürgertum das Schmiergeld und die Überheblichkeit Fixpunkte der russischen Gesellschaft sind und sogar die Religion und die Kirche über diese Werte wachen. Da er regelmäßig in die Kirche geht und die Werte der Religion verteidigt, wird der Polizeimeister in der Gesellschaft trotz der Untaten als eine anständige Person angesehen. Skandalöser ist aus dieser Sicht, sich als Voltarianer zu bekennen.

In der Komödie Revizor findet sich eine andere interessante Episode, in der der Polizeimeister erneut einen Beweis seiner komischen Scheinheiligkeit liefert. Dies ist die Szene des sehr unterhaltsamen Treffens zwischen dem Polizeimeister und dem

41 Na ja, und was folgt daraus, dass Sie sich mit Windhunden schmieren lassen? Alles nur, weil Sie nicht an Gott glauben; Sie gehen nicht in die Kirche; ich meinerseits bin doch wenigstens in Glaubensfragen fest und gehe jeden Sonntag in die Kirche. Sie dagegen… O ich kenne Sie: wenn Sie von der Erschaffung der Welt zu sprechen beginnen, die Haare stehen einem zu Berge. (13) 78

maßgeblichen revizor Chlestakov. Fürchterlich durch Letzteren erschreckt, rechtfertigt Ersterer seine Meinung, nachdem er Chlestakov bestochen hat, wie folgt:

Мы, прохаживаясь по делам должности, вот с Петром Ивановичем Добчинским, здешним помещиком, зашли нарочно в гостиницу, чтобы осведомиться, хорошо ли содержатся проезжающие, потому что я не так, как иной городничий, которому ни до чего дела нет; но я, я, кроме должности, еще по христианскому человеколюбию хочу, чтоб всякому смертному оказывался хороший прием, – и вот, как будто в награду, случай доставил такое приятное знакомство.42 (252)

Eine weitere scheinbar sehr religiöse Figur Gogol’s ist die Nase des Majors Kovalev in der Erzählung Nos. Der Literaturwissenschaftler Günther (1968: 136) sieht die Nase als fantastisches Element in der Erzählung an, wobei das Fantastische eine Darstellungsebene der Erzählung ist, die zur Schaffung ihrer grotesken Struktur beiträgt, da das Groteske hier aus der gegenseitigen Durchdringung von fantastischer und realistischer Darstellungsebene entsteht. Sehr bedeutend ist die Szene, in der der Major seine eigene Nase, bekleidet als hochstehender činovnik, in der Kathedrale von Kazan’ in Sankt Petersburg jagt. Kovalev hat anfänglich Angst, sich an seine Nase zu wenden, da diese nicht nur die Symbole einer privilegierteren gesellschaftlichen Stellung als er trägt, sondern auch eine größere Hingabe zeigt, da sie kniend betet (55). Die Tatsache, eine Nase, die mit großer Hingabe in der Kathedrale von Kazan’ betet, darzustellen, fügt der Satire des russischen Schriftstellers einen sehr grotesken Hauch hinzu. Die Personifizierung der Nase zu hochstehender činovnik ist ein Kunstgriff des Grotesken, der im Bereich der histoire entfaltet wird (vgl. Günther 1968: 133).

In den Erzählungen Villaggios sind die Bezüge auf eine nicht wirklich ehrliche Religiosität zahlreich. Zunächst zeigt sich eine andere Auffassung der Religiosität, bei der sich auf der einen Seite die megadirettori und auf der anderen die kleinen Beamten gegenüberstehen. Laut Buratto (2003: 57) glänzen Erstere vor einer scheinheiligen und kitschigen Religiosität. Dies scheint nach einer schnellen Analyse der Erzählungen offensichtlich. Einer der scheinheiligsten megadirettori ist der Direttor de’ Direttori Dottor Pier Matteo Semenzara. In einer Episode aus Fantozzi contro tutti führt Villaggio, nachdem er ihn als korrupt und mafioso

42 Pjotr Iwanowitsch Dobtchinskij, ein Hausbesitzer von hier, und ich befanden uns auf einem Dienstgang und kehrten absichtlich in diesem Gasthof ein, um uns davon zu überzeugen, ob die Reisenden auch ordentlich verpflegt würden, denn ich bin nicht so wie andere Polizeimeister, die sich einen Dreck um diese Dinge kümmern; zumal ich, außer meinen Dienstpflichten, auch noch aus christlicher Nächstenliebe wünsche, dass ein jeder Sterbliche hier guten Empfang finde, und da hat mir gleichsam zur Belohnung der Zufall eine so Angenehme Bekanntschaft beschert. (38) 79

beschrieben hat, den Leser wie folgt in seine heuchlerische Religiosität ein: „Era religiosissimo. La comunione ogni primo venerdì del mese, a messa ogni domenica43“ (499). Eine weitere Tatsache, die die falsche Religiosität der megadirettori enthüllt, ist sogar in einigen Titeln enthalten. Der signifikanteste ist der des Prinzen Marrantani-Bocca. Abgesehen davon, dass er der Presidente Onorario dell’Associazione Nazionale Ladri44 ist, konnte er sich gleichzeitig mit dem Titel des Direttore Arcangelo45 schmücken (349).

Die Religiosität der kleinen Beamten ist, auch wenn sie sich durch eine gute Dosis Scheinheiligkeit auszeichnet, durchaus anders als die der megadirettori. Beim Sprechen über Fantozzi meint Buratto (2003: 57), dass sich seine entsakralisierte Religiosität durch die Erscheinung Christi und anderer göttlicher Nachrichten in den Momenten grausamen körperlichen Leidens manifestiert. Fantozzi überträgt die heuchlerische und kitschige Religiosität der megadirettori in seine irdische Religiosität und entsakralisiert und humanisiert sie zur gleichen Zeit (vgl. Buratto 2003: 58).

Beispiele dieser zahlreichen Erscheinungen finden sich oftmals in den Erzählungen von Villaggio. In einer Episode aus Fantozzi bringt ihn die fürchterliche Diät, der sich Fantozzi unterziehen muss, dazu, Stimmen wie beispielsweise von Jeanne D‘Arc zu hören (29). In Fantozzi flüchtet der Protagonist, nachdem er ein großes Durcheinander angerichtet hat, in die Hügel und wird Tage später gefunden, als er im Glauben, zu sein, Brote und Fische vermehrt (39). An einer anderen Stelle desselben Werks sieht der Angestellte Fracchia nach unsagbaren sportlichen Wettkämpfen den Hl. Chrysostomos über der Querlatte (119). In Il secondo tragico libro di Fantozzi versucht Fantozzi, nach einem schlecht ausgegangenen Abendessen einen belgischen Touristen mit einer Flasche zu taufen (227). An einer anderen Stelle kündigt der Erzengel Gabriel persönlich Fantozzi seine kommende Mutterschaft an (300). In Fantozzi contro tutti hat der Protagonist die Vision der Madonna von Fatima in einem Supermarkt hinter den Flaschen von Verdicchio-Wein (446).

In diesen göttlichen Erscheinungen ist immer ein grotesker und satirischer entheiligender Ton enthalten. Das Nebeneinanderstellen z. B. der Madonna von Fatima und der Flaschen von Verdicchio in einem Supermarkt oder des Erzengels Gabriel mit einer hypothetischen Mutterschaft von Fantozzi machen diese Entweihung offensichtlich und wirklich sehr grotesk. Zum Thema der göttlichen Erscheinungen sind einige Überlegungen, die von einem außergewöhnlich hellen Fantozzi in einer Episode aus dem Werk Fantozzi angestellt werden

43 Er war sehr religiös. Kommunion immer am ersten Freitag des Monats, Gottesdienst an jedem Sonntag. 44 Honorarpräsident des nationalen Diebeverbands. 45 Erzengeldirektor. 80

und den Atheismus und das Misstrauen gegenüber der Kirche offenkundig machen, sehr interessant:

Un giorno c’era un tale caldo che a Fantozzi alle 11 del mattino, mentre era in cucina che faceva correre un po’ d’acqua per bere, comparve improvvisamente la Madonna. Era in piedi sull’acquaio e gli sorrideva, poi scomparve. “Sarà questo maledetto caldo” si disse, e decise di raggiungere la moglie in campagna. Mentre si preparava per il viaggio si domandava perché mai la Madonna in passato si sia limitata a comparire davanti a pastorelli semianalfabeti e in zone montuose, e mai per esempio a Von Braun, al Centro Spaziale di Houston durante una riunione della NASA.46 (81)

Eine Sache hat Buratto bei der Betrachtung der göttlichen Erscheinungen in den Erzählungen von Fantozzi allerdings nicht berücksichtigt: Diese erfolgen nicht nur in den Momenten des grausamen körperlichen Leidens, sondern auch in den Momenten der reinen und höchsten Spannung. Sehr bezeichnend ist z. B. eine Episode, die in Fantozzi contro tutti erzählt wird. Fantozzi und sein Kollege Filini versuchen, ein Pfandhaus auszurauben, aber alles läuft wie immer schief:

Fantozzi scese al parcheggio muovendosi con la prudenza di un commando israeliano per le vie del Cairo, cioè facendo voltare tutti i passanti esterrefatti. Tirò fuori dalla Bianchina il paccone nero con il fucile e andò verso l’ingresso del Monte di Pietà dove Filini lo aspettava incivettato. Mentre salivano le scale si sentiva un curioso borbottio: «E la smetta di pregare» sussurrò Filini, ed entrarono nella sala degli sportelli.47 (385)

Ein weiteres Detail in Zusammenhang mit der Religiosität von Fantozzi ist die Blasphemie. In zahlreichen Erzählungen wird Fantozzi erwischt, während er flucht. Aus offensichtlichen Gründen kann diese Eigenschaft des armen Beamten keinen Platz im Fernsehen finden, das in den siebziger Jahren einer gewissen Kontrolle der christdemokratischen Zensur unterlag,

46 Eines Tages war es so heiß, dass Fantozzi plötzlich die Muttergottes erschien. Sie stand auf dem Waschbecken und lächelte ihn an, dann verschwand sie. «Es wird diese verfluchte Hitze sein» sagte er sich und entschied, seiner Ehefrau auf das Land zu folgen. Während er sich für die Reise vorbereitete, fragte er sich, warum die Muttergottes in der Vergangenheit immer vor halbanalphabetischen Hirten und in gebirgigen Gegenden erschienen ist und niemals zum Beispiel im Weltraumzentrum von Houston während einer Versammlung der NASA. 47 Fantozzi ging hinunter zum Parkplatz und bewegte sich dabei mit der Klugheit eines israelischen Kommandos durch die Straßen von Kairo, d.h., es drehten sich alle Passanten erschrocken um. Er zog aus dem Auto ein großes schwarzes Paket mit dem Gewehr und ging in Richtung Eingang des Pfandhauses, wo Filini ihn erwartete. Während sie die Treppen hinaufstiegen, hörte man ein Gemurmel: «Und hören Sie auf zu beten» flüsterte Filini, und sie betraten den Saal. 81

die eine ähnliche Verletzung der christlichen Werte niemals erlaubt hätte. Der Fantozzi der im L‘Europeo veröffentlichten Erzählungen ist hingegen ein großer Gotteslästerer, auch wenn seine Lästerungen niemals übertragen werden. Der Autor beschränkt sich auf das Berichten dieser bereits an sich skandalösen Tatsache. In Fantozzi beim Versuch, den Motor eines Bootes zu starten, blieb dem Protagonisten die Schnur in der Hand und beschimpfte Gott mit all seinen Kräften (71). An einer anderen Stelle antwortet der Buchhalter nach einem schrecklichen Unfall im öffentlichen Strandbad der Ehefrau, die versucht, zu verstehen, was passiert war: „con una bestemmia da competizione: 36 minuti48!“ (74).

2.6 Gewalt

Eine weitere wichtige Eigenschaft, die von den činovniki Gogol’s und von denen der Erzählungen Villaggios geteilt wird, ist die Gewalt. Diese zeigt sich in der Realität als eine Geste, die darauf ausgerichtet ist, Schmerz und Leiden bei einer anderen Person hervorzurufen. In der Regel sind die Mächtigen gegenüber den Schwächeren gewalttätig. Sie üben ihre Macht aus, um entweder ihren Sadismus auszudrücken oder Wut abzureagieren, die sie in anderen Situationen angestaut haben, in denen sie sie nicht ablassen konnten.

Das Konzept der Gewalt hat sich aber im Laufe der Zeit stark verändert. Gewisse Gewaltakte, die heute ein Skandal wären, wurden zu Zeiten Gogol’s als normal angesehen. Beispielsweise die Bedingungen der russischen Bauern selbst, die bis zum Jahr 1861, d. h. neun Jahre nach dem Tod Gogol’s, faktisch Leibeigene waren. Dies wäre zu den Zeiten, in denen die Erzählungen von Villaggio spielen, eine unannehmbare Sache gewesen. Die Gewalt gegenüber den Bauern wird in der Tat von Gogol’ nicht berücksichtigt. Die körperliche Züchtigung war zudem vom Strafgesetzbuch vorgesehen.

In den Erzählungen Gogol’s finden sich zahlreiche Bezüge auf gewalttätige Handlungen seitens der činovniki gegenüber den schwächsten Teilen der Bevölkerung. In Revizor sind z. B. die Vorschriften, die vom Polizeimeister den Polizisten diktiert werden, um die Händler zu hindern, sich dem maßgeblichen Inspektor Chlestakov zu nähern und die Untaten der mächtigen lokalen činovniki anzuzeigen, sehr bezeichnend:

А вы – стоять на крыльце, и ни с места! И никого не впускать в дом стороннего, особенно купцов! Если хоть одного из них впустите, то... Только уведете, что идет кто-нибудь с просьбою, а хоть и не с просьбою, да похож на такого человека, что хочет

48 Mit einer riesigen Gotteslästerung: 36 Minuten! 82

подать на меня просьбу, взашей так прямо и толкайте! Так его! Хорошенько! (Показывает ногою) Слышите?».49 (275)

Ebenfalls in Revizor findet sich, dass sich der Polizeimeister gegen die Beschuldigung verteidigen muss, eine Frau ausgepeitscht zu haben. Diese Frau redet dann mit Chlestakov und schildert diesem detailliert den Vorfall (282).

In Nos zeigt z. B. der Kollegsreferent Kovalev die Absicht, nach einem Tag voller Enttäuschungen und schlimmer Erfahrungen mit dem Hut seinen Diener zu schlagen (73). Ein weiterer aufsehenerregender Fall von Gewalt wird hingegen von der sogenannten bedeutenden Figur gegenüber dem armen Akakij Akakievič verübt. In Šinel' wandte sich Akakij mit einer Bitte um Hilfe an Ersteren. Dieser hat aber eine derart gewalttätige Reaktion, dass er den armen Unterstellten buchstäblich zu Tode erschreckt und dieser wenige Tage später verstirbt (171 ff.). Hierzu ist die Meinung des Literaturwissenschaftlers Chrapčenko (1959: 243) sehr interessant, der dieses Treffen als einen Zusammenprall zwischen malen’kij čelovek und der bestehenden Ordnung interpretiert. Er meint, dass die bedeutende Figur tatsächlich nichts Persönliches gegen Akakij habe und vielmehr von Natur aus sogar ein guter Mensch sei, aber ihre Rolle und ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft ihr ein solches Verhalten gegenüber Unterstellten auferlegen würde. Die bedeutende Figur muss daher ihr Verhalten und ihren im Wesentlichen guten Geist der Axiologie der russischen Gesellschaft und in diesem Fall der Unmenschlichkeit und der Gewalt der Mächtigen anpassen (vgl. Chrapčenko 1959:242). Diese These, die die Gutmütigkeit der Figur unterstützt, findet im Text Gogol’s Bestätigung. Dort wird die bedeutende Figur in der Tat als eine gute Person, wenn auch voller pošlost’, dargestellt. Laut Günther (1968: 180) richtet sich damit die Satire gegen das System der Ranghierarchie: Der einzelne Vertreter wird von Gogol’ nicht als Unmensch hingestellt, sondern die Unmenschlichkeit des Systems wird vorgeführt.

