Eine Auswahl von Mathematikern, die in der Vorlesung komplexe dynamische Systeme erw¨ahnt wurden. This file is still under construction.

Die folgenden Ausfuhrungen¨ stammen im Wesentlichen aus Wikipedia mit einigen redaktionellen Anderungen.¨ Die aufgefuhrte¨ Liste von Mathematikern erhebt keinen An- spruch auf Vollst¨andigkeit. Sie wird von Zeit zu Zeit erg¨anzt. Die Liste sollte alphabetisch geordnet sein. Sp¨ater wird es noch eine chronologisch geordnete Liste geben.

Lars Valerian Ahlfors (* 18. April 1907 in Helsinki; †11. Oktober 1996 in Pitts- field, Massachusetts) war ein finnisch-US-amerikanischer Mathematiker. 1936 wurde er mit der Fields-Medaille fur¨ besondere Verdienste um die Mathematik ausgezeichnet. Ahlfors schrieb mehrere hervorragende Fachbucher¨ auf den Gebieten der Analysis und Funktionen- theorie. Vor allem sein Buch Complex Analysis“ gilt bis heute als eines der besten zur ” Funktionentheorie. Ahlfors Vater war Professor fur¨ Maschinenbau am Polytechnischen Institut in Helsin- ki, seine Mutter starb bei seiner Geburt. Die Familie war schwedisch-sprachig. 1924 be- gann er sein Studium der Mathematik an der Universit¨at Helsinki, bei Ernst Leonard Lindelof¨ und Rolf Nevanlinna, das er 1928 abschloss (im selben Jahr begleitete er Nevanlinna an die ETH Zurich)¨ und wo er 1930 promovierte. Im selben Jahr begann er an der schwedischsprachigen Universit¨at (Abo Akademi) in Turku zu lehren. In dieser Zeit unternahm er auch mehrere Reisen nach Zentraleuropa, u.a. nach Paris. 1933 bis 1936 war er Assistenzprofessor in Helsinki. 1935 nahm er eine Stelle an der Harvard University an, mit einer dreij¨ahrigen Probezeit. Bereits 1936 wurde er auf dem Internationalen Ma- thematikerkongress (ICM) in Oslo zusammen mit Jesse Douglas mit einer der ersten Fields-Medaillen geehrt. 1938 wurde ihm ein Lehrstuhl fur¨ Mathematik an der Univer- sit¨at Helsinki angeboten, den er trotz des drohenden Zweiten Weltkrieges annahm. Die finnischen Universit¨aten wurden bald darauf aufgrund des Krieges gegen die Sowjetunion geschlossen. Ahlfors selbst war als untauglich vom Milit¨ardienst ausgemustert worden. 1944 erhielt er ein Angebot der Universit¨at Zurich,¨ das er aber durch die Kriegswirren erst 1945 annehmen konnte. Da er und seine Frau sich in der Schweiz so kurz nach dem Krieg als Ausl¨ander nicht wohl fuhlten,¨ akzeptierte er 1946 sofort das Angebot der Har- vard University, wo er bis zu seiner Emeritierung 1977 blieb (ab 1964 als William Caspar ” Graustein Professor“ fur¨ Mathematik). 1948 bis 1950 war er Leiter der mathematischen Fakult¨at. Nach seiner Emeritierung war er u.a. 1978 Gastprofessor an der Columbia University, 1979 an der University of Michigan, 1980 an der University of Minnesota und 1983 an der University of California, San Diego. Ahlfors hielt dreimal Plenarvortr¨age auf Internationalen Mathematikerkongressen und zwar 1978 (Quasiconformal mappings, Teichmuller¨ spaces and Kleinian Groups), 1936 (Geometrie der Riemannschen Fl¨achen) und 1962 (Teichmuller¨ Spaces). Ahlfors wurde 1953 in die National Academy of Sciences gew¨ahlt. Er war 1986 Ehrenpr¨asident des ICM. 1981 erhielt er den Wolf-Preis fur¨ Mathematik. Er war seit 1933 mit Erna Lehnert verheiratet, die ursprunglich¨ aus Wien kam und mit der er drei T¨ochter hatte. Ahlfors arbeitete u.a. uber¨ Wertverteilungstheorie im Sinne seines Lehrers Nev- anlinna, quasikonforme Abbildungen (denen er den Namen gab), Teichmuller-Theorie¨ (mit Lipman Bers war er wesentlich an der strengen Begrundung¨ des Theoriegeb¨audes

