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SWR2 Wissen Anarchisten am Rio de la Plata Von Karl-Ludolf Hübener

Sendung: Montag, 14. Juli 2015, 8.30 Uhr Erstsendung: Freitag, 3. Januar 2014 Redaktion: Detlef Clas Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2014

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Musik: Take M 1: Hijos der Pueblo

Zitator: „.... herrlich, unser rotes Banner, dem Leiden muss ein Ende bereitet werden, die Ausbeutung muss verschwinden. Erhebe dich, ehrliches Volk, mit dem Schrei nach sozialer .“

Erzähler: Zeilen aus „Söhne des Volkes“, die Hymne der Anarchisten am Rio de la Plata.

Atmo: Take A 1: Kommentar, Musik

Zitator: (Fragment aus Film: Das rebellische Patagonien) „Buenos Aires. 1. Mai 1904. Sie kommen näher, die Kolonnen von Anarchisten. Mit ihren roten und schwarzen Fahnen. Standarten mit den Namen der Gewerkschaften: Bäcker, Marmorschleifer, Fuhrmänner, Tischler, Maler ...“

Ansage: Anarchisten am Rio de la Plata Von Karl-Ludolf Hübener

Take 1: Bayer Salieron, increíble, setenta mil obreros … no era día feriado como es ahora.

Übersetzer: 70.000 Arbeiter waren auf den Beinen, und das bei einer Gesamtbevölkerung von gerade mal 900.000 Einwohnern. 70.000! Und das, obwohl die Kundgebung von der Polizei verboten war, der 1. Mai ein Arbeitstag wie jeder andere war und nicht wie heute ein freier Tag.

Erzähler: … berichtet , ein bekannter argentinischer Historiker, Dokumentarfilmer und Erzähler zahlreicher Werke über die Geschichte des Anarchismus und der Arbeiterbewegung am Rio de la Plata.

Take 2: Bayer Ningún otro movimiento tiene … todo se resolvió en asambleas.

Übersetzer: Keine andere Bewegung kann mit einer Erinnerung an einen derartigen Idealismus aufwarten – Erinnerung an Menschen, die sich aufopferten, die ihr Leben opferten, Menschen, die ein tief sitzendes demokratisches Verständnis hatten: Alles wurde in Versammlungen entschieden.

Erzähler: In der kleinen Wohnung im Stadtteil Belgrano in Buenos Aires reichen die Regale voller Bücher bis unter die Zimmerdecke. Darunter zahlreiche Schriften zum Anarchismus. Auf dem Fußboden stapeln sich Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren. Auf einem Tisch ein Durcheinander von Artikeln. Osvaldo Bayer fischt zielsicher eine CD hervor, eine Eigenproduktion mit anarchistischen Liedern, erklärt er mir stolz.

2 Musik: Take M 2: Milonga de un payador libertario, langsam einblenden)

Zitator: „... wir sind die Anarchisten, die ihr Mörder nennt, die dem Arbeiter beibrachten, die Freiheit zu suchen.“

[Erzähler: Anarchisten wecken auch heute noch Sympathien. Das war mir schon früher auf der anderen Seite des Rio de la Plata in Montevideo aufgefallen. So in einem Gespräch mit Julio Marenales, einem ehemaligen Tupamaro-Guerillero:

Take 3: Marenales No tanto por las expropiaciones … principios muy solidos.

Übersetzer: Nicht so sehr wegen der Enteignungen, sondern wegen ihrer politischen Ansichten. Wir erkennen im Anarchismus sehr solide ethische Prinzipien wieder.]

Erzähler: Neugierig geworden vertiefte ich mich in die Geschichte dieser oft mit Terrorismus gleichgesetzten Bewegung. Ein Rückblick.

Atmo: Take A2: Gesang: Venimos

Zitator: „... Wir kommen aus dem Europa des Hungers und der Kriege, Zurückgeblieben ist unser Haus, unsere Erde. Wir bringen Heimweh mit, aber auch Fröhlichkeit ... Wir sind nach Argentinien gekommen, um zu arbeiten. Wir wollen arbeiten ...“

Erzähler: „Hacerse la America“ – „sein Glück in Amerika suchen“, davon träumten viele verarmte Europäer, die im 19. Jahrhundert den Atlantik überquerten. Wegen latenten Mangels an Arbeitskräften warb Argentinien um Einwanderer, vor allem aus Südeuropa. Es lockte gleichzeitig mit fruchtbaren Ländereien. Doch die Hoffnung auf ein Stück Land erfüllte sich nur in wenigen Fällen. Dieses war bereits in den Händen reicher Großgrundbesitzer, Herren über riesige Viehherden und Getreidefelder. Stattdessen mussten sich viele Immigranten als Landarbeiter, schlecht bezahlte Handwerker, Tagelöhner in den Pökelhäusern der Fleischexporteure, den Lagerhäusern und an den Docks der Hauptstadt durchschlagen. 1896 zählte man 124.000 Arbeiter in der aufstrebenden Metropole Buenos Aires. Davon waren 93.000 Ausländer! Zwischen 1870 und 1910 überquerten vor allem Italiener und Spanier den Atlantik.