Auch in den Erzählungen von Villaggio finden sich zahlreiche Episoden, in denen die Mächtigen an den Schwächsten Gewalt ausüben. Der arme Fantozzi als par excellence wehrloser Beamter ist Opfer jeglicher Art von Gewaltakten. In einer Episode aus Fantozzi trennt der Personalchef Fantozzi mit einem Biss ein Ohr ab (122). In Il secondo tragico libro di Fantozzi wird der Protagonist an einen Stuhl gefesselt und von den Direktoren geschlagen

49 Ihr aber, ihr stellt euch unten vor die Tür, und nicht gemuckst! Und niemand, der nicht ins Haus gehört, ins Haus lassen, besonders keine Kaufleute! Wenn ihr auch nur einen davon hereinlasst, dann werde ich euch… Und wenn ihr wen seht, dass wer mit einer Bittschrift kommt, und wenn er auch keine Bittschrift trägt, sondern nur wie ein Mensch aussieht, der sich über mich beschweren will, dem gebt ihr einfach einen Fußtritt, und ab dafür! Den jagt ihr fort! Und zwar tüchtig! (Macht es mit dem Fuß vor.) Verstanden? Schsch… sch… (62-63) 83

(278). In Fantozzi contro tutti wird er hingegen gefoltert und öffentlich im Auftrag des Direttore Naturale Duca Molli gedemütigt (491–493). Eine der auf tragische Weise unterhaltsamsten Episoden ist mit Sicherheit die, die in Fantozzi contro tutti erzählt wird. Dort wird Fantozzi nach einer Reihe von Missgeschicken vom megadirettore gezwungen, an Stelle der Flasche beim Stapellauf seines Schiffes einzuspringen:

Il mattino del varo Fantozzi passò da casa sua, si vestì con un vecchio vestito verde bottiglia e poi andò al cantiere navale con sua moglie. Gli misero della carta argentata intorno al collo, un gran tappo in bocca e gli legarono i piedi con un nastro tricolore. Alle nove e mezzo lo issarono a 15 metri da terra attaccato a testa in giù. Rimase appeso in quella posizione orrenda fino a mezzogiorno circa, con i colleghi che facevano finta di non vederlo. A mezzogiorno e trenta in punto, finito il discorso, il Dottor Serra attaccò l’applauso in un silenzio miserabile. La madrina prese Fantozzi per le orecchie e lo scagliò contro la murata. Nel volo di quasi 18 metri lui chiuse gli occhi e si lasciò scappare un urletto soffocato di terrore. Fu bravissimo. Picchiò con le spalle, come gli avevano consigliato, senza aprire le braccia, e sputò il tappo con violenza.50 (503–504)

In diesem Ausschnitt wird neben der ausgeübten Gewalt auch ein weiterer bedeutender Faktor sichtbar: die Gleichgültigkeit der Kollegen. Diese geben vor, den armen Fantozzi, der kopfüber hängt, nicht zu sehen. Sie verstehen, dass für ihn nichts zu machen ist, und scheinen allerdings kein Mitleid mit seinem Pech zu haben. Vielmehr scheint es, dass es sie nicht berührt. Unter diesen kleinen italienischen činovniki der zweiten Hälfte des 20. Jh. galt de facto das Gesetz des homo homini lupus. Obwohl sie arm sind und von der wirtschaftlichen Macht der megadirettori ausgenutzt werden, schaffen sie es nicht, ihre soziale Schlacht zu gewinnen, ein Umstand, der, wenn auch nur teilweise, den Arbeitern gelungen ist. Mit den Arbeitern teilen die italienischen činovniki in jedem Fall das Gehalt und den Umstand, von der wirtschaftlichen Macht ausgenutzt zu werden (vgl. Buratto 2003:39). Im Unterschied zum Arbeiter erhält der činovnik die Übertragung von Aufgaben durch die

50 Am Morgen des Stapellaufs kleidete sich Fantozzi mit einem alten flaschengrünen Anzug und ging mit seiner Ehefrau zur Schiffswerft. Sie legten ihm Silberpapier um den Hals, einen großen Korken in den Mund und verschnürten ihm die Füße mit einem Band. Um halb zehn hissten sie ihn in 15 Meter Höhe mit dem Kopf nach unten. Er blieb in dieser furchtbaren Position bis zum Mittag hängen. Die Kollegen taten so, als ob sie ihn nicht sahen. Um halb eins begann Doktor Serra die Feierlichkeit mit einem elenden Schweigen. Die Taufpatin nahm Fantozzi an den Ohren und stieß ihn gegen das Schiff. Im Flug von fast 18 Metern schloss er die Augen und ließ sich einen Schrei des Entsetzens entgehen. Er war sehr gut. Er hat mit den Schultern angeschlagen, wie sie ihm empfohlen hatten, ohne die Arme zu öffnen und stieß den Korken kraftvoll aus. 84

wirtschaftliche und politische Macht, nimmt an deren Logiken teil und bindet sich an sie im Namen der Werte wie Treue, die ihn daran hindern, Ansprüche vorzutragen (vgl. Buratto 2003: 39-40). Der Beamte fällt somit unter die Logik des Kapitalismus, auch wenn er nicht in den Genuss der Vorteile einer wirtschaftlich privilegierten Stellung kommt. Dies führt dazu, dass er sich nicht mit seinesgleichen, d. h. mit anderen kleinen Beamten, verbinden kann. Er denkt de facto nur an sich und betrachtet seine Kollegen als Feinde.

Die kleinen činovniki leben konstant einen Krieg zwischen Armen. Anstatt sich im Kampf zu vereinen, bekämpfen sie sich untereinander nicht nur durch List, sondern auch körperlich, indem sie Gewalt anwenden. In Fantozzi wohnt man am Tag des Beginns der Sommerferien verschiedene Schlägereien zwischen Beamten bei (82). Diese versuchen durch Kampf untereinander mit Gewalt die besten Plätze in einem Zug zu bekommen. Eine ähnliche Episode findet sich an einer anderen Stelle, wo sich die seit Stunden in einem unentwirrbaren Autostau blockierten Beamten einem Kampf hingeben (86).

Aus der Lektüre der Erzählungen von Villaggio ergibt sich allerdings auch eine Tatsache, die bei ihrer Verfilmung weggelassen wurde: die häusliche Gewalt. Es gibt zahlreiche Episoden, in denen Fantozzi seine Ehefrau Pina und die Tochter Mariangela schlägt. Offensichtlich wurden diese Szenen für das breite Publikum des Kinos als nicht geeignet angesehen. Sie sind daher denjenigen, die nur die Filme Villaggios gesehen haben, unbekannt.

Die signifikanteste Episode wird in der Erzählung Fantozzi contro tutti erzählt. Fantozzi ist mit der Ehefrau und der Tochter daheim. Sie erhalten drei Telefonanrufe. Fantozzi möchte aus Angst vor den megadirettori und den Kollegen nicht als Erster antworten und schickt aus diesem Grund die Tochter und die Ehefrau vor. Diese sollen verstehen, wer der Gesprächspartner ist, und je nach dem Verhältnis zu Fantozzi und seinen Anfragen ihn an Fantozzi weitergeben oder sagen, er sei krank oder abwesend. Die beiden Frauen geben die falschen Antworten und die Reaktion von Fantozzi ist immer sehr gewalttätig:

Trillò il telefono, e lui uscì in mutande, facendo una curiosissima pantomima alla figlia e alla moglie che guardavano terrorizzate. Fece capire roteando gli occhi come un orco impazzito un «Domandate chi è, prima! Domandate chi è!». «Il Segretario del Presidente del Consorzio Furti» risposero le due poverine tenendo il microfono tappato a sei mani e lasciando in sospeso un «Che cosa dobbiamo dire?». Lui le fulminò con un’occhiata che significava «Brutte deficienti» e gli strappò il microfono di mano con brutale violenza. «Carissimo dottore» urlacchiò con voce da colombone innamorato, «che piacere sentirla, non so come esprimerle i sensi della mia...» E giù tutta una serie di «Si figuri!», «Ma non lo dica neppure per scherzo...», «Ma l’avrei fatto anche se lei non me lo avesse chiesto...».

85

Abbassò il microfono e si avventò contro le due sventurate cercando di colpirle al basso ventre con la punta ferrata delle scarpe: «Stronzacce maledette, mi avete fatto incastrare, io vi faccio a pez...».51 (513–514)

Mit dieser Episode löst sich die Figur von Fantozzi sehr von der der kleinen Beamten Gogol’s. Keiner von ihnen ist eine gewalttätige Person. Die kleinen činovniki von Gogol’, Akakij Akakievič und Porpriščin, sind hingegen friedlicher, harmloser Natur. In keinem Fall würden sie jemandem wehtun. Fantozzi hingegen ist gewalttätig. Er ist allerdings ein feiger Gewalttätiger, da er sich an Personen, die schwächer als er selbst sind, wendet. Dabei scheint er an ihnen seine gesamte am Arbeitsplatz angestaute Wut abzulassen. Da er nicht den erforderlichen Mut hat, sich gegen seine Ausbeuter aufzulehnen, sammelt er Wut und Frustration an, die in der häuslichen Gewalt und in seinem „valvola di sicurezza: la partita domenicale52“ zum Ausbruch kommen (168). Während des Fußballspiels im Stadion hat Fantozzi die Möglichkeit, zu schreien, zu singen, zu springen und so seine in der Woche angestaute Wut herauszulassen.

2.7 Korruption

Ein weiteres sehr bedeutendes Thema, das von Gogol’ und Villaggio behandelt wird und die Missstände in der Arbeitswelt der Beamten betrifft, ist die Korruption. Verweise auf dieses unangenehme Phänomen zeigen sich wiederholt in den Werken beider Autoren. Es bestehen allerdings einige bedeutende Unterschiede.

51 Es klingelte das Telefon und er ging in Unterhosen hinaus, während er seiner Tochter und seiner Ehefrau sehr seltsame pantomimische Gesten machte. Er verdrehte die Augen wie eine verrückt gewordene Gans und sagte: „Fragt, wer es ist, vorher! Fragt, wer es ist!“. „Der Sekretär des Präsidenten des Konsortiums Diebstähle“ antworteten die beiden Armen, indem sie das Mikrofon abdeckten und fügten hinzu „Was sollen wir sagen?“. Er nahm ihnen mit einem Blick, der bedeutete „Elende Dummköpfe“, das Telefon gewaltsam aus der Hand. „Lieber Doktor“ rief er mit der Stimme einer verliebten Taube, „wie schön, Sie zu hören, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll...“ Und dann: „Ich bitte Sie!“, „Aber sagen Sie dies nicht einmal aus Scherz...“, „Aber ich hätte es getan, auch wenn Sie mich nicht gefragt hätten...“. Er senkte das Mikrofon ab und stürzte sich auf die beiden Unglücksmenschen und versuchte sie mit der beschlagenen Schuhspitze im Unterleib zu treffen: «Verfluchte Arschlöcher, Ihr habt mich getäuscht, ich werde euch umbringen“. 52 Sicherheitsventil: das Sonntagsspiel. 86

In den Werken von Gogol’ ist die Korruption der činovniki eine zumindest gewöhnliche Tatsache. Sie sind aktiv, aber auch passiv korrupt, da sie nicht nur bestechen, sondern sich auch bestechen lassen. Laut Gogol’ ist die Korruption im Russland der ersten Hälfte des 19. Jh. eine sehr gewöhnliche Praxis und die činovniki sind die wahren Profis auf diesem sehr besonderen Gebiet.

Ein wahrer Meister der Korruption scheint Čičikov zu sein, dessen berühmte Seelenkäufe Anlass zur satirischen Selbstentlarvung der Provinzbürokratie sind (vgl. Günther 1968: 204). Er versucht, indem er sich als reicher Grundbesitzer ausgibt, Geschäfte zweifelhafter Legalität mit dem Adel einer entfernten russischen Provinz zu machen. Zum Zeitpunkt der Eintragung der Verkaufsurkunden im örtlichen Gericht verwendet Čičikov alle seine diesbezüglichen Fähigkeiten, um die Ausfertigung der Vorgänge durch den schlauen Ivan Antonovič zu vereinfachen:

«У меня дело вот такое: куплены мною у разных владельцев здешнего уезда крестьяне на вывод: купчая есть, остается совершить.» «А продавцы налицо?» «Некоторые здесь, а от других доверенность.» «А просьбу принесли?» «Принес и просьбу. Я бы хотел... мне нужно поторопиться... так нельзя ли, кончить дело сегодня?» «Да, сегодня! Сегодня нельзя» сказал Иван Антонович. «Нужно навести еще справки, нет ли еще запрещений.» «Впрочем, что до того, чтоб ускорить дело, так Иван Григорьевич, председатель, мне большой друг...» «Да ведь Иван Грегорьевич не один; бывают и другие» сказал сурово Иван Антоиович. Чичиков понял заковыку, которую завернул Иван Антонович и сказал: «Другие тоже не будут в обиде, я сам служил, дело знаю...» «Идите к Ивану Грегорьевичу» сказал Иван Антонович голосом несколько поласковее. «Пусть он даст приказ, кому следует, а за нам дело не постоит.» Чичиков, вынув из кармана бумажку, положил ее перед Иваном Антоновичем, которую тот совершенно не заметил и накрыл тотчас книгою. Чичиков хотел было указать ему ее, но Иван Антонович движением головы дал знать, что не нужно показывать.53 (168–169)

53 „Und meine Sache verhält sich folgendermaßen: ich habe bei verschiedenen Gutbesitzern dieses Kreises Bauern zur Übersiedlung gekauft: die Kontrakte sind fertig und sollen nur bekräftigt werden.“ „Sind die Verkäufer hier?“ „Einige sind gegenwärtig, von anderen Vollmachten.“ „Haben Sie die Bittschrift mitgebracht?“ 87

In diesem Ausschnitt sagt der Satz „Дpyгие тоже не бyдyт в обиде, я caм cлyжил, дело энaю ...“54 viel über die Fähigkeiten des augenscheinlich arglosen Grundbesitzers Čičikov in diesem Bereich aus. Im letzten Kapitel des ersten Teils der Mertvye duši erfährt der Leser weiter, woher diese außergewöhnlichen Fähigkeiten stammen. Čičikov beginnt seine Karriere als Beamter in einem anonymen Gerichtsgebäude. Hier gelingt es ihm durch Abwechseln eines augenscheinlich vorbildlichen Verhaltens mit den schändlichsten Hilfsmitteln, schnell innerhalb der internen Hierarchien aufzusteigen. Letztlich „добил он в непродолжительное время то, что называют хлебное местечко, и воспользовался им отличным образом“ (487), d. h. er legt endgültig die Strenge und den Pflichtsinn beiseite und wird zu einem typischen korrupten Beamten. Sein Glück hält allerdings nicht lange an: Nach einer Weile wird er entdeckt, entlassen und ersetzt. Čičikov gibt sich aber, einmal auf der Straße, nicht geschlagen:

Но переносил все герой наш, переносил сильно и терпеливо переносил, и – перешел наконец в службу по таможне. Надобно сказать, что эта служба давно составляла тайный предмет его помышлений. Он видел, какими щегольскими заграничными вещицами заводились таможенные чиновники, какие фарфоры и батисты пересылали кумушкам, тетушкам и сестрам.55 (492)

„Ich habe sie hier und möchte die Sache gerne beschleunigen… könnte sie nicht heute beendigt werden?“ „Heute? das kann nicht sein. Es muss erst eine Untersuchung eingeleitet werden, ob nicht ein Hindernis der Gültigkeit der Verträge sich vorfindet.“ „Übrigens, wenn die Sache dadurch beschleunigt werden könnte, der Gerichtsvorsteher Iwan Gregorowitsch ist ein guter Freund von mir und…“ „Als ob Iwan Gregorowitsch allein hier?“ sagte mürrisch Iwan Antonowitsch, „es gibt noch andere…“ Tschitschikow verstand, worauf das ziele und sagte: „Andere werden gewiss dabei nicht leiden, ich habe selbst gedient, ich verstehe, wie es zugehen muss…“ „Gehen Sie zu Iwan Gregorowitsch,“ sagte Iwan Antonowitsch mit einer etwas höflicheren Tonbeugung, „wenn er nur gehörigen Orts das Notwendige erlässt, wir werden keinen Anstand annehmen.“ Tschitschikow nahm aus der Tasche ein Papierchen, legte es vor Iwan Antonowitsch, der dasselbe durchaus nicht zu bemerken schien und sogleich mit einem Buch verdeckte. Tschitschikow wollte es ihm zeigen, doch Iwan Antonowitsch gab ihm durch eine Kopfbewegung zu verstehen, dass er bereits wisse, wovon es sich handle. (203) 54 „Andere werden gewiss dabei nicht leiden, ich habe selbst gedient, ich verstehe, wie es zugehen muss …“ 55 Aber unser Held ertrug alles mit Geduld, ertrug es mutig und mit Ausdauer und – wurde endlich beim Zollamte angestellt. Schon lange war eine Anstellung beim Zollamte ein geheimer Wunsch seines Herzen, der einzige Gegenstand seines Dichtens und Trachtens gewesen. Er sah, welche 88

Der Cinovnik sieht letztlich bei der Arbeit am Zoll große Möglichkeiten, sich unrechtmäßig zu bereichern. Er ist von der sprichwörtlichen Korruption der Grenzbeamten angezogen. Nach seiner Einstellung scheint sich Čičikov in einen beispielhaften činovnik zu verwandeln; aber nur vorübergehend:

