Heft 4, Dezember 2017 / 97. Jahrgang E 1459

Badische Heimat Mein Heimatland ISSN 0930-7001 Zeitschrift für Landes- und Volkskunde, Natur-, Umwelt- und Denkmalschutz

IMPRESSUM Gesamtherstellung: Herausgeber Rombach Verlag Landesverein Badische Heimat e. V. Unterwerkstraße 5 Hansjakobstr. 12 79115 Freiburg i. Br. 79117 Freiburg E-Mail: [email protected]

Landesvorsitzender: Zur Zeit ist die Anzeigenpreisliste Nr. 9 gültig. Dr. Sven von Ungern-Sternberg

Chefredakteur: Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich. Der Verkaufs- Heinrich Hauß, Weißdornweg 39, 76149 preis ist durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten. Tel.: (07 21) 75 43 45 Fax: (07 21) 92 13 48 53 Jahrespreis für Einzelmitglieder 32,– €. Preis des Heftes im Einzelverkauf für Nichtmitglieder 11,50 €. Nachbe- Redaktion: stellung von bis zu 2 Heften für Mitglieder 8 €. Weitere Dorothee Kühnel / Michael Kohler Exemplare zum Einzelverkaufspreis erhältlich. Geschäftsstelle: Haus Badische Heimat Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind ausschließlich Hansjakobstr. 12, 79117 Freiburg deren Verfasser verantwortlich. Für unverlangte Manu- Tel. (07 61) 7 37 24, Fax (07 61) 7 07 55 06 skripte, Bildmaterial und Besprechungsstücke wird keine Geschäftszeiten: Mo., Di., Do. 9.00–12.00 Uhr Haftung übernommen. Rücksendung bei unangeforder- Internet: www.badische-heimat.de ten Manuskripten erfolgt nur, wenn Rückporto beiliegt. E-Mail: [email protected] Alle Rechte der Vervielfältigung und Verbreitung behält sich der Landesverein vor. Veröffentlichte Manuskripte Zahlstellen des Landesvereins: gehen in das Eigentum des Landesvereins über. • Postbank Karlsruhe IBAN: DE33 6601 0075 0016 4687 51 BIC: PBNKDEFF Die Herausgabe dieser Zeitschrift • Sparkasse Freiburg – Nördlicher Breisgau wird vom Land -Württemberg, IBAN: DE48 6805 0101 0002 0032 01 vertreten durch das Regierungsprä- BIC: FRSPDE66XX sidium Freiburg, unterstützt.

Büste des Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1728–1811) im Eingangsbereich des Schmuckmuseums Pforzheim. © TMP, Foto Winfried Reinhardt

481_Impressum.indd 482 09.12.2017 11:17:32 Inhalt

EDITORIAL »Auf´s Ganze gesehen« – oder: »Denk ich an den Bodensee …« – Editorial Manfred Bosch zu Ehren Sven von Ungern-Sternberg ...... 484 Versuch einer Würdigung seines litera- rischen Schaffens zum 70. Geburtstag Zu diesem Heft Elmar Vogt ...... 538 Heinrich Hauß ...... 485 Hochwasserrückhaltebecken Wolterdingen AUFSÄTZE Otto E. Hofmann ...... 546 SCHWERKUNKT PFORZHEIM 5000 Jahre Landschaft Grußwort der Kulturamtsleiterin und Wald am Oberrhein der Stadt Pforzheim Helmut Volk ...... 552 Angelika Drescher ...... 486 Deutsch-französische Jahre Die Geschichte der Goldschmiede- in Baden-Baden schule mit Uhrmacherschule Reiner Haehling von Lanzenauer ...... 563 Michael Kiefer ...... 487 Vom mittelalterlichen Kleinhaus bis zur Tankstelle der 1950er-Jahre Die Pforzheimer Schmuck- und Die Preisträger des Denkmalschutz- Uhrenindustrie im Wandel der Zeit preises Baden-Württemberg 2016 Eduard Vinaricky ...... 495 Gerhard Kabierske ...... 569 Die Rassler und ihr Umfeld Déjà vu? Eine Epoche in der Geschichte der Als die Straßburger Straßenbahn vor Pforzheimer Schmuckindustrie rund 100 Jahren durch Kehl fuhr Eduard Vinaricky ...... 503 Ute Scherb ...... 587

Technisches Museum der Schonach, Triberg, Pforzheimer Schmuck- und Konstanz … und Bahia Uhrenindustrie Über Ludwig Grieshaber alias Dom Cle- Isabel Schmidt-Mappes ...... 510 mente Maria da Silva-Nigra Johannes Werner ...... 599 Les élections en Alsace (2017) AUFSÄTZE Jean-Marie Woehrling ...... 605 In Memoriam Dr. Karl Friedrich Schimper AUSSTELLUNGEN IN BADEN Wilfried Schweinfurth ...... 515 Ausstellung » – Ein unverhofftes Wiedersehen Wanderer zwischen den Welten« mit August Babberger in der Bis zum 4. März 2018 Kunststiftung Hohenkarpfen in Baden-Baden zu sehen Elmar Vogt ...... 530 Elmar Vogt ...... 611

482 Inhalt Badische Heimat 4 / 2017

482_Inhaltsverzeichnis.indd 482 03.12.2017 12:31:40 AUS DEM LANDESVEREIN KOOPERATIONEN

Bausteinaktion des Landesvereins ’s Sprochàmt stellt sich vor Badische Heimat zur Renovierung Annette Striebig-Weissenburger ...... 623 seines Hauses in der Freiburger Hansjakobstraße ...... 613 ’s Elsassische labt wittersch mìt de Kìnder! Bénédicte Keck ...... 625 Umsetzung der Bodman-Reform Karlsruher Gespräch des Bodman- Teams mit dem Vorsitzenden des AKTUELLE INFORMATIONEN Landesvereins Badische Heimat, Redaktion: Heinrich Hauß Sven von Ungern-Sternberg Protokoll: Heinrich Hauß Bemerkungen zum Artikel von für Bodman-Team ...... 614 Andreas Rossmann: »Unter dem Stadtniveau«. Karlsruhe Arbeitskreis »Industriekultur verlegt die Straßenbahn unter die in Baden« Erde, und Markus Lüpertz bewirbt Volker Kronemayer ...... 615 sich als Trittbrettfahrer Heinrich Hauß ...... 628 Hansjakob-Seminare Und so etwas ist des Lesens im Haus der Badischen Heimat zweimal wert … Zugleich Rückblick auf das Jahr 2017 Eine Bücherwelt in Gelb: der Regionalgruppe Freiburg 150 Jahre Reclam Verlag Ursula Speckamp ...... 616 mit J. P. Hebel Elmar Vogt ...... 629 Regionalgruppe Freiburg Vorschau auf 2018 Rückblick auf das Seminare zu Albert Schweitzer 200-jährige Jubiläum 2017 im Haus der Badischen Heimat Hans Eberhard Lessing und Ernst Ursula Speckamp ...... 617 Otto Bräunche im Streitgespräch über Freiherr von Drais: Treffen des Landesvereins und »Keine zusätzliche Aufwertung« des Hegau-Geschichtsvereins Heinrich Hauß ...... 630 in Konstanz Sven von Ungern-Sternberg ...... 618 PERSONALIA

Regionalgruppe Pforzheim Staufermedaille in Gold für Dipl.- unter neuer Leitung ...... 619 Ing. Prof. Robert Mürb, den Vorsit- zenden der Landesvereinigung Ba- den in Europa HEIMATDISKURS Paul-Ludwig Weinacht ...... 631

Marketing und Event: Nachruf Privatisierung und Herta Kümmerle (1921–2017) ...... 632 Entpolitisierung von Heimat Bemerkungen zu den Heimattagen 2017 Heinrich Hauß ...... 620 Buchbesprechungen ...... 635

Badische Heimat 4 / 2017 Inhalt 483

482_Inhaltsverzeichnis.indd 483 03.12.2017 12:31:40 Editorial

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder unseres Landesvereins,

das vorliegende Heft behandelt die »Goldstadt Pforzheim« als Schwerpunkt. Mein Dank gilt der Stadtverwaltung von Pforzheim für die gute Zusam- menarbeit mit unserer Redaktion, insbesondere der Kulturamtsleiterin An- gelika Drescher. Herzlichen Dank auch allen Autoren, die die Attraktivität der Stadt und ihre reiche Geschichte auf vielfältige Art und Weise darzu- stellen vermochten. Für die Redaktion des Heft es erneut mein Dank an die Verantwortlichen, an den Chefredakteur Heinrich Hauß und vor allem an Frau Dorothee Kühnel, die nach dem Tod von Dr. Anna Gräfi n zu Stolberg noch einmal die Redaktion übernommen hat. Zwischenzeitlich haben wir mit Herrn Michael Kohler einen geeigneten Nachfolger gefunden. Herr Kohler ist für die Badische Heimat kein Unbekannter. In früheren Jahren hat er zusammen mit Frau Kühnel beim G. Braun Buchverlag in Karlsruhe gearbeitet. Er wurde 1975 in Karlsruhe geboren, studierte Neuere deutsche Literaturgeschichte und Geschichte in Freiburg und Wien. Er war viele Jahre Leiter eines Regionalverlags, dann Verleger und Geschäft sführer einer Medienfi rma. Heute ist er Inhaber eines Verlagsbüros. Er arbeitet für verschiedene Verlage als Programmleiter, Lektor und Redakteur und ist außerdem auch Autor landeskundlicher Bücher. Mit der Idee einer Bausteinaktion leistet Dr. Bernhard Oeschger einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der Sanierung unseres Hauses in der Hansjakobstraße. Die Unikate eignen sich her- vorragend als Weihnachtsgeschenk. Nützen Sie diese Gelegenheit, erwerben Sie ein kleines Kunst- werk und unterstützen Sie damit unseren Landesverein. Näheres hierzu fi nden Sie auf Seite 613 in diesem Heft . Die Arbeiten am Haus gingen den Sommer über gut voran und neigen sich nun bereits dem Ende zu. Ein erstes Haus- und Handwerkerfest fand am 18. November 2017 statt. Im nächsten Heft wer- den wir ausführlich darüber berichten. Jede weitere Spende von Ihnen hilft uns, dieses große Projekt erfolgreich abzuschließen. Ich wünsche den Mitgliedern und Lesern gesegnete Weihnachtstage und alles Gute zum Neuen Jahr. Bleiben Sie auch im nächsten Jahr der Badischen Heimat verbunden und unterstützen Sie un- sere Arbeit.

Ihr Sven von Ungern-Sternberg

484 Sven von Ungern-Sternberg – Editorial Badische Heimat 4 / 2017

484_Editorial1Ungern-Sternberg.indd 484 03.12.2017 11:48:51 Zu diesem Heft

Nach meiner Erinnerung an die »Geburtsurkunde des Pforzheimer Unter- nehmertums« (1767) in der Sparte »Gedenktage badischer Geschichte« in Heft 1/2017 (Seiten 124–126) sah sich Herr Eduard Vinaricky von der Regio- nalgruppe Pforzheim herausgefordert, für das vorliegende Heft Aufsätze zum Th ema Goldstadt Pforzheim zu organisieren: »Die Geschichte der Goldschmie- deschule,« »Das Technische Museum,« »Die Rassler und ihr Umfeld« und »Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie«. In diesem Zusammenhang weisen wir auch auf die Wahl eines neuen Vorstandes in der Regionalgruppe Pforz- heim hin. Elmar Vogt versucht in dem Aufsatz »Manfred Bosch zu Ehren«, eine Würdigung seines literarischen Schaff ens, nachdem wir in Heft 3/2017 die Re- daktionstätigkeit Boschs der »alten« Allmende thematisiert haben. Wilfried Schweinfurt erinnert zum 150. Todestag an die wissenschaft lichen Verdienste des Naturforschers und Lyrikers Karl Friedrich Schimper. Helmut Volk setzt sich in dem Aufsatz »5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein« mit dem Wirken des Menschen auf die Natur auseinander und verweist auf seine eigenen Arbeiten zu diesem Th ema. Traditionsgemäß würdigt Dr. Gerhard Kabierske in der letzten Nummer ei- nes Jahrgangs die »Preisträger des Denkmalschutzpreises 2016«, der gemeinsam von der Badischen Hei- mat und dem Schwäbischen Heimatbund alle zwei Jahre vergeben wird. Die beiden Vorträge zum Th ema »Heimatbewusstsein im Elsass« von Jean-Marie Woehrling und »Kulturelle Beziehungen zwischen Baden und dem Elsass« von Prof. Gerd Hepp im Rahmen der Vortragsreihe der Badischen Heimat zu den Hei- mattagen in Karlsruhe stießen auf große Resonanz bei einer Höchstzahl von Zuhören im Stadtmuseum. Sie bilden gewissermaßen den Auft akt für eine Reihe von Aufsätzen zum Th ema Elsass in unserer Publi- kation. Annette Striebig-Weissenburger und Bénédicte Keck stellen »’s Sprochàmt« vor, und Jean-Marie Woehrling beschäft igt sich in französischer Sprache mit »Les élections en Alsace (2017)«. Die Kooperation zwischen der Badischen Heimat und entsprechenden Vereinen im Elsass wird von unserem Beiratsmit- glied, Herrn Prof. Dr. Gerd F. Hepp, betreut. Die französische Fassung des Aufsatzes von Jean-Marie Woehrling in diesem Heft bedarf der Erklärung: Die Teilnahme an der Kultur im Elsass und in Baden ist auf die Dauer nur durch Zweisprachigkeit garantiert. Baden-Württemberg hat Französisch in den Klassen 5 und 6 inzwischen wieder abgeschafft ! Deshalb möchte Prof. Gerd Hepp, der den Abdruck des Aufsatzes veranlasst hat, die Fassung als »Weckruf« verstanden wissen. Im Zusammenhang mit dem Th ema Elsass ist auch auf den Aufsatz »Straßburger Straßenbahn vor 100 Jahren« von Ute Scherb hinzuweisen. Herr Dr. Volker Kronemayer berichtet von der Sitzung des »Arbeitskreises Industriekultur« am 22. September 2017. Frau Dorothee Kühnel, die das Amt der Lektorin für die beiden letzten Heft e nach dem Tode von Dr. Anna zu Stolberg nochmals vertretungsweise übernommen hat, gibt die Tätigkeit mit Heft 4/2017 auf. Herr Michael Kohler (Kohler Media) wird in Zukunft das Lektorat für die Heft e übernehmen. Frau Dorothee Kühnel hat die Heft e der Badischen Heimat im G. Braun Buchverlag in der Zeit von Heft 2/2004 bis Heft 4/2012 betreut und dann im Verlag Rombach die Heft e 1/2013 bis Heft 4/2014. Das ergibt zusammenge- rechnet die stolze Zahl von 43 Heft en. Die Heft e 1/2015 bis 2/2017 wurden Frau Dr. zu Stolberg als Lektorin in eigener Regie betreut. Beim Wechsel der Lektoratstätigkeit musste Frau Kühnel die Aspiranten jeweils einlernen. Nur Menschen vom Fach können ermessen, welcher zeitliche und ideelle Aufwand, dazu Stress nötig waren, um vier Heft e im Jahr – teilweise in der Freizeit – rechtzeitig herauszubringen. Von den gerin- gen Mitteln, die uns zur Verfügung standen, soll erst gar nicht gesprochen werden. Heinrich Hauß

Badische Heimat 4 / 2017 Heinrich Hauß – Zu diesem Heft 485

485_Editorial 2Hauss.indd 485 03.12.2017 11:49:12 Aufsätze: Goldstadt Pforzheim

Grußwort der Kulturamtsleiterin der Stadt Pforzheim

Liebe Leserinnen und Leser,

Pforzheim feiert im Jahr 2017 den 250. Geburtstag der Schmuck- und Uhrenindustrie mit einzigartigen Ausstellungen und spekta- kulären Live-Acts, mit Design und Kunst, mit Musik und Th eater. Das Jubiläumsjahr gewährt einen Rückblick auf das Jahr 1767, die frühe Ansiedlung von Schmuck- und Bijouteriemanufakturen unter Markgraf Karl Friederich, aber auch Einblicke in eine Zeit, in der in Pforzheim über 500 Unternehmen ansässig waren, die Schmuck und Uhren produzierten. Das Jubiläumsfestival »250 Jahre Goldstadt Pforzheim« richtet auch den Blick in die Gegen- wart Pforzheims, einer Stadt, die für Tradition aber auch für Innovation und Design steht. Damit stellen wir aber zugleich auch wichtige Weichen für die Zukunft . Einmal mehr Gelegenheit für die zahlreichen Pforzheimer Kultureinrichtungen, ihr vielfäl- tiges Angebot zu präsentieren. Allen voran die kulturellen »Leuchttürme« dieser Stadt. Das Drei-Sparten-Th eater Pforzheim, das Kulturhaus Osterfeld, das Schmuckmuseum sowie das Südwestdeutsche Kammerorchester laden zu faszinierenden und unver gesslichen Momenten ein. Vor allem bei Jugendlichen beliebt ist der Jugendkulturtreff »Kupferdächle«. Bei zahlreichen Workshops und Veranstaltungen gibt es dort die Möglichkeit, selbst kreativ zu werden, eigene Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Von Groß und Klein gerne besucht werden das Figurentheater Raphael Mürle und die Mario- nettenbühne Mottenkäfi g im Stadtteil Brötzingen, die 2017 ebenfalls ein Jubiläum feiert. Die Entwicklung der Schmuck- und Uhrenherstellung wird im Technischen Museum der Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie, das am 6.4.2017 feierlich wieder eröff net wurde, lebendig präsentiert. Hier können Sie selbst Schmuck herstellen und die ausgestellten Maschi- nen unter Anleitung bedienen. Genießen Sie das vielfältige Kulturangebot. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Entdecken!

Angelika Drescher, Kulturamtsleiterin Stadt Pforzheim

486 Grußwort der Kulturamtsleiterin der Stadt Pforzheim Badische Heimat 4 / 2017

486_Grusswort_Drescher Angelika.indd 486 03.12.2017 11:53:21 Die Geschichte der Goldschmiede- schule mit Uhrmacherschule

Michael Kiefer

Die Geschichte der Goldschmiede- mit Uhrmacherschule beginnt im Jahr 1768. Aufgrund des Vorschlages des Unternehmers Autran wurde in Pforzheim eine staatlich fi nanzierte schulische Berufsausbildung eingerichtet. Andreas Koessler wurde durch den Marktgraf Karl Friedrich von Baden als erster Lehrer dieser Institution ernannt und trat am 12. September 1768 seinen Dienst an. Im Laufe der nächsten 250 Jahre entwickelte sich die Schule zu einer eigenständigen und international anerkannten Institution.

Die Anfänge im Jahr 1768 niaturmaler Melchior Andreas Koessler war nach Autrans Ansicht ein geeigneter Bewer- Die Geschichte der Goldschmiedeschule mit ber. Der Markgraf schien vom Ideenreich- Uhrmacherschule beginnt am 12. Septem- tum und Engagement der Unternehmer be- ber 1768. Die Grundlage zur Schulgründung eindruckt. Dies führte dazu, dass am 28. Juli wurde jedoch bereits ein Jahr früher gelegt. 1768 Markgraf Karl Friedrich von Baden ein Im Jahr 1767 erhielten der aus Orange stam- Schrift stück unterzeichnete, das einer Er- mende Uhrenfabrikant François Autran und nennungsurkunde Koesslers gleichkam. Mel- seine beiden Schweizer Entrepreneurs (Mit- chior Andreas Koessler trat seinen Dienst am unternehmer) Amédé Christin und Jean 12. September 1768 an. Seine Aufgabe be- Viala durch Markgraf Karl Friedrich von stand darin, die Zöglinge des Waisenhauses, Baden das Privileg, eine Uhren- und feine die in der dortigen Schmuck- und Uhrenfa- Stahlfabrik im Sinne einer staatlichen Ma- brikation arbeiteten, im Zeichnen zu unter- nufaktur im Pforzheimer Waisenhaus zu er- richten. Besonders begabte Knaben wurden richten. Bereits am Ende des Jahres 1767 nah- in der Miniatur- oder Emailmalerei, die da- men Autran, Christin und Viala erneut nach mals sehr in Mode war, unterrichtet. Zudem der Gründung ihrer Unternehmen Kontakt sollte Koessler der Schmuckmanufaktur Ent- zum Markgrafen auf. Sie schilderten ihm würfe für die Emailmalerei liefern. ihre Vorstellungen über eine staatlich fi nan- Zu große Klassengrößen, eine hohe Ar- zierte schulische Begleitung der in ihrer Ma- beitsbelastung und die schlechte Bezahlung nufaktur erteilten Berufsausbildung, um so- führten in den ersten Jahren zu einem häu- mit die Qualität des Unterrichtes zu erhöhen. fi gen Lehrerwechsel. Dennoch wurde die Es war Autran, der sich auf die Suche nach Schule als Standortvorteil wahrgenommen. einem geeigneten Lehrer machte. Der Mi- In einer Werbebroschüre aus dem Jahr 1771

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487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 487 03.12.2017 11:53:37 Hinweistafel an der Ruine Ruinenreste des Pforzheimer Waisenhauses

führte Amédé Christin – neben anderen Vor- rufl ichen sowie verschiedene neue Formen teilen von Betrieb und Standort – die Tatsa- der Berufsvorbereitung und auch der Be- che der von ihm und seinen Co-Entrepre- rufsausbildung selbst, wie die Zeichenschule neurs veranlassten schulischen Ausbildung Koesslers zeigt. Die Bezeichnung von Ar- von Lehrlingen als Werbeargument für seinen beits- oder Zuchthäusern als pädagogische Betrieb ins Feld. Einrichtungen waren durchaus üblich. Vor Die nächsten Jahre bis zur Mitte des 19. diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, Jahrhunderts waren geprägt durch verschie- dass es parallel zur Zeichenschule Koess- denste Auf- und Abwärtsbewegungen in lers und ihrer Zusammenarbeit mit der der Pforzheimer Schmuckbranche. Autran Schmuckfabrik in Pforzheim eine Freihand- pfl egte von Beginn an Geschäft sbeziehun- Zeichenschule für die Schüler des Pädago- gen nach Frankreich, Holland, Russland giums (der ehemaligen Lateinschule) und und der Schweiz. Diese internationalen Kon- der Volksschule sowie für sonstige Freiwil- takte nahmen auch die anderen Schmuck- lige gab. Im Jahr 1805 wurde die Zeichen- fabrikanten auf und stellten bereits seit 1780 lehrerstelle durch den Tod von Johannes auf Messen in am Main sowie in Schraidt vakant. Nachfolger wurde der Gra- Leipzig aus. Dies machte die Pforzheimer veur Reinbold. Neben der Erteilung von Un- Fabrikanten aber auch abhängig von den eu- terricht war es seine Aufgabe »der Zeichen- ropaweiten sozialen, wirtschaft lichen und schule größere Bedeutung zu verschaff en, da politischen Entwicklungen. Auch das Bil- ihr Zweck auf die Bildung guter Handwerker dungssystem war durch eine gewisse Unruhe und feinerer Künstler sehr eingreifend« sei. geprägt. Auf der Suche nach geeigneten Kon- Die Idee der Zeichenschule Koesslers mit ih- zepten wurden verschiedene Reformansätze rer Verknüpfung von betrieblicher und schu- erprobt. Diese bezogen sich sowohl auf den lischer Ausbildung ging nun vollends in der allgemeinbildenden Bereich als auch den be- Freihand-Zeichenschule auf.

488 Michael Kiefer Badische Heimat 4 / 2017

487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 488 03.12.2017 11:53:38 Schulgebäude in der Jahnstraße

Die Goldschmiedeschule als Gewerbeschule

Im Jahre 1833 regte ein Erlass des damaligen Murg- und Pfi nzkreises der großherzoglichen Regierung an, für die Schüler des Pädagogi- ums und der Volksschule die »Freihandzei- chenschule« als »Handwerkerschule« für die Pforzheimer »Gewerbelehrlinge« auszubauen. Der Unterricht erfolgte an den Sonntagvor- Schulgebäude in der Jahnstraße mittagen außerhalb des Hauptgottesdienstes. Ein Jahr später wurde mit dem Erlass vom 15. Mai 1834 die Handwerkerschule zur Gewer- beschule. War es auch die Idee der ursprüng- nen städtischen Gebäuden statt und es fehlte lichen Pforzheimer Zeichenschule, die nun im eine wirksame schulische Organisation. Die Gedanken der Gewerbeschule aufging, so be- rechtlichen Vorgaben waren wesentlich klarer deutet es gleichzeitig für diese Institution die als zuvor, es scheiterte jedoch an der Umset- Eingliederung in eine größere Organisation, zung. Dies stellte sich als sehr nachteilig her- stärkere staatliche Regulierungen und damit aus und führte dazu, dass bereits im Jahr 1838 die teilweise Aufgabe der bisher selbständigen nur noch das Freihandzeichnen unterrichtet Entwicklung. wurde. Im ersten Schulbericht aus dem Jahr 1835 Eine Konsolidierung trat erst ein, als 1842 wurde vermerkt, dass das Fach »Freihand- der technisch gebildete Baupraktikant See- zeichnen« für die Lehrlinge und Gehilfen aus ger als Gewerbehauptschullehrer eingestellt der Schmuckindustrie von einem Graveur wurde. Er führte eine Stundentafel und klar unterrichtet wird. Ansonsten unterrichteten gegliederte Schuljahre ein. Vollends Kontinui- nebenamtliche Lehrkräft e, Baupraktikanten, tät kehrte dann 1844 ein, als Gewerbeschul- Gymnasiallehrer, Th eologen und Volksschul- kandidat Philipp Huber, ein Absolvent der lehrer. Der Unterricht fand in verschiede- Polytechnischen Schule in Karlsruhe, die Lei-

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487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 489 03.12.2017 11:53:38 tung der Gewerbeschule übernahm. Er hatte tragen. Bereits im Jahr 1868 wurde von dieses Amt bis zum Jahre 1887 inne. der Schmuckindustrie die Forderung ge- Philipp Huber baute die Unterrichtsorgani- stellt, auch den künstlerischen Nachwuchs sation zunehmend aus. Im Jahre 1846 wurde zu fördern. Dies führte zur Einrichtung ei- beispielsweise Modellierunterricht mit je drei ner sogenannten Künstlerklasse. Aufgrund Wochenstunden für die zweite und dritte der hohen Schülerzahlen entschloss sich die Klasse der Graveure und Goldschmiede ein- Stadt zum Neubau eines Gewerbeschulge- geführt. Der schon seit längerem für Kna- bäudes. Dies wurde an der Ecke Jahnstraße ben der obersten Volksschulklasse beste- und Rennfeldstraße auf dem heutigen Park- hende vorbereitende Zeichenunterricht, den platz des Reuchlinhauses errichtet. Das Ge- der Hauptlehrer der Gewerbeschule erteilte, bäude wurde in den Jahren 1874 bis 1877 wurde 1848 als Vorbereitungskurs der Ge- erbaut. Mit dem Einzug in das Gebäude werbeschule angegliedert und für verbindlich an der Jahnstraße entstand am 2. Juli 1877 erklärt. Die Schmuckwarenindustrie nahm aus der Künstlerklasse die selbständige Ein- nach den Revolutionsjahren 1848/49 einen richtung »Kunstgewerbeschule Pforzheim« starken Aufschwung. Dies spiegelte sich auch (Fachschule für die Edelmetallindustrie der in den Schülerzahlen wider. Gab es im Jahr Stadt Pforzheim). Zum Direktor wurde der 1844 noch 47 Schüler aus der Schmuckindu- Architekt Waag ernannt. Er unterrichtete strie und 30 Zeichengäste (»Bijoutiers«), so auch Freihandzeichnen und Modellieren an stieg sie in den folgenden Jahren kontinuier- der Gewerbeschule. Im Jahr 1887 kam Ge- lich an. Im Schuljahr 1873/74 erreichte die org Kleemann (1863–1932) als Lehrer an die Schule einen vorläufi gen Höchststand mit Schule. Er war einer der bekanntesten und 1024 Schülern. Es beginnt eine zunehmend besten Entwerfer für Schmuck im Jugendstil fundierte Auft eilung nach einzelnen Berufs- um die Jahrhundertwende. bildern. Die größte Gruppe bilden hierbei die Gold- und Silberschmiede, gefolgt von den Edelsteinfassern, Graveuren und Emailma- Von der Gewerbeschule lern. Erste Anfänge des Metalltreibens und zur Goldschmiedeschule Ziselierens werden mit einigen Schülern ge- macht. Konnten die Lehrpläne in den Anfangsjahren zu Zeiten der Zeichenschule Koesslers noch sehr frei gestaltet und auf die örtliche Situa- Die Gründung tion angepasst werden, so nahmen sie mit der der Kunstgewerbeschule Einführung der Gewerbeschule zunehmend eine übergeordnete Struktur ein. Die Ausbil- Immer wichtiger wurde für die Unterneh- dung wurde allgemeiner und auf die beson- men, Fachkräft e sowohl im künstlerischen deren Bedürfnisse der Pforzheimer Schmuck- als auch im handwerklichen Bereich zu industrie wurde immer weniger Rücksicht qualifi zieren. Ausgehend von der Zeichen- genommen. Die ursprünglich sehr enge Ver- schule Koesslers über die Gründung der zahnung zwischen Zeichenschule und den Gewerbeschule wurde dieser Forderung Schmuckunternehmen ging zunehmend ver- im handwerklichen Bereich Rechnung ge- loren.

490 Michael Kiefer Badische Heimat 4 / 2017

487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 490 03.12.2017 11:53:38 Im Jahre 1887 wurde der seit zwanzig Jah- Modellieren bekamen eine größere Bedeu- ren an der Gewerbeschule tätige Friedrich tung. Die Unterrichtsinhalte orientierten Rücklin zum Direktor ernannt. Er kannte sich wieder verstärkt an den Bedürfnissen die Pforzheimer Schmuckbranche und ihre der Schmuckunternehmen. Die Neuausrich- Sorgen bezüglich der Ausbildung. Unver- tung des Lehrplans wurde auch vom neuen züglich arbeitete er konkrete Unterrichts- Referenten im Karlsruher Landesgewerbe- pläne aus, die »die Gründung einer Goldwa- amt, Regierungsrat Maier, unterstützt. Die- renfabrik bis zum fl otten Gange derselben« ser war auch dem Vorschlag aufgeschlossen, zum Ziel hatten. Es war für Rücklin jedoch die Goldschmiedeabteilung von der Gewer- schwierig, eine allgemeine handwerkliche beschule zu trennen und selbständig zu ma- Ausbildung mit den speziellen Anforde- chen. Der Gemeinderat war ebenfalls von rungen der Schmuckindustrie in Einklang dieser Idee beeindruckt. Dies führte dazu, zu bringen. Auch die Teilung der Gewer- dass im Jahr 1905 eine eigenständige Gold- beschule in eine Handwerkerabteilung (361 schmiedeschule entstand. Zum Direktor der Schüler) und eine Goldschmiedeabteilung neuen Schule wurde Prof. Rudolf Rücklin er- (874 Schüler) unter gemeinsamer Leitung nannt. Er war der Sohn von Friedrich Rück- führte nicht zu dem gewünschten Erfolg. Es lin. Mit Gründung der Goldschmiedeschule war ohnehin nur eine äußerliche Trennung besaß die Schule 1016 Schüler. – die Lehrer unterrichteten jeweils in beiden Im Jahr 1907 wurde eine neue Gewerbe- Abteilungen und die Lehrpläne unterschie- schulverordnung eingeführt. Den Gewerbe- den sich nur unwesentlich. Dennoch stiegen schulen war damit auch ausdrücklich eine die Schülerzahlen kontinuierlich an und die praktische Unterweisung übertragen wor- Stadt entschloss sich zum Bau eines neuen den. So gilt Baden als das erste Land, das den Gebäudes auf der »Insel« am Enzufer. Die- Werkstattunterricht im Sinne der Ergänzung ses wurde im Jahr 1892 bezogen und war das der Lehre im Betrieb allgemein einführte. Der erste Haus Badens, das ausschließlich für die Werkstattunterricht hatte im Fach Modellie- Aufgaben des Unterrichts der Gewerbeschule ren seinen Vorläufer. Bereits der Vater von gestaltet wurde. Prof. Rücklin nahm im Jahr 1887 die Kritik Unterstützung bei der Schulentwicklung der Unternehmen auf, dass die Ausbildung bekam Direktor Rücklin durch Hermann zu theoretisch ist und zu wenig auf die Be- Gesell. Dieser war neben seiner Tätigkeit dürfnisse der Pforzheimer Schmuckindustrie als Stadtrat und Landtagsabgeordneter seit abgestimmt war. Mit der neuen Verordnung 1886 Mitglied in der Handelskammer und wurde nunmehr der Weg frei für eine praxis- bis 1924 deren Präsident. Hermann Gesell orientierte Ausbildung. Rücklin hat dieses war es, der im Jahr 1902 eine Denkschrift Prinzip bereits bei seinem Amtseintritt im mit dem Titel »Neuorganisation der Gold- Jahr 1905 durch die Einführung des Fachleh- schmiedeabteilung bzw. der Goldschmie- rerprinzips unterstützt. deschule« veröff entlichte. Diese Schrift gab Die Raumnot im Schulgebäude auf der in der Folge Anlass zu einigen Veränderun- Enz-Insel wurde immer größer. Im Jahr 1911 gen. Bereits im Jahr 1903 wurden die Lehr- erreichte die Schule mit 2300 Schülern ihren pläne der Goldschmiedeabteilung umge- vorläufi gen Höchststand. Bereits im Jahr 1907 arbeitet. Die Fächer Freihandzeichnen und bezog die Schule provisorische Räume in der

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487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 491 03.12.2017 11:53:38 Kaiser-Friedrich-Straße. Immer mehr Räume Goldschmiede geschaff en. Am 19. April 1920 wurden in anderen Schulgebäuden belegt. Im wurde diese eingerichtet. Entgegen dem Teil- Jahr 1912 konnte die Schule nunmehr in das zeitbereich war der Besuch dieser Schulart zuvor umgebaute ehemalige Schulgebäude in freiwillig. Gedacht war diese Schulform in der Jahnstraße umziehen. ihrem Ursprung für Söhne von Fabrikanten, welche später das Unternehmen überneh- men sollten. Sehr bald wurden auch Schüler Die Goldschmiedeschule außerhalb Pforzheims aufgenommen. Diese in der Zeit der Weltkriege stammten vorwiegend von Goldschmieden und Juwelieren. Eine Stärke dieser Vollzeit- Die Teilzeitausbildung bildet auch nach dem schule war eine sehr umfassende Ausbildung 1. Weltkrieg den Grundstock der Schule. In in den verschiedensten Techniken des Gold- ihr werden im dualen System Gold- und schmiedens. Im ersten Schuljahr 1919/20 Silberschmiede, Stahl- und Goldgraveure, gab es zehn Schüler in der neuen Schulart. Steingraveure, Elfenbeinschnitzer, Ziseleure, Diese hatten zunächst 43 Wochenstunden Guillocheure, Zeichner, Emailleure, Fasser, Unterricht, später wurde die wöchentliche Stein- und Glasschleifer, Ring- und Ketten- Unterrichtszeit auf 49 Stunden erhöht. Bis macher, Zieharmbandmacher, Gehäusema- heute genießt die Berufsfachschule für Gold- cher, Dosenmacher, Bleistift macher, Gürtler, schmiede eine regionale und internationale Optiker, Former, Gießer, Presser, Metalldrü- Anerkennung. cker, Metallschleifer, Zurichter, Galvani- Am 20. Januar 1940 wurde die Selbständig- seure, Laboranten und Zahntechniker aus- keit der Goldschmiedeschule durch die Na- gebildet. Die Teilzeitschüler hatten durchge- tionalsozialisten jäh unterbrochen. Aus der hend 10 Stunden Unterricht pro Woche. Der »Kunstgewerbeschule« und »Goldschmiede- Unterricht war gegliedert in einen kunst- schule« wurde die »Staatliche Meisterschule gewerblichen und einen Realienunterricht. der deutschen Edelmetall- und Schmuckin- Grundsätzlich gab es in der dualen Berufs- dustrie Pforzheim«. Nach einem Brandbom- ausbildung eine strikte Trennung von be- benangriff im Dezember 1944 musste der Un- trieblichem und schulischem Ausbildungs- terricht eingestellt werden. Im Februar 1945 bereich. In der Schule sollte die Th eorie ver- wurde das Schulgebäude völlig zerstört. mittelt werden und im Betrieb wurde die praktische Ausbildung vorgenommen. Auf- grund der zunehmenden Spezialisierung vie- Der Weg in die ler Pforzheimer Betriebe, war es jedoch im- zweite Selbständigkeit mer schwieriger, eine ganzheitliche betrieb- liche Werkstattausbildung zu gewährleisten. Unter der Leitung von P. P. Pfeiff er begann Mit dem Schuljahr 1920–1921 wurde daher bereits 1946 im alten Volksschulgebäude von der Werkstattunterricht in den Pfl ichtunter- Niefern der Neuaufb au. Direktion und Sekre- richt aufgenommen. tariat waren andernorts untergebracht. 1949 Neben den Teilzeitklassen wurde im zog man in die ehemalige Trautz’sche Ma- Schuljahr 1919/1920 zum ersten Mal an der schinenfabrik nach Dillstein. Durch einen Schule eine Klasse mit Vollzeitunterricht für Vertrag zwischen der Stadt Pforzheim und

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487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 492 03.12.2017 11:53:38 Schulgebäude an der St. Georgen-Steige (alle Bilder Fotoarchiv Goldschmiedeschule mit Uhrmacherschule Pforzheim)

dem Landesbezirk Baden wurde 1947 eine ge- Die zweite Selbständigkeit meinsame Leitung der Goldschmiedeschule und der Kunstgewerbeschule, die 1940 – wie Mit dem Umzug begann auch ein Wandel bereits erwähnt – in »Staatliche Meister- in der Ausbildung. Im praktischen Be- schule« umbenannt worden war, vereinbart. reich, der früher durch eine strenge Abfolge Mit dem 1.4.1952 wurden beide Schulen unter technischer und handwerklicher Übungen der Bezeichnung »Vereinigte Goldschmiede-, dominiert war, begann neben der Technik Kunst- und Werkschule Pforzheim« zusam- auch die Gestaltung stärker in den Vor- mengefasst. Die Leitung der Gesamtanstalt dergrund zu treten. Dies wurde durch die lag bei Prof. Egon Gutman. Die Abteilung in den 60er Jahren entstehende Schmuck- Goldschmiedeschule wurde von einem Fach- Avantgarde und durch Einfl üsse aus Kunst vorsteher betreut. Sie bestand aus den drei und Design gefördert. Diese Ansätze ver- Bereichen: Pfl ichtschule für Lehrlinge, Be- änderten das Schulleben und führten in rufsfachschule mit 45 Stunden Vollzeitun- der Folge auch zu einer Ausweitung des terricht sowie Kurse für Gästeschüler zur Bildungsangebotes mit der Einführung der Vorbereitung auf die Facharbeiter- und Ge- Meisterschule für Goldschmiede im Schul- sellenprüfung. Das Provisorium Trautz’sche jahr 1976/77 sowie der Einrichtung des Fabrik erwies sich als zunehmend unzuläng- »Berufskollegs für Formgebung – Schmuck lich. Am 20. Mai 1960 konnte schließlich und Gerät« (heute Berufskolleg für Design, der Schulneubau an der St. Georgen-Steige Schmuck und Gerät) und der »Fachschule nach den Plänen von Hans Schürle einge- für Schmuck und Gerät – Werkkunstschule« weiht werden. Am 1. Januar 1966 erfolgte die (heute Fachschule für Gestaltung, Fach- Trennung von der Kunstgewerbeschule und richtung Schmuck und Gerät) im Schul- die Goldschmiedeschule erhielt ihre erneute jahr 1988/89 wurden diesen Veränderungen Selbständigkeit. Rechnung getragen.

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487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 493 03.12.2017 11:53:38 Bereits in den Anfängen der Schule im Jahr mit Uhrmacherschule«. Im Schuljahr 2011/12 1768 wurde auch das Uhrmacherhandwerk erfuhr die Goldschmiedeschule mit Uhrma- gelehrt. Aufgrund der Aufl ösung von Unter- cherschule mit der Einführung des Berufskol- nehmen wurde die Ausbildung wenige Jahre legs für Produktdesign eine Erweiterung ihres später eingestellt und erst im Jahr 1926 im Bildungsangebotes im gestalterischen Bereich. Rahmen von Werkzeugmacherklassen wie- der unterrichtet. Im Frühjahr 1952 wurde in Pforzheim an der Gewerbeschule I eine 2-jährige Berufsfachschulklasse für Uhrma- cher eingeführt. Durch die Verlegung der Ab- teilung Uhren und Zeitmesstechnik von der Anschrift des Autors: Gewerbeschule I an die Goldschmiedeschule Dr. Michael Kiefer, Schulleiter Goldschmiedeschule mit im Januar 1973 waren Schmuck und Uhren Uhrmacherschule Pforzheim wieder unter einem Dach vereint. Dies führte St.-Georgen-Steige 65 zum einen zu einer Erweiterung des Ausbil- 75175 Pforzheim dungsspektrums und gleichzeitig zur Na- Michael.Kiefer @stadt-pforzheim.de menserweiterung in »Goldschmiedeschule

schmuck- museum pforzheim im reuchlin- haus Tel 91 25 ) ) ( 07231 - 28 39 69 07231 ( Fax www.technisches-museum.de

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487_Kiefer_Geschichte der Goldschmiedeschule.indd 494 04.12.2017 16:21:46 Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie im Wandel der Zeit

Eduard Vinaricky

Gold und Schmuck haben Pforzheim als Goldstadt geprägt und zum Weltruhm verholfen. Schmuckstücke aus Gold regen unsere Bewunderung an. Ausgangsstoff e für die Schmuckher- stellung sind Rohre, Drähte und Bleche aus Goldlegierungen. In mehreren Arbeitsschritten, in denen u. a. Graveure, Präger, Goldschmiede, Fasser und Polisseusen beteiligt sind, entstehen individuell gestaltete, kostbare Kleinode, wie Ringe, Ketten oder Broschen. Die Ideen dazu liefern die Schmuckzeichner. Das edle Schmuckstück dient der Besitzerin zur Zierde und wurde in früheren Zeiten nur an Sonn- und Feiertagen getragen. Es war ein Zeichen des Wohlstands und wurde später an die Nachkommen vererbt. Die Mode hat sich jedoch im Laufe der Zeit geändert und das vor Jahren gefertigte Schmuck- stück liegt nicht mehr im Trend. Der ideelle und auch materielle Wert bleibt jedoch weiterhin erhalten.

Die Schmuckindustrie im Wandel Sprache als Vermächtnis an die Gründerzeit gebräuchlich. Im Jahre 1767 gab Markgraf Karl Friedrich Seit der Gründung vor 250 Jahren hat die- von Baden den Anstoß, im Pforzheimer Wai- ser Industriezweig viele Höhen und Tiefen senhaus eine Manufaktur zur Erzeugung erlebt, politische und wirtschaft lichen Krisen von Uhren und feinen Stahlwaren zu errich- sowie zwei Weltkriege überstanden. Kurz vor ten.1 Er holte als Fachleute und Unterneh- Kriegsende, am 23. Februar 1945, brach dann mer den Franzosen Jean François Autran ein Inferno über Pforzheim herein. Die Stadt und die beiden Schweizer Amadée Christin* mit ihrer Industrie wurde durch einen verhee- und Jean Viala, die die ersten Manufakturen renden Luft angriff fast vollständig in Schutt gründeten. Sie engagierten aus dem Ausland und Asche gelegt. Mit unermüdlicher Tatkraft geeignete Ausbilder, um den Zöglingen des und Ausdauer wurde anschließend der Wie- Waisenhauses die Uhrenmontage und die deraufb au vorangetrieben und ein Neubeginn kunsthandwerkliche Art der Schmuckferti- gestartet. gung beizubringen. Dies war die Geburts- Die 1930er-Jahre waren eine Blütezeit der stunde der Pforzheimer Schmuck- und Uh- Schmuckindustrie.2 Die Zahl der Beschäf- renindustrie. Auch heute sind in diesem In- tigten erreichte im Jahre 1925 mit ca. 35 000 dustriezweig Fachausdrücke in französischer einen Höchstwert.3 Nach dem Rückgang in

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 495 03.12.2017 11:53:52 bietsreform in den 1970er-Jah- ren aus den eingegliederten Gemeinden dazukamen. Der Anteil der Beschäft igten in der Schmuckbranche sank da- durch bis auf wenige Prozent der Einwohner. Die einseitig auf die Schmuckherstellung ausgerichtete Industriestruk- tur hat sich aufgelöst; andere, teils verwandte Industrie- zweige gewinnen heute immer mehr an Bedeutung. Goldschmiedinnen bei der Arbeit (S1.19-6-R-67, O. Kropf, Stadtarchiv Pforzheim) Deutschland hat eine füh- rende Stellung als Schmuck- produzent verloren. Die Hälft e den Kriegsjahren und dem Zusammenbruch des am Markt gehandelten Goldes wird heute 1945 erholte sich die Schmuckindustrie wie- noch zu Schmuck verarbeitet, wobei China der. Aus bescheidenen Anfängen im Keller, und Indien die größten Märkte darstel- in einer Kammer im Dachgeschoss oder in len.6 Dennoch kommt 75 % des in Deutsch- beengten Nebenräumen entwickelten sich land hergestellten Schmuckes aus dem Raum kleine und mittlere Betriebe. Die Zahl der Pforzheim. Beschäft igten stieg in der Folgezeit stetig an und erreichte 1956 einen Höchstwert von ca. 12 800. Im Jahre 1966 zählte man noch 10 200 Gründe für den Rückgang Beschäft igte.4 Danach ging die Zahl weiter der Schmuckindustrie zurück. Derzeit fi nden ca. 2000 Beschäft igte inklusive der Zulieferer in dieser Branche Der Niedergang der Schmuckindustrie war Arbeit. vor allem auf die hohen Arbeitskosten zu- Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies Pforz- rückzuführen, die durch die jährlichen Lohn- heim knapp 60 000 Einwohner auf.5 Diese steigerungen begründet waren. Gleichzeitig Zahl stieg bis zum Beginn des 2. Weltkrieges nahm die Zahl der Konkurrenten aus Europa auf ca. 80 000 an. Damit erreichte die Anzahl und vor allem aus fernöstlichen Ländern zu, der Beschäft igten in der Schmuckindustrie die durch niedrige Preise Marktanteile ge- etwa die Hälft e der Einwohner. Der Wirt- wannen. Einige Hersteller versuchten durch schaft sraum Pforzheim war in dieser Zeit na- Fertigungsverlagerung in fernöstliche Länder hezu gänzlich abgeschirmt gegenüber bran- das Preisniveau zu senken. Die dort produ- chenfremden Industriezweigen. Unmittelbar zierte Ware wies teilweise große Mängel auf, nach dem Kriegsende war die Einwohner- so dass eine kostenintensive Nacharbeit not- zahl auf etwa 40 000 gesunken. Im Jahre 2015 wendig wurde. Nachgearbeitete Ware war zählte Pforzheim ca. 116 000 Einwohner ein- aber nicht immer mit den Vorstellungen der schließlich denjenigen, welche durch die Ge- Kunden vereinbar.

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 496 03.12.2017 11:53:53 Einige Firmen stellten ihre Produktion von Unternehmergeneration sowie die damit ein- hochedlen auf weniger edlen Schmuck um hergehende Erweiterung der Produktion und und konnten so einige Zeit überbrücken.7 Optimierung der innerbetrieblichen Organi- Wenn alle Bemühungen zu keinem positiven sationsstruktur waren nicht immer auf die Ergebnis führten und der Mut zum Neuauf- zweite oder dritte Generation übertragbar. bau außerhalb der Schmuckbranche fehlte, Aufgrund einer anderen Erziehung und Aus- stellten die Unternehmen die Produktion ein. bildung der Nachkommen fehlte der Antrieb, Um den Schaden möglichst gering zu halten, den ererbten Betrieb mit der gleichen Tatkraft verkauft en einige Fabrikbesitzer ihr Know- und Umsicht wie die Gründer fortzuführen. how sowie Werkzeuge, Maschinen und sons- Trotz aller Erschwernisse konnten sich ei- tige Einrichtungen. nige Firmen im internationalen Wettbewerb Der im Laufe der 70er Jahre begonnene behaupten, die vor allem edle Trauringe oder Anstieg des Goldpreises hatte weiterhin einen Luxuswaren wie kostbare Colliers herstellen. lähmenden Einfl uss auf die Konjunktur. Ge- Sie beliefern heute weltweit eine zahlungs- rade bei hochedlen Schmuckstücken haben kräft ige Klientel. die Höhe des Goldpreises und die Änderung im Modebewusstsein einen negativen Ein- fl uss auf das Kaufverhalten. Goldene Man- Die Krise in der Uhrenindustrie schettenknöpfe und Krawattennadeln waren für modebewusste Herren früher unverzicht- Die Uhrenindustrie hatte ihre Blütezeit9 in bare Accessoires, für die aber ab den 1980er- den Jahren 1900 bis 1914 und danach von Jahren kaum noch eine Nachfrage bestand. 1925 bis 1939. Vor allem Uhrgehäuse aus Im Januar 1970 lag der Goldpreis8 noch Gold, Silber und Doublé10, die in Pforzhei- bei einem Wert von 66 Euro je Unze (31,1 g). mer Betrieben mit hoher Präzision gefertigt Zehn Jahre danach, im Januar 1980, stieg die- wurden, waren auf dem Weltmarkt sehr be- ser steil auf einen Wert von 594 Euro je Unze gehrt.11 Die fertigen Uhrenrohwerke wurden an. Ein Grund dafür war, dass die Kopplung anfangs noch von ausländischen Firmen be- des Goldpreises mit dem US-Dollar aufgege- zogen. Später wurden nur noch die Einzelteile ben wurde. In den Jahren 1981 bis 2001 fi el zugekauft und in eigene Gehäuse eingebaut der Goldpreis wieder etwas und erreichte im (»remontiert«). Ab 1932 war man dann in der Juli 1999 mit einem Wert von 238 Euro je Lage, Uhrenrohwerke komplett herzustellen12. Unze einen historischen Tiefstand. Ab dem Zwischen den Weltkriegen setzten Kri- Jahre 2001 stieg der Goldpreis wieder ste- sen und Absatzprobleme der Uhrenproduk- tig an und überschritt 2010 die 1000-Euro- tion stark zu. Einige Betriebe wurden in den Marke. Auch die Schwankungen des Gold- Kriegsjahren verpfl ichtet, Zünderteile oder preises haben seit 2005 stark zugenommen. anderes Kriegsgerät herzustellen. Sie konnten Heute (16.5.2017) liegt der Goldpreis bei so wenigstens ihre Produktion aufrechterhal- 1140 Euro je Unze. ten. In manchen Familienbetrieben erwies sich Vor dem ersten Weltkrieg diente die Ta- auch das Generationsproblem als Risiko für schenuhr als Zeitmesser, nach 1920 kam dann den Fortbestand des Unternehmens. Der ra- die Armbanduhr auf. Sie galt häufi g als ein sche Aufstieg eines Betriebes in der ersten wertvolles Geschenk, das bei besonderen An-

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 497 03.12.2017 11:53:53 gelang es trotz großem Bemühen nicht, die Fertigungsabläufe so kostengünstig zu gestal- ten, dass sie preislich mit den fernöstlichen Anbietern annähernd mithalten konnten. Der Investitionsaufwand für die Umstellung der Produktion von Kleinserien auf automa- tisierte Fertigungsanlagen für Großserien war von einem Pforzheimer Unternehmer allein nicht aufzubringen. Bei der geringen Eigen- kapitaldecke der Unternehmen wären mög- lichst günstige Kredite dringend erforderlich, um Liquidationsengpässe zu vermeiden. Ein möglicher Ausweg durch einen Zusammen- schluss mehrerer Hersteller scheiterte aber trotz in Aussicht gestellter staatlicher Unter- stützung am Eigensinn der Unternehmer. So schafft e die einst erfolgreiche und lukrative Branche den Strukturwandel nicht; die tradi- tionsreiche Uhrenindustrie verlor dadurch an Uhrmacher bei der Arbeit (S1-19-7-R-9, O. Kropf, Stadtarchiv Pforzheim) Bedeutung. Die Quarzuhr, die im Wesentlichen aus ei- ner Batterie als Energiequelle, dem piezoelek- lässen z. B. Konfi rmation überreicht wurde. trischen Quarzkristall als Taktgeber, dem Für die Damen stellten die meist kleinen Uh- Schrittschaltmotor, der analogen Zeitan- ren Schmuckgegenstände dar, die mit edlen zeige sowie den elektronischen Schaltkreisen Armbändern verziert wurden. Heute schmü- besteht, passte nicht in das Berufsbild eines cken sich die Damen meist mit Uhren im Uhrmachers. Dieser war gewohnt, aus kleins- Herrenformat. ten Teilen ein feinmechanisches Uhrwerk mit Die kleinen und mittelständigen Uhrenfa- hoher Präzision herzustellen. Trotz des hohen briken standen untereinander im ständigen Aufwandes, der für die technischen Verbes- Wettbewerb, da das Produktsortiment sich serungen der mechanischen Uhr in der Fol- nur wenig voneinander unterschied. Den- gezeit betrieben wurde, gelang es nicht annä- noch erlebte die Pforzheimer Uhrenindustrie hernd, die Ganggenauigkeit einer Quarzuhr in den 1950er-Jahren ihre »goldene« Zeit. Bis zu erreichen. Anfang der 1970er-Jahre konnten die Pforz- Durch die Verwendung elektronischer heimer Uhrenbetriebe mit der technischen Bauelemente konnten bei der Quarzuhr Entwicklung mithalten und so ihre gute Posi- viele Einzelteile eingespart werden.14 Außer- tion auf dem Weltmarkt weiter festigen. Dies dem reichten für die automatisierte Montage änderte sich grundlegend mit dem Aufk om- meist angelernte Arbeitskräft e aus, so dass men der Quarzuhr.13 Obwohl einige Pforz- auf hochqualifi zierte Fachkräft e weitgehend heimer Unternehmen die Technologie zur verzichtet werden konnte. Zwar wird die me- Herstellung von Quarzuhren beherrschten, chanische Uhr heute immer noch hergestellt,

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 498 03.12.2017 11:53:53 meist aber von Liebhabern erworben, die ein Schmuckstücke erlernten. Das zeichnerische solches feinmechanisches Meisterwerk schät- Talent und die Kreativität konnten sie als De- zen und dafür auch bereit sind, einen höheren signer auch in anderen Branchen erfolgreich Preis zu zahlen. nutzen. Das Aufk ommen der Quarzuhr zeigte sich auch in der Zahl der Beschäft igten in der Pforzheimer Uhrenindustrie15. In der Phase Präzision des Wiederaufb aus im Jahre 1949 waren ca. 3500 Arbeitnehmer in der Uhrenbranche Unternehmer, die Weitblick, Mut und Risiko- beschäft igt. Diese Zahl erreichte 1960 mit bereitschaft zeigten, haben ihren Chancen ge- ca. 11 000 einen Höchstwert, der 1970 auf ca. nutzt und teilweise einen radikalen Struktur- 7000 zurückging. Ein weiterer Rückgang auf wandel in ihren Betrieben vollzogen. Bisher ca. 4000 Beschäft igte trat 1980 ein.16 Heute war man in den Betrieben gewohnt, Unikate weist dieser Industriezweig nur noch wenige oder Kleinserien herzustellen, jetzt musste hundert Beschäft igte auf. man sich u. U. auf Massenproduktion einstel- Die Quarzuhr gleicht zwar im Aussehen ei- len. Der Juwelier war bisher meist der Kunde, ner mechanischen Uhr, übertrifft diese aber jetzt war man Zulieferer von Industriebetrie- in der Genauigkeit der Zeitangabe, ist preis- ben. Das Edelmetall Gold wurde durch Bän- lich günstig und abgesehen vom Batterie- der aus Nichtedelmetall ersetzt. Daraus wer- wechsel wartungsfrei. Sie kann dem Modebe- den nun Produkte für andere Branchen her- wusstsein folgend in kürzeren Zeitabständen gestellt, in denen die Präzision einen hohen ausgewechselt werden. Stellenwert besitzt. Zu dieser Kategorie zählen u. a. die Dentaltechnik, Medizintechnik sowie die Elektrotechnik und Elektronik. Auswege aus der Krise Die Möglichkeit zur Diversifi zierung der Produktion und Erweiterung des Pro- Die Arbeit der Goldschmiede und Uhrmacher duktspektrums haben die Scheideanstalten war nicht eintönig. Da jedes neue Modell eine schon in der Zwischenkriegszeit erkannt und Herausforderung bei ihrer Herstellung dar- auf verschiedene Weise genutzt. stellt, waren die Kreativität und die Fähigkeit zum präzisen Arbeiten eine Herausforderung für alle an dem Fertigungsprozess Beteilig- Scheideanstalten ten. So entstanden Werkzeuge und Maschi- nen, die einerseits die Arbeit erleichterten und Das kostbare Gold aus Fertigungsrückstän- andererseits die Einhaltung der engen Maß- den, als »Gekrätz«17 bezeichnet, das bei den toleranzen ermöglichten. Im Pforzheimer verschiedenen Arbeitsprozessen anfi el, auf- Sprachgebrauch bezeichnete man diese krea- zuarbeiten und das wiedergewonnene Fein- tiven Köpfe als »Dift ele«, die die Gestaltung metall in den Kreislauf der Edelmetall- der Werkzeuge für die jeweilige Anwendung verarbeitung zurückzuführen, haben die austüft elten. Kreativ waren auch die Zeich- Schmuckmanufakturen frühzeitig erkannt. ner, die in mehrjährigen Kursen die verschie- Goldhaltiger Schrott tritt auch im privaten denen Zeichentechniken zur Gestaltung der Umfeld oder bei der industriellen Anwen-

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 499 03.12.2017 11:53:54 dung des Edelmetalls auf, z. B. bei vergoldeten in vielen Branchen hat in den letzten Jahr- Stanzteilen, nicht mehr benötigten elektroni- zehnten stark zugenommen. Die dafür be- schen Bauelementen, Brillengestellen, in der nötigten Stanzwerkzeuge sind so konzipiert, Uhren- und Dentalfertigung. Der Recycling- dass sie mehr als 10 Millionen Stanzoperati- Prozess erfolgt entsprechend dem angeliefer- onen mit höchster Präzision ausführen kön- ten Scheidgut nach verschiedenen Verfahren nen. Die Werkzeuge, meist in Modulbau- und unter strenger Einhaltung der Vorgaben weise erstellt, ermöglichen häufi g während des Umweltschutzes.18 des Stanzvorgangs eine Maß- und Funktions- Aus dem wiedergewonnenen Sekundär- kontrolle.19 Durch die Kombination von Stanz- gold wurde auf schmelztechnischem Wege und Spritztechnik werden in einem automati- die gewünschte Legierungszusammenset- sierten Fertigungsprozess die gestanzten Teile zung hergestellt und zu Schmuckhalbzeugen als eine funktionale Baugruppe in Kunst- weiterverarbeitet. Die anfänglich nur für die stoff eingebettet.20 Die aus einem Kunststoff - Schmuckfertigung hergestellten Halbzeuge Metall-Verbund bestehende Baugruppe stellt wurden danach auch in unterschiedlicher Le- dabei das Herzstück eines Schalters z. B. im gierungszusammensetzung für die Herstel- Bordnetz eines Automobils dar. lung von Dentalerzeugnissen, Brillengestellen Um ein zuverlässiges Öff nen und Schließen und elektrischen Kontakten benötigt. elektronischer Stromkreise in den Baugrup- pen zu gewährleisten, sind die Stanzteile mit einer dünnen, galvanisch hergestellten Gold- Präzisionsstanztechnik für schicht versehen. Diese Goldschicht ist auf die elektromechanische Bauteile Bereiche beschränkt, an denen die Berührung der beiden Kontaktpartner stattfi ndet, und ist, Der Bedarf an feinen Dreh- und Stanzteilen je nach Anwendung, lediglich wenige Zehn- mit hoher Maßgenauigkeit für Anwendungen tel Mikrometer dünn. Der sparsame Einsatz des teuren Edelmetalls und die Kontrolle der Schichtdicke während des Fertigungspro- zesses sind Voraussetzungen für eine kostengünstige Her- stellung.21 Die auf die jewei- ligen Anwendungen »maßge- schneiderten« Beschichtungs- anlagen werden überwiegend im Pforzheimer Raum entwi- ckelt und hergestellt. In der Elektronik wird ca. 9 % des gehandelten Goldes eingesetzt.22 Möglicherweise Kunststoff-Metall-Verbundteil für eine Doppelklappensteuerung erhöht sich künft ig dieser An- im Automobil, dargestellt in Fertigungsschritten teil durch Anwendungen im (Foto: Fa. DODUCO) Bereich der Nanotechnik.

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 500 03.12.2017 11:53:54 Präzision in der terischen Gesichtspunkten leiten lassen, viel- Dental- und Medizintechnik mehr müssen auch betriebswirtschaft liche Aspekte wie Rentabilität, benötigte Arbeits- Ausgehend von der Schmuckherstellung ha- zeit und Fertigungskosten berücksichtigt ben einige Firmen einen Wechsel zur Dental- werden. Heute entwerfen die Designer auch bzw. Medizintechnik vollzogen, für die gute modische Kleidungsstücke mit den dazuge- Zukunft saussichten prognostiziert werden, hörigen Accessoires, moderne Gebrauchsge- oder haben neue Firmen in diesem Industrie- genstände sowie futuristisch anmutende Ka- zweig gegründet. Sie gehören heute zu den rosserien von Automobilen. weltweit führenden Anbietern von hochpräzi- Die Fakultät für Gestaltung der Pforzhei- sen Produkten für die moderne Kieferortho- mer Hochschule mit ihren Sparten Industrial pädie, oder für Produkte der Medizintechnik Design und Mode festigt den Ruf Pforzheims aus Formgedächtnislegierungen23, wie hoch- als Zentrum für Design und Innovation. präzise Gefäßimplantate, Herzklappenrah- men für kathetergestützte Herzoperationen und Stents für Herzkranzgefäße. Goldstadt Pforzheim, Stadt der Präzision und das Design

Präzision bei der Herstellung von Gold und Schmuck sowie Präzision und me- flexiblen metallischen Elementen chanische Uhren sind jeweils Begriff e, die sich ergänzen und zusammengehören. Das De- Der in Pforzheim ansässige Weltmarktfüh- sign verleiht dem Schmuckstück und der Uhr rer auf dem Gebiet der Metallschläuche hatte je nach Wunsch ein schlichtes oder elegan- ebenfalls seine Wurzeln in der Schmuck- tes Aussehen; die Präzision sichert den tech- industrie. Bereits vor 100 Jahren wurde die nischen Produkten die Funktionsfähigkeit. Produktion von Schmuckwaren aufgegeben Die neuen Wahrzeichen der Stadt Pforzheim, und die Fertigung auf fl exible metallische nämlich Präzision und Design, die heute die Elemente ausgerichtet. Heute werden Metall- Goldstadt schmücken, sind jedoch ohne die schläuche in vielen Branchen eingesetzt, z. B. aus der traditionellen Schmuck- und Uhren- im Automobil, aber auch in der Luft - und fertigung gewonnenen Fähigkeiten undenkbar. Raumfahrt. Die Stanztechnik mit ihren Produkten ho- her Präzision und die Anlagen zur funktions- gerechten galvanischen Edelmetallbeschich- Design für viele Bereiche tung sind auf das Geschick und die Kreativität der ehemals in der Schmuck- und Uhrenin- Die Wurzeln für Gestaltung und Design lie- dustrie Beschäft igten zurückzuführen. In den gen in der Pforzheimer Goldschmiedeschule letzten Jahrzehnten hat sich die Stanztech- begründet. Dort werden seit vielen Jahren nik im Raum Pforzheim konzentriert. Man Zeichner ausgebildet, die mit ihrer Kreativi- spricht daher von einem »Silicon Valley« der tät Schmuck und Uhren nach den neuesten Stanztechnik und einem europäischen Bal- Modetrends gestalten. Der Designer darf sich lungszentrum rund um das Stanzen und Be- bei seiner Arbeit keineswegs nur von gestal- schichten.