Take 4: Bayer Y con ellos llegó la ideologia ... era el anarquismo.

Übersetzer: Mit ihnen kamen auch die politischen Ideen dieser Arbeiter hierher, die vorherrschenden Ideologien in diesen beiden Ländern. In der spanischen wie der italienischen Arbeiterbewegung war das der Anarchismus.

Erzähler: Bald sangen sie auch am Rio de la Plata die Hymne der Anarchisten, „Söhne des Volkes“.

3 Musik: Take M 1: Hijos del Pueblo

Zitator: Söhne des Volkes, dich fesseln Ketten, diese Ungerechtigkeit kann nicht so weitergehen, wenn dein Leben eine Welt der Pein ist ist es vorzuziehen zu sterben, bevor man Sklave wird.

Erzähler: 1857 hatten die Drucker die erste Gewerkschaft gegründet. In den folgenden Jahrzehnten entstanden in Industrie und Dienstleistungen Dutzende sogenannter „Widerstandsgesellschaften“. Gewerkschaftlich organisiert waren anfangs vor allem handwerklich vorgebildete Arbeiter. 1905 wurde der gewerkschaftliche Dachverband FORA, die „Regionale Argentinische Föderation“, gegründet. Sie war bis Anfang der 1930er-Jahre die bestimmende gewerkschaftliche Kraft. Mitglieder waren sowohl Marxisten als auch Sozialdemokraten, aber die Mehrheit stellten die Anarchisten. Sie nannten sich Anarchosyndikalisten. Ihre Prinzipien: Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Sie setzten sich deshalb für autonome Gewerkschaften ein, unabhängig von Staat und politischen Parteien. Sie waren stets bemüht, die Lebensbedingungen der Menschen konkret zu verbessern. Mit Streiks demonstrierten sie ihre Stärke, wie auch im Doku-Fiktionsfilm „Das rebellische Patagonien“. Drehbuchautor ist Osvaldo Bayer.

Atmo: Take A 3: Filmfragment: A la huelga

Zitator: Auf zum Streik! (Beifall). Solidarität! Es lebe die Anarchie!

Erzähler: 1906 gab es allein in Buenos Aires 39 Streiks. Fast 140.000 Arbeiter beteiligten sich daran. Für die damalige Zeit eine riesige Menge Doch die Arbeitskonflikte wurden selten friedlich beigelegt. So endete der Generalstreik in den Vasena-Stahlwerken 1919 in einem Blutbad: Angehörige der Polizei und des Heeres töteten 600 Arbeiter. Als „Tragische Woche“ ist das Massaker in die Geschichtsbücher eingegangen. [Nicht zum letzten Mal spielte das Militär, die Waffe konservativer Kräfte und Regierungen, eine unheilvolle Rolle wenn es darum ging, gewerkschaftliche und politische Opposition in Argentinien zu unterdrücken.

Take 5: Bayer En el año 1909 del primero de mayo ... usaban la bandera roja.

Übersetzer: Am 1. Mai 1909 gab es eine riesige Kundgebung der Anarchisten. 100.000 hatten sich auf dem Platz des Kongresses versammelt. Wieder hieß die Antwort Repression. Den Befehl gab ein Heeresoberst mit dem Namen Ramón Falcón. Er befahl den Füsilieren, das Feuer auf die Kundgebung der Arbeiter zu eröffnen. Danach ließ er berittene Polizei mit gezogenen Säbeln auf die Arbeiter los. Die brutale Repression forderte 22 tote Arbeiter und Hunderte von Verletzten. – Später würde eine konservative Zeitung den Polizeichef fragen: ‚Aber Herr Oberst Falcón, warum haben Sie eigentlich die Repression angeordnet, wenn es doch gar keine Unruhen gab?’ Die Antwort des Obersten Falcón: ‚Weil die Arbeiter statt der argentinischen Fahne auf der Kundgebung die rote Fahne vor sich her trugen.’

Musik: Take M 3: Maldita Burguesía

Zitatorin: „Möge bald Anarchie herrschen,

4 möge bald die Freiheit anbrechen. Wenn dieser Tag kommt, wird das Leben voller Glückseligkeit sein. Und wenn dieser Tag anbricht, wird das Leben Glückseligkeit bringen.“

Erzähler: Lieder, wie dieses aus der Sammlung Osvaldo Bayers, erklangen auch in den zahlreichen Cafés der damaligen Zeit.]

Atmo: Take A 4: Café-Atmosphäre

Erzähler: Ende des 19. Jahrhunderts war in Buenos Aires die Avenida de Mayo eingeweiht worden – eine Prachtallee nach Pariser Vorbild. Musiker, Maler und Dichter eroberten die Avenida, die bald mehr als dreißig Kaffeehäuser zählte. Auch Anarchisten trafen sich dort, vor allem in ihrem Stammcafé, dem „Café Colon“. Der spanische Möbeltischler Gregorio Inglán Lafarga, Gründer des Anarchistenorgans „La Protesta“, eine von über 60 anarchistischen Zeitungen und Zeitschriften, gehörte zu den Stammgästen. [Selbst Besitzer und Kellner des „Colon“ sympathisierten mit den Anarchisten und servierten bis zum Tagesanbruch, wenn sich die Debatten hinzogen.]

