Zum Tod Des Komponisten Paul-Heinz Dittrich (4.12.1930 – 28.12.2020)
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»Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen« Zum Tod des Komponisten Paul-Heinz Dittrich (4.12.1930 – 28.12.2020) Nachruf von Annette Schlünz Seine engagierte Stimme klingt mir im Ohr. Wenn Paul-Heinz Dittrich über seine Musik sprach, überschlug sie sich geradezu, kippte in hohe Register um. Er redete erregt weiter, nichts konnte ihn aufhalten. Paul-Heinz Dittrich und die Stimme, das Wort, die Dichtung, die Texte sind eins, untrennbar miteinander verbunden. Die Dichter waren zeitlebens seine Begleiter, er gab ihnen durch seine Musik eine hörbare Stimme. Leider erklang die Musik nicht oft genug und in den letzten Jahren verstummte sie fast. Dabei war Dittrichs Schaffen ungebrochen – bis zu seinem Schlaganfall 2018 komponierte er ein Werk nach dem anderen, die meisten groß besetzt mit verschiedensten Singstimmen, Chor, Sprechern, Orchester, Kammermusik, Zuspiel-Bändern, live-Elektronik in allen erdenklichen Kombinationen, wobei seit 2005 nicht mehr viel uraufgeführt wurde bis auf die Orchestermusik »Trans-Forme« (1992–99) in fünf Sätzen, denen jeweils ein Text vorangestellt ist, bei der Münchner Musica-Viva 2010. Der Aufführung harren die »Poesien«. Der Entstehungszeitraum 1987–2004 lässt auf ein Lebenswerk schließen. Es ist ein literarisch-musikalisches Projekt mit Texten aus dem Alten und Neuen Testament, von Celan, Hölderlin, Joyce, Heiner Müller, Nietzsche, Edgar Allan Poe, Rilke, Rimbaud, Arno Schmidt und Shakespeare für 4 Soprane, Alt, 2 Tenöre, Bariton, Bass, 4 Sprecher, großer gemischter Chor, Kammerchor, Orchester, live-Elektronik. Dieselben Autoren findet man im musikalischen Raumprojekt »Orestie« (2004–10) und Nelly Sachs und Celan, der Dittrich wohl zum »Lieder singen« antrieb auch in »Voices« von 2016 für Sopran, Chor und Orchester. Dittrichs Stimme als Lehrer war eine genauso bedeutende. 1980 begegneten wir uns in den Geraer Ferienkursen für neue Musik, dem »Darmstadt des Osten«, auf die berühmten Kurse anspielend. Er las, im Gegensatz zu manch anderem seiner Kollegen, die Noten aller seiner Teilnehmer, ob Laie oder Profi, jung oder alt, Komponistin oder Komponist; studierte, schwieg, redete, kritisierte, er forderte heraus zum Neubeginn, er zeigte Fehler auf und machte gleichzeitig Mut. Mehr kann man sich von einem Lehrer nicht wünschen. Er war ein exzellenter Analytiker, konnte die Strukturen, den Arbeitsprozess seiner eigenen Werke genau aufzeigen, es blieb mir sein »Concert avec plusieurs instruments n° 4« von 1983–84 für Klavier und Orchester nach Schwitters Ursonate im Gedächtnis. Dittrich berichtete begeistert von der Uraufführung mit Bruno Canino und der Schlesischen Philharmonie Katowice unter seiner eigenen Leitung beim Warschauer Herbst. Der 1930 in Gornsdorf im Erzgebirge geborene Dittrich hatte in Dresden und Berlin studiert, zog dann an den Zeuthener See in die Arbeitsstille. Dort unterrichtete er auch zwischen 1983 und 1991 seine Meisterschüler der Akademie der Künste. Ich war eine seiner letzten. 1988 kam ich zu ihm – dank seines Engagements durfte ich ihn im Juli 1989, der Mauerfall war für uns in weiter Ferne, nach Köln, genauer in die Außenstelle der Hochschule, nach Heimbach, in einen Sommerkurs für Komposition begleiten. Ein »Umweg«, den Dittrich uns – entgegen aller möglichen politischen Konsequenzen – in der DDR »erlaubte«, führte über Hamburg nach Bargfeld ins Arno-Schmidt-Haus, von dem Dittrich immer begeistert erzählte. Dittrich verdanke ich in jener Zeit auch die Begegnung mit dem französischen Dichter Pierre Garnier, dessen Werk »Ornithopoesie« unser beider Schaffen verknüpft. Garnier wiederum hatte Dittrich über den Sprach- und Bildkünstler Carlfriedrich Claus kennengelernt, beide sind Vertreter der sogenannten spatialen Poesie, Garnier als Germanist, aus der französischen Resistance kommend, war nach dem Zweiten Weltkrieg oft im Osten unterwegs und traf dort die deutschen Dichter. Dittrichs Kammermusik VI »Klangtexte« von 1980 bezieht sich auf Claus’ Sprachblatt »Paracelsische Denklandschaft«. Nachdem Dittrich seit 1976 nicht mehr an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin unterrichten durfte, weil er zu viel über bürgerliche Komponisten wie Arnold Schönberg erzählt hatte, gründete er später das internationale Brandenburgische Kolloquium für Neue Musik. Zuerst fand es nach der Wende 1991 in Zeuthen statt, dann zog es an die Musikakademie Rheinsberg. Dorthin lud er mich