В непродолжительное время не было от него никакого житья контрабандистам. Это было гроза и отчаяние всего польского жидовства. Честность и неподкупность его были неодолимы, почти неестественны. Он даже не составил себе небольшого капитальца из разных конфискованных товаров и отбираемых кое-какие вещиц, не поступающих в казну во избежание лишней переписки.56 (493)

Aufgrund seiner Verdienste wird Čičikov schließlich befördert. In seiner neuen Stellung wandelt er sich aber erneut und wird wieder zum alten korrupten činovnik von einst. Ihm wird die Rolle des Chefs im Kampf gegen Schmuggel übertragen, die er zusammen mit einer Gruppe von Schmugglern, die er eigentlich bekämpfen müsste, für viele illegale Tätigkeiten auszunutzen weiß:

В то время образовалось сильное общество контрабандистов обдуманно-правильным образом; на миллионы сулино выгод дерзкое предприятие. Он давно уже имел сведение о нем и даже отказал подосланным подкупить, сказавши сухо: «Еще не время». Получив же в свое распоряжение все, в ту же минуту дал знать обществу, сказавши: «Теперь пора». Расчет был слишком верен. Тут в один год он мог получить то, чего не выбрал бы в двадцать лет самой ревностной службы. Прежде он не хотел вступать ни в какие сношения с ними, потому что был не более как простой пешкой, стало быть, немного получил бы; но теперь... теперь совсем другое дело: он мог предложить какие угодно условия.57 (493–494)

herrlichen ausländischen Sachen die Zollbeamten besaßen, welche verschiedene Zeuge und Geschirre sie den Gevatterinnen, Tanten und Schwestern schickten. (338) 56 In der kürzesten Zeit raubte er allen Schmugglern die Mittel ihrer Existenz. Tschitschikow war der Schrecken und die Verzweiflung des polnischen Judentums. Seine Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit waren unüberwindlich, fast unnatürlich. Er hatte sich sogar nicht aus den konfiszierten Waren und anderen kleinen Konterbanden, die, um überflüssige Schreibereien zu vermeiden, nicht in die Bücher eingetragen wurden, ein Kapitälchen gebildet. (340) 57 Zu der Zeit bildete sich eine wohlorganisierte Schmugglergesellschaft; das kühne Unternehmen konnte Millionen eintragen. Tschitschikow wusste schon seit lange davon, und hatte sogar die an ihn Abgesandten mit den wenigen Worten abgefertigt: „Noch ist die Zeit nicht da.“ Als man ihm aber eine so bedeutende Macht verlieh, ließ er der Gesellschaft sagen: „Die Zeit wäre da.“ Die Berechnung war ganz richtig. Hier konnte er in einem Jahr mehr gewinnen, als auf dem gewöhnlichen Weg in zwanzig Jahren. Früher wollte er mit ihnen in gar keine Berührung kommen, er hätte als niederer Beamter nicht 89

Seine Gier führt ihn jedoch in den Ruin. Er wird entdeckt, entlassen und gezwungen, bei null anzufangen. Zu diesem Zeitpunkt kommt ihm in den Sinn, sich als reicher Grundbesitzer auszugeben, um mysteriöse Geschäfte zweifelhafter Legalität mit dem Adel der Provinz zu machen.

Nicht nur in Mertvye duši wird von der Korruption in der Welt der činovniki gesprochen. Dieses Thema wird von Gogol’ auch in vielen anderen Werken behandelt. In Nos beispielsweise ist die Szene sehr bezeichnend, in der Kovalev nach dem Verschwinden seiner Nase beschließt, sich an den Polizeikommissar zu wenden, um Hilfe zu erbitten. Wegen der Eile und des momentanen Verlustes der Klarheit aufgrund der äußerst merkwürdigen Situation, in die der Protagonist der Erzählung geraten ist, scheint Kovalev vergessen zu haben, wie man sich an einen činovnik wendet:

Ковалев вошел к нему в то время, когда он потянулся, крякнул и сказал: «Эх, славно засну два часика!». И потому можно было предвидеть, что приход коллежского асессора был совершенно не вовремя; я не знаю, хотя бы он даже принес ему в то время несколько фунтов чаю или сукна, он бы не был принят слишком радушно. Частный был большой поощритель всех искусств и мануфактурностей, но государственную ассегнацию предпочитал всему. «Это вещь, – обыкновенно говорил он – уж нет ничего лучше этой вещи: есть не просит, места займет немного, в кармане всегда поместится, уронишь – не расшибется»58 (64)

Dieses Thema kehrt häufig auch in der Komödie Revizor zurück. In der kleinen Provinzstadt, wo die von Gogol’ Episoden stattfinden, ist die Korruption nunmehr eine für alle činovniki gewöhnliche Sache. Alle scheinen zu stehlen und zu bestechen, unabhängig von der Stellung und der Aufgabe innerhalb der Gesellschaft. Emblematisch ist die Szene, in der der Polizeimeister einem korrupten Polizisten streng Vorwürfe macht, indem er sagt:

viel bekommen, aber jetzt… jetzt hatte sich das Blatt gewendet, nun konnte er die Bedingungen stellen. (341) 58 Kowalew kam gerade in dem Augenblick zu ihm, als er sich räkelte, gähnte und sagte: „Ach, jetzt werde ich erst einmal zwei Stündlein herrlich schlafen!“ Hieraus sieht man, dass die Ankunft des Kollegienassessors zu einem außerordentlich ungünstigen Zeitpunkt erfolgte; und ich kann nicht einmal sagen, ob der Vorsteher ihn freundlicher empfangen hätte, wenn jener jetzt mit einigen Pfund Tee oder ein paar Ellen Tuch angekommen wäre. Der Vorsteher war ein großer Förderer aller Künste und Handwerke, doch eine Banknote zog er allen anderen Dingen vor. „Das ist ein Ding“, sagte er gewöhnlich, „es gibt nichts Besseres als solch ein Ding: es verlangt nichts zu essen, nimmt wenig Platz ein, lässt sich stets in einer Tasche unterbringen, und wenn es dir hinunterfällt, zerbricht es nicht.“ (100) 90

Да смотри: ты! Ты! Я знаю тебя: ты там кумаешься да крадешь в ботфорты серебряные ложечки, – смотри, у меня ухо востро!.. Что ты сделал с купцом Черняевым – а? Он тебе на мундир дал два аршина сукна, ты стянул всю штуку. Смотри! Не по чину берешь! Ступай!59 (238)

Paradox sind die Worte des Polizeimeisters, nach dem die Schuld des Polizisten nicht darin besteht, korrupt zu sein, sondern im Annehmen von mehr, als ihm zusteht. Dies lässt bereits verstehen, dass einer höheren Stellung eine höhere Korruption entspricht. In der ersten Szene des ersten Aktes z. B. versammelt der Polizeimeister alle hochrangigen činovniki und unter Warnung vor der Ankunft eines imaginären Inspektors aus der Hauptstadt spricht er mit den Kollegen offen über Korruption. Den Richter weist er beispielsweise darauf hin, dass es unschicklich sei, Windhundwelpen von den Verdächtigen zu erhalten. Dieser seinerseits führt an, dass andere hingegen Pelze und Schultertücher erhalten. Weiter versuchen in der ersten Szene des vierten Aktes dieselben činovniki, die Gunst Chlestakovs, des falschen Petersburger Inspektors, zu erobern, indem sie paradoxerweise auf ihre Spezialität, die der Inspektor hätte bekämpfen und anzeigen müssen, zurückgreifen: die Korruption.

Hinsichtlich der Korruption innerhalb der Provinzverwaltung, die von Gogol’ gezeigt wird, war diese nunmehr für die činovniki zur Praxis geworden. Beim Vorlesen des Briefes des Freundes Andrej Ivanovič, der sie über die Notwendigkeit benachrichtigt, die Dinge in der Verwaltung angesichts der Ankunft eines Inspektors in Ordnung zu bringen, drückt der Polizeimeister vor den Kollegen in dieser Weise aus, was er hinsichtlich der städtischen Korruption denkt:

Насчет же внутреннего распоряжения и того, называет в письме Андрей Иванович грешками, я ничего не могу сказать. Да и странно говорить: нет человека, который бы за собою не имел каких-нибудь грехов. Это уже так Самим Богом устроено, и волтерианцы напрасно против этого говорят.60 (228)

59 Und pass du mir auf, du! Du besonders! Ich kenne dich doch, du biederst dich mit allen an und klaust dabei silberne Löffel, die du in den Stiefeln fortträgst – pass du mir auf, ich habe ein scharfes Ohr! ... Was hast du beim Kaufmann Tschernjajew angestellt, wie? Er hat dir gutwillig zwei Ellen Tuch für eine Uniform geschenkt; du aber hast dabei das Ganze geklaut. Pass du mir auf, man darf nur seinem Rang entsprechend klauen! Marschier ab! (23) 60 Was dagegen die Verwaltungsordnung anlagt und das, was Andrej Iwanowitsch in seinem Brief als „Dreck am Stecken“ bezeichnet, dazu habe ich nichts zu sagen. Es wäre auch sonderbar, hierzu etwas zu bemerken: gibt es denn einen Menschen, der nicht irgendwie „Dreck am Stecken“ hätte? Gott selber hat das nun einmal so eingerichtet, und die Voltairianer meckern ganz ohne Grund dagegen. (12) 91

Dafür, dass die Korruption eine der hässlichen Gewohnheiten der vom Autor am häufigsten behandelten činovniki ist, verwendet er sehr selten dieses Wort. Seine Figuren sprechen fast immer von Geschenken oder sie erwähnen direkt die zum Bestechen verwendeten Objekte wie Nahrungsmittel, Tiere oder Geld. Diese Weglassungen und Euphemismen könnten durch die Tatsache gegeben sein, dass die Korruption, auch wenn sie laut Gogol’ die Praxis in der Verwaltung ist, dennoch als ein Verbrechen betrachtet wird und daher nach dem Gesetz bestraft werden müsste, wenn es Kontrollen seitens der höherstehenden Behörden geben würde.

Die Korruption wird bei Villaggio anders als bei Gogol’ behandelt. Man bemerkt in der Tat, dass keine der hier untersuchten Werke von Korruption handelt oder die Korruption der Beamten zum Thema hat. Diese Tatsache ist sehr merkwürdig. In diesem Zusammenhang ist fast anzunehmen, dass dieses Fehlen auf eine besondere Integrität seitens der von Villaggio beschriebenen Beamten zurückgeht. Diese Annahme ist aber falsch. Die Korruption wird in der Satire von Villaggio wie andere Arten von Verbrechen nicht nur allgemein von allen praktiziert und akzeptiert, sondern sogar von entsprechenden Büros verwaltet und reguliert. Es finden sich die folgenden Büros mit sehr erheiternden Namen: Ufficio Bustarelle, Ufficio Raccomandazioni e Promozioni, Associazione Nazionale Grandi Ladri, Ufficio Furti e Riciclaggio Denaro Sporco, Consorzio Furti61.

Wie die Namen der oben aufgelisteten Büros zeigen, ist die Korruption in den Erzählungen von Villaggio offensichtlich, plakativ und integraler Teil des Lebens der italienischen činovniki. Es besteht sogar die Notwendigkeit, sie über spezielle Büros zu reglementieren. Bei Gogol’ wird die Korruption allgemein von allen praktiziert, aber sie bleibt immer ein Verbrechen. Die aktive und die passive Korruption werden noch als eine skandalöse und ungehörige Sache für einen činovnik betrachtet und aus diesem Grund zum Gegenstand der Satire. So ist es hingegen nicht bei Villaggio. Das Fehlen von Erzählungen, die dieses Thema direkt behandeln, lässt den Schluss zu, die Korruption sei nach dem Autor eine Praxis, die derart in den Alltag Eingang gefunden hat, dass sie keinen Skandal mehr hervorrufen kann. Die Satire von Villaggio besteht eben im Schweigen, wenn nicht durch Nennung der Büros, deren Ziel die Reglementierung der Korruption und anderer Verbrechen ist.

61 Schmiergeldbüro, Empfehlungs- und Beförderungsbüro, Nationalverband der großen Diebe, Diebstahls- und Geldwäschebüro, Diebstahlskonsortium. 92

2.8 Anbiederung

Die Welt der činovniki von Gogol’ und die der Figuren der Erzählungen von Villaggio ist, wie bereits zu sehen war, hart und ungerecht. Innerhalb der Hierarchien der Verwaltungen spielt das Leistungsprinzip eine lächerliche Rolle. Die činovniki beider Autoren greifen, um Karriere zu machen und ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern oder einfach in Ruhe leben zu können, auf jede Art von Mittel, auch das heimtückischste, zurück.

Eines dieser Mittel ist die Anbiederung an die Mächtigen, seien es Politiker, Adlige, Abteilungsleiter, Inspektoren oder einfach Kollegen, die eine bedeutendere Stellung innerhalb des gesellschaftlichen Organigramms einnehmen. Die Anbiederung ist kurzum eine vom činovnik praktizierte Tätigkeit, die als Ziel die Schmeichelei gegenüber irgendeiner Person hat, die eine wichtigere Stellung als er selbst einnimmt.

In den von Gogol’ untersuchten Werken manifestiert sich die Anbiederung auf verschiedene Arten. Die erste ist der Versuch, den jeweiligen Mächtigen durch Taten oder Gesten zu befriedigen, die ihm gefallen könnten. Als Erstes muss er auf jedes Mittel zurückgreifen, um seine Hingabe und Ehrfurcht vor dem jeweiligen Vorgesetzten zu zeigen. Für einen anonymen činovnik war es undenkbar, sich dem Vorgesetzten bemerkbar zu machen. Aber wie konnte er vorgehen? Zuerst musste er sich zeigen, wie in diesem Ausschnitt von Zapiski sumasšedšego beschrieben. Hier wird das rebellische Verhalten des für verrückt gehaltenen Protagonisten dem unterwürfigen Verhalten der Kollegen gegenübergestellt:

Через несколько минут все засуетилось. Сказал, что директор идет. Многие чиновники побежали наперерыв, чтобы показать себя перед ним. Но я ни с места. Когда он проходил через наше отделение, все застегнули на пуговицы свои фраки; но я совершенно ничего!62 (198)

Wie bereits ausgeführt, war der Protagonist dieser Erzählung eben verrückt. Er ist der Einzige in allen Werken Gogol’s, die in dieser Masterarbeit berücksichtigt werden, der sich der bürokratischen Hierarchie und ihrer betrügerischen Art und Weise widersetzt. Die anderen Beamten sind nicht so mutig oder verrückt, je nach Blickwinkel. Diese widersetzen sich den Konventionen nicht, sondern passen sich ihnen vielmehr an und versuchen, ihre Vorgesetzten auf irgendeine Weise zufrieden zu stellen, auch mit dem schleimigsten Gefallen. In Šinel’ z. B. organisieren die Kollegen, nachdem Akakij den Diebstahl seines

62 Nach einigen Minuten geriet alles in Aufregung. Sie sagten, der Direktor käme. Viele Beamte rannten hin und her, um vor ihm wichtig zu tun. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Als er durch unsere Abteilung kam, knöpften alle ihre Fräcke zu; ich tat nichts dergleichen. (74) 93

Mantels erlitten hat, bewegt durch Mitleid eine Sammlung, aber sie haben nicht mit ihrer sprichwörtlichen Anbiederung gerechnet:

Повествование о грабеже шинели, несмотря на то что нашлись такие чиновники, которые не пропустили даже и тут посмеяться над Акакием Акакиевичем, однако же многих тронуло. Решились тут же сделать для него складчину, но собрали самую безделицу, потому что чиновники и без того уже много истратились, подписавшись на директорский портрет и на одну какую-то книгу, по предложению начальника отделения, который был приятелем сочинителю, – итак, сумма оказалась самая бездельная.63 (167)

Es sind jedoch nicht nur die armen činovniki, die auf die Anbiederung zurückgreifen müssen. Dieser erniedrigenden Praxis entkommen nicht einmal die verschiedenen Direktoren und die einflussreichsten Personen. Kurzum, es gibt immer und auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Leiter irgendjemanden, der mächtiger ist und dem geschmeichelt werden muss. In Revizor beispielsweise ist der Polizeimeister, die größte Autorität der Stadt, gezwungen, sich im übertragenen Sinn dem maßgeblichen Inspektor Chlestakov zu unterwerfen. Der Polizeimeister, geblendet von der Angst, den Petersburger Behörden als Betrüger angezeigt werden zu können, bietet ihm, sofort nachdem er ihn erkannt hat, nicht nur an, die Rechnung im Gasthaus zu bezahlen, sondern lädt ihn auch ein, bei sich zu Hause zu übernachten. Dieser Ausschnitt, in dem der Polizeimeister im Gasthaus Chlestakov einlädt, bringt die ganze Anbiederung des Polizeimeisters ans Licht:

ГОРОДНИЧИЙ. (окидывает глазами комнату.) Кажется, эта комната несколько сыра. ХЛЕСТАКОВ. Скверная комната, и клопы такие, каких я нигде не видывал: как собаки кусают. ГОРОДНИЧИЙ. Скажите! Такой посвешенный гость, и терпит – от кого же? – от каких-нибудь негодных клопов, которым бы и на свет не следовало родиться. Никак, даже темно в этой комнате? ХЛЕСТАКОВ. Да, совсем темно. Хозяин завел обыкновение не отпускать свечей. Иногда что-нибудь хочется сделать, почитать или придет фантазия сочинить что-нибудь, – не могу: темно, темно. ГОРОДНИЧИЙ. Осмелюсь ли просить вас... но нет, я недостоин. ХЛЕСТАКОВ. А что?