Atmo: Take A 4: Café-Atmosphäre

Erzähler: Die Aufhebung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen war das Ziel aller Anarchisten. Für die Verfechter des anarchistischen oder „libertären“ Denkens war eine alternative Gesellschaft weder mit Hierarchie, Autorität, noch mit Gesetzen vereinbar. Das hieß für Anarchisten Abschaffung des Staates und jeglicher Form von Regierung.

Zitator: „Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sein werden wie ich.“

Erzähler: … schrieb der russische Revolutionär und Anarchist Michael Bakunin, der das freie Individuum durchaus als soziales Wesen verstand. Das Zusammenleben der Menschen sollte sich in freier Übereinkunft in kollektiven Gemeinwesen organisieren und sich auf Selbstverwaltung gründen. Ohne staatliche Zwangsjacke. In seiner Schrift „Die revolutionäre Frage“ wies er darauf hin, dass Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit bedeutet und Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität ist. Die Produktionsmittel sollten all denen gehören, die damit arbeiten. „Eigentum ist Diebstahl“ urteilte Pierre Proudhon, einer der einflussreichsten libertären Denker. Der 1865 verstorbene französische Ökonom und Soziologe gilt als einer der ersten Vertreter des Anarchismus. Proudhon zielte mit seinem berühmten Satz auf Eigentum, das ohne Arbeit angehäuft worden war. Quelle des Bösen und Mittel zur Unterjochung waren deshalb für ihn das arbeitslose Eigentum, wie beispielsweise Zins, Dividende und Handelsgewinn. Deshalb forderten Anarchisten in Liedern wie der „Milonga anarquista“:

Musik: Take M 4: Milonga anarquista

Zitator: „Nieder mit den Wucherern, Tod den Spekulanten allen Kapitalisten ...“

5 Erzähler: Über den Weg zu Freiheit, Gleichheit und einer anarchistischen Gesellschaft waren sich die libertären Genossen aber keineswegs einig. Die einen beharrten auf dem gewaltlosen Weg – mit friedlichen Demonstrationen und Streiks, durch Aufklärung und Bildung. Starken Rückhalt hatten diese unter den anarchistischen Gewerkschaftern. Andere wiederum waren Fürsprecher von direkten Aktionen, von Sabotage, Blockaden und Fabrikbesetzungen. [Oder sie warben für die „Propaganda durch die Tat“.

Zitator: „Manche Tat macht in einigen Tagen mehr Propaganda als Tausende von Broschüren“

Erzähler: … war der russische Anarchist überzeugt. Und Bakunin schrieb mit seinem „Katechismus der Revolution“ ein Manifest der Gewalt.]

Musik: Take M 1: Hijos der Pueblo

Zitator: „… Diese so egoistischen Bourgeoisen, die die Menschheit verachten, werden von den Anarchisten weggefegt mit dem lauten Schrei nach Freiheit ...“

Erzähler: Darauf bereiteten sich die Anarchisten am Rio de la Plata aber nicht nur mit Attentaten, Streiks und Demonstrationen vor, sondern auch mit dem Aufbau einer Gegenkultur. Erziehung und Bildung spielten dabei eine wichtige Rolle. So sollte die Übermacht des Wissens in den herrschenden Eliten gebrochen werden. Alternative Schulen, Studienzirkel und Kulturzentren mit Bibliotheken wurden eingerichtet

Take 6: Bayer Entonces se construyó un salón grande … teatro de temas obreros.

Übersetzer: Es wurde ein großer Saal für Versammlungen gebaut, außerdem ein Raum für die Bibliothek hergerichtet. Die Bibliothek war für die Anarchisten eine geheiligte Angelegenheit. Außerdem richteten sie einen Raum für sogenannte philodramatische Ensembles ein: Die Anarchisten veranstalteten am Samstagabend Theateraufführungen. Mit Themen aus der Arbeitswelt.

Atmo: Take A 5: Theater, schon vorher einblenden

Take 7: Fabbri Era un sindicalismo nuevo … en el sindicato de panaderos.

Übersetzerin: Es war eine andere neuartige Gewerkschaftsbewegung. Da organisierte sie einen Streik und gleichzeitig eine Kampagne gegen den Alkoholismus. Alle Gewerkschaften hatten ihre Bibliotheken. Außerdem wurden Kurse durchgeführt. 1929 habe ich beispielsweise meinen ersten Kurs in Spanisch absolviert, organisiert von Arbeitern der Gewerkschaft der Bäcker.

Erzähler: … berichtet die im Jahr 2000 verstorbene Anarchistin Luce Fabbri aus Montevideo. Auch auf der anderen Seite des Rio de la Plata, in Uruguay, hatte sich anarchistische Gegenkultur ausgebreitet.

