Unter Geiern
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Anarchisten am Rio de la Plata Von Karl-Ludolf Hübener Sendung: Montag, 14. Juli 2015, 8.30 Uhr Erstsendung: Freitag, 3. Januar 2014 Redaktion: Detlef Clas Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2014 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de MANUSKRIPT Musik: Take M 1: Hijos der Pueblo Zitator: „.... herrlich, unser rotes Banner, dem Leiden muss ein Ende bereitet werden, die Ausbeutung muss verschwinden. Erhebe dich, ehrliches Volk, mit dem Schrei nach sozialer Revolution.“ Erzähler: Zeilen aus „Söhne des Volkes“, die Hymne der Anarchisten am Rio de la Plata. Atmo: Take A 1: Kommentar, Musik Zitator: (Fragment aus Film: Das rebellische Patagonien) „Buenos Aires. 1. Mai 1904. Sie kommen näher, die Kolonnen von Anarchisten. Mit ihren roten und schwarzen Fahnen. Standarten mit den Namen der Gewerkschaften: Bäcker, Marmorschleifer, Fuhrmänner, Tischler, Maler ...“ Ansage: Anarchisten am Rio de la Plata Von Karl-Ludolf Hübener Take 1: Bayer Salieron, increíble, setenta mil obreros … no era día feriado como es ahora. Übersetzer: 70.000 Arbeiter waren auf den Beinen, und das bei einer Gesamtbevölkerung von gerade mal 900.000 Einwohnern. 70.000! Und das, obwohl die Kundgebung von der Polizei verboten war, der 1. Mai ein Arbeitstag wie jeder andere war und nicht wie heute ein freier Tag. Erzähler: … berichtet Osvaldo Bayer, ein bekannter argentinischer Historiker, Dokumentarfilmer und Erzähler zahlreicher Werke über die Geschichte des Anarchismus und der Arbeiterbewegung am Rio de la Plata. Take 2: Bayer Ningún otro movimiento tiene … todo se resolvió en asambleas. Übersetzer: Keine andere Bewegung kann mit einer Erinnerung an einen derartigen Idealismus aufwarten – Erinnerung an Menschen, die sich aufopferten, die ihr Leben opferten, Menschen, die ein tief sitzendes demokratisches Verständnis hatten: Alles wurde in Versammlungen entschieden. Erzähler: In der kleinen Wohnung im Stadtteil Belgrano in Buenos Aires reichen die Regale voller Bücher bis unter die Zimmerdecke. Darunter zahlreiche Schriften zum Anarchismus. Auf dem Fußboden stapeln sich Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren. Auf einem Tisch ein Durcheinander von Artikeln. Osvaldo Bayer fischt zielsicher eine CD hervor, eine Eigenproduktion mit anarchistischen Liedern, erklärt er mir stolz. 2 Musik: Take M 2: Milonga de un payador libertario, langsam einblenden) Zitator: „... wir sind die Anarchisten, die ihr Mörder nennt, die dem Arbeiter beibrachten, die Freiheit zu suchen.“ [Erzähler: Anarchisten wecken auch heute noch Sympathien. Das war mir schon früher auf der anderen Seite des Rio de la Plata in Montevideo aufgefallen. So in einem Gespräch mit Julio Marenales, einem ehemaligen Tupamaro-Guerillero: Take 3: Marenales No tanto por las expropiaciones … principios muy solidos. Übersetzer: Nicht so sehr wegen der Enteignungen, sondern wegen ihrer politischen Ansichten. Wir erkennen im Anarchismus sehr solide ethische Prinzipien wieder.] Erzähler: Neugierig geworden vertiefte ich mich in die Geschichte dieser oft mit Terrorismus gleichgesetzten Bewegung. Ein Rückblick. Atmo: Take A2: Gesang: Venimos Zitator: „... Wir kommen aus dem Europa des Hungers und der Kriege, Zurückgeblieben ist unser Haus, unsere Erde. Wir bringen Heimweh mit, aber auch Fröhlichkeit ... Wir sind nach Argentinien gekommen, um zu arbeiten. Wir wollen arbeiten ...“ Erzähler: „Hacerse la America“ – „sein Glück in Amerika suchen“, davon träumten viele verarmte Europäer, die im 19. Jahrhundert den Atlantik überquerten. Wegen latenten Mangels an Arbeitskräften warb Argentinien um Einwanderer, vor allem aus Südeuropa. Es lockte gleichzeitig mit fruchtbaren Ländereien. Doch die Hoffnung auf ein Stück Land erfüllte sich nur in wenigen Fällen. Dieses war bereits in den Händen reicher Großgrundbesitzer, Herren über riesige Viehherden und Getreidefelder. Stattdessen mussten sich viele Immigranten als Landarbeiter, schlecht bezahlte Handwerker, Tagelöhner in den Pökelhäusern der Fleischexporteure, den Lagerhäusern und an den Docks der Hauptstadt durchschlagen. 