63 Die Kunde vom Raub des Mantels rührte viele Beamte ehrlich, ungeachtet der Tatsache, dass sich auch solche fanden, die sich nicht einmal jetzt die Gelegenheit entgehen ließen, über Akakij Akakijewitsch zu spotten. Man beschloss auf der Stelle, eine Sammlung zu veranstalten, aber es kam nur ein klägliches Sümmchen zusammen, weil sich die Beamten schon ohnedies stark verausgabt hatten durch eine Subskription auf das Porträt des Direktors und auf irgendein Buch, das ihnen der Abteilungsvorstand empfohlen hatte, weil er ein Freund des Verfassers war – und so erwies sich die Summe als recht kläglich. (145-146) 94

ГОРОДНИЧИЙ. Нет, нет, недостоин, недостоин! ХЛЕСТАКОВ. Да что же такое? ГОРОДНИЧИЙ. Я бы дерзнул... У меня в доме есть прекрасная для вас комната, светлая, покойная... Но нет, чувствую сам, это уж слишком большая честь... Не рассердитесь – ей-богу, от простоты души предложил. ХЛЕСТАКОВ. Напротив, извольте, я с удовольствием. Мне гораздо приятнее в приватном доме, чем в этом кобаке. ГОРОДНИЧИЙ. А уж я так буду рад! А уж как жена обрадуется! У меня уже такой нрав: гостеприимство с самого детства, особливо если гость просвещенный человек. Не подумайте, чтобы я говорит это из лести; нет, не имею этого порока, от полноты души выражаюсь. ХЛЕСТАКОВ. Покорно благодарю. Я сам тоже – я не люблю людей двуличных. Мне очень нравится ваша откровенность и радушие, и я бы, признаюсь, больше бы ничего и не требовал, как только оказывай мне преданность и уважение, уважение и преданность.64 (253–254)

64 POLIZEIMEISTER. (Betrachtet eingehend das Zimmer.) Täusche ich mich nicht, so ist dieses Zimmer etwas feucht?

CHLESTAKOW. Ein miserables Zimmer, und Wanzen gibt es darin, wie ich sie noch nie zuvor erblickt: groß wie Hunde und beißen.

POLIZEIMEISTER. Was Sie sagen! Ein so hochgebildeter Fremder und muss sich derart plagen lassen, und von wem gar? Völlig sinnlose Wanzen plagen ihn, die überhaupt nicht erst hätten zur Welt kommen dürfen. Und ist es nicht auch ein wenig dunkel in dem Zimmer?

CHLESTAKOW. Stockfinster. Der Wirt scheint die Gewohnheit zu haben, keine Kerze herzugeben. Man will doch einmal dies oder jenes tun, was lesen, oder es kommt einen die Laune an, etwas aufzuschreiben; ausgeschlossen – es ist dunkel und bleibt dunkel.

POLIZEIMEISTER. Dürfte ich mir erlauben, Sie zu fragen … doch nein, ich bin dessen nicht wert.

CHLESTAKOW. Worum handelt es sich?

POLIZEIMEISTER. Nein, nein, ich bin dessen nicht wert, dessen bin ich nicht wert.

CHLESTAKOW. Ja was denn?

POLIZEIMEISTER. Sonst hätte ich mich erkühnt … In meinem Hause wäre nämlich ein schönes Zimmer für Sie, hell und ruhig… Doch nein, ich fühle selber, dass es eine viel zu große Ehre für mich wäre … Bitte ärgern Sie sich nicht. Bei Gott, es kam nur aus gutem Herzen, dass ich Ihnen das vorschlug.

CHLESTAKOW. Im Gegenteil, bitte schön, mit Vergnügen; in einem Privathaus ist es mir viel angenehmer als in dieser Schenke.

POLIZEIMEISTER. Und wie mich da erst freuen würde! Und wie meine Frau darüber entzückt sein wird. Ich bin nun einmal so geschaffen: gastfreundlich von Jugend auf; zumal wenn der Gast ein gebildeter Mann ist. Bitte denken Sie ja nicht, dass ich Ihnen damit schmeicheln möchte. Nein, nein, dieser Laster fehlt mir, ich spreche immer frei heraus, wie ich fühle.

CHLESTAKOW. Ergebensten Dank. Mir geht es genauso: doppelzüngige Menschen mag ich nicht. Ihre Offenheit und Ihre Gastfreundschaft gefallen mir sehr, und ich muss offen gestehen, dass ich auch 95

Wie diesen Ausschnitten zu entnehmen ist, schließt sich, während sich die Anbiederung der kleinen Beamten mehr durch ihre Handlungen zeigt, der Anbiederung des Polizeimeisters und der der anderen hochstehenden Personen eine große dialogische Fähigkeit an. Dies hilft Chlestakov, sich schnell einzuschmeicheln. Diese Gabe ist allerdings nicht allen Figuren gemein. Den malen’kie ljudi wie Akakij fehlt diese Eigenschaft gänzlich und sie haben bereits offensichtliche Schwierigkeiten, sich korrekt in der russischen Sprache auszudrücken.

Eines verbindet die Sprechart der kleinen und großen Beamten, wenn sie versuchen, sich beim jeweiligen Vorgesetzten einzuschmeicheln: Beide Gruppen steigern die Bedeutung ihres Gesprächspartners und schreiben ihm einen höheren Titel oder Grad zu. In Revizor weiß der Schulinspektor Luka Lukič nicht mehr, auf welche Weise er sich an Chlestakov wenden muss und er ruft ihn „ваше бла ... преоc ... cият ...“ (266).

Diese Praxis ist auch den Beamten der Erzählungen von Villaggio nicht fremd. Die Anbiederung ist ein Mittel, um sich bei den Vorgesetzten einzuschmeicheln und so schneller Karriere machen zu können. Ein Vorbild für die niederrangigen činovniki wie Fantozzi war beispielsweise der äußerst gefürchtete Visconte Còbram, der in Fantozzi contro tutti ausgehend von den demütigsten Aufgaben die Anbiederung genutzt hatte, um die Hierarchie hinaufzuklettern, bis er visconte und direttore wurde:

Era uno che veniva su dalla gavetta. Da giovane era stato un mediocre ciclista dilettante che portava acqua ai migliori. Entrato a diciotto anni nei ranghi della società come archivista, si era fatto strada facendo il leccaculo, la spia e l’uomo di fiducia di tutti i suoi immediati superiori, sul conto dei quali nei periodi che era al servizio raccoglieva prova di ogni tipo: fotografiche, registrate, testimoniali, e con quelle li faceva subito fuori una volta raggiunto lo stesso grado gerarchico.65 (398)

Ein weiterer megadirettore, der mit den niedrigsten Aufgaben startete und dann zum Olymp der Mächtigen aufstieg, war Dottor Catellani, der in vielen Episoden aus Il secondo tragico libro di Fantozzi vorkommt. Er machte eine Karriere, die dem des Visconte Còbram sehr ähnlich ist:

nichts mehr verlange, als dass man mir Ergebenheit und Achtung erweise, Achtung und Ergebenheit. (40–41) 65 Er war einer, der sich hochgearbeitet hatte. Als junger Mann war ein mittelmäßiger Amateur- Radsportler. Er trat mit achtzehn Jahren in die Ränge der Gesellschaft als Archivar ein und dann machte er seinen Weg, indem er den Schmeichler, den Spion und den Mann des Vertrauens all seiner Vorgesetzten, von denen er allerdings Beweise jeglicher Art sammelte, gab: Fotografien, Aufzeichnungen, Zeugnisse und mit diesen beseitigte er sie, sobald er denselben Grad in der Hierarchie erreicht hatte». 96

Il Dottor Catellani veniva dal basso. «Ho fatto la gavetta» diceva, «mi sono fatto un mazzo così.» E faceva un gesto di una volgarità notevole, mentre i sottoposti sorridevano. [...] Per raggiungere questa in fondo tragica posizione aveva usato tutti i mezzi possibili: la ruffianeria, il servilismo, l’adulazione e anche il ricatto da intercettazioni telefoniche.66 (255)

Kurzum, die Anbiederung zahlt sich aus. Sie scheint eine gewinnbringende Methode zu sein, um den Weg in Richtung Erfolg zu ebnen. Aus diesem Grund entzieht sich ihr keine der Figuren von Villaggio. Der Autor schafft daraus in vielen Erzählungen humorvolle Parodien und treibt die Anbiederung der Beamten auf die Spitze, die die erniedrigendsten und unmöglichsten Dinge tun, um sich bei dem jeweiligen Mächtigen einzuschmeicheln. In Fantozzi finden sich die Beamten Fracchia und Fantozzi, die bei einer unwahrscheinlichen Treibjagd des Unternehmens dem Direktor, der zu diesem Anlass als preußischer General gekleidet ist, die Hand küssen (107). In einer anderen Episode ist der glücklose Beamte nach einem schrecklichen Unglück gezwungen, in die Berge zu flüchten, um dann von den Kollegen verfolgt und geschlagen zu werden (53).

Eine der signifikantesten Episoden wird in Il secondo tragico libro di Fantozzi erzählt. Sie beginnt mit der Beschreibung des Dottor Catellani, der vor kurzem Gran Maestro della megaditta geworden ist. Zu seinen größten Leidenschaften gehört das Billardspiel. Deshalb versuchen die Beamten, auf diese Weise sein Wohlwollen zu erlangen, fordern ihn zum Billard heraus und lassen ihn immer gewinnen:

Da quando era diventato Gran Maestro non aveva perso una partita. Ma la cosa più drammatica era che prendevano qualche scatto e avevano gli aumenti e le gratifiche pasquali solo quelli che perdevano a biliardo con lui. Fantozzi, che lavorava ora all’ufficio Intercettazioni Telefoniche Varie, aveva giocato soltanto un po’ a «boccette» da ragazzo, ma non aveva mai preso in mano una stecca da biliardo in vita sua e quindi non aveva mai osato unirsi al gruppo dei perditori abituali. Quasi tutti si erano piazzati in posti chiave, e da terza categoria il campione regionale di carambola era diventato, dopo ventisei mesi di sconfitte clamorose, assistente al Soglio: cioè poteva entrare nella stanza del Gran Maestro anche quando c’era la luce rossa, che un tempo era il segnale del Gran Capo in intimità con la segretaria oppure occupato a registrare qualche succulenta telefonata con la sua centrale d’ascolto personale. Una notte che non poteva dormire Fantozzi raccontò tutto alla moglie Pina e insieme decisero che era più dignitoso vivere così, accettando la vita senza barare. Ma lui, ormai immerso nella degenerazione che aveva contagiato tutti, non era riuscito a sfuggire al servilismo

66 Doktor Catellani kam von unten. „Ich habe mich hoch gearbeitet“ sagte er. Und er machte eine vulgäre Geste, während die Untergebenen lächelten. [...] Um seine Position zu erreichen, hatte er in Wirklichkeit alle möglichen Mittel angewandt: die Kuppelei, die Kriecherei, die Schmeichelei und auch die Erpressung durch Telefonüberwachung. 97

dilagante ed era diventato fascista senza saperlo. Decise così di andare a «ripetizione» di biliardo di nascosto da sua moglie.67 (256)

Die Anbiederung in den Erzählungen von Villaggio ist eine Waffe, die eingesetzt wird, um Karriere zu machen und sich vor den Mächtigen zu verteidigen. Die armen Beamten sind daher gezwungen, unterworfen zu werden. Aber sie sind es nicht von Natur aus. In ihnen wächst eine Wut, die mit jeder Schikane ansteigt. Die, die es schaffen, Karriere zu machen, lassen sie dann an den armen Untergebenen aus, wie im bereits untersuchten Fall des Visconte Còbram. Wer es hingegen wie Fantozzi nicht schafft, seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern, ist gezwungen, sich auf andere Weise abzureagieren: durch häusliche Gewalt oder durch Fußball; aber diese Aspekte werden in anderen Kapiteln behandelt. Eine weitere Lösung ist, davon zu träumen, eine Revanche zu haben oder sich zu rächen, wie es in Fantozzi contro tutti geschieht. Dort wirken die Träume der Rache von Fantozzi besonders erheiternd:

«Dunque» attaccava Fantozzi trionfalmente, «come prima cosa andrei sopra dal Dott. Colombani.» Filini si metteva intanto in posizione d’ascolto. «Entrerei spalancando la porta con un calcio, andrei dritto verso di lui... gli rutterei in faccia, gli tirerei un pugno sui denti» e mentre raccontava faceva il gesto del pugno con tutta la sua rabbia da schiavo «mentre lui è sul pavimento gli piscerei nel calamaio di Gucci, gli cagherei sulla moquette al centro della stanza e uscendo gli direi: Ciao, merdaccia! Va’ a dar via il culo!»68 (445– 447)

67 Seitdem er der Gran Maestro geworden war, hatte er kein Spiel mehr verloren. Aber das Dramatischste war, dass nur diejenige Karriere machten, die beim Billard mit ihm verloren. Fantozzi, der nun in der Abteilung der Telefonüberwachungen arbeitet, hatte niemals in seinem Leben einen Billardqueue in die Hand genommen und daher niemals gewagt, sich einer Gruppe von gewohnten Verlierern anzuschließen. Fast alle hatten Karriere gemacht. Der regionale Billard- Champion, einfacher Angestellter, wurde nach sechsundzwanzig Monaten vernichtender Niederlagen Assistent. Nun konnte er das Zimmer des Gran Maestro betreten, auch wenn das rote Licht leuchtete, welches das Signal war, dass der Große Chef mit der Sekretärin intim war. Eine Nacht, als er nicht schlafen konnte, erzählte Fantozzi alles seiner Ehefrau und gemeinsam beschlossen sie, dass es würdevoller war, so zu leben und das Leben ohne Mauscheleien zu akzeptieren. Aber ihm war es nicht gelungen, der sich ausbreitenden Unterwürfigkeit zu entkommen und war Faschist geworden, ohne es zu wissen. So entschied er ohne das Wissen seiner Ehefrau zum «Nachhilfeunterricht» für Billard zu gehen. 68 „Daher“ fing Fantozzi triumphierend an, „werde ich als erstes zu Herrn Dr. Colombani gehen.“ Filini setzte sich in der Zwischenzeit in die Position des Zuhörers. „Ich werde eintreten, indem ich der Tür einen Tritt versetze, werde gerade auf ihn zugehen…ihm ins Gesicht rülpsen, ihm einen Schlag auf die Zähne versetzen“ und während er erzählte, machte er mit seiner ganzen Wut eine Faustgeste. 98

2.9 Parasitentum (und Amtsmissbrauch)

Beim Lesen der Werke der beiden Autoren, die Episoden aus dem Leben der Beamten am Arbeitsplatz erzählen, ist eines deutlich zu erkennen: Keiner von ihnen arbeitet wirklich. Zudem kümmern sich diese Beamten während des Dienstes um andere Angelegenheiten oder sind nicht im Zustand, um arbeiten zu können.

In Šinel’ findet sich z. B. der Beamte Akakij Akakievič beim Versuch, sich nach dem Diebstahl an die zuständigen Behörden zu wenden, wobei er auf arrogante, unfähige und nichts tuende Personen trifft. Als er beschließt, sich an den Kommissar zu wenden, sagen die Diener zweimal, dass der Kommissar schlafe. Nachdem er aufgestanden ist, behandelt der Kommissar Akakij sehr schlecht und schickt ihn barsch davon. Als er dann versucht, von der sogenannten bedeutenden Figur empfangen zu werden, lässt diese ihn Stunden warten, da sie mit einer Unterhaltung mit einem alten Freund beschäftigt ist. Ihre Reaktion auf die Worte Akakis ist derart gewalttätig, dass sie dem armen Beamten den Tod bringt (171–173).