6 Take 8: Cores El anarquismo libra esos … en favor de la ciencia.

Übersetzer: Der Anarchismus entfaltete in jenen Jahren einen sehr intensiven Kampf gegen religiösen Dogmatismus, gegen religiöse Unterweisung und zugunsten wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Erzähler: … so Hugo Cores, ein bekannter, verstorbener uruguayischer Historiker und Politiker.

[Take 9: Cores Junto al anarcosindicalismo … se perdió todo.

Übersetzer: Neben dem Anarchosyndikalismus, der stärksten Strömung in Uruguay, gab es noch den intellektuellen Anarchismus. Dieser verbreitete seine Ideen über eine Zeitung mit dem Titel „Der Wille“. Intellektuelle Anarchisten unterstützten zudem eine Bibliothek, die BAIA, die Internationale Bibliothek der Anarchisten, eine wunderbare Bibliothek, eine der besten auf der Welt. Dort lagen sogar nordamerikanische, italienische, spanische Zeitungen, Blätter aus dem Osten Europas, rumänische und bulgarische Publikationen, aus. Und natürlich brasilianische, argentinische und chilenische Blätter. Es gab komplette Sammlungen von anarchistischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. Aber die Militärdiktatur späterer Jahre beschlagnahmte die Bibliothek. Sie ging schließlich verloren.“]

Musik: Take M 2: Milonga Social del Payador Libertario, instrumentelle Einleitung

Erzähler: Auf dem Lande ritt der sogenannte „linyero“ durch die Dörfer der Pampa. Er war nach Gaucho-Art gekleidet: mit langen Haaren, Poncho, Bart und der Gitarre unter dem Arm. Er brachte den Landarbeitern Lesen und Schreiben, aber auch Grundkenntnisse in Anarchismus bei.

Atmo: Take A 6: stürmischer Wind, verblenden Atmo: Take A 7: Schotterpiste

Erzähler: Der Wind bläst heftig. Mein Wagen quält sich über Schotter- und Sandpisten durch die Weiten des argentinischen Patagoniens. Plötzlich, am Rande der Kordilleren, taucht vor mir eine Ansammlung von Häusern auf. Rio Turbio, ein Städtchen, in dem Kohle gefördert wird. In einem Holzbau ist das Büro der lokalen Gewerkschaft untergebracht.

Take 10: Stimme Jorge Bresto El unico problema es la angustia … yo diria retroceso.

Erzähler: Durch die Privatisierung des Unternehmens sei vieles in Gefahr, berichtet ein älterer Arbeiter. Auch die Schule, wenn es erst einmal zu Entlassungen komme und die Menschen wegzögen. Erziehung und Kultur seien aber nun mal wichtig. Als ich ihn zu einem Gespräch in eine Kneipe einlade, winkt er freundlich ab. Das sei für ihn Zeitverschwendung: Er wolle noch einige Artikel lesen. Er sei doch Anarchist. Ganz im Sinne eines Bakunin: Demnach sollte jeder die Möglichkeit haben, durch Bildung seine Fähigkeiten zu entwickeln. Dabei klopft der Arbeiter auf eine prall mit Papieren und Büchern gefüllte Tasche. Er lebt in einer Gegend, in der es in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem fürchterlichen Blutbad unter Landarbeitern gekommen war, von Osvaldo Bayer in

7 seinem Buch „Das rebellische Patagonien“ dokumentiert, später sogar verfilmt. 1921 und 1922 kam es in Patagonien zu zahlreichen Streiks unter den Landarbeitern. Tonangebend waren Anarchosyndikalisten.

Atmo: Take A 8: Filmfragment, Versammlung

Erzähler: Die patagonischen Kapitalisten beuten Menschen mehr aus als Esel und Pferd, ereifert sich der Redner: Wir sind hier Arbeiter aus allen Teilen der Welt ... vereint durch Solidarität. Eine Versammlung der „Arbeitergesellschaft von Rio Gallegos“. Schauerleute, Köche, Kellner, Hotelangestellte und Landarbeiter. Rio Gallegos war Provinzhauptstadt und Exporthafen für die Estancias, die Viehfarmen in den patagonischen Weiten.

Atmo: Take A 6: stürmischer Wind, verblenden Atmo: Take A 9: Schafe

Erzähler: Nachdem das argentinische Heer im 19. Jahrhundert die Indianer in Patagonien ausgerottet hatte, vergab der argentinische Staat das Land an Großgrundbesitzer, vor allem an eingewanderte Engländer. Ihre Ländereien waren bald so groß wie Fürstentümer. Fast 1,4 Millionen Hektar hatte allein die Familie Menendez-Braun ergattert. Auf den Strauch- und Grassteppen Patagoniens verdienten die Herren über prachtvolle Landsitze und Villen ihr Geld mit Schafzucht und Export von Wolle.