1 von Oswald Teichmuller¨ beteiligt), konforme Geometrie, meromorphe Kurven, rie- mannsche Fl¨achen und kleinsche Gruppen (z.T. mit Lipman Bers). Schon 1929 erregte er Aufmerksamkeit, als er eine Vermutung von Denjoy bewies (welche besagt, dass eine ganze Funktion der Ordnung k h¨ochstens 2k endliche asymptotische Werte hat). Ahl- fors besch¨aftigte sich auch viel mit dem Typenproblem nicht-kompakter riemannscher Fl¨achen, n¨amlich Kriterien anzugeben, ob sie vom parabolischen oder hyperbolischen Typ sind (konform ¨aquivalent zur gesamten komplexen Ebene oder zur Einheitskreisscheibe). Er untersuchte auch andere konforme Invarianten, z. B. untersuchte er mit Arne Beur- ling die Extremall¨ange von Kurvenfamilien in einem Gebiet. Ahlfors betrachtete die S¨atze von Picard und Bloch als Spezialf¨alle des Typenproblems und gab auch 1935 der nevanlinnaschen Wertverteilungs-Theorie eine geometrische Interpretation durch spe- zielle konforme Metriken und im selben Jahr eine weitere geometrische Interpretation in seiner Theorie der Uberlagerungsfl¨ ¨achen (nach Constantin Caratheodory´ erhielt er vor allem fur¨ diese Arbeit die Fields-Medaille). In den 1960er Jahren bewies er sei- nen Endlichkeitssatz fur¨ kleinsche Gruppen (diskrete Untergruppen von PSL(2, C), der Gruppe der M¨obiustransformationen): endlich erzeugte kleinsche Gruppen repr¨asentieren riemannsche Fl¨achen von endlichem Geschlecht (kompaktifiziert durch Addition einer end- lichen Zahl von Punkten). Eine Lucke¨ in Ahlfors Beweis wurde durch Bers geschlossen. kleinsche Gruppen spielten auch in William Thurstons Programm zu dreidimensionalen hyperbolischen Mannigfaltigkeiten eine wichtige Rolle. Davor hatte Ahlfors schon 1964 einen neuen Beweis (mit Eichler-Kohomologie) des entsprechenden Endlichkeitssatzes fur¨ fuchssche Gruppen gegeben. Zu seinen Doktoranden geh¨oren Dale Husemoller, Paul Garabedian, Albert Marden, Halsey Royden, Robert Osserman, George Springer und Henry Ot- to Pollak.

Wladimir Igorewitsch Arnold (russisch ?????´??? ?´??????? ????´???, wiss. Transliteration Vladimir Igorevicˇ Arnol’d; * 12. Juni 1937 in Odessa, UdSSR; †3. Juni 2010 in Paris, Frankreich) war ein russischer Mathematiker mit internationaler Re- putation. Er war der Sohn des russischen Mathematikers Igor Arnold (1900–1948). Er studier- te ab 1954 bei Andrei Kolmogorow in Moskau mit dem Abschluss 1959 und der Promotion 1961 (russischer Kandidatentitel) und war von 1965 bis 1986 Professor an der Staatlichen Universit¨at Moskau, seit 1986 am Steklow-Institut fur¨ Mathematik in Moskau und gleichzeitig seit 1993 an der Universit¨at Paris 9. Als (Vordiplom-)Student Kolmogorows l¨oste er 1956 das 13. Hilbert-Problem: Ist jede stetige Funktion von drei Variablen durch stetige Funktionen von zwei Variablen darstell- bar? Fur¨ vier oder mehr Variable hatte Kolmogorow schon die Reduzierbarkeit auf zwei Variablen gezeigt. Arnold bewies dies fur¨ den Fall von drei Variablen, ebenfalls mit Kolmogorows Baum-Konstruktion (daraus wurde 1961 seine Dissertation). In seinen Vorlesungen in Toronto 1997 bezeichnet er die Grundidee seiner L¨osung als beinahe tri- vial, um dann zu zeigen, dass viele wichtige sp¨atere Arbeiten von ihm ihre Wurzeln in Erweiterungen dieser Idee h¨atten. Die korrekte Formulierung von Hilberts Problem ist fur¨ Arnold die Frage nach einer solchen Reduzierbarkeit fur¨ algebraische Funktionen und nach wie vor offen. Nach seiner ersten Ver¨offentlichung stellte ihm Kolmogorow die Wahl seines Dis- sertationsthemas frei, und er untersuchte Diffeomorphismen ovaler Kurven (in der Art von den sp¨ater von Sinai untersuchten Billards). Henri Poincare´e´ hatte schon solche