Die lustigsten Fälle werden allerdings in Revizor erzählt. In dieser Komödie werden die Laster der russischen činovniki aufgedeckt. Die kleine Stadt der entfernten russischen Provinz, in der diese Komödie spielt, ist laut Chrapčenko (1959: 288) ein wahrer Mikrokosmos, in dem Gogol’ alle Probleme der damaligen russischen Gesellschaft darstellt. Die herrschenden Unsitten sind nicht nur Merkmale der Beamten dieser Stadt und daher eine Ausnahme von der Regel, sondern stellen die Normalität innerhalb der staatlichen russischen Verwaltung dar. Die Wahl, die Komödie in der Provinz spielen zu lassen, geht auf die Tatsache zurück, dass die zaristische Zensur Gogol’ niemals erlaubt hätte, Revizor in der Hauptstadt spielen zu lassen. Dieser Meinung ist auch der Literaturwissenschaftler Ermilov (1952: 194).

Dass die Aufgabe der Komödie genau in der Aufdeckung der Unsitten innerhalb der staatlichen Verwaltung besteht, ist nach den Literaturwissenschaftlern aus dem Titel selbst ersichtlich. Laut Ermilov (1952: 220) übt der maßgebliche revizor Chlestakov, indem er die Korruption und die herrschende Illegalität in dieser Stadt aufdeckt und da diese Stadt die Eigenschaften eines wahren Mikrokosmos hat, auf diese Weise die Funktion des Revisors des gesamten russischen Systems und des zaristischen Regimes aus. Derselben Ansicht ist auch Stepanov (1952: 19), der zudem hinzufügt, dass in dieser Hinsicht das Lachen der

„Während er auf dem Boden liegt, werde ihm in das Tintenfass von Gucci pinkeln. Ich werde ihm in der Mitte des Zimmers auf den Teppich kacken und beim Hinausgehen werde ich sagen: Tschüs Scheißkerl!! Geh und verkaufe deinen Arsch!“ 99

Zuschauer durch die erheiternden Ereignisse der Komödie der Ausdruck des Urteils des Volkes in Bezug auf die Klasse der russischen činovniki wäre.

Ein sehr interessanter Fall des Amtsmissbrauchs ist der des Postbeamten. Er gibt offenherzig zu, die Briefe, die ihm in die Hände fallen, zu lesen. Bezeichnend ist weiter der Dialog zwischen ihm und dem Polizeimeister. Er bittet ihn, einige private Briefe zu öffnen, um nach illegalen Informationen zu suchen, und sie anschließend unverzüglich mit Wachs zu verschließen. Der Postbeamte antwortet:

Почтмейстер. Знаю, знаю... Этому не учите, это я делаю не то чтоб из предосторожности, а больше из любопытства: смерть люблю узнать, что есть нового на свете. Я вам скажу, что это преинтересное чтение. Иное письмо с наслаждением прочтешь – так описываются разные пассажи... а назидательность какая... лучше, чем в «Московских ведомостях»! Городничий. Ну что ж, скажите, нечего не насчитывали о каком- нибудь чиновнике из Петербурга? Почтмейстер. Нет, о петербургском нечего нет, а о костромских и саратовских много говорится. Жаль, однако же, что вы не читаете писем: есть прекрасные места. Вот недавно один поручик пишет к приятелю и описал бал в самом игривом... очень, очень хорошо: «Жизнь моя, милый друг, течет, говорит, в эмпиреях: барышень много, музыка играет, штандарт скачет...» – с большим, с большим чувством описал. Я нарочно оставил его у себя. Хотите, прочту?69 (231–232)

Der Postbeamte liest nicht nur fremde Briefe, sondern erlaubt sich sogar, einige aufzubewahren. Und der Polizeimeister scheint nichts dagegen zu haben. Die Situation ist an den Arbeitsplätzen der führenden Leiter des bürokratischen Apparats allerdings nicht

69 POSTMEISTER. Weiß schon, weiß schon… brauchen mich nicht zu belehren, das tue ich ohnehin, wenn auch nicht grade aus Vorsorglichkeit, mehr aus Neugier: ums Verrecken gern mag ich wissen, was es neues auf der Welt gibt. Ich kann Ihnen sagen, diese Lektüre ist interessanter als alles! Manch einen Brief liest man geradezu mit Entzücken: so prächtig werden darin die verschiedensten Drehs beschrieben… und wie belehrend das ist … Viel, viel besser als etwa der „Moskauer Anzeiger“!

POLIZEIMEISTER. Na, dann erzählen Sie uns doch, ob Sie nichts von einem Beamten aus Petersburg gelesen haben?

POSTMEISTER. Nein, von Petersburger Beamten gab es nichts, dagegen wurde viel erzählt von solchen aus Kostroma und Saratow. Jammerschade, dass Sie die Briefe nicht lesen können. Es stehen zu prächtige Sachen darin. Neulich, da schreibt ein Leutnant seinem Freund und beschrieb dem einen Ball also so pikant … sehr, sehr gut war das: „Mein lieber Freund, mein Leben verläuft hier“, sagte er, „wie im Himmel: es gibt viele junge Damen, die Musik spielt, und die Standarte hüpft nur so …“ Mit großem Gefühl, wirklich mit großem Gefühl war das geschrieben. Den Brief habe ich absichtlich aufgehoben. Wollen Sie, ich les ihn Ihnen vor? (16) 100

besser. Den Richter beispielsweise weist der Polizeimeister aus Angst vor einer Kontrolle durch die Behörden darauf hin, dass man im Gericht keine Gänse züchten oder Gemüse dörren darf und der Referent immer nach Wodka riecht:

ГОРОДНИЧИЙ. Вам тоже посоветовал бы, Аммос Федорович, обратить внимание на присутственные места. У вас там в передней, куда обыкновенно являются просители, старожа завели домашних гусей с маленькими гусенками, которые так и шныряют под ногами. Оно конечно, домашним хозяйством заводиться всякому похвально, и почему ж сторожу и не завесть его? Только, знаете, в таком месте неприлично... Я и прежде хотел вам это заметить, но все как-то позабывал. АММОС ФЕДОРОВИЧ. А вот я их сегoдня же велю всех собрать на кухню. Хотите, приходите обедать. ГОРОДНИЧИЙ. Кроме того, дурно, что у вас высушивается в самом присутствии всякая дрянь и над самым шкапом с бумагами охотничий арапник. Я знаю, вы любите охоту, но все на время лучше его принять, а там, как проедет ревизор, пожалуй, опять его можете повесить. Также заседатель ваш... он, конечно, человек сведущий, но от него такой запах, как будто бы он сейчас вышел из винокуренного завода, – это тоже нехорошо. Я хотел давно это сказать вам, но был, не помню, чем-то развлечен. Есть против этого средства, если уже это действительно, как он говорит, у него природный запах: можно ему посоветовать есть лук, или чеснок, или что-нибудь другое [...]. АММОС ФЕДОРОВИЧ. Нет, этого уже невозможно выгнать: он говорит, что в детстве мамка его ушибла, и с тех пор от него отдает немного водкою.70 (227–228)

70 POLIZEIMEISTER. Auch Ihnen, Ammos Fjodorowitsch, möchte ich raten, Ihre Aufmerksamkeit der Gerichtsbehörde zuzuwenden. Denn in Ihrem Vorzimmer, wo sich die Parteien gewöhnlich einzufinden haben, halten die Gerichtsdiener ihre Hausgänse samt deren jungen Gänslein, die einem nur so unter den Beinen durchflitzen. Es ist natürlich lebenswert, wenn einer sich der Haustierzucht annimmt, und warum sollte ein Gerichtsdiener hiervon ausgenommen sein? Nur, wissen Sie, grade an einem solchen Ort ist es vielleicht unschicklich… das wollte ich Ihnen schon mehrfach sagen, habe es jedoch immer wieder vergessen.

RICHTER. Da werde ich eben noch heute befehlen, alle in meine Küche zu bringen. Wenn Sie wollen, kommen Sie heute zum Essen zu mir.

POLIZEIMEISTER. Es scheint außerdem wenig angebracht, dass im Sitzungszimmer jeder Dreck zum Trocknen aufgehängt wird und dass auf dem Aktenschrank eine Jagdpeitsche liegt. Ich weiß, Sie sind ein Liebhaber der Jagd, doch wäre es vielleicht besser, die Peitsche für einige Zeit fortzutun; wenn der Revisor dann wieder durch ist, können Sie sie von mir aus aufs neue Aufhängen. Auch Ihr Assessor… er ist natürlich ein kluger Mensch, allein es geht ein Geruch von ihm aus, als wenn er gerade aus einer Branntweinbrennerei käme – das ist ebenfalls nicht vorteilhaft. Ich hätte es Ihnen schon lange sagen sollen, doch wurde ich, ich weiß nicht mehr wovon, abgelenkt. Es gibt schließlich 101

In der Komödie Revizor finden sich noch weitere offenkundige Beispiele von činovniki, die nicht wirklich vorbildliche Arbeiter sind. Der Richter z. B. lässt einige Male zu, in den Gebieten der Verdächtigen auf Jagd zu gehen (232), während der Polizist hingegen zu betrunken ist, um arbeiten zu können (239). In Ženit’ba hingegen gibt es den činovnik Jaičnica, der nicht zur Arbeit erschienen ist, um der schönen Agaf’ja den Hof zu machen (345), während Podkolesin, der Protagonist, verdientermaßen angeklagt wird, nichts zu machen, außer rumzuliegen: „как байбак, веcь день на бокy“ (327). Tatsächlich arbeitet er in keiner Szene.

Das Parasitentum ist für Gogol’ die Praxis in der russischen Verwaltung. Es wird von allen akzeptiert und als eine normale Sache betrachtet. Allerdings gibt es eine Figur, die sich dieser Tatsache bewusst ist und offenherzig zugibt, ein Parasit zu sein: Popriščin, der verrückte činovnik, Protagonist in Zapiski sumasšedšego. Er räumt ein, dass seine Arbeit nur darin besteht, die Stifte des Direktors zu spitzen, und er sich, wenn Letzterer schläft, dem Lesen von Zeitungen widmet. Dies erinnert stark an die Erfahrung von Fantozzi, der erzählt, in der megaditta mit der Aufgabe als Schwamm für Briefmarken eingestellt worden zu sein. Auch er ist zudem ein Anhänger des Lesens während des Dienstes.

Hinsichtlich der činovniki der Erzählungen von Villaggio ist die Situation noch absurder. Auch hier führt das vollständige Fehlen von Kontrollen zur Ausbreitung des Parasitentums. Genau wie in den Werken von Gogol’ arbeitet auch in den Erzählungen von Fantozzi niemand wirklich. Es ist nicht genau bekannt, welche wirklichen Aufgaben diese Beamten haben. Obwohl sie am Arbeitsplatz sind, gehen sie völlig anderen Tätigkeiten nach.

Sehr viele Erzählungen zeigen den typischen Tag von Fantozzi oder seiner Kollegen im Büro. Häufig liest er die Sportseite irgendeiner Zeitung, schläft, redet über Fußball oder träumt. In einer Episode aus Fantozzi heißt es beispielsweise:

Fantozzi trascorse in ufficio quindici giorni di sogno. Al pomeriggio appoggiava la testa a una pratica e si addormentava dolcemente col ronzio dei ventilatori e sognava di essere con Onassis e la Callas alle Isole del Sole.71 (88)

Mittel dagegen, auch wenn es sich wirklich, wie er sagt, um einen angeborenen Geruch handelt. Man könnte ihm raten, eine Zwiebel zu essen, oder vielleicht Knoblauch, oder sonst was [...].

POSTMEISTER. Das ist unmöglich wegzukriegen: er sagt, die Amme hätte ihn, als er klein war, fallen lassen, und seit jener Zeit rieche er stets ein wenig nach Wodka. (12) 71 Fantozzi verbrachte fünfzehn Traumtage im Büro. Nachmittags legte er den Kopf auf ein Dokument und schlief sanft mit dem Summen der Ventilatoren ein und träumte davon, mit Onassis und der Callas auf den Sonneninseln zu sein. 102

Ein anderes Mal hingegen zeigt der Buchhalter einen typischen Sommermorgen innerhalb der megaditta:

Erano circa le 11 e faceva un gran caldo, aveva deciso di rimandare il lavoro al pomeriggio e se ne stava lì con una pratica «fantoccio» aperta davanti agli occhi. Stava pensando a quello che poteva fare sua figlia a scuola: la pensò tutta impegnata in un faticoso dettato, con le mani sporche di biro, la testina china sul quaderno e un pezzetto di lingua fuori. Si sentì un po’ intenerito e si buttò all’indietro sbadigliando. Aprì le braccia e si stirò languidamente, finì lo sbadiglio con un mugolio e lo accompagnò con un battito delle braccia [...]. Nella stanza non c’erano i suoi colleghi di lavoro: erano alla toilette a leggere la pagina sportiva, e lui era di guardia. Sporse la testa in corridoio: nessuno.72 (47)

Eine weitere sehr lustige Episode wird in Fantozzi erzählt. Der Protagonist ist abermals der Buchhalter Fantozzi. In diesem Ausschnitt gibt er vor, krank zu sein, um nicht zur Arbeit gehen zu müssen und eine Show des Moskauer Zirkus ansehen zu können.

L’autunno è la stagione più triste per gli impiegati: le grandi vacanze estive sono finite e per godersi un giorno di festa bisogna aspettare fino a i primi di novembre per i Santi, Morti eccetera. Fantozzi la settimana scorsa ha deciso di mettersi in mutua. Si era messo d’accordo col medico, suo vecchio compagno di scuola, e si era fatto lasciare una bella cartolina da «cinque più cinque». Erano dieci bei giorni di riposo a casa, a leggere romanzi gialli, sentire la radio, far colazione a letto. Roba da ricchi, insomma.73 (152)

Wie sich aus der Lektüre dieser Ausschnitte ergibt, scheinen Fantozzi und seine Kollegen eben Parasiten zu sein. Sie mögen ihre Arbeit nicht und tun nichts für die megaditta. Gegenüber ihrem Büro spüren sie einen regelrechten Hass, so sehr, dass sie es häufig als

72 Es war etwa 11.00 Uhr und es war sehr heiß, er hatte beschlossen, die Arbeit auf den Nachmittag zu verschieben und blieb dort mit einem geöffneten gefälschten Formular vor den Augen sitzen. Er dachte an das, was seine Tochter in der Schule tun könnte. Er fühlte sich ein bisschen weichlich und lehnte sich gähnend zurück. Er öffnete die Arme und streckte sich kraftlos, beendete das Gähnen mit einem Winseln und begleitete es mit einem Schlagen der Arme [...]. Seine Arbeitskollegen waren nicht im Zimmer: sie waren auf der Toilette, um die Sportseite zu lesen und er hielt Wache. Er streckte den Kopf auf den Korridor: niemand. 73 Der Herbst ist die traurigste Jahreszeit für Angestellte: der große Sommerurlaub ist vorbei. Um sich einen Feiertag zu gönnen, muss man bis Anfang November warten. Fantozzi hatte in der vergangenen Woche beschlossen, sich krank zu melden. Er hatte sich mit seinem Arzt abgesprochen, seinem alten Schulkameraden, und hatte sich ein schönes Attest ausstellen lassen. Es waren zehn schöne Tage der Erholung zuhause, beim Lesen von Krimis, dem Hören des Radios, Frühstück im Bett. Kurzum, das, was Reiche tun. 103

„Gefängnis”, „Knast” oder sogar „Kloake” bezeichnen, die Kollegen werden schließlich zu „Knastgenossen” oder „lebenslänglichen Zuchthäuslern”.

Im Gefängnis fühlen sich hingegen die megadirettori überhaupt nicht. Ihr privilegierter Zustand, erzielt durch Schwindel, Betrug usw., führt dazu, dass sie die Arbeitswelt aus einer völlig anderen Perspektive sehen. Sie sind wie die Herrscher und Fantozzi bezeichnet sich häufig als Sklaven oder unter Verwendung der Metapher des Gefängnisses als Gefangenen. Auch sie sind allerdings genau wie die kleinen Beamten wahre Parasiten. Keiner von ihnen arbeitet wirklich. Anstatt zu arbeiten, widmen sie sich häufig anderen Tätigkeiten und alles auf Kosten der megaditta, wie in Il secondo tragico libro di Fantozzi in der Szene, in der die Beamten Fantozzi, Fracchia und Calboni den direttor Colombani zum Abendessen im Restaurant erwarten, erzählt wird:

Colombani arrivò a mezzanotte in maglione: «Scusate... non ne posso proprio più di questo maledetto posto di responsabilità!!» disse, ma Fantozzi sapeva che era stato come ogni venerdì sera con due puttane che la società stessa pagava.74 (222)

Auch bei anderen Gelegenheiten werden die megadirettori dabei überrascht, das Geld der megaditta zu verwenden, als wäre es ihr eigenes. Beispielsweise wird in Il secondo tragico libro di Fantozzi der Duca Pier Carlo Conte Ingegner Semenzara beschrieben, als er im Casino von Montecarlo das Geld der Firma verspielt (218).