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 501 03.12.2017 11:53:54 Die Verbindung von Wissenschaft und Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie e. V. Wirtschaft hat für die Stanztechnik eine be- Pforzheim, S. 150. 10 Doublé: ein durch Aufschweißen (Warmpress- sondere Bedeutung. So entstand an der Fach- schweißen) oder -walzen (Walzplattieren) herge- hochschule Pforzheim ein Lehrstuhl für stellter Zweischichtwerkstoff , wobei die Oberseite Stanztechnik, an dem qualifi zierte Fachkräft e aus Gold und die Unterseite aus Silber oder einem ausgebildet und neue Fertigungstechniken er- Nichtedelmetall z. B. »Tompak«, einer Kupfer- Zink-Legierung mit 15 Gew.-% Zink, Rest Kup- dacht werden. Zudem hat sich Pforzheim zu fer, besteht. Dabei entsteht in der Berührungsfl ä- einem Messestandort für die Stanztechnik che der beiden Werkstoff e eine unlösbare, stoff - entwickelt, an dem Produkte und Technolo- schlüssige Verbindung. gien rund um das Stanzen und Beschichten 11 Philipp Weber: Die Armbanduhren-Industrie in Deutschland. In: Deutsche Uhrmacher-Zeitung. präsentiert werden. Die Besucher kommen Jg. 57, Nr. 48/1933, S. 618 f. von weit her, um sich die Messeneuheiten an- 12 GLA 237/35435. zusehen und Erfahrungen auszutauschen. 13 Ralf J. F. Kieselbach: Zeit und Präzision – Arm- Das Design beschränkt sich heute nicht nur banduhren aus Pforzheim von den Anfängen auf Schmuck und Uhren, sondern schließt u. a. bis heute. Untitled Verlag und Agentur GmbH & Co. KG, Hamburg 2017, S. 22. industrielle Produkte und Gebrauchsgegen- 14 Vgl. Pieper, Pforzheimer-Uhrenindustrie, S. 322. stände ein und dient als Spiegelbild der Mode. 15 Vgl. Pieper, Pforzheimer-Uhrenindustrie, S. 310. 16 Vgl. Pieper, Pforzheimer-Uhrenindustrie, S. 363. 17 Gekrätz: Edelmetallhaltiges Scheidgut, das mit Anmerkungen: organischen oder mineralischen Stoff en ver- mischt ist, darunter auch Kehrricht aus Juwelier- 1 Erich Maschke: Die Pforzheimer Schmuck- und werkstätten und Dentallabors. Uhrenindustrie – Beiträge zur Wirtschaft sge- 18 DODUCO: Datenbuch der elektrischen Kontakte. schichte der Stadt Pforzheim. Pforzheim 1967, Stieglitz Verlag, Mühlacker 2012, S. 321 f. S. 81 ff . 19 Vgl. DODUCO, S. 174. * Amadée Christin taucht in den Quellen auch als 20 Vgl. DODUCO, S. 315 ff . Amédé Christin, Amédée Christin und A. Chris- 21 Jochen Heber: Selektivgalvanisierung. In: E. Vi- tian auf. (Anmerkung der Redaktion) naricky (Hrsg.), Elektrische Kontakte, Werkstoff e 2 Wolfgang Pieper: Geschichte der Pforzheimer und Anwendungen. S. 478 ff , Springer-Verlag, Schmuckindustrie. Casimir Katz Verlag, Gerns- Berlin, 2016, S. 478. bach 1989, S. 228. 22 World Gold Council: Demand for Gold in Tech- 3 Beschäft igte: Die Angabe von Beschäft igtenzah- nology. len in der Schmuckindustrie ist mit Vorbehalt zu 23 Formgedächtnislegierungen: Nickel-Titan-Legie- betrachten, da diese erst ab einer unterschiedli- rungen, die über ein thermisches Formgedächt- chen Betriebsgröße erfasst wurden und teilweise nis verfügen. Sie sind in der Lage, nach einer plas- Beschäft igte aus Zulieferbetrieben enthalten. Die tischen Verformung durch Erwärmung wieder Angaben sollen vor allem den Trend zeigen. ihre Ursprungsform anzunehmen. 4 Vgl. Pieper, Pforzheimer-Schmuckindustrie, S. 280. 5 http://www.pforzheim.de/Einwohnerprognose 6 World Gold Council: Demand for Gold in Jewel- lery. 7 Vgl. Pieper, Pforzheimer-Schmuckindustrie Anschrift des Autors: S. 269. Dr. Eduard Vinaricky 8 http://www.goldpreis.net/goldpreisentwicklung Walther-Rathenau-Straße 35 9 Wolfgang Pieper: Geschichte der Pforzheimer 75180 Pforzheim Uhrenindustrie: 1767–1992, Hrsg. Gesellschaft [email protected] zur Förderung des Technischen Museums der

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495_Vinaricky_Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie.indd 502 03.12.2017 11:53:54 Die Rassler und ihr Umfeld Eine Epoche in der Geschichte der Pforzheimer Schmuckindustrie

Eduard Vinaricky

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders aber in der ersten Hälft e des letzten Jahrhunderts konnten die Schmuckhersteller die benötigten Arbeitskräft e nicht mehr allein aus der Bevöl- kerung der Stadt Pforzheim rekrutieren. Um das gestiegene Arbeitsvolumen zu bewältigen, waren die Unternehmen auf Arbeiter aus den umliegenden Gemeinden angewiesen. Diese Bijouterie-Arbeiter pendelten in einem teilweise mehrstündigen Fußmarsch morgens zur Ar- beitsstätte und nach einem 11-stündigen Arbeitstag abends wieder in ihren Heimatort zurück. Sie prägten durch ihr Erscheinen das Stadtbild und verhalfen durch ihre Arbeit der Pforzhei- mer Schmuckindustrie zu ihren Weltruhm.

Die Rassler-Bewegung teuer war und nur ein begrenztes Platzangebot anbieten konnte.4 In solchen Fällen, in denen Die Bijouterie-Arbeiter, die täglich aus dem die Wegstrecke zum Arbeitsplatz und somit der Pforzheimer Umland zur Arbeit in die Schmuck- Zeitaufwand zu groß war, übernachteten die Ar- betrieben kamen, trugen mit Eisennägeln be- beiter in bescheidenen Behausungen im Stadtge- schlagene Schuhe und hinterließen mit ihrer biet. Der weite Weg hin zur Arbeitsstätte wurde hastigen Gangart auf dem Kopfsteinpfl aster der am Montag früh und die Rückkehr in den Hei- Stadt ein rasselndes Geräusch. Man nannte sie matort am Samstagnachmittag angetreten.5 daher im Pforzheimer Sprachgebrauch »Rass- Im Zug der Pendler waren auch Frauen ge- ler«1,2. Der Nagelbeschlag diente dazu, das duldet, die beim eintönigen Marschieren die Schuhwerk strapazierfähiger zu machen und Zeit beispielsweise auch für das Stricken nutz- so eine häufi ge Neubesohlung zu vermeiden. ten. Lehrlinge (Auszubildende), auch »Stift e« In den Zwischenkriegsjahren stammte etwa genannt, durft en sich nicht in die Gruppe der die Hälft e der Arbeiterschaft aus den umlie- Pendler einordnen. Das Hierarchieempfi nden genden Gemeinden. Bei ihrem Marsch zur Ar- und das Selbstbewusstsein der Bijouterie-Ar- beitsstätte hatten die Pendler Entfernungen zu- beiter ließen dies nicht zu. Sie bestanden auf ei- rückzulegen, die für eine einfache Strecke oft ner räumlichen Distanz zu den jüngeren Lehr- mehrere Stunden beanspruchte.3 Für weiter lingen. Diese folgten dann in einem achtungs- entlegene Orte, beispielsweise in den Flusstä- gebietenden Abstand hinter der Pendlergruppe. lern der Enz und der Nagold gab es Eisenbahn- Die Rassler sind im Bewusstsein der Pforz- verbindungen. Um die Haltestellen zu erreichen, heim Bürger fest verankert. Das Echo, das sie war häufi g auch ein Zeitaufwand von ca. einer durch ihr Erscheinen auslösten, spiegelt sich Stunde nötig. Von manchen Orten aus konnte im nachfolgenden Gedicht wieder, das 1938 man den Postbus benutzen, der allerdings recht von Wilhelm Hagenmeyer verfasst wurde.6

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 503 03.12.2017 11:54:11 Sich zu ihrem Arbeitsziele Nach der Goldstadt aufgemacht. Hörst Du ihre kleinen Kannen Mit der Suppe für das Mahl Klappern durch die hohen Tannen? Siehst du, wie von Bärental Und von Wurmberg durch die Straßen Klingeling … die Räder rasen? Hurtig, hurtig nach der Stadt, Wo der Goldschmied Arbeit hat. Selbst die liebe Einsenbahn Schließt sich diesem Eifer an. Sie befördert mit Vergnügen Tausende in ihren Zügen Früh am Morgen in die Stadt. Auch wer gute Gaben hat Kann es beinah’ nicht beschreiben, Welch ein Leben und ein Treiben Hier sich in den Straßen tummelt, Schiebend, drängt und drückt und brum- melt. Wie in einem Bienenhaus Bijouterie-Arbeiter (1905) während der Mittagspause im Stadtzentrum Sieht es nun im Stadtbild aus. (S1-8-W-29-R-63, G. Kraft, Stadtarchiv Pforzheim) Frauen trippeln durch die Gassen, Männer rasseln durch die Stadt, Welche all die Menschenmassen Die Rassler Täglich zu erwarten hat. In dem Wald die Winde pfeifen, Kapo, Schmotz und Polisseuse, Graue Regentropfen streifen Fasser, Presser und Regleure, Durch das dunkle Tannengrün. Goldschmied, Stift , Gehäusedrücker, Alle Straßen liegen fi nster, Rahmenmacher für die Zwicker, Selbst der gelbe Besenginster Bürofräulein, Fabrikant Ist am Wege nicht zu sehn. Und wie alle sie genannt Nirgends Menschen in der Runde. Sputen sich vom Morgenbett Zu der sechsten Morgenstunde Frisch und munter an ihr Brett. Stumm die Uhrenzeiger gehen. Doch nun knistert es am Wege. Oben, hinter Engelsbrand. Das Wesen der Arbeiterschaft Auch im Würmtal, an dem Stege. Kommt jetzt einer angerannt. Die Pforzheimer Schmuckindustrie setzte sich Und dann sind es plötzlich viele zur damaligen Zeit meist aus einer Vielzahl Raßler, die in dunkler Nacht kleiner und kleinster Betriebe zusammen.

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 504 03.12.2017 11:54:12 Diese waren bestrebt, durch einen hohen Spe- ser, Guillocheure, Steinschleifer, Etuimacher, zialisierungsgrad sich auf kleine, überschau- Werkzeugmacher u. a. Für die Herstellung bare Fertigungsbereiche oder auf die Herstel- von fi ligranen Schmuckstücken bedarf es be- lung von Nischenprodukten zu konzentrieren sonderer Fertigkeiten, die nur Spezialisten und dabei ein möglichst umfassendes Know- ausführen konnten. Solche Fachkräft e sind how zu erreichen. Dadurch war es möglich, die Säulen des Betriebs und kaum zu ersetzen. gegenüber größeren Betrieben zu bestehen. Die Entlohnung war je nach Tätigkeit un- Auch in großen Unternehmen mit breiter terschiedlich, Spitzenlöhne erzielten dabei Produktpalette war zunehmend ein Trend die Graveure. Bei genügsamem Lebenswan- zur arbeitsteiligen Produktion im industriel- del konnte ein Teil des Lohnes gespart wer- len Maßstab zu erkennen. den. Die im Laufe der Jahre angehäuft en Er- Diese Spezialisierung führte auch zur Ein- sparnisse reichten mitunter für den Bau eines grenzung des traditionellen Berufsbildes ei- Häuschens. Diesen Besitz in seiner spärlichen nes Goldschmieds, der ursprünglich alle we- Freizeit zu erhalten und zu pfl egen, war nur sentlichen Produktionsschritte bei der Ferti- morgens vor dem Marsch zur Arbeitsstätte gung eines Schmuckstückes selbst ausführte. oder an den Wochenenden möglich. Der Bijouterie-Arbeiter oder Goldschmied Die besondere Eigenart des land- und haus- war ein Spezialist auf seinem Fachgebiet. Das besitzenden, zur Arbeitsstätte pendelnden hatte Auswirkungen auf seine Mobilität; denn Bijouterie-Arbeiters – man nannte ihn daher standortbezogene Krisen konnte er kaum auch »Goldschmiedsbäuerle«8 – zeigte sich in durch Umzug in einem anderen Wirtschaft s- zweierlei Hinsicht. Einerseits trug der Land- raum umgehen, da als Schmuckhochburgen besitz zu seiner Sesshaft igkeit bei, andererseits nur noch die Städte Hanau und Schwäbisch bescherte er ihm ein bescheidenes Zusatzein- Gmünd sowie Idar-Oberstein in Frage kamen. kommen und diente in wirtschaft lichen Kri- Pforzheim stellte unter diesen Schmuckstäd- senzeiten zumindest als Ernährungsgrund- ten den größten Arbeitsmarkt dar. Die Sess- lage. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch haft igkeit der Arbeiter, die häufi g über einen der saisonale Charakter der Schmuckindus- eigenen Garten und auch Äcker verfügten, trie und die sich daraus ergebende schwan- zeigte sich auch darin, dass vielfach der Vater kende Beschäft igungslage. und der Großvater den gleichen Beruf ausüb- In den 1950er Jahren nahm das Interesse an ten und so gewisse handwerklichen Fertigkei- der Landwirtschaft allmählich ab. Der Gold- ten und auch Know-how an die Nachkommen schmied konzentrierte sich auf seinen Beruf vererbt wurden.7 Die lückenlose Übertragung und betrachtete seine Arbeit in der Landwirt- von speziellem, in vielen Jahren angehäuft em schaft fortan eher als Hobby. Fachwissen an jüngere Arbeitskollegen er- folgte meist nur zögerlich und in begrenztem Umfang. Die Polisseusen Die Vielfalt an Schmuckwaren, die im Laufe der Zeit entstand, führte immer mehr Eine typische Arbeit für Frauen war das Polie- zu einer Arbeitsauft eilung. Neben dem tra- ren von Schmuckstücken. Die Polisseuse, ein ditionellen Beruf des Goldschmieds entstan- zu der damaligen Zeit in der Schmuckindust- den weitere Berufszweige, wie Graveure, Fas- rie zusammen mit der Kettenmacherin tradi-

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 505 03.12.2017 11:54:12 genständen aus »Doublé«11 aufgrund der häufi g sehr dünnen Goldaufl age durchaus diffi zil und bedurft e einer langjährigen Erfahrung. Der »Doublé«-Schmuck galt wegen seines gerin- geren Goldanteils als Billigschmuck, den sich breitere Bevölkerungsschichten als eine Art Modeschmuck leisten konnten.12 In der Zwi- schenkriegszeit zählte der »Doublé«-Schmuck zur bedeutendsten Warengruppe.13 Etwa die Hälft e der Arbeiter war in diesem Produkti- onszweig beschäft igt.14 Da die »Doublé«-Halb- zeuge in Form von Drähten, Bändern und Ble- chen sich wie massive Goldlegierungen verar- beiten ließen, eigneten sich diese auch für eine industrielle Massenproduktion. Das nachfolgende Gedicht, das im Pforz- heimer Dialekt verfasst ist, der für manchen wohl nicht ganz verständlich ist, vermag einen Polisseusen bei der Arbeit Hinweis auf das durchaus vorhandene Selbst- (S1-19-6-R-8, O. Kropf, Stadtarchiv Pforzheim) bewusstsein der Polisseuse und ihre Rolle im gesellschaft lichen Leben einer Schmuckstadt zu geben.15 tioneller Frauenberuf, hatte die Aufgabe, die Schmuckstücke vor der Auslieferung zu reini- Mei nob’ls Polissösle gen und ihnen den typischen Goldglanz zu ver- A Polissösle isch mei Schätzle, leihen. Diese Tätigkeit wurde mit maschinell a ganz adretts, poussierlichs Deng, betriebenen Bürsten ausgeführt. Ein Abzug i sag Euch, o des isch a Frätzle, sorgte dafür, dass die abgeriebenen kostbaren wenn die m’r pfeift , no haißt’s; jetzt Edelmetallfl itter und -stäube aufgefangen und schpreng! durch Scheidprozesse wieder dem Edelmetall- Ja, ja sie führt a schtrengs Kommando, kreislauf zugeführt werden konnten.9 on i muß horche druff uf’s Wort, Als Polisseusen wurden hauptsächlich aus- sie isch sonscht awer ganz scharmando, gebildete Kräft e eingesetzt, die eine mehrjäh- i geh ganz gern als mit’r fort. rige Lehrzeit erfolgreich abgeschlossen hatten.10 Hm, wenn die siesch em Sonntigskleidle, Die Dauer der Lehrzeit lässt sich mit ihrer ver- e Hitle uff ’m Köpfl e druff , antwortungsvollen Tätigkeit begründen. Das on seidne Schtrempf hat’s a des Maidle, von ihnen bearbeitete Schmuckstück hatte be- on Lackschuh gar mit Schlipfl e druff . reits sämtliche Produktionsschritte durchlau- Sie kommt daher schtolz wie a Gräfe, fen und stellte somit einen hohen Arbeitswert schtreckt’s Näsle keck zum G’sichtle naus, dar. Bei einer fehlerhaft en Bearbeitung konnte on Löckle hat’s fei an de Schläfe, daher ein großer fi nanzieller Verlust auft reten. on’s Göschle schpitzt se wie a Maus. Außerdem war das Polieren von Schmuckge- Nei nei, m’r sott des gar net denke,

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 506 03.12.2017 11:54:12 daß des a Polissösle isch, den Weltkriegen ein weiteres strukturelles ’s tut ihre Füßle fascht verrenke, Merkmal der Schmuckindustrie darstellt. Der so graziös, daß d’gschmisse bisch. Ausbau der Heimarbeit und dadurch eine Ab- Doch wenn se so hoch trägt’s Köpfl e, schwächung der Pendlerbewegung ermöglicht on isch halt no so graziös. ein typisches Kennzeichen der Schmuckindus- So bleibt’s halt ewe doch mei Schätzle trie, nämlich die Herstellung kleiner, handli- On isch doch blöß a Polissös. cher Produkte.17 Zudem ermöglicht die Heim- arbeit dem Fabrikinhaber, konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. So konnten bei Die Lehrlinge (Auszubildende) schlechter Auft ragslage Arbeiten, für die sich die Anstellung einer zusätzlichen Fachkraft Die Goldschmiedelehrlinge absolvierten in den nicht lohnte, nach außen vergeben werden. Ge- Betrieben bis in die 1930er-Jahre eine 6-jährige rade für kleinere Schmuckbetriebe bot sich so Ausbildung, die danach auf 4 und letztlich auf die Möglichkeit, durch hohe Flexibilität gegen 3 Jahre verkürzt wurde.16 Dort erlernten sie die größere Wettbewerber bestehen zu können.18 handwerklichen Fertigkeiten, die für die ver- Allerdings musste zwischen dem Unternehmer schiedenen Arbeitsprozesse notwendig waren. und dem Heimarbeiter ein großes Vertrauens- Das mehr theoretische Wissen über die Werk- verhältnis bestehen, da die zu verarbeitenden stoff e und die Prozessabläufe wurde ihnen in Rohstoff e, meist Edelmetalle, aber auch die bei der Goldschmiedeschule beigebracht, die ei- ihrer Weiterverarbeitung entstehenden Abfälle gens für die Bedürfnisse der Schmuckindustrie sehr wertvoll waren. Im Jahre 1942 wurden ca. konzipiert wurde. Gegen Ende ihrer Lehrzeit 5000 Heimarbeiter registriert.19 wurden sie entsprechend ihrer Eignung in die industrielle Fertigung eingegliedert und stellten so für die Unternehmer billige Arbeitskräft e dar. Wege zur Firmengründung Für begabte Lehrlinge ergab sich nach dem erfolgreichen Abschluss der Goldschmiede- Das handwerkliche Geschick und die genaue schule die Möglichkeit, sich auf der Kunstge- Kenntnis der Produktionsabläufe führten bei werbeschule weiterzubilden und die verschie- denen Zeichentechniken und auch Kunstge- schichtliches zu erlernen. Absolventen dieser Schule waren prädestiniert, als Zeichner für die Gestaltung der Schmuckstücke oder als Kabinettmeister für die organisatorische Ab- wicklung eine gehobene Anstellung zu fi nden.

Die Heimarbeit

Eng verknüpft mit dem Pendlerwesen war auch die Heimarbeit in Pforzheim und den umlie- Goldschmiedebrett (Heimatmuseum Kämpfelbach, genden Gemeinden, die in der Zeit zwischen Foto: B. Wörle)

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 507 03.12.2017 11:54:12 manchen Bijouterie-Facharbeitern zur Grün- den ursprünglichen Goldglanz bei. Da reines dung eines eigenen Unternehmens. Ihr tech- Gold sehr weich und damit wenig abriebfest nisches Know-how, das sie durch eine lang- ist, eignet es sich nicht für die Verwendung jährige Tätigkeit erworben haben, ließen sie als Schmuckstück. Für die Herstellung von den Sprung ins Unternehmertum wagen. Al- Schmuckwaren werden vornehmlich schmelz- lerdings fehlten ihnen oft mals das kaufmänni- technisch erzeugte Goldlegierungen eingesetzt. sche Wissen und die Kenntnis über die Finan- Die Legierungspartner bestehen aus Edelme- zen, um konjunkturelle Flauten weitgehend tallen, wie Palladium oder Silber, oder aus Un- schadenfrei zu überstehen. Vielfach schlossen edelmetallen, wie Kupfer oder Nickel. Die Le- sie sich mit einem Kaufmann zusammen, der gierungszusätze erhöhen u. a. die mechanische die innerbetriebliche Organisation übernahm Festigkeit und die Härte und begünstigen so und darüber hinaus auch mit den Mechanis- die Verarbeitbarkeit. Häufi g eingesetzt werden men der Märkte vertraut war. Weiterhin besaß Goldlegierungen mit einem Feingehalt von 14 er gute Kontakte zu den Kunden, den Liefe- oder 18 Karat, was einem Gewichtsanteil von ranten und den Geldgebern. Häufi g verfügte 585/000 (Tausendteile) bzw. 750/000 entspricht. er über gute Fremdsprachenkenntnisse, die Je höher der Goldanteil ist, umso edler und ihm bei Besuchen von Kunden in Europa und wertvoller ist das daraus gefertigte Schmuck- Übersee oder auf Messen und Ausstellungen stück. Mit der Wahl der Legierungspartner nützlich waren und er so mit neuen Auft rägen lassen sich unterschiedliche Farbschattierun- nach Hause kommen konnte. gen erzeugen, die dem jeweiligen Modetrend Für die Unternehmensgründung bedurft e angepasst sind. Die gebräuchlichen Farbnuan- es einer relativ geringen Kapitalzufuhr. Zur cen sind Rotgold, mit Legierungszusätzen aus Grundausrüstung genügten meist ein Gold- Kupfer und geringen Anteilen von Silber, Gelb- schmiedebrett, verschiedene Werkzeuge und gold mit Silber und Kupfer sowie Weißgold mit ein kleiner Raum. So konnte der »Dachstübel- Palladium und Nickel. fabrikant«, auch »Kramponer«20 genannt, mit seiner Arbeit beginnen. Die Schmuckindustrie in der Nachkriegszeit Der Rohstoff Gold Am 23. Februar 1945 wurde bei einem bri- Als Rohstoff für die Fertigung von Schmuck- tischen Luft angriff Pforzheim in Schutt und stücken diente vor allem das Edelmetall Gold, Asche gelegt. Etwa 80 % des Stadtgebietes in geringerem Umfang auch Silber.21 Andere wurde zerstört, darunter auch die meisten Edelmetalle, wie die Metalle der Platingruppe, Schmuckbetriebe. Nach Kriegsende mach- fi nden in der Produktion von Schmuckwaren ten sich die verfügbaren Arbeitskräft e an den kaum Verwendung, es sei denn bei entspre- Wiederaufb au der Schmuckbetriebe. Weitere chenden Modetrends. neugegründete Betriebe kamen dazu. Dies Gold ist das beständigste aller Edelmetalle. führte in den 60er-Jahren zu einer erneuten Es bildet bei Einwirkung einer korrosiven Blüte der Schmuckindustrie. Umweltatmosphäre keine Oxid- oder Fremd- Die verbesserte Infrastruktur im Bahn- und schichten auf der Oberfl äche und behält so Busverkehr war in den 1950er-Jahren für die

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 508 03.12.2017 11:54:13 zur wirtschaft lichen Geschichte der Stadt Pforz- heim. Pforzheim 1967, S. 215 ff . 5 Vgl. Jourdan, S. 47. 6 Bärbel Rudin (Hrsg.): Die Rassler. Pforzheim 1982, S. 80. 7 Walter Eise: Die Schmuckwarenindustrie von Pforzheim und Gablonz a. d. Neiße in ihrem wirtschaft lichen Aufb au. Diss. Heidelberg 1933, S. 36 f. 8 Vgl. Großherzögliche Badische Fabrikinspektion. S. 65. Rassler-Skulptur von Prof. Fritz Theilmann 9 Vgl. Jourdan, S. 47. (Foto: B. Wörle) 10 W. G. Simon: Die Erhaltung und Erziehung des Pforzheimer Bijouteriearbeiterstammes. Diss. Köln 1926, S.30. Pendler ein willkommener Anlass, den er- 11 Doublé: ein durch Aufschweißen (Warmpress- forderlichen Zeitaufwand für ihren täglichen schweißen) oder -walzen (Walzplattieren) herge- Weg zur Arbeitsstätte deutlich abzukürzen. stellter Zweischichtwerkstoff , wobei die Oberseite aus Gold und die Unterseite aus Silber oder einem Infolgedessen nahm die Rasslerbewegung Unedelmetall z. B. »Tompak«, einer Kupfer-Zink- ab und kam bald danach zum Erliegen. Mit Legierung mit 85 Gew.-% Kupfer und 15 Gew.-% dem allmählichen Verschwinden der Rassler Zink, besteht. Dabei entsteht in der Berührungs- endete eine wichtige Epoche in der Pforzhei- fl äche der beiden Werkstoff e eine unlösbare, stoff schlüssige Verbindung. mer Schmuckindustrie. Die Rassler trugen 12 Vgl. Pieper: Pforzheimer Schmuckindustrie. dazu bei, dass aus der badischen Provinzstadt Pforzheim 1989, S. 247 ff . Pforzheim die Goldstadt mit Weltruhm wurde. 13 Arbeitgeberverband, Jg 1928, S. 115. Ihnen zu Ehren wurde 1982 in Pforzheim 14 Arbeitgeberverband, Jg 1933, S. 76. 15 Pforzheimer Anzeiger: Der beste Goldschmiede- ein in Bronze gegossenes Denkmal gewidmet, witz. Pforzheim 1936, S. 28. das unweit vom Zentrum der Stadt zu bewun- 16 Aloys Stolz: Geschichte der Stadt Pforzheim. dern ist. Der Künstler Prof. Fritz Th eilmann Pforzheim 1901, S. 250. stellt eine Rasslergruppe aus Kieselbronn, ei- 17 Deutscher Metallarbeitgeberverband (Hrsg.): Die Heimarbeit in der Eisen- und Metallindustrie. ner Nachbargemeinde von Pforzheim, dar. 1926, S. 50. 18 Vgl. Enquete, S. 73. Anmerkungen 19 Vgl. GLA: 237/28813. 20 Julius Wernsdorf: Das kapitalistische Konzentra- 1 Renate Schostak: In: B. Rudin (Hrsg.): Zwischen tionsgesetz in der Pforzheimer Bijouterieindust- Acker und Werkbrett – Pforzheims ländliche rie. Diss. Freiburg 1899, S. 76 f. Schmuckwarenarbeiter von einst. Pforzheim 21 Vgl. Eise, S. 13. 1982, S. 10 f. 2 Wolfgang Pieper: Geschichte der Pforzheimer Schmuckindustrie. Casimir Katz Verlag, Gerns- bach 1989, S. 65. 3 Kurt Jourdan: Auslese und Anpassung der Pforz- heimer Bijouteriearbeiter. Pforzheim 1916, S. 99. Anschrift des Autors: 4 Friedrich Holtzmann: Die Pforzheimer Schmuck- Dr. Eduard Vinaricky warenindustrie im Lichte der Sozialhygiene. Walther-Rathenau-Straße 35 Karlsruhe 1925, S. 20. 75180 Pforzheim 5 Wolfgang Pieper: Arbeitnehmer. In: Die Pforz- [email protected] heimer Schmuck- und Uhrenindustrie. Beiträge

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503_Vinaricky_Die Rassler und ihr Umfeld_V2.indd 509 03.12.2017 11:54:13 Technisches Museum der Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie

Isabel Schmidt-Mappes

Nach knapp einjähriger Umgestaltungspause wurde das Museum im April 2017 im Rahmen des Jubiläumsfestivals 250 Jahre Goldstadt Pforzheim wiedereröff net – mit neuen Th emen, Bezügen zur Gegenwart, neuen Informationsangeboten und zeitgemäßer Ausstellungsgestal- tung. Das seit 1983 bestehende Museum zeigt die Technik der Schmuck- und Uhrenindustrie in ihrem historischen Kontext: die Techniken der Herstellung wie auch Arbeitsbedingungen und Entwicklungen in der Stadt Pforzheim.

Es lebt, es riecht nach Öl und Metall, und die neuen Th emen, Bezügen zur Gegenwart, Maschinen machen Lärm! Dieses Museum neuen Informationsangeboten und zeitge- ist anders als die anderen: Hier wird die Ver- mäßer Ausstellungsgestaltung. Den Cha- gangenheit lebendig, hier erleben Besucher, rakter des alten Fabrikgebäudes, eines der wie Schmuckstücke hergestellt werden: wie schönsten in der Stadt, hat »das Technische« Metalle zu Legierungen geschmolzen und behalten. Denn die Fassade des imposanten als Blech oder Draht weiterverarbeitet wer- Kollmar&Jourdan-Hauses, einer ehemali- den und wie komplexe Rohwerke, Ziff erblät- gen Schmuckfi rma, hat ihren ursprünglichen ter oder Gehäuse für Uhren gebaut werden. Charme bewahrt. »Innen erwarten die Besu- Ob Sandgießen, Walzen und Ziehen, Galva- cher umgestaltete Räumlichkeiten, modern nisieren oder Emaillieren: Zur Schmuckher- stellung waren und sind viele verschiedenar- tige Verfahren notwendig, die heute fast in Vergessenheit geraten sind. Doch im Tech- nischen Museum der Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie bleiben sie lebendig. Hier können Besucher vom Entwurf bis zur Pro- duktion alle Arbeitsschritte verfolgen und an Original-Maschinen traditionelle Fertigungs- techniken bestaunen. Nach knapp einjähriger Umgestaltungs- pause wurde das Museum im April 2017 im Büste des Markgrafen Karl Friedrich von Rahmen des Jubiläumsfestivals 250 Jahre Baden (1728–1811) im Eingangsbereich. Goldstadt Pforzheim wiedereröff net – mit © TMP, Foto Winfried Reinhardt

510 Isabel Schmidt-Mappes Badische Heimat 4 / 2017

510_Schmidt-Mappes_Technisches Museum der Pforzheimer.indd 510 03.12.2017 11:54:37 angeordnete Rundgänge mit Vertiefungssta- Markgraf Karl Friedrich von Baden den ers- tionen, erklärende Texte und – nach wie vor – ten der beiden Verträge mit dem Entrepre- ein Ort der lebendigen Begegnung, in dem der neur Jean-François Autran, denjenigen zur Praxisbezug an den Maschinen vorgeführt Herstellung von Taschenuhren im Pforzhei- wird«, erläutert Museumsleiterin Cornelie mer Waisenhaus. Kurz darauf sollte der Ver- Holzach. Sie hat die Umgestaltung maßgeb- trag zur Schmuckfertigung folgen. lich konzipiert und gemeinsam mit dem Ar- chitekturbüro Münzing, Dr. Martina Ebers- pächer, Ausstellung und Konzeption, sowie Wie das Museum entstand dem Grafi kbüro L2M3 umgesetzt. Auch wenn die Hauptfi nanzlast bei der 1979 wurde auf Initiative des Pforzheimer Stadt lag, hat die Werner Wild Stift ung die Kulturbürgermeisters Fritz Wurster ein För- Umgestaltung durch eine großzügige Spende derverein »Technisches Museum« gegründet. von 150 000 € unterstützt und mit ermöglicht. Hintergrund dafür war die Schließung vieler Zusätzlich hat der Förderverein bei Pforzhei- Schmuckfi rmen Ende der 1970er-Jahre und mer Unternehmen Spenden eingeworben und die Frage, was mit deren Produktionsmaschi- selbst einen maßgeblichen Beitrag investiert. nen geschehen sollte. Der Förderverein wollte Für die Wiedereröff nung wurde mit dem sowohl Maschinen als auch Werkzeuge be- 6. April ein historischen Datum gewählt: An wahren, damit der Prozess der Schmuck- und jenem Tag des Jahres 1767 unterzeichnete Uhrenherstellung für die Zukunft nachvoll-

Kettenmaschinen in der Schmuckabteilung. © TMP, Foto Winfried Reinhardt

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510_Schmidt-Mappes_Technisches Museum der Pforzheimer.indd 511 03.12.2017 11:54:38 Galvanik in der Schmuckabteilung. © TMP, Foto Winfried Reinhardt

Heimarbeiterstube, © TMP, Foto Winfried Reinhardt

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510_Schmidt-Mappes_Technisches Museum der Pforzheimer.indd 512 03.12.2017 11:54:38 Uhrenabteilung, © TMP, Foto Winfried Reinhardt

ziehbar bleibt. Engagierte Bürger mit Kennt- verstehen. Kontinuität und Wandel der Pforz- nissen in diesen Bereichen halfen mit, und so heimer Traditionsindustrien werden schon im eröff nete das Technische Museum 1983 im Eingangsbereich erläutert: wie verzahnt die Kollmar&Jourdan-Haus. Über zwei Stock- Uhren- und Schmuckproduktion mit Pforz- werke konnte hier der gesamte Produktions- heim ist und wie sich diese im Lauf der Jahre ablauf in seinen verschiedenen Arbeitsschrit- gewandelt hat bis hin zur Herstellung von ten vorgeführt werden. Ehrenamtliche Hel- Präzisions-Dreh- und -Stanzteilen und spezi- fer bedienten die Maschinen und ließen das ellen Legierungen. Hier erfahren die Besucher, Museum lebendig werden. Seit 1984 wird das was sich aus der Schmuck- und Uhrenbran- Museum in Trägerschaft der Stadt geführt che heraus an Industriezweigen und Instituti- und fi nanziert. onen in der Region entwickelt hat. Insbeson- dere bei diesem neuen Bereich hat der Förder- verein sich sehr engagiert. Neuerungen Während sich die Anordnung der Maschi- nen kaum verändert hat, wurde sie um Stati- In der neuen Konzeption können sich Besu- onen mit zusätzlichem Text-Bild-Material er- cher auch alleine durchs Haus bewegen und gänzt. Die unterschiedlichen Techniken sind anhand verständlicher Texte die Idee und so angeordnet, wie die Produktion verläuft , Technik hinter den komplexen Maschinen somit wird der gesamte »Entstehungszyklus«

Badische Heimat 4 / 2017 Technisches Museum der Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie 513

510_Schmidt-Mappes_Technisches Museum der Pforzheimer.indd 513 03.12.2017 11:54:39 eines Schmuckstücks gezeigt vom Entwurf Eine organisatorische Neuerung sind die bis zum fertigen Produkt. Auch die Produk- erweiterten Öff nungszeiten: Das Museum ist tionswege sind nachvollziehbar: Eine Brosche, seit der Wiedereröff nung mittwochs bis sams- die geprägt, ein Ring, der gegossen, eine Dose, tags von 14 bis 17 Uhr und sonntags von 10 bis die guillochiert1 wird, all das wird im jewei- 17 Uhr für Besucher geöff net. ligen Prozessablauf gezeigt. Im Obergeschoss geht es um Armbanduhren. An der Längs- seite stehen Produktionsmaschinen, gegen- Anmerkung über werden Uhrwerke und Uhren montiert und geprüft . 1 Guillochieren: Unter Guillochieren versteht man »Der Charakter einer alten Fabrik bleibt auf das maschinelle Gravieren metallischer Gegen- stände mit einem Stichel zur Erzeugung eines Or- beiden Stockwerken erhalten. Hier im ›Tech- naments von feinen, sich überlappenden Linien. nischen‹ ist nichts gestriegelt und geschnie- Dadurch entsteht ein großfl ächiges Muster, das zur gelt, vielmehr passen sich die Möbel und Ein- Verzierung und damit Aufwertung von Schmuck- richtungsgegenstände der Patina an, sie rea- stücken beiträgt. Das Guillochieren ist eine sehr diffi zile Tätigkeit, für die viel Erfahrung und viel- gieren auf den gebrauchten Stahl. Selbst der fältiges Können erforderlich ist. Beliebt war das Boden weist Risse auf, es ist kein white cube, Guillochieren bis in die 1980er-Jahre zur Dekorie- sondern ein lebendiges Museum, ein Haus, rung von Bechern, Dosen, Ziff erblättern von Arm- dem man seine Geschichte ansieht«, ordnet banduhren, Zigarettenetuis und hochwertigen Kugelschreibern. Der bekannteste guillochierte Cornelie Holzach ein. Schmuckgegenstand ist das Fabergé-Ei. Heute ist Die aktive Beteiligung der Besucher ist er- der Beruf des Guillocheurs im Aussterben begrif- wünscht. Im Bereich der Uhren liegen Karten fen. Nachwuchskräft e auf diesem Fachgebiet wer- aus, und hier soll das Wissen der Bürger mit den kaum noch ausgebildet. einfl ießen. Wer will, kann seine Kenntnisse aufschreiben. »Es ist ein Museum in progress. Wir erhoff en uns weitere Informationen zu Anschrift der Autorin: Uhr(werk)en und haben dafür noch Fläche Isabel Schmidt-Mappes freigehalten. Wir sind also in dreifacher Hin- Öffentlichkeitsarbeit Schmuckmuseum sicht ein lebendiges Museum: mit den Perso- Technisches Museum Pforzheim nen, die unsere Maschinen erklären und vor- Jahnstraße 42 führen, mit dem Haus, das atmet, und durch 75173 Pforzheim das Miteinbeziehen der Besucher«, meint isabel.schmidt-mappes @stadt-pforzheim.de Holzach.

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510_Schmidt-Mappes_Technisches Museum der Pforzheimer.indd 514 03.12.2017 11:54:39 Aufsätze

In Memoriam Dr. Karl Friedrich Schimper

Wilfried Schweinfurth

Am 21. Dezember 1867 verstarb in Schwetzingen der Mannheimer Naturforscher und Lyriker Karl Friedrich Schimper. Im Lauf seiner berufl ichen Tätigkeit konnte er, gestützt auf eine au- ßerordentlich Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, auch keine Details in ein großes Ganzes einzuordnen, grundlegende Forschungsergebnisse aufweisen. Er muss als Namensgeber für die wissenschaft lichen Begriff e: Eiszeit, Faltengebirge und Blattstellungstheorie angesehen werden. Obwohl er off ensichtlich im Umgang mit Anderen nicht immer eine gute Hand hatte, war er in Schwetzingen, seinem letzten Wohnort, ein angesehener Mitbürger und gesuchter Ratgeber. Seine wissenschaft liche Würdigung ist ihm leider bis heute versagt geblieben.

Der seit 1849 in Schwetzingen lebende Natur- forscher und Lyriker Karl Friedrich Schimper (1803–1867) ist außerhalb der Kurpfälzer Re- sidenzstadt nahezu vergessen und in seiner wissenschaft lichen Bedeutung ungerechter- weise verkannt. Und doch wird ihm auf dem Schwetzinger Friedhof ein Ehrengrab erhal- ten, das dem Forscher bis heute Anerkennung zollt. Diesem Widerspruch widmen sich die folgenden Ausführungen, die auch anhand von Schimpers eigenen Einschätzungen seiner Lebenssituationen und seinem Arbeiten das Bild eines beeindruckenden Wissenschaft lers, aber auch eines durch seine allzu menschli- chen Schwächen eingeschränkten Individu- ums erkennen lassen. Einen ersten Eindruck über die Persön- lichkeit und Selbstsicht Schimpers erhielt der damalige Bürgermeister Welde in einem län- Karl Friedrich Schimper um 1866. geren Anmeldeschreiben des neuen Einwoh- Stich von C. Geyer, Foto: Gemeinfrei

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 515 03.12.2017 11:54:53 ners Schwetzingens vom 29.7.1849. Schimper gekommen sind, die vielleicht nicht Alle im schrieb abschließend: »In allen Fällen, hoch- Tiefgange seiner Gedanken und in der Ihm verehrter Herr Bürgermeister, rechne ich von eigenen großartigen Umfassung der Wissen- Ihrer Seite auf den Schutz, den jeder ruhige schaft gewandelt sind.«2 Er habe in stets aus- und gesittete Staatsbürger erwarten darf, und gezeichneter und aufopfernder Weise Sorge es kann Sie wohl auch freuen, daß nun ein an- für seine Wissenschaft getragen und habe es erkannt selbständiger, sittlicher und gebilde- verstanden, junge Nachwuchswissenschaft ler ter Mann mehr in Schwetzingen seinen Sitz für ihren künft igen Beruf zu begeistern. Für genommen hat.«1 seine eigenen Forschungsergebnisse habe er Achtzehn Jahre später, am 21. Dezember aber »oft den Schritt der Zeit überhört« je- 1867, verstarb gegen 20:30 Uhr, der am 15. doch »im Hinrichten seines Geistes auf das Februar 1803 in geborene Natur- ihm vorschwebende eine Ziel die Ausdauer ei- forscher und Lyriker Karl Friedrich Schimper nes Helden bewiesen«. Daraus leitete Dekan in der Wohnung seiner langjährigen Freundin Junker den Satz ab: »Für das praktische Le- Sophie Wohlmann im Haus Schlossplatz 9, in ben hatte die Natur unseren heimgegangenen Schwetzingen. Freund nicht geschaff en, und wohl mag er sich Bei der Beisetzung Karl Friedrich Schim- oft in dessen Weise und Ton nicht zurechtge- pers, die am 23. Dezember 1867, nachmittags funden haben.«3 Schimper hätte die höchsten um 15:00 Uhr, unter großer Anteilnahme der Ehren in der Wissenschaft erreichen können, Schwetzinger Bevölkerung sowie einiger we- wäre es ihm in Verbindung mit etwas Glück niger auswärtiger Freunde aus Vereinen und und aus eigenen Antrieb gelungen, »die rei- der Universität Heidelberg auf dem Schwet- chen Gaben und Kräft e, mit denen Gott ihn zinger Friedhof am Badergässel (Schulstraße/ ausgerüstet« hatte, »in geregeltem Lebens- Hildastraße), dem heutigen Hebelplatz, unter gange und vornehmlich in öff entlicher Lehr- Leitung des Schwetzinger Dekans Dr. Junker tätigkeit für sich zu nutzen«.4 stattfand, wurde der angedeutete Spannungs- Dieser Beurteilung des Lebens Schimpers bogen zwischen gesellschaft licher Akzeptanz war eine ebenso teilweise durch glückliche und Eigenbrötelei nach über achtzehnjähriger Umstände geprägte als auch leidvolle Biogra- Einwohnerschaft Schimpers in Schwetzingen phie angefügt. off ensichtlich. Schimper hatte zu diesem Zeitpunkt be- Dekan Dr. Junker würdigte in seiner Gra- reits jahrelang unter Gicht in den Füßen und besrede für Schimper die wissenschaft lichen der bei ihm schließlich im Jahr 1865 erstmals Leistungen und Erkenntnisse des Verstor- diagnostizierten Hydropsie, der sogenannten benen, brachte jedoch auch seine mensch- Wassersucht, die in seinen letzten Lebensmo- lichen Unzulänglichkeiten zur Sprache. In naten verstärkt aufgetreten war, gelitten. Diese seiner Kernaussage bezeichnet er Schimper, Erkrankung führte zu Nebenerscheinungen, als durch »Wille und Natur getrieben«, »als unter anderem stark schmerzenden Füßen, gelehrten Einsiedler«, »selbstlosen Forscher«, die den Patienten erheblich in seiner Lebens- »geräuschlos wirkenden Priester der Wissen- qualität beeinträchtigten. Zu diesem angegrif- schaft «, aus dessen Wirken die »Welt … Ge- fenen Allgemeinzustand kamen gesundheit- winn … geschöpft hat« und »seine Anregun- liche Probleme in der Folge eines – nach den gen und Forschungen oft anderen zu Gut vorhandenen Polizeiakten – von drei Perso-

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 516 03.12.2017 11:54:53 nen verübten Überfalls, der in der Nacht des sche Entdeckungen gemacht, nach denen ich 30. Juni 1867, gegen 23:00 Uhr, durch nicht viele Jahre umsonst gestrebt …« eindeutig identifi zierbare Täter verübt wor- den war. Obwohl Schimper in einem Gedicht Es ist typisch für Schimper, dass er selbst bei die Täter eindeutig beschrieb und der Tat be- wissenschaft lichen Schreiben, ein Mittei- zichtigte, blieb der Überfall mangels einer si- lungsbedürfnis bezüglich persönlicher Be- cheren Beweislage ungesühnt.5 Seit diesem fi ndlichkeiten verspürt und an die Adressan- Einschnitt litt Schimper unter Lähmungser- ten einfl ießen lässt, was uns heute befremd- scheinungen der rechten Körperhälft e, beson- lich erscheint. ders des Armes und der Hand. In seinen letz- In seiner Schrift »Letzten Mitteilungen« ten Lebensmonaten war Schimper ans Bett an das Freie Deutsche Hochstift in Frank- gefesselt. Die gesundheitliche Verfassung des furt am Main vom 17. September 1867 (nach Patienten verschlechterte sich kontinuierlich seiner Gewohnheit genau datiert auf abends, und führte schließlich zu seinem Tod. Es ist 11½ Uhr) hatte er noch über neueste Erkennt- anzunehmen, dass es Schimper zusätzlich nisse von Bedingungen verschiedener Pfl an- demoralisierte, dass er glaubte, die Täter zu zenstandorte und sehr diff erenziert über die kennen, aber mangels eindeutiger, gerichts- Eigenschaft en von Wurzeln berichtet. Dass verwertbarer Beweise oder gar Zeugen nichts das gezielte Abtrennen einer Wurzelfaser gegen sie unternehmen konnte. zum Aufwuchs einer neuen, vollständigen Anfang Oktober 1867 beschreibt Schimper Pfl anze führen konnte, faszinierte ihn. So in zwei Briefen an Adalbert Geheeb6 seinen schreibt er: »Die Kunstgärtnerei wird eine Zustand7 in einem recht verzweifelten, aber neue Aera beginnen und die wissenschaft - auch wehklagenden Ton, der nicht frei von lichen Botaniker werden neue Augen erhal- Selbstmitleid erscheint: ten!«8 Daneben klagte Schimper aber auch dem »Ich bin in Pfl ege und Logis bei Frl. Wohl- Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am mann, meiner Freundin seit mehr als 40 Main, anlässlich der 41. Versammlung:9 Jahren in nah und fern, und zwar in dem Gastzimmer; habe auch nach wie sonst mei- »Seit 77 Tagen verbringe ich die Nächte nen Mittagstisch da. Ich kann jetzt erträg- schlafl os, in den Kleidern im Lehnstuhl. Lie- lich schreiben (schlecht genug); Arm noch gen oder schief anlehnen vertrage ich nicht, sehr verletzbar und ungeschickt, wie die weil dann sofort unerträgliche Athmungsbe- rechte Hand auch – Füße äußerst schmerz- schwerden erfolgen und mich auf und weg- haft , zeigen keine Besserung …« schleudern in Angst.« … »Wollten Sie nicht »… ich bin allein – auch sehr einsam. Be- vor dem Vorlesen erwähnen, daß ich durch suche bleiben aus, von Frankfurt soll im- Krankheit abgehalten bin und sehnlichst in mer noch der 1. Besuch kommen (morgen, meiner Verlassenheit und überlangen Ein- übermorgen) zum mündlichen Versamm- samkeit auf den Blick wissenschaft licher lungsbericht eintreff en! Briefe sind äußerst Männer hoff e! An den reizvollsten Mittei- selten, meine Einsamkeit drückend, dabei lungen soll es nicht fehlen! Ich bin den gan- mein theoretischer Fleiß groß; ich habe in zen Tag im Salon auf dem Canapee und ver- den letzten Wochen bedeutende physikali- misse Besuch! Hier habe ich Niemanden!«

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 517 03.12.2017 11:54:54 Nach Aussage von Sophie Wohlmann nach Schimpers Tod war er bis in seine letzten Le- benstage bei vollem Bewusstsein, geschwächt und von einigen leichteren Erstickungsanfäl- len beeinträchtigt, jedoch immer damit be- schäft igt, verschiedenste wissenschaft liche Aufzeichnungen zu machen.11 Am 10. Novem- ber 1867 hatte er seine letzte wissenschaft li- che Arbeit mit dem Titel: »Rätselhaft e Pfl an- zen-Standorte und Abwesenheiten« niederge- schrieben.12 Sophie Wollmann informierte nach Schim- pers Tod seine langjährige Gönnerin, Baronin von Schwartzkoppen, über die Tatsache, dass Schimper ihr noch am Sterbetag seine To- desanzeige13 diktiert habe – »… und entfl o- hen war auf einmal das reiche Leben! Es ging ihm aus wie ein Licht – Gottlob! Ohne allen Kampf.«14 Wie geachtet Schimper bei seinen Zeitge- nossen war, beweist das Engagement seiner Grabstätte Karl Friedrich Schimper, Freunde und Weggefährten, dem Forscher Friedhof Schwetzingen, Foto: Schweinfurth ein angemessenes Grabmal zu ermöglichen. Man hatte dazu sogar ein »Comité« gegrün- det, um den Bau der Grabstätte zu koordinie- ren und die notwendigen fi nanziellen Mittel Und weiter schreibt er: »… und noch ist der zu beschaff en. Arm nicht brauchbar und die Hand nicht: Bereits zwei Jahre nach dem Tod Schimpers, Ich schreibe blos fast nur sylbenweise mit der am 2. Juni 1869, meldete das Wochenblatt für von dem linken Zeigefi nger behüteten Elasti- Schwetzingen und Philippsburg vom 27. Mai zität der rechten Fingerspitzen und bin bald 1869 mit der Überschrift : »Schimper-Denk- müde … So habe ich es aufgeben müssen, mal« die Einweihung des mit einer, durch nach Frankfurt zu kommen …«10 den Heidelberger Bildhauer Franz Sommer geschaff enen Büste Schimpers, repräsentativ Die Mitteilungen über seine Gesundheit zeu- gestalteten Grabmals.15 gen dabei von großem Mitteilungsbedürfnis, seinen Leidensdruck sowie seine Einsamkeit Wir zeigen den Freunden und Verehrern und den Drang, den nur schwer zu akzep- Schimpers hiermit an, daß am Mittwoch, tierenden Kontaktmangel der Welt öff ent- den 2. Juni, nachmittags 2 Uhr, das Grab- lich zu machen und damit wohl ein gewisses denkmal des berühmten Naturforschers auf Maß an Mitgefühl und Aufmerksamkeit zu dem hiesigen Kirchhofe unter angemesse- entfachen. nen Feierlichkeiten eingeweiht werden wird,

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 518 03.12.2017 11:54:54 wozu wir hiermit zugleich die Einladung und ihm eine andauernde Erinnerung zu stif- an alle Diejenigen, die sich für die Sache ten? interessieren, ergehen lassen. Karl Friedrich Schimper war am 15. Feb- Man versammelt sich kurz vor 2 Uhr auf ruar 1803 als Sohn des Friedrich Ludwig dem Rathause und begibt sich sodann von Schimper und seiner Ehefrau Meta, gebo- da aus im Zuge nach der Einweihungsstätte. rene Freiin von Furtenbach geboren worden. Mitglieder des Mannheimer und des Schwet- Im gleichen Jahr war Friedrich Ludwig aus zinger Comité werden bei der Enthüllungs- dem kurfürstlich-bayerischen Militärdienst feierlichkeit kurze Ansprachen halten und als Ingenieurleutnant und Geometer ausge- zwei Gesangvereine werden die Feier mit schieden und in den Ruhestand versetzt wor- mehreren Vorträgen unterstützen. den, was die Familie in erhebliche wirtschaft - Schwetzingen, den 26. Mai 1869. liche Schwierigkeiten brachte. Er starb am 5. Das Comité Dezember 1823 in St. Petersburg, wohin er 1816 gereist war, um die sich nach der 1814 Das Grabmal konnte durch Spenden, Kon- erfolgten Scheidung von seiner Ehefrau im- zertveranstaltungen des Sängerbundes und mer mehr zur fi nanziellen Katastrophe ent- durch den Verkauf einer Broschüre mit der wickelnde Familiensituation in den Griff zu Junker’schen Grabrede fi nanziert werden. bekommen. Meta Schimper, psychisch wie Etwa zwanzig Jahre nach der Grablegung physisch durch die Lebensumstände gebro- erfolgte die Verlegung (1898) der Grabstätte chen, gelang es nicht, die Familienprobleme Schimpers an die südliche Begrenzungsmauer zu regeln. Weder ihre Familie noch die Ver- des neuen Friedhofs auf dem Langen Sand an wandten konnten die Lage in Mannheim ver- der Mannheimer Landstraße, wo sie noch bessern. Geldzuwendungen und z. T. längere heute aufgesucht werden kann. Bei dieser Ge- Aufenthalte bei den Verwandten verbesserten legenheit wurde nun auch eine recht kurios die desolate Lage in keiner Weise. Trotz dieses anmutende, alte Vereinbarung Schimpers mit häuslichen Chaos’ waren die beiden Kinder dem Besitzer des Café Kessler auf den Klei- Karl Friedrich und Georg Wilhelm (geb. am 2. nen Planken eingelöst. Gegen einen Schoppen August 1804, der »Abessinien Schimper«) aus- Wein hatte er zugunsten Kesslers verfügt, dass gezeichnete Schüler. Georg Wilhelm, der nach dieser nach seinem Tod anlässlich der Grab- der Abreise des Vaters nach St. Petersburg bei aufl ösung oder Umbettung den skelettierten den Verwandten in Nürnberg unterkam, ab- Schädel des Naturforschers erhalten sollte. solvierte dort nach der Schule eine Drechsler- Nachdem in der Folgezeit ein zweiter Schä- lehre. Er schreibt unter dem 9. Dezember 1818 del, der auch Schimper zugeordnet wor- an Karl: »Mir gefällt es sehr wohl, und mein den war, aufgefunden wurde, konnte Prof. Meister ist ein junger, guter Mann.«17 Dr. Schuster von der Universität Berlin 1943 Karl Friedrich, so belegt das Zeugnis des anhand eines Vergleiches mit der Büste des Mannheimer Lyceums vom 26.11.1814, war Grabmals, die Identität des Schädels klä- in allen Fächern »… immer ein musterhaft er ren.16 Dieser ist heute Bestand der Städtischen Schüler«.18 So kommt es, »dass man dem treff - Sammlungen Schwetzingen. lichen jungen Menschen zuerst auf besondere Doch was veranlasste die Schar der Freunde Empfehlung, dann wegen der besonderen Zu- und Gönner, Schimper derart zu würdigen friedenheit aller Lehrer mit seinem Betragen,

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 519 03.12.2017 11:54:54 seinem Fleiße und seinen Fortschritten in lich und bildlich bereits 1841 an Döll gingen, den Anfangsgründen der Wissenschaft en die ohne Quellenangabe verwendet worden.22 bei hiesigem Lyzeum gewöhnlichen Hono- Sein Anteil an der Veröff entlichung wurde rariengelder erlassen hat.«19 Schließlich ent- »nur« summarisch im Vorwort erwähnt, was lässt die Großherzogliche Lyceumsdirektion Schimper zu harscher Kritik veranlasste. am 20. November 1822 Karl Schimper »als Der Diebstahl an Schimpers Ideen und reif zur Universität, wo er sich dem Studium Vordenken sollte symptomatisch für sein ge- der Th eologie zu widmen gedenkt. Es gebührt samtes wissenschaft liches Arbeiten werden, ihm als rühmliche Anerkennung, daß er in das immer wieder – auch mit seinem Zutun allen Lehrzweigen dieser Anstalt durch tüch- – möglich wurde. tiges und gelungenes streben unter die ersten Vier Semester lang, von 1822–24, studierte Schüler der obersten Klasse gehörte und sich Schimper gemäß der Empfehlung seines Ab- durch gutes und bescheidenes Betragen die gangszeugnisses von der Oberschule Th eolo- Achtung aller seiner bisherigen Lehrer erwor- gie in Heidelberg. Das Studium wurde durch ben hat.«20 ein Stipendium der evangelischen Kirchen- Bereits während der Schulzeit sammelte sektion mit jährlich 100 Gulden auf die Dauer Schimper mit großem Interesse Pfl anzen in von zwei Jahren unterstützt; Kollegiengelder der Umgebung von Mannheim, in Baden wurden wegen Bedürft igkeit vom akademi- und der Pfalz, legte zum Verkauf Herbarien schen Senat der Universität erlassen.23 an und beteiligte sich sehr intensiv an der Neben seinen theologischen Studien be- Materialsammlung und -aufb ereitung für die fasste sich Schimper jedoch immer intensiver Veröff entlichungen von Friedrich Wilhelm mit den Naturwissenschaft en Botanik, Che- Ludwig Suckow (Flora Mannheimiensis et vi- mie und Mathematik, die auch zu seinem cinarum regionum cis – et transrhenanorum, neuen Studienkanon zählte, was ihn schließ- Mannheim 1821) und Friedrich Karl Leopold lich veranlasste, zur Fakultät für Medizin und Spenner (Flora Friburgensis et regionum pro- Naturwissenschaft en (1826) zu wechseln. Mit xime adjacentium, Friburgi Brisgov, 3 Bände, dem Verkauf von Pfl anzenpräparaten sicherte 1825–1829). Gerade Band drei der Veröff ent- er sich einen bescheidenen Lebensunterhalt, lichung geht unbestritten in wesentlichen gönnte sich aber trotz der eingeschränkten Teilen mit morphologisch-systematischen Mittel regelmäßig Mittagessen in Heidel- Anmerkungen auf Schimper zurück. Beide berger Gaststätten. Von verschieden Seiten Autoren der genannten Veröff entlichungen, wurde er auf diesen Umstand aufmerksam Succow wie Spenner, stützen sich ganz off en- gemacht und auf seine fi nanzielle Lage hin- sichtlich, meist jedoch ohne genau zu zitieren, gewiesen. Diese scheint gerade im November auf Schimpers enorme Arten- und vor allem 1822 prekär gewesen zu sein, denn zwei Ant- Ortskenntnis, was ihm schließlich den Spitz- worten auf einen von ihm versandten Brief namen »Buschdurchkriecher« einbrachte.21 verdeutlichen dies. Zwei Gönner, W. Eisen- Seine geistige Urheberschaft wird auch lohr24 als auch Louise Gaum, geb. Breuer25, Schimper 1857 in Bezug auf die Veröff ent- beide wohnhaft in Mannheim, machten ihm lichung der »Rheinische Flora« (Frankfurt diesbezügliche Vorhaltungen, rechneten ihm 1843) von Christian Döll unterschlagen. Hier seine täglichen Ausgaben vor und verbanden seien Informationen, die mündlich, schrift - mit sehr deutlichen Worten ihre Vorstellun-