2 bei Kreis und Ellipse untersucht, wo diese Abbildung nach Poincare´ im Allgemeinen (je nach Wahl des Rotationswinkels) ergodisch (chaotisch) ist, bei rationalen Winkeln periodisch. Zu Arnolds Entt¨auschung stellte sich das Gebiet seiner Diplomarbeit aber als aktives Arbeitsgebiet Kolmogorows heraus, und aus ihrer Zusammenarbeit entstand das KAM-Theorem (Kolmogorow, Arnold, Jurgen¨ Moser) uber¨ dynamische Systeme, speziell die Himmelsmechanik. Die qualitative Theorie dynamischer Systeme (Differen- tialgleichungen) blieb auch weiterhin ein Schwerpunkt von Arnolds Arbeit. Er schrieb daruber¨ bekannte Lehrbucher,¨ so seine Mathematischen Methoden der klassischen Me- chanik, die durch ihren informellen, Zusammenh¨ange und Anwendungen suchenden Stil bekannt sind und unn¨otige Abstraktionen vermeiden. 1961 kam es in Moskau zu ersten Diskussionen mit Stephen Smale, dessen Theorie strukturell stabiler Systeme damals gerade entstand. In den 1950er Jahren untersuchte Arnold nach eigenen Worten auch Anwendun- gen, die sp¨ater in der Chaostheorie bekannt wurden, so in einer Arbeit uber¨ Herzrhyth- men, angeregt durch den Mathematiker Israel Gelfand, der sich fur¨ Anwendungen der Mathematik in der Biologie interessierte. 1964 entdeckte er die nach ihm benann- te Arnold-Diffusion. Diese ist nach Arnold sein wichtigster Beitrag zur KAM-Theorie“ ” und beschreibt die allgemeine Ursache der Instabilit¨at in (deterministischen) dynamischen Systemen mit mehreren Freiheitsgraden. Arnold besch¨aftigte sich ab 1963 auch mit den viel komplizierteren dynamischen Sy- stemen der Hydrodynamik, ebenfalls ein Arbeitsgebiet Kolmogorows. Arnold formulierte seine Untersuchung der Navier-Stokes- und Euler-Gleichungen als Differentialgeometrie ” unendlich dimensionaler Liegruppen“, deren Krummung¨ er bestimmte. Ein Nebenpro- dukt war nach Arnold der Beweis, dass Wettervorhersagen uber¨ l¨anger als zwei Wochen unm¨oglich sind. Gleichzeitig versuchte er die Existenz eines — sp¨ater sogenannten — strange attractors“ nachzuweisen. Die damaligen Untersuchungen waren aber durch das ” Fehlen ausreichender Computerkapazit¨aten sehr behindert. Mitte der 1960er Jahre begann er sich fur¨ Singularit¨atentheorie zu interessieren, sp¨ater eines seiner Hauptarbeitsgebiete. Nach eigenen Angaben hatte auch diese Arbeit ihre Wur- zel in der korrekten Formulierung eines Hilbert-Problems in der algebraischen Geometrie (des 16. Hilbert-Problems, wo ihm 1972 bedeutende Fortschritte gelangen), diesmal um Obstruktionen gegen die Aufl¨osung von Singularit¨aten von Gleichungen n-ten Grades zu untersuchen. Die Topologie der Ebene minus Singularit¨aten ist mit der Zopfgruppe (englisch: braid group) beschreibbar. Arnold untersuchte ihren Kohomologiering. In verschiedenen Aufs¨atzen hat er sich gegen die Bourbaki-Tradition der Lehre spezi- ell in Frankreich ausgesprochen, wo er ab den 1990er Jahren lehrte. Außerdem beklagte er die Vernachl¨assigung russischer Arbeiten in der westlichen“ Literatur, was h¨aufig zu ” Neuentdeckungen“ und unvollst¨andigen oder falschen Zuschreibungen fuhrte,¨ teilweise ” wegen der Sprachbarriere, teilweise aber nach Arnold auch aus Ignoranz. Arnold in- teressierte sich sehr fur¨ die Geschichte der Mathematik. In einem Interview sagte er, einen großen Teil seiner Kenntnisse habe er durch das Studium von Felix Kleins Geschichte der Mathematik im 19.Jahrhundert gelernt. Die Russische Methode“ der Literaturrecherche ” f¨angt denn auch in den Gesammelten Werken von Felix Klein Arnold erg¨anzt noch Poincare´ und in den Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen B¨anden der von Felix Klein und anderen herausgegebenen Enzyklop¨adie der mathematischen Wissenschaf- ” ten“ an. Um die Beitr¨age speziell der russischen Mathematiker ins rechte Licht zu rucken,¨ haben deren fuhrende¨ Vertreter, unter ihnen auch Arnold, mit der Herausgabe einer neuen, modernen Enzyklop¨adie (einer Reihe von Uberblicksartikeln¨ und -buchern,¨ wie

