Zeitzeugengespräch Mit Henriette Kretz
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Historischer Hintergrund Henriette Kretz Zeitzeugengespräch mit Henriette Kretz Die jüdische Überlebende reist seit Jahrzehnten unermüdlich durch Deutschland und weitere europäische Länder, um Schülerinnen und Schülern von ihrem Schicksal zu erzählen. Neben ihrem Onkel war sie die einzige ihrer Familie, die der Ermordung durch die Nationalsozialisten entkommen konnte. Ihr Anliegen ist es aufzuzeigen, wohin Vorurteile, Ausgrenzung und Hass führen können. Henriette Kretz wurde 1934 in einer jüdischen die Deutschen die Familie auch dort ein. Aus ih- Familie in der damals polnischen Stadt Sta- rer Wohnung wurden sie bald vertrieben und nisławów (heute Iwano-Frankowsk in der Ukra- mussten in den jüdischen Stadtbezirk umsiedeln, ine) in der Region Ostgalizien geboren. Seit wo kurze Zeit darauf ein Ghetto eingerichtet 1935 lebte die Familie in Iwaniska, in der Nähe wurde. von Opatów im südöstlichen Polen, wo Hen- Sie waren ständig Hunger, Krankheiten und ver- riettes Vater als Arzt tätig war. Nach dem deut- schiedenen Gefahren ausgesetzt. Mehrmals ge- schen Überfall auf Polen im Herbst 1939 floh die lang es Henriettes Vater, seine Familie vor dem jüdische Familie vor den heranrückenden Deut- Schlimmsten zu schen mit der klei- bewahren und mit nen Henriette nach Hilfe von ukraini- Lwiw (Lemberg) in schen Bekannten der heutigen Ukra- oder durch Beste- ine, wo die große chung die Familie Familie von Hen- vor der Erschie- riettes Vater lebte. ßung zu retten und Nachdem der östli- aus dem Gefäng- che Teil Polens von nis zu befreien. der Sowjetunion besetzt worden Als Gerüchte über war, erhielt der Va- die bevorstehende ter eine Stelle in vollständige Li- Sambor, das 77 km quidierung des südwestlich von Ghettos aufka- Lemberg liegt men, konnte die (heute Sambir in Familie fliehen der Ukraine). Dort und wurde von ei- wurde er Direktor nem polnisch-uk- eines Sanatoriums rainischen Ehe- für Tuberkulose- Image: Olaf Kosinsky (kosinsky.eu), Licence: CC BY-SA 3.0-de paar zunächst im kranke. Henriettes Kohlekeller, dann Mutter war Anwäl- auf dem Dachbo- tin von Beruf, wid- „Meine Geschichte ist keine besondere. Es ist die den versteckt. mete sich aber ganz Geschichte von eineinhalb Millionen Kindern, die Nach Monaten der Erziehung der keine Stimme mehr haben.“ wurde ihr Versteck Tochter. Bis zu die- im Sommer 1944 sem Zeitpunkt war Henriettes Welt in einer lie- jedoch verraten und Henriettes Eltern wurden er- bevollen Familie in Ordnung und ihre Kindheit mordet. Sie selbst konnte sich in ein von Nonnen unbeschwert. Doch 1941 holten der Krieg und Zeitzeugenbesuche im Bistum Mainz 1 Historischer Hintergrund Henriette Kretz Henriette im Alter von 4 Jahren Mutter Elsa Kretz, geb. Schöps Vater Maurycy Kretz © Bistum Mainz geführtes Waisenhaus retten. Die Mutter Oberin 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepub- des Klosters, Schwester Celina Kędzierska, lik (Bundesverdienstkreuz) ausgezeichnet. nahm Henriette auf und versteckte sie zusammen mit elf weiteren jüdischen und 3 Roma-Kindern Historischer Hintergrund unter den Kindern im Waisenhaus. In ihrer Erzählung erwähnt Henriette Kretz ei- Nach dem Krieg