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 520 03.12.2017 11:54:54 gen und Ratschläge bezüglich des Umgangs dem sie selbst in Amt und Würden waren, für mit den zur Verfügung stehen Geldmitteln, Schimper eine angemessene Stellung im Wis- die allem Anschein nach, treuhänderisch von senschaft sbereich zu erlangen. Vakante Lehr- ihnen verwaltet wurden. Die dargelegte Le- stühle wurden für ihn gesucht, Universitäten bensweise wird Schimper jedoch sein ganzes angeschrieben und für ihn bei maßgeblichen Leben lang pfl egen und sich auch später in Kollegen geworben. So stehen Anstellungen in München, Kaiserslautern und Schwetzingen München‚ Erlangen, Jena und Prag in der Dis- lieber verschulden, als davon abzulassen. kussion – aus den unterschiedlichsten Grün- Louise Gaum verdeutlichte Schimper die den kommt es nicht zu Anstellungen, bei- Möglichkeit zu Einsparungen beim täglichen spielsweise in München nicht, weil die gän- Essen mit drastischen Worten, die heute viel- gige Lehrmeinung über die Faltung der Alpen leicht befremdlich, aber andererseits auch sehr durch plutonischen Auft rieb vehement von realitätsbezogen wirken: Leopold von Buch in Forschung und Lehre und damit gegen Schimpers Forschungser- »Ein junger Mann in Ihren Jahren und Ver- gebnisse vertreten wurde. hältnissen, wenn er mittags sein gutes Essen Für ein Monatsgehalt von 100 Gulden be- gehabt hat, braucht nachts weder warme auft ragte Kronprinz Maximilian von Bayern noch Fleischspeisen, dann lassen Sie sich Schimper 1840 mit der geologischen Untersu- eine halbe Maß Bier und Brot kommen, ha- chung der Bayerischen Alpen und erwartete ben Sie Hunger, so schmeckt das ohne wei- einen ausführlichen Abschlussbericht, der tere Beilagen, und haben Sie keinen Appe- aber nie erstellt wurde. Stattdessen begab sich tit, umso besser, so können Sie auch dieses Schimper 1841 in die Rheinpfalz und führte sparen …«26 dort seine Forschungen weiter. Als er nach Ausgleich seiner Schulden durch den Kron- Immer wieder waren es Freunde und Gönner, prinzen 1843 Zweibrücken verlassen konnte, die Schimper schon zu Studienzeiten aus den zog er, wieder mit leeren Händen, nach Mann- immer wieder auft retenden Geldnöten halfen, heim in eine neue und dennoch vertraute Ar- allen voran die beiden Mannheimer »Hofrä- mut und Trostlosigkeit. Dies änderte sich, als tinnen«, Frau Louise Gaum und Frau Wie- er von Großherzog Leopold 1845 eine jährli- land.27 Nichtsdestotrotz waren die Phasen un- che Apanage von 300 Gulden erhielt. Später, besorgten Wirtschaft ens selten und Schimper, im Jahr 1865, war es Großherzog Friedrich, was fi nanzielle Notwendigkeiten betraf, unbe- welcher die Zuwendung auf Lebenszeit auf lehrbar. Robert Lauterborn kommt in diesem 400 Gulden erhöhte und zusätzlich eine Woh- Zusammenhang zu der Aussage: »… weil der nung im Schwetzinger Schloss zur Verfügung Mann, der so tiefe Einblicke in die ›Weltöko- stellte. Off ensichtlich erkannten beide Groß- nomie‹ gewonnen hatte, der Ökonomie des herzöge Schimpers wissenschaft liches Talent täglichen Lebens stets hilfl os wie ein Kind ge- und förderten es. genüber stand, und wenn er einmal Geld in Seine eigenen Versuche, zu Geld zu kom- die Hand bekam, es oft genug mit denen teilte, men, sind meist nicht sehr erfolgreich. Be- die noch ärmer waren als er.«28 reits als Student versuchte er, mit dem Ver- Seine Studienfreunde, Braun und Agassiz, kauf von Pfl anzen seine pekuniären Mittel versuchten intensiv und sehr schnell, nach- aufzustocken. Nachhilfeunterricht, z. B. bei

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 521 03.12.2017 11:54:54 der Familie Bassermann in Schwetzingen und ten, Emmy Braun32, war Schimper fast ein Vorträge zu den unterschiedlichsten Anlässen, Jahrzehnt lang verlobt. Da ihm in dieser Zeit bei denen er durch seine überragende Rhe- eine wirtschaft liche Absicherung seines Le- torik brillierte, rundeten sein »Angebot« ab. bens nicht gelang, löste diese auf Drängen Eine Tätigkeit, die eine gewisse Disziplin in ihrer Familie 1841 die Verlobung. Schimper den täglichen Abläufen gefordert hätte, etwa machte ihr und der Familie daraufh in erheb- als Hochschullehrer z. B., widersprach seinem liche Vorwürfe, die schließlich zum Bruch Naturell, stets das zu tun, was der Tag brachte. der Freundschaft mit deren Bruder Alexan- Das unumstößliche Streben nach Freiheit und der Braun führte.33 Schimper hat nie gehei- Ungezwungenheit in der Arbeit und dem täg- ratet. lichen Leben, verbunden mit einem ausge- Dieser Bruch war umso bedauerlicher, ja prägten Mangel an Kollegialität beherrschte schmerzhaft er, als Schimper mit Alexander ihn vollständig, so dass eine solche Verpfl ich- Braun und Louis Agassiz seit Heidelberger tung »schon sehr bald zu einer drückenden Studienzeiten freundschaft lich sehr eng ver- Fessel geworden wäre.«29 bunden war. Nachdem Braun und Agassiz Mit einer (Pfl anzen-Sammel-)Reise im Jahr 1827 von Heidelberg nach München gezogen 1825 nach Südfrankreich und die Pyrenäen im waren, um dort weiter zu studieren, folgte er Auft rag des Württembergischen Reisevereins ihnen 1828. Ein Jahr später erwarben Schim- versucht er, seine wirtschaft liche Lage zu ver- per und Braun in absentia ihr Diplom als bessern. Er trat die Reise mit einer kleinen Doktoren der Philosophie in Tübingen, Agas- Reisekasse an und muss bald erkennen, dass siz in Erlangen. Die handschrift lich abgefasste in der Fremde immer Bargeld vonnöten war. Schimper’sche Dissertation34, von der bekannt Anfang April hatte die Reise begonnen, Mitte ist, dass sie in bestem Latein abgefasst war, ist Mai gingen die ersten Briefe an seinen Bruder nicht erhalten, da das einzige Exemplar vom Wilhelm nach Mannheim mit der Bitte um Verfasser als Druckvorlage von der Universität weitere Mittel.30 Im Spätjahr endete die Reise. Tübingen zurückgefordert und ohne in Druck Aufb ereitet und zum Versand an die einzel- gegangen zu sein, verloren ging. nen Besteller fertig gemacht, wurden die ca. Der Verlust der eigenen Dissertation vor 20 000 Pfl anzen31 ab Mai 1826 in Schwetzin- der Drucklegung ist symptomatisch für den gen, im Haus von Gartenbaudirektor Johann Umgang Schimpers mit den wissenschaft li- Michael Zeyher, nachdem ihm sein Onkel aus chen Ergebnissen seiner Forschungen. So ist dem pfälzischen Off weiler die Zusammenar- es doch geradezu katastrophal, dass die un- beit mit seinem Vetter Wilhelm Phillip (der zähligen Forschungsergebnisse aus verschie- später »Moosschimper« genannt wurde) un- denen Forschungsbereichen einer zur dama- tersagt hatte. ligen Zeit modernen und oft bahnbrechenden Auch Schimpers persönlichen Verbindun- Wissenschaft sidee meist nur in Vorträgen, gen scheiterten letztlich. Mit Zeyhers Pfl e- Zeitungsartikeln, Flugblättern und im bes- getochter Sophie Wohlmann ging Schim- ten Fall in Gedichten festgehalten und damit per 1827 eine erste Verlobung ein, die jedoch (in nicht wissenschaft licher Form) überlie- 1830 zerbrach – sie wurde viele Jahre später fert wurden. Schimper hat damit der Wissen- seine beste Freundin und Unterstützerin bis schaft und seinen Fachkollegen die Möglich- zu seinem Tod. Mit seiner zweiten Verlob- keit genommen, seine Ergebnisse, Beweise

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 522 03.12.2017 11:54:54 und Belege zu prüfen, eigenen gegenüber zu die in zwei Bänden erschienenen Bücher: stellen und im besten wissenschaft lichen Sinn »Gedichte«, Erlangen 1840 und »Gedichte zu diskutieren. Obwohl es bereits zu Schim- 1840–1846«, Mannheim 1847. pers Zeiten üblich war, in wissenschaft lichen Geradezu bezeichnend für den von Schim- Arbeiten andere Autoren zu zitieren und dies per gepfl egten Stil der Veröff entlichung von kenntlich zu machen, wird in seinen Veröf- Forschungsergebnissen ist, in freier Rede an- fentlichungen diese Arbeitsweise nicht ein lässlich von Versammlungen von Berufsver- einziges Mal angewendet. Off enbar beglei- bänden, wie der Versammlung »Deutscher tete seine »Zwangsvorstellung«35 alles besser Naturforscher und Ärzte« bei ihren regelmä- zu wissen36 und keine andere Meinung gelten ßigen Treff en, Festvorträgen bei Vereinsju- zu lassen, alle seine Arbeiten. Er erscheint als biläen (Jahresfeiern Verein für Naturkunde ein Getriebener, von der eigenen Interessens- e. V., Mannheim 1833) und Vorlesungen für und Wissenslage von der einen Erkenntnis in Studenten und Freunde, neue Erkenntnisse die Nächste zu stürzen und auch diese wie- vorzutragen. Verbunden mit seiner Schwäche, der in ein größeres Gesamtmodell einzufügen, keine wissenschaft lichen Abhandlungen zu wohl ohne Zeit dafür zu haben, oder sie sich verfassen, kam es oft zu Missverständnissen zu nehmen, sie als erster in einer angemes- und falsch oder nicht verstandenen Informa- senen Form zu dokumentieren und der wis- tionen über die vorgetragenen, hochstehen- senschaft lichen Öff entlichkeit zugänglich zu den und ihrer Zeit weit vorausblickenden Ge- machen. Und gerade hier steht Schimper in danken bei seinem Publikum. Doch zu sehr der antiken Tradition des Lehrgedichtes, das waren seine Zuhörer und Kollegen in einer teilweise von lateinisch sprechenden/schrei- tradierten, überwiegend beschreibenden (Na- benden Autoren bis in die Neuzeit gepfl egt tur-)Wissenschaft verhaft et. Dies zeigt sich in wurde.37 der schon lange geführten Diskussion um die Es ist bedauerlich, dass eine seiner größe- Gesetze der Blattstellung der Pfl anzen. Bereits ren naturwissenschaft lichen Arbeiten, die Be- Leonardo da Vinci hatte das Th ema bearbei- schreibung des Symphytum Zeyheri und sei- tet und nicht zuletzt Goethe in seiner »Meta- ner zwei deutschen Verwandten des S. Bulbo- morphose der Pfl anzen« von 1790, gegen die sum Schimper und S. tuberosum Jacq. Nicht Schimper in unerhört scharfer und teilweise in Buchform, sondern als erster, 119 Seiten unsachlicher Art sein Veto in seinem Gedicht langer Bericht, in Geiger’s Magazin für Phar- von 1847: »Göthe in der Naturwissenschaft «40 macie38 1830 erschien und nicht ohne Fort- vorgebracht hat. Er selbst hat das Th ema in setzung in einem zweiten Teil zum Abschluss Privatvorlesungen und in Diskussionen mit kam. Ebenfalls druckfertig, aber nie als Buch seinen Freunden Braun und Agassiz ausgie- erschien, verfasste er zudem ein 317 Seiten big erörtert. umfassendes handschrift liches Manuskript Schimper ist es als Erstem gelungen, das »Vom Blatte« mit hervorragenden Zeichnun- bekannte Phänomen in einer mathematisch gen verschiedener Pfl anzen, welches heute in gefassten Systematik rechnerisch zu fassen der Handschrift ensammlung der Universi- und als Gesetzmäßigkeit zu beschreiben41, tätsbibliothek Heidelberg39 zugänglich ist. ohne zu vergessen, darauf hinzuweisen, dass Die einzigen vollständig erschienenen und z. B. Umwelteinfl üsse oder Lichtverhältnisse umfangreicheren Arbeiten Schimpers sind in der Lage waren, den Aufb au von Pfl anzen

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 523 03.12.2017 11:54:54 nachhaltig zu beeinfl ussen und dadurch Ab- mers und des Weltwinters reifen. Mit seiner weichungen von den Gesetzmäßigkeiten auf- Ode »Die Eiszeit«, die er am 15. Februar 183744 kommen konnten.42 anlässlich eines Vortrages veröff entlichte und Was die, nach vielem Drängen von Freun- seinem Sendschreiben »Über die Eiszeit«, das den und Fachkollegen gedruckte Veröff entli- auf der Versammlung der Schweizer Naturfor- chung dieser Th eorie anbelangt, ergab sich ein scher im gleichen Jahr in Neuchatel verlesen Streit mit dem Co-Verfasser Braun, der tief- wurde, prägt er nicht nur den heute überall greifende Folgen für das langjährige Freund- bekannten Begriff 45, der in der Geologie, Geo- schaft sverhältnis zwischen den beiden Wis- morphologie und Geographie zu einem festen senschaft lern nach sich führte. Braun hatte Bestandteil der wissenschaft lichen Sprache nach vielen Verzögerungen mit Zustimmung wurde. Schimper hat als einer der Ersten er- Schimpers die Aufgabe übernommen, die Er- kannt, dass die erratischen Blöcke besonders gebnisse der Forschungen über die Gesetz- im Alpenvorland nicht durch eine gewaltige mäßigkeiten der Blattanordnung bei Pfl an- Flutwelle transportiert wurden, sondern Eis zen der wissenschaft lichen Öff entlichkeit in als Transportelement gedient hat. Dieser Ge- einem zusammenfassenden Aufsatz vorzu- danke war bei ihm schon angesichts der gro- stellen. Zur großen Überraschung Schimpers ßen Gesteinsblöcke im Neckartal gereift . Auch enthielt die von ihm nicht autorisierte Fas- hier konnte nach seiner Auff assung keinesfalls sung der Veröff entlichung (Flora 1835) Infor- fl ießendes Wasser das Transportmedium ge- mationen, die Braun von sich aus hinzugefügt wesen sein. Angesichts der Blöcke im bayeri- hatte, ohne von Schimper deren Freigabe ein- schen Alpengebiet und später in den gesamten zuholen, die aber von diesem nur als vertrau- Alpen, aber auch im Schwarzwald wurde diese liche Mitteilung an Braun eingestuft worden Idee zur Gewissheit. waren. Braun sah sich nach scharfen Protesten Tragisches Moment in Bezug auf die Vor- Schimpers zu »Nachträglichen Erläuterungen stellung seines Eiszeitgedankens war die Tat- zu meinem Aufsatz« und umfangreichen Ent- sache, dass er nicht selbst die Vorstellung schuldigungen veranlasst, um Schimper zu übernehmen konnte, sondern seinen Freund besänft igen.43 Louis Agassiz bitten musste, dies zu tun. Die- Schimper wandte den Fokus seiner For- ser folgte der Bitte, fügte jedoch den Gedan- schungen in den Jahren 1836 bis 1841 von der ken seines Kollegen eigene Erkenntnisse bei, Biologie ab und der Geologie zu – sie wurden wodurch der Vortrag in der Fachwelt, auch auf zu den fruchtbarsten Jahre seiner Forscherkar- Grund ständiger Wiederholung in folgenden riere. Ausgedehnte Wanderungen im Alpenbe- Vorträgen über das Th ema, gänzlich Agassiz reich mit intensiven Untersuchungen der weit zugeschrieben wurde und er schließlich als im Alpenvorland verbreiteten »erratischen Schöpfer des Eiszeitbegriff es galt. Lange und Blöcke«, auch anlässlich seines ausgedehnten verbissen geführte Auseinandersetzungen mit Aufenthalts in Neuchâtel bei Johann Georg Schimper folgten. In seinem 1840 veröff ent- von Charpentier, ließen in Schimpers Gedan- lichten Gedicht »Gebirgsbildung« rechnete er kenwelt immer mehr die Idee der klimatischen mit Agassiz ab. Er bezeichnete seine Ausfüh- Mehrphasigkeit der Welt- und Landschaft s- rungen als »Aglastergeschwätz einer diebi- geschichte durch Temperatur- bzw. Klima- schen Elster«46, was Agassiz wiederum veran- schwankungen in Ausprägung des Weltsom- lasste, Schimper mit nicht einer Anmerkung

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 524 03.12.2017 11:54:54 in seinem grundlegenden, 1841 in deutscher legte Schimper nicht zuletzt die Grundlage Sprache erschienenen Buch, »Etudes sur les für eine heute anerkannte Sparte der Geo- glaciers« zu erwähnen. Agassiz und Charpen- wissenschaft en, die Paläoklimatologie. Weite tier haben mit ihren Forschungen und Veröf- Bereiche der Geomorphologie, der Lehre von fentlichungen zur Glaziologie die Grundlagen den Formen der Erdoberfl äche und deren Bil- für diese Forschungsrichtung gelegt.47 dungsbedingungen, stehen unmittelbar mit Der Eiszeitbegriff und seine Zuordnung zu den Schimper’schen Untersuchungsergebnis- Schimper braucht jedoch nahezu fünf Jahr- sen und Aussagen in Zusammenhang. zehnte, um mit dem richtigen Namen ver- Im September 1840 fand in Erlangen eine bunden und in der Wissenschaft gefestigt Versammlung Deutscher Naturforscher und zu sein. Noch kommt Paul Woldstedt in sei- Ärzte statt. Auch hier konnte Schimper nicht nem Buch: »Das Eiszeitalter, Grundlinien ei- teilnehmen. Er schickte aber ein Sendschrei- ner Geologie des Diluviums«, Stuttgart 1929, ben, in dem er seine neusten Erkenntnisse zur vollständig damit aus, die drei großen Eiszeit- Entstehung der Alpen darlegte, an die Ver- forscher überhaupt nicht zu erwähnen, jedoch sammlung. Kern dieses Schreibens war die englischsprachige Literatur breit zu zitieren.48 Th ese, dass ein enormer horizontaler Druck Robert Lauterborn wertet diese Tatsache ein das Gebirge aufgefaltet habe. Damit stellte er Jahr später so: »Daß in dem neuesten zusam- sich der alten Lehrmeinung, die er selbst noch menfassenden Werk über die diluviale Geolo- vor wenigen Jahren vertreten hatte, entgegen. gie: ›Das Eiszeitalter‹ von P. Woldstedt (1929) Ihr größter und bedeutendster Verfechter war der Mann, der zuerst Name und Begriff der Leopold von Buch, der davon ausging, dass Eiszeit prägte, mit keiner Silbe genannt, son- durch aufsteigendes Material aus dem Erdin- dern bei Benennung dieser erdgeschichtli- neren das Gebirge entstanden sei. Wie schon chen Epoche an James Geikie’s ›Th e great ice bei Schimpers Ausführungen zur Eiszeit, ging age‹ vom Jahre 1874 angeknüpft wird, ist für Leopold von Buch mit dem ganzen Gewicht einen Deutschen eine ebenso bedauerliche seiner Autorität gegen die neue Entstehungs- wie beschämende Tatsache.«49 these vor. Seine »beurteilenden Bemerkun- Erst in R. v. Klebelsbergs »Handbuch der gen« sind leider nicht belegt, jedoch weist Gletscherkunde und Glazialgeologiel« von Lauterborn51 auf das lebhaft e, keinen Wider- 1948 werden die drei »Großen« Schimper, spruch duldende Temperament von Buchs hin Braun, Agassiz ausführlich erwähnt und ein- und wie zerstörend die Kritik des »gereizten geordnet. Auch das Geologische Wörterbuch Löwen über seinen unbequemen Widersa- von Hans Murawski beschreibt ausführlich cher« wohl ausgefallen ist. Obwohl Schim- den Begriff der Eiszeit. Der Artikel kommt zu per ausführte und auch belegen konnte, »aber dem Schluss, dass »der deutsche Botaniker K. nichts ist weniger der Fall, als daß der Anstoß F. Schimper … den Begriff 1837 in einer Ode zur Hebung von etwas ausgegangen, das her- zu Galileis Geburtstag« prägte und »L. Agas- ausbrechen wollte«. »Alles aber beweist, daß siz ihn 1840 in die wissenschaft liche Litera- die Erhebung sowohl gewölbter als imbri- tur« einführte.50 cierter geschichteter Massen in Folge eines Der Begriff der »Eiszeit« hat sogar in der Horizontal-Druckes entstanden ist, den sich Sprache der Politik als feststehender Termi- eine schwere Erdrinde selbst geben musste, nus Einzug gehalten. Mit seiner Defi nition als der Erdkern, auf dem sie aufl iegt, kleiner

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 525 03.12.2017 11:54:54 wurde.«52 Ganz off ensichtlich hat die Kritik Gestalt und die Entstehung von Wolkenbil- Leopold von Buchs die Fachkollegen so beein- dern, zur Physik der Sonne und Sonnenfl e- druckt, dass die Lehre der «Plutonisten« noch cken, Erscheinungsformen und physikali- eine Generation lang weiter gelehrt wurde. schen Problemen des Wassers und des Eises Erst als 1875 Eduard Suess mit seinem Buch sowie der daran gebundenen optischen Phä- »Die Entstehung der Alpen« das Faltenmodell nomene verfasst.55 Eine Beschreibung des Go- wieder aufnahm und horizontalen Druck aus bio uranoscopus (Firschart), von Pilzen und Süden beschrieb, kommt Schimpers Grund- Moosen, geologische und bodenkundliche gedanke wieder in die wissenschaft liche Dis- Untersuchungen fi nden sich ebenso in seiner kussion – ohne ihn allerdings als Urheber der Veröff entlichungsliste wie theoretische An- Th eorie zu benennen oder zu würdigen. leitungen zu naturwissenschaft lichen Unter- Aus heutiger Sicht sind die frühen Aus- suchungen und den Aufb au von Versuchen sagen Schimpers über die Erdrinde, die auf mit einfachsten Mitteln (Physica pauperum). einem Erdkern aufl iegt, sich darauf bewegt Gleichzeitig hat er es verstanden, Kollegen und dadurch horizontalen Druck auf andere verschiedener Fachgebiete diff amierend zu Bereiche ausübt, was zur Auff altung führt, kennzeichnen. So bezeichnete er Physiker als schon sehr nahe an die Modellvorstellungen »die vor lauter Messing die Natur nicht mehr der Kontinentaldrift und der Plattentektonik sehen«, die Geologen und Mineralogen als eines Alfred Wegeners zu stellen. »die Herrn Nichtsalssteiner« und die Astro- Das wissenschaft liche Lebenswerk Karl nomen als »die kalten Topologen«56. Friedrich Schimpers vollständig darzustellen, Abgesehen davon, war Schimper immer be- würde weit über die Grenzen eines Nachrufes reit, auch zu aktuellen Problemen in Schwet- hinausgehen, hat er doch in unzähligen klei- zingen, Mannheim oder im Land Baden neren Schrift en, Flugblättern und Zeitungs- Stellung zu nehmen. Briefe zu den Th emen: artikeln und vor allem Lehrgedichten immer Schließung der Bürgerschule in Schwetzin- wieder seine Sicht des naturwissenschaft li- gen, hygienische Verhältnisse in den Straßen chen Forschungsgegenstandes dargestellt und von Schwetzingen und im Leimbach, Standort in ein großes Ganzes eingeordnet oder zu- einer neuen Rheinbrücke in Mannheim und mindest versucht, grundlegende Zusammen- nicht zuletzt Schrift stücke zu den Verhältnis- hänge aufzuzeigen. Alleine eine stichwortar- sen des Revolutionsjahres 1848, einschließlich tige Aufzählung der Th emen seiner anlässlich der ihn überwachenden Zensur57 sind über- seines Aufenthalts in Jena (1854/55), gehalte- liefert. nen Vorträge, umspannt das gesamte natur- Karl Friedrich Schimper war als Naturwis- wissenschaft liche Spektrum der Zeit und um- senschaft ler in seinem Denken seiner Zeit, fasst mehrere Druckseiten.53 dem Biedermeier, weit voraus, in seiner Art Neben Veröff entlichungen, wie die 1845 die Ergebnisse zu veröff entlichen, aber in al- vorgelegten Ausführungen über die »Wind- ten Formen und Strukturen verhaft et. Das hose von Railingen«54, die als Begründung Gedicht, in allen möglichen Versformen, be- und Prototyp einer beschreibenden Wetter- vorzugt der Ode, war seine große, virtuos und kunde gelten kann, hat Schimper u. a. tief- gerne genutzte Veröff entlichungsform. Es ge- greifende Darlegungen zur Physik fl ießen- lang ihm in seinen Lehrgedichten die darge- der Stoff e (als Grundlage der Rhoologie), zur stellten Erkenntnisse mit einem ausgeprägten

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 526 03.12.2017 11:54:54 und »… lustvoll gepfl egten literarischen Form- Zweifellos konnten hier nicht alle Aspekte und Witztalent …«58 mit Humor und Charme, des Lebens und Schaff ens des Mannheimers aber auch mit Hohn, Spott und bissiger Kritik Karl Friedrich Schimper ausführlich darge- zu verknüpfen. Im Gegensatz zu seinen litera- stellt und gewertet werden. Dennoch gebührt rischen Vorgängern hat er jedoch eigenes, sei- dem Mann »von untersetzter Statur … au- nen Forschungen entstammendes Wissen in ßerordentlich breitschultrig, einem gewal- Gedichtform veröff entlicht. Seine Vorgänger tigen Kopf, von dem spärlich graue Locken hatten noch Bekanntes aus der Wissenschaft bis fast auf die Schultern herab, mit großen in Gedichte gekleidet und vorgetragen, was blauen Augen von wunderbarer Klarheit«64 von ihm erkannt und auch moniert worden Anerkennung als Naturwissenschaft ler und war. Bestes Beispiel dafür sind die diesbezüg- Lyriker gleichermaßen. Er hätte es verdient, lichen Veröff entlichungen von Johann Wolf- Gegenstand einer wissenschaft lichen Biogra- gang von Goethe, die von Schimper als Pla- phie zu sein, die sich auf eine außerordentlich giat bezeichnet wurden.59 Er geht noch weiter gute Quellenlage aus seinem Nachlass stützen indem er sagt: könnte.

»Gewiss war Göthe groß, allein er war ein Anmerkungen Dieb, Ein Gauner und ein Narr, der Mummereien 1 Hans Götz: Karl Friedrich Schimper – Natur- forscher in Schwetzingen, Schrift en des Stadt- trieb, archivs Schwetzingen, Band 12, 1980, S. 5 ff ., Nr. Durch Unverschämtheit ist Verblendung ihm I-44/1021,2. geglückt: 2 Dr. Friedrich Junker: Worte gesprochen an Grabe Wie hat er unsern Batsch, den großen, unter- des Naturforschers Dr. K. F. Schimper, Heidel- berg 1868. Abdruck in: Fritz Seidel, Arbeitskreis 60 drückt!« der K.-F.-Schimper-Realschule Schwetzingen: Dr. Karl Friedrich Schimper zum 200. Geburtstag, Ähnlich hart geht er mit den, auch von ihm Schwetzingen 2004, S. 102. ausgeübten Naturwissenschaft en, in seinem 3 Junker, ebd. Wohl ein kleiner Seitenhieb auf die 61 gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Schim- in Mannheim 1846 entstandenen Gedicht : per wegen Ehrenbeleidigung 1859. Vgl. hierzu: »Blick auf die Naturwissenschaft en« zu Ge- Hans Götz: Karl Friedrich Schimper – Natur- richt. Hier kommt Schimpers ganze Frustra- forscher in Schwetzingen, Schwetzingen 1980, tion, Enttäuschung und das Gefühl, von den S. 115 ff . 4 Junker, ebd. Kollegen um wichtige Forschungsergebnisse 5 Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse und 62 betrogen worden zu sein, zum Ausdruck. Abläufe um den nächtlichen Überfall auf Schim- Natürlich hat Schimper auch Gedichte nicht per fi ndet sich bei Willi Schäfer: Karl Friedrich wissenschaft lichen Inhalts verfasst. In die- Schimper, Geschichte und Gedichte eines Natur- forschers. Schwetzingen 2003, S. 64 ff . sem Genre scheint er jedoch nicht so erfolg- 6 Adalbert Geheeb 1842–1909, deutscher Botani- reich gewesen zu sein, Lauterborn (S. 320) ker, Moosforscher. beziff ert jedenfalls die Zahl der weniger ge- 7 Zit. nach Schäfer 2003, S. 72, Anm. 176, 177. lungenen Gedichte auf über 300 – trotz der 8 Robert Lauterborn: Der Rhein. Naturgeschichte beachtlichen Zahl, eine kleine Auswahl aus eines deutschen Stromes. II. Hälft e, Die Zeit von 1800 bis 1930. Berichte der Naturforschenden mehreren Hundert überlieferten Gedich- Gesellschaft zu Freiburg i. B. Band XXX, 1 und 2, ten.63 Naumburg (Saale) 1930, S. 298.

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 527 03.12.2017 11:54:54 9 Lauterborn, a. a. O., S. 293 f. 36 Vgl. hierzu: Gedicht »Goethe in der Naturwis- 10 Schäfer, a. a. O., S. 71. senschaft « und dazu: »Erläuterungen« in: Lauter- 11 Schäfer, a. a. O., S. 77 f. born, a. a. O., S. 323; zu Darwin: seine »englischen 12 Lauterborn, ebd. Viehzüchterideen« verstoßen gegen die Würde 13 Die Todesanzeige wurde nie veröff entlicht, weil des Menschen. Seidel, a. a. O., S. 32. der Beerdigungstermin früher lag, als das frü- 37 Herrmann Wiegand: Gelehrte Dichtung und heste mögliche Erscheinen der Anzeige in der »moderne« Wissenschaft – Karl Friedrich Zeitung. Schimper als Dichter. Ein Beitrag zum Schim- 14 Schäfer, a. a. O., S. 72 f. per-Gedenkjahr. Jahresbericht Verein für 15 Schäfer, a. a. O., S. 75. Naturkunde Mannheim E. V., Neue Folge 16 August Koob: Dr. Karl Friedrich Schimper, der Heft 8 für die Jahre 2002–2004, Mannheim große Botaniker, Geologe, Zoologe und Dichter 2005, S. 59. zu seinem 100. Todestag am 21.12.1967, Schwet- 38 Geiger’s Magazin für Pharmacie, Band 28, Heft 1, zingen 1967, S. 14 f. 1830, S. 1–119. 17 Hans Götz: Kindheit und Jugend der Brüder Karl 39 Schäfer, a. a. O., S. 23. und Wilhelm Schimper (I). Karl Friedrich Schim- 40 Brigitte Hoppe: Karl Friedrich Schimper als Wis- pers Heidelberger Zeit (II). Schrift en des Stadtar- senschaft ler. Schimper Symposium 22.11.1003, in: chivs Schwetzingen, Band 13, Schwetzingen 1980, Fritz Seidel, a. a. O., S. 146. Dokument I-39/907–919,10, S. 57 f. 41 Georg Heinrich Otto Volger: Leben und Leistun- 18 Götz, a. a. O., Dokument II-1/5–7, S. 44. gen des Naturforschers Karl Schimper, Frankfurt 19 Götz, a. a. O., S. 45, Lyceumszeugnis vom 6. De- 1889, S. 6. zember 1814. 42 Vgl. hierzu auch Hoppe, a. a. O., S. 148 ff . 20 Götz, a. a. O., S. 46, Dokument II-1/12 Zeugnis 43 Lauterborn, a. a. O., S. 277 f. vom 20. November 1822. 44 Der 15. Februar ist sein Geburtstag und der Ge- 21 Hans Götz und A.P.M. Sanders: Dr. Karl Fried- burtstag des von ihm hochverehrten Galileo rich Schimper, Eine Lebensskizze nach seinen Galilei. »Galilei« war auch seit 1835 sein »Ge- Schrift en und Reden – Eine Bibliographie, Janus sellschaft sname« als Mitglied der kaiserlichen 1973, S. 71 f. Leopoldinisch Carolinischen Academie der Na- 22 Götz, a. a. O., S. 83. turforscher, so auch genannt auf der Ernennungs- 23 Hans Götz: Kindheit und Jugend der …, 1980, (II) urkunde als Ehrenmitglied und Meister beim S. 4, Nr. II-1/26 und II-1/30. »Freien Deutschen Hochstift für Wissenschaft , 24 Götz 1980, (II), S. 3, Nr. I-13/324,3. Künste und allgemeine Bildung in Goethes Va- 25 Götz 1980, (II),. S. 3 f., Nr. I-16/396,1. terstadt Frankfurt am Main«. Schäfer, a. a. O., 26 Zit. bei Schäfer, a. a. O., S. 15. S. 64 f.; Hermann v. Leonhardi, Einige Nachrich- 27 Götz 1980, (II), S. 3, Nr. I-16/395 f. ten über Dr. Carl Friedrich Schimper, Lotos, V. 28 Lauterborn, a. a. O., S. 285 f. Jahrgang, Prag 1855, S. 3. 29 Lauterborn, a. a. O., S. 289 f. 45 Susanne Bährle: Karl Friedrich Schimper – Der 30 Götz 1980, (II), S. 19 ff ., Nr. I-39/907–910,43; Geologe und die Eiszeittheorie, in: Schäfer: I-39/907–910,44; I-24/587; I-37/868,1. a. a. O., S. 145 ff . 31 Götz 1980, (II), S. 38, I-35/801,8; ausführliches 46 Lauterborn, a. a. O., S. 280. Artenverzeichnis ebd. Nr. II-2/70. 47 Klebelsberg, R. von: Handbuch der Gletscher- 32 Schwester von Alexander Braun, einem engen kunde und Glazialgeologie. Erster Band, Allge- Freund und Studienkollegen Schimpers. meiner Teil, Wien 1948, S. 3 f.; hierzu auch: Lau- 33 Lauterborn, a. a. O., S. 283 f. terborn, a. a. O., S. 91. 34 Th ema der Dissertation: Die allgemeine Lebens- 48 Hierzu auch Anm. 1 bei Lauterborn, a. a. O., S. 88. und Leibesgeschichte des Gewächses insbeson- 49 Lauterborn, ebd. dere vom phyllogonischen und carpogonischen 50 Hans Murawski: Geologisches Wörterbuch, 6. Process. Vgl. hierzu auch: Hans Götz: Karl Fried- Aufl age, Stuttgart 1972, S. 46. rich Schimper in München, Schrift en des Stadt- 51 Lauterborn, a. a. O., Anm. 2, S. 104. archives Schwetzingen, Band 16, Schwetzingen 52 Sendschreiben Schimpers von 1840, teilw. wie- 1981, S. 101 ff . dergegeben bei Lauterborn, a. a. O., S. 103 f. 35 Schäfer, a. a. O., S. 23. 53 von Leonhardi: a. a. O., S. 1–7.

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515_Schweinfurth_Schimper.indd 528 03.12.2017 11:54:54 54 Manfred Kleiss: Karl Friedrich Schimpers »Wind- 62 Wiegand, a. a. O., S. 61. hose von Reilingen« und die moderne Wettervor- 63 Lauterborn, a. a. O., S. 320. hersage, in: Jahresbericht Verein für Naturkunde, 64 Beschreibung von Adalbert Geheeb nach seinem a. a. O., S. 5–10. Besuch bei Schimper 1861 in Schwetzingen, zit. 55 Vgl. hierzu die Aufl istungen in: Hans Götz: Ver- in: Lauterborn, a. a. O., S. 290. zeichnis des nachgelassenen Briefwechsels (I, 4) des Naturforschers Dr. K. F. Schimper, Das Ar- chiv, Schwetzingen 1978, S. 14 ff . 56 Lauterborn, a. a. O., S. asa318 f. 57 Götz 1978, a. a. O., S 6 ff .; Götz, Sanders: a. a. O., S. 88. 58 Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand und Willi Schäfer: Karl Friedrich Schimper (1803– 1867). Lyrik und Lehrgedichte. Rhein-Neckar- Kreis, Historische Schrift en Band 3, Heidelberg, Anschrift des Autors: Ubstadt-Weiher, Basel, 2005, S. 11. Dr. Wilfried Schweinfurth 59 Wiegand, a. a. O., S. 60. Luisenstraße 20 60 Auszug aus dem Gedicht: Göthe in der Naturwis- 68723 Schwetzingen senschaft , Kühlmann, a. a. O., S. 191. [email protected] 61 Abdruck bei Kühlmann, a. a. O., S. 195–213.

Heinrich Hauß (Hg.) KARLSRUHE – AUFGEFÄCHERT Aspekte und Perspektiven der Kultur in der Stadt

Schriftenreihe der Badischen Heimat, Bd. 11. Karlsruhe – Aufgefächert ist der Beitrag des Landesvereins KARLSRUHE – »Badische Heimat« zum Jubiläum der Badischen AUFGEFÄCHERT Landeshauptstadt Karlsruhe. Rund vier Dutzend regional und überregional bekannte Autoren stellen Aspekte und Perspektiven aus unterschiedlichsten Gesichtspunkten die »Aspekte der Kultur in der Stadt und Perspektiven der Kultur in der Stadt« vor. Darüber hinaus werden Gegenwart und Zukunft des urbanen Lebensraumes Karlsruhe in den Fokus gestellt. 320 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover, Halbleinen, ISBN 978 3 7930 5105 31, € 32,00. Zu beziehen im Buchhandel und über die Geschäftsstelle

Schriftenreihe der Badischen Heimat des Landesvereins Badische Heimat e. V., Hansjakobstr. 12, 79117 Freiburg.

Badische Heimat 4 / 2017 In Memoriam Dr. Karl Friedrich Schimper 529

515_Schweinfurth_Schimper.indd 529 03.12.2017 11:54:54 Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger in der Kunststiftung Hohenkarpfen1

Elmar Vogt

»und darin eine Gewissheit spüre es sei so gewesen …« Anlass für diesen Beitrag war für mich das 30jährige Bestehen des Kunstmuseums Hohen- karpfen, das im Sommer 2016 gefeiert wurde. Eine Ausstellung präsentierte zu diesem Anlass eine Auswahl an wichtigen Werken aus der eigenen Sammlung.2 Am Anfang stand die Stift ung eines umfassenden Konvoluts von Darstellungen des Lebens der Menschen und der Landschaft der Hochbaar von der Hand des aus Tuttlingen stammen- den Malers und Zeichners Ernst Rieß (1884–1962). Ihren Zuwachs verdankt die Sammlung insbesondere Ankäufen des Landes Baden-Würt- temberg und anderer Institutionen, die dem Museum zur dauerhaft en Bewahrung überlassen worden sind, sowie zahlreichen Schenkungen einzelner Werke oder ganzer Sammlungen aus privater Hand.

»Was in der Natur vorgeht, was in mir selbst ist, soll sichtbar werden« August Babberger, um 1920/22

Was deutsche Museen so »auf Lager« haben, ist zu einem relativ hohen Prozentsatz un- sichtbar. Bis zu 90 Prozent der Sammlungen liegen im Depot. Damit haben sie ebenso viel Aufmerksam- keit und Pfl ege verdient wie die Werke, die zur Schau gestellt sind. Die erste Aufgabe ei- nes Museums ist laut Sebastian Giesen, Ge- schäft sführer der Hermann Reemtsma Stif-

August Babberger »Selbstbildnis mit Scheerhorn«, Pastell, 54,5 x 37,8 cm (Blatt), Inv. Nr. Babb. Z 523. © bpk / Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Annette Fischer / Heike Kohler

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 530 03.12.2017 11:55:10 tung, »der sorgsame und pfl egliche Umgang Von Hausen im Wiesental mit der anvertrauten Sammlung, das heißt nach Hausen ob Verena die Sicherstellung einer dauerhaft en Überlie- ferung für nachfolgende Generationen«.3 Geboren wurde August Babberger am 8. De- Wenn von der Zeit des deutschen Expressi- zember 1885 in Hausen im Wiesental. onismus gesprochen wird, fehlt meistens der Sein Vater August war Zimmermann und Name August Babberger, er fehlte oft auch in stammte aus Auggen, seine Mutter Apollo- den bisherigen zahlreichen Ausstellungen, die nia B., geborene Matt, aus Strittmatt im Hot- dieser Epoche gewidmet wurden. zenwald. In einer autobiographischen Skizze Umso erfreulicher ist es, dass das Werk Au- schrieb er 1920 rückblickend: gust Babbergers, der zu den wichtigsten Ver- »In Hausen war ich bis zum 10. Lebensjahr, tretern des Expressionismus in Baden und be- und von dort zogen die Eltern mit mir nach deutenden expressionistischen Künstlern der Basel, wo ich mitten in das erste Schuljahr der klassischen Moderne gezählt werden darf4, in Sekundarschule geriet und wegen des feh- den letzten Jahren wieder vermehrt einem lenden Französisch, das in Hausen nicht be- breiten und interessierten Publikum zugäng- trieben wurde, musste ich ein Jahr zurück in lich gemacht wurde und wird5. die Primarschule, wodurch ich in den Vorteil kam, dem Rat meines Lehrers folgend, in die Realschule einzutreten. Nach Ablauf der üb- Die Verschmelzung lichen vier Schuljahre bemühte ich mich, in von Mensch und Natur … einer Seidenfabrik als Dessinateurlehrling (Musterzeichner) anzukommen, da ich gerne Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was zeichnete und meine diesbezüglichen Lehrer erzählen, sagt – sehr zu recht – das Sprich- meine Begabung dafür erkannt haben wollten. wort. Marcel Proust hat in seinem Roman Der Versuch misslang aber schon in der »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« da- ersten Fabrik, erstens weil ich Deutscher war rauf aufmerksam gemacht, wie wichtig das – und nach vierjähriger Lehrzeit zum Militär künstlerische Sehen, das Betrachten der Welt hätte einrücken müssen, und außerdem be- durch die Augen der Künstler ist, und hat ge- fürchtete einer der Herren, ich sei farbenblind. zeigt, dass die Beschäft igung mit Kunst für Da entschloss ich mich rasch, mit dieser alle Nichtkünstler eine viel größere Bedeu- Blindheit in ein Malergeschäft als Lehrling tung besitzt als das Reisen: »Die einzig wahre einzutreten, und während dieser Zeit be- Reise, der einzige Jungbrunnen wäre für uns, suchte ich die Gewerbeschule in Basel. wenn wir nicht neue Landschaft en aussuchten, Nach der Lehrzeit war ich zwei Winter- sondern andere Augen hätten«. semester bei Dr. Schnyder. Als Anstreicher Die Verschmelzung von Mensch und Natur war ich in Basel, Buchloe und in Nürnberg und die Faszination für die Bergwelt: bis zu meinem 23. Jahre. Ein Versuch, an die Diese Motive ziehen sich durch das gesamte Münchner Akademie zu kommen, scheiterte Werk des Malers August Babberger. an den strengen Herren Professoren. »Was in der Natur vorgeht, was in mir selbst Im Januar 1908 kam ich nach Karlsruhe, ist, soll sichtbar werden«, hat es der Künstler auf dem Wege nach Hamburg, wo ich mit selbst ausgedrückt. Akkordarbeit rascher etwas Geld verdienen

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 531 03.12.2017 11:55:11 wollte, um im Sommer in die Berge zu kön- sammenhänge, die in erstaunlicher Ordnung, nen, und zeigte Hans Th oma (1839–1924) zeitfüllend oder einen anderen Gehalt ausma- meine Federzeichnungen, und er riet mir, in chend, sich ablösten, um wie Grundmotive im- Karlsruhe zu bleiben und zu radieren. mer wieder variiert wiederzukehren. Gefühls- Durch seine praktische Hilfe erhielt ich mäßig bin ich überzeugt, dass sich alle zehn später ein Ehrenstipendium der Rheinlande, Jahre eine Drehung um sich selbst vollzieht, womit ich durch Freunde an die Internatio- dass innerhalb zehn Jahren dieselben Motive nale Kunstschule in Florenz gehen konnte, wo wiederkehren, sich ausdehnend und sich jedes ich zwei Winter verbrachte, Akte malend und Mal klarer zeigend nach der Reife hin und ent- zeichnend. Als Führer hatte ich mir Hodler wickelter. So glaubte ich schon innerhalb der und Marées gewählt, die in Florenz durch die ersten zehn Jahre als ein Motiv, das Verhältnis primitiven Toscaner verstärkt wurden. Nach des Kindes zur Landschaft , (in dem der Wohn- diesen zwei Jahren siedelte ich nach Frankfurt ort als in die Landschaft Gewachsenes gilt, oder über und wurzelte dort 8 Jahre, bis die Beru- das Verhältnis zum Haus oder der Schule, oder fung nach Karlsruhe kam, wo ich nun auch zu den Kindern und Erwachsenen, so das zum schon wieder 10 Jahre verbrachte. Das ist der Vater, zu der Mutter, den Geschwistern hin), äußere Weg ungefähr«. feststellen zu können. Ich nahm zuerst das Mo- Die Landschaft , aus der heraus er nach sei- tiv Landschaft , weil ich glaube (und darin eine nen eigenen Worten erst zu verstehen ist, ist Gewissheit spüre) es sei so gewesen, nämlich: vor allem die Bergwelt. Es ist die Landschaft dass die Natur, welche in ihrem Teil zu Hau- seiner Heimat, das Wiesental, Hausen vor al- sen im Wiesental mich umgab, einen wichtigen lem, der südliche Schwarzwald um Höll bei Bestandteil in meinem Leben, als Hauptmotiv St. Blasien; es ist die Klausenpasshöhe in der ermöglichte. […]«.6 Schweiz, wo er zwanzig Jahre hindurch Som- mer für Sommer verbrachte. »Ich bin in die Landschaft des südlichen Schwarzwalds bis zu Wegen dieser Herrlich- den Alpen hineingewachsen, die mein Gesicht keiten habe ich nicht nur geworden sind und die Formen für meine Aus- Heimweh gehabt … drucksweise abgeben« […], schreibt der Künst- ler. In seinen »Notizen zu Lebenserinnerun- Über die Erinnerungen an seinen Geburtsort gen« notiert er unter anderem: Hausen im Wiesental schreibt August Bab- »Nie ist es mir bewusster geworden, wie eben, berger weiter7: […] »Ich rieche noch den Staub da Sie, meine Schüler, nach meinen Jugender- der Strasse, über den Maienberg und den ganz innerungen fragen, dass ich wirklich schon anderen Geruch des Weges nach Gresgen. älter geworden bin. Durch gelesenes Erlebnis Die Strasse nach Raitbach wird mir un- habe ich entdeckt, wie sehr die Geschehnisse vergesslich bleiben durch das Mäuerchen, in der Jugendjahre Fundament seien und deshalb dem die kleinen, weissen Schneckenhäuschen das Wichtigste an einem Leben, weshalb ich sta[e]cken, oder jener Weg nach Zell an dem im Gehen auch schon auf mein eigenes Leben ich die Ziegen hütete, die mir immer davon zurückschaute, dort forschend, welcher Kern liefen, sobald eine Frau in einem blauen Kleid das Gehäuse sei, aus dem das weitere Wach- daher kam, das auch meine Mutter trug und sen hervorkam und ich fand rhytmische Zu- an welchem Weg ausserdem jene Wunder-

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 532 03.12.2017 11:55:11 »Die Hochzeitsreise«, nicht datiert, Holzschnitt, aquarelliert, 33 x 50 cm (Blatt), Inv. Nr. 176-1-8, 2000, Schenkung aus Privatbesitz. © Kunststiftung Hohenkarpfen, Fotografie: Roland Sigwart, Hüfingen/ Kunststiftung Hohenkarpfen

August Babberger und Anna Maria Babberger- Tobler: »Das Winterbuch«, 1934, (Titelseite), Holzschnitt, aquarelliert, 53,3 x 43 cm (Blatt), Inv. Nr. 175, Schenkung aus Privatbesitz. © Kunststiftung Hohenkarpfen, Fotografie: Roland Sigwart, Hüfingen/ Kunststiftung Hohenkarpfen.

blume wuchs, Rührmichnichtan, sonst platzte ihre Frucht. Eine Herrlichkeit tut sich auf, die jene Jahre erfüllte, dass ich gut begreife, wie ich in Florenz davon träumte, teils sie noch »Bruder Fritz Babberger-Herzog beim Handorgel verschönend bis zum Märchen in grosse Uep- spielen«, n. d., Radierung, 18 x 13,3 cm (Platte), pigkeit hinein oder in Angst, das Dorf würde 18, 1 x 13,4 cm (Blatt), Inv. Nr. 178, 2000, durch neue Häuser verdorben und verbaut. Schenkung aus Privatbesitz. Liebe und Sorge haben mich so erfüllt, was © Kunststiftung Hohenkarpfen, Fotografie:Roland Sigwart, Hüfingen/ ich immer aus dem Traum erfahren habe und Kunststiftung Hohenkarpfen Heimweh spürte ich zum ersten und stärks-

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 533 03.12.2017 11:55:11 August Babberger und Anna Maria Babberger-Tobler: »Das Winterbuch«, 1934, Blatt 9, 43 x 53,3 cm, Inv. Nr. 175-9. © Kunststiftung Hohenkarpfen, Fotografie: Roland Sigwart, Hüfingen/ Kunststiftung Hohenkarpfen.

»Am Morgen«, n. d., Radierung, 20 x 17,3 cm (Platte), 24,6 x 20,1 cm (Blatt), Inv. Nr. 179, Schenkung aus Privatbesitz. © Kunststiftung Hohenkarpfen, schlechtes Wetter anzeigten. Und die Strasse Fotografie: Roland Sigwart, Hüfingen/ über den Maienberg, an dem die Sandgruben Kunststiftung Hohenkarpfen. sind (wovon eine meiner Gotte gehörte) und weiter hinten im Winkel der Schützenstand, noch weiter um eine Kehre die Schweine- ten Mal, als ich mit meinen Eltern nach Ba- weide, wo die Strasse die Richtung nach Wies- sel kam, wo ich in einem Gartenweg mich im let nimmt, an der so schöner Wald stu[a]nd. Schmerz wälz’te. Ich hatte keinen Menschen Wegen dieser Herrlichkeiten habe ich nicht vermisst, denn die Eltern waren ja da und der nur Heimweh gehabt, ich habe auch zum ers- Bruder und das Fernsein von meiner Schwes- ten Mal den Lehrer bewusst angelogen, damit ter, die ich am meisten liebte, musste ich mir ich dorthin konnte, da mein Glück in einer schon angewöhnt haben. starken Liebe gebunden war«. Nein, da wurde an einer Verwurzelung ge- zerrt, die ich heute noch besser erkenne, da ich meine Fähigkeiten kenne, in das Wesen »Der langsame Pfeil einer Landschaft hineinzuwachsen. der Schönheit …« Es fehlte auf einmal die Felswand hinter dem Haus, über der der Garten und der Wald lautet der Titel der Jubiläumsschrift (Be- waren, aus welchem nachts die Käuzchen standskatalog), die anlässlich der Ausstel- schrien. Es fehlten die Akazienbäume neben lung »Landschaft sbild im Wandel. 30 Jahre dem Haus, auch der grosse Holunderbusch, in Kunstmuseum Hohenkarpfen« erschienen ist. dem ich Tage verbrachte und dort das Was- Ein Holzschnitt, zwei Radierungen und das serrauschen lieben lernte am kleinen Brunnen »Winterbuch« werden im Depot der Kunst- und Bächlein, in dem auch die Unken abends stift ung Hohenkarpfen aufb ewahrt. Es han-

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 534 03.12.2017 11:55:12 delt sich um Schenkungen, die aus Privatbe- send Jahre währen sollte, von denen er selber sitz im Jahr 2000 in das Museum gelangten. aber nur knapp vier Jahre erlebte. Eine kunstgeschichtliche Beschreibung und Der Expressionist wurde als entarteter Einordnung der Werke bleibt den Kunsthis- Künstler eingestuft und bald nach der Macht- torikern vorbehalten. ergreifung der Nationalsozialisten mit Erlass Das »Winterbuch« von Anna Maria Bab- vom 15. Juli 1933 aus dem Lehramt entlassen. berger-Tobler und August Babberger umfasst Tragisch hierbei ist besonders die Tatsache, 15 Bögen, die als Buch im Querformat gebun- dass ein Landsmann aus dem Wiesental, Pro- den sind. Das Werk besteht aus sechs in Holz fessor Hans Adolf Bühler (1877–1951), Direk- geschnittenen Textseiten (Verse von Anna tor an der Kunstakademie in Karlsruhe, einer Maria Babberger-Tobler) und zehn Seiten mit der Betreiber für seine Entlassung war8. aquarellierten Holzschnitten, einer davon Sein Werk mit unter anderem mehr als als Titelseite. Die Größe der Blätter beträgt 3000 Blatt Grafi k blieb 1933 in Karlsruhe zu- 43 x 53,3 cm. rück und sollte beschlagnahmt werden. Der damalige Leiter der Münchner Pinakothek, Dr. Kurt Martin, behauptete daraufh in, dass Die Tage der Höhe sind vorbei das ganze Werk nichts wert sei, und rettete damit die Bilder und das graphische Werk Im Jahre 1920 wurde August Babberger an die Babbergers, das in die Schweiz transferiert unter dem Namen Landeskunstschule neuge- wurde. Kann es ein Mensch verkraft en, plötz- gründete Akademie in Karlsruhe als Profes- lich als »entartet« zu gelten? Als Untermensch sor berufen, der er sogar von 1923 bis 1930 als abgestempelt zu werden? Direktor vorstand. Nach der Wegnahme des Lehramtes war Die späte Lebensphase wird von der Ver- August Babberger tief getroff en mit seiner femung Babbergers als »entarteter« Künstler Frau 1933 in die geliebte Bergwelt der Urner und der damit verbundenen Entlassung aus Alpen zurückgekehrt. Er konnte nicht ahnen, dem Karlsruher Lehramt im Juli 1933 über- dass ihm nur noch wenig Zeit in seinem Le- schattet. Zwar behält er Wohnung und Ate- ben und für sein Schaff en geschenkt würde. lier in der badischen Landeshauptstadt, hält Die Erkrankung seiner Frau Anna im Jahre sich in der Folgezeit jedoch überwiegend im 1933 wird wohl mit eine Folge dieses unseligen schweizerischen Altdorf und in Luzern auf. Zeitgeistes gewesen sein. Die unehrenhaft e Ein Staat, der seinem Volk die Freiheit Abschiebung ihres Mannes aus dem Lehramt nimmt, missachtet auch die Freiheit der Kunst dürft e sie seelisch stark belastet haben. Sie und ächtet abweichende Meinungen. Die po- starb 51jährig nach einem Heimaufenthalt in litische und geistige Unruhe hatte auch die Münsterlingen im Jahre 1935. Karlsruher Akademie erfasst, doch die Äch- Die Meisterschülerin Erna Schillig, von tung von bekannten Künstlern war nicht er- 1925 bis 1930 an der Karlsruher Landeskunst- wartet worden; die Parallele dazu bildeten die schule, war nun von 1930 bis 1935 die engste Bücherverbrennungen jener »neuen« Zeit. In Mitarbeiterin und Wegbegleiterin von August erschreckender Weise traf dies August Bab- Babberger. berger. Der urchige Alemanne wurde ein Op- Wenn vom künstlerischen Vermächtnis fer seiner Zeit, die nach eigener Maßgabe tau- August Babbergers gesprochen wird, dann

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 535 03.12.2017 11:55:12 gebührt ein besonderer Dank Frau Professor MUSEUM HOHENKARPFEN bei Hausen ob Erna Schillig. Sie rettete sein Werk vor dem Verena vom 9. April bis 16. Juli 2017«, 204 Seiten, Stuttgart: Belser, 2017. Zugriff der Nationalsozialisten in die Schweiz, 3 Handelsblatt (Düsseldorf), Ausgabe vom 20. Feb- durch eine Stift ung ließ sie im Jahre 1960 der ruar 2014. Kunsthalle Karlsruhe eine große Anzahl von 4 Siehe auch: Andreas Gabelmann, Faszination August Babbergers Werken zukommen. Hodler – August Babberger und die Rezeption der Schweizer Moderne, in: Die Schweiz und der deut- August Babberger, dessen Lebensbejahung sche Südwesten, Wahrnehmung, Nähe und Dis- in allen seinen Bildern so spürbar zum Aus- tanz im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben druck kommt, starb allzu früh mitten aus sei- von Uri Robert Kaufmann, in der Reihe »Ober- nem großen Schaff ensdrang heraus. rheinische Studien«, Band 25, Ostfi ldern: or-Th becke, 2006, Seite 141 bis 153. »Die Tage der Höhe sind vorbei. Habe ich 5 Kunststift ung Hohenkarpfen, Ausstellung »Au- alle Sinne geöff net, damit der Himmel hinein- gust Babberger (1885–1936): Ein Landschaft sma- sinke? Das Grün der Nähe und das Blaue der ler des Expressionismus« (16. April bis 9. Juli 2000) Ferne! Und die Freude der Blumen? Dank den und August Babbergers Majolika-Bilder, Schrif- Menschen, der Natur, dem ordnenden Gott«, tenreihe der Majolika-Stift ung für Kunst- und Kulturförderung Karlsruhe, Band 1, 24 Seiten, diese ausdrucksvollen Worte schrieb August Info Verlag GmbH, Karlsruhe, 2014. Babberger als einer seiner letzten Sätze nieder. Unter dem Titel »Babberger und die Höll« plant August Babberger starb 51jährig, am 3. Sep- das Hans-Th oma-Kunstmuseum in Bernau 2018 tember 1936, in Altdorf an den Folgen einer eine Ausstellung mit Bildern von August Babber- ger und seinen Kollegen Rudolf Gudden, Robert Kropfoperation. Hoff mann und Hans Brasch. In seinem Nachruf auf den Maler schrieb 6 Es handelt sich um ein elf Seiten (A 4) umfassendes Armin Meili 1937: »In August Babberger Typoskript mit einer Farbzeichnung von August haben wir einen Künstler von im Grunde Babberger als Titelbild und der Widmung: »Frau Marie Zürcher-Babberger, Weihnacht 1936 v.[on] schweizerischer Prägung verloren«. Erna Schillig«. Noch heute kündet auf dem Altdorfer 7 Wie Anmerkung Nr. 6, Seite 2. Friedhof eine Gedenktafel vom bedeutenden 8 In ihrer Dissertation schreibt Christina Soltani künstlerischen Vermächtnis des deutsch- im 5. Abschnitt »Die Neuordnung der Akademie durch Hans Adolf Bühler« auf den Seiten 95 bis 97 schweizerischen Expressionisten: unter anderem: »Neben seinem Amt als Kunsthal- »Sein Werk ist eine Hymne auf den Kan- lendirektor und seinen Verpfl ichtungen als künst- ton Uri«. lerischer Leiter der Deutschen Kunstgesellschaft , kam Bühler als Direktor der Landeskunstschule nach der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialis- Anmerkungen ten die Aufgabe zu, die Hochschule neu zu ord- nen. Die Maßnahmen bestanden im Austausch 1 Die Überschrift zu diesem Beitrag ist leicht ab- des Lehrkörpers, in der Umbenennung in Badi- gewandelt übernommen von der Kalenderge- sche Hochschule der bildenden Künste sowie in der schichte »Unverhofft es Wiedersehen« von Johann Umgestaltung des Unterrichts durch eine neue Ver- Peter Hebel (1760 bis 1826). Diesen Aufsatz widme fassung, die Bühlers Kunstanschauung widerspie- ich den Eheleuten Ilse und Gustav Oberholzer in gelt. Obwohl sie von dem Entlassungsschreiben des München. Kultusministers nicht betroff en waren und auch in 2 Ausstellungskatalog zum Jubiläum »Der langsame völkischen Kreisen als Künstler geschätzt wurden, Pfeil der Schönheit«, 30 Jahre Kunstmuseum Ho- verließen die Maler Albert Haueisen und August henkarpfen. Die Publikation erschien anlässlich Babberger die Lehranstalt auf eigenen Wunsch. […] der Ausstellung »Landschaft sbild im Wandel. 30 Babberger erhielt nach Ablauf seines Vertrages mit Jahre Kunstmuseum Hohenkarpfen im KUNST- der Karlsruher Hochschule ab dem 1. Oktober 1933

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 536 03.12.2017 11:55:12 für drei Jahre eine ›Übergangsrente‹ von monatlich Moehring, Markus und Gabelmann, Andreas (He- 356,72 Reichsmark, um eine neue Stelle zu fi nden«. rausgeber), August Babberger, Der badische Ex- Sowohl vor als auch nach Babbergers Weggang pressionist, Ausstellungskatalog, in der Reihe versuchte Bühler, ihn für die Leitung einer Fach- »Lörracher Heft e [12]«, Verlag Waldemar Lutz, klasse der Textilabteilung zu gewinnen bezie- Lörrach, 2010, 94 Seiten. hungsweise ihn im Dezember 1933 als Direktor der Soltani, Christina; Leben und Werk des Malers Staatlichen Hochschule für Textilkunst im thürin- Hans Adolf Bühler (1877–1951) Zwischen symbo- gischen Plauen unterzubringen. listischer Kunst und völkischer Gesinnung, Verlag August Babberger wurde mit Kündigungsschrei- und Datenbank für Geisteswissenschaft en, Wei- ben vom 25. Juli 1933 von Kulturminister Otto mar 2016, 566 Seiten, zugl.: Freiburg im Breisgau, Wacker seines Lehramtes enthoben und verlor Univ., Diss. 2015. damit unweigerlich seine Stelle an der Akademie. Vögely, Ludwig, Ein berühmter Sohn Hausens i. W., Das Schreiben ist erhalten und wird in der Disser- August Babberger zum 100. Geburtstag, in: Badi- tation von Andreas Gabelmann auf Seite 111 in sche Heimat, Heft 2, Juni 1986, Verlag G. Braun, der Anmerkung 571 zitiert. Eindeutig nicht zutref- Karlsruhe, Seite 294 bis 298. fend ist jedoch die Angabe, dass August Babberger seine Professur auf eigenen Wunsch beendet hat! Der gesamte Vorgang ist ebenfalls in der Disserta- Dank tion von Andreas Gabelmann auf den Seiten 110 bis 114 dargelegt. Mein Dank gilt der Kunststift ung Hohenkarpfen, stellvertretend Herrn Mark R. Hesslinger, M. A., Kustos, für die freundliche, hilfreiche und vorzüg- Verwendete Literatur liche Unterstützung zu diesem Beitrag, insbeson- dere auch für die Zustimmung zum kostenfreien Babberger, August, »Notizen zu Lebenserinnerun- Abdruck der Bildvorlagen. gen«, Typoskript mit elf Seiten und einer Farb- Frau Anne Schulte von der bpk-Bildagentur in Ber- zeichnung von August Babberger als Titelbild und lin danke ich für die Unterstützung bei der Bild- der Widmung: »Frau Marie Zürcher-Babberger, auswahl aus der Sammlung der Staatlichen Kunst- Weihnacht 1936 v.[on] Erna Schillig«. halle Karlsruhe. Bischoff , Bernhard, Neuere Künstler und Schrift stel- Mein Dank gilt ebenso Herrn Bürgermeister Martin ler, August Babberger, in: Hausen im Wiesental Bühler, Hausen im Wiesental, für die Vermittlung – Gegenwart und Geschichte, o. O., [Schopfh eim, des Typoskripts »Notizen zu Lebenserinnerun- 1985], Seite 225 bis 227. gen« von August Babberger. Nicht zuletzt gilt mein Borchardt, Stefan, (Herausgeber), Der langsame Pfeil Dank Frau Ursula Voboril, Karlsruhe, für ver- der Schönheit, 30 Jahre Kunstmuseum Hohen- schiedene Auskünft e über die Majolika-Stift ung karpfen, 204 Seiten, Stuttgart: Belser, 2017. in Karlsruhe. Ein herzlicher Dank geht auch an Gabelmann, Andreas, August Babberger (1885– Herrn Andreas Gabelmann, Radolfzell, für seine 1936), Leben und Werk, Karlsruher Schrift en freundliche Unterstützung. zur Kunstgeschichte, Band 3, Münster: LIT, 2002, zugl.: Karlsruhe, Univ., Diss., 1999. Gabelmann, Andreas, Faszination Hodler – August Babberger und die Rezeption der Schweizer Mo- derne, in: Die Schweiz und der deutsche Südwes- ten Wahrnehmung, Nähe und Distanz im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben von Uri Robert Kaufmann, in der Reihe »Oberrheinische Stu- dien«, Band 25, Ostfi ldern: Th orbecke, 2006, Seite Anschrift des Autors: 141 bis 153. Elmar Vogt Kunstmuseum Luzern, August Babberger, zum 100. Riedackerweg 7 Geburtstag und 50. Todesjahr, Ausstellungskata- 79688 Hausen im Wiesental log, Luzern 1986.