3 sie fruher¨ in Russland besonders fur¨ die Russian Mathematical Surveys“ geschrieben ” wurden) begonnen. Arnold ist auch bekannt fur¨ verschiedene von ihm gestellte Probleme, z. B. uber¨ die Existenz von Fixpunkten bei symplektischen Abbildungen kompakter symplektischer Mannigfaltigkeiten (wie sie etwa in der klassischen Mechanik auftreten) — teilweise gel¨ost von Andreas Floer Er erhielt unter anderem 1958 den Preis der Moskauer Mathematischen Gesellschaft sowie 1965 zusammen mit Andrei Kolmogorow den Leninpreis. 1962 hielt er einen Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Stockholm (Perturbation theo- ry and the problem of stability for planetary systems), 1966 Invited Speaker auf dem ICM in Moskau (Das Problem der Stabilit¨at und die ergodischen Eigenschaften der klassischen dynamischen Systeme) und 1958 auf dem in Edinburgh (Einige Fragen uber¨ Approxi- mation und Darstellung von Funktionen (russisch)). 1974 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress (ICM) in Vancouver (Critical Points of Smooth Functions) und 1983 einen Plenarvortrag auf dem ICM in Warschau (Singula- rities of Ray Systems). 1992 hielt er einen Plenarvortrag auf dem ersten Europ¨aischen Mathematikerkongress in Paris (Vasiliev’s Theory of Discriminants and Knots). 1982 erhielt er zusammen mit Louis Nirenberg vom Courant Institute of Mathema- tical Sciences der New York University den mit 400.000 Schwedischen Kronen dotierten Crafoord-Preis fur¨ außergew¨ohnliche Leistungen in der Theorie nichtlinearer partieller ” Differentialgleichungen“, vergeben von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Mit weiteren 400.000 schwedischen Kronen wurden die Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet in Schweden gef¨ordert. 1983 wurde er in die National Academy of Sciences, 1987 in die American Academy of Arts and Sciences und 1990 in die American Philosophical Society gew¨ahlt. Seit 1984 war er Mitglied ( associ´e´etranger“) der Acad´emiedes sciences. ” 1992 erhielt er die Lobatschewski-Medaille der Staatlichen Universit¨at Kasan, 1994 den Harvey Prize des Technion Institute in Haifa, 2001 den Dannie-Heineman-Preis und ebenfalls 2001 den Wolf-Preis fur¨ Mathematik. 2008 wurde ihm der Shaw Prize (gemein- sam mit Faddejew) zuerkannt. 2000 wurde der Asteroid (10031) Vladarnolda nach ihm benannt. 1991 war er einer der Grunder¨ der Unabh¨angigen Universit¨at Moskau und stand lange deren Vorstand vor. Zu seinen Doktoranden z¨ahlen Alexander Givental, Sabir Gussein-Sade, As- kold Chowanski, Boris Chessin, Wiktor Wassiljew, Alexander Wartschen- ko.

Cesare Arzela` (* 6. M¨arz 1847 in Santo Stefano di Magra, La Spezia; †15. M¨arz 1912 in Santo Stefano di Magra) war ein italienischer Mathematiker. Er entstammte einfachen Verh¨altnissen und ging 1856 bis 1858 in das Gymnasium in Sarzana und 1858 bis 1861 auf das Lyzeum von Pisa. Ab 1861 studierte er mit einem Stipendium an der Scuola Normale Superiore in Pisa (mit dem Ziel Lehrer zu werden) und auch an der Universit¨at Pisa mit dem Abschluss 1869. Seine Lehrer waren Enrico Betti, der seine Dissertation uber¨ Potentialtheorie betreute, und Ulisse Dini. Nach seinem Lehrerdiplom 1870 unterrichtete er zun¨achst in Macerata, blieb aber wissenschaftlich aktiv und ver¨offentlichte. 1872/73 erhielt er die Erlaubnis an der Universit¨at Pisa weiter zu studieren. Er h¨orte bei Betti Elastizit¨atstheorie und ver¨offentlichte uber¨ Deformation eines elastischen Ellipsoids mit Anwendung auf die Erdform. Danach lehrte er in Savona, ab 1875 in Como und danach am Technischen Institut in Florenz. Dort unterrichtete er