bereits 1995 als Dozentin ein, er setzte sich immer für die Fortsetzung der Arbeit, dem Weitergeben des Gedankenguts ein. So auch an der Sächsischen Akademie der Künste, dessen Mitglied er 1998 wurde. Als er sich mit Anfang 80 langsam aus der Präsenz zurückziehen wollte, schlug er mich 2011 zur Wahl vor – er wollte, dass die Arbeit aktiv fortgesetzt wird. Eine ganz wichtige Beziehung hatte Paul-Heinz Dittrich zu seinen Interpreten, die er beim Komponieren immer vor sich sah, denen er seine Musik auf den Leib schrieb, ehrlich und kompromisslos. Das erlebte ich bei meinem wohl ersten Konzert, in dem seine Musik gespielt wurde, der Uraufführung seiner Kammermusik IV »Engführung« nach Celan im Februar 1978 in Berlin unter Leitung des Komponisten. Die Interpreten Roswitha Trexler (Sopran), Hermann Wolfram (Flöte), Siegfried Schramm (Klarinette), Andreas Aigmüller (Schlagzeug), Dieter Rumstig (Gitarre), Bernd Casper (Klavier), Ulf Däunert (Violine), Hans-Joachim Scheitzbach (Violoncello), Eckhard Rödger (Synthesizer) unterstützten ihn bei vielen seiner Konzerte. Diese Kammermusik entwickelte er 1979 bis 1981 weiter zur »Engführung« für Sopran. Sigune von Osten war in diesen Jahren »seine« Sängerin, er dachte jeden Ton für sie. Dazu kamen im Stück 6 Vokalisten, 6 Instrumentalisten, (Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Gitarre, Klavier) Orchester, Tonband und Live-Elektronik, die er mit dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR realisieren konnte. Seine Streichquartette Nr. 3 (1986–87) »Nacht-Musik« nach Novalis und Nr. 4 wurden von keinen Geringeren als den Ardittis 1989 und 1992 uraufgeführt. Für den wunderbaren Jeffrey Burns entstand 1990 die Klaviermusik »Stehen im Schatten« nach Celan, nach Burns frühem Tod nahm sich Frank Gutschmidt der 10 Klaviermusiken Dittrichs an, alle lang und sehr schwer. Neben Celan interessierte er sich sein ganzes Leben für Hölderlin. Eines der spannendsten Stücke ist für mich die Kammermusik IX »... und ihr gedenket meiner« von 1988 nach Texten von Friedrich Hölderlin und Jacques Teboul. Wochenlang erarbeitete ich damals jedes Detail mit dem Schauspieler Lutz Blochberger, den ich für den Sprecher-Part vorgeschlagen hatte, bis er es in Dittrichs Sinne interpretieren konnte. Nicht zu vergessen in der Reihe der Interpreten ist das Aulos-Trio mit Burkhard Glaetzner, Wolfgang Weber, Gerhard Erber, für die die Kammermusik VIII (1988), »Journal des Oiseaux«, nach der »Ornithopoesie« von Pierre Garnier für Oboe, Violoncello und Klavier geschrieben und von der sie uraufgeführt wurde. Die Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler«, mit denselben Musikern in der Oktett-Besetzung ist aus einer ostdeutschen Biographie nicht wegzudenken, ohne sie wäre vieles nicht entstanden oder aufgeführt worden. Dittrichs erfolgreichstes Werk ist vielleicht die »Verwandlung« nach Franz Kafka (1982– 1983), 1983 in Metz uraufgeführt, dann im berühmten TIP (Theater im Palast) in Berlin, ein denkwürdiger Ort für die neue Musik in der DDR, gespielt. Die Erinnerung daran ist stark und lebendig. 2014 erlebte das Stück eine erfolgreiche Wiederaufführung am Schiller-Theater Berlin. Damit endet leider auch diese Erfolgsgeschichte. Wenig, zu wenig seiner Musik ist auf Tonträgern vorhanden, der Rundfunk ist ganz gut bestückt, aber wann wird schon noch neue Musik gesendet. Dittrich hoffte bis zuletzt auf Aufführungen seiner Werke. Programmatisch wirkt der Titel von »Durchquerung des Schweigens« (2010–2011) nach Texten des tunesischen Dichters Tahar Bekri, für Sopran, 3 Vokalisten und Orchester, auch diese Partitur harrt darauf, gehört zu werden. Bei meinem letzten Besuch in Dittrichs Arbeitszimmer lag sein letztes Stück auf dem riesigen Schreibtisch mit dem bezeichnenden Titel »Das öde Land« (2017) nach T.S. Eliot für Sopran, Vokalensemble und Orchester. Die Stimmen sollten »durchscheinen«, die Instrumente quasi schattenhaft umsingen, Dittrich selbst sprach, gestikulierte, sang, ich konnte das Stück förmlich hören. Ich saß neben ihm, blickte auf den Zeuthener See, auf dem stumm die Segelboote vorbei glitten und wünschte, dass diese Musik einem Publikum, mir selbst, im Konzert hörbar gemacht wird. So spröde, so komplex sie sein mag, sie ist stark und zerbrechlich. Es wäre schön, wenn diese Stimme Dittrichs singen dürfte, nicht verstummen würde wie die seine am 28.12.2020. Sein stetes Schaffen, allen Widrigkeiten, allem Nicht-Aufführen zum Trotz soll uns Beispiel sein in der jetzigen Zeit, es macht Mut. Leutesheim, 31. Dezember 2020 .