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530_Vogt_Ein unverhofftes Wiedersehen mit August Babberger.indd 537 03.12.2017 11:55:12 »Auf´s Ganze gesehen« – oder: »Denk ich an den Bodensee …« – Manfred Bosch zu Ehren Versuch einer Würdigung seines literarischen Schaffens zum 70. Geburtstag

Elmar Vogt

Die Biographie und das Werk des Autors und Herausgebers Manfred Bosch sind so eng mit den Literaturlandschaft en Bodensee, Vorarlberg, Markgräfl erland, Oberrhein und Wiesental verknüpft , dass Martin Walser ihm den Ehrentitel »Literarischer Sekretär der Region« verlieh. Er hat mit unerschöpfl icher Neugier und Arbeitslust über Jahrzehnte zahlreichen Lesern eine »Heimat in der Literatur-Welt« geschaff en, davon zeugen auch die Eintragungen von mehr als 100 Titel im Verzeichnis der Deutschen Nationalbibliothek.

Ha, erwischt! Wieder mal beim Lesen! M. B.

Für wen schreibt der eigentlich?1

Was Literatur sein soll, steht nicht ein für alle Mal fest, es ändert sich mit den Methoden und Stimmungen. Die Literatur möge das Leben spiegeln, das des Lesers wie das des Verfas- sers, damit beide einander näher kämen. Wer an der Geschichte Südwestdeutschlands, und hier insbesondere an der Literaturgeschichte interessiert ist, stößt unweigerlich auf einen Namen, dem er noch häufi ger begegnen wird: Manfred Bosch. Damit Literatur gelesen wird, braucht es

mehr als die Denkanstöße eines Autors. Litera- Manfred Bosch konnte am 16. Oktober 2017 tur muss editiert, rezensiert, bekannt gemacht seinen 70. Geburtstag feiern. werden. Der Herausgeber, Schrift steller und Bildvorlage: ©Anne Overlack

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 538 03.12.2017 12:59:12 Lyriker Manfred Bosch ist seit Jahrzehnten in all diesen Aspekten so eng mit den Literatur- landschaft en Bodensee, Vorarlberg, Markgräf- lerland, Oberrhein und Wiesental verknüpft , dass Martin Walser ihm den Ehrentitel »Lite- rarischer Sekretär der Region« verliehen hat. Der am 16. Oktober 1947 in Bad Dürrheim geborene Jubilar hat zahlreiche Gedichtbände, Erzählungen, umfangreiche Veröff entlichun- gen zur neueren Kultur- und Literaturge- schichte des Bodenseeraumes, Publikationen zur Nachkriegsgeschichte in Südwestdeutsch- land und darüber hinaus des alemannischen Kulturraumes veröff entlicht. Nach dem Abi- tur 1968 zog es Manfred Bosch zum Studium der Soziologie und Germanistik nach Mün- chen. Das Studium brach er 1974 ab, um als Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift »Publikation« sein Handwerk zu lernen und danach als freier Schrift steller Zeichen zu set- Buchumschlag des Gedichtbandes zen. »Hiergeblieben« ist er, wenn nicht in Bad »Wa sollet au d Leit denke – Letzte Alemanni- sche Gedichte«, 1983. Foto: Elmar Vogt Dürrheim und in Radolfzell, den Orten sei- ner Kindheit, so doch, in Rheinfelden und Lörrach lebend, bald nach Konstanz ziehend, in der Regio: Manfred Bosch, der sich über dichten, Beispiele der neuen Dialektdich- »Heimat und andere Einbildungen« ein Leben tung, die nicht mehr auf eine Verniedlichung lang seine Gedanken macht, über das histo- der Idylle setzte; aber Manfred Bosch stellte risch Fällige wie über das Unerledigte, über nicht Ironie dagegen, sondern suchte das Be- und Ent-heimatungen im Dreiländereck. traditionelle Vergnügen an der Mundartli- Ernst Blochs Traum vom »Umbau der Welt teratur »mit den eigentlichen Qualitäten der zur Heimat« durchzieht sein Werk. Hermann Mundart, ihrer Erkenntnisfunktion zu ver- Bausinger warnte bereits 2001, »dass man binden«. Er hielt den Dialekt auch nicht für Heimat eigentlich nicht defi nieren darf, denn ein ganz beliebig einsetzbares Medium der Li- man defi niert sonst alles Mögliche weg, was teratur. Der 1983 erschienene Band mit dem auch dazugehört«.2 sprechenden Titel »Wa sollet au d Leit denke« trägt den Untertitel »Letzte alemannische Ge- dichte« – Manfred Bosch nahm Abschied von Wa sollet au d Leit denke3 der Mundartliteratur, die er vier Jahre vorher auch in einem historischen Überblick über Begonnen hat Manfred Bosch, für viele viel- sechs Jahrhunderte vorgestellt hatte. leicht überraschend, mit Lyrik. Am Anfang Ein einmaliger Abstecher in die Prosa war standen vier kleine Bände mit Mundartge- 1978 die Erzählung »Der Zugang«, ein Kurz-

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 539 03.12.2017 12:59:13 roman, in dem der Jubilar seine Erfahrungen Arbeiten von bleibendem Wert vor: »Als die als Zivildienstleistender in einem Senioren- Freiheit unterging«5 lautet der Titel einer Do- wohnheim verarbeitet hat. kumentation über Verweigerung, Widerstand und Verfolgung im Dritten Reich in Südba- den. Und numme keini Säbel meh!4 Aus der deutschen Nachkriegszeit in Süd- baden 1945–1950 berichtet der Autor in sei- Bereits in der Zeit, als er noch in München nem Geschichtsbuch »Der Neubeginn«6. Soziologie studierte und später in der Re- Manfred Bosch stellt hier erstmals die po- daktion der Autorenzeitschrift »Publikation« litischen, wirtschaft lichen und kulturellen mitarbeitete, entwickelte Manfred Bosch ein Verhältnisse in Südbaden umfassend dar, starkes Interesse an sozial-, heimat- und re- vom Einmarsch der französischen Besat- gionalgeschichtlichen Th emen. Oppositionel- zungstruppen an bis 1950, dem Jahr, in dem les, freiheitliches Gedankengut, das politische die unmittelbare Nachkriegszeit nach Wäh- Verantwortungsbewusstsein zieht sich zudem rungsreform und Gründung der Bundesre- bis heute noch wie ein roter Faden durch die publik abgeschlossen war. »Vorgänge sind Publikationen des Jubilars. dokumentiert, die uns allen irgendwo im 1985 und 1988 legte Manfred Bosch zwei Dokument vertraut sind. Was aber den Reiz, im Positiven und im Negativen, ausmacht, ist die Nähe des versammelten Materials, das nicht mehr das als Fremdes aus der Distanz Lernbare eines Geschichtsbuches sein kann. […] Bosch hat die Dokumente in fl eißiger Ar- chivarbeit ausgegraben und mit klugen all- gemeinverständlichen Einleitungen in den richtigen Rahmen gestellt. Die Geschichte aber besteht nicht aus gelb- lich gewordenen Papieren. Personen haben ihr die Prägung verliehen, besonders die Schrift stellerkollegen Boschs, Oppositionelle, Vertriebene, Verfolgte wie der Pazifi st Max Barth aus Waldkirch, der Publi- zist und Zeitungsgründer Erich Schairer, der Schrift steller Josef W. Janker oder Sepp Mah- ler, der Lump und Philosoph der Straße. Sorgfältige Ausgaben, zum Teil aus un- geordnetem Archivmaterial, einfühlsame Einführungen stellen die Figur des jeweili- gen Autors plastisch vor Augen, seine Th e- men und Traumata, deren Überwindung, Buchumschlag »Als die Freiheit unterging«, 1985. die Um- und Widerstände, an denen sich Foto: Elmar Vogt das Talent erst ausbilden musste, die Grund-

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 540 03.12.2017 12:59:13 erfahrung und psychische Disposition, das alles mit der gebotenen Bescheidenheit und Kürze. Manchmal ist es literarische Archäo- logie, die Bosch betreibt. Es sind vor allem seine Gesinnungsgenossen, schon vergessene oder solche, die in Gefahr sind, dass die Li- teraturgeschichte, von der nur Naive meinen können, sie folge dem Prinzip historischer Gerechtigkeit, über sie hinwegschreitet. […] Und welches ist die Grunderfahrung unseres Preisträgers? Es ist die, wegen der er hier als Hebelpreisträger steht, eine Erfahrung, die alle Bereiche seines Werkes, den politischen, lyrischen, literarischen und historischen ei- nigermaßen einheitlich, wenn auch in unter- schiedlichen Graden durchdringt. Es ist die gelebte Erkenntnis, dass man, um ein selbst- bestimmtes und kulturzentriertes Leben als Schrift steller führen zu können, auf die Teil- habe und Solidarität ebenso angewiesen ist, wie man sie aufb ringen muss gegenüber den Buchumschlag »Der Neubeginn«, 1988. Mitmenschen, die man erst durch die Nähe in Foto: Elmar Vogt ihrer Größe und auch ihrer verhockten Pro- vinzialität erfahren kann, und auch gegen- über denen, die schon seit vielen Jahren tot Manfred Bosch war Mitbegründer der Lite- sind. Die Umwelt wird dann erst zur lebendi- raturzeitschrift »Allmende« deren erste Aus- gen Region, behält aber ihre wirkungsdurch- gabe 1981 erschien. Gute zwanzig Jahre lie- lässige Öff nung zur Welt«7. fen die Fäden für 80 Ausgaben der alemanni- schen Literaturzeitschrift bei Manfred Bosch zusammen. »Heimat – aber woher nehmen?«8 Was viele Leser der »Neuen Allmende« ver- missen, sind Literaturbeiträge und Reportagen Allmende? Sagt uns das noch etwas? aus dem alemannischen Sprachraum, so wie es Vor nahezu 40 Jahren trat die Literatur- für die Herausgeber und Mitbegründer in den zeitschrift an als Sprachrohr eines erwachen- Anfangsjahren, seit Bestehen der »Allmende«, den Selbstbewusstseins der Provinz, als »li- Manfred Bosch, Leo Haff ner, Adolf Muschg, terarisches Forum, als ein Ort der Deutung Matthias Spranger, Martin Walser und André seiner (Zeit-)Geschichte, als Chance und Weckmann das Ziel war, ein entsprechendes Auff orderung zum Austragen von Stand- Forum im alemannischen Sprachraum für die punkten über Grenzen hinweg«, schreibt alemannische Sprache zu schaff en. Manfred Bosch in der Ausgabe Nr. 64/65 der »Jedes Heft war das letzte gewesen«, schrieb »Allmende«9. Manfred Bosch bereits 1991 im Rückblick auf

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 541 03.12.2017 12:59:13 Heftumschlag der ersten Ausgabe von »Allmende – Heftumschlag der Ausgabe »Allmende«, Eine alemannische Literaturzeitschrift«, 1981. Nr. 66/67, 20. Jahrgang, Band 2. Foto: Elmar Vogt Foto: Elmar Vogt

das erste Jahrzehnt. Unter dem Titel »Kultur- »Bohème am Bodensee – Literarisches Leben Land« skizziert Manfred Bosch in einer brei- am See von 1900 bis 1950«. ten Auswahl kleiner Textauszüge die Ent- Manfred Bosch, bewandert in allen Hö- wicklung des Kunst- und Kulturlebens im henlagen der Literatur, konzentrierte sich Südwesten vom ausgehenden 19. Jahrhundert weiterhin auf literarische Zeugnisse, die bis heute. kaum Zugang zum bürgerlichen Bildungs- kanon fanden, schreibt Hermann Bausinger in einem Geburtstagsgruß im »Literaturblatt Und so etwas ist für Baden-Württemberg«, (Ausgabe Septem- des Lesens zweimal wert10 ber/Oktober 2017), herausgegeben von Irene Ferchl. Ebenso gehören Anthologien, Bücher und Gleichzeitig und oft in direkter Verbin- Werkausgaben zeitgenössischer sowie ver- dung ging es Manfred Bosch darum, litera- gessener Autoren zum umfangreichen Schaf- rische Tradition und literarisches Leben sei- fen des Autors. Ein eindrucksvolles Ergebnis ner Heimatregion rund um den Bodensee zur der Arbeit von Manfred Bosch ist auch der Geltung zu bringen und dazu auch einen ei- wertvolle und schwergewichtige Essayband genen poetischen Beitrag zu leisten. Manfred

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 542 03.12.2017 12:59:13 Das Aufarbeiten eines historischen Stoff es, das Editorische, das Entdecken von »Stim- men, die heute nicht mehr präsent sind«, die zeitgeschichtliche Darstellung – »da fühle ich mich wohl«, äußerte sich der Jubilar 1990 in einem Interview.

Vieles wäre noch zu sagen12

Ohne Bücher gibt es kein Paradies – niemand wusste das wahrscheinlich besser als Um- berto Eco. Folgendes wurde über das Schrei- ben schon oft gesagt oder gedacht, vielleicht einfach deshalb, weil es sagenswert und wahr ist: Man kann schreibend ein anderer sein. Folgendes wurde nicht weniger oft ge- sagt oder gedacht, vielleicht einfach deshalb, weil es nicht weniger sagenswert und wahr Buchumschlag »Bohème am Bodensee – ist: Man kann schreibend der sein, der man Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950«, ist. Es gibt niemanden, der die eigenen Ge- 3. verbesserte Auflage, 624 Seiten, gebunden, 464 Abb., Libelle Verlag, Lengwil/Schweiz (TG). danken zurechtstutzt, niemanden der be- Bildvorlage: ©Libelle Verlag, Lengwil/Schweiz (TG) stimmt, wie man was zu äußern hat und wel- cher Sache man Gewicht geben möchte und muss. Nur beim Schreiben kann man sich gestatten, hinzusehen, der Welt ins Auge Bosch porträtierte und skizzierte Schrift stel- zu sehen, ihrem Schweren und Schönen, ler, und hob die Literaturregionen Bodensee, und unbeschadet zurück ins Leben treten. Vorarlberg, Markgräfl erland, Oberrhein und Ohne die Bücher und das Werk von Man- Wiesental in das Bewusstsein einer breiten fred Bosch wäre das Paradies um viele gute Öff entlichkeit. Bücher ärmer. Der Jubilar gehört zu den profi liertesten Kennern der (südwest-)deutschen Literatur- geschichte. Die Vielseitigkeit des Jubilars ist Manfred Bosch zu Ehren: bemerkens- und bewundernswert. So ist es Eine »Freundschaftsgabe«13 auch nicht verwunderlich, dass er sich mit Jo- hann Peter Hebel (1760 bis 1826) und der Ge- Nicht nur Walther Killys Literaturlexikon schichte des nach dem Th eologen, Pädagogen preist den »Schwarzwälder Essayisten, Lite- und dem ersten Prälaten der Landeskirche raturhistoriker, Herausgeber und Hauptver- Baden benannten Auszeichnung und deren treter der zeit- und gesellschaft skritischen Preisträger auseinandergesetzt hat (Katalog- alemannischen Mundartliteratur«. Zahlrei- band: 50 Jahre Johann Peter Hebel-Preis)11. che Ehrungen und Auszeichnungen sind dem

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 543 03.12.2017 12:59:14 Jubilar zuteil geworden, so unter anderem:

»Alemannischer Literaturpreis« (1985), »Jo- Siegmund Kopitzki und Inga Pohlmann (Hg.) hann Peter Hebel-Preis« des Landes Baden- Württemberg (1990), »Bodensee-Literatur- preis« der Stadt Überlingen (1997), »Hebeld- Manfred Bosch – ank« des Hebelbundes Lörrach e. V. (2002), Literarischer Sekretär »Verdienstmedaille des Landes Baden-Würt- der Region temberg« (2003), »Ludwig-Uhland-Preis«

(2005), und »Kulturpreis des Bodenseekrei- EINE FREUNDSCHAFTSGABE ses« (2008). Derzeit leitet Manfred Bosch als erster Vor- sitzender die literarische Gesellschaft »Forum Allmende e. V.«; außerdem ist er Vorsitzender der Leopold Ziegler-Stift ung. Kann es als Ge- burtstagsgeschenk etwas Schöneres als eine Freundschaft sgabe geben? Für diese Freundschaft sgabe haben 26 teils langjährige Freunde und Weggefährten sehr persönliche Beiträge und Essays geschrieben, darunter auch namhaft e Kollegen wie Mar- tin Walser und Adolf Muschg. Eine abwechs- lungsreiche Anthologie, über das umfangrei- Buchumschlag der Freundschaftsgabe für che schrift stellerische Werk des Jubilars liegt Manfred Bosch zu seinem 70. Geburtstag. vor, welche regelrecht zum Schmökern und Bildvorlage: ©Südverlag GmbH, Konstanz Verweilen einlädt. Die Autoren und Gratulan- ten fi nden einen ganz persönlichen Zugang – über Anekdoten, Fotos oder die individuelle Bosch-Lektüre. Eine nette Geste zu Ehren des Bosch zu kennen – und doch gilt es, ihn und Jubilars. sein Werk immer wieder neu zu entdecken. Der Schrift steller, Publizist und Heraus- Dass dem engagierten Autor, Schrift steller, geber Manfred Bosch hat mit unerschöpf- Literaturhistoriker, Essayisten und Lyriker, licher Neugier und Arbeitslust über Jahr- dem unermüdlichen und leidenschaft lichen zehnte zahlreichen Lesern eine »Heimat in »Ausgräber und literarischen Archäologen« der Literatur-Welt« geschaff en, davon zeu- vergessener Autoren, Gesundheit und Gelas- gen auch die Eintragungen von mehr als senheit erhalten bleiben, wünschen wir Man- 100 Titel im Verzeichnis der Deutschen Na- fred Bosch – und uns, dass wir noch lange tionalbibliothek. Eine stattliche Anzahl von aus den Quellen seiner Kenntnisse lesen und Büchern und Hunderte von Essays, Aufsät- schöpfen dürfen. zen, Lexikonartikel und Buchbesprechun- Herzliche Geburtstagsgrüße und Glück- gen hat er veröff entlicht – und die Quelle ist wünsche gehen heute an den Jubilar Manfred noch längst nicht versiegt. Das ist wunder- Bosch und seine Partnerin Ilse Friedrich nach bar! Man glaubt nur allzu leicht, Manfred Konstanz.

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 544 03.12.2017 12:59:14 Anmerkungen 8 Wie Anmerkung Nr. 2, Titel des Podiumsge- sprächs. 1 Für wen schreibt der eigentlich?, Gespräche mit 9 ALLMENDE, Vorwort von Manfred Bosch zur lesenden Arbeitern; Autoren nehmen Stellung, Ausgabe Nr. 64/65, KulturLand, Kunst und Kul- Manfred Bosch, zusammen mit Klaus Konjetzky, tur im Südwesten von 1900 bis 2000, Band 1, 20. (= Serie Piper, Band 55), München: Piper 1973. Jahrgang, Eggingen 2000, Edition Isele. Siehe »Die Frage: Für wen schreibt der eigentlich? ist im auch: Heinrich Hauß, Die »alte« Allmende (1981– herrschenden Literaturbetriebnicht unbekannt. 2001) »Entwicklung zu einem gewichtigen Perio- Nur ist sie dort eine Frage des Marketing, bezieht dikum«, Zu Manfred Boschs 70. Geburtstag, in: sich auf Zielgruppen, Käuferschichten und Ab- Badische Heimat, Band 3/2017, September 2017, satzmärkte. Meint die Frage aber: In wessen In- S. 436–439. teresse schreibt der Autor? und: Wem dient sein 10 Textzeile aus Johann Peter Hebels Kalenderge- Werk?, so wird sie gemeinhin mit der Deklara- schichte »Der Kommandant und die Badischen tion abgetan: dies sei Kunst und jenes nicht, und Jäger in Hersfeld«, in der Reihe »Tempel-Klas- Kunst bedürfe keiner aktuellen gesellschaft lichen siker«, herausgegeben von Emil Strauß, Verlag Legitimation, weil sie eben Kunst sei und damit Emil Vollmer, Wiesbaden, o. J., S. 179 bis 181, hier zeitlos und zwecklos und nicht mehr im Sinn Seite 181. habe als die Erfüllung subjektiver kultureller Be- 11 Manfred Bosch, Der Johann Peter Hebel-Preis dürfnisse […]«, konstatieren die Autoren in der 1936–1988, Eine Dokumentation, Waldkircher Einleitung zum genannten Buch. Verlag, 1988, 376 Seiten. 2 Ein Podiumsgespräch unter Leitung von Wolf- 12 Anfang des Gedichts »der andere Weg« von gang Heidenreich mit den Herausgebern der Liesa Trefzer-Blum, abgedruckt im Gedichtband ALLMENDE Hermann Bausinger, Manfred »Feuerfl ug«, Drey-Verlag, Gutach, 2004, S. 64. Bosch und Martin Walser anlässlich der Heimat- 13 »Manfred Bosch – Literarischer Sekretär der Re- tage Baden-Württemberg 1997 in Wehr, abge- gion«, Freundschaft sgabe zu dessen 70. Geburts- druckt in: ALLMENDE, Nr. 54/55, 17. Jahrgang, tag am 16. Oktober 2017, Südverlag Konstanz, Eggingen 1997, Edition Isele, S. 23 bis 53, hier 2017, 14,5 x 22 cm, ca. 50 Abbildungen, geb. mit Seite 24. Schutzumschlag, 240 Seiten. Gleichzeitig auch 3 Titel des Gedichtbandes »Wa sollet au d Leit Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im denke – Letzte Alemannische Gedichte«, Augs- Hesse Museum Gaienhofen, Ausstellungsdauer burg, 1. Aufl age 1983, 70 Seiten. vom 24. Oktober bis 12. November 2017. Die 4 32. Strophe, erste Zeile des Gedichtes »Der Ausstellung der Literarischen Gesellschaft »Fo- Schmelzofen« von J. P. Hebel (1760 bis 1826). rum Allmende« entstand in Zusammenarbeit mit 5 Als die Freiheit unterging, Eine Dokumentation dem Hesse Museum Gaienhofen und dem Franz- über Verweigerung, Widerstand und Verfolgung Michael-Felder-Archiv Bregenz. im Dritten Reich in Südbaden, Verlag des Südku- rier Konstanz, 1985, 356 Seiten. 6 Der Neubeginn, Aus deutscher Nachkriegszeit Südbaden 1945–1950, Verlag des Südkurier Kon- stanz, 1988, 368 Seiten. 7 Manfred Bosch erhält den Hebelpreis des Landes Baden-Württemberg, Auszug aus der Laudatio auf Manfred Bosch von Volker Schupp anläss- lich der Verleihung des Hebelpreises des Landes Anschrift des Autors: Baden-Württemberg am 10. Mai 1990 in Hausen Elmar Vogt im Wiesental, abgedruckt in: Das Markgräfl er- Riedackerweg 7 land – Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur, 79688 Hausen im Wiesental Band 2/1990, S. 142 bis 145.

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538_Vogt_Manfred Bosch.indd 545 03.12.2017 12:59:15 Hochwasserrückhaltebecken Wolterdingen

Otto E. Hofmann

Das Land Baden-Württemberg hat in den vergangenen Jahren viele Maßnahmen zur Verbes- serung des Hochwasserschutzes umgesetzt. Der wichtigste Baustein an der oberen Donau ist das Hochwasserrückhaltebecken an der Breg in Wolterdingen, das als Schlüsselelement des Integrierten Donau-Programms ausgeführt wurde. Das Rückhaltebecken hat einen Stauraum von 4,7 Millionen Kubikmetern, ein Dammvolumen von 350 000 Kubikmetern, die Damm- höhe beträgt 18 Meter, die maximal überstaute Fläche 70 Hektar. Bauzeit 2006 bis 2012, Bau- kosten € 23 000 000.

Von alters her war der Hochwasserschutz Wenn seine Königliche Hoheit, Großher- eine der vornehmsten Aufgaben im Lande zog Leopold I., in der Osterzeit von Karlsruhe Baden. Unter der Leitung von Johann Gott- in seine südlichen Provinzen fuhr, musste er fried Tulla1 wurde 1817 mit der Regulierung oft bei Riegel mit seiner Rumpelkutsche über des Rheins begonnen. Der Verlauf des Flus- überschwemmte, schlammbedeckte Wege ses wurde weitgehend begradigt, Hochwas- fahren. Dreisam und Glotter münden dort in ser konnte schneller abfl ießen, Überschwem- die Elz und bei Schneeschmelze kam es im- mungen wurden selten, die Rheinauen waren mer zu Überfl utungen. 1837–1843 wurde ein kein Malariagebiet mehr. Tulla starb an Mala- Kanal gebaut, der die Wassermassen schnell ria, er hatte sich oft und lange auf seinen Bau- und schadlos zum Rhein brachte, der Leo- stellen aufgehalten; ein badischer Ingenieur. poldskanal. Dank des Kanals hat das Badi- sche Volk seinen Leopold nie vergessen, aber dass er 1849 sein Volk verraten und ausländi- sche Truppen nach Baden geholt hat, davon spricht heute niemand mehr2. Nach den extremen Hochwasserereignis- sen 1990 und 1995 erkannte man das Ein- zugsgebiet der Breg als Ursache für die Über- schwemmungen in Bräunlingen, Hüfi ngen, Teilen von Donaueschingen und den Siedlun- gen an der Donau bis Ulm. 2005 beschloss das Land den Bau eines Hochwasserrückhalte- beckens in Donaueschingen-Wolterdingen Damm von der »Seeseite« aus, rechts Feuchtwiesen am Unterlauf der Breg, dem längsten Quell-

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546_Hofmann_Hochwasserrueckhaltebecken.indd 546 03.12.2017 11:55:45 Dammbalkenverschluss an der Landesstraße L 180

fl uss der Donau. Man sah sich in der jahrhun- Sie reicht mit einer Länge von 31 Kilometer dertealten Tradition der Hochwasserbekämp- noch über Furtwangen hinaus bis zum 1149 fung in Baden. Dieses Bauwerk, das im Juni Meter hohen Brend. 2012 nach sechsjähriger Bauzeit in Betrieb ge- Ein 18 m hoher Erddamm wurde geschüt- nommen wurde, schützt die Menschen und tet. Bei einem 100jährigen Hochwasserereig- ihre Siedlungen an der Oberen Donau bis nis wird ein über drei Kilometer langer See Ulm vor Überfl utungen. Die Wassermassen aufgestaut, der am Damm eine Breite von 460 werden zurückgehalten. Ganz im Gegensatz Meter hat und im Tal unterhalb der Burgruine zu den Maßnahmen des 19. Jahrhunderts, die Zindelstein (12. Jahrhundert)3 ausufert, etwa für ein schnelles Abfl ießen des Wassers sorg- 600 Meter vor dem Gasthaus »Zum Schwar- ten, und die hohen Pegelstände des Rheins zen Buben«. Eine Fläche von über 70 Hektar nördlich von Baden mitverursachten. Das wird überfl utet sein. Die Dammkrone liegt neue Becken kann 4,7 Millionen Kubikmeter auf 731,50 Meter über NN, zwei Meter über aufnehmen, das entspricht der Wassermenge, dem Stauziel, was der Anlage eine zusätzli- die statistisch gesehen, einmal in 100 Jahren che Sicherheit gibt. Die Landesstrasse L 180 auf das Einzugsgebiet der Breg oberhalb Wol- wurde nur um sieben Meter bis zum Stauziel terdingen herunterregnet. Die Fläche dieses 729,50 Meter über NN erhöht. Auf der linken Einzugsgebiets beträgt 183 Quadratkilometer. Talseite wo die Straße über den Damm führt,

Badische Heimat 4 / 2017 Hochwasserrückhaltebecken Wolterdingen 547

546_Hofmann_Hochwasserrueckhaltebecken.indd 547 03.12.2017 11:55:46 Betriebsgebäude, Rechen der See im ehemaligen Steinbruch Hochwasserentlastung, Auslassbauwerk

sind die letzten zwei Meter nicht aufgeschüt- sich zwischen den Durchlassstollen und dem tet. Eine Stahlbetonkonstruktion bietet die darüber liegenden Betriebsgebäude eine Möglichkeit, die Lücke mit Aluminiumele- Hochwasserentlastung. Ein Rechen verhin- menten zu verschließen, sodass die Höhe der dert das Verstopfen der Hochwasserentlas- Dammkrone überall gewährleistet ist. Dieser tungsanlage durch Treibgut. Das Betriebs- Freibord von zwei Metern bietet Schutz, wenn gebäude scheint zwischen den hochgezo- bei Vollstau Wind und Wellen die Situation genen Betonwänden der Betriebsstollen zu verschärfen. schweben. Die dunkle Carten-Stahlfassade Das Hochwasserrückhaltebecken ist ein sorgt für ein architektonisch ansprechendes Trockenbecken ohne Dauerstau. Erst ab ei- Erscheinungsbild der Bauwerke. Auf beiden nem Hochwasser, das sich statistisch alle Seiten des Staudamms wächst Gras, das von fünf Jahre ereignen kann, werden die drei Schafen abgeweidet wird. Sie sorgen nicht Abfl usstunnel (drei Abfl ussöff nungen von je- nur für einen gepfl egten Rasen, mit ihren weils vier Meter Breite und dreieinhalb Me- Füßen verdichten sie auch kontinuierlich ter Höhe) mit Stahlsegmenten geschlossen die Dammoberfl äche. Die Böschungen sind und der See wird aufgestaut. Zuerst wird der für Schafe nicht zu steil. Unter dem Damm nördliche Durchlass, der als Ökostollen be- staut eine Betonschlitzwand den Grund- zeichnet wird, vollkommen geschlossen. Die wasserstrom dauerhaft . Eine Schlitzwand Steuerung des Einstaus wird mit dem mitt- ist ein unterirdisches Bauwerk. Im Schutz leren und dem südlichen Durchlass vorge- einer Stützfl üssigkeit wird ein Schlitz im nommen. Boden ausgebaggert. Dieser Schlitz wird Durch den Ökostollen fl ießen normaler- dann mit Rohren von unten nach oben mit weise die Wasser der Breg. Dieser Stollen hat Beton vollgegossen. So entsteht eine Beton- eine Fischtreppe und sorgt für die Durch- wand im Untergrund. Auf den Wiesen hin- wanderbarkeit des Flusses für die Fließge- ter dem Damm liegt der Grundwasserspie- wässerorganismen, die am Boden des Ge- gel »seeseitg« dadurch an der Oberfl äche, wässers leben. Auf der Höhe des Stauziels das Grundwasser stagniert, Sumpf- und (zwei Meter unter Dammkrone) befi ndet Moorpfl anzen breiten sich aus, rotblühende

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546_Hofmann_Hochwasserrueckhaltebecken.indd 548 03.12.2017 11:55:46 Kraftwerk im Stauraum, dahinter Feuchtwiesen Furt zur Insel mit Fußgängerüberweg

Blutweiderichfelder (Lythrum salicaria) und Pionierpfl anzen, bunten Blumen und Brom- Schilfk olben erfreuen den Spaziergänger, so beeren zu schmücken. Nach einem kurzen lange die Tigermücken dieses kleine Para- Aufstieg über einen steinigen Trampelpfad, dies noch nicht entdeckt haben. Tulla winkt ist der kleine See eine unerwartete Überra- mit dem großen Zeh! schung, ein Märchensee! Weiter fl ussaufwärts wurde der Wald im Noch eine weitere Besonderheit bietet das Rückhaltebecken den künft igen, temporären leere Trockenbecken. Etwa 50 Meter hinter Überschwemmungen angepasst. Die Fich- dem Damm befi ndet sich links der Breg ein ten in der Bregtalaue wurden gefällt; sie kön- kleines Kraft werk, ein Betongehäuse mit einer nen sich von einem Aufenthalt unter Wasser Kaplanturbine und 220 Kilowatt installierter von mehreren Tagen nur schwer erholen. Di- Leistung. Wird das Becken aufgestaut, so wer- rekt neben der Breg wurden je 150 Weiden den Tür und Fenster wasserdicht verschlossen und Grauerlen gepfl anzt. Am Hang fanden und das Kraft werk wartet, bis das Wasser ab- 150 Eschen und 150 Bergahorne eine Bleibe. gefl ossen ist. Kraft haus und Turbine sind zu- Diese Bäume nehmen es dem Förster nicht sammen so schwer, dass sie auch bei Vollstau übel, wenn sie hin und wieder auf Tauchsta- nicht in Gefahr sind, an die Wasseroberfl äche tion müssen. Nördlich der Landesstraße etwa aufzuschwimmen. einen Kilometer von der Dammbaustelle ent- Die Bodenplatte ist erheblich größer als das fernt, konnten die notwendigen 350 000 Ku- Gebäude, die auskragenden Flächen wurden bikmeter Schüttmaterial für den Damm ge- mit Auff üllmaterial belastet, was eine zusätz- wonnen werden. Der Steinbruch ist zwischen- liche Sicherheit gibt. Das Kraft werk wurde zeitlich wieder renaturiert und kaum noch zu lange vor dem Rückhaltebecken an dieser erkennen. Nur ein kleiner »Bergsee« ist ge- Stelle gebaut und für die geänderten Verhält- blieben. nisse ertüchtigt. Es steht an seinem alten Platz. Mit Schilf und Seerosen zwischen einer Es liefert Ökostrom und hat nur bei Hochwas- Felswand und einer kleinen Anhöhe zum ser eine Pause. Rückhaltebecken hin, liegt er wie vergessen in Talseitig ist an das Auslaufb auwerk ein einer Landschaft , die gerade anfängt sich mit vier Meter tiefer Kolksee, ein Tosbecken,

Badische Heimat 4 / 2017 Hochwasserrückhaltebecken Wolterdingen 549

546_Hofmann_Hochwasserrueckhaltebecken.indd 549 03.12.2017 11:55:46 Kolksee auf der Landseite des Dammes (alle Fotos: Otto E. Hofmann)

angeschlossen. Die Sicherung der Seebö- freigesetzten kinetischen Energie. Es ist schungen erfolgte mit großen Wasserbau- ein Beruhigungsbecken. Unterstrom wer- steinen, die durch Beton miteinander ver- den dadurch Schäden an den Bauwerken, klammert wurden. Beim Ablaufen des Was- am Flussbett und den Gewässerböschungen sers nach einem Einstau dient der Kolksee vermieden. dem Abbau der im schießenden Abfl uss Auf zwei wasserbaulich interessante Ins- tallationen in Wolterdingen, stromabwärts des Hochwasserrückhaltebeckens, soll noch hingewiesen werden. Zwischen Kolksee und der denkmalgeschützten Brücke über die Breg bildet der Fluss zwei hintereinanderlie- gende Inseln. Zur Inselwiese auf der ersten Insel führt eine Furt, die im Zuge der Bau- maßnahmen umgestaltet wurde. Die Furt hat man mit Steinplatten ausgelegt. Sie ist bei normalem Wasserstand ohne Schwierig- keiten befahrbar. Für Fußgänger wurde ein Übergang mit Steinen gebaut, die auf Lücke Schlauchwehr am Ortsausgang von Wolterdingen gesetzt sind.

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546_Hofmann_Hochwasserrueckhaltebecken.indd 550 03.12.2017 11:55:47 Am Ortsende von Wolterdingen bei der Anmerkungen Abzweigung eines Gewerbekanals verur- sachte ein Betonwehr, das sich nicht steuern 1 Johann Gottfried Tulla, 1770–1828. Oberstleut- ließ, Überschwemmungen. Bei Hochwasser nant und Leiter der Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaues in Karlsruhe. gab es immer wieder Rückstau in den Orts- 2 Engehausen, Frank: Kleine Geschichte des Groß- bereich. Ein neu erstelltes, hydraulisch steuer- herzogtums Baden 1806–1918. Karlsruhe 2005, bares Schlauchwehr sorgt jetzt dafür, dass S. 95 ff auch hier der Hochwasserschutz für den Ort 3 Hauptmann, Arthur: Burgen einst und jetzt. Kon- stanz 1984. S. 122–124. verbessert ist. Mit der Inbetriebnahme des Hochwasser- rückhaltebeckens Wolterdingen als wichtigs- Quellen: tes Schutzelement ist der Hochwasserschutz an der oberen Donau bis Ulm ein großes Hochwasserrückhaltebecken Wolterdingen, Integ- riertes Donau-Programm. Baden-Württemberg Stück vorangekommen. Zahlreiche Schutz- Regierungspräsidium Freiburg. Juni 2012 maßnahmen an der oberen Donau ergänzen Auskünft e, Große Kreisstadt Donaueschingen, Forst- den Schutz vor den Wassermassen der Donau. revier Wolterdingen.

Die wichtigsten Bauwerke sind: – Flutmulde Bräunlingen – Schutzwand Tuttlingen – Deiche in Erbach – Retentionsraum Hundersingen-Binzwan- gen Anschrift des Autors: Insgesamt rüsten sich 23 Gemeinden an der Otto E. Hofmann Donau, um ein Hochwasser schadlos zu über- Dorerhof 2 78148 Gütenbach stehen, wie es statistisch nur alle 100 Jahre [email protected] vorkommt.

Badische Heimat 4 / 2017 Hochwasserrückhaltebecken Wolterdingen 551

546_Hofmann_Hochwasserrueckhaltebecken.indd 551 03.12.2017 11:55:47 5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein

Helmut Volk

7000 Jahre wirkt der Mensch auf die Natur am Oberrhein ein. Früh entstanden aus Urwäldern Kulturwälder. Im Naturschutz wird dieser Wandel nicht bemerkt. Naturschützer verlangen Urwälder, reine Wildnis. Sie kann es auch in Jahrhunderten nicht mehr geben. Menschen ha- ben in langer Zeit Kultur-Naturen aufgebaut, den Urwald mit guten Gründen als Ziel verlas- sen und die Biodiversität erweitert. Am Beispiel der Wälder der Rheinaue, des Rheintales und des Schwarzwaldes wird dies dargestellt.

Rheinaue Dazu gibt es neue Forschungsergebnisse. Es zeichnet sich ab: Die Begradigung des Flusses Über die Rheinkorrektion wird vielfach zu zerstörte keine idyllische Naturlandschaft mit einseitig informiert. Die vielen Jahrhunderte einem ungezähmten Wildstrom, wie oft ver- vor der Rheinkorrektion, in denen die Fluss- breitet wird. Die Korrektion setzte vielmehr aue intensiv genutzt und umgestaltet wurde, das Ringen der Auedörfer in den Jahrhunder- existieren nicht im öff entlichen Bewusstsein. ten zuvor fort, sich vor dem Rhein zu schüt- Im Vordergrund steht in der Regel die Th ese zen, sich zu ernähren und Holz zu ernten. von der Zerstörung der unberührten, reich- Seit über 1000 Jahren gibt es in der Rheinaue haltigsten Natur- und Wildstromlandschaft keine natürlichen Waldgesellschaft en in fl ä- Mitteleuropas durch die Rheinkorrektion. chendeckender Verbreitung, wovon Aue Öko- Jahrtausende alte, intensive Nutzung und die logen ausgehen. Die Vorstellung von der un- extremen Landschaft sveränderungen in vie- berührten Natur in der Rheinaue bis 1800, len Jahrhunderten vor der Rheinkorrektion angeblich wegen der Willkür des Wildstroms, werden negiert. Auch dramatische Entwick- ist widerlegt2. lungen wie künstliche Rheinverlegungen, die Die Urnatur war längst verlassen. Die größ- der Korrektion vorausgingen, sind nur We- ten Teile der Rheinaue waren seit über 500 nigen bekannt. Die Informationen der Stadt Jahren nicht bewaldet, von Bäumen gerodet Karlsruhe über die Rheinauen stellen sowohl und landwirtschaft lich genutzt. Überaus ver- positive als auch negative Folgen der Rhein- zweigte Dammsysteme in der Aue bewirk- begradigung heraus1. Über die Entstehung der ten bereits sehr lange vor der Rheinkorrek- heutigen Auewälder im Flussbett des unkor- tion eine völlige Veränderung der »Naturaue rigierten Rheins nach der Devise »aus Wasser Rhein«. Sie teilten die Aue in den Flussbe- wird Aueboden und Wald« fi ndet der Interes- reich, der von Dämmen eingeschnürt wurde sierte aber noch nichts. und den Auenteil außerhalb der Dämme. In-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 552 03.12.2017 11:56:07 Kulturaue Rhein um 1600: Dämme am Fluss, Siedlung, Äcker und wenig Plantagen-Wald in der Aue (oben); Kulturaue Rhein 2017: Verengter Fluss, Siedlung erweitert, Auewälder im Flussbett von 1600 (unten)

nerhalb der Dämme war der Fluss mit den 40 Jahre erfolgreich mit Forschungen am Inseln. Außerhalb der Dämme war die so- Rhein befasst, sah gegen Ende des 19. Jahrhun- genannte Altaue, – wenig oder nicht über- derts die Veränderungen durch die Rheinbe- schwemmt; in diesem Bereich waren Sied- gradigung und sprach sich für den Schutz der lungen, Wiesen, Felder, Äcker und kleinere Rheinlandschaft aus. Von ihm stammt die in- Kulturwäldchen landschaftsbestimmend. zwischen überholte Einschätzung, die Aue sei Die Kulturwaldfl ächen der Rheinaue bestan- bis 1800 in weiten Teilen als Naturlandschaft den aus ständig genutztem Weiden-Pappel- unberührt geblieben und die stürmische Kul- Gebüsch (Faschinenplantagen) sowie – in turlandschaft sentwicklung am Oberrhein kleinerem Umfang – aus gepfl anzten Eichen, habe vor der Rheinaue Halt gemacht3. Ulmen und Wildobstbäumen. Naturschützer des 20. Jahrhunderts bauen Anstöße für die Naturschutzvision von ei- darauf auf. Sie beschreiben die Vegetation der ner unberührten Naturaue Rhein lieferte der Rheinauewälder und behaupten deren unver- hochverehrte Professor Robert Lauterborn änderte Natürlichkeit bis zur Flussbegradi- (1869–1952). Er war als Naturforscher über gung. Einige der von ihnen im 20. Jahrhun-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 553 03.12.2017 11:56:08 Romantisch verklärte Rheinaue vor der Flusskorrektion 1840. Gemälde von Peter Birmann aus Basel im Stil der romantischen Malerei (Volk 2006, S. 135)

dert kartierten Auewälder mit Eichen, Ulmen der Flusskorrektion nicht. Die Korrektion hat und Wildobst sowie einige Weiden-Pappel- sie neu geschaff en. Der Zuschnitt aller Wald- wälder gelten deshalb bis heute fälschlicher- fl ächen in der Aue ist das historische Ergeb- weise als Relikte der ursprünglichen, von kei- nis vieler Absprachen mit der Bevölkerung; nem Menschen beeinfl ussten Naturwälder. der Waldaufb au erfolgte durchweg nicht von Diese widerlegte Auff assung ist derzeit die selbst, sondern in mehr als 100 Jahren gegen wichtigste Grundlage jeder Naturschutzin- viele Widerstände. Der bis zu zwei Kilome- formation über die Flussauen in Deutschland4. ter breite Rhein wurde auf 250 Meter verengt. Überregional bedeutsame Auewald-Na- Gewässer und Kiesbänke des alten Flusses turschutzgebiete des Oberrheins streben als wurden künstlich zu Landstandorten umge- Schutzziel an, die Urnatur des Wildstroms wandelt und mit Auewäldern bepfl anzt. wieder zu erreichen. Die Schutzgebiete Weis- Zahlreiche im Naturschutz engagierte weil/Taubergießen, Hördt bei Karlsruhe, Eli- Menschen schöpfen ihre innere Überzeugung sabethenwört bei Philippsburg sind Beispiele. von der Naturaue aus der Romantik, insbe- Schutzpläne übersehen die Bedeutung der sondere der Malerei. Bei jeder Fachkonferenz Auewälder als Kulturwälder. Dabei besteht wird das Bild des Basler Malers Peter Birmann kein Zweifel: Fast 80 % aller heutigen Auewäl- gezeigt, das dann als reales Abbild der ganzen der zwischen Basel und Mannheim gab es vor Rheinaue vor der Flussbegradigung bewun-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 554 03.12.2017 11:56:08 dert wird. Peter Birmann und andere Maler Baumarten des Rheintals. Das Rheintal war äußerten wiederholt, es gehe ihnen keines- vor 5000 Jahren kein reines Urwaldgebiet, das wegs um die Abbildung schlichter Auen Rea- schnell von der Buche dominiert wurde. Die lität, sondern um die Überhöhung der Wirk- Buche wanderte damals erst in das Rheintal lichkeit zur schönsten denkbaren Landschaft 5 ein, zeitgleich etwa mit dem Beginn bäuerli- (C. D. Friedrich 1774–1840). Es ist bisher nicht cher Kultur. Und die Kiefer war damals schon gelungen, die Kommentare der romantischen vor der Buche mehr als 7000 Jahre im Gebiet. Landschaft smaler zu ihren Auebildern in den Sie verschwand nie mehr aus dem Rheintal. Naturschutz zu vermitteln. Die Tanne kam mit der Buche und hatte im Eichen-Ulmenwälder oder Pappel-Wei- Breisgau und Kaiserstuhl zur Kelten- und denwälder sind Kulturwälder. Seit über Römerzeit zunächst ansehnliche Anteile. Die 2000 Jahren haben Menschen diese Wald- Römerzeit griff stark in den Tannenbestand typen entwickelt, durch ihren Waldbau ge- der Rheinebene ein. Rheinebene und Kaiser- lenkt und immer nach den Bedürfnissen der stuhl verloren früh durch Nutzung nennens- Städte und Gemeinden in der Aue gepfl anzt. werte Tannenanteile6. Im Naturschutz und in Naturschutzpläne vertrauen bei der Walder- der Bannwaldforschung ist der frühe Nadel- neuerung ausschließlich auf die Heilkräft e holzanteil der Rheinebene nicht präsent. einer »reinen Natur« in der Landschaft . Für Bäuerliche Kultur veränderte die Wald- den Erhalt der Wälder ist dies zu wenig. Fa- landschaft bereits vor 5000 Jahren grund- voriten im Naturschutz wie die Eiche wurden legend und großfl ächig. Am Bodensee wur- immer gepfl anzt, weil die Natur nicht genü- den frühe Veränderungen in der Landschaft gend nachliefert. Dies wird auch künft ig so rekonstruiert. Zwei Dörfer am Bodenseeufer sein. Unerwünschte Pfl anzen (Neophyten), mit jeweils über 100 Einwohnern schufen die massenweise in den Auen vorkommen, vor 5300 Jahren eine waldarme Kulturland- können nur durch tatkräft iges Eingreifen in schaft 7. Die Ergebnisse vom Bodensee sind auf Grenzen gehalten werden. Viele Menschen in das Rheintal übertragbar. Eine ähnliche Ent- Orten der Rheinaue, die sich an dem herrli- wicklung der Kulturlandschaft im Rheintal chen Auewalderbe freuen, wissen dies und in der Jungsteinzeit lässt sich aus Pollenpro- wundern sich über so manche Festsetzung in fi len ableiten. Riesige Grabhügel der Bronze- Naturschutzplänen. zeit (1200 v. Chr.) im Rheintal belegen, dass es damals großfl ächige wald- und baumfreie Ge- biete gab. Zur Römerzeit war die Bewaldung Rheintal gebietsweise bereits unter 50 % abgesunken. Die Landschaft bestand nicht mehr fl ächen- Archäologie, Archäobotanik und historische deckend aus natürlichen Waldgesellschaft en Forschung vermitteln über das Rheintal ein ohne kräft igen Einfl uss der Menschen. Viel- neues Naturverständnis, das stark vom Alter mehr hatte die Römerzeit eine Kulturland- der Kulturlandschaft geprägt ist. Archäobo- schaft mit hohem Anteil landwirtschaft licher tanik und Pollenanalyse zeigen auf, dass bäu- Nutzfl ächen und Kulturwäldern geschaff en8. erliche Kultur seit 7000 Jahren die Wälder Die Römerzeit kannte im Rheintal bereits verändert. Unterschiede zu den Ansichten im Saat und Pfl anzung als gezielte Verjüngungs- Naturschutz gibt es auch über die natürlichen methode für Wälder9. Die Baumart Kiefer

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 555 03.12.2017 11:56:08 Umwandlung der Urlandschaft in Siedlungslandschaft mit Kulturwäldern am Bodensee durch bäuerliche Kultur 3500 v. Chr. (©LAD-BW/Aquarell: A. Kalkowski, aus: Nelle 2016, S. 40)

und die Saat von Nadelhölzern mussten nicht, Forstgeschichte hatte heraus gefunden, dass wie allgemein angenommen wird, im 16. Jahr- mittelalterliche Wälder im Rheintal durchweg hundert eingeführt werden. Die Kiefer war ihre Waldeigenschaft im heutigen Sinne ver- seit 10 000 Jahren im Rheintal. Im Mittelalter loren hatten und zu baumbestandenen Nutz- wurde mit der Kiefer, der Eiche und der Buche fl ächen mit Priorität für die Landwirtschaft in den Kulturwäldern waldbaulich gearbeitet. umgewandelt wurden11. Diese Wälder hatten Größere Kiefernsaaten lassen sich neuerdings keinerlei Anknüpfung an Waldbestände mit seit 1485 im Rheintal nachweisen. Frühe Na- unberührten, natürlichen Waldgesellschaf- delholzbeteiligung und der Kulturwald des ten, was im Naturschutz unterstellt wird. In Rheintals seit der Kelten- und Römerzeit sind der über 500 Jahre alten Karte des Oberrhein- inzwischen gut belegt10. Annahmen des Na- gebietes von Martin Waldseemüller kommt turschutzes und der Bannwaldforschung dies bereits zum Ausdruck; es kann zusätz- von natürlichen Laubwaldgesellschaft en und lich durch Dokumente bestätigt werden. Von Waldentwicklungen ohne menschliche Ein- Bedeutung ist der Sachverhalt für die Hardt- fl üsse bis ins Mittelalter sind inhaltlich nicht wälder von Rastatt bis Mannheim und die mehr stichhaltig. großen linksrheinischen Hardtwälder Bien-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 556 03.12.2017 11:56:08 Hardt- und Aue-»Wälder« 1734 zwischen Durlach und Mannheim: Die Bruchsaler Lußhardt, die Schwetzinger Hardt mit großen Lücken und dünnem Baumbestand. Die heutige Rheininsel Ketsch ist 1734 entwaldet (HStAM, WHK, WHK 19/6, Bearbeitung H. Volk).

wald, Hagenauer Wald bei Straßburg sowie Hardt des 17. Jahrhunderts. Das Übergewicht die Hardtwälder bei Breisach/Colmar. Diese der Landwirtschaft im »Wald« springt auf Wälder bestehen heute noch, allerdings in der historischen Karte bei den Orten Schwet- verkleinertem Umfang und mit einem dich- zingen/Sandhausen/Nußloch und Hocken- ten Waldaufb au, der mit dem lichten Kultur- heim/Reilingen sofort ins Auge. Die schüt- »Wald« des Mittelalters und der frühen Neu- tere Baumsignatur der Hardt bei Walldorf zeit keine Gemeinsamkeit hat. lässt viele Einblicke in die landwirtschaft - Die Feld/Acker/Wiesen/Baumgruppen/He- liche Nutzung zu. Die Räume zwischen den ckenlandschaft der mittelalterlichen Hardt- schütter stehenden Bäumen sind unschwer als und sonstigen »Wälder« des Rheintals kann Wiesen/Acker/Hecke zu erkennen. Kiefern, aus einer Karte von 1693 entnommen wer- Eichen, Buchen, Wildobst und andere Bäume den12. Abgebildet wird hier die Schwetzinger mussten fast immer gesät und gepfl anzt wer-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 557 03.12.2017 11:56:09 die Umwandlung einer Hardt in einen Wald wie wir ihn kennen13. Das Naturschutz- und Waldschutzgebiet Schwetzinger Hardt spricht im Verordnungstext noch ungenügend über diese Landschaft sentwicklung und die posi- tive Beteiligung der Menschen. Zu den Menschen, die nachhaltige Na- turschutz-Leistungen aus den Wäldern des Oberrheins erbringen, gehört auch die viel- seitige, multifunktionale Forstwirtschaft . Im Naturschutz und in der Bannwaldforschung wird Forstwirtschaft öft ers mit abfälligem Ton als »Wirtschaft swald« umschrieben. Sie wird mit Monokulturen und Kahlschlägen gleichgesetzt, was nicht zutrifft . Forstwirt- schaft kann mit guten Argumenten erläu- Kulturwald Schwetzinger Hardt 1693. Domi- nanz der Landwirtschaft im »Wald«: Große tern, dass die Durchsetzung der Vorstellun- freie Flächen ohne Wald; Äcker, Wiesen gen des Umweltbereichs vom sogenannten zwischen Baumbeständen; Gewässerläufe im Naturwald, von natürlichen Waldgesellschaf- „Wald“ haben beiderseits ausgedehnte Wiesen ten in eine Sackgasse führt und einen Ver- (GLA KA HfK fd 30, verändert). Heute ist die lust an Vielfalt in den Kulturwäldern Mit- Hardt voll bewaldet. teleuropas bringt. Der Naturwald von einst ohne menschlichen Einfl uss, der fast in je- dem Schutzgebiet als Aufl age verlangt wird, den. Der Druck des Ackerbaus und der Vieh- war hinsichtlich der Baumarten und der wirtschaft ließen in den »Wäldern« in der Re- Begleitvegetation viel bescheidener ausgestat- gel keine Naturverjüngung zu. tet als die heutigen Wälder. Heutige Hochwald Strukturen wurden nicht durch »natürliche Prozesse« erreicht, sondern durch enorme Anstrengungen der Schwarzwald Menschen, die seit Jahrtausenden von den Kulturwäldern leben und sie durch Saat und Naturschutzbereich und Bannwaldforschung Pfl anzung erneuern. Für alle Wälder des verschließen sich bisher den neuen Erkennt- Rheintals, auch für die Hardtwälder, ist der nissen über 3500 Jahre Nutzung und Ent- lange Weg vom Feld/Acker/Wiesen/Baum- wicklung der Kulturwälder des Schwarz- gruppen/Hecken-»Wald« zum heutigen dicht waldes. Mit Nachdruck wird behauptet, der geschlossenen, strukturreichen Wald beleg- Schwarzwald wäre bis zur Aufsiedlung durch bar. Von 1693 an betrachtet dauerte es noch die Klöster im Mittelalter ein großfl ächiges 230 Jahre, bis damit begonnen werden konnte, Urwaldgebiet gewesen, fast ohne Menschen, den heutigen Wald aufzubauen. Die Men- die nutzten. Diese Ansicht wird in den großen schen, die immer vom Wald lebten, leisteten Schutzgebieten Nationalpark Nordschwarz- sehr lange und erfolgreich Widerstand gegen wald und Biosphärenreservat Südschwarz-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 558 03.12.2017 11:56:09 wald durch Ranger, Lehrpfade, Bannwaldbro- und Veränderung durch Mensch und Vieh schüren und Monographien propagiert. Der waren die Wälder auch in den Hochlagen Abglanz der früheren Urnatur soll in Reser- des Schwarzwaldes nicht. Der Nordschwarz- vaten in neuem Glanz erstrahlen. Der Total- wald hatte zur Kelten- und Römerzeit bereits schutz sei der Weg zur Heilung der Natur, zur 20–30 % Off enland, also schon viel Wald Erhaltung der Biodiversität. eingebüßt. Im Mittelalter hatte der ganze Auf Informationstafeln der Naturschutz- Schwarzwald unter 50 % Waldanteil. Viele verwaltung wird der Urwald von einst wieder Schwarzwaldgemeinden wie Schonach leb- belebt. Der Wanderer habe noch im Mittel- ten 1780 mit gerade einmal 16 % Wald. Auch alter auf den Gipfelhöhen des Feldbergs und diese Wälder waren keine Urwaldrelikte, des Ruhesteins ein Panorama mächtiger al- sondern landwirtschaft lich genutzte Baum- ter Urwald-Tannen und Buchen um sich ge- fl ächen. Der Urwald von einst konnte sich sehen. So unberührt von Siedlung, Nutzung im Schwarzwald längst nicht mehr halten. Er wurde schon in der vorrömi- schen Zeit zum Kulturwald umgewandelt14. Besonders aufregend ist diese Erkenntnis im National- park Nordschwarzwald. Des- sen Zentrum war um 1750 waldfrei. Sogar das steile Kar zum Wilden See hatte den Waldcharakter eingebüßt. Es standen dort nur wenige Ein- zelbäume; prägend waren im Gebiet die Weidefl ächen für die riesigen Viehherden, von denen die Region lebte15. Die Bannwaldforschung hat die- sen charakteristischen Teil der Landschaft sentwicklung in der Überlieferung gelöscht. Jetzt wird das Gebiet im Na- tionalpark falsch gedeutet. Es sei einem Großbrand um 1800 zum Opfer gefallen, nachdem vorher noch der geldgierige Württembergische Landes- herr die letzten Urwaldtan-

Schwarzwald 1750: Das Zentrum des Nationalparks um den nen abholzen ließ und nach Wilden See ist waldfrei; die Fichte ist damals neben der Tanne Holland verkauft e. Der Nati- Hauptbaumart im ganzen Park (Volk 2017, S. 49). onalpark folgt damit ganz der

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 559 03.12.2017 11:56:09 Großräumige Kulturwald-Veränderung in 320 Jahren (1700–2017): Der extrem waldarme Schwarzwald von 1700 zwischen Neuenbürg und Enzklösterle wird durch Baumpflanzung der waldreiche Naturraum von heute; Siedlungszentren wie Karlsruhe, Pforzheim, Calw verlieren viel Wald durch Rodung.

Märchenerzählung »Das kalte Herz« von Wil- der landwirtschaft lich genutzte, lichte Wald helm Hauff 16. vorherrschte. So verwundert es nicht, dass die Das schöne Märchen sollte nicht zur Ge- Fichte 1770 im ganzen Nationalpark in lich- schichtsklitterung benutzt werden. Große ten »Wäldern« vorherrschend oder gleich auf Teile des Nationalparks und sein Zentrum wa- mit der Tanne war. Im Zentrum des National- ren seit dem Mittelalter ganz ohne Wald oder parks, dem sogenannten »Urwald Wilder See« als Weidewälder mit Gräsern und Sträuchern wurde der heutige Wald nach 1800 gesät und genutzt. Buche und Tanne hatten im Mittel- gepfl anzt. Viele Menschen aus dem Badischen alter ihre Dominanz in der Landschaft ver- und Württembergischen Umland pfl anzten loren. Die Fichte nutzte schon zur Römerzeit diesen Bannwald und die Wälder des Natio- ihre Chancen zur Ausbreitung, weil der Ur- nalparks. Das sollte nicht länger verschwiegen waldcharakter großfl ächig verloren war und werden. Die Region möchte sich daran erin-

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 560 03.12.2017 11:56:10 nern, dass diese herausragende Kulturleistung bestand im Nordschwarzwald im Jahre 1700. den Ursprung des Parks bildet. In 300 Jahren wurden mit großen Anstren- In Veröff entlichungen des Naturschutzes gungen immer neue Wälder angebaut. Heute fi ndet sich fast nichts über die Jahrtausende ist der Waldreichtum mit herrlichen Hoch- des spannenden Verhältnisses von Nutzung wäldern charakteristisch. Waldnationalparke der Natur und Leben der Menschen. Umso und -reservate wollen dieses europaweit be- wichtiger ist es, dass Heimat- und Wanderver- deutsame Natur-Kulturerbe nicht beachten. eine verfolgen, was im Naturschutz und der Die Wildnis Bewegung glaubt allein an die Bannwaldforschung gedacht wird. In den Dis- Rückentwicklung zum Tannen-Buchen-Ur- kussionen mit dem Nationalpark und seinen wald. Diese ist weder möglich noch sinnvoll; Veröff entlichungen wird deutlich, wie wenig denn das Naturerbe Kulturwald wird dauer- der Park für Landschaft und Wald, früheres haft bleiben. Es prägt die Wälder heute und Leben in den Kulturwäldern und die Verbin- in der Zukunft . dung mit der Heimat Schwarzwald übrig hat17. Menschen haben in Mitteleuropa Jahr- Der Park will die Idee der Wildnis an sich tausende früher den Urwald verlassen und und den Schutz menschenleerer Reservate be- überall Kulturwälder geschaff en. Th eorien fördern. Gesteuert wird er dabei von bundes- und, vor allem, politische Festsetzungen der weiten Netzwerken des Naturschutzes. Über- Umweltministerien und der Naturschutzver- all in Deutschland verabschieden sich deshalb bände ignorieren die landschaft liche und kul- Parke und Waldreservate von der aktiven turelle Entwicklung der Wälder in Jahrtau- Präsentation lebender Bäume, von lebendiger senden. Die Debatte darüber ist notwendig. grüner Waldstruktur der Kulturwälder. Dem- Ein Ausgleich zugunsten der Kulturwälder ist gegenüber stellen sie die Zerstörung der Na- wünschenswert. Kulturwälder sind liebens- tur durch Orkane (»Lotharpfad« im National- werter als die Wildnis der Urwälder, die den park) und das Grau der Totholz-Baumskelette meisten Menschen unheimlich ist. Grundla- in den Vordergrund. Vielen Bäumen wird ihr gen für eine Verbesserung der Position der Vorhandensein ohne Grund angekreidet. Be- Kulturwälder im Naturschutz sind reichlich sonders hart trifft es die Fichte18. Sie wird so- vorhanden. gar im Schwarzwald in ein schlechtes Licht gerückt, obwohl sie seit Jahrtausenden im Anmerkungen Gebiet ist. Im Schwarzwald war sie früh als

Baumart begehrt, ihre Ausbreitung war von 1 Stadt Karlsruhe: https://ka.stadtwiki.net/ den Schwarzwäldern gewünscht. rheinaue, aufgerufen am 27.4.2017. Nationalparke und Reservate polarisieren 2 Helmut Volk: Der Oberrhein als Spielball der Po- die Einstellungen der Menschen zum Kul- litik. Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins »Schau-ins-Land«, 2006, S. 135–138; Helmut turwald. In der Region wird es deshalb wei- Volk: 350 Jahre Umbau der Landschaft in der ter Vorbehalte gegen ein Projekt Nationalpark Oberrheinaue, Badische Heimat, 2008, S. 6–17; geben, das die Landschaft und das Leben aus Helmut Volk: 320 Jahre Landschaft sveränderung dem Wald und für den Wald in Jahrtausenden in der Rheinaue bei Germersheim/Philippsburg. Selbstverlag Arbeitskreis Flussauen und Aue- nicht gelten lassen will. Menschen lebten von wälder, Freiburg 2010, 39 S; Helmut Volk: Die der Natur, entwaldeten den Schwarzwald und Rheinauen-Eine Karlsruher Landschaft als Na- bauten ihn wieder auf: Extreme Waldarmut turerbe. G. Braun-Verlag, 2014, S. 20–30.