4 seine sp¨ateren Professorenkollegen und Freunde Rodolfo Bertazzi (1867–1941) und Vito Volterra. Ab 1878 wurde er nach einem Wettbewerb Professor fur¨ Algebra in Palermo und 1880 Professor fur¨ Analysis an die Universit¨at Bologna. 1880 erschien sein Algebra-Schulbuch, das große Verbreitung fand. 1884 erhielt er den Lehrstuhl fur¨ h¨ohere Analysis in Bologna. Ein Kollege von ihm wurde 1881 Salvatore Pincherle und unter ihnen wurden auch Abschlusse¨ in Mathematik in Bologna vergeben, was vorher nicht m¨oglich war da Professoren fur¨ h¨ohere Mathematik fehlten. Er forschte auf dem Gebiet der reellen Funktionen. Er arbeitete am Konzept der gleichm¨aßigen Konvergenz (1883), genauer fuhrte¨ er die streckenweise gleichf¨ormige Kon- vergenz ein (von Emile´ Borel 1905 quasigleichf¨ormige Konvergenz genannt), die nach ihm notwendige und hinreichende Bedingung fur¨ die Stetigkeit der Grenzfunktion war, gegen die eine Folge stetiger Funktionen konvergierte. 1885 bewies er einen Satz uber¨ die Vertauschbarkeit von Riemann-Integration mit der Grenzwertbildung bei Riemann- integrierbaren gleichm¨aßig beschr¨ankten Funktionenfolgen (von in sei- nem Satz uber¨ majorisierende Konvergenz verallgemeinert). 1889 wurde der Satz von Giulio Ascoli (1884) von ihm zum Satz von Arzel`a-Ascoliverallgemeinert (ver¨offentlicht in seinem Aufsatz Sulle funzioni di linee“ 1895). Der Satz von Arzela-Ascoli` stellt ” einen wichtigen mathematischen Satz auf dem Gebiet der Funktionalanalysis dar und besagt die Existenz einer gleichm¨aßig konvergenten Teilfolge fur¨ jede Folge gleichm¨aßig begrenzter und stetiger Funktionen. Sp¨ater wurde es als Aussage uber¨ Kompaktheit in Funktionenr¨aumen aufgefasst (ein Konzept das Maurice Frechet´ 1904 einfuhrte).¨ Ar- zela` selbst hoffte mit dem Satz das Dirichletprinzip streng zu begrunden,¨ was ihm aber nur unter Zusatzannahmen gelang. Er stand in Korrespondenz mit Volterra. Der Brief- wechsel ist eine Quelle fur¨ die Fruhphase¨ der Funktionalanalysis (von beiden Theorie der funzioni di linee, Linienfunktionen genannt). Das Konzept der Linienfunktion auf Kur- venmengen war fur¨ den weiteren Ausbau der Funktionalanalysis bei Maurice Frechet´ einflussreich. 1886/87 gab er den ersten Kurs uber¨ Galoistheorie in Italien, dessen Mit- schrift erhalten ist. Er benutzte vor allem ein Buch von Eugen Netto (Substitutionen- theorie) als Anregung. Die Unm¨oglichkeit der Aufl¨osung von Gleichungen mit Grad gr¨oßer als vier durch Radikale schrieb er Paolo Ruffini zu, wobei er m¨oglicherweise Zugang zu in Bologna noch vorhandenen Manuskripten von Ruffini hatte, da die Details seines Beweises zu Arzelas Zeit ansonsten schwer zug¨anglich waren. Zu seinen Schulern¨ geh¨orten Ettore Bortolotti, Leonida Tonelli und Giu- seppe Vitali. Er war Mitglied der Accademia dei Lincei und erhielt 1907 mit Guido Castelnuovo deren k¨oniglichen Preis fur¨ Mathematik in H¨ohe von 10.000 Lire.

Giulio Ascoli (* 20. Januar 1843 in Triest; †12. Juli 1896 in Mailand) war ein italie- nischer Mathematiker. Er beendete 1868 das Mathematik-Studium an der Scuola Normale Superiore in Pisa. Ab 1872 war er Professor fur¨ Algebra und Analysis am Polytechnikum von Mailand. 1879 wurde er Professor fur¨ Mathematik am Polytechnikum in Turin (Reale Istituto Tecnico Superiore). Er war korrespondierendes Mitglied der Mail¨ander Wissen- schaftsakademie (Istituto Lombardo). Sein Hauptgebiet waren reelle Funktionen und Fourierreihen. 1884 fuhrte¨ er gleichgra- dige Stetigkeit ein. Auf ihn ist auch der Satz von Arzela-Ascoli` zuruckzuf¨ uhren,¨ das zus¨atzlich nach Cesare Arzela` benannte, der es 1889 erweiterte. Darin bewies er die relative Kompaktheit (wie dies sp¨ater formuliert wurde) von Mengen gleichgradig stetiger und gleichm¨aßig beschr¨ankter Funktionen. Das wurde eine Grundlage der Weiterentwick- lung der Funktionalanalysis bei Maurice Frechet´ .