2.10 Auflehnung

Nicht immer erleiden allerdings die kleinen Beamten die Schikanen der Mächtigen, ohne zu reagieren. Andererseits hat alles seine Grenzen, auch für die am stärksten unterworfenen činovniki. Manchmal lassen diese, durch die Umstände des Bürolebens zur Verzweiflung geführt, plötzlich ihre Wut an denjenigen ab, die sie an den äußersten Punkt gebracht haben. Wie bereits in den vorherigen Kapiteln gezeigt, fallen der Mut oder die Impulsivität nicht unter die Eigenschaften des vorbildlichen činovnik. Er muss, um Karriere machen und sich einen annehmbaren Platz innerhalb der Gesellschaft schaffen zu können, jegliche Art von Schikanen erleiden. Daher ist es offensichtlich, dass die Auflehnung keine sehr häufige Situation ist.

74 Colombani kam um Mitternacht an: „Entschuldigt ... ich habe wirklich genug von dieser Verantwortung!“ sagte er, aber Fantozzi wusste, dass er wie jeden Freitagabend mit zwei Huren zusammen war, die das Unternehmen selbst bezahlte. 104

Sowohl in den Werken von Gogol’ als auch in den Erzählungen von Villaggio finden sich allerdings einige Fälle, in denen diese Situation wirklich eintritt. Der Titel dieses Unterkapitels erklärt bereits, wer die Protagonisten dieser Auflehnung sind: die kleinen Beamten. Keinem der hochrangigen Beamten kommt in den Sinn, sich gegen die Gesellschaft und deren Ordnung aufzulehnen, die sie in eine privilegierte Befehlsstellung innerhalb der Gesellschaft gebracht hat.

In den Werken von Gogol’ sind wenigstens zwei Fälle der Auflehnung zu finden: der Verrückte Popriščin in Zapiski sumasšedšego und das Gespenst von Akakij Akakievč in Šinel'. Diese Figuren sind eindeutig die kleinen činovniki, die die demütigendsten Aufgaben im Büro, in dem sie arbeiten, ausüben: Popriščin spitzt die Bleistifte des Vorgesetzten, Akakij beschränkt sich auf das Kopieren von Unterlagen. Popriščin ist ein niederrangiger Beamte, der Dienst leisten möchte, um großen Idealen zu dienen, die allerdings nicht innerhalb der Wirklichkeit der Petersburger Bürokratie existieren. Der Name Popriščin leitet sich vom Wort poprišče – Arbeitsplatz – ab und drückt die Tatsache aus, dass die fragliche Person eine hohe Meinung vom Staatsdienst und seinen Vorgesetzten hat (vgl. Ruttner 1966: 19). Er muss sich allerdings bald mit der Wirklichkeit der Abteilung auseinandersetzen, die nicht wirklich seine Ideale des ehrlichen Arbeiters widerspiegelt. Popriščin beginnt so im Bewusstsein des Betrugs und der Korruption, die in der russischen Bürokratie regieren, seinen Protest gegen das System, der im Wahnsinn endet. Sehr bedeutend ist eine Szene, in der er sich weigert, zu arbeiten und die Etikette des Bürolebens zu befolgen:

Я для шутки пошел в департамент. Начальник отделения думал, что я ему поклонюсь и стану извиняться, но я посмотрел на него равнодушно, не слишком гневно и не слишком благосклонно, и сел на свое место, как будто никого не замечая. [...] Перед мною положили какие-то бумаги, чтобы я сделал из них экстрат. Но я и пальцем не притронулся. Через несколько минут все засуетилось. Сказал, что директор идет. Многие чиновники побежали наперерыв, чтобы показать себя перед ним. Но я ни с места. Когда он проходил через наше отделение, все застегнули на пуговицы свои фраки; но я совершенно ничего! Что за директор! чтобы я встал перед ним – никогда! Какой он директор? Он пробка, а не директор. Пробка обыкновенная, простая пробка, больше ничего. Вот которую закуривают бутылки. Мне больше всего было забавно, когда подсунули мне бумагу, чтобы я подписал. Они думали, что я напишу на самом кончике листа: столоначальник такой-то. Как бы не так! А я на самом главном месте, где подписывается директор департамента, черкнул: «Фердинанд VIII». Нужно было видеть, какое благоговейное

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молчание воцарилось; но я кивнул только рукою, сказав: «Не нужно никаких знаков подданничества!» в – и вышел.75 (198–199)

Der Protest Popriščins beschränkt sich nicht allein auf den Arbeitsplatz. Er erkennt nicht nur die Sinnlosigkeit seiner Arbeit und des bürokratischen Systems, sondern auch die des Systems der Ränge, das Grundlage der gesellschaftlichen Struktur des russischen Bürgertums ist. In einem sehr signifikanten Ausschnitt beginnt er nach der Lektüre der Korrespondenz zwischen zwei kleinen Hunden, die zwei adligen Frauen gehören und in der Fiktion Gogol’s eine Darstellung in satirischer und betrügerischer Ausführung wären (vgl. Ermilov 1952: 184; Chrapčenko 1959: 226), die Gültigkeit des Systems der Ränge zu bezweifeln:

Что же из того, что он камер-юнкер. Ведь это больше ничего, кроме достоинство; не какая-нибудь вещь видимая, которою бы можно взять в руки. Ведь через то, что камер-юнкер, не прибавится третий глаз на лбу. Ведь у него же нос не из золота сделан, а так же, как и у меня, как у всякого, ведь он им нюхает, а не ест, чихает, а не кашляет. Я несколько раз уже хотел добраться, отчего происходит все эти разности. Отчего я титулярный советник и с какой стати я титулярный советник? Может быть, я – какой- нибудь граф или генерал, а только так кажусь титулярным советником? Может быть, я сам не знаю, кто я таков.76 (195)

75 Zum Spaß begab ich mich ins Departement. Der Abteilungsvorstand dachte wohl, dass ich mich vor ihm zu verbeugen und zu entschuldigen anfangen würde, aber ich betrachtete ihn nur gleichgültig, nicht allzu zornig und nicht allzu gnädig, und setzte mich auf meinen Platz, als ob ich niemanden bemerkte. [...] Man legte mir irgendwelche Schriftstücke vor, um Auszüge aus ihnen zu machen, aber ich rührte sie mit keinem Finger an. Nach einigen Minuten geriet alles in Aufregung. Sie sagten, der Direktor käme. Viele Beamte rannten hin und her, um vor ihm wichtig zu tun. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Als er durch unsere Abteilung kam, knöpften alle ihre Fräcke zu; ich tat nichts dergleichen. Was ist schon ein Direktor, dass ich vor ihm aufstehen sollte – niemals! Was ist er schon für ein Direktor? Er ist ein Stöpsel, aber kein Direktor. Ein gewöhnlicher Stöpsel, ein einfacher Stöpsel, mehr nicht. So einer, mit dem man die Flaschen zustöpselt. Am meisten belustigte es mich, als sie mir ein Papier hinschoben, dass ich es unterschriebe. Sie dachten wahrscheinlich, dass ich an den äußersten Rand des Blattes „Tischvorstand Soundso“ hinschreiben würde. Was nicht gar! Ich setzte aber auf die wichtigste Stelle, wo gewöhnlich der Direktor des Departements unterschreibt: „Ferdinand VIII.“ Da hätte man sehen müssen, was für ein ehrfürchtiges Schweigen herrschte; doch ich machte nur eine Handbewegung und sagte; „Es bedarf keiner Unterwürfigkeitsbezeugungen!“ und ging hinaus. (74– 75) 76 Was hat es schon zu besagen, dass er Kammerjunker ist? Das ist doch nichts anderes als ein Titel, kein sichtbares Ding, welches man in die Hand nehmen könnte. Davon, dass er Kammerjunker ist, wächst ihm doch kein drittes Auge auf der Stirn. Seine Nase ist doch nicht aus Gold gemacht, sondern 106

Dem ersten dieser kleinen Auszüge der Erzählung Gogol’s zu entnehmen ist sofort eine gewisse Ähnlichkeit zum Verhalten eines anderen großen činovnik der Weltliteratur: Bartleby von Melville. Genau wie sein amerikanischer Nachfolger beendet auch Popriščin seine Tage in der Irrenanstalt. Er ist in der Zwischenzeit verrückt geworden und dachte, der König von Spanien zu sein. Nach dem Literaturwissenschaftler Ermilov (1952-186) ist der Wahnsinn des Protagonisten de facto ein Kniff, um die Zensur zu umgehen, die anderenfalls niemals die Veröffentlichung der Erzählung erlaubt hätte. Aus diesem Blickwinkel würde das Verhalten von Popriščin daher nicht auf den Wahnsinn zurückzuführen sein, sondern wäre Ergebnis einer realen Auflehnung gegen das russische bürokratische System. Der Literaturwissenschaftler Chrapčenko (1959: 226) unterstützt hingegen die These, der Wahnsinn des Protagonisten sei nicht einfach eine Methode, um die Zensur zu umgehen, sondern eine rationale Folge der sozialen Ungerechtigkeit im damaligen Russland. Obwohl er hinsichtlich des Ursprungs des Wahnsinns von Popriščin nicht zustimmt, schreiben beide Literaturwissenschaftler sie dennoch derselben Funktion der Anprangerung des gesellschaftlichen Systems zu. Günther (1968: 162) sieht hingegen den Wahnsinn von Popriščin als Teil der Kompositionsgroteske der Erzählung an, der zur satirischen Aufdeckung des negativen Wesens des alltäglichen „Normalen“ beiträgt.

Ein weiterer rebellischer činovnik Gogol’s ist Akakij Akakievič, Protagonist der Erzählung Šinel'. Er arbeitet fleißig. Einmal benötigt er Hilfe: Mit all seinen Ersparnissen gelingt es ihm, sich einen neuen Mantel zu kaufen, der ihm allerdings kurz danach gestohlen wird. Er beschließt daher, sich an die sogenannte bedeutende Figur zu wenden, d. h. an einen hochrangigen činovnik. Dieser allerdings antwortet auf die Bitte um Hilfe mit schlimmen Worten und terrorisiert Akakij, bis dieser schließlich verstirbt. Die Auflehnung des armen Akakij erfolgt schließlich im anderen Leben. Er wird zu einem rachedürstenden Gespenst, das nachts die Petersburger terrorisiert und ihnen die Jacken raubt:

Вдруг почувствовал значительное лицо, что его ухватил кто-то весьма крепко за воротник. Обернувшись, он заметил человека небольшого роста, в старом поношенном вицмундире, и не без ужаса узнал в нем Акакия Акакиевича. Лицо чиновника было бледно, как снег, и глядело совершенным мертвецом. Но ужас значительного лица превзошел все границы, когда он увидел, что рот мертвеца покривился и, пахнувши на него страшно могилою, произнес такие речи: «A! так вот ты наконец! Наконец я тебя, того, поймал за воротник! Твоей-то шинели мне и нужно! genauso wie bei mir und bei allen anderen, denn er riecht doch mit ihr und isst, niest und hustet nicht damit. Ich wollte schon mehrmals den Ursachen nachgehen, denen all diese Unterschiede entspringen. Weshalb bin ich nur Titularrat, und aus welchem Grund soll ich nur Titularrat sein? Vielleicht bin ich irgendein Graf oder General und scheine nur Titularrat zu sein? Vielleicht weiß ich selber nicht, wer ich bin? (71) 107

Не похлопотал об моей, да еще и распек, – отдавай же теперь свою!». Бедное значительное лицо чуть не умер. Как ни был он характерен в канцелярии и вообще перед низшими, и хотя, взглянувши на один мужественный вид его и фигуру, всякий говорил: «У, какой характер!» – но здесь он, подобно весьма многим имеющим богатырскую наружность, почувствовал такой страх, что не без причины даже стал опасаться насчет какого- нибудь болезненного припадка. Он сам даже скинул поскорее с плеч шинель свою и закричал кучеру не своим голосом: «Пошел во весь дух домой!». [...] Это происшествие сделало на него сильное впечатление. Он даже гораздо реже стал говорить подчиненным: «Как вы смеете, понимаете ли, кто перед вами?».77 (177–178)

Mit dem Aussehen eines Gespenstes gelingt es Akakij, sich zu rächen und gleichzeitig zu reagieren, sich dem System zu widersetzen, das den Respekt und den Gehorsam gegenüber zahlreichen arroganten bedeutenden Personen aufzwingt. Auch hier, wie beim Wahnsinn von Popriščin, hilft das fantastische Element dem Schriftsteller, das Unerfüllbare zu realisieren: die Auflehnung des kleinen Beamten (vgl. Ermilov, 1952: 175). Auch für Chrapčenko (1959: 244) ist das fantastische Element innerhalb der Erzählung von grundlegender Bedeutung, da es das einzige Gogol’ zur Verfügung stehende Mittel ist, um die Idee, die die Grundlage von Šinel' ist, zu enthüllen: die Rache des Beamten als extremer Protest gegen das System. Eine andere Meinung vertritt der Literaturwissenschaftler Günther. Er sieht die Fantastik in der Erzählung auch als einzige literarische Möglichkeit für Gogol’, seinem Helden Genugtuung zu verschaffen, da Akakij auf der realistischen Darstellungsebene niemals so aktiv und lebendig sein könnte (vgl. Günther 1968: 184).

77 Plötzlich spürte die bedeutende Persönlichkeit, dass ihn jemand äußerst fest am Kragen packte. Er drehte sich um und bemerkte einen Mann von kleiner Statur in einer alten, abgetragenen Vizeuniform und erkannte in ihm nicht ohne Entsetzen Akakij Akakijewitsch. Das Gesicht des Beamten war weiß wir der Schnee und glich ganz dem eines Toten. Doch das Entsetzen der bedeutenden Persönlichkeit überstieg alle Grenzen, als er bemerkte, dass sich der Mund des Toten verzerrte, einen schrecklichen Grabesgeruch verbreitete und folgende Worte sprach: „Ah! da bist du ja endlich! endlich habe ich dich also sozusagen beim Kragen erwischt! Deinen Mantel brauche auch ich! Du hast dich nicht um meinen Mantel gekümmert und mich dazu noch angebrüllt – so gib denn jetzt deinen her!“ Die arme bedeutende Persönlichkeit wäre beinahe gestorben. So charaktervoll er auch in der Kanzlei und überhaupt vor Untergebenen war, und obwohl jedermann allein schon beim Anblick seiner männlichen Erscheinung und Figur sagte: „Ho! welch ein Charakter!“ – verspürte er hier doch gleich vielen anderen reckenhaften Erscheinungen eine solche Angst, dass er nicht ohne Grund befürchtete, irgendeinen krankhaften Anfall erleiden zu können. Er riss sich selber schleunigst den Mantel von den Schultern und rief dem Kutscher mit ganz fremder Stimme zu: „Los, so schnell wie möglich nach Hause!“ [...] Dieses Ereignis machte einen starken Eindruck auf ihn. Er begann sogar viel seltener seinen Untergebenen zu sagen: „Wie können Sie es wagen? Begreifen Sie, wer vor Ihnen steht?“ (157–158) 108

Auch in den Werken von Villaggio lehnen sich die kleinen Beamten manchmal auf. Der arme Fantozzi, der kleine Beamte par excellence, schafft es nicht immer, der Arroganz und der hyperbolischen Schlechtigkeit seiner Vorgesetzten standzuhalten. Wie bereits in den vorherigen Kapiteln, in denen die bedeutendsten Fälle an Grausamkeit, Schlechtigkeit und Gewalt in der Welt der italienischen činovniki untersucht wurden, zu sehen war, müssen diese jede Art von Schikane erleiden.

Fantozzi wird später von den Vorgesetzten immer häufiger ins Visier genommen. Aber alles hat eine Grenze. Manchmal reagiert er wie z. B. in einer Episode aus Fantozzi. In dieser Erzählung werden Fantozzi und Filini eingeladen, eine angenehme Kreuzfahrt an Bord des Schiffes des Conte Serbelloni zu machen. Kaum an Bord werden die beiden gezwungen, im Maschinenraum und als Schiffsjungen zu arbeiten. Die Kreuzfahrt verwandelt sich so in eine wahre Hölle. Am Ende der Erzählung allerding wirft Fantozzi nachts Serbelloni über Bord. Dieser wird dann von einem argentinischen Schiff gerettet (94–99).