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 561 03.12.2017 11:56:10 3 Robert Lauterborn: Der Rhein-Naturgeschichte 14 Manfred Rösch, Der Nordschwarzwald – Das eines deutschen Stromes. 1. Band, 2. Hälft e, Kom- Ruhrgebiet der Kelten, Alemannisches Jahrbuch missionsverlag der Buchhandlung August Lau- 2009/2010, Freiburg, 2011, S. 155–169; Man- terborn, Ludwigshafen 1938, S. 1–7; Robert Lau- fred Rösch, Agrarkrisen in der Vergangenheit. terborn: 50 Jahre Rheinforschung, Lavori Verlag Römisch-Germanisches Nationalmuseum, 11, Freiburg, 2009, S. 49–51. 2011, S. 87–93; Manfred Rösch, Gegeensuvd Ts- 4 Bundesamt für Naturschutz: Auenzustandsbe- erendorj: Florengeschichtliche Beobachtungen richt, Bonn 2009, 34 S. im Nordschwarzwald. Hercynia N. F. 44, 2011, 5 Zitat von Caspar David Friedrich (1774–1840) an S. 53–71. seinem Denkmal auf der Brühlschen Terrasse in 15 Helmut Volk: 5000 Jahre Wälder …, 2017, wie Dresden: »Der Maler soll nicht bloss malen, was Ziff . 6, S. 34–36. er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. 16 Wolfgang Schlund, Georg Jehle, Charly Ebel: Sieht er also nichts in sich, so unterlasse er auch 100 Jahre Bannwald Wilder See. Schrift enreihe zu malen, was er vor sich sieht«. FORSTBW, 85, 2011, S. 42–45. 6 Helmut Volk: Das Naturerbe »Wald« und der 17 Wolfgang Schlund et al.: 100 Jahre Bannwald … Einfl uss des Menschen, LWF aktuell, 107, 2015, 2011, S. 62–141. S. 15–53. Helmut Volk: 5000 Jahre Wälder am 18 Gesa Gottschalk, Wald ohne uns, GEO, 05, 2017, Oberrhein. Allgemeine Forstzeitschrift / Der S. 28–50. Wald, 15, 2017, S. 32–36. 7 Jutta Lechterbeck, Matthias Merkel: Die neoli- thische Siedlungsdynamik zwischen Hegau und Abkürzungen Bodenseeufer. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg, Th eis Verlag, 2013, S. 41– GLA KA: Generallandesarchiv Karlsruhe 46; Oliver Nelle: Dendrochronologie, Denkmal- HStAM WHK: Hessisches Staatsarchiv Marburg, pfl ege in Baden-Württemberg, Stuttgart, 2016, 1, Wilhelmshöher Kriegsarchiv S. 37–48. SHD: Service Historique de la Défense, 8 MarcusNenninger: Forstwirtschaft und Ener- gieverbrauch – Der Wald in der Antike. In: Im- perium Romanum, Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Archäologisches Landes- museum Esslingen/Neckar, 2005, S. 388–392. 9 Wie Ziff . 8. 10 Helmut Volk, Karlsruhe und seine Wälder, Ba- dische Heimat, 2016, S. 424–441. Helmut Volk: 5000 Jahre Wälder, 2017, wie Ziff . 6, S. 32–36. Anschrift des Autors: 11 Gürth, Peter, Wer hat Dich, Du schöner Wald – Dr. Helmut Volk 5000 Jahre Mensch und Wald in Baden-Würt- Arbeitskreis Flussauen und temberg, Silberburg Verlag, Tübingen, 2014, Auewälder S. 71–73. Silberbachstraße 4 12 GLA Karlsruhe HfK fd 30, 1693. 79100 Freiburg 13 Helmut Volk: Karlsruhe …, 2016, wie Ziff . 10, [email protected] S. 430–435.

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552_Volk_5000 Jahre Landschaft und Wald am Oberrhein.indd 562 03.12.2017 11:56:10 Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden

Reiner Haehling von Lanzenauer

Nach dem Kriege war die Bäderstadt Baden-Baden zum Verwaltungssitz für die französischen Besatzungstruppen erhoben worden. Von nun an lebten unzählige Franzosen und Deutsche auf recht engem Raum nebeneinander, so dass sich mannigfache persönliche Kontakte an- bahnten. Dies führte dazu, dass im Frühjahr 1956 die Deutsch-Französische Gesellschaft ge- gründet wurde. Sie bietet bis heute eine Plattform für zahllose freundschaft liche Begegnungen. Und jetzt konnte der Verein sein 60-jähriges Bestehen feiern. Da der Verfasser, damals junger Gerichtsreferendar, die Anfänge miterlebt und mitgestaltet hatte, wurde er vom Vorstand ge- beten, Rückschau zu halten. Hier der Wortlaut seines Vortrages.

Die meisten von Ihnen haben den Zweiten zum Abzug der Flakartillerie zu veranlassen.1 Weltkrieg nicht mehr selbst erfahren, einige Durch dieses beherzte Eingreifen sind Bom- jedoch haben jene Jahre der Bedrängnis noch bardierung und Beschießung der Stadt in ganz nah erlebt. Am 12. April 1945 ging für letzter Minute abgewendet worden. Kampf- unsere Stadt dieser schon lange aussichtslose los konnten die französischen Soldaten durch Krieg zu Ende. Von zwei Seiten her, durch die die Innenstadt vorrücken. Lediglich in der Rheinebene und aus dem Murgtal über die Stephanienstraße kam es zu einem kurzen Wolfsschlucht rückten französische Truppen Schusswechsel, draußen im Stadtteil Lichten- auf Baden-Baden vor. Eigentlich war nicht tal zu einem mehrstündigen Gefecht. geplant, dass die off ene Lazarettstadt vertei- Als keine Schüsse fi elen, wagten sich erste digt werden sollte. Doch unerwartet kam es Neugierige aus den Kellern. Auf den Straßen zu einer lebensbedrohenden Situation: Früh- standen Panzerfahrzeuge, Lastwagen und morgens hatten im Kurhausgarten zwei deut- zahlreiche Jeeps. Rauchend und essend saßen sche Flakgeschütze vom Kaliber 8,8 feuerbe- die Soldaten auf ihren Fahrzeugen oder lie- reit Stellung bezogen. Der Zugführer verwei- fen umher. Marokkaner kletterten behende gerte eine Abfahrt, berief sich auf Befehle. Da auf die Bäume der Sophienstraße, schlugen machten sich drei mutige Bürger – der kom- große Äste herunter, um Kabel für das Feldte- missarische Oberbürgermeister Schmitt, der lefon zu verlegen. Vor dem Th eater hatten die Oberstabsarzt Dr. Fischer und der pensio- afrikanischen Soldaten ein Biwakfeuer ent- nierte General Waeger – in einem Pkw auf zündet, um Hammel zu braten. Dazwischen zum Armeegefechtsstand drüben in Büh- sah man gefangene Wehrmachtsoldaten, die lertal. Dort gelang es ihnen, den befehlsha- mit erhobenen Händen von ihren Bewachern benden deutschen General zur fernmündli- zu den Sammelstellen, eine davon im Hotel chen Rücknahme der Kampfl inie und damit Europäischer Hof, abgeführt wurden. In der

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563_Haehling - Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden.indd 563 03.12.2017 11:56:25 Polizeidirektion richtete man nun eine fran- beantragen, der am Bahnhof oder im Zug vor- zösische Kommandozentrale ein. An Plakat- zuweisen war. In den Wohnungen durft en die säulen und Wänden wurden Anordnungen Bürger nur in bestimmtem Umfange Elektri- des Militärgouvernements angeschlagen: Alle zität nutzen, stundenweise war das Gas abge- deutschen Militärangehörigen hatten sich zu stellt. Die Abgabe aller Radiogeräte, Fotoappa- melden, Waff en jeder Art waren abzuliefern. rate und sogar der Tennisschläger wurde un- Schließlich verlangten die Besetzer eine förm- ter Strafandrohung angeordnet. Größte Sorge liche Übergabe der Stadt. Da der kommissa- der Bürger bildete der Nahrungsmangel, gab rische Oberbürgermeister Schmitt noch nicht es doch anfangs bloß 1000 g Brot und etwa aus Lichtental ins Rathaus zurückgekehrt war, 50 g Fett und wenig Fleisch pro Woche, alles brachte man den Oberrechnungsrat Meckle Eßbare natürlich nur gegen Lebensmittelmar- in einem Kraft wagen zum Hotel Terminus, ken. Die Stimmungslage der Einwohnerschaft wo er die Übergabeschrift unterzeichnete. war damals sehr bedrückt. Gleichwohl brach- An den folgenden Tagen richteten sich die ten die meisten Bürger Verständnis auf. Sah Besatzer häuslich ein. Ab 14. April amtierte man doch ein, dass Frankreich soeben noch Lieutenant Colonel Moutenet als erster Militär- ein über vierjähriges deutsches Besatzungsre- gouverneur unserer Stadt. Jeden Morgen hatte gime mit Deportationen, Arbeitslagern, Re- der Oberbürgermeister mit seiner Dolmetsche- quisitionen und Gestapowillkür hatte erdul- rin anzutreten, um die Befehle entgegenzuneh- den müssen. Und man wusste, dass auch im men. Vor allem ging es um die Beschlagnahme Nachbarlande gegenwärtig noch Mangel an von Räumen jeder Art für die Bedürfnisse der Nahrungsmitteln herrschte. Besatzungsmacht. Dazu benötigte man die Im Sommer 1945 überließen die Franzo- Bereitstellung von Mobiliar, Bettwäsche, Ge- sen die von ihnen eroberten Städte Karls- schirr und anderes mehr. Bei der Stadtverwal- ruhe und Stuttgart den Amerikanern. Aus tung musste ein »Beschaff ungsamt« eingerich- diesem Grunde wurde das Oberkommando tet werden, dessen Angestellte sich gezielt um über die französischen Besatzungstruppen die Bedürfnisse der Besatzungsmacht zu küm- nach Baden-Baden verlegt. Chef wurde Gene- mern hatten. Hierzu gehörten auch Dienst- ral Koenig,2 der im requirierten Hotel Bren- leistungen mannigfacher Art durch deutsche ner amtierte. Als persönliche Residenz hatte er Hilfskräft e. Zuweilen wurden Straßen oder die schlossartige Villa Hahnhof gewählt. Alte Plätze gesperrt für Paraden. Da bewunderten Baden-Badener erinnern sich wie er, eskortiert die Bürger dann die bunt uniformierten Spahis von weiß behelmten Militärpolizisten auf Mo- auf ihren kleinen Pferden und die blau geklei- torrädern, täglich durch die Bertholdstraße deten Chasseurs Alpins, die in raschen Schrit- zur Arbeit fuhr. Der Erhebung Baden-Badens ten vorbeimarschierten unter den hellen Tönen zur Zonenhauptstadt folgte der Einzug von der französischen Militärmusik. Dahinter rat- unzähligen Administrateuren, Büroangestell- terten Panzerwagen heran. ten und Schreibkräft en. Ebenso wie die Ar- Nur zu bestimmten Stunden durft en sich mee-Offi ziere ließen diese nun ihre Familien die Einwohner in der Öff entlichkeit bewegen. aus dem französischen Heimatland nachkom- Die übrige Zeit, insbesondere nachts, herrschte men. Für deren Unterbringung mussten im- Sperrstunde. Wer in andere Besatzungszonen mer mehr Villen und Wohnungen beschlag- verreisen wollte, musste einen »Passierschein« nahmt werden. Selbst die meisten Läden der

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563_Haehling - Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden.indd 564 03.12.2017 11:56:26 Innenstadt beherbergten nun den Besatzern gleich sicherte er französische Unterstützung vorbehaltene Verkaufsstellen, Popotes oder für den deutschen Wiederaufb au zu.5 Worte, Bars. Nach einer französischen Darstellung die die deutsche Seite Hoff nung schöpfen ließ, sollen damals etwa 44 000 Franzosen neben von den Besatzern aber als Anstoß zum Um- etwa 31 000 Deutschen in der Stadt gelebt ha- denken verstanden wurde. Wenn auch die his- ben.3 Abhilfe suchte man, indem die Ausreise torische Erklärung des Staatspräsidenten kei- nach Kriegsbeginn zugezogener Personen nen unmittelbaren Wandel bewirken konnte, ebenso wie belasteter ehemaliger Nationalso- so wurden von nun an in langsamen Schritten zialisten angeordnet wurde. Übrigens wurde Zeichen einer Annäherung sichtbar. Hilfreich die Entnazifi zierung der Anhänger der NS- war dabei die Requisitionspraxis. Während Partei und deren Gliederungen von dem Ser- Amerikaner und Engländer die benötigten vice Central de Dénazifi cation eingeleitet und Häuser oder Wohnungen vollkommen evaku- einheimischen Spruchkammern übertragen.4 ierten, mussten in unserer Zone die Bewohner Während der ersten Besatzungswochen war zumeist nur einen Teil ihrer Wohnung über- die Bevölkerung weitgehend abgeschlossen lassen, in den restlichen Zimmern durft en sie vom Weltgeschehen. Wer allerdings Franzö- verbleiben. Das führte dazu, dass man einen sisch lesen konnte, war gut dran, denn in dem Teil der Räumlichkeiten, namentlich die Kü- für Armee-Angehörige eingerichteten Buch- che, gemeinsam benutzen musste. Diese Pra- und Zeitungsladen am Leopoldsplatz (Haus xis klappte nur dank gegenseitiger Absprachen Sophienstraße Nr. 6) wurden jeden Morgen und kleiner Hilfen. Bald erkannte man da, die frischen Tageszeitungen aus Frankreich dass beim Gegenüber mancherlei vergleich- an die Schaufensterscheiben geheft et. Eine bare Denkweisen und Lebensgewohnheiten Planskizze zeigte da, dass der ehemalige deut- wirkten. Und nebenbei konnte man einige Be- sche Staat jetzt in vier Besatzungszonen auf- griff e oder Redensarten aus der Sprache des geteilt war. Ab August erschien endlich das anderen erlernen. Nicht selten entwickelten lokale Tagblatt wieder, vorweg nur zweimal sich schon hier einzelne Freundschaft en, die wöchentlich, beschränkt auf einen Druckbo- die spätere Trennung lange überdauerten. gen. Und im März 1946 ging im ehemaligen Einen bedeutsamen Faktor deutsch-franzö- Hotel Elisabeth an der Moltkestraße der neu sischer Annäherung bildete die Kulturpolitik, errichtete Südwestfunk auf Sendung. gesteuert von der Direction des Aff aires cultu- Eine jahrzehntelange Dauer des strengen relles unter Raymond Schmittlein.6 Sie sorgte Besatzungsregimes wurde damals befürchtet. dafür, dass im Kleinen Th eater am Goethe- Ein Ende der Not schien nicht in Sicht, denn platz wie im Großen Bühnensaal französische ein deutscher Staat bestand faktisch nicht Stücke gespielt wurden und dass französische mehr. Viele junge Menschen zweifelten an ei- Künstler auft reten konnten. Balzac, Claudel, ner Zukunft . Doch einer versprach den Wech- Corneille, Marivaux, Musset und Sartre stan- sel: Am 4. September 1945 besuchte der Präsi- den auf dem Programm der erstklassigen dent der »Vorläufi gen Regierung« Frankreichs, Gastspieltruppen aus dem Nachbarland. Die General De Gaulle, die Stadt Freiburg. Auf ei- Ballets der Champs-Elysées gastierten, Yves nem Empfang erklärte er, dass alle Westeuro- Montand begeisterte auf den Bühnenbret- päer guten Willens und gesunden Menschen- tern des Kurhauses. In den Kinos liefen fran- verstandes eine Gemeinschaft bildeten. Zu- zösische Filme, anfangs nur mit übersetzten

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563_Haehling - Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden.indd 565 03.12.2017 11:56:26 Untertiteln. Berühmte Schauspieler wie Jean einander. Langsam besserten sich die Lebens- Marais, Odette Joyeux, Gérard Philippe oder verhältnisse im Lande, wenn auch Industrie Madeleine Sologne lernte man auf der Lein- und Gewerbe infolge Kriegszerstörung, De- wand kennen. Ganz wichtig war die Neube- montagen oder Rohstoff mangel noch weit- lebung des deutschen Literaturbetriebs, wo hin darnieder lagen. Trotz alldem hatten die dem vor dem Kriege nach Frankreich emi- Baden-Badener ersichtlich nicht ihren Humor grierten Dichter, jetzt französischen Staats- verloren. Ein Beispiel: Ende März 1947 berich- bürger Alfred Döblin7 eine tragende Rolle zu- tete die Tageszeitung, bei Grabungen auf dem kam. Als Administrateur förderte er unbelas- Schlossberg sei eine Quelle entdeckt worden, tete Schrift steller wie Otto Flake oder den aus deren heißes Wasser die Kleidung der Arbeiter Baden-Baden stammenden Reinhold Schnei- in leuchtendes Weiß ausgebleicht habe. Neben der.8 Döblin veranstaltete Treff en mit Schrift - vielen Neugierigen hofft e wohl auch mancher stellern, regte aktuelle Th emen an, kümmerte ehemalige SA-Mann, seine braune Uniform in sich um Zuteilung des streng rationierten Pa- eine weiße Weste verwandeln zu können. Eine piers. Bereits ein Jahr nach Kriegsende wurde wahre Völkerwanderung setzte ein, doch die im Kurhaus die Ausstellung »Frankreich – Ba- Wunderquelle blieb unauffi ndbar. Am nächs- den im Spiegel der Geschichte 1660–1860 er- ten Tage gestand die Redaktion den gelunge- öff net«. Sie setzte ein Zeichen, denn an Hand nen Aprilscherz.11 von zahlreichen Exponaten aus beiden Län- Beklemmend wirkte auf die Menschen die dern machten die französischen Veranstal- herrschende Geldentwertung. Mit den Reich- ter die vielen historischen Gemeinsamkeiten markscheinen ließen sich nur einige Grund- anschaulich.9 Nach zwölfj ähriger Isolierung bedürfnisse decken, ansonsten gab es einfach durch die Nazidiktatur hatten uns die Fran- nichts zu kaufen, es sei denn man erstand zosen den freien Blick auf das europäische Schwarzmarktware zu oft infl ationären Prei- Geistesleben wieder erschlossen. Gerade die sen. Einen Paradigmenwechsel brachte da die jungen Generationen sind durch diese kultu- Währungsreform vom Juni 1948. Mit Einfüh- relle Zuwendung maßgeblich geprägt worden. rung der kaufk räft igen D-Mark füllten sich Frühes politisches Leben regte sich, als im die Schaufenster mit begehrten Waren, im September 1946 zu den ersten Gemeinderats- Gegenzug wurde die Arbeitsleistung wieder wahlen aufgerufen wurde, im Mai 1947 folg- angemessen entgolten. Mit frischem Ansporn ten Wahlen für den Landtag (Süd)Badens. Die gingen nun die Menschen ans Werk, schon neu gewählte Landesregierung bezog ihren bald brach das so bezeichnete Wirtschaft s- Sitz in Freiburg, Staatspräsident wurde der Ba- wunder an. Baden-Baden stand allerdings den-Badener Oberstudiendirektor Wohleb.10 vor dem Problem, wie sich unsere Stadt an- Dankbar vermerkten die Bürger dieses Her- gesichts der überwiegend beschlagnahmten anwachsen früher verfassungsmäßiger Struk- Hotels und Restaurants, requirierten Häuser, turen. Sie ermöglichten eine gezieltere Zusam- Büros, Wohnungen und Ladengeschäft e wei- menarbeit mit der Besatzungsmacht, beispiels- terentwickeln könnte – war doch Existenz- weise im Schulwesen, für die Landwirtschaft , grundlage der einst pulsierende Fremdenver- für die Gerichtsbarkeit. Mehr und mehr waren kehr gewesen. Oberbürgermeister Schlapper12 nunmehr die französischen wie die deutschen erhob daher die Forderung, Baden-Baden Stellen auf Ausgleich bedacht, man vertraute müsse wieder Kurstadt werden. Nach zähen

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563_Haehling - Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden.indd 566 03.12.2017 11:56:26 Verhandlungen, die ihn bis in Pariser Minis- Gründung eines Vereins zur Pfl ege deutsch- terien führten, erklärten sich die Franzosen französischer Beziehungen auf menschlichem, bereit, in ein neu zu errichtendes Stadtvier- kulturellem, wissenschaft lichem, erzieheri- tel umzusiedeln. So entstand in der Zeit etwa schem, sozialem und sportlichem Gebiet. Ein von 1950–58 südwestlich von der Ooser Ka- kleiner Ausschuss wurde gebildet, der eine serne der Stadtteil Cité mit Verwaltungsge- Satzung auszuarbeiten hatte. Sodann wurde bäuden, Schulen, Wohnblocks, Supermärk- die Gründungsversammlung einberufen in ten, Kirche und Kino, allesamt für die Ange- die Gaststätte Krokodil, also hierher in diese hörigen der Streitkräft e bestimmt. Am 5. Mai quasi vereinshistorisch gewordenen Mauern. 1955 haben die »Pariser Verträge« das Ende Ich verhehle nicht, dass wir recht besorgt wa- der Besatzungsepoche eingeläutet. Die Bun- ren, ob sich genügend interessierte Personen desrepublik trat als gleichberechtigter Partner einfi nden würden. Doch das Ergebnis übertraf in die NATO ein, im Kasernenhof wurde ne- alle Erwartungen – über hundert Personen ka- ben der Trikolore die Bundesfl agge hochgezo- men herbei, billigten die Satzung und wählten gen. Die französische Armee blieb weiterhin M. de Segonzac zum französischen sowie Dr. am Ort, nunmehr als verbündete Stationie- Buss zum gleichrangigen deutschen Präsiden- rungstruppe. Und in den zwischenmenschli- ten, dazu den paritätisch besetzten Vorstand/ chen Beziehungen brauchte kein wesentlicher Comité. Dank der Initiative der französischen Stimmungsumschwung mehr einzutreten, Freunde konnte der neue Verein sogleich über hatte sich doch bereits in den Jahren zuvor ein eigene Räume im Obergeschoss des Foyer de gutnachbarliches Verhältnis herausgebildet. Garnison am Robert-Schuman-Platz verfü- Der Auszug aus der Innenstadt erschwerte gen. Dies brachte noch einen weiteren Vorteil: nicht nur die gewachsenen freundschaft li- Soldaten aus der Ooser Kaserne, die in ihrer chen Verbindungen. Die Veränderung hin- Freizeit die unteren Räume im Foyer besuch- derte darüber hinaus die Neuankömmlinge ten, konnten ohne weiteres in die Vereinsver- in der Cité, Deutsche und ihre Lebensart ken- anstaltungen einbezogen werden. nen zu lernen. Es stand zu befürchten, dass Die nun einsetzenden Angebote der jungen unsere französischen Mitbürger isoliert unter Vereinigung waren von nahezu kaleidoskopi- sich leben müssten. In dieser Lage fand sich scher Vielfalt: Kurse zur Erlernung der Part- eine Gruppe von Franzosen und Deutschen nersprachen wurden gehalten, regelmäßig zusammen, gewillt eine Ebene der Begegnung fanden Vorträge statt, Filme liefen, Ausstel- zu schaff en. Auf französischer Seite gehörten lungen deutscher und französischer Künstler dazu der Colonel de Segonzac, der Délégué fanden statt. Die Älteren trafen sich im Salon Sée und Monsieur Schneider, Zivilangestell- zur abendlichen Unterhaltung oder auch zum ter beim Generalstab. Von deutscher Seite ka- Kartenspiel. Die Jugend fand an den Samstag- men der Syndikus Dr. Philipp Buss, der Land- abenden beim Tanz zusammen oder spielte in gerichtsdirektor Heinrich Zimmermann, der einer Ecke des Sekretariats Tischtennis. Lite- Pfarrer Karl Ippach, der Arzt Dr. Hermann ratur beider Sprachkreise konnte in der ver- Bauer und ich selbst, damals junger Gerichts- einseigenen Bücherei entliehen werden. Stu- referendar. Am 16. März 1956 fand im Hotel dienreisen oder Besichtigungsfahrten führ- Badischer Hof ein erstes Treff en statt. Nach ten beispielsweise zu den Schlössern der Loire, ausführlicher Diskussion beschloss man die auf die Burgen im Elsass, über die Romanti-

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563_Haehling - Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden.indd 567 03.12.2017 11:56:26 sche Straße oder ins Pforzheimer Schmuck- stellt haben. Einer Aussöhnung zwischen zwei museum. Gerne angenommen wurden die Völkern, die sich drei Jahrhunderte lang in Ausfl üge zum gemeinsamen Spargelessen, zur Feindschaft und in furchtbaren Kriegen ge- Tarte fl ambée oder zu einer Weinprobe. Zu- genüber standen. Nunmehr ist eine untrenn- sammen feierte man Neujahr und den Natio- bare Freundschaft gewachsen, die uns fernab nalfeiertag am 14. Juli. Und über lange Jahre politischer Querelen gemeinsam den europä- hat das deutsch-französische Lehrersehepaar ischen Weg gehen lässt. Vollmer den Schüleraustausch zwischen unse- ren Ländern organisiert. Maßgeblich hat sich Anmerkungen der Vorstand im Jahre 1961 eingeschaltet in 1 Reiner Haehling von Lanzenauer, AQUAE 1994, die Vorbereitungen für die Jumelage mit Men- S. 9, 27. ton in Südfrankreich, was wiederum zu vielen 2 Pierre Koenig (1898–1970); vgl. dazu Dominique Begegnungen mit den Bewohnern der neuen Lormier, Koenig, L’homme de Bir Hakeim, Paris Partnerstadt führte. Diese meine Aufzählung 2012, S. 307. 3 Marc Hillel, L’occupation française en Allemagne kann natürlich nur einen kleinen Ausschnitt 1945–1949, Paris 1983, S. 183. aller damaligen Veranstaltungen wiedergeben. 4 Reinhard Grohnert, Die Entnazifi zierung in Ba- Mit ihren mannigfachen Aktivitäten wurde den, Stuttgart 1991, S. 70. die Gesellschaft zugleich im öff entlichen Raum 5 Joseph Jurt (Hg.), Die Franzosenzeit im Lande Baden 1945 bis heute, Freiburg 1992, S. 73. wahrgenommen: Noch im Jahre 1956 besuchte 6 Raymond Schmittlein (1904–1974); Nicole Colin, der ehemalige französische Ministerpräsident Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen und Außenminister Robert Schuman unse- nach 1945, 2. Aufl ., Tübingen 2015, S. 416. ren Cercle. Zum 10-jährigen Vereinsjubiläum 7 Wilfried F. Schoeller, Döblin, München 2011, S. 636. hielt der Vizepräsident des Bundestages, Carlo 8 Ekkehard und Moritz Blattmann, Reinhold Schmid, im Kurhaus den Festvortrag. Wäh- Schneider Blätter 2015, S. 18. rend der Baden-Badener Amtszeit 1966–1969 9 Katalog Exposition France – Pays de Bade, Baden- waren General Jacques Massu und seine Frau Baden 1946; Manfred Bosch, Der Neubeginn, Konstanz 1988, S. 276. besonders engagierte Förderer unserer Anlie- 10 Dr. Leo Wohleb (1888–1955); Tobias Wöhrle, Leo gen. Zur 25. Jahresfeier kam der Botschaft er Wohleb, Karlsruhe 2008, S. 191. Seydoux de Clausonne mit einem Vortrag, zum 11 Badener Tagblatt Nr. 25 v. 25.3.1947 und Nr. 26 v. 30. Jubiläum beehrte uns Pierre Pfl imlin, Prä- 2.4.1947; Reiner Haehling von Lanzenauer, Düs- sident des Europaparlaments, mit seinem Be- tere Nacht, hellichter Tag. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert, Karlsruhe 1996, S. 72. such und einer Ansprache. Das 40-jährige Ju- 12 Dr. h. c. Ernst Schlapper (1887–1976); vgl. Baden- biläum war geprägt von einer reich bestückten württ. Biographien III, Stuttgart 2002, S. 356. Kulturwoche, die mit einem Gala-Abend im Kurhaus endete. Und im Rahmen des Volks- festes zum 50. Geburtstag der Gesellschaft ha- ben 50 deutsch-französische Ehepaare im Kur- garten feierlich einen Ahorn gepfl anzt. Anschrift des Autors: 60 Jahre sind es heute her, seit sich die Dr. Reiner Haehling Frauen und Männer der Deutsch-Französi- von Lanzenauer Hirschstraße 3 schen Gesellschaft Baden-Baden in das Werk 76530 Baden-Baden der Verständigung und der Aussöhnung ge-

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563_Haehling - Deutsch-französische Jahre in Baden-Baden.indd 568 03.12.2017 11:56:26 Vom mittelalterlichen Kleinhaus bis zur Tankstelle der 1950er-Jahre Die Preisträger des Denkmalschutzpreises Baden-Württemberg 2016

Gerhard Kabierske

Alle zwei Jahre schreiben der Schwäbische Heimatbund und der Landesverein Badische Hei- mat den von der Wüstenrot Stift ung fi nanzierten Denkmalschutzpreis Baden-Württemberg aus. Vergeben werden jeweils fünf gleiche Preise an private Bauherren, die im Rahmen von Gesamtsanierungen historischer Bauten denkmalpfl egerisch besonders vorbildlich mit ihrem Eigentum umgegangen sind.

Für den Denkmalschutzpreis 2016 wurden gischer Hinsicht ist, dass aber auch immer nicht weniger als 86 Bewerbungen eingesen- mehr Sanierungen von Bauten der jüngeren det, erfreulicherweise mehr als doppelt so viele Vergangenheit ins Blickfeld geraten. Kultur- wie bei der letzten Preisrunde vor zwei Jahren. denkmale sind eben nicht nur spektakuläre Anette Busse für die Wüstenrot Stift ung, Mi- Gebäude wie Burgen und Schlösser, Kirchen chael Goer für das Landesamt für Denkmal- und Klöster oder die heute vor allem touris- pfl ege, Ulrich Gräf, Bernd Langner und Cars- tisch in den Fokus gerückten Welterbestätten, ten Presler für den Schwäbischen Heimatbund, sondern auch zahlreiche Zeugnisse alltägli- Matthias Grzimek für die Architektenkammer cher Architektur aus vielen Jahrhunderten, Baden-Württemberg, Frank Mienhardt für die unsere gebaute Umwelt in ihrer Geschicht- den Städtetag Baden-Württemberg und Ger- lichkeit erlebbar machen. Beim gesellschaft - hard Kabierske für den Landesverein Badi- lichen Auft rag der Erhaltung der Kultur- sche Heimat bildeten die Jury. In einer ersten denkmale für künft ige Generationen sind Sitzung nahmen sie unter den Einsendungen die Denkmaleigentümer in starkem Maße in zwölf Objekte in die engere Wahl, die bei ei- die Pfl icht genommen. Nicht jeder von ihnen ner dreitägigen Rundfahrt besichtigt wurden. nimmt seine nach dem Grundgesetz aus der Prämiert wurden schließlich ein bis ins Mittel- Sozialgebundenheit des Eigentums erwach- alter zurückgehendes Stadthaus in Konstanz, sene Aufgabe wirklich ernst. Umso wichtiger ein Schwarzwaldhof in Schönwald, das Uh- ist es, dass beispielhaft es privates Engagement land-Haus in Tübingen, der ehemalige Bahn- auch öff entlich gewürdigt wird. wasserturm in Heidelberg und eine Tankstelle Die Preisverleihung fand im Rahmen einer in Tettnang aus dem Jahr 1950. Festveranstaltung in Anwesenheit von Katrin Wieder einmal zeigte sich, wie vielfältig die Schütz, der für Denkmalschutz zuständigen Denkmallandschaft im Südwesten in typolo- Staatssekretärin im Wirtschaft sministerium

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 569 03.12.2017 11:56:41 Wie hier beim Altstadthaus in Konstanz war auch bei den anderen Objekten die Bausubstanz vor Beginn der Sanierung durch Leerstand und fehlende Bauunterhaltung in einem äußerst desolaten Zustand. © Preisträger

Baden-Württemberg, statt. Die Preisträger er- wirkt wie eingeklemmt zwischen den Brand- hielten neben einer Urkunde und einer Bron- wänden seiner deutlich höheren Nachbarn zetafel zur Anbringung an ihrem Gebäude je- in der Konradigasse, einem mittelalterlichen weils eine fi nanzielle Anerkennung in Höhe Straßenzug, welcher der Flucht der Stadt- von 5000 Euro. Wie üblich sollen im Folgen- mauer aus dem 10. Jahrhundert folgt. Hier, den die fünf preisgekrönten Objekte des Denk- im Quartier »Niederburg«, wohnte ursprüng- malsschutzpreises 2016, von denen drei in Ba- lich die Handwerkerschaft der Bischofsstadt, den liegen, ausführlicher vorgestellt werden. ab dem 14. Jahrhundert auch niedere Geistli- che und Amtsleute. Zur Gasse hin wirkt das Häuschen bei kaum mehr als drei Metern Fas- Nicht alltägliches Wohnen im sadenbreite eher unscheinbar, und die dazu Abbruchkandidaten: Rettung in keinem vernünft igen Verhältnis stehende eines mittelalterlichen Kleinhau- Haustiefe von 14 Metern bedingte, dass durch ses in der Konstanzer Altstadt die wenigen und kleinen Fenster kaum Tages- licht in die Hausmitte fallen konnte. Zusam- Gerade einmal 69 Quadratmeter misst die men mit einem engen, labyrinthartigen Ge- Grundstücksfl äche des zweigeschossigen winkel der alten Bausubstanz, die in hohem Kleinhauses in der Konstanzer Altstadt. Es Maße schadhaft war, schien das Haus für heu-

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 570 03.12.2017 11:56:42 tige Wohnzwecke kaum mehr nutzbar. Jahr- zehntelang blieb das Haus deshalb trotz seiner zentralen Lage unbewohnt und wäre vermut- lich schon längst abgerissen, hätte die Kul- turdenkmaleigenschaft dies nicht erschwert. Glücklicherweise hatte schon der letzte Ei- gentümer erkannt, dass es sich bei diesem schwierigen Objekt um ein geschichtsträchti- ges Zeugnis handelt und den Abbruch daher ausgeschlossen, auch wenn die Erhaltung im Sinne der aktuellen Verwaltungsrichtlinien kaum mehr zumutbar gewesen wäre. Es grenzt an ein Wunder, das sich der Kon- stanzer Architekt Rolf Huesgen von allen unüberwindlich scheinenden Schwierigkei- ten nicht abschrecken ließ und die Aufgabe, das bis ins hohe Mittelalter zurückreichende Kulturdenkmal in ein Wohnhaus für eigene Zwecke umzuwandeln, mit entwerferischer Kreativität und Tatkraft in die Hand nahm. Nur gut drei Meter breit ist das bis ins Mittelalter zurückgehende Haus in der Konstanzer Er konnte das Anwesen erwerben, und in Altstadtgasse. Im Obergeschoss sieht man das enger Abstimmung mit der Unteren Denk- freigelegte Fachwerk und den nach Befund malschutzbehörde und dem Landesamt für wiederhergestellten Fenstererker. © Guido Kasper Denkmalpfl ege wurde ein Sanierungskonzept entwickelt, an dessen Anfang eine ausführli- che Bestandsaufnahme stand, denn obschon das hohe Alter des Objekts und viele Umbau- verwendet hatte. Die darüber sich erhebende phasen augenfällig waren, so fehlte es doch an Fachwerkkonstruktion wurde um 1356 er- konkretem Wissen. richtet und am Beginn des 16. Jahrhunderts Bauforschung und Bauaufnahme durch auf die heutige Tiefe des Grundstücks bis zur Burghard Lohrum, Befunduntersuchungen vorderen Straßenfl ucht erweitert. Da der im durch den Restaurator Robert Lung sowie hinteren Grundstücksteil liegende Keller etwa archivalische Recherchen und die Erfassung einen Meter über das Straßenniveau heraus- der kompletten Ausstattung in einem Raum- ragt, die Erweiterung aber nicht unterkellert buch klärten zunächst die komplexe Ge- ist und das Niveau der Gasse aufnimmt, ent- schichte des Anwesens. Es erwies sich, dass stand im Inneren des Hauses im Erdgeschoss dessen baulicher Bestand bis ins 13. Jahr- ein ungewöhnlicher Niveausprung. Der Ein- hundert zurückreicht. Der Keller ließ sich an gangsraum mit seiner hohen Decke erhielt so Hand eines Deckenbalkens dendrochronolo- bei aller Beengtheit einen ungewöhnlichen gisch auf 1290 datieren, wobei man wie bei hallenartigen Charakter. den Nachbarhäusern bei der Erbauung auch Im Mittelalter war der Bau zunächst über untere Teile der ottonischen Stadtmauer mit- Jahrhunderte off enbar nur Speicher und Öko-

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 571 03.12.2017 11:56:42 grundsätzlich unverzichtbar für eine denk- malgerechte Sanierung. Notwendige Moder- nisierungseingriff e wurden danach so gelenkt, dass die mittelalterliche und frühneuzeitli- che Substanz weitestgehend erhalten blieb. Im Hinblick auf bauliche Veränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts war man hingegen großzügiger, um Veränderungen für heutige Wohnvorstellungen überhaupt erst zu ermög- lichen. Dies betraf vor allem die durch die große Haustiefe bedingte völlig unzulängli- che Belichtungssituation im Innern des tie- fen Gebäudes. Rolf Huesgen und die Denk- malpfl ege fanden hier eine interessante Lö- sung. Da das äußerst fl ach geneigte Dach von der Straße aus nicht einsehbar ist, wurde hier Das Entree ist der großzügigste Raum mittig zwischen den Sparren ein atelierartiges des Häuschens. An der Wand die freigelegte Oberlicht in Form eines schmalen Lichtschlit- Hausnummer. © Guido Kasper zes eingebaut. Er lässt ausreichend Tageslicht ein, das durch gläserne Böden im Bereich der neuen Treppe bis hinunter ins Erdgeschoss nomiegebäude des rechts anschließenden An- fällt und auch die möbelartig eingestellten wesens. Die geringe Breite des Grundstücks kleinen Sanitärräume im Hausinneren belich- erklärt sich daraus, dass der Bau des 13. Jahr- tet. Der größeren Lichtzufuhr wegen wurde hunderts als Erweiterung in eine bestehende auch eine entscheidende Fassadenänderung Lücke der Häuserzeile der ehemaligen We- gegenüber dem Vorzustand genehmigt: Die bergasse gesetzt worden war und sich an die Untersuchung hatte ergeben, dass das Ober- bestehenden Brandwände rechts und links geschoss der Straßenfassade im 16. Jahrhun- anlehnte. Der Einbau einer Bohlenstube im dert aus Sichtfachwerk mit Backsteinausmau- rückwärtigen Obergeschoss mit einer gestal- erung bestand und einen fast hausbreiten teten Bretterbalkendecke im Zuge der Um- Fenster erker aufwies, der später auf ein klei- baumaßnahmen des 16. Jahrhunderts scheint nes Fenster reduziert worden war. Dank der ebenso wie das Obergeschoss der Straßenfas- Wiederherstellung des Fenstererkers wurde sade mit seinem Fenstererker auf eine kon- es zusätzlich wieder deutlich heller im Haus. torhausartige Nutzung in der frühen Neuzeit Die Gliederung des bandförmigen Fens- hinzuweisen. Erst weitere Veränderungen mit ters wurde wie alle neu hinzugekomme- dem Einbau von Kaminen und einem Abtritt nen Elemente – Treppen, Bad und Toiletten, ab dem späten 18. Jahrhundert belegen ein- Wandverkleidungen sowie Einbaumöbel – in deutig, dass das Haus nun zum Wohnen ge- bewusst modernen Materialien und Formen nutzt wurde. ausgeführt, um sie als zeitgenössische Zuta- Die genauen Voruntersuchungen schärft en ten in Erscheinung treten zu lassen. Putzober- den Blick für die historischen Wertigkeiten – fl ächen und Farbbefunde aus Mittelalter und

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 572 03.12.2017 11:56:42 früher Neuzeit bis hin zu Tapetenresten des 20. Jahrhunderts wurden restauratorisch ge- sichert und in die collageartige Gestaltungs- konzeption einbezogen. Die aufwändige Sicherungsmaßnahme führt beispielhaft vor Augen, dass bei gutem Willen und der Bereitschaft zu einer unge- wöhnlichen Lösung auch eine äußerst schwie- rige und sensible Denkmalsubstanz mit zeit- gemäßen Wohnansprüchen verbunden wer- den kann. Es gelang der Spagat zwischen der Erhaltung denkmalgeschützter Bausubstanz ohne zerstörerische Eingriff e und den heu- tigen Funktionen eines kleinen Einfamili- enhauses von 100 Quadratmetern Wohnfl ä- che. Die Jury war der Meinung, dass diese Sanierung vorbildlich ist und einen Denk- malschutzpreis Baden-Württemberg verdient.

Vom Weiterleben eines Schwarzwaldhofs von 1591: Durch ein von außen nicht sichtbares Die sorgfältige Sanierung des Dachfenster und durch Glasböden im Hausinneren fällt Tageslicht bis ins Erdgeschoss. Kienzlerhansenhofs bei Schön- © Bernd Hausner wald (Schwarzwald-Baar-Kreis)

Wie im Bilderbuch schmiegt sich der mäch- tige, breit hingelagerte Kienzlerhansenhof mit der Wirtschaft steil mit Dreschtenne und gro- seinem weit auskragenden Walmdach in die ßem Stall an. Lage und Funktionen sind ra- Landschaft eines glücklicherweise noch wenig tional durchdacht, ebenso die komplexe höl- verbauten Hochtals, südlich von Schönwald zerne Tragkonstruktion, die große Lasten zu im Schwarzwald gelegen. Die Jahreszahl 1591 schultern und starkem Winddruck zu wider- steht deutlich sichtbar auf einem Balken an stehen hat. Die mächtigen Wandfüllungen der Tür. Mit der Längsseite gegen einen Nord- mit massiven Holzbohlen, Kanthölzern und hang gelehnt, trotzt der Bau in einer Höhe von Brettern vermögen in ihrer Bauweise sogar rund tausend Metern nicht weniger als vier- den Schwund und das Aufquellen im Wech- einviertel Jahrhunderten der hier mitunter sel der Jahreszeiten aufzunehmen. recht rauen Witterung. Der charakteristische Wegen seiner weitgehend auf das Erbau- Eindachhof weist im Unterbau und im Dach- ungsjahr zurückgehenden Substanz wurde der werk je zwei Funktionsebenen auf. Im Unter- nach einem früheren Eigentümer benannte bau schließt sich auf den Wohnteil im Osten Kienzlerhansenhof bereits früh von der Bau- nach Westen, gegen die Hauptwindrichtung, forschung beachtet und als Kulturdenkmal

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 573 03.12.2017 11:56:43 Der eindrucksvolle Kienzlerhansenhof in Schönwald nach der Sanierung. Das Eternitdach ist der ursprünglichen Schindeldeckung gewichen. © Bernd Hausner

von besonderer Bedeutung eingestuft . Im Wesentliche Eingriff e brachte allerdings Lauf der Jahrhunderte hatte er nur wenige erst eine umfassende Modernisierung im substanzielle Veränderungen erfahren: Im 18. Jahr 1976. Damals entfernte man den nach- Jahrhundert war auf der hangseitigen Nord- träglichen Anbau des Leibgedings, unter- seite eine Hocheinfahrt in den Dachraum ein- teilte die bis dahin durch zwei Geschosse rei- gebaut worden, welche zusammen mit einer chende große Rauchküche, versah Wände »Fahr« für den Heuabwurf den Arbeitsablauf mit Vormauerungen, dämmte sie mit Mine- bei der Heumad wesentlich erleichterte. Da- ralwolle und verkleidete sie in großem Um- mals wurde der Hof an der Nordostecke auch fang mit Nut-und-Feder-Verbretterungen, durch den Anbau eines Leibgedings erweitert, die das Erscheinungsbild im Inneren ebenso das zusätzlichen Wohnraum in dem diff eren- stark verunklärten wie im Äußeren die neuen zierten Gebilde schuf, das von zahlreichen Fenster, die zwar kleinteilige Teilungen auf- Mitgliedern der Bauernfamilie samt Knech- wiesen, aber nicht auf historische Vorbilder ten und Mägden bewohnt wurde. Die Unter- zurückgriff en. Die schadhaft e Dachdeckung kellerung des Wohnteils scheint ebenfalls erst mit Holzschindeln wurde damals zudem mit nachträglich erfolgt zu sein, als für den einge- Eternitplatten erneuert. Bauherr war die Ge- führten Kartoff elanbau ein zusätzlich geeig- meinde Schönwald, seit über 150 Jahren Ei- neter Vorratsraum benötigt wurde. gentümer des Hofes mit einer Fläche von

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 574 03.12.2017 11:56:43 45 Hektar Wald und Wiesen, bewirtschaft et von einem Pächter. Schon 2013 befand sich der Hof wieder in einem dringend sanierungsbedürft igen Zu- stand. Die unsachgemäße Dachdeckung der siebziger Jahre hatte vor allem an den Wal- men zu Feuchteschäden an der Konstruktion geführt, denen dringend abgeholfen werden musste. Angesichts des beträchtlichen Fi- nanzaufwands beschloss die Gemeinde, sich von dem für sie nicht mehr rentierlichen Ob- jekt zu trennen. Es war ein Glücksfall, dass die Architekten Anja Kluge und Ingolf Gös- sel aus Stuttgart auf den Hof aufmerksam wurden. Ihre Bereitschaft , das Anwesen nicht nur als Zweitwohnsitz zu nutzen, sondern die Landwirtschaft unter Naturschutzaspekten weiterzuführen, gab den Ausschlag, dass sie in einem öff entlichen Bieterverfahren den Zu- schlag erhielten. In enger Abstimmung mit den Denkmal- behörden erfolgte seit 2014 eine umfassende Unter dem weit vorkragenden Dach hat sich die Sanierung, die vom Engagement und der Sen- alte hölzerne Außenwand über die Jahrhunderte unverändert erhalten. © Bernd Hausner sibilität der neuen Eigentümer, ihrem Ziel ei- ner Nutzungskontinuität mit Wohnen und extensiver Landwirtschaft und dem Eingehen auf die Struktur und Geschichte des Hofes Die folgenden baulichen Maßnahmen geprägt war. Von den Bauforschern Dr. Ste- wurden unter Beibehaltung der Grundrisse fan Blum, Stephen King und Burghard Loh- in traditioneller Handwerkskunst durch- rum sowie durch das eigene Architekturbüro geführt. Schadhaft e Hölzer wurden ausge- wurden zunächst detaillierte Untersuchungen tauscht, Verformungen vorsichtig rückgängig durchgeführt, die eine genaue Bewertung des und Holzverbindungen wieder kraft schlüssig Zustandes und seiner Ursachen ermöglichten. gemacht. Die Entfernung der Eternitplatten Denkmalpfl egerisch oberste Priorität war die auf dem Dach und die Neueindeckung mit Erhaltung der Substanz des Ursprungsbaues handgespaltenen Holzschindeln, unter de- von 1591 und der Veränderungen des 18. nen die Reste der historischen Verschinde- Jahrhunderts als wichtige Zeugnisse des Nut- lung erhalten blieben, förderte die Außen- zungswandels, während die verunklärenden wirkung. Als positiv zu bewerten ist auch der Modernisierungen der 1970er-Jahre mit der Vorsatz, trotz der Minimierung von Verände- Unterteilung der Rauchküche und den Ver- rungen den Hof niedrigenergetischen Stan- kleidungen im »Sauna-Stil« rückgebaut wer- dards anzupassen. Im originalen Aufb au der den sollten. Außenwand wurden als Kernschicht eine

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 575 03.12.2017 11:56:43 Die von ihrer eingezogenen Zwischendecke befreite Rauchküche mit roher Steinmauer und Durchgang zum Vorratsraum. © Bernd Hausner

Holzfaserdämmung sowie eine speziell abge- Lehm verwendet. Auf Fliesen wurde ganz stimmte Windsperre eingebracht. Die neuen verzichtet, stattdessen die Wände in den Holzfenster mit den am Bau noch ablesbaren Sanitärräumen mit Lehm verputzt und der ursprünglichen Teilungen wurden als Kas- Boden mit einem mit Stallmist versetzten tenkonstruktionen ausgebildet. Eine dauer- Lehmestrich versehen. Moderne Sanitärele- haft e Grundwärme von 20 Grad Raumtem- mente erscheinen als von der historischen peratur liefert auch in kalten Wintern eine Substanz getrennte Objekte von skulptura- geothermische Anlage, die in einem der frü- ler Wirkung. heren Wirtschaft sräume eingerichtet werden Die Jury war sich einig, dass diese Sanie- konnte, ohne die Bausubstanz zu beeinträch- rung in ihrer hohen handwerklichen und tigen. Traditionelle Grundöfen in den Stuben formalen Qualität der Bedeutung des Kienz- und der Herd mit rekonstruiertem Rauch- lerhansenhofs gerecht geworden ist und als fang in der Rauchküche liefern bei Bedarf vorbildlich für den Umgang mit einem hoch- zusätzliche Wärme. rangigen Kulturdenkmal zu gelten hat. Für Für erforderliche Neubauteile wurden ihre besondere Leistung erhielten die Eigen- ausschließlich die am ursprünglichen Bau tümer den Denkmalschutzpreis Baden-Würt- vorhandenen Materialien Holz, Granit und temberg 2016.

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 576 03.12.2017 11:56:44 Gemeinsam ein bedeutendes Kulturdenkmal retten: Das Beispiel des Uhland-Hauses in Tübingen

Jahrelang sorgten sich die Restauratorin Si- mone Korolnik und der Journalist Burkhard Baltzer um den Zustand des Hauses in der Tü- binger Altstadt, in dem sie zur Miete wohnten. Das Dach war undicht, und sie mussten zu- sehen, wie eingedrungenes Wasser die Fach- werkkonstruktion mehr und mehr in Mit- leidenschaft zog. Die Wohnungen wurden feucht, außerdem entsprachen Brandschutz und Sanitäreinrichtungen keineswegs mehr heutigen Erfordernissen. Dabei bildet das stattliche Gebäude in der Zeile der hohen Gie- belhäuser einen besonderen Glanzpunkt der Neckarhalde, einer der schönsten Straßen der Wieder ein Schmuckstück in der Häuserzeile Universitätsstadt, unmittelbar am Steilhang der Neckarhalde in Tübingen: zu Füßen des Schlosses Hohentübingen gele- Das Uhland-Haus nach der Restaurierung durch gen. Blickt man aus den Wohnungen in den eine Bauherrengemeinschaft. © Preisträger oberen Geschossen, so bietet sich ein groß- artiges Panorama vom Gebäude des Stift s bis hinunter zur Platanenallee auf der Insel im Neckar. sadengestaltung, sondern auch in der inne- Geschichte lässt sich im Haus selbst ein- ren Auft eilung und Ausstattung mit Treppe, drucksvoll ablesen: Zwei Etagen mit gewölb- Türen, Böden und Stuckdecken in seiner ori- ten Kellern, auf Straßenniveau gegen den ginalen Substanz noch weitgehend erhalten Hang und tief darunter in den Untergrund – keineswegs selbstverständlich in der histo- eingegraben, direkt von der Straße aus durch rischen Tübinger Altstadt. Eine kleine Sand- eine steile Treppe erschlossen, zeugen noch steintafel des 19. Jahrhunderts an der Fassade von einem Vorgängerbau wahrscheinlich des vermeldet zudem eine historische Besonder- 16. Jahrhunderts. Der vom unteren grund- heit des Ortes: Am 26. April 1787 wurde in stücksbreiten Gewölbe bis zum Wasserspie- der Wohnung des zweiten Obergeschosses gel des Neckars hinabreichende Brunnen- Ludwig Uhland geboren, später gefeiert als schacht könnte noch älter sein. Das steinerne schwäbischer Dichter von Liedern und Balla- erste Obergeschoss, zwei weitere Etagen mit den, als demokratisch gesinnter Abgeordne- oben vorkragendem verputztem Fachwerk ter der württembergischen Landstände und sowie zwei Dachgeschosse sind das Ergebnis der Frankfurter Nationalversammlung von eines repräsentativen Neubaus aus dem Jahr 1848/49 und Vorkämpfer der deutschen Ein- 1772. Er ist nicht nur in der spätbarocken Fas- heit. Auch wenn die Eltern schon wenige Mo-

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 577 03.12.2017 11:56:44 Auch mit der bergseitigen Rückfassade wurde sorgfältig umgegangen – historische Fenster wurden repariert und mit einer neuen Kastenkonstruktion energetisch verbessert. © Bernd Hausner

nate nach der Geburt wegzogen, so ist dieses Haus nach dem Verlust der späteren Wohnun- gen von Uhland das einzige mit seiner Person verbundene Gebäude. 1993 wurde das Uhlandhaus wegen seiner Die alte Treppe verbindet die sechs Geschosse architekturgeschichtlichen Aussagekraft und des hohen Hauses. © Bernd Hausner seiner historischen Rolle als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung in das Denkmal- buch eingetragen. Den Niedergang des Anwe- sens schien dies trotzdem nicht aufzuhalten, rolnik und Burkhard Baltzer, die sich mit denn einerseits blieben die dringend notwen- ihrem Wohnhaus seit Jahren stark identifi - digen Reparaturen am Dach aus, anderseits zierten und früh den Kontakt zu den Denk- wurden noch Ende der 1990er-Jahre bei der malbehörden gesucht hatten, gaben noch als Wohnungsrenovierung im Mansarddachge- Mieter bei einem erfahrenen Zimmermann schoss originale Ausstattungsteile wie Türen, und einem Architekturbüro Gutachten zur Lambrien, Holz- und Steinfußböden beden- Wertermittlung und Schadenserfassung, zu kenlos beseitigt. Mehrfach war die unbefrie- einem Sanierungskonzept und der Kostener- digende Entwicklung Th ema in der Tübinger mittlung in Auft rag. In der Folge beschlos- Lokalpresse, nicht zuletzt, weil es sich beim sen sie trotz aller Risiken, die sie zu tragen Eigentümer nicht um irgendeine Privatperson hatten, selbst als Käufer aufzutreten. In dem handelte, sondern um die städtische Wohn- syrischen Arzt Rami Archid sowie mit Erika baugesellschaft GWG. Gaier und Jürgen Heerlein fanden sie wei- Die Wende kam erst mit der Entscheidung tere Mitstreiter, die bereit waren, am selben der Gesellschaft , sich von der für sie unren- Strang zu ziehen. 2014 gründete die moti- tablen Immobilie zu trennen. Simone Ko- vierte Gruppe eine Baugemeinschaft bür-

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 578 03.12.2017 11:56:45 gerlichen Rechts, um eine professionelle Sa- nierung des wertvollen Hauses in Angriff zu nehmen. Das Planungsbüro für Architektur und Denkmalpfl ege Lukaschek & Zimmer- mann in Bad Schussenried, das 2012 bereits mit dem ersten Schadensgutachten beauf- tragt worden war, förderte in einer detaillier- ten Schadensanalyse eine Fülle von Baumän- geln bis hin zu massivem Schwammbefall im Fachwerk zutage. Simone Korolnik selbst fer- tigte ein Raumbuch, dass sämtliche Befunde Wohnen wie zu Ludwig Uhlands Zeiten. an Materialien und Farben als Grundlage für Die Freilegung von Lambrien und Stuckprofilen die Ausschreibungen für die Reparatur do- gaben der Wohnung im 2. Obergeschoss mit kumentierte. Die Architektin Verena Klar in Blick zum Neckar wieder ihre einfache Mähringen und der Architekt Pierre Archid Noblesse zurück. © Bernd Hausner in Tübingen, Bruder von einem der neuen Eigentümer, leiteten danach die Bauarbeiten, an der zwei begutachtende Restauratoren, ein Statiker, ein Energieberater und nicht weniger ertüchtigt. Auch in den Wohnungen gelang als 17 Handwerksfi rmen unterschiedlichster es, die erhaltene Originalsubstanz weitest- Gewerke beteiligt waren. Zudem brachten gehend zu bewahren, ohne gravierende Ein- sich die Eigentümer mit viel Eigenarbeit ein, griff e in die Struktur heutigen Ansprüchen um die Kosten niedrig zu halten. an Sicherheit, Haustechnik und Hygiene Den Anfang machte die aufwändige Sanie- zu genügen und den Wohnwert deutlich zu rung des Holzwerks von Dach und Fachwerk. steigern. Der Rückbau von abgehängten De- Einzelne Dachsparren mussten komplett er- cken, die Freilegung von Stuckaturen, aufge- neuert werden. Es gelang aber, auch die doppelten Fußböden sowie die Entfernung größeren Schadensbereiche durch partielle anderer unzulänglicher »Modernisierun- handwerkliche Reparatur zu beheben. Mit- gen« der letzten Jahrzehnte machen die Ge- tels Zellulosefl ocken in den Zwischenräumen schichtlichkeit des Hauses wieder erlebbar. wurde das Dach, das eine neue doppelte Bi- Besonders beispielhaft fand die Jury darüber berschwanzdeckung erhielt, modernen An- hinaus, dass die vier Eigentümer trotz unter- sprüchen der Energieeinsparung gerecht. In schiedlicher Herkunft und Berufe sowie be- der Ebene des Mansarddachs konnte dabei grenzter Mittel sich gemeinschaft lich auf das sogar die historische Dämmung mit Lehm- Projekt einließen und das Gebäude unter Zu- wickeln erhalten werden. In den Wohnungen rückstellung von Einzelinteressen weiterhin blieben die überlieferten Grundrisse weitest- als bauliche Einheit erscheint. Einhellig fi el gehend bestehen, auch wenn die Haustech- die Entscheidung, dieses hervorragende Bei- nik überall der Erneuerung bedurft e. Die an spiel einer Sanierung durch eine engagierte der Rückseite zum bergseitig gelegenen Hof Bauherrengemeinschaft mit dem Denkmal- original erhaltenen Fenster wurden repariert schutzpreis Baden-Württemberg 2016 zu ho- und mit Kastenkonstruktionen energetisch norieren.

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 579 03.12.2017 11:56:45 Eine gelungene Umnutzung zum Charme, aber auch die monumentale Geste Architekturbüro und Veran- des dreißig Meter hohen Turms auf quadra- staltungshaus: Der ehemalige tischem Grundriss mit seitlich symmetrisch Bahnwasserturm in Heidelberg anschließenden zweigeschossigen Flügeln be- geisterte die Architekten, auch wenn die Um- Bei einem animierenden Besuch der Archi- nutzung des relativ großen, auf seine spezielle tekturbiennale in Venedig fi el bei Armin Funktion zugeschnittenen Baues für die Zwe- Schäfer, Stephan Weber und Stefan Loebner cke eines Architekturbüros nicht unbedingt der Entschluss, nach einem Jahrzehnt er- naheliegend war. folgreicher Architektentätigkeit in Heidel- Das eindrucksvolle Gebäude ist ein cha- berg eigene Räume für ihr Büro Aag zu su- rakteristisches Beispiel für jene moderne chen. Schnell geriet als mögliches Domizil ein Baukultur der 1920er-Jahre, die Funktion mit ehemaliger Wasserturm am Rand der Eisen- formaler Sachlichkeit zu verbinden wusste, bahntrasse im Westen der Stadt in den Blick, ohne dabei Solidität und traditionellen ar- wo gegenwärtig mit der »Bahnstadt« ein aus- chitektonischen Anspruch zu vernachläs- gedehntes neues Quartier entsteht. Der raue sigen. Im Zuge der Neuordnung der Bahn- anlagen in Heidelberg war der kantige Turm mit seinem fl ach geneigten Zeltdach als Teil des neuen Bahnbetriebs- werkes für die Wartung der Züge nach Plänen der Bauab- teilung der Reichsbahndirek- tion Karlsruhe geplant und 1928 in Betrieb genommen worden. Hinter der fl ächigen dunkelroten Klinkerfassade verbirgt sich eine eindrucks- volle Betonkonstruktion mit einem runden Wasserbehäl- ter von 333 Kubikmeter Fas- sungsvermögen, dem Tages- bedarf des Betriebswerks für die damals noch dampfb e- triebenen Lokomotiven auf den vorbeiführenden, stark frequentierten Eisenbahnstre- cken durch das Rhein- und Neckartal. Die beiden seitlich Ein eindrucksvolles Beispiel für die sachliche Monumentalität von anschließenden Flügel beher- Funktionsgebäuden der 1920er-Jahre: der ehemalige Bahnwasser- turm in Heidelberg nach seiner Sanierung und Umnutzung. bergten Werkstätten und Auf- © Thomas Ott enthaltsräume, aber auch die

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 580 03.12.2017 11:56:45 Gleichrichteranlage zum Laden der Batterien für die elektrische Zugbeleuchtung sowie ei- nen Gas- und Luft kompressor. Mit dem Ende der Dampfl oks verlor der Wasserturm schon in den 1960er-Jahren seine Aufgabe, während die Flügelbauten noch weiterhin als Lehr- werkstätten der Bundesbahn benutzt wurden, bis auch für diese 1989 das Aus kam. Seitdem stand der Bau leer und vernachlässigt auf dem riesigen, ebenfalls verlassenen Gelände des Rangier- und Güterbahnhofs, das schließ- lich von der Kommune zur Stadtentwicklung erworben wurde. Seit 2011 entsteht hier die Bahnstadt, für deren Wohn- und Gewerbe- bebauung schon mehrere ehemalige Bahnge- bäude weichen mussten, selbst wenn sie unter Denkmalschutz standen. Auch für den Was- serturm schien sich lange Zeit niemand zu in- teressieren, bis schließlich das Büro Aag auf Der Wassertank im Turm ist heute ein den Plan trat. Veranstaltungsraum mit besonderen Deren Eigentümer, die eine »Wasserturm ästhetischen Qualitäten. Rost und Kalk haben GbR« gegründet hatten, erwarben 2014 den Spuren mit Kunstwerkcharakter hinterlassen. inzwischen heruntergekommenen, aber in © Thomas Ott seiner Substanz noch erhaltenen Bau, der bereits 1989 als Teil der Sachgesamtheit ehe- maliges Bahnbetriebswerk als Kulturdenk- das Büro überstieg, entwickelten die Archi- mal eingestuft worden war. Schon in Vorge- tekten ein Konzept, das dem Gebäude auch sprächen mit den Denkmalbehörden wurde eine teilweise öff entliche Nutzung ermög- man sich schnell über die Grundsätze für licht und es zu einem Mittelpunkt des neuen den Umgang mit der historischen Bausub- Stadtteils macht. Auf zwei Etagen des Ost- stanz einig, die soweit als möglich wieder- fl ügels, im ausgebauten Dach darüber sowie hergestellt werden sollte. Zeitschichten und in den unteren Geschossen des Turms, hat Patina, aber auch Verwundungen durch den das Architekturbüro seinen Platz gefunden, intensiven Gebrauch über Jahrzehnte, soll- während im Westfl ügel, in den Kellerräu- ten ablesbar bleiben. Bauliche Veränderun- men und in den Turmobergeschossen Ver- gen, Ergänzungen und Eingriff e, die auf- anstaltungsräume für gewerbliche, kultu- grund der neuen Funktion und der heutigen relle und private Nutzungen angeboten wer- Bauvorschrift en erforderlich waren, sollte in den. Unter dem Namen »Tankturm« hat sich deutlich abgesetzter, moderner Formenspra- inzwischen ein reges Leben entwickelt. Bei- che erfolgen, wobei diese das historische Er- spielsweise hat der Heidelberger Verein für scheinungsbild nicht beherrschen durft e. Da zeitgenössische Musik »Klangforum« Räum- das Raumangebot die benötigte Fläche für lichkeiten angemietet.