5 Sein Sohn Guido Ascoli war ebenfalls ein bekannter Mathematiker.

Rene´ Louis Baire (* 21. Januar 1874 in Paris; †5. Juli 1932 in Chamb´ery)war ein franz¨osischer Mathematiker. Er gilt als einer der Begrunder¨ der modernen Theorie reeller Funktionen. Insbesondere ist er dabei fur¨ den Kategoriensatz von Baire bekannt. Baire war der Sohn eines wenig bemittelten Schneiders. Er war ein ausgezeichneter Schuler¨ und konnte dank Stipendien das Lyc´eeLakanal und das Lyc´ee Henri IV. besuchen und zeichnete sich bei den landesweiten Prufungen¨ fur¨ die Eliteschulen (Concours G´en´eral) aus. Er studierte ab 1892 an der Ecole´ normale sup´erieure,wobei er unter anderem Ma- thematik bei Henri Poincare´ (dem er bei der Herausgabe seiner Thermodynamik- Vorlesungen assistierte), Charles Hermite und Emile´ Picard h¨orte und 1894 das Lizenziat in Mathematik und Physik erhielt, und wurde danach Gymnasiallehrer in Troy- es und ab 1896 in Bar-le-Duc (wo er fast ein Jahr wegen seines Gesundheitszustands unterbrechen musste). Daneben arbeitete er an seiner Dissertation uber¨ unstetige Funk- tionen und erhielt ein Stipendium zu einem Italien-Aufenthalt bei Vito Volterra. 1899 promovierte er in Paris (zu den Prufern¨ z¨ahlten Gaston Darboux, Paul Appell und Emile´ Picard) und wurde 1901 Professor (Maˆıtrede conf´erences)in Montpellier, hielt 1904 die Peccot-Vorlesungen am Coll`egede France und war ab 1905 an der Universit¨at (Facult´edes Sciences) Dijon (Charg´ede cours), wo er 1907 Professor wurde. Baire war seit seiner Jugend krank und musste schließlich seinen Beruf (sowohl Forschung als auch Lehre) aufgeben. Neben Problemen mit der Speiser¨ohre hatte er psychische bzw. psycho- somatische Probleme (Depressionen, Agoraphobie), die zeitweise die fur¨ die wissenschaft- liche Arbeit n¨otige Konzentration verhinderten. 1914 ging er nach Al`esiaund danach nach Lausanne zur Kur und musste den Ersten Weltkrieg dort verbringen. Er machte dort im Ersten Weltkrieg finanziell schwierige Zeiten durch. In den 1920er Jahren kamen zwar Ehrungen auf ihn zu (er erhielt 1919 den Prix Gegner der Acad´emiedes sciences, wurde Ritter der Ehrenlegion und 1922 korrespondierendes Mitglied der Acad´emiedes sciences) aber nicht die erhoffte Professur in Paris. 1925 ging er als Professor in Dijon in den Ruhestand und erhielt eine Pension, die aber in den Inflationsjahren rasch zerfiel. Ein Brief an seinen Bruder Georges vom 24. Juni 1932, in dem er ihm von seinem schlechten Gesundheitszustand und seiner Depression schrieb (er konnte nach eigenen Worten kaum etwas zu sich nehmen und glaubte außerdem, an einer Gehirnhautentzundung¨ zu leiden), alarmierte die Familie und sein Bruder schickte seine Ehefrau nach Chambery, um nach ihm zu sehen. Sie ließ einen Arzt kommen, der aber meinte ihm fehle nichts Ernstes be- ziehungsweise seine Leiden w¨aren psychosomatischer Natur. Kurz vor seinem Tod wurde er in eine psychiatrische Klinik in Chamb´ery-Bassoneingewiesen, wo er bald darauf am 5. Juli starb. Baire sah sich von seinen Zeitgenossen nur unzureichend gewurdigt¨ und in Konkur- renz zu Henri Lebesgue, der obwohl junger¨ eine steile Karriere machte. Die Zuruck-¨ setzung, die er empfand, war ein Grund fur¨ seine Depressionen. Er stand ab 1898 mit Emile´ Borel in Briefwechsel und mit Charles-Jean de La Vallee´ Poussin, mit dem er sich aber sp¨ater zerstritt. De La Vallee´ Poussin machte aber die Ideen Baires in seinem Analysis-Kurs weiteren Kreisen bekannt. Wie Borel und Lebesgue war er ein Anh¨anger der cantorschen Mengenlehre in Frankreich, die er konsequent in seinen Arbeiten verwendete. Zu seinen Studenten z¨ahlte Arnaud Denjoy.