Sehr erheiternd ist auch die Episode, die in einer Episode aus Fantozzi contro tutti enthalten ist. Dieses Mal werden alle Beamten der megaditta vom neuen megadirettore, einem großen Radsportliebhaber, gezwungen, an einem Radrennen des Unternehmens teilzunehmen. Denjenigen, die es nicht schaffen, das Rennen abzuschließen, werden schreckliche Bestrafungen in Aussicht gestellt. Der Direktor wählt eine besonders schwierige Route aus. Am schicksalhaften Tag des Rennens schaffen es viele Beamte aufgrund der bizarrsten Abenteuer nicht, das Rennen zu beenden. Fantozzi reagiert, nachdem er ein paar Runden gedreht hat und nunmehr müde, nahe der Erschöpfung und voller Wut wegen der erlittenen Torturen ist, unwirsch auf die x-te Provokation des megadirettore Còbram:

Nella terza salita del Colle del Diavolo lui cominciò a perdere sangue dalla bocca poi in discesa perse come i sensi, attraversò il pavè urlando delle bestemmie curiosissime e si presentò sotto le tribune. In quel momento c’era molta animazione: l’altoparlante con lo speaker della corsa che rimbombava, musica, applausi, incitazioni. Ma quando apparve lui in fondo al rettilineo il brusio scemò lentamente, l’altoparlante diminuì il ritmo della radiocronaca fino a un silenzio totale. Lui avanzava pianissimo, era una maschera di sangue, parlava da solo e ogni tanto sghignazzava. In tribuna erano tutti immobili, muti, si sentiva solo il frullio lento della sua Cinelli nuova. Quando fu sotto la tribuna, Còbram si alzò e in quel grande vuoto disse: «Fantozzi, lei è uno stronzo!». Lui inchiodò la bicicletta sotto il traguardo, scese lentamente lasciandola per terra, salì zoppicando le scalette della tribuna, in un silenzio irreale si presentò di fronte a Còbram e urlò: «Viva l’Inter e il gioco del calcio che è lo sport più bello del mondo!» e gli sputò fra gli occhi.

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Prese sua moglie sottobraccio e sua figlia per mano, diede un calcio alla bicicletta e vestito da ciclista si diresse verso l’ufficio di collocamento.78 (404–405)

In diesen beiden Fällen wird die Auflehnung durch die Verzweiflung, die durch die Grausamkeit der Schikanen der Vorgesetzten provoziert wurde, eingeführt. Die Auflehnung im Fall des ersten Ausschnittes besteht in einer hinterhältigen Rache, während sie sich in der zweiten Episode in einer instinktiven Reaktion gegenüber dem x-ten Gewaltakt manifestiert. In einem anderen Fall allerdings erinnert die Auflehnung Fantozzis stark an die von Popriščin. Er schafft es wie der Protagonist von Zapiski sumasšedšego, sich seiner realen Situation der Ausnutzung innerhalb eines bürokratischen Apparats bewusst zu werden (vgl. Buratto 2003: 19). Es handelt sich um die Episode innerhalb des Buches Il secondo tragico libro di Fantozzi. Hier wird der reaktionäre und äußerst konservatorische Fantozzi aus unbekannten Gründen in ein anderes Büro versetzt, wo er Folagra, den kommunistischen Beamten kennenlernt. Folagra beginnt Fantozzi seine politischen Gedanken zu erklären, ihm Bücher, Aufsätze und Zeitungen zum Lesen zu bringen und mit ihm über ihren Zustand als italienische činovniki der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu diskutieren. Das, was mit dem sanften Fantozzi geschieht, ist erstaunlich:

Dopo tre mesi di letture «maledette» e di comizi, Fantozzi vide la verità e si incazzò come una belva. Anzi lui era molto più inferocito di Folagra: erano vent’anni che lo prendevano per il culo. Gli avevano fatto credere che lui era lì solo perché «loro» erano buoni, che si poteva considerare fortunato e che doveva tenere un contegno rispettoso con i superiori e mostrare fedeltà e riconoscenza. I colleghi anziani [...] nel sentirlo parlare credevano che gli avesse dato di volta il cervello e Filini molto timidamente un giorno gli disse che così rischiava di perdere il posto. Ma ormai sapeva che Filini parlava solo per paura. Ecco cosa aveva avuto per trent’anni! Paura, una fottuta paura che lo potessero punire, retrocedere, forse umiliare

78 Beim dritten Aufstieg des Teufelsberges begann Fantozzi aus dem Mund zu bluten. Dann überquerte er fluchend die Zielgerade und präsentierte sich unter der Tribüne. In diesem Moment gab es viel Animation: der Lautsprecher mit dem Speaker, Musik, Applaus, Anregungen. Aber als er im Hintergrund an der Zielgeraden erschien, nahm das Stimmengewirr langsam ab bis eine völlige Stille herrschte. Er fuhr langsam vorwärts, er war voller Blut, sprach mit sich selbst und ab und zu grinste er. Auf der Tribüne hielten alle still. Als er unter der Tribüne ankam, erhob sich Còbram und sagte: „Fantozzi, Sie sind ein Arschloch!“ Er stoppte das Fahrrad unter der Ziellinie und stieg die Treppen der Tribüne hoch. In einer unwirklichen Stille trat er Còbram gegenüber und schrie: „Es lebe Inter und der Fußball ist der schönste Sport der Welt!“ und spuckte ihm zwischen die Augen. Er nahm seine Frau und seine Tochter an die Hand versetzte dem Fahrrad einen Tritt und ging in Richtung Arbeitsamt. 110

pubblicamente. E così per vent’anni aveva subito il ricatto «se non stai buono ti facciamo fuori!».79 (197–198)

Zum ersten Mal wird sich Fantozzi seines tatsächlichen Zustands der Ausnutzung durch die führende Klasse bewusst. Er bemerkt, dass alles, was sie ihm über den Zustand innerhalb der Arbeitswelt glauben gemacht haben, falsch ist. Nun schaut er sich selbst über die Perspektive des Autors an: Ihre Meinungen sind nicht mehr widersprüchlich. Zuerst erzählt Villaggio von einem Fantozzi als ahnungsloses Opfer eines Systems, dessen Werte er auf seine Weise teilt. Nun hingegen denken Autor und Figur auf dieselbe Weise. Fantozzi ist es dank Studium und Dialog gelungen, seinen realen Zustand zu begreifen und die Angst zu besiegen, die seiner Meinung nach der wahre Grund der Nachsicht der Beamten gegenüber der leitenden ausbeutenden Klasse ist.

Das allerdings ist erst der Beginn der Auflehnung des neuen Fantozzi. Nunmehr hat die Angst gesiegt. Die Wut, die er ausbrütete, war riesig, er musste sich auf irgendeine Weise rächen. Die richtige Gelegenheit zeigt sich während einer Veranstaltung während eines Gewerkschaftsstreiks. Fantozzi überlegt, nachdem er eine schöne Rede an das Publikum gehalten hat, gefolgt von „einer Gruppe Maoisten“, wohin er sich wenden könne, um eine konkretere Form des Protestes umzusetzen.

Die Auflehnung von Fantozzi dauert allerdings nicht lange. Nachdem er den Stein geworfen hat, wird er sofort vom megadirettore galattico persönlich gerufen, mit dem er ein klärendes Gespräch führt, das ihn wieder zur Ordnung ruft. Nach dem Verweis des Direktors vergisst Fantozzi alles Gelernte und kehrt in den alten Zustand als ausgenutzter und fügsamer Beamter zurück. Die Auflehnung Fantozzis ist daher nur eine vorübergehende Leidenschaft. Sehr viel radikaler ist hingegen die Auflehnung von Popriščin, der es, nachdem ihm sein eigener Zustand bewusst wurde, nicht mehr schafft, derselbe činovnik von einst zu sein. Auch in diesem Fall liefert Fantozzi einen weiteren Beweis seines Wesens als feiger, ängstlicher und unterwürfiger Mann.

79 Nach drei Monaten Lesungen und Kundgebungen erkannte Fantozzi die Wahrheit und wurde wütend wie ein Untier. Er war viel wütender als Folagra: seit zwanzig Jahren veraschten sie ihn. Sie hatten ihn glauben lassen, dass er nur dort war, weil sie nett waren, dass er sich als glücklich betrachten könne und dass er seine Vorgesetzten respektieren und Treue und Dankbarkeit zeigen müsse. Die älteren Kollegen [...] glaubten, dass er verrückt geworden sei und Filini sagte ihm eines Tages ängstlich, dass er so riskieren würde, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Aber er wusste nunmehr, dass Filini nur aus Angst sprach. Das ist es, was er dreißig Jahre hatte! Angst, eine verdammte Angst, dass sie ihn bestrafen könnten, öffentlich demütigen. Und so hatte er zwanzig Jahre lang die Erpressung „entweder hältst du still oder wir entlassen dich!“ erlitten. 111

3 Schlussfolgerungen

Wie in der Einleitung bereits erklärt, besteht dieser Teil der vorliegenden Masterarbeit in der Feststellung, ob das ethisch-moralische Wertesystem der činovniki von Gogol’ Analogien mit dem der Beamten der Erzählungen von Villaggio aufweist. Dies geschieht unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass die Untersuchung auf der Basis einer Interpretation unter satirischem Gesichtspunkt erfolgt und daher die Negativität der sogenannten gemeinsamen ethisch-moralischen Werte der fraglichen literarischen Figuren impliziert. An zweiter Stelle wurde versucht, festzustellen, ob diese gemeinsamen ethisch-moralischen Werte auf eine Sozialkritik zurückzuführen sind, die auf einer ähnlichen Ansicht der Probleme der russischen Gesellschaft zu Zeiten Gogol’s und der italienischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jh. aufbaut. Im Allgemeinen wurde untersucht, ob die Darstellung der ethisch- moralischen Werte der Figuren Gogol’s und Villaggios zur Feststellung gemeinsamer Probleme in den Gesellschaften, in denen die beiden Autoren gelebt haben, führt. Zur gleichen Zeit wurde zudem überprüft, ob die Interpretation unter satirischem Gesichtspunkt wirklich sachbezogen ist.

Bevor die eigentliche Analyse durchgeführt werden konnte, mussten vor allem die Methode und der theoretische Teil als Grundlage dieser Masterarbeit besser definiert werden. Es wurde bei der Forschung nach einem literarischen Interpretationsschlüssel, der sowohl für Gogol’ als auch für Villaggio gilt, begonnen und dann zur Aufzählung der bedeutendsten Studien über diese Autoren übergegangen. Dieser Interpretationsschlüssel wurde anschließend in der Satire identifiziert: eine literarische Gattung, als deren Vertreter beide Autoren definiert werden konnten. Die Angemessenheit der Satire wurde auch im Laufe der gesamten Untersuchung bestätigt. Dies geschah auf der Basis von Beiträgen der Literaturwissenschaftler, die die Werke der beiden Autoren unter rein satirischem Gesichtspunkt interpretieren. Anschließend war es erforderlich, einen Teil der Methodik der Vertiefung der satirischen Gattung ausgehend von einem allgemeineren Diskurs über das Komische zu widmen. Angesichts der Tatsache, dass die Satire von Gogol’ und Villaggio häufig einen grotesken Charakter hat, wurde auch das Groteske mit besonderem Augenmerk auf die Beziehung zur Satire behandelt. Der abschließende Teil der Methodik umfasst hingegen den theoretischen Teil und die Methodologie in Bezug auf die praktische Analyse der literarischen Figuren. In diesem Unterkapitel wird durch Vorschlag verschiedener Modelle und Auffassungen erklärt, was eine literarische Figur ist, wie man sie analysiert bzw. interpretiert und charakterisiert. Hinsichtlich des Wesens der literarischen Figuren bezieht sich diese Masterarbeit auf die Theorie von Chatman, der die Figur als einen Zusammenhang aus Symbolen (oder psychologischen Merkmalen), die im Text vorhanden sind, definiert. 112

Diese Symbole werden weiter durch einen hermeneutischen Vorgang abgeleitet. In Bezug auf die Analysemethode des Wesens der literarischen Figuren und ihrer ethisch-moralischen Eigenschaften wurde beschlossen, unter Verwendung des Modells von Hansen fortzufahren. Dieses Modell bietet eine Analyse, die auf drei Ebenen basiert: Oberflächenstruktur (in der die Daten in Bezug auf die Eigenschaften der literarischen Figuren des Textes gesammelt werden), die Struktur der Mitte (in der die in der Oberflächenstruktur gesammelten Daten ausgearbeitet werden und die Individualisierung dieser Eigenschaften erreicht wird) und Tiefstruktur (in der die möglichen Nachrichten, die im Text versteckt sind, wie Ideologie oder andere Themen, die den gesammelten Daten entnommen werden, analysiert werden).

Im Hauptteil der Masterarbeit wird dann die Untersuchung der ethisch-moralischen Eigenschaften der literarischen Figuren durchgeführt. Die Analyse beginnt mit der Definition der Axiologie der činovniki Gogol’s, identifiziert durch das Wertesystem der pošlost’. Es existieren zahlreiche Abschnitte, die über die pošlost’ sprechen und sie als ein extrem komplexes Gefühl beschreiben, das schwer zu definieren und zu übersetzen ist. Bei der Untersuchung der verschiedenen Facetten der pošlost’ wird jedoch deutlich, dass es sich nicht nur um eine ethisch-moralische Eigenschaft handelt, sondern um ein wahres System von Werten, die für die russische Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jh. typisch waren.

Die pošlost’ zeigt sich allgemein in Form einer negativen ethisch-moralischen Eigenschaft. Die am häufigsten gefundenen Eigenschaften in den činovniki Gogol’s sind: Ignoranz, Vulgarität, Selbstgefälligkeit, Konformismus, Scheinheiligkeit, Gewalt, Korruption und Parasitentum. In dieser Masterarbeit wurde versucht, festzulegen, ob diese Eigenschaften auch den Figuren der Erzählung von Villaggio eigen sind. Die Untersuchung hat die Vermutung bestätigt, dass diese Eigenschaften nicht nur den činovniki Gogol’s, sondern auch den Beamten von Villaggio anhaften. Die megadirettori sind aufgrund der Eigenschaften den hochrangigen činovniki sehr ähnlich wie die kleinen Beamten den malen’kie ljudi. Während es zwischen den beiden Erstgenannten fast gar keinen bedeutenden Unterschied in den ethisch-moralischen Eigenschaften gibt, wurden hingegen bei den Zweitgenannten einige Verschiedenheiten gefunden. Die malen’kie ljudi und die kleinen Beamten besetzen die letzten Plätze in der Hierarchie des Unternehmens und leben in einem armseligen Zustand. Erstere scheinen außerhalb des Wertesystems der pošlost’ zu stehen: Die oben aufgelisteten ethisch-moralischen Eigenschaften reflektieren sich nicht in ihrem Verhalten, es sei denn in einigen Randabschnitten. Hinsichtlich der kleinen italienischen Beamten hingegen scheint die pošlost’ vollständig ihr Wertesystem durchdrungen zu haben.

Im Unterschied zu den činovniki Gogol’s machen sich die kleinen Beamten von Villaggio die Werte ihrer Vorgesetzten zu eigen, indem sie versuchen, sie zu imitieren und sich in sie zu 113

verwandeln. Fantozzi möchte ein megadirettore sein und ist zu allem bereit, um dies zu werden. Aufgrund seiner körperlichen Unfähigkeit, des Geldmangels und der intellektuellen Mangelhaftigkeit kann Fantozzi kein megadirettore werden. Er eignet sich aber die Werte der pošlost’ an, um die damaligen besitzenden Klassen zu imitieren und sich einzubilden, dass auch er ein Mann von Erfolg sei. Im Unterschied zu den russischen Kollegen sind die kleinen italienischen Beamten schlimmer und moralisch korrupter. Die malen’kie ljudi Gogol’s bewahren eine Aura der Unschuld und scheinen gute Menschen, Opfer der Gesellschaft und der höherrangigen činovniki zu sein. Auch Fantozzi ist ein Opfer, aber er ist überhaupt nicht gut; er ist einfach ein verhinderter Böser, dem es aufgrund seiner Unfähigkeit und sicher nicht wegen seiner moralischen Integrität oder seiner Unschuld nicht gelingt, auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben zu klettern. Während Gogol’ die malen’kie ljudi als einfache Personen und fern von der Bosheit und der Korruption der herrschenden Klasse darstellt, sind die kleinen Beamten von Villaggio Komplizen der megadirettori, auch wenn sie ihnen unterstehen. So wie Popriščin wird sich auch Fantozzi der Absurdität seines Zustandes bewusst, aber mit Ausnahme einiger sporadischer Episoden vorübergehender Auflehnung versucht er nie, seinen eigenen Zustand durch eine ernste Stellungnahme zu verbessern. Popriščin reagiert, nachdem ihm sein Zustand bewusst wurde, indem er zu arbeiten aufhört und wahnsinnig wird. Fantozzi hingegen ist nie so mutig. Er sucht kontinuierlich neue Modi, um sich den aktuellen Moden anzupassen und den megadirettori zumindest in den Sitten und Bräuchen ähnlich zu sein. Die Botschaft, die Villaggio vermitteln möchte, liegt darin, dass die kleinen italienischen Beamten, abgesehen davon, dass sie ausgenutzt werden und so kläglich wie ihre russischen Kollegen in den der Erzählungen von Gogol’ sind, auch moralisch korrupt sind. Gogol’ zeichnet – nach der Interpretation unter satirischem Gesichtspunkt seines Werks – die malen’kie ljudi als einfache Personen fern von den Werte der pošlost’. Die kleinen Beamten von Villaggio teilen gänzlich die für die führende Klasse typischen Werte, obwohl sie daraus keine privilegierte gesellschaftliche Stellung ziehen können. Ihr Zustand ist ein schrecklicher Widerspruch, dessen sie sich überhaupt nicht bewusst sind. Diese Diskrepanz zwischen dem, wie die kleinen Beamten von Villaggio erscheinen möchten, indem sie versuchen, die Details der Mode zu imitieren oder sich der pošlost’ der megadirettori anzupassen, und dem, was sie in Wirklichkeit sind, erzeugt das Lachen des Lesers. Ihre Versuche, reich auszusehen, provozieren daher Mitleid beim Leser.