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 581 03.12.2017 11:56:46 Es waren jedoch auch Eingriff e in das Ge- bäude notwendig. Die Büros und Veranstal- tungsräume in den Flügelbauten erhielten eine isolierende Innenschale, die sich zu- sammen mit den integrierten zusätzlichen Innenfenstern in Kastenkonstruktion op- tisch geglückt als moderne Zutat zu erken- nen gibt. Die Belichtung der neu ausgebauten Walmdächer der Flügel erfolgt mittels eines umlaufenden Lichtschlitzes, der unter Erhal- tung des originalen Dachstuhls durch den ge- schickten Wechsel der Dämmung zwischen innen und außen möglich wurde. Im Turm mussten eine neue Treppe sowie ein Aufzug eingebaut werden. Aus dem früheren Was- sertank wurde ein Stück herausgesägt, um ihn begehbar und für Veranstaltungen nutz- bar zu machen. Alle neuen Teile sind aus fast schwarz gestrichenem Stahl und als solche deutlich als nachträgliche Zutaten erkenn- bar, ohne die Raumwirkung der rohen Be- Die historischen Fenster der zwanziger Jahre tonkonstruktion zu zerstören. Dies gilt auch wurden fachgerecht repariert. Eine innere für die beiden vorn und seitlich am Turm von Wandschicht mit einem zusätzlichen Fenster, der Feuerwehr geforderten Anleitermöglich- deutlich von der Altsubstanz abgesetzt, erzielt die erwünschte energetische Verbesserung. keiten im Brandfall. Die Architekten fanden © Bernd Hausner auch dafür eine formal befriedigende Lösung mit weit auskragenden stegartigen Außen- balkonen, die für den Statiker eine Heraus- Die historische Bausubstanz wurde dem forderung bildeten. Ohne den Turm in sei- Konzept entsprechend weitestgehend erhal- nem ruhigen charakteristischen Bild aus dem ten und vorsichtig repariert. Dies betrifft die optischen Gleichgewicht zu bringen, signali- originalen, dunkelgrau gestrichenen Holz- sieren die Balkone schon von weitem, dass der fenster mit ihren für die 1920er-Jahre typi- Turm heute anderen Funktionen dient als zur schen querrechteckigen Teilungen ebenso Erbauungszeit. wie die in den Bahnwerkstätten eigens her- Nach Meinung der Jury überzeugt der Hei- gestellten groben Beschläge, die alten Instal- delberger »Tankturm« trotz seiner nicht all- lationen des Wasserturms oder die Beton- täglichen Nutzungsänderung durch eine ge- oberfl ächen der Treppe im Turm sowie vor glückte Symbiose von Alt und Neu. Das Alte allem das Innere des ehemaligen Wasser- ist bewahrt und das Neue versteckt sich nicht, tanks, das mit seinen alten Kalk- und Rost- drängt sich aber auch nicht in den Vorder- ablagerungen geradezu Kunstwerk-Charak- grund. Die engagierten und kreativen Eigen- ter besitzt. tümer, Bauherren und Architekten in Per-

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 582 03.12.2017 11:56:46 Ein äußerst rar gewordenes Dokument der Verkehrgeschichte des 20. Jahrhunderts und immer noch in Betrieb: die sanierte Tankstelle in Tettnang. © Bernd Hausner

sonalunion erhielten dafür den Denkmal- großzügiger Verglasung. Die erste marken- schutzpreis Baden-Württemberg 2016. gebundene Großtankstelle dieser Art wurde 1927 in Hamburg eröff net. Die neue Bauauf- gabe sollte sich infolge der Motorisierung Trotz geringen Alters eine archi- der Gesellschaft rasch weiterentwickeln und tekturgeschichtliche Rarität: Stadtbilder und Landschaft en bis zur Gegen- Die restaurierte Tankstelle in wart in starkem Maße prägen – dies keines- Tettnang (Bodenseekreis) wegs immer zu deren Vorteil. Die baulichen Zeugnisse, selbst wenn sie hie und da durch- Die ersten Automobile wurden mit Kraft - aus architektonischen Ansprüchen genügten, stoff en betrieben, die Apotheker, Drogisten, hatten selten längeren Bestand. Der Verände- Kohlenhändler oder Gastwirte bereithielten. rungsdruck war angesichts ständig wechseln- Simple Pumpen standen dafür am Straßen- der technischer Vorgaben, Sicherheitsaufl a- rand vor Läden oder Wirtshäusern. Erst seit gen und sich wandelnder Geschäft smodellen den 1920er-Jahren bildete sich der Typus der immens, und er ist es bis heute geblieben. Al- Tankstelle heraus mit separater Vorfahrt von lenfalls bei Aufgabe der eigentlichen Nutzung der Straße, Zapfsäulen unter weit ausladen- besteht normalerweise eine gewisse Chance dem Vordach und einem Kassenhäuschen mit der Erhaltung von Anlagen, die bereits in die

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 583 03.12.2017 11:56:46 Dank der wiederhergestellten Beleuchtung am Flachdachrand bietet die Tankstelle auch bei Nacht ein eindrückliches Bild. © Preisträger

Jahre gekommen sind. Geradezu abenteuer- abgerundete Kragplatte trägt. Diese über- lich können Nachnutzungen ausfallen, die dacht nur eine einzige Autovorfahrt mit ei- man entdecken kann, wenn man bei der Fahrt ner Durchfahrtshöhe unterhalb jeder Norm. über Land danach Ausschau hält. Lastwagen müssen deshalb vor den Zapfsäu- Umso überraschender ist es, wenn man an len vorgefahren und ohne Wetterschutz be- einer verkehrsreichen Ausfallstraße im ober- tankt werden. Wie das Dach so ist auch der schwäbischen Tettnang tatsächlich noch eine darunter geschobene Kassenraum mit seinem alte Tankstelle in Betrieb entdeckt. Und dass abgerundeten Grundriss und dem charakte- sie alt ist, macht ein Vergleich mit einer heute ristischen, ebenso gerundeten Fensterband, üblichen Tankstation in der unmittelbaren dem weißen Anstrich über niederem, grauem Nachbarschaft deutlich, die neben Kraft stof- Sockel und einem schmalen, über den Fens- fen auch Autoservice und ein Verkaufsan- tern umlaufenden roten Streifen von besonde- gebot wie ein Supermarkt anbietet. Die Di- rem gestalterischem Reiz. Ganz off ensichtlich mensionen des historischen Beispiels wir- wurde hier die Ästhetik des Neuen Bauens der ken dagegen fast puppenhaft . Gerade einmal späten Zwanziger Jahre rezipiert. zwei Zapfsäulen stehen rechts und links einer Die Tettnanger Tankstelle, auf einem drei- Stütze, die sich nach oben erweitert und mit- eckigen Grundstück im spitzen Winkel zweier tig eine dünne, fein profi lierte, nach vorne Straßen an der nördlichen Stadtausfahrt

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 584 03.12.2017 11:56:47 Richtung Ravensburg gelegen, wurde aber erst 1950 errich- tet und ist damit ein Zeugnis für die Kontinuität des Neuen Bauens bei Architekturen für Industrie und Technik, auch durch die Jahre des Natio- nalsozialismus hindurch und über sie hinaus. Sie wurde nach einem Entwurf der Bau- abteilung der »Deutsch-Ame- rikanischen Petroleumge- sellschaft « errichtet, die kurz danach vom Esso-Konzern übernommen wurde. Ein fast Unter späteren Anbauten kam die charakteristische Rundung des identischer Bau – das Kassen- Kassenhäuschens wieder zum Vorschein. © Preisträger haus ist dort im Unterschied zu Tettnang aber weiß gefl iest – wurde gleichzeitig im nahen Friedrichsha- machte von nun an auch hier ein an Tank- fen erstellt. stellen nicht unübliches Sammelsurium von Bauherr in Tettnang war Karl Dangel, der Werbeschildern, Automaten, Mülleimern die Tankstelle bis zu seinem Tod 1972 betrieb. und eine Fassadenverkleidung in Backstein- Schon um 1958 war für die Erweiterung des imitat auf das zusätzliche gastronomische Angebots der Tankstelle seitlich eine Reifen- Angebot aufmerksam, das wirtschaft lich für werkstatt und ein Lagerraum angebaut wor- den Betrieb der Tankstelle als überlebens- den. Dafür war auf der rechten Seite die Run- wichtig angesehen wurde. dung des Kassenhauses über der ebenfalls Trotz dieser optisch unerfreulichen Verän- gerundeten Glasscheibe hinter einer eckigen derungen wurde der Bau im Jahr 2000 von Verkleidung verschwunden, ein erster verun- der Inventarisation als Kulturdenkmal aus- staltender Eingriff in die ursprüngliche Klar- gewiesen – gerade noch rechtzeitig, um einen heit des Baukörpers. Weitere Veränderungen, ersten Abbruchantrag der veralteten Anlage die das Erscheinungsbild beeinträchtigten, denkmalrechtlich ablehnen zu können. Eine sollten im Zuge von zusätzlichen Nutzungs- schwierige Zeit für Eigentümer wie Denkmal- änderungen folgen. Dangels zweiter Nachfol- behörden folgte. 2002 gab das Landesdenk- ger vergrößerte 1988 den Nebenraum hinter malamt bei einem Konstanzer Architekten der Kasse durch die Versetzung der Trenn- ein Gutachten in Auft rag, das prüfen sollte, wand, um dort eine Küche einzurichten für wie man die Tankstelle unter Erhalt der ur- einen Imbiss, für den die Seitenfassade auf- sprünglichen Substanz erweitern könnte. Aus gebrochen und die bisher dort bestehende fi nanziellen Gründen wurden die Vorschläge Tür beseitigt wurde, um hier durch ein gro- nicht weiterverfolgt. 2005 erwarb die Fritz ßes Fenster nach außen bedienen zu kön- Wahr Energie GmbH & Co. KG in Nagold, nen. Ohne jeden gestalterischen Anspruch die insgesamt 21 MTB-Tankstellen betreibt,

Badische Heimat 4 / 2017 Vom mittelalterlichen Kleinhaus bis zur Tankstelle der 1950er-Jahre 585

569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 585 03.12.2017 11:56:47 den Objekt angefreundet hatte. Im Vorfeld eines erneuten Pächterwechsels entschied man, auf eine Erweiterung zu verzichten und die Tankstelle in der ursprünglichen Weise auch ohne größeres Zusatzangebot weiter- zubetreiben. Das ermöglichte eine Sanierung unter denkmalpfl egerischen Gesichtspunk- ten. In Abstimmung mit der Denkmalpfl ege wurde die Tankstelle im Frühjahr 2016 vor- bildlich saniert. Das Kragdach, das sich über- raschenderweise nicht als Beton-, sondern als eine Holzkonstruktion erwies, wurde re- pariert. Der Küchenraum wurde dem Kas- senraum zugeschlagen, die verunstaltenden Um- und Anbauten, auch die für den Imbiss veränderte Seitenwand, wurden zurückgebaut und das ursprüngliche Erscheinungsbild mit- samt der früheren Farbigkeit nach Befund wiederhergestellt. Die Fritz Wahr GmbH & Co KG empfi ndet ihre Tettnanger Niederlas- sung heute als »unser Schmuckstück«. Es ist ihr Verdienst, ein rar gewordenes Dokument Nach Befund wieder erlebbar gemacht: der Charme der Nierentischzeit. der Verkehrsgeschichte des 20. Jahrhunderts in seiner ursprünglicher Form und Funktion weiterzutradieren. Nach Auff assung der Jury die Tankstelle. Nach der dringend erforder- gebührt ihr dafür der Denkmalschutzpreis lichen Erneuerung der Anlagentechnik im Baden-Württemberg 2016. Untergrund wurde die Tankstelle vom bishe- rigen Eigentümer als Pächter zwar weiterbe- trieben, mehrmals wurde dieser jedoch wegen einer Erweiterung bei den Denkmalbehörden vorstellig, ohne dass diese dem geplanten wei- Anschrift des Autors: Karlsruher Institut für teren Verlust an Originalsubstanz zustimmen Technologie (KIT) konnten. saai | Südwestdeutsches Den gordischen Knoten durchschlug dann Archiv für Architektur und 2015 die Fritz Wahr Energie GmbH & Co KG Ingenieurbau, Kaiserstraße 8, Gebäude 10.32 selbst, die sich mittlerweile mit ihrem, dem 76131 Karlsruhe üblichen Standard gewiss nicht entsprechen-

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569_Kabierske_Vom mittelalterlichen Kleinhaus.indd 586 03.12.2017 11:56:47 Déjà vu? Als die Straßburger Straßenbahn vor rund 100 Jahren durch Kehl fuhr

Ute Scherb

Seit April 2017 fährt die Straßburger Straßenbahn wieder nach Kehl und die beiden sich am Rhein gegenüberliegenden Städte sind verkehrstechnisch so eng aneinander gebunden, dass Fahrgäste aus beiden Nationen beinahe unbemerkt und selbstverständlich die Landesgrenze überschreiten können. Vor knapp 120 Jahren gab es diesen Moment schon einmal, als die erste Trambahn der Straßburger Straßenbahn-Gesellschaft über den Rhein dampft e und Markt- frauen wie Arbeiter aus Kehl und dem Hanauerland nach Straßburg beförderte. Besonders an Feiertagen und Wochenenden waren die Bahnen überfüllt, weil Touristen aus Straßburg im benachbarten Kehl Erholung suchten. Geradezu schwärmerisch pries am Vorabend des Ersten Weltkrieges das Adressbuch der Gesamtgemeinde Kehl von 1914 den öff entlichen Nahverkehr: »Die Verkehrsverbindungen mit dem nahen Straßburg sind vorzügliche«. Tatsächlich herrsch- ten seinerzeit beinahe paradiesische Verhältnisse: Im Zehn-Minutentakt passierte die von Kehl kommende Straßenbahn die Rheinbrücke, von morgens 6 Uhr bis 12 Uhr nachts. Tatsächlich war die damalige Publikumserwartung an die Dienstleistung des öff entlichen Nahverkehrs deutlich höher als heute: Keineswegs zufrieden mit der bereits erreichten Zugtaktung, wollte die betreibende Straßburger Straßenbahn-Gesellschaft die Rheinüberfahrt im Fünf-Minuten- takt bewältigen, scheiterte jedoch an bürokratischen Hemmnissen. Im Gegensatz zu heute er- wies sich das Betreiben dieser Straßenbahnlinie keineswegs als Zuschussgeschäft , sondern als lukrative Angelegenheit. Wie auch heute musste damals eigens für die Tram eine neue Brücke gebaut werden, und es war für die Straßburger Aktiengesellschaft keine Frage, dass sie sich mit einem nicht unerheblichen Beitrag an den Baukosten beteiligte – eine Investition, die sich schon bald amortisieren sollte.

Wie alles begann: Eine Pferde- ringen ausgebaut werden. Gerade hier woll- Straßenbahn für Straßburg ten die Repräsentanten des neu gegründeten wilhelminischen Kaiserreiches beweisen, wel- Die Initiative für die Einrichtung einer Stra- che architektonischen, technischen und wis- ßenbahn erfolgte nicht von Kehl, sondern von senschaft lichen Glanzstücke der neue Staat Straßburg aus. Das sollte nach dem Deutsch- zu produzieren in der Lage war. Beide Städte Französischen Krieg von 1870/71 gleichsam waren 1870 schwer zerstört worden. Von Kehl als deutsches Aushängeschild zur Metropole aus hatte die preußische Armee unter General des unter direkter Verwaltung des deutschen August von Werder die Stadt Straßburg be- Kaisers stehenden Reichslandes Elsass-Loth- schossen und die französische Seite hatte die-

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 587 03.12.2017 11:57:06 Neubau im wilhelminischen Stil: Das Hauptgebäude der Universität, erbaut 1879–1884

ses Feuer erwidert. Während nach Kriegsende überquerten, um zu ihren Baustellen zu ge- die Wiederaufb auarbeiten in Kehl nur lang- langen. sam voranschritten, stand der Wiederaufb au Unter den Ingenieuren des Deutschen Rei- Straßburgs im Fokus der Reichsregierung, die ches sprach sich die in Straßburg herrschende hierfür große Summen investierte. Aufb ruchsstimmung schnell herum. So Schon 1872 wurde die Hochschule als Kai- wurde schon Anfang 1872 ein Berliner Ingeni- ser-Wilhelm-Universität neu gegründet. Die eur namens Schmetzer nicht nur in Straßburg Einwohnerzahl verdoppelte sich aufgrund vorstellig, er wandte sich auch an die Kehler des Zuzugs tausender sogenannter Altdeut- Verwaltungsspitze, um dort ein zukunft swei- scher aus dem ganzen Reich auf fast 180 000 sendes Projekt zu bewerben: Er empfahl die im Jahr 1910. Im Nordosten der Altstadt ent- Entwürfe eines Berliner Kollegen für eine stand ab 1878 die Neustadt; das gigantische Pferdeeisenbahn und legte einen Plan vor, Bauprojekt bedeutete eine fl ächenmäßige der nicht nur die Erschließung Straßburgs in Verdreifachung der Stadt. Zu dieser wilhel- fünf Linien umfasste, sondern den Einsatz der minischen Selbstdarstellung zählt auch der Bahn auch über den Rhein hinweg vorsah. 1883 im Westen eingeweihte Hauptbahnhof. Die Pferdebahn galt damals als moderns- An der Entstehung all dieser Bauten waren tes Nahverkehrsmittel; in Berlin hatte sie 1865 Arbeiter aus Kehl und dem Hanauerland be- ihren Betrieb aufgenommen. Am 6. Novem- teiligt, die allmorgendlich die Schiffb rücke ber 1876 erhielt die elsässische Rheinmetro-

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 588 03.12.2017 11:57:06 Für den Trambahnverkehr ungeeignet: die Schiffbrücke von 1816

pole durch kaiserliche Verordnung die Kon- Rheinbrücke durch Stadt Kehl und Dorf Kehl zession »zum Bau und Betrieb der 8 in dersel- etwa bis zur ›Alten Post‹«, eine Strecke von ben näher bezeichneten Linien«. Eine dieser 2,5 Kilometer, zu organisieren gedenke. Linien sollte bis Kehl führen, nämlich vom In Karlsruhe begrüßte man zwar das Vor- Kleberplatz über die Staatsstraße hin zur haben, äußerte jedoch gleichzeitig ernste Be- Kehler Rheinbrücke und von dort aus weiter denken, »da die Erstellung der Bahn bis Dorf nach Stadt und Dorf Kehl. Kehl wohl von der Vorfrage abhängig sein Die Bürgermeisterei-Verwaltung der Stadt dürft e, ob und unter welchen Voraussetzun- Straßburg trat wegen der hohen Kosten für gen der Eisenbahnbetrieb über die Rhein- den Bau und den Unterhalt einer Pferdebahn schiffb rücke ausführbar erscheint«. Da es sich an eine Reihe »angesehener Bürger« heran. bei der 1816 erbauten Brücke nicht um eine Gemeinsam gründete man am 5. April 1877 feste Brücke, sondern um eine Pontonbrücke eine Aktiengesellschaft , die Straßburger handelte, waren die Bedenken durchaus ge- Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft . Bereits Mitte rechtfertigt. März 1877 hatte der verwaltende Straßburger Die Straßburger Pferdebahn-Gesellschaft Bürgermeister Otto Back das badische Han- ließ sich davon nicht weiter irritieren, son- delsministerium über die Vorgehensweise in- dern realisierte ihr Vorhaben zunächst auf formiert und angefragt, wie man in Karlsruhe eigenem Terrain mit zwei Linien – die eine »die Weiterführung der Pferdebahn über die führte nach Hönheim, die andere vom Stein-

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 589 03.12.2017 11:57:07 platz bis zur Kehler Brücke. Die Bahngleise hinzu, daß das sonntägliche Vergnügungs- waren in der damals üblichen Normalspur Publikum von Straßburg in immer steigen- (Spurbreite: 1435 mm) gebaut worden. Schon derem Maße das rechte Rheinufer aufsucht.« nach kurzer Zeit kam es zur ersten Moderni- Die Karlsruher Ober-Direction des Wasser- sierung, als auch dampfb etriebene »Tramway- und Strassenbaues mochte sich diesen Argu- lokomotiven« zugelassen wurden, welche die menten nicht verschließen. Allein – es fehlte Zugtiere ersetzten. In logischer Konsequenz am Geld. Sie schlug daher vor, abzuwarten, benannte sich die Gesellschaft schließlich am bis die Straßburger Seite aktiv würde. Die 25. April 1888 in »Straßburger Straßenbahn- Gemeinden jedoch drängten, sie reichten des- gesellschaft « (SSG) um. halb beim Landtag eine weitere Petition ein und wandten sich sogar direkt an den Groß- herzog. Doch die Regierung beharrte eisern Mit Volldampf: auf ihrer Linie. Die rechtsrheinische Nebenbahn Seit 1892 eröff nete sich den Bewohnern der Straßburger Straßenbahn einiger Hanauerland-Gemeinden durch das Engagement der SSG mit der dampfb etriebe- Anfang März 1883 diskutierte man die Frage nen Nebenbahn Kehl – Lichtenau – Bühl im- einer Weiterführung der Bahn über den Rhein merhin die Möglichkeit, per Bahn bis Kehl zu nach Kehl erneut auf staatlicher Ebene, nach- gelangen. Am Bahnhof war jedoch Endsta- dem nicht nur Vertreter von Dorf und Stadt tion. Selbstverständlich gingen auch hier der Kehl, sondern auch von 38 Gemeinden in der Bau und besonders die Finanzierung nicht Umgebung eine gemeinsame Petition beim ganz reibungslos über die Bühne: In der ers- badischen Innenministerium eingereicht hat- ten Hälft e der 1880er-Jahre hatten sich 15 auf ten. Zunächst hoben sie in ihrem Schreiben der projektierten Strecke gelegene Gemeinden hervor, welch wirtschaft lich bedeutende Rolle zusammengetan und ein »Komitee zur Her- einer Verbindung über den Rhein hinweg für stellung einer Straßenbahn Kehl-Lichtenau- die rechtsrheinisch gelegenen Orte zukäme: Bühl« gegründet. Dieses wandte sich mit der »Straßburg mit seinen 100 000 Einwohnern Bitte um Unterstützung an die Regierung in […] bildet das Hauptabsatzgebiet für die land- Karlsruhe: Zur Vermeidung eines drohenden wirthschaft lichen und gewerblichen Produkte wirtschaft lichen Niedergangs der Gemeinden seiner Umgebung. Andererseits werden auch des Hanauerlandes sei diese Straßenbahnlinie von dort in grossen Mengen Gegenstände des unabdingbar, denn »der gänzliche Mangel an täglichen Verbrauchs und Rohmaterialien für geeigneten Verkehrsmitteln im Hanauerland die gewerbliche Verarbeitung bezogen, und ist fast unerträglich geworden und wird als nicht nur ein Austausch von Waaren, sondern Ungerechtigkeit des Landes gegen die Land- auch ein solcher von Arbeit fi ndet statt: viele schaft empfunden«. Bewohner Kehls und der bei Kehl gelegenen Die SSG erhielt schließlich die Konzession, Orte arbeiten in Straßburg und kehren täglich diese erste Linie auf rechtsrheinischer Seite ein- wieder in ihre Heimath zurück.« Außerdem zurichten und zu betreiben. Der Bau der fast 39 spielte schon damals der Tourismus eine nicht Kilometer langen Strecke dauerte knapp zwei unerhebliche Rolle: »Für Kehl und für die bei Jahre. Als die Bahn nach Bühl fertig gestellt Kehl nahe gelegenen Gemeinden kommt noch war, wurde am 4. Januar 1892 ein rauschen-

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 590 03.12.2017 11:57:07 Seit 1892 unter Dampf: die Lokalbahn nach Bühl, auch »Entenköpfer« genannt

des Fest gefeiert: Der Großherzog höchstselbst Badische Staatsministerium und präsentierte begab sich nach der Eröff nungsfahrt von Bühl den Beamten einen Brückenentwurf, der im über Lichtenau zum Festmahl in den »Salmen«, Auft rag »der Stadt Straßburg in Gemeinschaft wo er in seiner Ansprache auf das Verhältnis mit den in erster Linie betheiligten badischen zum Nachbarn Elsass-Lothringen abhob: »Die Gemeinden auf gemeinschaft liche Kosten« Erlebnisse des heutigen Tages erwecken in mir entwickelt worden war. Die feste Straßenbrü- das freudige Gefühl, daß wir eine neue Verbin- cke sollte fast zwei Millionen Mark kosten. Be- dung mit den Reichslanden vollzogen haben, züglich der Finanzierung führte der Statthal- die den Interessen beider Länder sehr nützlich ter aus: »Es erscheint selbstverständlich, daß sein wird.« ein Th eil dieser Summe von den Hauptinter- essenten getragen wird.« Dabei würde es sich einerseits um die Stadt Straßburg, anderer- Taktieren auf allen Seiten: seits um die SSG handeln. Weil weitere Geld- Eine feste Straßenbrücke geber nicht in Sicht seien, »dürft e, um das Un- über den Rhein ternehmen zu Stande zu bringen, nur erübri- gen, daß der Rest der Bedarfsumme durch das Wenig später kam auch die heikle Brücken- Großherzogthum Baden u. das Reichsland ge- frage wieder auf die politische Agenda: Am 17. meinschaft lich aufgebracht wird«. März 1892 wandte sich der Kaiserliche Statt- Es war Straßburgs Oberbürgermeister halter in Straßburg an das Großherzoglich Otto Back, der die Brückenfrage vehement

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 591 03.12.2017 11:57:07 Linksrheinische Perspektive: Die Straßenbahn verlässt Straßburg in Richtung Kehl

vorangetrieben und gegen große Wider- an den Frankfurter Oberingenieur Wilhelm stände in seinem Gemeinderat durchgesetzt Lauter von der Firma Philipp Holzmann & hatte. Die beiden Landesregierungen bewil- Cie. Das Frankfurter Unternehmen erhielt ligten jeweils 630 000 Mark, doch noch wa- im August 1895 auch den Auft rag für die ren 500 000 Mark ungedeckt. Sie bemühten Ausführung des Baus. Sogar die Militärs be- sich deshalb, die SSG als »besondere Inte- teiligten sich am Brückenbau, allerdings in ressentin« ins Boot zu holen. Konnte deren einer Weise, die von den Bauherren kaum rechtsrheinisches Engagement auf Dauer vorgesehen gewesen sein dürft e. In den Pfei- doch nur dann Sinn machen, wenn eine di- lern ließ die Armee Minenkammern anlegen, rekte Weiterfahrt vom Kehler Bahnhof nach die im Kriegsfalle die Sprengung ermögli- Straßburg ermöglicht würde. Und tatsächlich chen sollten. übernahm diese einen Betrag in Höhe von 272 000 Mark, allerdings als Annuitätendar- lehen von der Stadt, zurückzuzahlen in Jah- Am Puls der Zeit: resraten von 8000 Mark. Die Elektrifizierung Der Straßburger Gemeinderat stimmte der Straßenbahn schließlich für die Beteiligung an den Bau- kosten der neuen Rheinbrücke. Im Dezember Doch bald tauchte ein weiteres Problem auf: 1894 vergaben die Bauherren die Planungsar- Das Verfahren um die Genehmigung ei- beiten für die Brücke nebst Auff ahrtstraßen ner elektrifi zierten Bahnstrecke. Längst galt

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 592 03.12.2017 11:57:07 Mit Strom und Dampf durch die Kehler Hauptstraße: links die »Elektrische«, rechts der »Entenköpfer«

Strom als modernste Antriebsart für Straßen- Selbstverständlich entschloss sich die SSG bahnen und so erlaubte am 3. April 1895 das nun, die neue Tramlinie vom Metzgertor nach Ministerium für Elsaß-Lothringen der Stadt Dorf Kehl gleich als »Elektrische« einzurich- Straßburg die »Einführung des elektrischen ten. Auf badischer Seite bedeutete dies, dass Betriebs mit oberirdischer Stromzuleitung«. die Bahn ab Mitte der neuen Rheinbrücke Sämtliche Fahrzeuge lieferte die »Allgemeine entlang der Hauptstraße bis Dorf Kehl und Electrizitäts-Gesellschaft « (AEG), die damals noch etwa 160 Meter über die Abzweigung mit der Ausrüstung von Straßenbahnen ei- der Lokalbahn nach Bühl hinaus mit Strom nen lukrativen Geschäft szweig aufb aute. Mit- fahren sollte. tels Stangenstromabnehmern sollten die Kon- Dafür mussten nur wenige Meter neue takte zu den Oberleitungen hergestellt werden. Gleise verlegt werden, nämlich der Teil von Gleichzeitig mit der Elektrifi zierung wurde der Rheinbrücke bis zum Beginn der bereits das Straßburger Gleissystem auf Schmalspur bestehenden Dampfstraßenbahn am Bahn- umgestellt. Mitte der 1890er-Jahre erfolgte hof. Die Hauptstraße hindurch konnten sich damit faktisch eine komplette Neuverlegung beide Bahnen die bereits bestehenden Gleise des Straßenbahnnetzes. Die bereits reali- teilen. Fest stand, dass die Lokalzüge nach sierte rechtsrheinische Nebenbahn von Kehl Bühl und Ottenheim auch in weiterer Zu- nach Bühl hingegen fuhr von Beginn an auf kunft von Dampfl okomotiven gezogen wer- Schmalspurgleisen. den sollten.

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 593 03.12.2017 11:57:08 Gewonnene Wette: Josef Stenftenagel reitet als Erster über die neue Brücke

Eine zwiespältige Beziehung: Der Brückenbau selbst machte dann doch Die Kehler und ihre Straßenbahn schnelle Fortschritte. So konnte ab Mitte No- vember die Brücke für Fußgänger und Land- Auch die Bevölkerung war in das Projekt fuhrverkehr frei gegeben werden. Ab Samstag einbezogen: Vom 5. bis 19. Juli 1897 lagen im den 1. Januar 1898 konnte sogar der Dampf- Straßburger Bürgermeisteramt alle Pläne und bahnverkehr erstmalig die Brücke passieren. Erläuterungsberichte zum »grenzüberschrei- Die Elektrifi zierung zog sich jedoch noch tenden« Straßenbahnprojekt aus, Ende Au- hin und »der regelmäßige Betrieb der Stra- gust auch im Kehler Bezirksamt. Hier kam es ßenbahnstrecke Straßburg – Dorf Kehl mit sogleich zu einem Proteststurm der Hausei- elektrischen Motorwagen« begann erst am 14. gentümer in der Hauptstraße. Viele Anrainer März 1898, worüber das Kehler Wochenblatt verwahrten sich dagegen, dass ihre Gebäude tags darauf stolz berichtete: »Der erste Motor- »zum Befestigen von Spanndrähten für das wagen, der früh um 6 Uhr 15 Min. vom Kle- Tragen der elektrischen Arbeitsleitung die- berplatz Straßburg abging, führte einen off e- nen soll[t]en«. In der Folge verhandelte das nen Beiwagen und war […] mit Flaggentuch Unternehmen direkt mit den betroff enen und Wimpeln in den badischen und elsässi- Hauseigentümern, wobei verschiedentlich schen Farben geschmückt.« Die sogenannte ansehnliche »Schmerzensgelder« gefl ossen Kehler Linie, auch »Linie 1«, fuhr von jetzt ab sein dürft en. alle zehn Minuten vom Straßburger Haupt-

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 594 03.12.2017 11:57:08 Unter gallischem Hahn: die Kehler Brückenseite nach 1919

bahnhof bis zum Gasthaus »Wilden Mann« in sich gegangen. Das Volk indes hatte seine Dorf Kehl. Ferner kündigte das Wochenblatt ganz eigene Brückenfeier bereits am 23. No- an, dass an Sonn- und Feiertagen die Züge im vember des Vorjahres vollzogen, lange bevor Fünf-Minutentakt verkehren würden. Von die erste Straßenbahn über die Brücke fuhr: der Brücke aus gesehen hielten die Züge an Eine erhalten gebliebene Fotografi e zeigt den Haltestellen »Kehl-Bahnhof«, »Friedens- den Kehler Josef Stenft enagel, wie er auf straße«, »Kasernenstraße«, »Marktplatz« und einem weißen Schimmel über die Brücke »Kehl Dorf«. Anfangs fuhren die Züge zwi- reitet, hinter ihm eine johlende Menschen- schen 6 Uhr 55 und 21 Uhr 15 ab Dorf Kehl, menge, in der Mehrzahl natürlich Kinder. Er jeweils fünf Minuten später ab Bahnhof Kehl hatte gewettet, er werde der Letzte sein, der in Richtung Straßburg. Für die Gegenrich- die alte, und der Erste, der die neue Brücke tung waren noch zwei nächtliche Extrazüge überquert. geplant, die offi ziell als »Th eaterzüge« bezeich- Während die Kehler Zeitung über diese net wurden und das Publikum auch noch spät Glanztat ausführlich berichtete, off erierten nach Hause bringen sollten: Der eine fuhr um die Straßburger Blätter eine andere Helden- 22:10 Uhr ab Bahnhof Straßburg, der andere version: Eine Fahrradfahrerin habe als Erste um 23:05 Uhr ab Kleberplatz nach Dorf Kehl. von Straßburg aus die Brücke überquert und Die Inbetriebnahme der Brücke war – ei- damit, so das Straßburger Tageblatt, ein »Zei- gentlich unüblich – sang- und klanglos vor chen der Zeit« gesetzt.

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 595 03.12.2017 11:57:09 Hintergrund der schon bald gewünsch- Schwieriger ist es, die weitere Entwicklung ten Schienenerweiterung war der Umstand, der Straßenbahnverbindung über die feste dass die Straßenbahn den wachsenden Pub- Brücke nachzuvollziehen. Bislang herrschte likumsansturm und die enorme Nachfrage in der Forschung Einigkeit darüber, dass die nach Gütertransporten nicht mehr bewälti- Verbindung mit Ende des Ersten Weltkriegs gen konnte. Trotz Zustimmung des Gemein- endgültig gekappt worden sei. Tatsächlich derats wurde das zweite Gleis aber wegen des lassen sich den Überlieferungen in den Karls- Ersten Weltkriegs nicht mehr realisiert, und ruher und Straßburger Archiven hierzu nur es blieb bei den Ausweichstellen, die von An- wenige exakte Information entnehmen. Als fang an eingerichtet worden waren. zusätzliche Quelle können jedoch Bildpost- karten herangezogen werden, denn die Stra- ßenbrücke war ein gerne verschicktes Motiv, Unter die Räder gekommen: und das vor wie nach dem Ersten Weltkrieg. Die Straßenbahn Zwar wurde auf solchen Karten vielfach im 20. Jahrhundert retuschiert, jedoch ist kaum vorstellbar, dass die Straßenbahnen nachträglich hinzugefügt Nachdem Deutschland den Ersten Welt- worden wären. Als Erstes fällt auf, dass die krieg verloren hatte und Straßburg wieder Brücke auf Kehler Seite von einem gallischen französisch geworden war, wurde die SSG Hahn bekrönt wird. Da Kehl ab Januar 1919 in die noch heute bestehende »Compagnie französisch besetzt war, nahmen die neuen des Tramways Strasbourgois« (CTS) um- Herren die Brücke gleichsam symbolisch in gewandelt. Die rechtsrheinischen Strecken Besitz und statteten sie an prominenter Stelle wurden 1923 in die Verwaltung des Landes mit ihrem Wappentier aus. In der Tat gingen Baden übernommen und zusammen mit der die Rheinbrücken infolge des Versailler Ver- »Lahrer Eisenbahngesellschaft « als »Mittel- trags in französisches Eigentum über. badische Eisenbahnen AG« (MEG) weiter- Auf der elsässischen Seite wehte ab 1919 geführt. die Trikolore und seit Ende dieses Jahres fuhr die Tram wieder bis zum Keh- ler Bahnhof. Allerdings nur für kurze Zeit. Spätestens ab 1922 wurde der Betrieb über die Brücke komplett einge- stellt. Kein geringerer als Er- nest Hemingway, der als jun- ger Reporter 1922 und 1923 gleich zweimal für den To- ronto Daily Star über Kehl be- richtete, beschrieb minutiös seine Passage über den Rhein: Mit der Straßenbahn gelangte er auf Straßburger Seite bis an Unter der Trikolore: die Straßburger Brückenseite nach 1919 den Fluss, musste dann aber

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 596 03.12.2017 11:57:09 Unter gallischem Hahn: die Straßburger Brückenseite nach 1930 (alle Abbildungen: Stadtarchiv Kehl, o. Sign.).

ebenso wie alle anderen Fahrgäste die Tram die Tram erneut bis nach Kehl hinein fahren verlassen und die Brücke zu Fuß überqueren. zu lassen – mindestens bis zum Bahnhof, lie- Die dritte Ansichtskarte zeigt ebenfalls ei- ber aber bis zum Rathaus. Jedes Mal zerschlu- nen Brückeneingang mit gallischem Hahn – gen sich ihre Überlegungen jedoch angesichts allerdings auf der französischen Seite. Diese der Tatsache, dass die an der Grenze üblichen Karte wurde nach 1930 gedruckt, nachdem Zoll- und Passkontrollen einen fahrplanmä- die Franzosen die Besetzung beendet und ihre ßigen Verkehr nicht zugelassen hätten. Symbolfi gur mitgenommen hatten. Die Brü- Im Mai 1940 schließlich sprengten die cke war nun wieder zur Hälft e deutsch, zur Franzosen die Brücke in der Hoff nung, so Hälft e französisch. Am 11. April 1930 wurde den »Westfeldzug« der deutschen Wehrmacht in einem neuen Lastenheft für die CTS festge- aufh alten zu können. Straßburg und Kehl wa- halten, dass künft ig die Endstation der Linie 1 ren bereits zu Kriegsbeginn am 3. September in der Mitte der Rheinbrücke einzurichten sei. 1939 vollständig evakuiert worden. Auch die Straßburger Adressbücher aus dieser Als die Zivilbevölkerung nach dem Waff en- Zeit weisen die »Pont du Rhin« als Endstation stillstand von Compiègne ab Ende Juni 1940 der »Kehler Linie« aus, die nach wie vor am wieder zurückkehrte, waren beide Brücken Straßburger Hauptbahnhof startete. zerstört. In Windeseile ließ das deutsche Be- In den Jahren 1926 bis 1936 spielten die satzungsregime eine hölzerne Straßenbrücke Franzosen immer wieder mit dem Gedanken, errichten, ausgestattet mit dem neuen, mar-

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 597 03.12.2017 11:57:09 tialischen »Hoheitszeichen«, einem Adler Rhein, denn am 23. November 1944 wurde mit Hakenkreuz. Zwei Jahre später wurde Straßburg befreit und Kehl zum zweiten Mal die gesprengte Brücke gehoben und wieder evakuiert. Die Geschichte einer Tramverbin- instand gesetzt – bei gleichzeitiger Wieder- dung über den Rhein fand damit ihr (vorläu- herstellung der Tramverbindung. Bislang ist fi ges) Ende. kein einziges Foto bekannt, das die Straßen- bahn auf dieser Brücke zeigt. Jedoch existiert (Bei dem hier abgedruckten Text handelt es der Durchschlag eines Schreibens, verfasst sich um eine gekürzte Fassung eines Beitrags am 7. November 1944 von der Straßburger der Autorin, der erstmals in der »Jahresschrift Straßenbahngesellschaft , die seit der deut- 2016« der Stadt Kehl publiziert wurde. Der Ab- schen Okkupation ihren alten Namen wieder druck erfolgt mit freundlicher Genehmigung trug. Hierin wird dem Kehler Bürgermeister der Stadt Kehl.) mit Bezug auf den »Fliegerangriff v. 25.9.44« mitgeteilt: »Nach Wiederinstandsetzung der beschädigten Gleis- und Fahrleitungsanla- gen auf der östlichen Brückenrampe und an der großen Rheinbrücke selbst, verkehren die Züge der Straßenbahnlinie 1 ab kommenden Anschrift der Autorin: Dr. Ute Scherb Donnerstag, den 9.11.1944, wieder bis zum Stadtverwaltung Kehl rechten Rheinufer (Kehl-Bahnhofsplatz). Heil Leiterin Archiv und Museum Hitler!« Friedhofstraße 5 Nach der Reparatur fuhren die Straßenbah- 77694 Kehl [email protected] nen noch genau zwei Wochen lang über den

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587_Scherb_Strassenbahn Strassburg-Kehl.indd 598 03.12.2017 11:57:10 Schonach, Triberg, Konstanz … und Bahia Über Ludwig Grieshaber alias Dom Clemente Maria da Silva-Nigra

Johannes Werner

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es vor allem die katholische Kirche, die in den unteren Schichten nach Begabungen suchte, sie förderte und dann in ihre Dienste stellte. Wie, wenn nicht so, hätte es der Sohn eines Schonacher Holzhauers in Bahia zum Ordenspriester und zugleich zum bedeutendsten Kunsthistoriker seiner neuen Heimat bringen können? Er war freilich nicht der einzige, der die Gelegenheit nutzte, die sich ihm unversehens bot – nämlich dadurch, dass die Beuroner Benediktiner die nahezu ausgestorbenen brasilianischen Abteien wieder mit Leben füllen wollten. Ludwig Grieshaber alias Dom Clemente Maria da Silva- Nigra (1903–1987) hat seine alte Heimat dennoch nie vergessen, und sie ihn ebenfalls nicht.

»Meine Vorfahren sind alle aus Schonach: überspringen und wurde nach Untertertia ver- Mein Urgroßvater besaß den ›Weimattenhof‹, setzt. Über meine Leistungen in der Schule mein Großvater den ›Winackerhof‹ auf der liegt ein Zeugnis bei. (…) Lateinische und grie- vorderen Grub, wo auch mein Vater geboren chische Privatstunden erteilte mir der Hoch- wurde. Seit 1910 wohnten meine Eltern in Tri- würdige Herr Vikar Wacker hier, und hoff e ich, berg bei der Wallfahrtskirche.«1 Aber er selber das Examen nach Obertertia zu bestehen. Mit schlug einen Weg ein, der ihn weit über Scho- Wiederholung meiner Bitte um Aufnahme in nach und Triberg hinausführte … wenn auch das Erzbischöfl iche Gymnasialkonvikt zeich- zunächst nur nach Konstanz. net Hochwürdigstem Erzbischöfl ichem Ordi- Denn am 16. Juli 1919 schrieb Ludwig Gries- nariat gehorsamster Ludwig Grieshaber.«2 haber – und von ihm soll hier zunächst die Diese Bitte konnte der Triberger Stadtpfar- Rede sein – einen Brief an das Erzbischöfl i- rer Paul Fries nur unterstützen: »Der Petent, che Ordinariat in Freiburg und bat, »gestützt ein großer kräft iger Junge ohne körperliche auf anliegende Zeugnisse, um Aufnahme in Gebrechen oder erbliche Belastung ist recht das Erzbischöfl iche Gymnasialkonvikt Kons- gut begabt und ein fl eißiger Schüler. Er zeigt tanz. Ich bin geboren am 17. Juli 1903 in Scho- einen ausgesprochenen Sinn für religiöse nach, als Sohn des Joseph Grieshaber, Holz- Fragen und hat großes Interesse am kirchli- hauer und der Anna geb. Kopp. Ich besuchte chen Leben. Die sittliche Führung des Ludwig die Volksschule Triberg von der ersten bis zur Grieshaber ist sehr gut, sein Eifer im Emp- siebten Klasse. Da ich den einzigen Wunsch fange der hl. Sakramente und im Kirchenbe- hatte, Priester zu werden, trat ich im Herbst suche wirklich lobenswert. Derselbe hat sich 1916 als Gast in die Quinta der Realschule ein. auch als Ministrant durch Eifer und from- Ich konnte am Schlusse des Schuljahres Quarta mes Betragen ausgezeichnet und in Notfällen

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599_Werner_Schonach-Triberg-Konstanz und Bahia.indd 599 03.12.2017 11:57:25 trag über Brasilien, der den Schüler so begeis- terte, dass er sich ihm kurzerhand anschloss. (Seit 1859 bemühten sich die Benediktiner der Beuroner Kongregation um die Wiederbele- bung der nahezu ausgestorbenen brasiliani- schen Abteien und warben, durchaus mit Er- folg, in Europa um Nachwuchs.5) War es Aben- teuerlust, oder auch nur die Not der Nach- kriegsjahre, die Grieshaber zu diesem Schritt bewog? Jedenfalls folgte er, mit noch sechs Ge- fährten, seinem Mentor in das Land, das ihm zur Heimat werden sollte. Am 15. Juli 1922 ging ihr Schiff , ein Dampfschiff der »Ameri- kanischen Packetfahrt-Actiengesellschaft « na- mens »Bage«, in Hamburg ab und kam über Antwerpen, Le Havre, Leixões, Lissabon und Madeira am 13. August in Bahia an.6 Dort trat Grieshaber noch im selben Jahr ins Kloster ein und legte am 6. Dezember 1923 seine feierli- che Profess ab. Zugleich legte er auch seinen alten Namen ab und nannte sich nunmehr Urkunde für Dom Clemente, gestaltet von Irmão Paulo Lachenmayer »Clemente Maria«, und zwar in Erinnerung an (Gemeindearchiv Schonach). Triberg, wo der hl. Clemens Maria Hofb auer, der dem Orden der Redemptoristen angehörte, gewirkt hatte und seither sehr verehrt wurde. schon längere Zeit den Mesnerdienst mit Ge- Ihm hatte Grieshaber, noch als Schüler, seine schick versehen.«3 Dem Gesuch lag ein von der erste gedruckte Veröff entlichung gewidmet.7 Stadt Triberg ausgestelltes »Vermögens-Zeug- nis« bei, aus dem hervorging, dass der Vater des Ludwig über kein Vermögen verfügte und In der neuen Heimat täglich nur 8 bis 10 Mark verdiente, mit denen er fünf Personen ernähren musste: nämlich Grieshaber setzte seine Studien an der Ob- sich selbst, seine Frau, den Sohn und die bei- latenschule in Bahia sowie am »Instituto den Töchter Rosa (*1905) und Berta (*1907).4 Superior« in Rio de Janeiro fort und wurde Dem Gesuch wurde stattgegeben, und Gries- am 16. Dezember 1928 zum Priester geweiht; haber wurde zum Schuljahr 1919/20 sowohl in danach war er sechs Jahre lang an ordensei- das »Konradihaus« als auch in die Unterse- genen Schulen in Rio de Janeiro, São Paulo kunda des ehemals Großherzoglichen Gym- und Bahia als Lehrer tätig. Doch allmählich nasiums in Konstanz aufgenommen. Demnach schob sich sein Interesse an der brasiliani- hätte er im Jahre 1923 sein Abitur ablegen kön- schen Kunstgeschichte in den Vordergrund. nen – es sollte aber anders kommen. Ein Bene- Auf der Suche nach ihren Ursprüngen un- diktiner aus Bahia hielt in Konstanz einen Vor- ternahm er zahlreiche Reisen: 1928 bis 1940

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599_Werner_Schonach-Triberg-Konstanz und Bahia.indd 600 03.12.2017 11:57:26 nach Portugal, Spanien, Italien und Deutsch- land, 1956 bis 1959 nach Portugal, Spanien und Marokko, 1963 bis 1966 nach Leningrad, Berlin, Weimar und Dresden. Aus Russland brachte er – was noch keinem westlichen For- scher gelungen war – über 3000 Aufnahmen aus Bibliotheken und Museen mit. Er nahm an verschiedenen internationalen Kongres- sen in Europa und den USA teil, wurde 1940 von der bundesstaatlichen Regierung zum Kunstsachverständigen ernannt und 1958 von der Universität Bahia mit dem Aufb au eines Kunstmuseums betraut, für das sie ein ehe- maliges, aus dem 17. Jhdt. stammendes Kar- meliterkloster herrichten ließ. Grieshaber war dann auch sein erster Direktor.8 Schon zuvor hatte er durch zwei große Ausstellungen auf sich aufmerksam gemacht: 1938 zur Erinne- rung an den Fürsten Johann Moritz von Nas- sau-Siegen, den Gouverneur der Niederlän- Dom Clemente, 1968 (Gemeindearchiv Schonach). dischen Westindien-Kompanie in Brasilien, und 1955 zum 36. Internationalen Eucharisti- schen Kongress in Rio de Janeiro. Grieshaber Im Jahre 1968, anlässlich seines 65. Ge- war auch Mitglied im »International Coun- burtstags, wurde er mit Ehrungen förmlich cil of Museums« (ICOM) der UNESCO. Der überhäuft . Man ernannte ihn zum Ehrenbür- wissenschaft liche Ertrag seiner Forschungen ger der Gemeinde Schonach und der Stadt Tri- schlug sich in einer eindrucksvollen Reihe berg, verlieh ihm den Goldenen Ehrenring der von Monographien zu brasilianischen Archi- Stadt Triberg und das Bundesverdienstkreuz tekten, Bildhauern und Malern nieder; auf der Bundesrepublik Deutschland sowie den Dr. diesem Gebiet galt er als die größte Autorität. h.c. der Universität Bahia. Im Jahre 1980 nahm Ebenfalls beschäft igte er sich intensiv mit dem die Grund- und Hauptschule in Schonach den deutschen Universalgelehrten Georg Hein- Namen »Dom-Clemente-Schule« an.10 rich Freiherr von Langsdorff (1774–1852) und Seiner Heimatgemeinde, mit der er immer dessen Expedition nach Brasilien.9 in regem briefl ichem Austausch stand, ver- Am 16. September 1933 hatte Grieshaber machte Grieshaber eine von einem brasilia- (vielleicht als Reaktion auf die Vorgänge in nischen Künstler um 1750 gefertigte silberne Deutschland) die brasilianische Staatsan- Pyxis, die eine Reliquie des hl. Clemens Ma- gehörigkeit angenommen, und damit einen ria Hofb auer, seines zweiten Namenspatrons, neuen Namen; nunmehr nannte er sich »da enthält.11 Und bei seinem letzten Besuch, 1974, Silva-Nigra«, d. h. »aus dem Schwarzwald«. antwortete er auf die Frage, welche Sprachen Auch auf diese Weise wollte er seiner alten er denn spreche: »Es sind nur Portugiesisch, Heimat die Treue halten. Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch

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599_Werner_Schonach-Triberg-Konstanz und Bahia.indd 601 03.12.2017 11:57:26 und natürlich Schonacherisch.«12 Ludwig bei dem damals bekannten Th eodor Schnell d. J. Grieshaber, alias Dom Clemente Maria da in Ravensburg ausbilden, arbeitete auch noch Silva-Nigra, starb am 30. Juli 1987 in Sacra von 1931 bis 1934 im Kloster Münsterschwarz- Familia da Tinguá, Brasilien.13 ach bei dem Bildhauer Valentin (Fr. Maurus) Kraus, setzte sich in der neuen Heimat jedoch mit seiner Kunst nicht durch. Zwei große, von Die Gefährten ihm geschaff ene Figuren, ein Christus und eine hl. Th eresa, wurden auf Befehl des Erzbischofs Grieshaber war, wie gesagt, nicht der einzige, entfernt. Lachenmayer wirkte zwar noch als der sich dem Werber anschloss. Zu seinen Ge- Berater bei Kirchenumbauten und -neubauten fährten gehörten die ›Studenten‹ Joseph Metz- mit, so etwa bei der Kathedrale von Brasilia, ger und Ludwig Endres, beide, wie er selber, verlegte sich aber mehr und mehr auf die gra- aus dem ›Konradihaus‹ in Konstanz, sowie der phischen Künste, auf Kalligraphie und vor al- Bildhauer Ernst Lachenmayer. Auch sie traten lem auf Heraldik. Er entwarf zahllose Wappen dann in Bahia in den Orden ein: Metzger als für Bischöfe (u. a. für Dom Helder Camara), für Dom Conrado, Endres als Dom José und La- kirchliche und weltliche Institutionen, dazu chenmayer als Irmão, d. h. Bruder Paulo. Exlibris, Plakate, Buchumschläge und man- Von Metzger14 ist nicht viel zu sagen, außer ches mehr.18 Nicht zuletzt schuf er die überaus dass er am 3. Juli 1902 in Engen geboren wurde genauen Zeichnungen, mit denen Dom Cle- und 1922 in Konstanz das Abitur bestand. En- mente, der ihn seinen »Mitbruder, Mitarbeiter dres15 wurde am 9. Juli 1904 in Pfullendorf ge- und Freund«19 nannte, seine Bücher illustrierte. boren, besuchte ab 1910 die Volksschule sei- Am 7. April 1990 ist er in Bahia gestorben. ner Heimatstadt und wechselte 1918 auf das Gymnasium in Konstanz, das auch er ohne Abitur verließ. In Bahia legte er seine Profess Ein Vorläufer, ab, studierte Th eologie und Geschichte und jedoch kein Vorbild wurde 1930 zum Priester geweiht. 1936 be- gann er ein Promotionsstudium an der Uni- Nicht alle blieben auf dem Weg, der für sie oft versität Münster, wurde aber wegen anonymer nur ein Ausweg war. Gustav Alfred Kögel, der Briefe, die er geschrieben hatte, schon im fol- am 16. Januar 1882 als uneheliches Kind einer genden Jahr vom Studium an allen deutschen Bauerntochter in München geboren wurde, Hochschulen ausgeschlossen, so dass er nach ließ sich ebenfalls von der Schulbank weg nach Brasilien zurückkehren musste. In seiner Ab- Brasilien locken und trat 1902 als Fr. Raphael tei machte man ihn zum Archivar, als welcher in die Benediktinerabtei Olinda ein; schon er mehrere historische Werke verfasste.16 Am nach vier Jahren durft e er in Brügge die Pries- 24. September 1978 ist er bei einem Heimat- terweihe empfangen. Philosophie und Th eolo- urlaub in Überlingen gestorben.17 gie waren freilich seine Sache nicht – eher die Lachenmayer kam am 2. Januar 1903 in Physik und die Chemie; diese Wissenschaft en Langenargen zur Welt. Nach dem frühen Tod waren es, mit denen er sich fast ausschließlich des Vaters wuchs er mit drei Brüdern und zwei beschäft igte, nachdem ihn sein Abt, freilich Schwestern (die beide Benediktinerinnen wur- zu einem ganz anderen Zweck, ins bayerische den) in bedrängten Umständen auf. Er ließ sich Wessobrunn versetzt hatte. Er erfand, unter

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599_Werner_Schonach-Triberg-Konstanz und Bahia.indd 602 03.12.2017 11:57:26 anderem, ein Verfahren, mit dem man den Gewinn für die nahezu ausgestorbenen, mit Text lesen konnte, der auf einem Pergament ge- ihnen aber wieder aufl ebenden brasiliani- schrieben gewesen war, bevor man ihn ausra- schen Abteien.21 Migration ist, wenn sie ge- dierte und mit einem neuen Text überschrieb. lingt, ein Geben und ein Nehmen. (Bisher war dies nur auf chemischem Wege ge- lungen, der freilich meist zur Zerstörung des Anmerkungen

ganzen Dokumentes führte; dagegen machte 1 Zit. n. Werner Hamm, Professor Dom Clemente sich Kögel die Entdeckung zunutze, dass Per- da Silva Nigra. In: Jahrbuch des Schwarzwald- gament unter ultraviolettem Licht fl uoresziert, Baar-Kreises 6 (1982), S. 232–234; hier S. 232. – außer an einmal beschriebenen Stellen.) Aus Vgl. auch, mit Vorbehalt: Rolf Italiaander, Der einmalige Don Clemente. In: Zwanzig. Jahrbü- dieser Erfi ndung ging das Palimpsest-Institut cher der Freien Akademie der Künste in Ham- hervor, das 1912/13 im Kloster Beuron gegrün- burg 1968, S. 363–368. det wurde und sich ein großes Ansehen er- 2 Erzbischöfl iches Archiv Freiburg C15/321. warb; eine Vielzahl bisher unbekannter Texte 3 Ebd. wurde hier entdeckt, photographiert, repro- 4 Ebd. – Dieses Dokument nennt auch die Großel- tern: Emanuel Grieshaber (†1894) und Kreszentia duziert, publiziert und wissenschaft lich kom- geb. Feiß (†1915). mentiert. Doch damit gab sich Kögel nicht zu- 5 Vgl. Michael Emilio Scherer, Beuron und die frieden. Ohne die eigentlich erforderlichen, ja Restauration der Abteien in Brasilien, in: Beu- mithilfe dreist gefälschter Zeugnisse gelang es ron 1863–1963. Festschrift zum hundertjähri- gen Bestehen der Erzabtei St. Martin. Beuron ihm im Jahre 1921, an der Technischen Hoch- 1963, S. 281–307; ders., Abt Michael Kruse von schule in Karlsruhe – und nur deshalb ist hier São Paulo (1864–1929). Ein großer Benedikti- von ihm die Rede – zum Privatdozenten für ner (= Studien und Mitteilungen zur Geschichte wissenschaft liche Photographie und techni- des Benediktinerordens und seiner Zweige Erg. bd. 17). München 1963. – Im Jahre 1880 lebten in sche Photographie und dann auch zum außer- Bahia noch 20 Mönche, in Olinda, außer dem Abt, ordentlichen Professor ernannt zu werden. Im nur noch ein einziger. Jahre 1924 trat er aus dem Orden, dem er ja 6 Staatsarchiv Hamburg, Hamburger Passagierlis- seinen Aufstieg erst verdankte, und dann auch ten; Bestand 373-7 I, VIII A 1 Bd. 288 A (Mikro- fi lm Nr. K 1843). – In der Passagierliste werden sie aus der Kirche aus und ging eine Ehe ein. Doch mit Namen, Alter, Beruf und Herkunft sort nach- konnte er sich weder als Forscher noch als Leh- einander angeführt. Zur Gruppe gehörten außer- rer einen Namen machen, dagegen aber als po- dem sechs junge »Ordenspriester«, d. h. Benedik- litischer Aktivist, nämlich als früher und eifri- tiner, darunter der 27-jährige Gebhard Keckeisen aus Ravensburg, wohl derselbe, der 1895 geboren, ger Nationalsozialist. Am 27. November 1945, 1915 als P. Beda in Bahia eingetreten und 1921 da- nachdem seine Welt zusammengebrochen war, selbst zum Priester geweiht worden war (vgl. Ca- wurde er erhängt aufgefunden.20 talogus Monasteriorum O.S.B. Bd. 15. Rom 1980, S. 84). Er könnte auch der Werber gewesen sein. 7 »Der hl. Clemens Maria Hofb auer und Triberg. Zum Festtage des Heiligen am 15. März 1921«. Fazit 8 Vgl. Esmeraldino Sento Sè, Ação de Dom Cle- mente no Museu de Arte Sacra. Rio de Janeiro Grieshaber und seinesgleichen nahmen die 1979. Gelegenheit, die sich ihnen unversehens bot, 9 Relação dos Reverendissimos Prelados das An- tigas e Actuais Abadias e Presidências da Con- nur zu gerne wahr; sonst hatten sie ja nicht gregação Beneditina Brasileira, 1584–1936, 1936; viel zu erwarten. Andererseits waren sie ein Francisco de Frias da Mesquita, Engenheiro-mor

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599_Werner_Schonach-Triberg-Konstanz und Bahia.indd 603 03.12.2017 11:57:26 do Brasil, in: Revista do Serviço do Patrimô- São Bneto do Brasil. 1582–1827. Bahia 1980. – Er nio Histórico e Artístico Nacional Bd. 9, 1945, zeichnete als »José Lohr Endres«, indem er den S. 9–88; Construtores e Artistas do Mosteiro de Geburtsnamen seiner früh verstorbenen Mutter São Bento do Rio de Janeiro. 2 Bde., 1950; Frei in seinen eigenen einfügte. Bernardo da São Bento, o Arquiteto Seiscentista 17 Vgl. die sehr gründliche Kurzbiographie, die Da- do Rio de Janeiro, 1950; Frei Domingos da Con- vid Rüschenschmidt 2017 innerhalb eines Pro- ceição, o Escultor Seiscentista do Rio de Janeiro, jekts der Universität Münster (www.fl urgesprae- 1950; Frei Ricardo do Pilar, o Pintor Seiscentista che.de) vorgelegt hat. Allerdings schreibt (S. 2) do Rio de Janeiro, 1950; Tres Artistas Beneditinos, auch er, dass Endres 1922 in Konstanz das Abi- 1950; Artistas Coloniais Mineiros, in: Revistade tur abgelegt habe, während er andererseits (S. 3, História Bd. 2, 1951, S. 411–419; A ordem dos be- Anm. 15) dessen Studierendenkarte zitiert, auf neditinos na cidade de S. Paulo, in: Ensaios Pau- der es heißt: »Zulassung ohne Reifezeugnis zur listas, 1954, S. 24–137; Frei Agostinho da Piedade. Promotion«. In: Revista do Instituto Brasileiro de História da 18 Vgl. Paulo Veiga, Irmão Paulo Lachenmayer OSB. Arte 1/1954; Sobre as Artes Plásticas na Antiga Um artista alemão no Mosteiro de São Bento. Capitania de S. Vicente, 1958; O Barão George Bahia 2012. Henrique de Langsdorff , 1774–1852, o grande 19 Os dois Escultores …, S. 3, und anderswo. cientista esquecido de Brasil, 1966; A História 20 Vgl. Johannes Werner, Über P. Raphael Kögel und dos Nobres Langsdorff no Brasil, in: O Cruzeiro, die Anfänge der Palimpsestforschung in Beuron. 16.6.1966; Os dois Escultores Frei Agostinho da In: Erbe und Auft rag 2/1997, S. 138–145; ders., Piedade, Frei Agostinho de Jesus e o Arquiteto Aufstieg und Fall von Gustav (Raphael) Kögel. Frei Macário de São João, 1971; Museu de Arte Zugleich ein Kapitel Karlsruher Hochschulge- Sacra de Bahia, 1972; A Ilha das Cobras e suos schichte. In: Badische Heimat 1/1997, S. 97–108. fortalezas, o. J. – Die Bücher erschienen zumeist Dort fi nden sich auch die zahlreichen Belege, die im Verlag Tipografi a Beneditina, Bahia. der Verf. aus Archiven in München, Brügge, Rom, 10 Erst dadurch wurden viele, so auch der Verf. sel- Löwen, Beuron, Sigmaringen, Wien, Wiesbaden, ber, auf den Namensgeber aufmerksam. – Zur Be- Karlsruhe und Berlin beigebracht hat. gründung einer solchen Entscheidung vgl. Johan- 21 Noch in den 1980er-Jahren trugen die älte- nes Werner, Wenn sich eine Schule einen Namen ren Mönche der Abteien Bahia, Olinda, Rio de gibt. In: Wolfgang Boeckh (Hrsg.), Mittendrin. Janeiro und São Paulo deutsche, die jüngeren hin- 40 Jahre Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium gegen brasilianische Namen (vgl. Catalogus Mo- Durmersheim. 1970–2010. Leipzig 2010, S. 26–27. nasteriorum, a. a. O. S. 84–91; im Catalogus von 11 Vgl. Wolf-Wilhelm Adam, Außergewöhnlicher 1995 hatte sich das Bild dann schon gewandelt). – Fund im Pfarrhaus. In: Südkurier, 7.2.2004. Die Abteikirche von São Paulo wurde im Stil der 12 Zit. n. Hamm, a. a. O. S. 234. Beuroner Kunstschule ausgestaltet (vgl. Johannes 13 Für hilfreiche Hinweise dankt der Verf. der Ge- Werner, Immer wieder weiter. Ein Hinweis auf meindeverwaltung Schonach (Bürgermeister Jörg Adalbert Gresnicht. In: Erbe und Auft rag 6/2005, Frey und Frank Klausmann), dem Erzbischöfl i- S. 498–500). Sie kann als »Symbol der in monas- chen Archiv Freiburg (Dr. Christoph Schmi- tischer Hinsicht von Beuron geleisteten Aufb au- der), dem Heinrich-Suso-Gymnasium Konstanz arbeit an der Brasilianischen Kongregation« be- (Arnd Rummler) sowie Klaus Schuler in Scho- trachtet werden (Scherer, Beuron, a. a. O. S. 306). nach. – Dazu: Gemeindearchiv Schonach Be- stand 4 Nr. 42. 14 Schülerakte Erzbischöfl iches Archiv Freiburg C15/355. 15 Schülerakte Erzbischöfl iches Archiv Freiburg C15/316. 16 Catálogo dos bispos, gerais, provinciais, abades Anschrift des Autors: e mais cargos da Ordem de São Bento do Brasil. Dr. Johannes Werner 1582–1975. Bahia 1976; Primeiras constituicoes Steinstraße 21 da Ordem de São Bento na provincial do Brasil, 76477 Elchesheim-Illingen in: Universitas 17 (1977), S. 105–126; A Ordem de

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599_Werner_Schonach-Triberg-Konstanz und Bahia.indd 604 03.12.2017 11:57:26 Les élections en Alsace (2017)

Jean-Marie Woehrling

Was sind die wichtigsten Aspekte der jüngsten Präsidentschaft s- und Parlamentswahlen im Elsass? Es handelte sich zuvörderst um nationale Wahlen, so dass nationale Überlegungen naturgemäß eine herausragende Rolle spielten. Die spezifi sch elsässischen Belange waren von untergeordneter Bedeutung. Dennoch lassen sich einige regionale Besonderheiten und Anliegen identifi zieren. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, das badische Leserpublikum mit den hiermit zusammenhän- genden Fragestellungen vertraut zu machen. Dies soll in fünf Schritten erfolgen, wobei zunächst die politischen Hauptströmungen analysiert werden: Das Wahlergebnis der Regionalisten, des Front National, der Sozialisten und der Konservativen, bevor abschließend ein Résumé über den Rückhalt Emmanuel Macrons in der elsässischen Wahlbevölkerung gezogen wird. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die regionale Problematik bei diesen Wahlen im Elsass von zweitrangiger Bedeutung geblieben ist. Die Debatte wurde durch nationale Th emen und entsprechende Ablaufmuster bestimmt. Zahlreiche Elsässer manifestierten einen gewissen Skeptizismus sowohl gegenüber den alten wie den neu gewählten Mandatsträgern. Letztendlich kam es aber dennoch zu einer gewissen politischen Mobilisierung. Nach der Wahl haben sich die Debatten rund um das Th ema »Notwendigkeit einer Revision der Regionalreform« vervielfacht. Zahlreiche politische Amtsträger haben sich für die Schaff ung einer elsässischen Gebietskörper- schaft mit einem besonderen Statut ausgesprochen, somit zugunsten einer Idee, die in der Zi- vilgesellschaft eine starke Unterstützung erfährt. Zu verweisen ist hier insbesondere auf regio- nale Assoziationen und Runde Tische, die die elsässischen Anliegen artikulieren. Die Probleme werden seitdem off ener angesprochen und keiner der neu Gewählten kann es sich erlauben, den Anschein zu erwecken, sich dafür nicht zu interessieren. Trotz allem markieren somit die Wahlen vielleicht einen Wendepunkt, mit dem eine neue regionale Dynamik befördert wird.