fand der einzige weitere Über- nige Punkte, deren historischer Hintergrund in lebende der Familie, ihr Onkel Heinrich Kretz, diesem Artikel kurz erläutert wird. Hierbei han- Henriette und nahm sie zu sich. Zusammen mit delt es sich nicht um eine umfassende Darstel- seiner Frau Sabina und Henriette wollte Heinrich lung der jeweiligen Aspekte, sondern um eine Kretz nach Kuba auswandern und hatte dafür Zusammenfassung im Kontext von Frau Kretz‘ schon das Visum erhalten. Auf dem Weg mach- Erzählung. Für weiterführende Lektüre seien die ten sie Station in Antwerpen, von dessen Hafen im Literaturverzeichnis genannten Titel, insbe- aus die Überfahrt erfolgen sollte. Viele jüdische sondere Pohl, Nationalsozialistische Judenver- Flüchtlinge fanden sich in Antwerpen und grün- folgung in Ostgalizien 1941-1944, empfohlen. deten eine neue jüdische Gemeinde. So blieb Außerdem nimmt Frau Kretz Bezug auf die Ge- Heinrich mit seiner Familie schließlich dort. schichte des Judentums in Europa und in Polen, Henriette wuchs in Antwerpen auf. Sie studierte hierzu im folgenden auch eine kurze Zusammen- Kunstgeschichte, wurde Lehrerin für Franzö- fassung des historischen Hintergrunds. Ihre Ge- sisch und Kunst, verbrachte 13 Jahre in Israel schichte hat sie ausführlich in dem Buch „Willst (1956 - 1969) und lebt seit 1969 wieder in Bel- Du meine Mutter sein?“ dokumentiert. gien. Henriette Kretz war verheiratet, hat zwei Söhne und drei Enkel. Sie interessiert sich für Geschichte des Judentums Politik, Literatur, Pädagogik, Malerei und Mu- sik. Sie ist Mitglied des polnischen Vereins „Kin- Das Judentum ist mit einer Geschichte von mehr der des Holocaust“, dem Juden angehören, die als 3000 Jahren die älteste der drei Weltreligio- als Kinder den NS-Terror meist in Verstecken nen Judentum, Christentum und Islam, die den überlebt haben. Glauben an einen Gott (Monotheismus) und die Abstammung von einem Stammvater - Abraham Seit 2009 kommt Henriette Kretz als Zeitzeugin - gemeinsam haben. ins Bistum Mainz. Sie besucht jedes Jahr viele verschiedene Orte in Deutschland, um an Schu- Die Frühgeschichte der Israeliten, der Vorfahren len sowie bei öffentlichen Veranstaltungen ihre des jüdischen Volks, wird in der Tora erzählt, den Geschichte zu erzählen. 2020 wurde sie für ihre fünf Büchern Mose, dem für das Judentum wich- Arbeit als Zeitzeugin mit dem Verdienstkreuz tigsten Teil der Bibel. Zeitzeugenbesuche im Bistum Mainz 2 Historischer Hintergrund Henriette Kretz In den Erzählungen der Tora beginnt die Ge- schichte des Volkes Israel mit dem Bund, den Gott mit Abraham schließt. Ab- raham stammte aus dem heutigen Irak und lebte den Angaben in der Bibel gemäß ungefähr 1900 bis 1700 v. Chr. Der Tora nach forderte Gott Abraham auf, sein Land zu verlassen und als Nomade umherzu- ziehen, dann werde er Stammvater eines großen Volkes werden. Diesen Bund setzt Gott mit Abra- hams Sohn Isaak und des- sen Sohn Jakob (später Jis- real genannt) fort. Jakob hatte zwölf Söhne, Tora-Rolle aus der Synagoge aus Groß-Umstadt im Hessenpark die als Stammväter der Zwölf Stämme Isra- Image: Bodow Licence: CC BY-SA 4.0 els (Israeliten) gelten. Diese zogen von Ka- naan, dem heutigen Palästina bzw. Israel nach Ägypten, wo ihre Nachfahren vom