Hinsichtlich der Untersuchung aus dem Blickwinkel, der von Hansen als „Tiefstruktur” definiert wird, hat diese Masterarbeit erneut zahlreiche Ähnlichkeiten und einige Unterschiede hervorgehoben. Wie im Teil über die Methodik erklärt, war das Ziel der Untersuchung, zu konstatieren, ob die Darstellung der ethisch-moralischen Werte der Figuren von Gogol’ und von Villaggio zur Feststellung der gemeinsamen gesellschaftlichen Probleme in den Gesellschaften, in denen die Autoren gelebt haben, führte. Ausgehend von 114

dem einfachen Umstand der Tatsache, dass die Autoren in zeitlich ziemlich weit voneinander entfernt liegenden Epochen, die politisch und gesellschaftlich sehr verschieden waren, gelebt haben, könnte angenommen werden, dass diese gemeinsamen gesellschaftlichen Probleme nicht zahlreich sind. Das zaristische Russland der ersten Hälfte des 19. Jh. war kulturell und gesellschaftlich im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern dieser Zeit rückständig. Diese Gesellschaft dann mit der italienischen der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu vergleichen, scheint auf den ersten Blick gewagt. Die Verwendung der Texte von Autoren, die wie Chrapčenko, Ermilov und Stepanov Mitglieder der sogenannten marxistischen Kritik sind, könnte zudem für einen Vergleich mit dem Italien der zweiten Hälfte des 20. Jh. unangemessen erscheinen. Das von Villaggio beschriebene Italien ist eine demokratische Gesellschaft und steht ganz im wirtschaftlichen Boom. Falls auf einer Seite diese Vermutungen an die Unmöglichkeit eines Vergleichs zwischen den beiden Gesellschaften denken lassen, müssen auch die anderen Stimmen berücksichtigt werden, die die italienische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jh. aus einem anderen Blickwinkel zeigen. Beispielsweise ausgehend vom Werk von Pasolini kann die Situation auf völlig andere Weise gelesen werden. Pasolini zeigt in Scritti Corsari dem Leser die Risse in einer Gesellschaft, in der der wirtschaftliche Boom nicht mit einer kulturellen Entwicklung einhergeht, und dies spiegelt sich im Wesen der Personen und in der Qualität ihrer ethisch- moralischen Werte wider. Pasolini wird weiter häufig in der Arbeit von Buratto zitiert, der in dieser Masterarbeit einen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Figuren von Villaggio bildet.

Im Laufe der Untersuchung der ethisch-moralischen Eigenschaften der Figuren von Gogol’ und von Villaggio ist eindeutig hervorgegangen, dass diese das Vorhandensein von starken Ähnlichkeiten hinsichtlich der Probleme der beiden von den Autoren beschriebenen Gesellschaften betonen. Die Beiträge seitens der sowjetischen marxistischen Kritik und von Buratto haben nicht nur zur Anerkennung dieser Besonderheit geführt: Ihre Zugehörigkeit und die Schlagkraft ihres Vergleichs haben auch zur Feststellung der Tatsache geführt, dass die Untersuchung aus satirischem Blickwinkel der beiden Autoren wirklich möglich ist. Das Problem, das am stärksten aus dem Vergleich zwischen den von den Autoren beschriebenen Gesellschaften hervortritt, ist die Korruption. Sowohl bei den Beamten und den von Villaggio beschriebenen megadirettori als auch bei den činovniki von Gogol’ ist die Korruption eine allgemeine Praxis am Arbeitsplatz. Dies zeigt sich in Form von Bestechungsgeldern, Geschenken, Gefallen und Privilegien. Unter den Folgen der Korruption findet sich in beiden Gesellschaften ein grundlegend fehlerhaftes Funktionieren des Wirtschafts- und Staatsapparats, die Ernennung von wenig qualifizierten oder gänzlich unaufrichtigen Personen für bedeutende Stellen sowie ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber den 115

Institutionen seitens der Bevölkerung. Die Korruption zeigt sich allerdings auch in Form der moralischen Korruption. In beiden untersuchten Gesellschaften präsentiert der größte Teil der angetroffenen Personen moralisch verwerfliche Eigenschaften. Unter diesen sind vor allem die Gewalt, die Anbiederung, die Vulgarität, die Selbstgefälligkeit, die Scheinheiligkeit, die Ignoranz und der Konformismus zu nennen. Ein weiteres gemeinsames Problem scheint die soziale Ungerechtigkeit zu sein, die auf der einen Seite die Armen oder die kleinen Beamten und die malen’kie ljudi sieht und auf der anderen Seite die Reichen oder die megadirettori und die großen činovniki. Während unter den Figuren Gogol’s der Unterschied offensichtlich ist, da die malen’kie ljudi unter Bedingungen extremer Armut am Rand des Stadtlebens leben, ist dieser bei den Figuren von Villaggio geringer, da diese Konsumgüter wie die Reichen besitzen, wenn auch in der Billigversion. Bei der genauen Untersuchung der Situation ist allerdings die Tatsache offensichtlich, dass die kleinen Beamten von Villaggio unter denselben ungerechten Bedingungen wie ihre russischen Vorfahren leben.

Abschließend ist festzuhalten, dass die Untersuchung der Figuren bei Gogol’ und Villaggio unter satirischem Blickwinkel möglich ist und wirklich zu der Feststellung sowohl eines gemeinsamen Wertesystems der Figuren als auch von gemeinsamen Problemen innerhalb der russischen Gesellschaft des 19. Jh. und der italienischen des 20. Jh. führt. Einige der unzähligen aufgefundenen Ähnlichkeiten zwischen dem Werk Gogol’s und dem Villaggios, wenn auch von geringerem literarischen Wert, werden so durch diese Masterarbeit bestätigt. Für zukünftige Untersuchungen wäre es interessant, diese Ähnlichkeit zwischen den Gesellschaften, in denen die beiden Autoren gelebt haben, zu vertiefen und über die literarische Fiktion hinauszugehen.

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4. Резюме

Цель данной дипломной работы — установить, имеет ли система морально-этических ценностей гоголевских чиновников какое-либо сходство с системой ценностей служащих в рассказах П. Вилладжо. Наш анализ основывается на интерпретации сатирических произведений обоих авторов и подразумевает, что выше названные ценности анализируемых литературных персонажей являются отрицательными. Определялось также, какое отношение упомянутая система ценностей имеет к критике социальных устоев, проявляющейся в схожем изображении проблем русского общества времен Гоголя и итальянского общества второй половины XX века. Была предпринята попытка установить, приведет ли определение этических и моральных ценностей персонажей Гоголя и персонажей Вилладжо к выявлению социальных проблем, присущих обоим обществам, в которых жили указанные авторы. Ставилась задача выяснить, применимо ли сопоставление сатиры произведений того и другого автора для целей настоящей дипломной работы. Проанализированные произведения Гоголя – Шинель, Записки сумасшедшего, Женитьба, Мертвые души, Нос, Ревизор, Невский проспект. Произведения Вилладжо – Fantozzi, Il secondo tragico libro di Fantozzi, Fantozzi contro tutti.

Вначале было необходимо определить методологию и теоретическую часть, которые лягут в основу работы. На основе изучения наиболее важных исследований, существующих в отношении Гоголя и Вилладжо, был выбран метод литературного анализа, пригодный для произведений обоих авторов. В дальнейшем этот анализ велся с позиций сатиры — литературного жанра, в котором ярко проявили себя оба автора. Целесообразность этого подхода была подтверждена далее при использовании материалов критиков, рассмотревших именно этот пласт произведений обоих авторов. Возникла необходимость формализовать понятие жанра сатиры на основе более общих положений, касающихся проявлений комизма в искусстве. Учитывая, что зачастую сатира Гоголя и Вилладжо имеет характер гротеска, было решено рассмотреть и этот литературный жанр, особое внимание уделяя его взаимосвязи с сатирой. Заключительная часть методики включала в себя теоретическую часть и способы практического анализа литературных персонажей. С помощью различных моделей и концепций было сформировано понятие литературного персонажа, его отличительных свойств, а также способы его рассмотрения и анализа. Для отличительных свойств использовалась теория Чатмана, который определяет их как совокупность символов (или психологических черт), присутствующих в тексте. В качестве способа анализа литературных персонажей и их 117

этических и моральных качеств было принято решение использовать подход, предложенный Хансеном. Указанная модель предполагает анализ на трех уровнях: «поверхностная структура» — данные, относящиеся к характеристикам литературных персонажей в тексте; «срединная структура» — обработка собранных на предыдущем уровне данных для выявления указанных выше характеристик; «глубинный слой» — анализ скрытых смыслов, имеющих отношение к идеологии.

В основной части дипломной работы был проведен полный анализ этических и моральных качеств литературных персонажей. Он начинался с определения основных черт гоголевского чиновничества, которые рассматривались в свете такого понятия как «пошлость». Изначально предполагалось, что пошлость является всего лишь одной из характеристик персонажей Гоголя. Однако на основе анализа разных сторон ее проявления было сделано заключение, что речь идет не столько об этической и моральной характеристике отдельных персонажей сколько о совокупности свойств определенных классов русского общества первой половины XIX века.

Пошлость обычно проявляется в виде отрицательных этических и моральных свойств. Такие свойства чаще всего обнаруживаются у гоголевских чиновников — невежество, вульгарность, конформизм, ханжество, жестокость, продажность, паразитизм и бунт. В настоящей дипломной работе была сделана попытка установить, присущи ли указанные свойства персонажам из рассказов Вилладжо. Наш анализ подтвердил гипотезу о том, что указанные характеристики присущи не только чиновничеству в произведениях Гоголя, но и служащим из произведений Вилладжо. Мегадиректора очень похожи на высшее чиновничество, а мелкие служащие имеют сходство с маленькими людьми. В то время как между этическими и моральными характеристиками представителей первых двух категорий практически не существует значимых различий, между представителями последних двух групп были обнаружены существенные различия. Маленькие люди и мелкие служащие занимают самую низкую ступень в корпоративной иерархии и терпят лишения. Тем не менее маленькие люди располагаются как бы вне затронутой пошлостью системы ценностей: вышеперечисленные черты не проявляются в их поведении или проявляются незначительно. Но при рассмотрении итальянских мелких служащих создается впечатление, что пошлость полностью пропитала всю систему их ценностей.

В отличие от гоголевских чиновников мелкие служащие рассказов Вилладжо перенимают ценности и стараются подражать своему начальству. Фантоцци хочет стать мегадиректором и, чтобы добиться этого, готов на что угодно. Но по причине своих скромных физических данных, недостатка денежных средств и интеллектуальной ограниченности Фантоцци им стать не может. Тем не менее он 118

принял опошленные установки, чтобы имитировать имущие классы описываемого времени и фантазировать о себе, как об успешном человеке. В отличии от своих русских коллег итальянские мелкие служащие потеряли моральные устои. Маленькие люди Гоголя сохраняют простодушие и предстают хорошими людьми, которые являются жертвами общества и вышестоящих чиновников. Фантоцци тоже является жертвой, но он отнюдь не такого рода. Он просто не состоявшийся дурной человек, который не способен продвинуться по социальной лестнице по причине своей бездарности, а никак не в силу избытка моральных качеств или простодушия. В то время как Гоголь описывает маленьких людей как бесхитростных и не склонных к коварству, которым не присуще моральное разложение власть имущих, мелкие служащие Вилладжо являются соучастниками мегадиректоров несмотря на свое невысокое положение. Подобно Поприщину Фантоцци отдает себе отчет во всей абсурдности своего положения. За исключением нескольких редких эпизодов Фантоцци не стремится улучшить свою жизнь, заняв принципиальную позицию. Осознав свое положение, Поприщин решает бросить работу, чтобы погрузиться в свое безумие. Фантоцци же не столь отважен. Он постоянно ищет новые способы, чтобы соответствовать последним веяниям времени и походить на мегадиректоров, пусть лишь в привычках и нравах. Виллаждо стремится донести до нас мысль, что итальянские мелкие служащие, будучи, как и их русские коллеги в рассказах Гоголя, в жалком положении, все равно имеют разрушенные моральные устои. Гоголь (как показывает анализ сатиры в его произведениях) описывает маленьких людей как простых, находящихся вне охваченной пошлостью системы ценностей. Мелкие служащие Вилладжо полностью разделяют устои высшего начальства, несмотря на то, что не могут похвастаться социальными привилегиями. По сути их положение является абсурдным, о чем они совершенно не догадываются. Свойственное мелким служащим Вилладжо противоречие между стремлением произвести впечатление, имитируя модную пошлость мегадиректоров, и своим действительным положением создает гротескный эффект (сочетание трагичности и комичности), вызывая смех у читателя.

На уровне, определяемом Хансеном как «глубинная структура», нами выявлены как многочисленные общие черты, так и некоторые отличия. Как уже было сказано, задачей анализа было постараться установить, описывают ли этические и моральные качества персонажей Гоголя и Вилладжо социальные проблемы, одинаковые для обществ обоих авторов. Можно предположить, что в разные столетия, в условиях разного политического и социального строя сходных общественных проблем будет не много. Царская Россия первой половины XIX века в культурном и социальном плане во многом отставала от других европейских стран той эпохи – и сравнение с итальянским обществом второй половины XX века может показаться довольно 119

рискованным. Использование для анализа гоголевских персонажей текстов представителей так называемой «марксисткой критики», таких как Храпченко, Ермилов и Степанов, может выглядеть еще более неуместным. Ведь описываемая Вилладжо Италия — это демократическое общество, которое переживает экономический бум. И хотя с одной стороны кажется невозможным их сравнивать, с другой стороны, если брать за основу произведения Пазолини, ситуация видится в другой плоскости. В «Записках корсара» автор показывает читателю «трещины» общества, переживающего экономический бум, если он не сопровождается культурным развитием, что отражается на характере людей и их морально-этических ценностей. Пазолини часто упоминается в трудах Буратто, который стал отправной точкой при анализе персонажей Вилладжо.

В ходе анализа качеств литературных героев Гоголя и Вилладжо удалось выявить многочисленные схожие проблемы. Анализ трудов многих выдающихся критиков (Храпченко, Ермилова, Степанова, Гюнтера, Фрейтага, Набокова и др.) показал, что сопоставление сатирического содержания произведений обоих авторов действительно возможно. Оба описываемых общества страдают от коррупции. Как среди мегадиректоров Вилладжо, так и среди чиновничества Гоголя – это злоупотребление рабочим положением, проявляющееся в форме взяток, подарков, услуг и привилегий. К последствиям коррупции можно причислить существенные сбои в работе государственного аппарата и экономической системы: назначение на важные посты неквалифицированных и нечестных людей, повсеместное распространение недоверия населения к социальным институтам как в одном, так и в другом обществе. И там, и там — потеря человеческих качеств. У обоих авторов большая часть персонажей наделена отрицательными качествами, среди которых нами выявлены жестокость, подобострастие, вульгарность, тщеславие, ханжество, невежество и конформизм. Общей проблемой является социальная несправедливость, при которой на одном конце располагаются бедные или мелкие служащие и «маленькие люди», а на другом — богатые или мегадиректора и крупное чиновничество. Стоит отметить, что различие между самими гоголевскими персонажами очевидно — маленькие люди живут в условиях крайней бедности на периферии городской жизни; разрыв между персонажами Вилладжо не столь явный — многие мелкие служащие имеют доступ к многочисленным товарам повседневного потребления, пусть и в более дешевом исполнении. Но после внимательного анализа ситуации становится очевидным, что мелкие служащие Вилладжо живут в той же ситуации социальной несправедливости, что и их русские предшественники.

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Нами сделано заключение, что сравнительный анализ сатиры в изображении гоголевских персонажей и персонажей из рассказов Вилладжо возможен и позволяет утверждать, что существует схожая система ценностей, свойственная персонажам обоих авторов, а также общие проблемы русского общества XIX и итальянского общества XX века. Некоторые из многочисленных соответствий, которые были найдены в произведениях Гоголя и Вилладжо, приводятся в настоящей дипломной работе. В дальнейшем перспективным представляется более глубокое изучение общих черт этих двух овществ, выходящее за пределы литературного анализа.

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