Quelles sont les aspects remarquables pour l’Alsace des récentes élections présidentielles et légis- latives ? Ce sont des élections nationales et par conséquent les considérations nationales ont joué un rôle prédominant. Les traits particuliers du vote alsaciens sont demeurés limités. Des caracté- ristiques et des préoccupations régionales peuvent cependant être distinguées. L’objet de la pré- sente étude est de présenter celle-ci au public badois. En conclusion, la problématique régionale n’a pas été absente en Alsace de ces élections, mais elle restée secondaire. Le débat a été dominé par les thèmes et les comportements nationaux. Pour nombre d’Alsaciens, un certain scepticisme se manifeste tant à l’égard des anciens que des nouveaux élus. Mais fi nalement une mobilisation est là : depuis la fi n des élections les débats autour de la nécessité de remettre en cause la réforme régionale se sont multipliés. Nombre de responsables politiques se ont prononcés pour la création d’une collectivité alsacienne à statut particulier, idée fortement soutenue dans la société civile par des associations régionalistes et des clubs de réfl exion alsaciens. Les jeux sont davantage ouverts et aucun élu ne veut apparaître comme se désintéressant de ce sujet. Ces élections sont donc peut- être malgré tout le point de départ d’une nouvelle dynamique régionale.

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605_Woehrling_Les elections en Alsace.indd 605 03.12.2017 11:57:42 Le vote régionaliste ont préconisé l’abstention, le vote blanc ou nul, en raison de leur scepticisme à l’égard de Ma- Le courant régionaliste n’a guère réussi à exer- cron quant à son attention à la question ré- cer une empreinte sur les élections présiden- gionale et plus particulièrement à la situation tielles en Alsace. En eff et, les mouvements de l’Alsace? ; ils étaient également incrédules régionalistes alsaciens se sont divisés quant quant à la volonté de celui-ci de remettre en à l’attitude à adopter face aux élections pré- cause la « monarchie présidentielle » à la fran- sidentielles. çaise. Ce jugement était fondé : Emmanuel Une partie de cette mouvance a opté pour Macron apparaît à bien des égards comme un Emmanuel Macron dès le premier tour car centraliste qui concentre le pouvoir à l’Elysée. celui-ci était le seul candidat à s’être déclaré Au plan des résultats du scrutin présiden- clairement et fortement européen. Pour un tiel au niveau régional, aucune de ces deux Alsacien conscient de l’identité de l’Alsace, tendances ne se manifeste clairement. Le vote cet aspect est fondamental. Au passage, est-ce d’abstention, de blanc ou de nuls n’a été guère par hasard qu’on a vu fl eurir sur les murs de diff érent que dans le reste du pays (un peu la Ville de Strasbourg des affi ches rappelant le plus de blancs et nuls et un peu moins d’abs- mot de Pfl imlin « je suis Européen parce que tention). Quant au vote Macron, il est un peu je suis Alsacien ». Pour un Alsacien, l’avenir de plus faible (5 points) que dans le reste du pays. l’Europe est plus important même que l’avenir Les appels des mouvements régionalistes ne se de l’Alsace. De plus, Macron était le meilleur sont donc guère illustrés dans les urnes, face à rempart contre le Front national. Or, l’alerte a d’autres facteurs plus déterminants. été chaude, le danger considérable. Impossible Le courant régionaliste avait davantage de d’accepter de jouer avec le feu quand on a une possibilité de se faire entendre dans le cadre conscience historique de ce qui s’est passé en des législatives. Le parti Unser Land a pré- 1933. Élue, Le Pen n’aurait pas hésité à faire senté des candidats dans toutes les circons- un coup d’État et d’entraîner le pays dans une criptions. Lors des élections régionales de guerre civile. Face à cette menace, on ne pou- 2015, Unser Land avait obtenu environ 11 % vait s’abstenir. des voix. Au premier tour des législatives les Mais les proches du parti Unser Land ont re- résultats ont été nettement moins bons : Unser fusé leurs voix à Macron même au 2e tour et Land totalise au premier tour 40 063 voix en Alsace, soit 28 000 voix de moins qu’en 2015 (environ 7 %).Un seul candidat a pu se main- tenir au 2e tour, où il a fi nalement été battu. Peu de temps avant les élections, le parti Unser Land avait fait réaliser, par un insti- tut professionnel de réputation nationale, un sondage qui révèle une sensibilité forte de la population alsacienne aux idées régiona- listes : 84 % est hostile à la suppression de la région Alsace, plus de 80 % est favorable au Placard électoraux dans la campagne alsacienne. maintien ou à un renforcement du droit local, Wahlplakate auf dem Land im Elsass. plus de 80 % favorable à un renforcement de

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605_Woehrling_Les elections en Alsace.indd 606 03.12.2017 11:57:42 fondes restent enfouies dans le tréfonds des personnalités et ne se traduisent pas dans les actes ou dans les expressions électorales. Que manque-t-il ? Du courage ou tout simplement le sentiment profond de légitimité, la croyance dans la possibilité de faire prévaloir ses choix face à un pouvoir lointain ? Il ya bien sûr aussi toujours une certaine peur devant un parti qualifi é « d’autono- miste », une désignation qui, après la 2e guerre mondiale, a été systématiquement déconsidé- rée. Beaucoup de médias ont systématique- ment présenté Unser Land de manière néga- tive et lui ont même attribué une orientation d’extrême droite ce qui est tout à fait inexact. Les orientations de Unser Land sont plutôt de centre gauche. Mais il suffi t de défendre une identité régionale pour être soupçonné de « repli » et de « xénophobie ». Les Alsaciens se laissent manipuler par ces préjugés et ne sont

Gérard Simler candidat « Unser Land » dans la donc pas encore prêts comme les Corses à tirer circonscription de Selestat a pu se maintenir les conséquences électorales de leurs convic- au 2e tour mais a été battu. tions profondes. Der Kandidat von »Unser Land«, Gérard Simler, gelangte noch in den 2. Wahlgang, musste sich dann aber geschlagen geben. Le vote front National

Malheureusement, un fait marquant pour l’enseignement de l’allemand et du dialecte, l’Alsace reste le fort vote Le Pen tant au 1er 60 % favorable à l’adoption du drapeau alsa- et au 2e tour : près de 26 % au 1er tour en Al- cien « rot un wiss », 50 % se sent « Alsacien » sace contre 21 % dans le reste de la France ou « Européen » avant de se sentir « Français », (Marine Le Pen étant en tête dans 636 com- etc. Ces convictions auraient dû logiquement munes alsaciennes) et encore au 2e tour où se traduire par un vote plus fort pour les can- Le Pen recueille 39 % des voix en Alsace didats Unser Land, seuls à représenter cette contre 34 % dans la France entière. Certes, sensibilité dans les élections législatives. Cela par rapport à la fi n des années 1990, cette n’a pas été le cas : on touche ici à la racine du caractéristique alsacienne s’est fortement af- problème alsacien : une population qui a une faiblie? : L’Alsace n’est plus en tête. Son vote forte identité mais qui est incapable de l’affi r- « Front National » est dans la moyenne de la mer positivement et effi cacement. Un tempé- partie Est de la France. De plus, les scores du rament de résignation : on aimerait, il fau- front national s’eff ondrent en Alsace comme drait, … mais fi nalement les aspirations pro- dans le reste de la France aux élections légis-

Badische Heimat 4 / 2017 Les élections en Alsace (2017) 607

605_Woehrling_Les elections en Alsace.indd 607 03.12.2017 11:57:43 dans l’inquiétude suscitée par une présence croissante d’étrangers. En Alsace, le sentiment d’une dégradation correspond à une réalité forte : certes notre situation économique n’est pas plus mauvaise que dans d’autres parties du territoire, mais nous sommes partis de plus haut pour tom- ber plus bas et nous voyons que nos voisins Les résultats du 1er tour des élections de l’autre côté de la frontière, réussissent eux présidentielles en Alsace. bien mieux. Le problème n’est pas seulement Wahlergebnisse im Elsass nach dem matériel : beaucoup de personnes ont le sen- 1. Wahlgang der Präsidentschaftswahl. timent d’une crise d’ordre culturel. C’est à rai- son que l’on parle d’un sentiment de malaise identitaire : en Alsace, ce malaise est double? : latives : il n’y aura aucun élu Front national il porte à la fois sur le niveau national et sur en Alsace. le niveau régional. Pour beaucoup d’Alsaciens On reste cependant frappé par l’impor- complexés, le vote Front national leur donne tance de ce vote d’autant qu’il s’exprime de la possibilité d’affi rmer à la fois leur refus du façon particulièrement forte dans les parties système et leur fi délité à la France. À cet égard, de la région les moins touchées par la franci- ce vote retrouve les mêmes bases que le vote sation et la globalisation. Les villes ont voté gaulliste? : rejeter le système des partis et criti- Macron, les zones périurbaines Fillon et les quer le pays tout en se référant à une légitimité campagnes ou les vallées Le Pen. Déjà au dé- nationale? ; contester, tout en faisant appel à but des années 1990, des intellectuels alsa- l’autorité. Pour faire baisser ce vote, les argu- ciens ont dénoncé l’explication anti régionale ments rationnels sont sans eff et et les accu- et anti allemande consistant à expliquer le sations de racisme contre productifs. Il faut vote Front National par la mentalité « germa- redonner aux populations concernées fi erté nique » de la population alsacienne. Au regard et confi ance. La prise de conscience régionale de l’importance de ce vote dans de nombreux peut être un moyen important à cet égard. départements « bien français » le côté ridicule Malheureusement, cette élection présiden- d’une telle explication est désormais patent. tielle n’a guère été positive sur ce dernier plan. On reste cependant abasourdi que des « bons Alsaciens » attachés à leur région, à l’Europe, à notre tradition humaniste, votent Front natio- Le vote socialiste nal en si grand nombre, alors que ce parti est anti régional, anti européen, et dépourvu de S’il est un résultat clair qui ressort de ces élec- compassion pour les situations humanitaires. tions, c’est l’eff ondrement socialiste. Sans Les explications se trouvent, en Alsace comme doute, le courant socialiste est traditionnel- dans le reste du pays, dans l’incrédulité d’une lement faible en Alsace depuis la fi n de la 2e masse croissante de citoyens face aux partis guerre mondiale. Cela tient notamment aux traditionnels, dans le sentiment de dégrada- orientations centralistes et « laïcistes » de tion de la situation économique et sociale et ce courant, qui est resté fondamentalement

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605_Woehrling_Les elections en Alsace.indd 608 03.12.2017 11:57:43 « jacobin » et hostile aux particularités alsa- ciennes, malgré une brève ouverture au ré- gionalisme entre 1985 et 1995. Cette faiblesse traditionnelle semblait cependant surmontée dans les grandes villes et notamment à Stras- bourg qui est dirigée par une équipe socia- liste. Mais l’eff ondrement du parti socialiste au plan national a aussi atteint l’Alsace. De plus, ce parti a été rendu premier responsable de la réforme régionale qui a supprimé la ré- gion Alsace. Le résultat, c’est qu’il n’y a plus un seul député alsacien socialiste en Alsace. Au pre- mier tour des élections présidentielles, le ré- sultat du candidat socialiste était seulement de 5 % en Alsace, ce qui correspond d’ailleurs à la moyenne nationale. Aux législatives, les résultats étaient du même ordre sauf dans l’agglomération strasbourgeoise où cepen- Le dessinateur Piela montre une Alsace dant les deux élus socialistes n’ont pas été réunifiée qui cherche à refleurir. réélus. Ce parti avait encore deux sénateurs, Der Zeichner Raymond Piela zeigt ein mais Patricia Schillinger, sénatrice socialiste, wiedervereinigtes Elsass, das versucht, zu neuer Blüte zu gelangen. a rejoint « La République en Marche » de Ma- cron, de sorte qu’il ne subsiste plus qu’un seul parlementaire alsacien socialiste, le sénateur véritable orientation politique suivie d’actions Jacques Bigot. concrètes. Au premier tour des élections présiden- tielles le candidat de la droite, François Fillon, Le vote conservateur a recueilli 26 % contre 20 % seulement dans le reste de la France. Il assure un meilleur score L’Alsace est traditionnellement une terre qu’Emmanuel Macron en Alsace où ce dernier conservatrice où les candidats centristes et de n’a recueilli que 21 %. Mais aux élections légis- droite occupent la majorité des sièges tant au latives, les résultats ont été plus contrastés : au parlement que dans les instances locales. Cette premier tour, les élus de la droite ont connu prédominance est l’héritage de la forte in- des résultats nettement moins favorables que fl uence chrétienne-démocrate et gaulliste qui les élus d’En marche au point que ces derniers a prévalu durant de nombreuses années. Les paraissaient en mesure de s’emparer de la plu- responsables politiques centristes et conserva- part des sièges de députés en Alsace, les can- teurs sont aussi dans l’ensemble plus sensibles didats La République en marche (LRM) étant aux questions d’identité et de culture régio- en tête dans 11 des 15 circonscriptions. nale que la gauche, même s’il s’agit souvent La situation s’est quelque peu rétablie en plus d’un attachement sentimental que d’une faveur des candidats conservateurs (« Les Ré-

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605_Woehrling_Les elections en Alsace.indd 609 03.12.2017 11:57:43 Le courant de soutien à Emmanuel Macron en Alsace

Au 1er tour Le candidat Macron a bénéfi cié de 21 % des voix en Alsace contre 24 % dans le reste de la France. Au 2e tour des élections présidentielles, Emmanuel Macron a recueilli 61 % en Alsace contre 66 % dans l’ensemble de la France (mais 85 % à Strasbourg). On a vu que pour les élections législatives, les candi- Grande réunion post électorale à Sélestat pour demander le rétablissement d’une région Alsace. dats de « LaRépublique en Marche » ont réussi In Schlettstadt findet nach der Wahl eine à s’emparer de 6 sièges sur 15. Veranstaltung statt, bei der die Wiederherstellung Au total, la vague macroniste a bien atteint der Region Elsass verlangt wird. l’Alsace, mais de façon moins forte que pour la moyenne française. Le point faible des candi- dats de La République en Marche a clairement publicains ») au 2e tour : entre les deux tours, été leur absence d’enracinement et de sensi- ces derniers ont compris que le point faible bilité régionale, alors qu’Emmanuel Macron des candidats soutenus par Macron était leur lui-même se montre peu sensible aux thèmes absence de sensibilité aux dossiers régionaux régionaux et s’avère d’un style très parisien. (la question de la suppression de la Région Al- Beaucoup d’électeurs alsaciens sont cepen- sace, la langue et la culture, etc.) Ils ont donc dant sensibles à l’esprit de réforme incarné orienté leur campagne sur cet aspect et cela par Macron. leur a permis dans un certain nombre de cas Un certain nombres d’élus « En marche » de rattraper leur manque de voix par rapport ont très vite saisi cette problématique et ont aux candidats de la République en Marche. cherché après les élections à mieux se profi ler Contrairement à ce que l’on pouvait pen- sur les questions régionales. Ils pourraient à ser à l’issue du premier tour, les législatives l’avenir devenir des concurrents sérieux des de 2017 n’ont donc pas mis fi n au particula- conservateurs pour la défense des sujets régio- risme électoral alsacien. Alors que la France naux. Cette concurrence sera-t-elle bénéfi que dans son ensemble passe du « rose » (gauche) pour une meilleure prise en compte de ces su- au « jaune » (Macron), l’Alsace reste majoritai- jets, l’avenir nous le dira. rement en « bleu », une droite traditionnelle cependant aff aiblie. Avec 9 circonscriptions, la droite reste certes prépondérante, mais elle perd la situation de quasi-monopole qui était la sienne depuis des décennies en Alsace. Elle a désormais face à elle des concurrents Anschrift des Verfassers: LRM (macronistes) dans 6 circonscriptions – Jean-Marie Woehrling les 4 circonscriptions strasbourgeoises (dont 15 rue des Orphelins Strasbourg-Campagne) ainsi que Haguenau F-67000 Strasbourg E-Mail: [email protected] et Mulhouse-Illzach.

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605_Woehrling_Les elections en Alsace.indd 610 03.12.2017 11:57:43 Ausstellungen in Baden

Ausstellung »Hans Thoma – Wanderer zwischen den Welten« Bis zum 4. März 2018 in Baden-Baden zu sehen Elmar Vogt

Das Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhun- machte, schreibt die Museumsleitung in einer Pres- derts in der Lichtentaler Allee 8 in Baden-Baden zeigt semitteilung zur Eröff nung der Ausstellung. bis zum 4. März 2018 eine Ausstellung unter dem Selten gezeigte Gemälde aus allen Schaff ensperio- Titel »Hans Th oma – Wanderer zwischen den Wel- den dieses langen, bis zum Schluss erfi ndungsreichen ten«. In der Ausstellung werden Gemälde, Zeichnun- Künstlerlebens vermitteln einen Eindruck von Hans gen und Grafi ken von Hans Th oma (1839 bis 1924) Th omas Vielfalt und Intensität. Der Maler erlangte gezeigt, sowie Aspekte, die über die bekannte Vorstel- zudem mit großer technischer und motivischer Ex- lung vom Maler seiner Schwarzwälder Heimat hinaus perimentierfreude in seinen Radierungen, Lithogra- weisen. Um 1900 wurde Hans Th oma als Künstler im- fi en, Algrafi en und Tachografi en einen noch höheren mer berühmter und beim Publikum populär, was ihn Bekanntheitsgrad. als vermeintlich urdeutschen Heimatmaler für anti- Befreundet mit Arnold Böcklin und Adolf von französische Publizisten im Kaiserreich interessant Hildebrand, fi ndet Hans Th oma auf seinen Italien- reisen zum besonderen Licht seiner Landschaft sma- lerei. In der Ausstellung sieht der Besucher Hochtä- ler des Schwarzwalds und italienische Landschaft en, allerdings anders. Th oma kombiniert Eindrücke der Bernauer Heimat mit solchen der Campagna und setzt in diese Szenerien alltägliche Spaziergänger ebenso wie mythologische Fabelwesen von bestechender Präsenz. Zwei Skizzenbücher gestatten, dem Künstler bei der Ideenfi ndung gewissermaßen über die Schulter zu schauen. Zum ersten Mal publizierte Blätter geben Eindrücke von Th omas erster Italienreise 1874 wie- der. Th omas Entwürfe zu Möbeln und Keramiken so- wie markante Beispiele der ausgeführten Stücke be- legen seine Originalität als Gestalter und seine Rolle als Mitbegründer der Karlsruher Majolika. Für diese außergewöhnliche Ausstellung hat das Bernauer Hans-Th oma-Kunstmuseum 30 Exponate aus der aktuellen Ausstellung und dem Depot zur Verfügung gestellt, darunter die Ölgemälde: »Zitro- nenverkäuferin«, »Neapolitanerin«, »Engelswolke«, »Bachlandschaft bei Nidda«, »Gefi ederter Pan«, »Die ziehende Herde« sowie das Gemälde »Öfl ingen« in Einsamkeit, 1906, Öl auf Leinwand, Sammlung Landes- Mischtechnik. Das Museum in Baden-Baden bat bank Baden-Württemberg. Foto: Archiv Landesbank auch um Zeichnungen, das Skizzenbuch mit den Baden-Württemberg Entwürfen der bekannten Th oma-Stühle, Majolika-

Badische Heimat 4 / 2017 Ausstellungen in Baden 611

611_Ausstellungen in Baden.indd 611 03.12.2017 11:58:20 Objekte und Blasebälge. Als Besonderheit in der Ausstellung wird auch Th omas Tachograph aus dem Ein Katalog zur Ausstellung mit Beiträgen von Bernauer Archiv zu sehen sein, mit dem er Verviel- Philipp Kuhn (Baden-Baden), Arthur Mehl- fältigungen (Algrafi en und Tachografi en) anfertigte. stäubler (Karlsruhe), Gottfried Pütz (Freiburg Die Ausstellung, ein Projekt der GRENKE-Stif- im Breisgau), Matthias Winzen (Saarbrücken, tung, entstand in Zusammenarbeit und Kooperation Hrsg.), ist im Athena Verlag erschienen, ISBN mit dem Hans-Th oma-Kunstmuseum in Bernau und 978-3-89896-699-3, 24 Euro. dem Augustinermuseum Freiburg im Breisgau.

Wir wünschen unseren Mitgliedern in Baden und Freunden in aller Welt ein gutes Jahr 2018

Landesvorstand, Beiräte und Leiter der Regionalgruppen der »Badischen Heimat«

612 Ausstellungen in Baden Badische Heimat 4 / 2017

611_Ausstellungen in Baden.indd 612 03.12.2017 11:58:21 Aus dem Landesverein

Bausteinaktion des Landes- Für einen Betrag von € 150,00 erhalten Sie ein vereins Badische Heimat zur gerahmtes Bild von unserem Haus Badische Hei- Renovierung seines Hauses in mat in Freiburg, ein Originalaquarell auf Bütten- papier (keine Reproduktion!), geschaff en von unse- der Freiburger Hansjakobstraße rem Mitglied Bernhard Oeschger, Regionalgruppe Seit dem Frühjahr 2017 wird das denkmalgeschützte Freiburg, sowie eine Urkunde, nummeriert und Haus Badische Heimat, ein städtebaulich prachtvol- signiert vom 1. Vorsitzenden des Landesvereins les Unikat des weit bekannten Freiburger Architek- Badische Heimat Dr. Sven von Ungern-Sternberg, ten Carl Anton Meckel, einer umfassenden Sanie- Freiburg. rung unterzogen. In seiner Grundsubstanz gut erhal- Ihr Beitrag kommt nach Abzug der Materialkosten ten, haben die Jahrzehnte seit seiner Erbauung 1928 von 50 € vollständig dem genannten Zweck zugute. doch ihre Spuren hinterlassen, die es in einer bau- Die Fertigung der Unikate durch Bernhard Oeschger technisch aufwändigen und fi nanziell anspruchs- erfolgt ehrenamtlich. vollen Maßnahme zu beseitigen gilt. Das Projekt soll Sollte Ihnen dieser Baustein bzw. die Unterstüt- ohne Rückgriff auf das Haushaltsbudget der Badi- zung unseres Projektes mehr als 150 € wert sein, er- schen Heimat verwirklicht werden, um die seit Jah- halten Sie für den übersteigenden Betrag eine Spen- ren bewährte Vereinsarbeit nicht zu beeinträchtigen. denquittung. Umso mehr sind tatkräft ige materielle Hilfen der Ihre Überweisung richten Sie bitte an das Konto Vereinsmitglieder hoch willkommen. Schon die Er- des Landesvereins Badische Heimat bei der Spar- richtung des Hauses vor bald 100 Jahren wurde von kasse Freiburg IBAN DE 48 6805 0101 0002 0032 01 der Großzügigkeit zahlreicher Spender begleitet. Mit BIC: FRSPDE66XXX dem Erwerb von einem oder mehreren »Bausteinen« Herzlichen Dank für Ihre aktive Mithilfe! zur Renovierung können Sie jetzt dieses großherzige Werk unserer Vereinsvorgänger fortsetzen. Dr. Sven von Ungern-Sternberg

Badische Heimat 4 / 2017 Aus dem Landesverein 613

613_Aus dem Landesverein.indd 613 03.12.2017 11:59:06 Umsetzung der Bodman-Reform 2. Karlsruher Gespräch des Bodman-Teams mit Es wurde davon ausgegangen, dass Mitgliederwer- dem Vorsitzenden des Landesvereins Badische bung und Öff entlichkeitsarbeit für beide Vereine, Heimat, Dr. Sven von Ungern-Sternberg Badische Heimat und Schwäbischer Heimatbund, Ausgangspunkte für die Notwendigkeit der Moder- 1. nisierung der Vereinsarbeit in der Zukunft sind. Vor dem Vortrag des Vorsitzenden anlässlich des Mitgliederwerbung und Öff entlichkeitsarbeit setzen Vortragsprogramms zu den Heimattagen Baden- eine aktive Vereinsarbeit voraus. Württemberg in Karlsruhe, war ein Treff en mit den Der Vorsitzende bestätigte den Akteuren, dass Akteuren der Bodman-Reform in der dortigen Lan- er die Bodman-Reform für notwendig halte. Der desbibliothek am 7. September 2017 vereinbart wor- »Startschuss« zur Installation sei bereits in einer frü- den. Nach mehreren Sitzungen zu den einzelnen heren Sitzung gegeben worden. Reformenschritten wurde das Gespräch mit dem Festgestellt wurde, dass die »politisch-strategi- Vorsitzenden als Abschluss der Einführungsphase sche Arbeit«, die zur Durchführung der Bodman- gesehen (Arbeitstagungen hatten stattgefunden am Reform notwendig ist, nicht ehrenamtlich geleistet 5.1., 27.1., 29.3., 20.6 und 20.7.2017). Th ema war die werden kann. Zwar wurde der Versuch unternom- Umsetzung der Bodman-Reformen durch einen ent- men, Aufgaben mit »klaren Zuständigkeiten« nach sprechend professionell arbeitenden Mitarbeiter in einem Geschäft sverteilungsplan Bearbeitern zuzu- der Geschäft sstelle. ordnen, doch scheint nach dem Vorsitzenden bis- In der »Einführung zum Gespräch« wurde der Vor- her der durchschlagende Erfolg ausgeblieben zu sein. schlag gemacht, die Bodman-Reform nicht isoliert, Das hängt wohl damit zusammen, dass das »opera- sondern im Zusammenhang mit der Mitgliederver- tive Geschäft «, wie es der Vorsitzende nennt, in der sammlung 2018 und einem »Konzept BH 2018/22« Geschäft sstelle nicht durch ehrenamtliche Tätigkei- nach Maßgabe der Reform zu interpretieren. ten allein geleistet werden kann. Die Bodman-Reform ist ein schlüssiges Pro- Es wurde in Erwägung gezogen, ob man beim gramm, aus dem einzelne Teile nicht nach Belieben zukünft igen Lektorat »Freiräume« für weitere ge- herausgebrochen werden können. Darum war es schäft sstellenrelevante Aktivitäten schaff en könne wichtig, auf die Zusammenhänge der einzelnen Teile (Modell zu Stolberg). In diesem Zusammenhang hinzuweisen. Es hängen zusammen: Aktivitäten der warnten die Diskussionsteilnehmer allerdings nach- Vereinsarbeit und Öff entlichkeitsarbeit, Öff entlich- drücklich davor, einer Person mit genau umrissenen keitsarbeit und Mitgliederwerbung, Homepage und Tätigkeitsmerkmalen immer weitere Aufgaben »auf- Aktivitäten von Zentrale und Regionalgruppen, Ko- zuladen«. operationen und Zielsetzungen des zukünft igen Ver- Das »Modell Busse« – Vereinigung von Vereins- eins. führung und Redaktion in einer Person – wurde er- Auf eine Formel gebracht: wähnt, ist aber unter den heutigen Umständen nicht – Ohne Aktivitäten der Vereinspitze und der Re- wiederholbar. Gleichwohl scheint der Vorsitzende gionalgruppen keine Öff entlichkeitsarbeit, ohne eine solche Position in Erwägung gezogen zu haben. Öff entlichkeitsarbeit keine erfolgreiche Mitglie- Eine Einigung auf eine bestimmte Person, Arbeits- derwerbung, stunden in der Woche und Bezahlung konnte in der – ohne Zusammenarbeit von Vereinsspitze, Regio- Sitzung nicht erzielt werden. nalgruppen und Zeitschrift keine Homepage, – ohne Herstellung von Öff entlichkeit keine Glaub- 3. würdigkeit und ohne Kooperationen keine über- Der aktuelle Stand der Regionalgruppen, die Vertei- zeugende Arbeit in den Städten und Regionen. lung im Land, Altersstruktur und Programme wur- – Führung und Steuerung des Vereinsgeschehens den kurz erläutert. Vorgesehen war, dass von den sind selbst Teil der Modernisierung. Beauft ragten ein »ständiger Kontakt« zu den Regio- Die Bodman-Reform führt eigentlich nichts Neues nalgruppen gehalten werden sollte. ein. Herr Prof. Weinacht hat darauf hingewiesen, In der zukünft igen Homepage sieht der Vorsit- dass die einzelnen Teile in verblüff ender Weise zende »eine ganz neu Dimension«, eine »neue Platt- der »Regierungserklärung« des Vorsitzenden im form« für den Verein. Es wurde allerdings darauf Jahre 2009 entsprechen (100 Jahre für Baden, 2009, hingewiesen, dass ein Internetauft ritt des Vereins S. 450–452). laufend durch Aktivitäten der Geschäft sstelle und

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613_Aus dem Landesverein.indd 614 03.12.2017 11:59:07 der Regionalgruppen ergänzt werden muss. Nach fähig sein wird. Zu unterschiedlich bis kontrovers der Einrichtung der Homepage beginnt die eigentli- sind die Standpunkte gerade im Bereich Energie- che Arbeit, die von der Geschäft sstelle kontinuierlich politik. geleistet werden muss. Das Th ema »Energiebilanzen« erweist sich in Die Zeitschrift des Vereins sollte aus dem Status den Diskussionen als dasjenige, für das am ehesten der bloßen Mitgliederzeitschrift herauskommen. greifb are Ergebnisse vorliegen. Die Mitglieder des Deshalb sollte ein Netzwerk zu Buchhandlungen Arbeitskreises sind derzeit auf der Suche nach Au- aufgebaut werden, das den Bezug im Handel er- toren, die sich in sachkundiger Weise hierzu äußern möglicht möchten. Dieser Prozess wird noch etwas Zeit in An- In Absprache mit den zukünft igen Lektor wäre zur spruch nehmen. Erleichterung der Arbeit eine Redaktionskonferenz Der Arbeitskreis möchte sich jedoch in einiger- zu installieren, die bestimmte Ressorts wie Organisa- maßen regelmäßigen Abständen zu Wort melden. tion von Buchbesprechungen, Zeitschrift enumschau, Dazu scheinen ihm aktuelle Th emen (z. B. der Ab- aktuelle Informationen etc. »auslagert«. bruch der Eisenbahnbrücke bei Albbruck in Heft Was die Renovierungskosten des Hauses der Badi- 3/2017) ebenso naheliegend wie Jahrestage und Jubi- schen Heimat anbetrifft , bestätigte der Vorsitzende, läen technischer Einrichtungen. Ein Anfang mach- dass die Kosten des Kredits die Arbeit des Vereins ten bereits Berichte über das 100-jährige Jubiläum nicht beeinträchtige. Andere Auslegungen wurden der Jungfernfahrt von Schütte-Lanz Luft schiff SLI kurz angesprochen. Nach der Renovierung wird das im Jahr 2011 oder dem 150. Geburtstag des Lokomo- Haus in der Hansjakobstraße den Rang eines »zwei- tivbauers Emil Kessler im Jahr 2017. ten Flaggschiff s der Badischen Heimat« einnehmen und eine »wichtige Rolle für künft ige Generationen« Aktuell als »badischer Schatz« spielen (von Ungern-Stern- Aktuell wendet sich der Arbeitskreis der Firma berg). Pfaudler in Schwetzingen zu. Über die Badische Sollte es in den nächsten Jahren nicht gelingen, Heimat Regionalgruppe Schwetzingen und den Ver- den Verein als Mitgliederverein zu stabilisieren, ein Rhein-Neckar-Industriekultur informiert er sich schlug Herr Prof. Weinacht vor, den Verein in eine über die weitere Verwendung des Betriebsgeländes. Stift ung überzuführen. Es scheint verdienstvoll, die Geschichte der Firma, Protokoll: Heinrich Hauß für Bodman-Team die nun nach 110-jährigem Bestehen den Standort Schwetzingen aufgibt, für die Quartalsheft e der Ba- dischen Heimat aufzuarbeiten.

Arbeitskreis Jubiläen und Jahrestage »Industriekultur in Baden« Im Rahmen der Jubiläen resp. Jahrestage greifen die Mitglieder des AK im Jahr 2018 das 100-jährige Seit Oktober 2012 besteht im Landesverein der Ar- Bestehen des Murgtal-Kraft werks bei Forbach so- beitskreis »Industriekultur in Baden«. Der überra- wie das 100-jährige Jubiläum der Seilbahn des Ze- schende Tod von Prof. Dr. Rainer Wirtz im März mentwerks auf. Über die Rheinschiff fahrtsakte, die 2013 bedeutete einen Rückschlag für den schwung- 150 Jahre alt wird, soll im Rahmen der dazu statt- voll gestarteten Kreis. Denn nun wurde eine Neu- fi nden Symposien und Publikationen berichtet wer- orientierung der Gruppe erforderlich. Ungeachtet den. Weiter sind die »Schwäbische Hüttenwerke« in der widrigen Umstände entwarfen Th omas Herzig Wasseralfi ngen, seit 1921 privatisiert, mit ihrem ehe- und Kurt Möser ein Konzept, das unter dem Titel maligen Zweigwerk im Baiersbronner Ortsteil Fried- »Arbeitskreis Industriekultur in Baden – Heimatge- richstal (http://www.shw-fr.de) in das Blickfeld des schichte im Wandel« noch im gleichen Jahr den Le- Arbeitskreises gerückt. sern vorgestellt wird. Wesentlich umfangreicher als die genannten Im Laufe vieler Sitzungen der Mitglieder stellt Th emen gestaltet sich eine Betrachtung der techni- sich heraus, dass eine von Seiten des Landesvereins schen Innovationen, die in den 1920er Jahren als angestrebte Konzeption, welche die Arbeitsgruppe Folge des Ersten Weltkrieges in der zivilen Produk- als Sprachrohr der Badischen Heimat in aktuellen tion Verwendung fanden. Erörtert werden die zivile Fragen wie beispielsweise der Energiepolitik ausge- Luft fahrt in Baden nach 1919 und der »Erste Lan- geben hätte, nicht tragfähig ist und auch nicht trag- desfl ugplatz« in Böblingen. Rückbau und Weiter-

Badische Heimat 4 / 2017 Aus dem Landesverein 615

613_Aus dem Landesverein.indd 615 03.12.2017 11:59:07 verwendung der Luft schiffh allen in Baden-Baden, Hansjakob-Seminare Brühl und Sandhofen. Die Herstellung von Baustof- im Haus der Badischen Heimat fen aus der Kohleverwertung, z. B. durch die Firma Zugleich Rückblick auf das Jahr 2017 Kälberer & Cie. in Wiesloch-Frauenweiler, sowie die der Regionalgruppe Freiburg Entwicklung der Kohlechemie im Allgemeinen. Die Nachfolge des Schütte-Lanz-Luft schiffb aus: Franz Im Anschluss an das 100. Todesjahr Heinrich Hans- Kruckenberg, der als Mitarbeiter der ehemaligen jakobs (1837–1916) fanden im Haus der Badischen Schütte-Lanz Luft schiff werke in Brühl ein Auto Heimat, das in der Hansjakobstraße liegt, in der ers- entwickelt; die Produktion von wasserfestem Leim, ten Jahreshälft e 2017 vier Hansjakob gewidmete Se- die schließlich in der Firma Luward-Leim in Berlin minare statt. In jeweils eineinhalbstündiger Sitzung mündet; Schütte-Lanz Sperrholz, das als Baumate- lasen und besprachen die Teilnehmer Textauszüge rial im Bootsbau, beim Innenausbau von Schiff en aus dem umfangreichen literarischen Werk Hans- und als SEMPER-Schalungsplatten viele Anwen- jakobs. Um auch Interessierte außerhalb des Lan- dungen fi ndet. desvereins Badische Heimat einzuladen, wurden die Außerdem schreitet die Elektrifi zierung in Baden Veranstaltungen in der Badischen Zeitung bekannt konsequent voran und die Dampfmaschinen wer- gemacht. So versammelten sich jedes Mal zehn bis den stillgelegt. Die Motorisierung der Landwirt- 14 »Geistesarbeiter« – darunter auch Mitglieder der schaft nimmt dramatisch zu. Hohe Löhne lösen in Heinrich-Hansjakob-Gesellschaft – um den langen den 1920er Jahren einen Automatisierungsschub aus. Tisch des Sitzungsraumes im Haus der Badischen Die Normierung des Transportwesens, die in den Heimat. Diejenigen, die das Haus bisher nicht kann- Kriegsjahren ihren Anfang nimmt, wird intensiviert, ten, waren beeindruckt von seiner denkmalgeschütz- wofür die Einheits-Paletten, 20-Liter-Kanister oder ten Schönheit. Dessen Einrichtung im Erdgeschoss die Normierung des Brückenbaus (z. B. Bailey-Brü- geht – wie des Gebäude selbst – auf den Freiburger cken) stehen. Architekten Carl Anton Meckel zurück. Leiterin der Seminarreihe (22.2. / 29.3. / 3.5. / 21.6.) Weitere Themen war Dr. Ursula Speckamp. In den 1920er Jahren fi ndet der Bau des Neckarka- nals statt. Die Badische Heimat wendet sich diesem 22. Februar: Volkspersönlichkeiten bei Hansjakob seinerzeit unter dem Aspekt des Heimatschutzes zu. Am Beispiel des groß’ Kübele, Hansjakobs langjähri- Gegenwärtig fi nden Arbeiten zur Erweiterung der gem Mesner in Hagnau am Bodensee, wurde gezeigt, Kammerschleusen statt. worum es Hansjakob bei der Fülle seiner Darstellun- Die ehemaligen Kalköfen und Mühlen im gen von Menschen aus dem Volk ging: der Nachwelt Odenwald fi nden derzeit wieder das Interesse der literarisch zu bewahren, was im Volk steckte. Hans- Öff entlichkeit. Vergleichbares trifft auf die drei al- jakob schreibt: »Unbeschrien vergehen« sie und ten Brücken des Mannheimer Hafens zu, darunter doch sind es vielfach Menschen gewesen »originel- die als »Teufelsbrücke« bekannte Drehbrücke. Da- ler, poetischer, charakterfester als die Gummi- und ran schließen sich thematisch Aufb au, Zerstörung Woll- und Kautschukballen in der Kultur- und Mo- und Wiederaufb au der Eisenbahnbrücke Neckar- dewelt«. Ein solch origineller, poetischer und cha- hausen–Ladenburg 1849 resp. 1945 oder die Repa- ratur der Pfeiler der Eisenbahnbrücke bei Karls- ruhe-Maxau nach dem »Orinoko«-Unfall am 9. Juni 1987 an. Der Arbeitskreis Industriekultur in Baden ist für weitere Anregungen dankbar. Und gerne darf auch der Kreis der Mitarbeiter in diesem Gremium er- weitert werden. Wer sich dem anschließen möchte oder über technikgeschichtlich interessante The- men für die Badische Heimat schreiben möchte, wende sich bitte an einen der Mitglieder des Ar- beitskreises oder an Dr. Volker Kronemayer, stell- vertretender Landesvorsitzender. Dr. Volker Kronemayer Heinrich Hansjakob

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613_Aus dem Landesverein.indd 616 03.12.2017 11:59:07 Regionalgruppe Freiburg Vorschau auf 2018

Seminare zu Albert Schweitzer im Haus der Badischen Heimat

Die Regionalgruppe Freiburg veranstaltet 2018 eine vierteilige Seminarreihe zu Albert Schweitzer, zu der auch Interessierte über die Regionalgruppe und den Landesverein hinaus eingeladen sind. Es werden Auszüge aus dem Werk Schweit- zers gelesen und besprochen.

Leitung: Dr. Ursula Speckamp

Wann? Mittwoch, 21. Februar / 28. März / 25. April / 6. Juni jeweils 17:00 Uhr Wo? Haus der Badischen Heimat, Hansjakobstr. 12, 79117 Freiburg. Die Bekanntgabe der Termine und Th emen erfolgt auch in der Badischen Zeitung.

21. Februar 2018: Prägungen Schweitzers in Kindheit, Jugend, Studium Textgrundlage: Schweitzers autobiographische Schrift en

28. März 2018: »Ehrfurcht vor dem Leben« Wie kommt Schweitzer zu diesem Zentralsatz seiner Ethik? Und was bedeutet er? Textgrundlage: Schweitzers Hauptwerk »Kultur und Ethik«; Nachlass-Schrift en

25. April 2018: Heimat und Weltkultur Schweitzers lebenslange Bindung an die elsässische Heimat wird uns ebenso beschäft igen wie seine Aus- einandersetzung mit Goethe, mit dem indischen und chinesischen Denken. Textgrundlage: Reden; Briefe; Nachlass-Schrift en

6. Juni 2018: »Friede oder Atomkrieg« So lautet der Buchtitel der drei 1958 über Radio Oslo weltweit ausgestrahlten Appelle Schweitzers. Der Kampf gegen die Atomwaff en bestimmte den letzten Lebensabschnitt des »Urwalddoktors«. Textgrundlage: Schweitzers Friedensreden und Appelle an die Menschheit. Dr. Ursula Speckamp

rakterfester Mensch war der groß’ Kübele, dessen Uhrmacherinnen, Mägde, Tagelöhnerinnen, Hau- Persönlichkeit Hansjakob in »Schneeballen«, Band siererinnen. Über Katharina Basler, geb. Preiser, 3, unter dem Titel »Mein Sakristan« auf rund 100 aus Mauchen bei Stühlingen (1777–1849) berichtet Seiten schildert. Hansjakob in »Verlassene Wege«. Katharina Basler war Bäckerin, Dichterin, Mutter von 17 Kindern – 29. März: Frauengestalten im Werk Hansjakobs eine vielseitige, rundum tüchtige Frau. Etliche ihrer Zahlreich sind die Frauen, die Hansjakob in sei- Gedichte teilte Hansjakob mit, u. a.: »Wenn ich täte, nem Werk als in vielerlei Hinsicht vorbildlich be- was ich lehrte, wär’ der Himmel mein. Und wenn du kannt macht. Es sind die Bäuerinnen großer und tätest, was du hörtest, kämst du auch hinein.« Die kleinerer Höfe, die ein umfangreiches Haus- und Kritik, Hansjakob sei ein Gegner der Fraueneman- Wirtschaft swesen leiten, es sind selbstbewusste zipation gewesen, ist zu sehen im Zusammenhang Handwerkerfrauen, Gastwirtinnen, Näherinnen, der wirtschaft lichen Umbrüche, die viele Frauen in

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613_Aus dem Landesverein.indd 617 03.12.2017 11:59:07 ihrem Wirkungsbereich stark einschränkte: statt Treffen des Landesvereins und Haus, Hof, Garten, Acker, statt eigener materieller des Hegau-Geschichtsvereins Produktionsmittel eine Wohnung in der Stadt, die in Konstanz keine Möglichkeit für ausgreifendes, selbständi- ges Wirtschaft en und »Walten« bot. Aus den Haus- Am 14. Oktober 2017 fand in Konstanz ein Treff en frauen wurden, wie Hansjakob es ausdrückt, »Aus- mit dem Hegau-Geschichtsverein statt. Unsere Idee frauen«, die sich außerhalb des »Hauses« in Th eater, war, hier am Bodensee, wieder mehr Präsenz zu zei- Konzerten, Kaff eekränzchen usw. vergnügten: zum gen und auch die Möglichkeiten der Wiedergrün- Schaden der Kindererziehung und des Familienle- dung einer Regionalgruppe Konstanz zu eruieren. bens. Den Hegau-Geschichtsverein konnten wir hierzu als Verbündeten gewinnen. 3. Mai: Hansjakob, der Ökologe Der Hegau-Geschichtsverein wurde im Jahr 1955 Von Kindesbeinen an war Hansjakob mit der ihn gegründet und hat heute über 1100 Mitglieder. Auch umgebenden Pfl anzen- und Tierwelt eng verbunden. dieser Verein verfügt – wie die Badische Heimat – Im Laufe seines Lebens vertieft e sich die Naturliebe über eine Schrift enreihe, deren erster Band 1956 er- durch vermehrtes Wissen und Nachdenken. In den schien und die bis zum Jahr 2017 auf 179 Bände an- meisten seiner Werke fi nden sich poetische Natur- gewachsen ist. schilderungen, so in »Stille Stunden« die Schilderung Dank des freundlichen Entgegenkommens des einer winterlichen Vollmondnacht, die Hansjakob in Konstanzer Oberbürgermeisters Uli Burchardt konn- seinem »Dichterheim« Kartause vor den Toren der ten wir in den historischen Räumen des Schnetztors Stadt Freiburg verbrachte. tagen, des einzigen noch erhaltenen mittelalterlichen Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beobach- Stadttors von Konstanz. tete Hansjakob Naturzerstörung in zunehmendem Nach dem Grußwort des Oberbürgermeisters Tempo und Ausmaß. Es gibt immer weniger Vögel: folgte ein Vortrag von Prof. Dr. Kurt Andermann »die Vögel wissen nicht mehr, wohin sie in dem kul- zum Th ema »Baden, ein ›Musterländle‹ zwischen Bo- tivierten Lande und in dem wie einen Tanzboden densee und Main.« Er sprach sich für ein »gesamtba- gehaltenen Walde, der gar kein Unterholz mehr hat, ihre Nester bauen sollen.« Oder: »Die Murg hat fast kein Wasser, weil ihr zahlreiche Fabriken und Säge- werke dasselbe in Kanälen abziehen.«

21. Juni: Gegen Militarismus und Ersten Weltkrieg In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg sah Hansja- kob steigende Militarisierung. Städte sind stolz da- rauf, Garnisonen zu haben. »Fabriken und Kaser- nen sind die zwei Wahrzeichen unserer Zeit, aber keine, die auf wahre Volkswohlfahrt deuten«, no- tiert er 1901 in »Stille Stunden«. Hansjakobs An- tikriegsschrift »Zwiegespräche über den Weltkrieg gehalten mit Fischen auf dem Meeresgrund«, die letzte seiner Veröff entlichungen, noch kurz vor sei- nem Tod erschienen, beschäft igt sich mit Ursachen und Folgen »des schrecklichen Krieges«. Jede Fa- milie bekommt die Folgen zu spüren, auch wenn sie keine Angehörigen im Felde stehen hat: Wu- cherpreise und schlechte Brotqualität machen das Leben schwer. Die Hauptursache des Krieges? Hier folgt Hansjakob, wie er mitteilt, dem »hervorragen- den israelitischen Schrift steller Max Nordau«: der Großkapitalismus von England. Er ist »der eigent- liche Vater des jetzigen Weltkriegs.« Das Schnetztor in Konstanz Dr. Ursula Speckamp (Foto: Gregorini Demetrio CC Attribution Share Alike 3.0)

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613_Aus dem Landesverein.indd 618 03.12.2017 11:59:08 disches Landesbewusstsein« aus und knüpft e damit Regionalgruppe Pforzheim an seinen »Weckruf« an, der im Heft 3/2017 in der unter neuer Leitung Badischen Heimat abgedruckt worden war. Im Anschluss daran folgten Gespräche mit Mit- Seit 21. September 2017 hat die Regionalgruppe gliedern des Hegau-Geschichtsvereins, vertreten Pforzheim einen neuen Vorstand: 1. Vorsitzender ist durch ihren Präsidenten Wilderich Graf von und jetzt Herr Olaf Schulze, Historiker und langjähri- zu Bodman sowie dem 1. Vorsitzenden Wolfgang ges Mitglied. 2. Vorsitzende und Schrift führerin ist Kramer, Kreisarchivar des Landkreises Konstanz. Frau Camilla Glatz. Zuständig für Finanzen und Or- Th ematisiert wurden die Bemühungen der Badi- ganisation ist Frau Brigitte Wörle. Als Beiräte fun- schen Heimat, auch am Bodensee wieder deutlicher gieren Herr Dr. Eduard Vinaricky und Frau Lore wahrgenommen zu werden. Angesprochen wur- Schöninger. den die Durchführung gemeinsamer Veranstaltun- Unter der neuen Leitung wird die Regionalgruppe gen wie auch gemeinsamer Buchprojekte, z. B. die ihre Aktivitäten intensivieren. Für 2018 wird wie- Herausgabe eines Hegau-Bandes in der Schrift en- der ein interessantes Programm mit verschiedenen reihe. Auch wurde die Idee entwickelt, dass die zu- Veranstaltungen – wie Führungen zu Museen, his- künft ige Homepage der Badischen Heimat als Platt- torischen Gebäuden und auch zu besonderen Na- form für alle Geschichtsvereine in Baden dienen turlandschaft en – zusammengestellt werden. Auch könnte. Des Weiteren ist für das kommende Früh- Vorträge über Badische und Pforzheimer Geschichte jahr ein Zusammentreff en von Vertretern badischer und Persönlichkeiten und eventuell eine Mehrtages- Geschichtsvereine im Haus der Badischen Heimat fahrt sind geplant. in Freiburg geplant, um sich untereinander bes- Seit Januar 2017 gibt es auch einen Stammtisch. ser zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen. Die Regionalgruppe trifft sich immer am zwei- Koordinator der Zusammenarbeit mit den badi- ten Donnerstag eines Monats um 18 Uhr im Café / schen Geschichtsvereinen ist das Beiratsmitglied Restaurant Bellevue, an der Ispringer Straße 41. Alle Prof. Dr. Weinacht. zwei Monate gibt es dabei einen Vortrag zu einem Im Anschluss an das gemeinsame Mittag essen im historischen Th ema. Am 12. Oktober sprach Olaf historischen Konzil-Gebäude konnten die Teilneh- Schulze über Reuchlins Hauptwerk »De arte cabali- mer an einer Stadtführung mit Wolfgang Kramer stica« aus dem Jahr 1517. Gäste sind immer herzlich teilnehmen, die unter dem Motto stand »Konstanz willkommen. – das zweite Rom«. Schwerpunkt war die Kunst- und Baugeschichte der Konzilstadt, wo bereits die Kelten und Römer siedelten. Dank seiner profunden Kennt- nis der Stadtgeschichte verlief diese äußerst unter- haltsam und informativ. Für die Organisation der Veranstaltung danke ich Daniela Koehler von der Geschäft sstelle sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwal- tung Konstanz. Des Weiteren allen Teilnehmern für die guten Gespräche. Im Rückblick war dies eine sehr gelungene Veranstaltung. Wir planen, auch in ande- ren badischen Landesteilen ähnliche Veranstaltun- gen durchzuführen, um die Präsenz des Landesver- eins wieder zu steigern. Der neu gewählte Vorstand v. l n. r.: Dr. Vinaricky, Camilla Dr. Sven von Ungern-Sternberg Glatz, Brigitte Wörle, Olaf Schulze, Lore Schöninger

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613_Aus dem Landesverein.indd 619 03.12.2017 11:59:08 Heimatdiskurs

Marketing und Event: bar, erlebbar« machen4. Die Vielfalt, so ist anzuneh- Privatisierung und men, bezieht sich auf »unterschiedliche Kulturen 5 Entpolitisierung von Heimat und unterschiedliche Lebensentwürfe« . Zu fragen ist, ob es sinnvoll ist, die aktuellen gesellschaft lichen Bemerkungen zu den Heimattagen 2017 Vorgaben, unterschiedlicher Kulturen und Lebens- entwürfe unter den Begriff Heimat zu subsumieren, I. Konkrete Lebenswelt der Menschen vor Ort mit Heimat »kompatibel«, zu machen. Das Marke- statt Heimat ting der Heimattage fi ndet so überall »Heimatpoten- Gewissermaßen leitmotivisch und etwas vorschnell ziale«. Am Ende kann alles Heimat werden: Museen, programmatisch wurde Heimat für die Heimattage Bibliotheken, Archive6. Individualisierung, Vielfalt als »vielfältig, individuell und immer in Bewegung« der Heimaten und Heimat in Bewegung sind in erster von den Veranstaltern defi niert1. Ein »ganz beson- Linie ganz im Sinne von Marketing und Event. Die derer Blick auf den Heimatbegriff «2 wurde verspro- Veranstalter können mit Heimat etwas »machen«, sie chen. Sollte Karlsruhe dem »Th ema Heimat tatsäch- in Events umsetzen, ohne politische Handlungskon- lich seinen Stempel aufgedrückt haben«, wie in der sequenzen zu beachten, geschweige denn, sie einfor- Presse behauptet wurde3, dann ist eine Auseinan- dern zu müssen. Vielfalt und Wandel von Heimat dersetzung mit den angeführten Defi nitionen wohl bleiben unter diesem Aspekt völlig unverbindlich angezeigt. Vielfalt: »Genau um diese Vielfalt geht es für das politische Handeln, außer dass ihre Aner- bei den Heimtagen«. Deshalb sollen die Heimattage kennung erfordert ist. Die unter diesen Vorzeichen auch die Vielfalt des Heimatbegriff s »sichtbar, greif- vermarktete »raumlose Heimat« blendet politische,

Auch Waldkirch, die nächste Ausrichterstadt der Heimattage, präsentierte sich beim Festumzug in Karlsruhe. (Foto: KEG/Jürgen Schurr)

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620_Heimatdiskurs.indd 620 03.12.2017 11:59:54 kommunalpolitische Konsequenzen für die konkrete »Gefühl von Zuhause« in einem Quartier ist denkbar, Lebenswelt der Menschen vor Ort aus. wenn ich dort Kontakte zu Mitbewohnern habe und Je individueller und vielfältiger Heimat interpre- Möglichkeiten der politischen Einfl ussnahme gege- tiert wird, desto bedeutungsloser wird sie für die ak- ben sind. Es gilt auch hier Ulrich Becks Feststellung tuelle Lebensgestaltung in den Quartieren. Es geht zur Moderne: »Verkleinerung der Zwecke. Alles ein um »die Möglichkeit, die eigenen Lebensbedingun- paar Nummern kleiner«12. Die kleinere Nummer von gen zu beeinfl ussen«. »Engagement schafft Heimat«7. Heimat in der Großstadt ist das Zuhause in einem Der nach den Erfahrungen der Heimattage wie- Quartier mit der Möglichkeit menschlicher Kontakte der in den Fokus zu rückende politische Aspekt von und politischer Einfl ussnahme. Diese Verkleinerung Heimat legt nahe, anstatt von Heimat besser von der Zwecke in Sachen Heimat hat aber auch Konse- den Lebenswelten der Menschen vor Ort zu spre- quenzen für die von der Kommunalpolitik, postu- chen. Heimat und Beheimatung sind höchstenfalls lierte Kultur des Miteinanders der Stadtgesellschaft . Endprodukte eines Prozesses, der mit der Wahrneh- Realistisch gesehen hat eigentlich nur die Stadteilge- mung der konkreten Lebenswelt beginnt, sich im En- sellschaft 13 die Chance, politisch aktiv zu werden14. gagement entfaltet und u. U. mit der Erfahrung von Festzustellen ist die Diskrepanz zwischen geforder- Heimat enden kann. Wichtiger als ein »Bestand« von ter Stadtgesellschaft und den realen Stadtteilbürgern, Heimat ist der Prozess der Beheimatung geworden. die Diskrepanz zwischen einem unpolitisch gedach- Eine Verortung von Heimat in Regionen, Quartie- ten Miteinander der Stadtgesellschaft und der politi- ren oder Stadtteilen macht politisches Engagement schen Partizipation in den Quartieren. Heimat in der und Handeln dort erst möglich. Zu diesem Handeln Großstadt ist so eine Frage der Partizipation. Mög- gehören z. B. Stadtplanung, Stadtteilplanung, grüne lich und gewollt scheint sie nur in eng begrenzten Stadt, Gestaltung von Straßen und Plätzen, Versor- Bereichen. gung, Stadtteilkultur, kulturelle Einrichtungen usw. III. »Gewollte Konstruktion von badischer Heimat?« II. »Kultur des Miteinanders« In der Ankündigung einer Podiumsdiskussion »Was Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bei ist Heimat?« wird u. a. vorgeschlagen, sich mit der dem angesprochen Heimatkonzept die im Vorfeld Frage auseinanderzusetzen, ob es »gar eine gewollte des Stadtjubiläums propagierte »Kultur des Mit- Konstruktion von badischer Heimat gebe«.15 Die einanders«8 bei den Heimattagen keine Rolle mehr Vermutung ist wohl der Bezeichnung und der Tra- spielte. Wurde während des Stadtjubiläums ein- dition des seit über hundert Jahren gebräuchlichen dringlich für eine »Kultur des Miteinanders« der Begriff s »Landesverein« geschuldet. Die Diskussion Stadtgesellschaft geworben, spielte sie bei den Hei- »lokaler und regionaler Vorstellungen von Heimat« mattagen keine Rolle. meint anstelle eines politischen Raumes von einem Zwar sprach der Oberbürgermeister davon, dass es (einheitlichen) »Kulturraum Baden« ausgehen zu sol- unter »Heimat im Wandel« auch um die »die Frage len. Der »Kulturraum Baden« ist der Versuch, Baden nach dem künft igen Zusammenlebens« gehe, sie wieder als Ganzes in den Blick zu bekommen, sug- wurde aber in den Debatten nicht weiterverfolgt9. Ich geriert aber eine kulturelle Einheitlichkeit, die es im vermute, dass keine Überlegungen angestellt wurden, Zeitalter der Diversität wohl so nicht gibt. Nach dem gegenwärtige Eventplanung und früherer kommu- Verlust der politischen Selbständigkeit ist Baden wie- nalpolitische Überlegungen zusammenzuführen. der zerfallen in die früheren geschichtlich gewachse- Die Th ematisierung von Heimat als einer Form von nen Teile. Die ursprüngliche badische Identität war problematisch gewordener Ortsbindung10 und Kul- an eine Dynastie und einen Staat gebunden. Eine tur des Miteinanders der Stadtgesellschaft hätte den badische Heimat, die heute das ganze Teilland ab- »besonderen Blick« eines Heimattages in einer Groß- bilden könnte, ist zumindest fragwürdig geworden. stadt ausmachen können. Wir müssen davon ausge- Es wurde deshalb vorgeschlagen, die verloren gegan- hen, dass in einer mobilen Stadtgesellschaft die Ein- gene Einheit durch die Verantwortung für das Na- wohner im Allgemeinen sich nicht an einen Ort bin- tur- und Kulturerbe des Teillandes zu ersetzen. Bei den oder, wenn überhaupt, »Bindungen« episodisch realistischer Betrachtung der Lage ist aber anstelle bleiben. Dazu ist an die Stelle einer ausschließlichen einer landeseinheitlichen Kultur und Identität von Orientierung an einen Ort ist die Orientierung an Kulturen und Identitäten der badischen Regionen am Menschen getreten11. Deshalb ist »Heimat nicht Rhein auszugehen. Sie gehen zum Teil auf »vorbadi- (mehr) objektivierbar« (Werner Mezger), aber ein sche« geschichtliche Identitäten zurück, wie in der

Badische Heimat 4 / 2017 Heimatdiskurs 621

620_Heimatdiskurs.indd 621 03.12.2017 11:59:55 Kurpfalz oder den vorderösterreichischen Breisgau. 5 BNN 29.3.2017. Grundlage des Engagements des Vereins für diese 6 Wolfgang Zimmermann: »Kultur ist Heimat«. regionalen Kulturen ist die Überzeugung ihres Ei- Grußwort, KAMUNA Programm. genwertes. Verbunden bleiben die einzelnen regio- 7 Ursula Weber: Engagement schafft Heimat?! In: nalen Kulturen und Identitäten miteinander durch Heimat machen? Geplante und gelebte Heimat. die gemeinsame Geschichte des früheren badischen Bruchsal, Heimat-Symposium 2015. Regionalver- Staates. Allerdings kann die Pfl ege des historischen band Mittlerer Oberrhein (Hrsg.), 2015, S. 21. Bestandes allein, die Teilhabe an aktuellen kulturel- 8 Karlsruher Bürgerheft e August–Dezember 2014; len Prozessen nicht ersetzen. Verbunden bleiben die BNN 7.11.2014; Stadtzeitung 12.12.2014. Die Men- Regionen aber auch durch das Bewusstsein, Teil einer schen sollen sich in die Stadtgesellschaft einbrin- besonderen oberrheinischen Kulturlandschaft zu sein. gen können und »sich eigenverantwortlich in der Das neuerdings als zentrale Aufgabe des Vereins pos- Stadt engagieren können«. Der Stadtgesellschaft tulierte »badische Zusammengehörigkeitsgefühl« darf werden Fähigkeiten wie »Off enheit für Neues, nicht verstanden werden als ein sich selbstständig Toleranz anderen gegenüber und Unaufgeregtheit fortzeugendes Gefühl, sondern muss sich fortlaufend auch in schwiegen Situationen« zugeschrieben. in Aktionen versichern. Es gibt auch immer noch das Als Gemeinschaft swerk einer modernen Stadt- Absingen des Badenerliedes vor Fußballspielen und gesellschaft werden ihr Aufgaben wie »Energie- das Hissen der Badenfl agge in der Region. Es handelt wende, Klimaschutz, Bildung und demografi scher sich aber dabei um gelegentliche und situationsbe- Wandel« zugeschrieben (Karlsruher Wirtschaft s- dingte »gesamtbadische« Äußerungen. Die aus der spiegel 2014). Gründung Baden-Württembergs folgende politische 9 Anstoß für Neues geben. BNN Anzeigen-Son- Segmentierung und kulturelle Regionalisierung Ba- derveröff entlichung vom 26.4.2017. »Heimat im dens in Kulturen und Identitäten erfordert Koopera- Netz« beschäft ige sich »mit dem Miteinander von tionen des Vereins mit den entsprechenden Städten, analoger und digitaler Welt«. Regionen, Institutionen. Was dem Verein nach dem 10 »Lebensabschnittsbedingte Verortung« (Robert- Verlust der Eigenstaatlichkeit fehlt, ist ein wie auch son-von Trotha). Heimatgefühl in einer Patch- immer gearteter politischer Träger. Bestimmt der work-Kultur, BNN vom 12.5.2017. Verein sich in Zukunft oberrheinisch, dann käme 11 »Wenn im Quartier viel angeboten wird, dann die Trinationale Metropolregion Oberrhein für diese treff e ich automatisch meine Nachbarn und es Funktion in Frage. entsteht ein Gefühl von Zuhause« (Karmann- Eine »gewollte Konstruktion von badischer Hei- Woes sner). »Begegnung schlägt alles andere«. mat« schätze ich als das Schlimmste ein, was man BNN 19.5.2017. Ursula Weber hat das auf die For- dem Verein nachsagen könnte. Sie bewiese nur, wie mel gebracht: »Sozial eingebunden und sozial ver- weit der Verein inzwischen sich von der lebenswelt- antwortlich«. lichen Realität entfernt hätte. Die Frage, die sich 12 Ulrich Beck: Die Erfi ndung des Politischen, 1993, grundsätzlich stellt, ist vielmehr die Frage, ob der S. 261. Verein personell und fi nanziell seinem aus der Ge- 13 Folgerichtig fi nden Anhörungen der Bürger auch schichte abgeleiteten »Auft rag« mit Publikationen immer stadtteilbezogen statt. oder auch mit Aktivitäten nachkommen will und 14 Wolfgang Fritz hat in dem Aufsatz »Das Karls- kann. ruhe der City und das Karlsruhe der Bürgerver- Heinrich Hauß eine« die Konditionen beschrieben, unter denen die Stadt Bürgerbeteiligung im Stadtviertel für Anmerkungen sinnvoll hält. »Man sollte Bürger soweit beteili- gen, soweit sie kompetent sind, und es sollten die 1 Karlsruhe startet in neuen Festivalsommer. Hei- Mitglieder von beteiligten Bürgergruppen in der mat ist vielfältig und immer in Bewegung, BNN Lage sein, Begründungen und Ergebnisse von 20.3.2017. Fachleuten zu verstehen.« In: Karlsruhe aufgefä- 2 Heimattage lockten bisher 300 000 Besucher, chert, 2015, S. 30. BNN 5.7.2017. 15 Podiumsdiskussion: Was ist Heimat? Identi- 3 Th eo Westermann: Vielschichtige Heimat, BNN tät zwischen Baden, der Welt und dem Himmel. 11.9.2017. 28.11.2017 in der Landesbibliothek Karlsruhe. 4 Karlsruher Bürgerheft e, Juli 2017, Ausgabe Nr. 4. Programm Badische Landesbibliothek.