Atmo: Take A 9: Schafe

Erzähler: Zusammengepfercht in Verschlägen schliefen dagegen die wie Leibeigene lebenden Landarbeiter. Unter dem Dach großer Schuppen inmitten von Wollpressen, Schleifmaschinen und anderem Gerät. Ihren Lohn erhielten die „peones“ in Form von Gutscheinen, die sie meist nur in den Geschäften des Patrons zu Wucherpreisen in Lebensmittel, Kleidung und Alkohol einlösen konnten. Dagegen lehnten sich immer mehr „peones“ auf.

Atmo: Take A 10: Filmfragment, Vertrag

Erzähler: Auf der Versammlung in Rio Gallegos verlas der Redner schließlich eine Proklamation: Wir streiken für den ersten Vertrag mit den Landarbeitern. Damit diese aufhören, wie Tiere zu leben! [Die armen „peones“ verlangten nicht nur ordentliche Betten, sondern angemessene Waschgelegenheiten.

Take 11: Bayer Los peones de las estancias inglesas … cosa que no permitieron los ingleses.

Übersetzer: Die Gebrauchsanweisungen der Medikamente in der Verbandsstelle sollten in spanischer statt in englischer Sprache verfasst sein. Das forderten die Arbeiter auf den englischen Estancias. Sie baten zudem um ein Paket Kerzen pro Monat, denn sie hatten keinen elektrischen Strom. In Patagonien bricht die Dunkelheit im Winter um 4 Uhr nachmittags herein, es wird erst um 10 Uhr morgens hell. Die Nacht ist also viel länger als der Tag. Deshalb baten sie um ein Paket Kerzen. Auch sollten nicht nur ledige Arbeiter angeheuert werden, wie es auf den englischen Estancias üblich war. Auch verheirateten Arbeitern sollte erlaubt sein, mit ihren Frauen zu leben. Das hatten die Engländer verboten.]

8 Erzähler: Der Streik weitete sich aus. Landarbeiter besetzten Estancias. Darunter auch die „ Estancia La Anita“, nur wenige Kilometer vom heutigen Touristenmagneten und Gletscher „Perito Moreno“ entfernt. Mit 74.000 Hektar war sie eine der größten Estancias im südlichen Südamerika. Hier wollten Anarchosyndikalisten einen Traum verwirklichen: eine Kooperative ohne Besitzer und Direktor, eine Art kleiner anarchistischer Republik. Die Schafbarone ließen daraufhin ihren Draht nach Buenos Aires spielen. Präsident Hipolito Irigoyen, der seit 1916 regierte, hatte sich zunächst liberal und aufgeschlossen gegenüber sozialen Forderungen gezeigt. Doch unter dem Druck der mächtigen Lobby der Schafzüchter kehrte er zu den traditionellen Methoden der Oligarchie zurück: Das hieß Repression. Eine Strafexpedition der Heereskavallerie unter dem Kommando des Oberstleutnants Hector Varela wurde nach Patagonien geschickt. In einem Anarchistenlied wird das Geschehen aufgegriffen.

Musik: Take M 5: El Heroe

Zitator: „... Und sie kamen dort an, wo viele Proletarier ihre ganze Kraft auf den Streik gerichtet hatten, die einzige potente Waffe, die sie haben, um ihr ärmliches Brot zu verteidigen.

Atmo: Take A 11: Filmfragment, Befehle, Schüsse

Erzähler: Legt an! Feuer! Ein Soldat, der zum Erschießungskommando gehörte, berichtete später:

Zitator: „Wir stellten die Arbeiter Seite an Seite vor einer Grube auf. Einige fielen hinein, andere blieben am Rand liegen oder hingen halb in der Grube. Wir haben sie nicht einmal begraben“

Erzähler: Schauplatz des Massenmords war die „Estancia La Anita“. [Vorher hatten die Patrones brauchbare Landarbeiter selektiert; die anderen mussten ihr eigenes Grab schaufeln.] Osvaldo Bayer zieht eine Bilanz der dreimonatigen Strafexpedition:

Take 12: Bayer Va a ser una matanza … muy poco que pedían.

Übersetzer: Ein wahres Massaker wurde angerichtet. 1.500 Arbeiter wurden erschossen! Die Massengräber dieser Arbeiter, in der Provinz Santa Cruz, im südlichen Patagonien, sind noch immer zu sehen. Und dabei hatten die armen Opfer eines offiziellen Terrorismus doch nur wenig gefordert.

[Atmo: Take A 12: Gesang: „He’s a jolly good fellow”

Erzähler: … sangen die reichen Estancieros auf einem Festbankett der „Argentinischen Patriotischen Liga“ zu Ehren von Oberstleutnant Varela, dem Kommandeur der Strafexpedition. Darauf wussten gewaltbereite Anarchisten eine Antwort, wie Osvaldo Bayer mir mit einem Lied vorführt:

Musik: Take M 2: Milonga … Übergang / Musik einbinden in Text

9 Zitator: „… wenn wir unterdrückt werden, schlagen wir auf die Tyrannen ein …“

Take 13: Bayer Era un anarquista alemán … matar de seis balazos.