Irvine Noel Baker was born on 10 August 1932 and died, of a heart attack, on 20 May 2001. He was the only child of a farming family living near the township of Virginia

6 north of Adelaide in South Australia, and a fourth-generation Australian. From 1938 to 1944 he attended the local school, winning a scholarship to King’s College, Adelaide, and from there another scholarship to Prince Alfred College, Adelaide. Here he was inspired by an enthusiastic mathematics teacher, Mr. Williams, who expected pupils to practise mathematics assiduously, even on Saturday mornings. Prince Alfred College still aims to foster a love of mathematics today, and it has recently launched a centre for excellence in mathematics, named after Noel. Dies ist das Vorwort eines Nachrufs von Phil Rippon. In Wikipedia ist kein Eintrag zu finden. Den vollst¨andigen Nachruf insbesondere uber¨ Bakers mathematisches Werk finden Sie hier: https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/ A152B474E66B853EAB26923FCB1BDB85/S0024609304004199a.pdf/ irvine noel baker 19322001.pdf

Detlef Bargamann ist ein deutscher Mathematiker und Schuler¨ von Walter Bergweiler. Da in Wikipedia leider kein Eintrag zu finden ist, gebe ich hier den Link zu seiner veralteteten Homepage an: https://analysis.math.uni-kiel.de/bargmann/bargmann.engl.html

Alan Frank Beardon (* 16. April 1940) ist ein britischer Mathematiker, der sich mit Analysis und geometrischen Anwendungen von Gruppen besch¨aftigt. Beardon wurde 1964 bei Walter Hayman vom Imperial College London promoviert. Er war Professor fur¨ Funktionentheorie an der Universit¨at Cambridge. 2007 wurde er emeritiert. Er besch¨aftigt sich mit geometrischen Fragen aus der komplexen Analysis wie bei der Iteration rationaler Funktionen (Juliamenge) und diskreter Gruppen von M¨obiustrans- formationen (Kleinsche Gruppen). Daruber¨ schrieb er auch Lehrbucher.¨ 1991 bewies er mit Kenneth Stephenson eine diskrete Version des Lemmas von Schwarz und Pick fur¨ Kreispackungen und eines entsprechenden Uniformisierungstheorems (nachdem schon William Thurston 1985 eine diskrete Version des Riemannschen Abbildungssatzes mit Kreispackungen eingefuhrt¨ hatte). Zu seinen Doktoranden z¨ahlt Samuel Patterson. 1997 erhielt er den Lester Ran- dolph Ford Award fur¨ Sums of powers of integers“, 2017 den G. de B. Robinson Award ” fur¨ Non-discrete Frieze Groups.

Prodipeswar Bhattacharyya ist ein indischer Mathematiker, der 1969 bei Irvine Noel Baker am Department of Mathematics am Imperial College in London promoviert hat. Seine Dissertation ist zu finden unter dem Link: https://spiral.imperial.ac.uk/bitstream/10044/1/15705/2/ Bhattacharya-P-1969-PhD-Thesis.pdf

Walter Bergweiler ist ein deutscher Mathematiker (der ubrigens¨ junger¨ ist als ich). Da in Wikipedia leider kein Eintrag zu finden ist, gebe ich hier den Link zu seiner Homepage an: https://www.math.uni-kiel.de/analysis/de/bergweiler

Wilhelm Johann Eugen Blaschke (* 13. September 1885 in Graz; † 17. M¨arz 1962 in Hamburg) war ein ¨osterreichischer Mathematiker und Autor. Seine Arbeiten haben