622 Heimatdiskurs Badische Heimat 4 / 2017

620_Heimatdiskurs.indd 622 03.12.2017 11:59:56 Kooperationen

’s Sprochàmt stellt sich vor

Annette Striebig-Weissenburger

Das Amt für Sprache und Kultur im Elsass (OLCA – Elsassisches Sprochàmt) setzt sich für eine stärkere Präsenz der elsässischen Sprache in allen Bereichen des Lebens ein und unterstützt Initiativen von Vereinen, Gebietskörperschaft en, Verwaltungen und Unternehmen. Das OLCA ist ebenfalls Informations- und Dokumentationszentrum für die regionale Sprache und Kultur. Seine Aufgabe besteht darin, die durch den Elsässischen Regionalrat und die Generalräte des Ober- und Unterelsass initiierte Sprachpolitik zu begleiten.

zwölf Prozent der Bevölkerung unter 30 spre- chen Elsässisch bzw. Elsässerdeutsch. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt die Zahl der Elsässisch sprechenden Bevölkerung stän- dig ab. Diese Tendenz erklärt sich vor allem durch den repressiven Zwang, der von der Seit 1994 setzt sich das Elsassische Sprochàmt Schule ausging, sowie durch einen von den El- – OLCA/Offi ce pour la Langue et la Culture tern entwickelten sprachlichen Minderwertig- d‘Alsace – für die Bewahrung und Aufwertung keitskomplex. Französisch galt als schick und der Sprache im Elsass ein. Seit der vor kurzem wurde beworben, während Elsässisch verpönt in Kraft getretenen Verwaltungsreform erwei- war. Gemessen an anderen Regionalsprachen tert sich auch seine Aktion auf das Departe- Frankreichs sind die 43 %, die Elsässisch aktu- ment Mosel und so lautet sein Name seit 2017: ell sprechen, zwar ein verhältnismäßig hoher ’s Sprochàmt Elsàss-Mosel bzw. Offi ce pour la Anteil, aber auch er täuscht nicht darüber hin- Langue et les Cultures d’Alsace et de Moselle. weg, dass die Zahl rapide zurückgeht.

43 % der Einwohner sprechen Elsässisch

Laut einer Umfrage von 2012, geben 43 % El- sässer an, den Dialekt zu sprechen. Doch nur

Badische Heimat 4 / 2017 ’s Sprochàmt stellt sich vor 623

623_Kooperationen.indd 623 03.12.2017 12:00:24 ten, Verwaltungen und Unternehmen. Das OLCA ist ebenfalls Informations- und Doku- mentationszentrum für die regionale Sprache und Kultur. Seine Aufgabe besteht darin, die fer unseri Sproch durch den Elsässischen Regionalrat und die Generalräte des Ober- und Unterelsass initi- ierte Sprachpolitik zu begleiten.

d’ Schwowebredle d’ Bùtterbredle d’ Zìmtstarne d’ Anisbredle Sablés Souabes Sablés au beurre Etoiles à la cannelle Pains d’anis Bredle de Noël Ein breitgefächertes Engagement

So werden auch die Gemeinden im Elsass dazu d’ Kokos Màkrone d’ Labkueche d’ Fìngerle Macarons d’ Schneebredle Langues de pain d’épices Fingerle à la noix de coco Soufflages animiert, die Sprache in der Öff entlichkeit auf- zunehmen. Die Initiative, »Ma Commune dit Ja«, wurde von mehr als 300 Gemeinden un-

d’ Bürehifele d’ Sprìtzbredle d’ Kàtzezùnge d’ Lìnzerbredle Palets aux épices Spritz Langues de chat Sablés Linzer terschrieben. Das Sprochàmt bietet verschie- Redde wie euch d’r Schnàwel gewàchse isch dene Aktionen und begleitet die Gemeinden Parlez votre langue maternelle oder auch die Vereine in ihren Vorhaben, zum www.olcalsace.org Beispiel: zweisprachige Straßenschilder oder Office pour la Langue et la Culture d’Alsace/Elsassisches Sprochàmt außerschulischen Initiativen usw. Vergleich- Zweisprachiges Plakat Weihnachts-Bredle. Entstan- bare Maßnahmen werden auch den Unterneh- den aus der Zusammenarbeit des OLCA mit dem unterelsässischen Verband des Bäckerhandwerks. men angeboten, damit sie das Elsässische im Alltag fördern: zweisprachige Hinweisschilder, Werbung auf Elsässisch, Identifi zierung des Doch zugleich erwacht heute ein neues Elsässisch sprechenden Personals usw. Bewusstsein: Mehrsprachigkeit ist nicht nur Ansonsten besteht die Arbeit des OLCA eine Chance, sondern auch eine Bereicherung. am Weitergeben von Informationen über die Und es gilt vor allem in der heutigen Globali- Sprache. So gibt es jetzt zahlreiche Broschü- sierung eine Regionalkultur und -sprache zu ren auf der Internetseite zum Herunterladen: bewahren und zu fördern. Die vom OLCA ge- über die Sprachgeschichte, kleine Wörterbü- führte Imagekampagne »Elsassisch ìsch bom- cher französisch-elsässisch-deutsch für den bisch« kommt deshalb auch sehr erfolgreich täglichen Gebrauch, z. B. »Wàs brücht m’r im bei der Leuten an, vor allem auch bei der jün- Elsàss?« Oder »Gsùnd ùn mùnter« … 16 Th e- geren Generation. men sind erhältlich und können auch im In- ternet abgehört werden. Auch kann man sich im OLCA darüber informieren, wo man im Die Aufgaben des Sprochàmtes Elsass Elsässischkurse besuchen kann. Wichtig ist auch ein positives und aktuel- Das Elsassische Sprochàmt setzt sich für eine les Bild zu vermitteln, so das Motto: Elsassisch stärkere Präsenz der elsässischen Sprache in ìsch bombisch. Eine Wortkreation die zeigt, allen Bereichen des Lebens ein und unterstützt dass die Sprache jung und anpassungsfähig Initiativen von Vereinen, Gebietskörperschaf- ist. Es gibt hierzu Aufk leber, zum zwanzigjäh-

624 Annette Striebig-Weissenburger Badische Heimat 4 / 2017

623_Kooperationen.indd 624 03.12.2017 12:00:26 jährlich Projektaufrufe in Zusammenarbeit mit der Région Grand Est organisiert. 2011 wurde auch das Projekt »Sammle« ins Leben gerufen, um das mündliche Kulturgut des Elsass zu sammeln, es zu fördern, und um es überliefern zu können mittels des Internet- portals »www.sammle.org«. Ein wertvoller Schatz, der die heutige Spra- che konserviert, lesbar und hörbar macht. Vi- deo- und Tonaufnahmen gibt es zu folgenden Th emen: Traditionelle Lieder und Musik, al- tes Handwerk, Märchen und Legenden, elsäs- sischsprachiges Th eater, Zeitzeugen und Le- bensgeschichten auf Elsässisch. Über 80 Vi- deos sind zugänglich, sowie 500 Lieder (mit rigen Bestehen vom OLCA, konnte man sie so- Text und Partitur) und 155 Tonaufnahmen. gar auf den Bussen im Unterelsass sehen. Für Jugendliche wurde auch die App »iYo« für das Handy konzipiert. Vier Münder geben fl otte Eine Herausforderung Sprüche auf Elsässisch von sich. Ein Erfolg: die für die Zukunft App wurde über 30 000 Mal heruntergeladen! Eine Sprache lebt auch weiter und kann auf- Im Rahmen der verschiedenen Initiativen leben dank der Kunstszene. Die Werke sowie wurden Instrumente entwickelt, um die Spra- die Veranstaltungen der Sänger, Komponisten, che weiterzuvermitteln. Den Schwerpunkt Th eatermacher und Dichter werden bekannt ge- bilden hauptsächlich Aktionen mit Familien, macht, dank der Internetseite, sowie des Kul- um die Eltern und Großeltern zu motivieren, turagenda vom »Friehjohr fer unseri Sproch«. mit den Kindern Elsässisch zu sprechen. Die Eröff nungswoche vom »Friehjohr fer unseri M’r hoff e, dàss dìss àlles mìthelft , ùnseri Sproch« wird auch vom Sprochàmt organisiert. Sproch weiterhin lewendig ze hàlte ùn ùnsere Um weiterhin Projekte im Bereich der Re- Kinder weiterzegëwe. Dàss die nächst Generà- gionalkultur zu unterstützen, werden auch tion weiterhin Bricke baue kànn!

Bénédicte Keck ’s Elsassische labt wittersch mìt de Kìnder!

Eine der wichtigsten Aufgaben des Spracham- richtungen. In diesem Bereich haben sich die tes Elsass-Mosel ist die Unterstützung bei der Tätigkeiten des Sprachamtes in den letzten Weitergabe der elsässischen Sprache im Fami- Jahren verstärkt. lienkreis, aber auch in Kinderbetreuungsein-

Badische Heimat 4 / 2017 ’s Sprochàmt stellt sich vor 625

623_Kooperationen.indd 625 03.12.2017 12:00:26 Insbesondere für Eltern, durch: Und natürlich für alle, die Elsässisch (wieder-) – Antworten und Ratschläge an die Eltern, entdecken, lernen oder unterrichten möchten, die ihren Kindern Elsässisch weitergeben durch: möchten; – Eine Karte der Elsässisch-Kurse für Kinder – Bücher, CDs, DVDs, Kinderreime, Kinder- und Erwachsene sendungen, um die Weitergabe zu erleich- – Eine interaktive Sprachkarte vom Elsass tern; – Eine Bibliografi e von Lehrmethoden, um – Spiele und eine Digitalanwendung, um auf selbstständig Elsässisch zu lernen oder als Elsässisch Spaß zu haben; Ergänzung zum Unterricht – Tipps, um auszugehen und sich auf Elsäs- – Th ematische Wörterbüchlein und Links zu sisch zu unterhalten. Online-Wörterbüchern – Sendungen und Pressechroniken Aber auch für die Professionellen, die sich täg- lich um die Betreuung von Kindern kümmern Mehr Informationen fi nden Sie auf dem Web- (Erzieherinnen in Kitas und Kindergärten, portal: www.lehre.olcalsace.org. ’s Sprochàmt Lehrkräft e, Mediathekpersonal, Hausaufga- ìsch fer àlli do! benbetreuerinnen und Leiter von außerschu- lische Aktivitäten …), durch: – Die »Bàbbelkìscht«, eine Lern- und Spiel- kiste, um mit dem Elsässischen spielerisch umzugehen Anschrift der Autorinnnen: Office pour la Langue et la Culture d’Alsace (OLCA) – Ausbildungen: »Elsässisch-Werkstätten mit Annette Striebig-Weissenburger Kindern leiten« Bénédicte Keck – Unterstützung bei der Entwicklungen von 11a rue Edouard Teutsch Projekten, die die elsässische Sprache zur F-67000 STRASBOURG E-Mail: [email protected] Geltung bringen

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623_Kooperationen.indd 626 03.12.2017 12:00:26 0 800/46 22 22 6 www.bbbank.de Voraussetzung: Gehalts-/Bezügekonto mit Online-Überweisungen; Genossenschaftsanteil von 15,– Euro/Mitglied. 1 Girokonto Euro 1 0, und Depot

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627_Anzeige BB-Bank.indd 627 03.12.2017 12:00:41 Aktuelle Informationen Redaktion: Heinrich Hauß

Bemerkungen zum Artikel von Das »technische Bauwerk« wird in dem Aufsatz als »unter dem Stadtniveau« beurteilt, es gerate »zum Andreas Rossmann: »Unter dem Angriff auf das Herz der Stadt«. Mit Herz der Stadt Stadtniveau«. Karlsruhe verlegt ist der Markplatz mit Stadtkirche und Rathaus ge- die Straßenbahn unter die Erde, meint. »Der Marktplatz wird in seiner Symmetrie durch Aufb auten zerstört, knapp vor dem Portikus und Markus Lüpertz bewirbt sich der Evangelischen Stadtkirche wird ein Eingang mit als Trittbrettfahrer massiven Brüstungen aus dem Boden auft auchen, und beim gegenüber stehenden Rathaus ist ein Ku- »Die … U-Strab ist … ein technisches Bauwerk, bus für den Fahrstuhl vorgesehen« (Rossmann). »Die das ohne Rücksicht auf Stadtbild, Konzeption der U-Strab ist allein von der Funktion Stadträume und Sichtbeziehungen realisiert wird«. her gedacht, ein technisches Bauwerk, das ohne Rück- sicht auf Stadtbild, Stadtraum und Sichtbeziehungen Nach Beobachtungen der »Arbeitsgemeinschaft realisiert wird« (Kabierske). Rüde werden durch die Karlsruher Stadtbild« ist es wohl das erste Mal, dass Betonwände seitlich der Ein- und Ausfahrtsstrecken das U-Strab-»Ingenieurbauwerk« und seine Folgen zusammengehörige Straßenräume zerschnitten. für das innerstädtische, bislang als unverwechselbar Die Planung und Ausführung eines solchen Bau- gehaltene, weithin gerühmte Stadtbild von Karlsruhe werks, das funktional von unten her gedacht ist und kritisch untersucht und der bundesrepublikanischen ebenerdig darüber die Verteilung der Öff nungen im Öff entlichkeit vorgestellt wurde. Wohlgemerkt von Platz bestimmt, geschieht ohne Verständnis und Res- außen durch eine große deutsche Tageszeitung! Das pekt gegenüber der gewachsenen Gestalt der Innen- erklärt vielleicht auch, warum die örtliche Presse stadt, kann nur mit einen Wort als barbarisch oder von dem Artikel bislang keine Notiz genommen hat. ungebildet bezeichnet werden, kulturgerechtes Han- deln sähe anders aus. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, ist es unglaublich, dass die Folgen für das Stadt- und Erscheinungsbild von den »Experten« nicht rechtzeitig erkannt und thematisiert wurden, um dann doch noch die schlimmsten Auswirkungen zu verhindern! Noch im Jahr 2006 sollte der »Karlsru- her Fächer durch eine stärkere Betonung eine größere Bedeutung« erhalten und zu »einer gesteigerten Iden- tifi kation der Bürger mit ›ihrem‹ Karlsruhe führen« (Zukunft skonferenz »Innovation und Lebensqualität«, 27./28. Januar 2006). Die bislang einzige Empörung über die Planungen der Karlsruher Schieneninfra- struktur-Gesellschaft (KASIG) mit öff entlicher Re- sonanz löste der projektierte Abluft kamin am Karls- tor aus (etwa 20 Meter Höhe, 5 Meter Durchmesser). Hier zeigte sich auf unverblümte Weise die Ignoranz der Planer (»Eingriff ins Stadtbild unakzeptabel«. Le- serbrief der ARGE vom 23.11.2013). Später wurden in einer Veranstaltung des Stadtbauforums am 13. März 2014 im K-Gebäude über die Aufb auten für die Zu- und Abgänge und Treppenläufe erstmals gesprochen, allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Wettbewerb schon stattgefunden hatte und die Auft räge zur Pla- Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.10.2017, S. 11 nung und Ausführung bereits erteilt waren.

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628_ Aktuelle Informationen.indd 628 03.12.2017 12:01:33 Es wurde den Bürgern der Stadt erst durch einen minimal unterbrochen und gestört würde. Als Bei- Aufsatz in der FAZ jetzt klar oder klar gemacht, dass spiel nannte er die U-Bahntreppen der Metro in Paris die Planung der Zugänge, von der KASIG off enbar an Straßen und (im Kleinformat) das Geländer um ohne Kenntnis und Rücksicht auf das Stadtbild pro- die Nottreppe für die Tiefgarage am Friedrichsplatz jektiert wurden und wohl auch ausgeführt werden. in Karlsruhe. Die jetzt sichtbar werdenden innerstädtischen Heinrich Hauß Folgen durch den negativen Eingriff in die Fächer- struktur, auf den Marktplatz, den Europaplatz, auf Gehfl ächen in der Kaiserstraße und auf den Platz Und so etwas ist des Lesens zweimal wert … am Durlacher Tor, weiter durch Zerstückelung von Straßenräumen und Verdecken von Sichtachsen Eine Bücherwelt in Gelb: (etwa Lammstraße zum Schloss) sind nur erklärbar 150 Jahre Reclam Verlag durch eine verblendete Großstadt-Untergrundbahn- mit J. P. Hebel Euphorie der Verantwortlichen in den 1990er Jahren (alle Linien der Straßenbahn fahren durch die Kai- Für viele Menschen sind sie so präsent wie Grimms serstraße). Die KASIG hat sich auch nicht gescheut, Märchen: Die Erzählungen des Rheinländischen Zugänge zur U-Strab in den Fächer hinein zu bauen! Hausfreundes von Johann Peter Hebel (1760 bis 1826). Erschwerend kommt hinzu, dass die Planung der Die bewegende Bergwerksgeschichte »Unverhoff - U-Strab off ensichtlich ohne Mitsprache der Stadtpla- tes Wiedersehen«, die Parabel »Kannitverstan«, die nung und anderer Fachbehörden allein der KASIG Schelmengeschichte vom »Wohlfeilen Mittagessen«, überlassen wurde. Wir nehmen an, dass wohl keine die Erzählungen von den Meisterdieben, dem Zun- Großstadt in Deutschland durch den Bau einer »Un- tergrundbahn« so im Zentralbereich beeinträchtigt wurde wie die »Fächerstadt« Karlsruhe. Hätte man bei der Kombilösung zuerst mit der Kriegsstraße be- gonnen, wie von vielen Bürgern gefordert, hätte sich im Laufe des Umbaus vielleicht herausgestellt, dass die Kaiserstraßen-U-Strab sich womöglich erübrigt hätte, ein Vorteil, da solche Straßen (Flaniermeile) sonst durch das veränderte Kaufverhalten an Attrak- tivität verlieren. Nach nun sieben Jahren Bauzeit ist zudem der angestrebte urbane und ökonomische Er- folg ab 2020 (der geplanten Fertigstellung) durchaus in Frage gestellt. Das schon genannte Stadtbauforum 2014 mit dem Th ema »Neugestaltung der Kaiserstraße und Marktplatz« machte die Teilnehmer mit den Beton- aufb auten an den Eingängen der U-Strab und auf dem Marktplatz erstmals bekannt. Auf kritische Einwände erwiderte damals der Baubürgermeister Obert, »Wettbewerbe sind zu achten. Punktum!« In dem genannten Stadtbauforum hat G. Kabierske dringend einen kritischen Diskurs zur Auseinan- dersetzung mit dem Stadtbild angeregt. Weiter hat sich G. Leiber in einem Schreiben an das Stadtbau- amt gewandt wegen der »vorliegenden Entwürfe zur Neugestaltung des Marktplatzes«, insbesondere der über das »Platzniveau herausragenden betonierten Treppenwangen der U-Bahn-Auf- und Abgänge«. Er Titelseite der kritischen Gesamtausgabe des wies im Gegensatz dazu auf durchaus übliche durch- »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« brochene, meist kunstvoll gestaltete Metallgeländer von Johann Peter Hebel, 1981 im Reclam Verlag hin, wobei der Blick auf die Platzfl äche optisch nur erschienen. Bildvorlage/Repro: Elmar Vogt

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628_ Aktuelle Informationen.indd 629 03.12.2017 12:01:34 delheiner, dem Zundelfrieder und dem Roten Dieter Anlass war der Rückblick auf das 200-jährige Jubi- gehören zum Gemeingut, und sie haben eine welt- läum der Fahrt des Freiherrn von Drais mit der Lauf- weite Leserschaft : Weltliteratur im Taschenformat. maschine von Mannheim nach Schwetzingen am Und wer kennt sie nicht aus seiner Schulzeit, die 12. Juni 1817. Das Jubiläum wurde in beiden Städ- gelben Klassikerausgaben der deutschen Literatur? ten gefeiert, in Mannheim mit einer Internationalen Viele verbinden mit dem Faust, dem Wilhelm Tell Konferenz zur Geschichte des Fahrrads (ICHC) und oder mit anderen Klassikern den Namen ›Reclam‹. einer Ausstellung, in Karlsruhe mit einem »Drais- Die Bände, alle in der Universal-Bibliothek (UB) zum Wochenende«. Die Streitpunkte des Interviews las- günstigen Preis erschienen, sind das Markenzeichen sen sich mit drei unterschiedlichen Deutungen zu- des traditionsreichen Verlags der vor 150 Jahren ge- sammenfassen: Der Verzicht Drais’ auf den Adels- gründet wurde. 1867 trat eine Regelung in Kraft , die titel während der Revolution, die Tambora-Th ese besagt, dass allen deutschen Autoren eine Schutzfrist Lessings und die Annahme Lessings, Drais sei ein für die Veröff entlichung ihrer Werke von 30 Jahren »Verfolgungsopfer« gewesen. nach ihrem Tod gewährt wird. Die wichtigsten deut- Lessing vertritt die Th ese, dass Drais während schen Klassiker werden »gemeinfrei«. der Revolution seinen Adelstitel niederlegte und nur 1912 stellt Reclam erstmals Verkaufsautomaten auf, noch »Bürger und Professor Drais« heißen wollte. bis 1917 sind fast 2000 von ihnen in Betrieb. Dann Nach Bräunche wird auf den Verzicht des Adelstitels kommen die Restriktionen: Die Nationalsozialisten »zu viel Gewicht gelegt«. Man könnte daraus schlie- setzen den Verlag ab 1933 unter Druck, Werke jüdi- ßen, dass Drais als Demokrat geboren wurde. Auch scher oder politisch missliebiger Autoren müssen aus die »Androhung von standesrechtlicher Erschie- dem Programm genommen werden. ßung« hält Bräunche »für eine unverhältnismäßige Neben den Alemannischen Gedichten von Johann Überspitzung«. Auch ein direkter Zusammenhang Peter Hebel (Erstausgabe 1803) erschien auch eine mit dem Vulkanausbruch des Tambora in Indone- unkommentierte Ausgabe des »Schatzkästleins des sien im April 1815 und der Erfi ndung der Laufma- rheinischen Hausfreundes« und 1981 eine kritische schine zum Ersatz für Pferde hält Bräunche als für im Gesamtausgabe mit den Kalender-Holzschnitten, he- Nachhinein gefälscht und wurde seiner Ansicht nach rausgegeben von Winfried Th eiss. von Jost Pietsch widerlegt. Die Th ese vom »Verfol- Am 25. Mai 1807 schrieb Hebel unter anderem: gungsopfer« Drais wie die Tambora-Th ese Lessings »Kein Mensch liest den Calender, um belehrt und hält Bräunche »sehr schwer nachweisbar«. gebessert zu werden, sondern um Unterhaltung zu Fazit: »Drais war Erfi nder des Fahrrads. Des- fi nden«. halb muss er aber nicht zusätzlich aufgewertet wer- Der künstlerische Wert des Schatzkästleins erhellt den, indem man künstlich seinen Ruf als Demokrat sich erst richtig, wenn man die Gestalt und Funktion zementiert. Das hat er nicht nötig«. Feststeht aber, des Kalenders betrachtet. Die Werke Hebels gelten dass Drais nicht »systemkonform« war, sich nicht als Kostbarkeiten der Weltliteratur. Bereits Gotthold an Vorgaben gehalten und auch Anweisungen des Ephraim Lessing (1729–1781) fragte: »Was machte Großherzogs ignoriert hat. Lessings Forderung ein ich mit dem Gelde, wenn ich nicht Bücher kauft e?«. »Drais-Museum oder Mobilitätsmuseum« in Karls- Elmar Vogt ruhe einzurichten, lehnt Bräunche mit dem Hinweis ab, dass sowohl Benz wie Drais zwar in Karlsruhe ge- boren wurden, aber ihre Erfi ndungen in Mannheim Rückblick auf das 200-jährige Jubiläum 2017 gemacht haben. Das Andenken sollte aber weiterhin in beiden Städten »hochgehalten werden«. Hans Eberhard Lessing und Ernst Heinrich Hauß Otto Bräunche im Streitgespräch über Freiherr von Drais: »Keine zusätzliche Aufwertung«

In ihrer Ausgabe vom 17.11.2017 haben die BNN ein ganzseitiges Interview mit dem Drais-Biografen Hans-Erhard Lessing und dem Direktor des Stadtar- chivs Karlsruhe, Ernst Otto Bräunche, abgedruckt.

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628_ Aktuelle Informationen.indd 630 03.12.2017 12:01:35 Personalia

Staufermedaille in Gold für langjährige Stadtratstätigkeit als Mitglied der CDU Dipl.-Ing. Prof. Robert Mürb, den und sein »Engagement als langjähriger Vorsit- Vorsitzenden der Landesvereini- zender der Landesvereinigung Baden in Europa«. Prof. Mürb war, wie er im Kreis seiner Getreuen gung Baden in Europa zu erkennen gab, zunächst nicht sicher, ob er die hohe Auszeichnung aus Stuttgart annehmen dürfe. Am 20. September 2017 erhielt Prof. Robert Mürb Wurde in Karlsruher Journalistenkreisen doch die aus der Hand von Ministerpräsident Winfried Vermutung geäußert, dass der gefürchtete Kritiker Kretschmann in Karlsruhe in Gegenwart von Ober- des Stuttgarter Zentralismus und der chronischen bürgermeister Dr. Frank Mentrup eine hohe und Ungleichbehandlung badischer Kommunen und seltene Auszeichnung überreicht: die Stauferme- Institutionen handsam gemacht werden sollte. Als daille in Gold. Zur Begründung hieß es: »Profes- entschiedener Badener wich Professor Mürb gegen- sor Robert Mürb hat sich in herausragendem Maße über staatlichem Wohlwollen keinen Schritt zurück. um die Menschen, die Natur und das Gemeinwe- Vielmehr übergab er dem Ministerpräsidenten die sen in Baden-Württemberg verdient gemacht.« Be- faktenreichen jüngsten cahiers de doléances der ruf und Ehrenamt gehen bei ihm in überzeugen- Landesvereinigung. Sie beinhalten die von hoher der Weise Hand in Hand. Sein Beruf als Direktor Fachlichkeit getragene Zusammenstellung aktu- des Gartenbauamts in Karlsruhe brachte es mit eller Benachteiligungen des badischen Landesteils sich, dass er in 16 Jahren die Fächerstadt »durch- gegenüber dem württembergischen. Die Th emati- grünte« und die Bundesgartenschau im Jahr 1967 sierung der Benachteiligung Badens war eine Ge- nach Karlsruhe zu ziehen vermochte. 1979 erhielt legenheit, die Toleranz des Landesvaters zu prüfen. er einen Ruf auf eine Professur für Landschaft sge- Der Stuttgarter »grüne« Regierungschef bestand staltung an der TH Darmstadt, den er annahm. Als – sekundiert vom Karlsruher Oberbürgermeister – Präsident der Deutschen Gesellschaft für Garten- die Probe, machte wie gewohnt gute Figur und ver- kunst und Landschaft skultur gründete er 1975 die mochte den Eindruck zu erwecken, dass badische Forschungsgesellschaft Landschaft sentwicklung Interessen, wie Prof. Mürb sie verfi cht, auch in und Landschaft sbau mit. Seit 30 Jahren steht er der Stuttgart respektiert werden. Arbeitsgemeinschaft Oberrheinischer Waldfreunde Die Badische Heimat gratuliert dem Vorsitzenden vor. Der Ministerpräsident würdigte auch Mürbs der Karlsruher Schwestervereinigung zur hohen Aus- zeichnung sehr herzlich und wünscht ihm gute Gesund- heit und viele weitere Jahre je- ner Zusammenarbeit, die bis- her in kulturellen Kooperati- onen überaus erfolgreich war – zuletzt im Rahmen der Ba- den-Württembergischen Hei- mattage 2017 in Karlsruhe. Die dabei im Prinz-Max-Palais in Karlsruhe gehaltenen Vorträge, darunter auch einer von Prof. Mürb, werden zum Jahreswech- sel in der Schrift enreihe der Ba- dischen Heimat im Rombach- Verlag Freiburg erscheinen. v.l.n.r.: Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Professor Robert Mürb Univ.-Prof. em. und Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup (Foto: Peter Bastian) Dr. Paul-Ludwig Weinacht

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631_Personalia.indd 631 03.12.2017 12:28:03 Nachruf

Herta Kümmerle (1921–2017)

Schon zweimal stand ein Artikel über Herta Stelle im G. Braun Verlag als Buchhalterin, wo Kümmerle in der »Badischen Heimat«: zum sie dann mehr als 51 Jahr arbeitete und zur einen 2008, als ihr für ihre herausragenden Prokuristin aufstieg. ehrenamtlichen Verdienste um die Heimat- Doch das zeigt nur die eine Hälft e ihres Le- pfl ege im Regierungsbezirk Karlsruhe die Eh- bens. Die andere war ein engagiertes Leben rennadel verliehen wurde, zum anderen 2011 und Wirken in Verein und Ehrenamt und anlässlich ihres 90. Geburtstags, an dem ihr verband ihre Neigungen und Talent, Freude der Landesvorsitzende der Badischen Heimat, am Wandern und an Geschichte mit der Dr. Sven von Ungern-Sternberg, persönlich Übernahme von Aufgaben für die Gemein- die Glückwünsche des Landesvereins über- schaft . Dabei spielte zwar sicher am Anfang brachte. Nun hat die Regionalgruppe Karls- auch eine Rolle, dass ihr Chef, Direktor Knit- ruhe der Badischen Heimat die traurige Auf- tel, auch Vorsitzender der Badischen Heimat gabe, den Mitgliedern mitzuteilen, dass Herta war, aber dass sie nicht einfach nur Mitglied Kümmerle im Juli 2017 verstorben ist. in Vereinen wurde, sondern sich überall auch Herta Kümmerle wurde 1921 im Karlsruher einbrachte, das macht ihre Leistung aus. Stadtteil Mühlburg in der ehemaligen Gast- So frönte sie im Schwarzwaldverein nicht stätte zum »Goldenen Lamm« geboren; sie nur einfach ihrer Wanderlust, sondern war stammt aber aus dem historischen Seilerhäus- seit 1990 für die Buchhaltung der Wander- chen in der Kaiserstraße gegenüber der Uni- heime verantwortlich. Im Arbeitskreis für versität, aus dem die Familie aber ausziehen Heimatpfl ege des Regierungsbezirks Nord- musste und als Entschädigung in Mühlburg baden wirkte sie als Kassenprüferin und für das Haus in der Sedanstraße erhielt, in dem die Regionalgruppe Karlsruhe unserer »Badi- sie dann bis zu ihrem Lebensende wohnte. schen Heimat« seit 1991 als Schatzmeisterin. Wie so viele Frauen ihrer Generation blieb sie Aber sie war weit mehr als das, denn in fi nan- unverheiratet und lebte mit ihrer Schwester ziell schwierigen Zeiten und Auseinanderset- zusammen. Dankbar dafür, dass diese ihr den zungen lotste sie die Kasse loyal und kom- Rücken frei hielt und sich die Frauen gegen- petent durch Untiefen und Strudel »Kommt, seitig stützen konnten, war Herta Kümmerle das packen wir«, machte sie dem Vorstand weit davon entfernt, ein einsames und zurück- und den Kassenprüfern Mut. Treu und red- gezogenes Leben zu führen. Der Besuch der lich vertrat sie die Interessen der Regional- Höheren Handelsschule ermöglichte ihr eine gruppe, war bei allen Veranstaltungen dabei

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632_Nachruf_Herta Kümmerle.indd 632 03.12.2017 12:30:23 und kannte alle Mitglieder mit Namen. Auf Aber Herta Kümmerle konnte auch einfach Herta Kümmerle konnte man sich verlassen. aus Freude und Spaß mitmachen. Sie ging Überhaupt war es ihre soziale Kompetenz, gerne ins Th eater und Konzert, sang im Bach- womit sie die Herzen derer, die sie gekannt Chor der Stadtkirche unter Kantor Karlheinz haben, eroberte. Sie war das Bindeglied zwi- Schmidt und traf sich mit einer Gruppe von schen Schwarzwaldverein und Badischer Hei- Frauen, die sich auf einer Urlaubsreise zufällig mat, sogar räumlich, denn zahlreiche Treff en, kennengelernt und beschlossen hatten, auch Besprechungen und die Kassenprüfung fan- weiterhin gemeinsamen Urlaub zu machen, den in dem kleinen Zimmer des Rathauses von einer der Damen lächelnd als »Karlsruher West statt, das für den Schwarzwaldverein Mädels« tituliert. reserviert war. Doch wichtiger noch war sie Nun hat der Tod einem reichen Menschen- als Ansprechpartnerin und verständnisvolle, leben ein Ende gesetzt. Die Badische Heimat vermittelnde Gesprächspartnerin, die immer wird Herta Kümmerle ein ehrendes Andenken ein Ohr auch für persönlichen Kummer hatte bewahren. und bei manchen Auseinandersetzungen ver- mittelnd einzugreifen verstand. Marthamaria Drützler-Heilgeist

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Buchbesprechungen

schen und der Landschaft der Hochbaar von der Stefan Borchardt Hand des aus Tuttlingen stammenden Malers und (Herausgeber) Zeichners Ernst Rieß (1884–1962). Der langsame Pfeil der Ihren Zuwachs verdankt die Sammlung insbeson- Schönheit. 30 Jahre Kunst- dere Ankäufen des Landes Baden-Württemberg und museum Hohenkarpfen anderer Institutionen, die dem Museum zur dauer- Begleitpublikation anläss- haft en Bewahrung überlassen worden sind, sowie lich der Ausstellung »Land- zahlreichen Schenkungen einzelner Werke oder gan- schaftsbild im Wandel. zer Sammlungen aus privater Hand. 30 Jahre Kunstmuseum Hohenkarpfen«, Stuttgart: »Das Karpfenmuseum als Schule ästhetischer Belser, 2017, 204 Seiten, 558 Abbildungen, Format Landschaft serfahrung« überschreibt Friedemann 24,4 x 22,3 cm (L x B), gebunden, ISBN 978-3-7630- Maurer seinen »subjektiven Rückblick auf ein kultu- 2778-1, 24,95 €. relles Experiment«. Über die Entwicklung und Aufgaben der Kunst- Was man hat, das muss man zeigen und auch schrift - stift ung informiert Ingrid Marquardt die Leser. Eine lich dokumentieren. Chronologie der Stift ung sowie eine Aufl istung der Kurz zusammengefasst ist dies das Ergebnis des Stift ungsgremien im Zeitraum von 1984 bis 2016 vorliegenden detaillierten und reich bebilderten (Be- schließen sich an. stands-)Katalogs über die Geschichte der Kunststif- Mit dem Beitrag »Der Zeichner Ernst Rieß und die tung Hohenkarpfen und deren bisher gezeigten Aus- Baar« von Friedemann Maurer beginnt die Beschrei- stellungen. bung der Geschichte der Sammlung, gefolgt von ei- Das in Satz, Gestaltung, Graphik und Einband nem Sammlungsquerschnitt mit jeweils ganzseitig in sehr ansprechend gestaltete Buch widmet sich in Farbe gedruckten Bildern mit der jeweiligen Titelbe- exemplarischer Weise der breit gefächerten Aufar- schreibung, dem Format und der Inventar-Nummer. beitung der Kunst im deutschen Südwesten, insbe- Es folgt der alphabetisch, nach den Nachnamen sondere der Landschaft smalerei. Die Stift ung hat sich der Künstler aufgebaute Bestandskatalog mit den mit ihren bedeutenden Ausstellungen und Publika- jeweils biographischen Daten sowie der Abbil- tionen zu einzelnen Künstlern sowie zu Th emen wie dungen aller Bilder und Werke der Künstler mit der Bernsteinschule, der Kunst an Donau und Ne- allen Angaben zu den Werken (Titel, Jahr, Mate- ckar, dem schwäbischen Impressionismus oder der rial, Format, Signaturangaben, Inventar-Nummer Landwirtschaft in der Kunst einen weit über die Re- und Provenienz). Trotz der stark verkleinerten gion hinaus strahlenden Ruf erworben. Dazu gehört Abbildungen sind diese mit ihren Motiven gut er- auch der Aufb au einer museumseigenen Sammlung, kennbar. die Werke von stil- und schulbildenden Landschaft s- Es folgt eine chronologische Aufl istung mit Be- malern der Akademien in Karlsruhe und Stuttgart schreibungen aller Ausstellungen, gefolgt von Aus- sowie von bedeutenden Malern der umgebenden zügen aus dem Gästebuch und einer Bibliographie Kunstlandschaft en aus den letzten 200 Jahren um- aller Publikationen aus dem Zeitraum von 1985 bis fasst. 2016, die unmittelbar mit den Ausstellungen und den Als Titel des vorliegenden Katalogs »Der langsame vertretenen Künstlern in Verbindung stehen. Pfeil der Schönheit« diente der erste Band des Werks Eine Aufl istung aller kulturellen Beiträge zu den von Friedrich Nietzsche »Menschliches, Allzumen- Jahresversammlungen, der Veranstaltungsreihe schliches«, Viertes Hauptstück, Aus der Seele der »Blaue Stunde« und der Ausfl üge und Exkursionen Künstler und Schrift steller, S. 149«. informiert die Leser rückblickend über das informa- Stefan Borchardt beginnt mit einem »Rundblick« tive Programm der Stift ung und des Museums. aus den drei Jahrzehnten Stift ungsgeschichte. Ein Register der in den Ausstellungen vertretenen Am Anfang stand die Stift ung eines umfassenden Künstler beschließt den Band, der keine Wünsche Konvoluts von Darstellungen des Lebens der Men- off en lässt.

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635_Buchbesprechung.indd 635 03.12.2017 12:31:28 Hier ist jedes Bild wert, so lange betrachtet zu Haushaltsvorstandes, des Mannes. Bei nichteheli- werden, wie man zum Lesen von mindestens einer chen Geburten ist die Reihenfolge nach dem Ge- Textseite benötigt. Das Buch wird seinen Wert und burtsdatum der Mutter gewählt. Den Angaben zum Platz behalten: als fundierte, wichtige und informa- Namen folgt das Geburtsdatum und der Geburtsort. tive Bilanz über drei Jahrzehnte Malerei- und Kunst- Dem Geburtsdatum folgt, soweit bekannt, das Tauf- geschichte auf der Baar. Äußerst lobenswert ist die datum und der Taufort. Es folgt das Todesdatum reichhaltige Bebilderung, die das Lesevergnügen er- und der Sterbeort. Abschließend erscheinen, soweit höht, in dem die skizzierten Personen, Ereignisse bekannt, das Beerdigungsdatum und der Beerdi- und auch Einzelaspekte gekonnt und angemessen il- gungsort. lustriert werden. Der in Stuttgart beheimatete Belser- Oft mals stößt der Familienforscher bei den Kir- Verlag hat einmal mehr ein gehaltvolles Kunstbuch chenbüchern nur zu oft auf fehlende Seiten, ver- vorgelegt. Elmar Vogt brannte und verschollene Bände oder auf so unge- nügende Eintragungen, dass er nur nach Heranzie- hung anderer Quellen zu eindeutigen Ergebnissen kommen kann. Klaus Strütt Kirchenbücher sind eine bedeutende, ergänzende Sippenbuch der Familien und unschätzbare Quelle für die jeweilige Ortsge- Steinebrunner 1638–1930 schichte. Die Bearbeitung von alten Kirchenbüchern (teilweise bis 2015) ist eine durchaus spannende Beschäft igung. Diese Pfarrei Schönau im Arbeit hat stets etwas mit Menschen zu tun. Schwarzwald Man erlebt, wie Bewohner eines Ortes ihre ver- mit den Gemeinden Aitern, storbenen Angehörigen auf den Friedhof gebracht Böllen, Fröhnd, Geschwend, haben. Bauern, Handwerker, Kleinunternehmer, Herrenschwand, Präg, Dienstboten, Beamte, geistliche Herren lernt man Schönau, Schönenberg, in den oft mals schwer leserlichen Aufzeichnungen Stadel (Ehrsberg), Tunau, Utzenfeld, Wembach und ein wenig kennen. Man begegnet fast ohne länger Wieden. Umschlaggestaltung (Relief): Heinz Strütt, dauernden Frieden immer wieder Kriegswirren. Die Satz: Gregor Bethlen, Druck: SDL oHG, Berlin, Mai Menschen in den kleinen Dörfern sind alle ohne 2016, 350 Seiten mit 16 schwarz/weiß-Abbildungen, Schonung unmittelbar betroff en, erdulden Einquar- ISBN 978-3-00-051786-0, 34,00 € tierungen, Plünderungen, Zwangsarbeit. Kirchen- Bezugsquelle: Klaus Strütt, Scheffelstraße 3, bücher geben aber auch Auskunft über die früheren 79650 Schopfheim, Telefon (0 76 22) 22 21, Berufe und Berufsgruppen, Ein- und Auswanderun- E-Mail: [email protected] gen, über Kindersterblichkeit und medizin-histori- sche Vorgänge. »Sammelt das Verstreute, damit es nicht verloren Das Buch enthält neben einem Familiennamen- geht!«, mahnte bereits der Nürnberger Arzt und Hu- und Ortsregister auch ein Berufs-, Funktions- und manist Hartmann Schedel (1440 bis 1514). Titelverzeichnis. Ebenso sind die unehelichen Ge- In gut fünfj ähriger Arbeit im Kirchenarchiv Schö- burten und die Todesursachen festgehalten. nau, im Diözesanarchiv Freiburg im Breisgau, im Das in einer kleinen Aufl age erschienene Buch Stadtarchiv Zell im Wiesental (für Häg-Ehrsberg), werden interessierte Genealogen und interessierte im Archiv der Kirchengemeinde Todtmoos und in Personen die den Familiennamen »Steinebrunner« den Stadtarchiven Schönau und Todtnau hat Klaus tragen, immer wieder gerne zur Hand nehmen, denn Strütt in 1199 Hauptnummern mehr als 4600 Perso- Bücher können in eine andere Welt entführen, in nen, die direkt etwas mit der Sippe der Steinebrun- dem vorliegenden in die »Familien- und Verwandt- ner zu tun haben, ermittelt und diese nach Familien schaft swelt« der »Steinebrunner«. zusammengestellt. Klaus Strütt hat in einem bewundernswerten Wie ist das Buch zu lesen? Kraft akt mit einem außergewöhnlichen Beispiel Jede Familie hat eine Familiennummer (Haupt- dazu beigetragen, die Herkunft der Steinebrunner- nummer), die vor dem Namen steht. Danach ist der Familien im Raum Schönau als »Familiengeschichte« Familienname nach Alphabet und innerhalb eines engagiert aufzuarbeiten und darzustellen. Familiennamens nach dem Geburtsdatum geord- Damit hat Klaus Strütt eine wichtige Lücke in der net. In aller Regel ist dies das Geburtsdatum des regionalen Geschichte geschlossen. Elmar Vogt

636 Buchbesprechungen Badische Heimat 4 / 2017

635_Buchbesprechung.indd 636 03.12.2017 12:31:31 hen Informationswertes und seiner qualitätsvollen Christiane Widmer und Ausstattung immer wieder gerne zur Hand nehmen. Christian Lienhard: B wie Hier ist jedes Bild wert, so lange betrachtet zu werden, Basel 01 – Basel und seine wie man zum Lesen von mindestens einer Textseite Brunnen. Basel 2016, 107 S., benötigt. Elmar Vogt ISBN 978-3-908142-65-2, 29,00 CHF

Beatrice Hofmann-Wiggen- hauser und Jacqueline Basel und seine Brunnen heißt der jüngste Titel aus Reber: Vom Amerikanerblätz dem renommierten Basler Spalentor Verlag. Auf zum Zirzel – Flurgeschich- 207 Seiten gibt die Publikation einen umfassenden ten aus Olten-Gösgen und Einblick in die Geschichte der Basler Brunnen. In Thal-Gäu. Olten 2014, den 1850er Jahren gab es in der Stadt am Rheinknie geb., 183 S., über 500 öff entliche und private Brunnen. Am be- ISBN 978-3-905848-94-6, kanntesten sind in der Bevölkerung wohl die Basi- 29,00 CHF lisken-Brunnen, von denen es 31 an der Zahl gibt. 1967 schrieb Robert B. Christ in seinem Buch »Zau- Wer die Namen auf einer Ortskarte oder einem Ge- ber der Basler Brunnen« »Das Verhältnis der Basler, markungsplan hinterfragt, versteht in der Regel die der Menschen zum Brunnen, taucht tief hinab in das Umgebung, in der er lebt, besser. Während jeder et- Mystische. Dort gründen die wahren Wurzeln unse- liche Vornamen kennt, täglich von hunderten Pro- rer Scheu jedem Brunnen gegenüber. […] Es ist ein duktnamen umgeben ist und Siedlungs-, Straßen- kleines Wunder, wenn eine Stadt auch heute noch und Familiennamen in großem Stil aufzählen kann, Brunnen errichten lässt, wo sie niemand wirklich gehören Flurnamen mittlerweile zu den recht unbe- mehr braucht; wenn sie sich ehrlich müht, auch neue kannten Namentypen. Das liegt daran, dass Flurna- Brunnen schön zu formen und von Künstlerhand men heute kaum noch eine Funktion erfüllen und ausstatten zu lassen«. eher als »sprachliche Denkmäler« angesehen werden. Im vorliegenden Werk werden 246 von insgesamt Sie sind mehr als nur merkwürdige Relikte einer ver- 314 Basler Brunnen in Text und Bild mit 384 Abbil- gangenen Zeit, ermöglichen sie uns doch tiefe, an- dungen vorgestellt. Die Aufmachung des Brunnen- sonsten kaum zu gewinnende Einblicke in die Sied- buchs erinnert an die Gestaltung der bekannten Zeit- lungsgeschichte sowie in ältere Rechts- und Wirt- schrift »B wie Basel« aus dem gleichnamigen Verlag. schaft sverhältnisse. Die Anordnung der Reihenfolge der Brunnen wurde Beatrice Hofmann-Wiggenhauser und Jacqueline gut gelöst. Die Brunnen sind nach sinnvollen Krite- Reber sind von Berufs wegen fachliche Flurnamen- rien geordnet: nach der Art der Figuren (Zum Ge- forscherinnen, sie untersuchen seit Jahren auf der denken, Götter und Heilige, Basilisken, Menschen, in Olten angesiedelten Forschungsstelle Solothur- verschiedene Tiergruppen, Märchen- und Fabelwe- nisches Orts- und Flurnamenbuch der Universität sen), nach Art der Brunnen (Mehrtrog-Brunnen, Basel die Flurnamenlandschaft des unteren Kan- Baden und Kneippen, Wasserspiele, Trinkbrünneli, tonsteils. Einer Flurgeschichte ist jeweils ein Über- Hof-Brunnen, Kunst-Brunnen, Klassische Brunnen, thema gewidmet. Bei den »Erinnerungen an die Moderne Brunnen). Begleitet werden die stimmungs- Dreizelgenwirtschaft « dreht sich alles um Namen vollen Bilder von Christian Lienhard aus der Welt der wie Allmend, Bünte, Bifang, Ihegi und Ischlag, beim Brunnen mit Texten von Christiane Widmer. Artikel »Guet Brand – die schwarze Kunst der Köhle- Die wichtige Geschichte zum Brunnen- und Was- rei« werden Namen wie Cholrüti, Cholschwerziweid serwesen (Wasserversorgung und Gesundheit / Hy- und Cholschwand auf den Grund gegangen. Die 32 giene) zur Technik und zum Unterhalt schließen sich Flurgeschichten sind als Kolumnen in den Jahren an. Eine Liste der insgesamt 314 Brunnen von A–Z 2011 bis 2013 monatlich im Oltner Tagblatt erschie- mit Angabe des Standorts runden das Buch ab. Je- nen und stehen nun erstmals in einer gesammelten der an der Basler Geschichte interessierte Leser wir Ausgabe zur Verfügung. Aus diesem Wissen schöp- diesen hervorragenden Bildband wegen seines ho- fen die beiden »Namen-Damen«, lassen aber den wis-

Badische Heimat 4 / 2017 Buchbesprechungen 637

635_Buchbesprechung.indd 637 03.12.2017 12:31:31 senschaft lichen Apparat, wie er für die gewichtigen und durchziehen auf vielfältige Weise die Land- Bände des Solothurner Namenbuchs (SNB) unerläss- schaft . lich ist, beiseite. Doch was genau bedeuten diese Namen? Lebt es Die ausgewählte Form mit Kolumnen besteht da- sich im Himmelriich besonders paradiesisch? Oder rin, die Flurnamen nicht wie ein Lexikon zu präsen- tanzen auf der Hexenmatt Frauen ums Feuer? In tieren, sondern in thematischen Zusammenhängen. dem vorliegenden »Flurnamen-Geschichten-Buch« So entstehen aus den Flurnamen einprägsame Bil- zeigen die beiden Autorinnen die Bedeutung un- der, wie die Landschaft in dieser Gegend in frühe- terschiedlicher Namen auf, präsentieren historische ren Jahrhunderten ausgesehen haben muss – und Belegreihen und lösen Legenden von sagenumwo- wie die Vorfahren sich bei der Arbeit darin orien- benen Flurnamen. Nicht immer können Flurnamen tierten. Anschaulich führt Jacqueline Reber etwa gedeutet werden, so zum Beispiel der Name »Zirzel«. anhand der unzähligen Wein- und Reben-Namen Er gehört zu jenen Namen, bei denen auch die Wis- vor Augen, dass der Rebbau auch beidseits von Ol- senschaft lerinnen ans Ende ihres Lateins gelangten: ten am Jurasüdhang ein dominanter Wirtschaft s- »Ungedeutet«. zweig war. Beatrice Hofmann zeigt, dass die Na- Der Oltner Knapp Verlag hat dieses Buch sehr men »Erzwäsche«, »Schmelzi« oder »Hammer« auf sorgfältig und leserfreundlich gestaltet. Eine den Bergbau zurückgehen, Wald gerodet und »ge- Freude sind die großformatigen Farbbilder, mehr- schwendet« wurde landauf, landab, Köhlerei war heitlich von den Fotografen des Oltner Tagblatts allgegenwärtig. Hansruedi Aeschbacher, Bruno Kissling und Ueli Wer kennt nicht die Tüüfelsschlucht oder den Wild. Vorteilhaft wäre ein Register, mit den erklär- Engelberg? Nebst der Tüfelschuchi, dem Huere- ten Flurnamen. Für die Flurnamenforschung wer- wägli, der Pfaff enchappe und der Engelermatte sind bende und informierende Veröff entlichungen dieser dies alles Namen von Flurstücken und ein wichti- Art hofft man öft er zu sehen. Lesenswert und sehr ger Bestandteil unserer Landschaft . Sie sind Relikte gut gemacht. aus der Vergangenheit, Bestandteile der Gegenwart Elmar Vogt

Sven von Ungern-Sternberg (Hg.) NATURSCHUTZ IN BADEN Geschichte - Probleme - Perspektiven Schriftenreihe der Badischen Heimat, Bd. 8. Erstmals wird die Geschichte des Naturschutzes in Baden umfassend dargestellt. Ausgehend von den bürgerlichen Vereine um 1900, und ab den 1950er Jahren vor allem durch private Aktionen, wird das Umweltbewusstsein einer breiten Öffentlichkeit geweckt. Es entstand eine neue Bewegung, die Einfluss auf die Politik ausübte. Der Band bietet weiter Beiträge über die Naturschutzarbeit der Regierungsbezirke Freiburg und Karlsruhe und blickt auch auf die Rolle des Landesvereins Badische Heimat. 288 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover, Halbleinen, ISBN 978 3 7930 5137 4, € 39,80. Zu beziehen im Buchhandel und über die Geschäftsstelle des Landesvereins Badische Heimat e. V., Hansjakobstr. 12, 79117 Freiburg.

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635_Buchbesprechung.indd 638 03.12.2017 12:31:31 Landesverein Badische Heimat e. V.

VORSTAND DES LANDESVEREINS BADISCHE HEIMAT E. V. Landesvorsitzender Dr. Sven von Ungern-Sternberg Tel. dienstl. 07 61 / 7 37 24 Hansjakobstr. 12 Fax dienstl. 07 61 / 7 07 55 06 79117 Freiburg [email protected] Stellv. Landesvorsitzender Dr. Volker Kronemayer Tel. priv. 0 62 02 / 7 37 34 Erzbergerstr. 45 Fax priv. 0 62 02 / 92 05 05 68782 Brühl [email protected] Landesrechnerin Margrit Roder-Oeschger Tel. 01 71 / 8 90 29 37 Im Weingarten 8 [email protected] 79594 Inzlingen Chefredakteur Heinrich Hauß Tel. 07 21 / 75 43 45 Weißdornweg 39 Fax 07 21 / 92 13 48 53 76149 Karlsruhe [email protected] Schriftführerin Dorothee Kühnel Tel. 0 74 42 / 12 16 63 Landhausstr. 10 [email protected] 72250 Freudenstadt Öff entlichkeitsarbeit Dr. Christoph Bühler Tel. 0 62 21 / 78 37 51 Lochheimer Str. 18 Fax 0 12 12 / 6 22 33 66 65 69124 Heidelberg [email protected] Beisitzer Dr. Reinhard Bentler Tel. 07 61 / 5 31 72 Am Rebberg 34 79194 Gundelfi ngen Beisitzer Jürgen Ehret Tel. 0 76 34 / 18 87 Schwarzwaldstr. 30 [email protected] 79423 Heitersheim Beisitzer Joachim Müller-Bremberger Tel. priv. 0 76 66 / 88 03 09 Kaiserstuhlstr. 19 [email protected] 79211 Denzlingen Beisitzer Dr. Bernhard Oeschger Tel. 0 76 21 / 4 57 81 und Tel. 07 61 / 7 37 24 [email protected] BEIRAT Prof. Dr. Kurt Andermann Prof. Dr. Gerd F. Hepp Speckbacherweg 14 Tel. 0761 / 43318 79111 Freiburg [email protected] Dr. Kurt Hochstuhl Staatsarchiv Freiburg Tel. 0761 / 3 80 60 11 Colombistr. 4 Fax 0761 / 3 80 60 13 79098 Freiburg [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Hug Hagenmattenstr. 20 Tel. 07 61 / 6 26 83 79117 Freiburg [email protected] Wolfram Jäger Ostpreußenstr. 14 Tel. 07 21 / 1 33 10 25 76228 Karlsruhe [email protected] Dr. Gerhard Kabierske Karlsburgstr. 5 Tel. priv. 07 21 / 49 51 92 76227 Karlsruhe Tel. dienstl. 0721 / 6 08-4 61 51 [email protected] Elisabeth Schraut Markthallenstr. 14 [email protected] 78315 Radolfzell Dr. Gerhard Stratthaus Wahlkreisbüro Tel. 0 62 02 / 13 91 17 Bgm-Georg-Baust-Str. 6 Fax 0 62 02 / 13 91 38 68723 Plankstadt Prof. Dr. Paul-Ludwig Weinacht Rossstr. 27 Tel. 0 93 65 / 91 14 97261 Güntersleben [email protected]

639_Vorstände Landesverein.indd 639 03.12.2017 12:33:33 REGIONALGRUPPEN

Bruchsal Jörg Teuschl Tel. u. Fax 0 72 51 / 6 29 34 An der Schanze 21 [email protected] 76703 Kraichtal-Unteröwisheim

Elisabeth Burkard Tel. u. Fax 0 72 51 / 1 82 11 Mozartweg 9 76646 Bruchsal

Freiburg Dr. Bernhard Oeschger Tel. 0 76 21 / 4 57 81 und Tel. 07 61 / 7 37 24 [email protected]

Julia Dold Tel. 07 61 / 6 81 48 44 Konradstr. 15 [email protected] 79100 Freiburg

Heidelberg Dr. Christoph Bühler Tel. 0 62 21 / 78 37 51 Lochheimer Str. 18 Fax 0 12 12 / 6 22 33 66 65 69124 Heidelberg [email protected]

Karlsruhe Dr. Hans-Jürgen Vogt Tel. 07 21 / 9 50 49 51 Durmersheimer Str. 53 [email protected] 76185 Karlsruhe

Lörrach Inge Gula Tel. 0 76 21 / 5 34 06 Brunnenstraße 19 [email protected] 79541 Lörrach

Mannheim Dr. Kai Budde Tel. privat 06 21 / 2 71 50 L 11, 9 [email protected] 68161 Mannheim

Pforzheim Olaf Schulze Tel. 07 11 / 26 71 39 Kronprinzenstraße 40 [email protected] 75177 Pforzheim Brigitte Wörle [email protected] Engelswiesen 14 75180 Pforzheim

Rastatt Martin Walter Tel. dienstl. 0 72 22 / 3 81 35 81 Kreisarchiv Tel. priv. 0 72 25 / 98 54 38 Am Schlossplatz 5 [email protected] 76437 Rastatt

Schwetzingen Dr. Volker Kronemayer Tel. priv. 0 62 02 / 7 37 34 Erzbergerstr. 45 Fax priv. 0 62 02 / 92 05 05 68782 Brühl [email protected]

GESCHÄFTSSTELLE

Daniela Koehler Hansjakobstr. 12 Tel. 07 61 / 7 37 24 Geschäftszeiten: 79117 Freiburg Fax 07 61 / 7 07 55 06 Mo., Di., Do. 9.00–12.00 Uhr [email protected]

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