1896 zählte man 124.000 Arbeiter in der aufstrebenden Metropole Buenos Aires. Davon waren 93.000 Ausländer! Zwischen 1870 und 1910 überquerten vor allem Italiener und Spanier den Atlantik. Take 4: Bayer Y con ellos llegó la ideologia ... era el anarquismo. Übersetzer: Mit ihnen kamen auch die politischen Ideen dieser Arbeiter hierher, die vorherrschenden Ideologien in diesen beiden Ländern. In der spanischen wie der italienischen Arbeiterbewegung war das der Anarchismus. Erzähler: Bald sangen sie auch am Rio de la Plata die Hymne der Anarchisten, „Söhne des Volkes“. 3 Musik: Take M 1: Hijos del Pueblo Zitator: Söhne des Volkes, dich fesseln Ketten, diese Ungerechtigkeit kann nicht so weitergehen, wenn dein Leben eine Welt der Pein ist ist es vorzuziehen zu sterben, bevor man Sklave wird. Erzähler: 1857 hatten die Drucker die erste Gewerkschaft gegründet. In den folgenden Jahrzehnten entstanden in Industrie und Dienstleistungen Dutzende sogenannter „Widerstandsgesellschaften“. Gewerkschaftlich organisiert waren anfangs vor allem handwerklich vorgebildete Arbeiter. 1905 wurde der gewerkschaftliche Dachverband FORA, die „Regionale Argentinische Föderation“, gegründet. Sie war bis Anfang der 1930er-Jahre die bestimmende gewerkschaftliche Kraft. Mitglieder waren sowohl Marxisten als auch Sozialdemokraten, aber die Mehrheit stellten die Anarchisten. Sie nannten sich Anarchosyndikalisten. Ihre Prinzipien: Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Sie setzten sich deshalb für autonome Gewerkschaften ein, unabhängig von Staat und politischen Parteien. Sie waren stets bemüht, die Lebensbedingungen der Menschen konkret zu verbessern. Mit Streiks demonstrierten sie ihre Stärke, wie auch im Doku-Fiktionsfilm „Das rebellische Patagonien“. Drehbuchautor ist Osvaldo Bayer. Atmo: Take A 3: Filmfragment: A la huelga Zitator: Auf zum Streik! (Beifall). Solidarität! Es lebe die Anarchie! Erzähler: 1906 gab es allein in Buenos Aires 39 Streiks. Fast 140.000 Arbeiter beteiligten sich daran. Für die damalige Zeit eine riesige Menge Doch die Arbeitskonflikte wurden selten friedlich beigelegt. So endete der Generalstreik in den Vasena-Stahlwerken 1919 in einem Blutbad: Angehörige der Polizei und des Heeres töteten 600 Arbeiter. Als „Tragische Woche“ ist das Massaker in die Geschichtsbücher eingegangen. [Nicht zum letzten Mal spielte das Militär, die Waffe konservativer Kräfte und Regierungen, eine unheilvolle Rolle wenn es darum ging, gewerkschaftliche und politische Opposition in Argentinien zu unterdrücken. Take 5: Bayer En el año 1909 del primero de mayo ... usaban la bandera roja. Übersetzer: Am 1. Mai 1909 gab es eine riesige Kundgebung der Anarchisten. 100.000 hatten sich auf dem Platz des Kongresses versammelt. Wieder hieß die Antwort Repression. Den Befehl gab ein Heeresoberst mit dem Namen Ramón Falcón. Er befahl den Füsilieren, das Feuer auf die Kundgebung der Arbeiter zu eröffnen. Danach ließ er berittene Polizei mit gezogenen Säbeln auf die Arbeiter los. Die brutale Repression forderte 22 tote Arbeiter und Hunderte von Verletzten. – Später würde eine konservative Zeitung den Polizeichef fragen: ‚Aber Herr Oberst Falcón, warum haben Sie eigentlich die Repression angeordnet, wenn es doch gar keine Unruhen gab?’ Die Antwort des Obersten Falcón: ‚Weil die Arbeiter statt der argentinischen Fahne auf der Kundgebung die rote Fahne vor sich her trugen.’ Musik: Take M 3: Maldita Burguesía Zitatorin: „Möge bald Anarchie herrschen, 4 möge bald die Freiheit anbrechen. Wenn dieser Tag kommt, wird das Leben voller Glückseligkeit sein. Und wenn dieser Tag anbricht, wird das Leben Glückseligkeit bringen.“ Erzähler: Lieder, wie dieses aus der Sammlung Osvaldo Bayers, erklangen auch in den zahlreichen Cafés der damaligen Zeit.] Atmo: Take A 4: Café-Atmosphäre Erzähler: Ende des 19. Jahrhunderts war in Buenos Aires die Avenida de Mayo eingeweiht worden – eine Prachtallee nach Pariser Vorbild. Musiker, Maler und Dichter eroberten die Avenida, die bald mehr als dreißig Kaffeehäuser zählte. Auch Anarchisten trafen sich dort, vor allem in ihrem Stammcafé, dem „Café