Pharao Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem versklavt wurden. Aus dieser Sklaverei wurden im jüdisch-römischen Krieg 70 n. Chr. kam es zu die von Moses angeführten Israeliten durch Gott größeren Migrationsbewegungen der jüdischen befreit, der ihnen am Berg Sinai die Tora offen- Bevölkerung Palästinas. Sie siedelten zu einem barte. Sie zogen ein in das gelobte Land - das großen Teil innerhalb des Römischen Reiches. heutige Israel/Palästina - und gründeten dort im Ein weiterer bedeutender Anteil lebte weiterhin 11. Jh. v. Chr. ein Königreich mit der Hauptstadt im Perserreich, wo in der Spätantike und dem Jerusalem. frühen Mittelalter mit den Akademien in Baby- lonien der intellektuelle Schwerpunkt des Juden- Während die Einzelheiten dieser Frühzeit der tums lag. Geschichte Israels in wissenschaftlich-histori- scher Hinsicht nicht umfassend belegt werden Im Hochmittelalter siedelten Juden auch in ande- kann, gilt die biblische Erzählung ab der Zeit des ren Teile Europas, zunächst in Westeuropa, vor babylonischen Exils in ihren Grundzügen als allem in Spanien, Frankreich und dem Gebiet des hinreichend gesichert. heutigen Deutschlands. Im Spätmittelalter wan- derten Juden im Zuge der Pestpogrome und der 586 v.Chr. eroberten die Babylonier Jerusalem Ausweisungen aus dem Westen Europas ver- und verschleppten einen Teil des jüdischen Vol- mehrt nach Osteuropa, ferner in die islamische kes ins Exil. Trotz dieser schwierigen Situation Welt und im Anschluss an die Vertreibung aus bewahrten die Juden ihre Religion und kulturelle Spanien 1492 wieder ins heutige Palästina/Israel Identität. Im 5. Jh. v. Chr. kehrte ein Teil der sowie auch in die Neue Welt. Juden wurden oft Exilanten nach Judäa zurück und etablierte dort verfolgt bzw. vertrieben, konnten sich aber auch wieder ein jüdisches Reich. Ein Teil blieb jedoch unter Beibehaltung von Glaube und Tradition als im heutigen Irak. Seitdem gab es zwei Zentren integraler Bestandteil der lokalen Gesellschaften des Judentums, in Jerusalem und in Babylon. etablieren. Im 1. Jahrhundert nach Christus wurde das jüdi- sche Königreich Israel von den Römern besetzt und in eine römische Provinz umgewandelt. Zeitzeugenbesuche im Bistum Mainz 3 Historischer Hintergrund Henriette Kretz Vor dem zweiten Weltkrieg lebten ca. 3,5 Milli- Judentum in Polen onen Juden in Polen. 2,7 bis 3 Millionen von ihnen wurden im Holocaust ermordet. Als im Spätmittelalter durch Pogrome und Aus- weisungen der Druck auf die jüdischen Gemein- den in Westeuropa zunahm, kam es zur vermehr- Jüdisches Ghetto ten Ansiedlung von Juden in Osteuropa. In Polen Seit der Antike lebten Juden in Europa häufig in entstanden jüdische Gemeinden seit dem 12. Jh. abgesonderten Stadtvierteln, insbesondere in den Auch in Osteuropa gab es eine Abgrenzung der Ländern um das Mittelmeer und seit der Spätan- jüdischen von der oft feindlich gesinnten christ- tike auch im Gebiet des heutigen Deutschlands. lichen Gesellschaft, jedoch fanden Juden in Po- Ursprünglich konnten sie fast allen Berufen len und Litauen zunächst viel mehr Sicherheit als nachgehen. Es wurde ihnen meistens volle Han- in Westeuropa. Dies beruht in großem Maße auf delsfreiheit gewährt, sie durften Grundeigentum Privilegien,