Übersetzer: Es war ein deutscher Anarchist, Kurt Gustav Wilckens, der Generalleutnant Varela vor der Kaserne auflauerte. Der General hielt sich dort normalerweise auf. Wilckens warf eine Bombe, auch Symbol der Volkswut genannt, und tötete den General anschließend mit sechs Schüssen.

Erzähler: Wilckens, der gelernte Gärtner aus der Nähe von , war zunächst in die USA ausgewandert. Als Arbeiter in einer Fabrik für Fischkonservativen kam er mit Anarchisten in Kontakt. Des Landes verwiesen, kam er 1920 über Deutschland ins ferne Argentinien. Er arbeitete dort als Korrespondent für zwei anarchistische deutsche Zeitungen, für den „Alarm“ und „Der Syndikalist“. Er machte auch Bekanntschaft mit der erbärmlichen Lage der „peones“. Wilckens wurde später im Gefängnis erschossen, nachdem er „proletarische Justiz“ an dem „Schlächter von Patagonien“ verübt hatte.

Take 14: Bayer La bomba para los anarquistas … cuando siente una injusticia.

Übersetzer: Die Bombe war für Anarchisten Ausdruck von Volkszorn. Sie explodierte, wie das Volk explodierte, wenn es eine Ungerechtigkeit verspürte.]

Erzähler: Die Frage der Gewalt oder Propaganda der Tat entzweite schließlich die anarchistische Bewegung am Rio de la Plata. Osvaldo Bayer:

Take 15: Bayer Pero claro, unos estaban apurados … y no el uso de armas de fuego.

Übersetzer: Die einen hatten es sehr eilig. Sie glaubten, dass der einzige Weg die Gewalt sei. Andere – und das war die größere Gruppe – waren davon überzeugt, dass die Arbeiterbewegung nur mit Pazifismus, überzeugenden Ideen und Schriften ans Ziel gelangen würde. Auf die Straße zu gehen war für sie Methode, um die Gesellschaft zu verändern. Aber ohne dabei von der Waffe Gebrauch zu machen.

Erzähler: In den 20er-Jahren spaltete sich der argentinische Anarchismus – in eine mehrheitlich gewaltfreie Bewegung und in eine Minderheit von sogenannten „anarchistischen Enteignern“.

[Take 16: Bayer Una linea que señalaba ... tambén para preparar la revolución anarquista.

Übersetzer: Für sie galt: Der Anarchist muss sein Leben als Arbeiter und Intellektueller hinter sich lassen und sich ausschließlich dem Kampf widmen. Gruppen müssten sich organisieren, um Enteignungen vorzunehmen. Und das hieß Überfälle in erster Linie auf Banken und ausländische Unternehmen, um so die erforderlichen Gelder für anarchistische Publikationen, Bücher und Bibliotheken zu besorgen, aber auch um die anarchistische

10 Revolution vorzubereiten.]

Erzähler: Als Beispiel für einen anarchistischen Enteigner zitiert Osvaldo Bayer Miguel Angel Roscigno, einen Schmied italienischer Abstammung. [Er galt in Buenos Aires, wie Bayer in seinem Buch „Der anarchistische Enteigner und andere Essays“ schreibt, als „As der Enteigner“, weil er immer wieder seinen uniformierten Verfolgern entwischte.] Um der Verhaftung zu entgehen, mussten er und seine Enteigner-Genossen zeitweise auf die andere Seite des Rio de la Plata, nach Montevideo, ausweichen. Dort brachte er das provinzielle und friedliche Klima des Montevideo der 30er-Jahre durcheinander. [Dort hatte der Anarchosyndikalismus zwar längst Fuß gefasst, aber auf gewalttätige Aktionen von argentinischen Enteignern war die uruguayische Gesellschaft nicht vorbereitet. So auch nicht auf einen Überfall, dessen intellektueller Drahtzieher Roscigno war.]

Atmo: Take A 13: Acratas, 1928, Dokumentarfilm

Erzähler: 25. Oktober 1928, Unabhängigkeitsplatz in Montevideo. [Ein normaler und ruhiger Frühlingstag.] Um 14.30 Uhr hält ein Taxi vor dem Hotel Barcelona. Der Fahrer bleibt hinter dem Steuer sitzen und drei Männer steigen aus: Es sind drei Katalanen. Sie gehen bis zur Wechselstube „Messina“. Mit dem Ruf „Hände hoch!“ stürmt die Gruppe die Wechselstube. Der Besitzer leistet Widerstand. Das kostet ihn das Leben. Unter Schüssen verlassen die Angreifer schließlich die Wechselstube. [Die Ausbeute ist gering. Sie erreichen schließlich das Taxi, der Fahrer erschrickt. Ein Schuss streckt ihn nieder.] Die Gruppe entkommt, wird aber später gefasst und im Punta Carretas-Gefängnis eingekerkert. Nicht so Roscigno, der drei Jahre später eine spektakuläre Flucht der gefangenen anarchistischen Enteigner organisiert.

Atmo: Take A 14: Acratas, 1931, Dokumentarfilm

Erzähler: 1931 wird die uruguayische Hauptstadt erneut aus ihrer Ruhe gerissen. Die Nachricht erregt noch mehr Aufsehen als der Überfall auf die Wechselstube: Sieben Anarchisten sind durch einen Tunnel aus dem Gefängnis Punta Carretas geflohen. Darunter auch die drei Katalanen. Von einer Kohlenhandlung aus, dem Gefängnis gegenüber gelegen, war ein Tunnel bis zur Haftanstalt gegraben worden. In der Kohlenhandlung entdeckte ein Polizeiinspektor später eine Mauerinschrift:

Zitator: „Wir sind Anarchisten. Wir zeigen das durch Taten und nicht nur mit Worten.“

[Erzähler: Ganz im Sinne der anarchistischen „Propaganda der Tat“

Take 17: Marenales Quien fue un compañero .... una misma cosa: la libertad.

Übersetzer: Auch wir hatten unseren Genossen, der im Tunnel ein Abschiedsschild hinterließ: „Hier kreuzen sich zwei Generationen, zwei Ideologien und ein und dasselbe Ziel: Die Freiheit“.]

Erzähler: Freiheit von Herrschaft von Menschen über Menschen, ob vom Staat oder Unternehmern ausgeübt. [Julio Marenales war einer der 106 gefangenen Tupamaros, denen am 6. September 1971 eine spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis von Punta Carretas gelang.

11 Auch sie gruben einen Tunnel und stießen dabei auf den unterirdischen Fluchtweg der Anarchisten.] Die legendäre Stadtguerilla der „Tupamaros“ kämpfte in den 1960er-Jahren und Anfang der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts für eine gerechtere Gesellschaft in Uruguay. [Die soziale und wirtschaftliche Situation hatte sich zu dieser Zeit erheblich verschlechtert. Die Tupamaros fingen anfangs Lieferwagen von Lebensmittelgrossisten ab und verteilten den Inhalt in den Armenvierteln Montevideos. Sie stahlen in Banken Unterlagen über illegale Geschäfte und legten sie Richtern vor die Tür. Sie weckten damit in der Bevölkerung Sympathien.] Als sie den bewaffneten Kampf aufnehmen, schwanden die Sympathien. Der Guerilla-Krieg endete in Niederlagen, Kerker, Folter und Militärdiktatur. Einige ehemalige Tupamaros hegen auch heute noch Sympathien für anarchistische Ideale, distanzieren sich jedoch von Taten gewaltbereiter Enteigner:

Take 18: Pepe Mujica Sino hay que aprender … el país precisa.

Übersetzer: Es gilt Dinge anzupacken, die wir noch nicht beherrschen: Die Arbeiter müssen lernen, ihr eigener Chef zu sein, das heißt eine Fabrik zu leiten. Damit sie nicht weiter von den Entscheidungen der Chefetage abhängen. Das hat dieses Land bitter nötig.

Erzähler: Eine Rede von José Mujica, auch Pepe genannt, vor Arbeitern der FUNSA-Reifenfabrik in Montevideo. Mujica ist seit 2010 Präsident Uruguays. Er war führendes Mitglied der Tupamaros. 13 Jahre saß er während der Militärdiktatur im Gefängnis. Er wurde gefoltert und mehrere Jahre in einem Erdloch isoliert. Noch immer möchte er die Gesellschaft verändern und sozialer machen – nunmehr mit dem Stimmzettel statt mit Waffen. Ein Schritt in diese Richtung sind für ihn von Arbeitern selbst verwaltete Unternehmen, wie die Reifenfabrik „FUNSA“.

Atmo: Take A 15: Maschinenlärm

[Erzähler: Auf der Ziegelwand der FUNSA-Fabrikhallen prangt auf einem großen rot gestrichenen Schild der Name der Kooperative: „Leon Duarte“. Leon Duarte war 1956 Gründungsmitglied der noch heute existierenden „Anarchistischen Föderation Uruguays“, FAU. Von der Militärdiktatur, die ab 1973 Uruguay tyrannisierte, wurde sie besonders brutal verfolgt. Geheimagenten spürten Leon Duarte in seinem Versteck in Buenos Aires auf und ließen ihn spurlos verschwinden, wie so viele politisch Andersdenkende. Luis Romero war Weggefährte Duartes in der FUNSA-Gewerkschaft. Er zitiert eine libertäre Definition von Eigentum:

Take 19: Luis Romero Porque para nosotros el derecho … no una propiedad privada.

Übersetzer: Das Recht auf Eigentum bedeutet für uns Recht auf gesellschaftliches Eigentum, aber nicht auf Privateigentum.]

Erzähler: „FUNSA“ zählt zu den „empresas recuperadas“, den sogenannten „wiedergewonnenen Betrieben“, wie selbstverwaltete Unternehmen am Rio de la Plata genannt werden. In den Jahren vor und nach der Krise 2001 übernahmen viele Arbeiter ihre Fabriken, wenn diese kurz vor der Pleite standen oder die Unternehmer sich aus dem Staub gemacht hatten, ohne ausstehende Löhne zu bezahlen. Heute arbeiten in Argentinien über 200 Betriebe ohne den

12 traditionellen Chef. Rund 10.000 Menschen haben in „wiedergewonnenen“ Druckereien, Keramik- und Nahrungsmittelfabriken, Transportunternehmen oder Hotels einen Job gefunden. Im kleineren Uruguay sind es über 20 Betriebe, vor allem Klein- und Mittelbetriebe, mit weniger als hundert Beschäftigten. Eine selbstverwaltete Glasfabrik exportiert schon nach wenigen Jahren ins benachbarte Ausland. Im Wirtschaftsministerium gibt es inzwischen eine eigene Abteilung für diese Unternehmen und einen eigenen Etat zur Förderung der sogenannten Solidarischen Ökonomie. Eine Alternative zum neoliberalen Diskurs. Das Gegenmodell hat auch in Brasilien Fuß gefasst, wenn auch noch in bescheidenem Ausmaß.

[Atmo: Take A 16: Beifall, Pepe, Pepe

Erzähler: Es war an einem kalten Winterabend 2009, als Pepe Mujica vor FUNSA-Arbeitern seine Rede hielt. Dick vermummt hatten sie über eine Stunde auf den ehemaligen Revolutionär gewartet. Geduldig auf unbequemen Plastikstühlen, aber auch gespannt, was ihnen der Präsidentschaftskandidat noch kurz vor den Wahlen versprechen würde:

Take 20: Pepe Mujica Como decía alguién cuando yo era … de viejos sindicatos anarcosindicalistas.

Übersetzer: Als ich noch ein junger Bursche war, sagte mir jemand: ‚Wenn sie dich rausschmeißen, dann, weil du deine Rechte verteidigt hast, aber nicht, weil du schlecht gearbeitet hast. Im Gegenteil, als Arbeiter solltest du stolz darauf sein, dein Bestes gegeben zu haben.’ Das ist das proletarische Bewusstsein der alten anarchistischen Gewerkschaften.

Erzähler: In Argentinien ist die einst mächtige Bewegung der Anarchosyndikalisten schon seit längerem Vergangenheit. Der Niedergang des Anarchismus ist auf brutale Repression, aber vor allem auf Juan Domingo Perón zurückzuführen. Perón wurde erstmals in den 40er- Jahren zum Präsidenten gewählt. Seine umfassende Sozialpolitik zugunsten der Arbeiter in den 50er-Jahren grub Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten das politische Wasser ab.] Auf beiden Seiten des Rio de la Plata existieren weiterhin kleine anarchistische Gruppen und Zirkel. Aber sie sind wenig bedeutsam. Doch manch libertärer Gedanke taucht in Diskussionen, Programmen und Aussagen von wichtigen Parteien, Gewerkschaften und politischen Bewegungen am Rio de la Plata auf. Ohne dass sich alle der anarchistischen Herkunft manchen Gedankengangs bewusst sind. Dazu Hugo Cores:

Take 21: Cores Hay una serie … una percepción valida.

Übersetzer: Eine Reihe von Wahrnehmungen und Feststellungen im anarchistischen Denken haben auch heute noch absolute Gültigkeit. So ist die Tatsache, dass der Staat einen schädlichen Einfluss ausüben kann, dass er ein Apparat ist, der dazu neigt, sich in einen Parasiten der Gesellschaft zu verwandeln und so dieser Gesellschaft die Energie zu rauben, eine gültige Wahrnehmung.

Erzähler: Anarchisten hatten zuerst heftige und grundlegende Kritik an der ihrer Meinung nach zu großen Staatsgläubigkeit nicht nur vieler Marxisten geübt. Hugo Cores greift auch die aktuelle Kritik an einigen linken Parteien in Südamerika auf. Sie begannen oft als soziale Bewegungen, die sich entschieden gegen politische und wirtschaftliche Eliten wandten und auf Entscheidungen von unten pochten.

13 Take 22: Cores Que los movimientos tienen una tendencia … advertencias del pensamiento libertario importante.

Übersetzer: Die Tatsache, dass soziale Bewegungen, auch revolutionäre Bewegungen, dazu neigen sich zu bürokratisieren, die Verankerung in der Gesellschaft zu kappen und sich in eine Schicht zu verwandeln, die von der Gesellschaft losgelöst, mit Macht und Manipulation agiert – das sind wichtige Warnungen, die dem anarchistischen Denken entlehnt sind.

Erzähler: Es sind vor allem Warnungen an die Adresse von linken oder progressiven Parteien, die in einigen Ländern Südamerikas die Präsidenten stellen. Einmal an der Regierung versuchen einige die Autonomie von Gewerkschaften oder anderen sozialen Bewegungen zu beschneiden, deren unabhängige Kritik zu neutralisieren oder sie für ihre politischen Zwecke einzuspannen. Entgegen allen Ideen von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung.

Musik: Take M 2: Milonga de un payador libertario

Zitator: „...stets rebellierten wir gegen jede Art von Autorität ...“

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