7 die Entwicklung der modernen Differentialgeometrie entscheidend beeinflusst. Sein Vater Josef Blaschke (* 1852; † 1917) lehrte Darstellende Geometrie an der Oberrealschule in Graz und beeinflusste seinen Sohn fruh¨ im Sinne der rein geometrischen Beweise von Jakob Steiner. Seine Mutter war Maria Blaschke (* 1864; † 1945), geborene Edle von Mor zu Morberg und Sunnegg. An der Technischen Universit¨at Graz studierte er Bauingenieurwesen, wo seine Hin- wendung zur Mathematik beeinflusst von Oskar Peithner von Lichtenfels verst¨arkt wurde und er zum Studium der Mathematik an der Universit¨at Wien wechselte und bei Wilhelm Wirtinger 1908 promovierte (Uber¨ eine besondere Art von Kurven vierter Klasse). Er ging dann nach Pisa zu Luigi Bianchi und nach G¨ottingen zu Felix Klein, David Hilbert und Carl Runge. 1910 habilitierte er sich bei Eduard Study in Bonn. Bevor er 1913 Professor in Prag wurde, arbeitete er noch mit dem Lie-Schuler¨ Friedrich Engel in Greifswald zusammen. 1915 ging er nach Leipzig, wo er in seiner Antrittsvorle- sung Kreis und Kugel“ Jakob Steiners Spuren folgt, 1917 nach K¨onigsberg und von dort ” uber¨ Tubingen¨ 1919 nach Hamburg, das er mit der Berufung u.a. von Erich Hecke und Emil Artin zu einem Zentrum der Mathematik machte. Dort blieb er bis zu seiner Emeritierung 1953, behielt aber auch danach eine rege Reiset¨atigkeit bei. 1927/28 war er Rektor der Universit¨at Hamburg (Antrittsrede: Leonardo und die Naturwissenschaften). Blaschke opponierte im NS-Staat anfangs gegen dessen Isolationsbestreben auf wis- senschaftlichem Gebiet, wurde dann Mitglied der NSDAP. Am 11. November 1933 geh¨orte er zu den Aufrufern fur¨ das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. Blaschke war in den Nachkriegsjahren stark umstrit- ten. Er wurde 1946 entnazifiziert und bekam seinen Lehrstuhl in Hamburg zuruck,¨ den er bis zu seiner Emeritierung 1953 behielt. Er hatte aber auch dann sehr viele internatio- nale Kontakte. Zu seinen Schulern¨ geh¨orten der nach dem Zweiten Weltkrieg internatio- nal fuhrende¨ Geometer Shiing-Shen Chern, der 1936 bei ihm promovierte, Gerhard Thomsen und Luis Santalo´. Ein weiterer Mitarbeiter war Gerrit Bol. Blaschke arbeitete auf zahlreichen Gebieten der Differentialgeometrie (besonders affine Differentialgeometrie) und der Geometrie, z.B. uber¨ Minimaleigenschaften ( iso- ” perimetrische Eigenschaften“) geometrischer Figuren, konvexe K¨orper, Integralgeometrie und die Geometrie der Gewebe“, gruppentheoretische Eigenschaften der Geometrie, Geo- ” metrie der Kreise und Kugeln (nach Edmond Laguerre, August Ferdinand Mobius¨ und Sophus Lie). In der Funktionentheorie ist das Blaschkeprodukt nach ihm benannt, ferner der Konvergenzsatz von Blaschke und der Auswahlsatz von Blaschke. Er ist der Verfasser vieler ausgezeichneter Lehrbucher,¨ besonders seine Vorlesungen ” uber¨ Differentialgeometrie“ von 1921/29. Auch Felix Kleins Vorlesungen uber¨ h¨ohere Geometrie hat er neu herausgegeben und erg¨anzt. Blaschke war Mitherausgeber der Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Eine Vermutung von Blaschke uber¨ die Charakterisierung der n-dimensionalen Sph¨are als Wiedersehen-Mannigfaltigkeit wur- de von Jerry Kazdan, Marcel Berger, Alan Weinstein und Chung Tao Yang bewiesen. Am 4. April 1957 wurde Blaschke als Ehrenmitglied in die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu aufgenommen. Er war seit 1943 auch Mitglied der Leopoldina. Er war Mitglied der Osterreichischen¨ Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und korrespondierendes Mitglied der Bayerischen und S¨achsischen Akademie der Wissenschaften sowie Ehrendoktor der Universit¨aten Sofia, Padua, Karlsruhe und Greifswald. Blaschke heiratete am 10. April 1923 die Hamburgerin Auguste Meta Anna Rott-¨

8 ger (* 1893; † 1992), mit der eine Tochter und einen Sohn hatte. Er starb in der Fruhe¨ des 17. M¨arz 1962 an einem Herzanfall als Folge von Komplikationen nach einer, uber¨ einen langen Zeitraum hinweg unbemerkt gebliebenen, Blinddarmentzundung.¨ Sein Grab befin- det sich auf dem Friedhof Ohlsdorf, unweit des Haupteinganges. Die Wilhelm-Blaschke- Ged¨achtnisstiftung in Hamburg (gegrundet¨ von Emanuel Sperner) vergibt ihm zu Eh- ren eine Medaille fur¨ Leistungen in der Geometrie. Preistr¨ager waren unter anderem Kat- sumi Nomizu und Kurt Leichtweiß. Sein wissenschaftlicher Nachlass befindet sich im Institut fur¨ die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik der Universit¨at Hamburg.

Lucjan Emil Bottcher¨ (* 7. Januar 1872 in Warschau; †29. Mai 1937 in Lemberg) war ein polnischer Mathematiker, nach dem die insbesondere in der komplexen Dynamik wichtige b¨ottchersche Funktionalgleichung benannt ist. Bottcher¨ studierte in Warschau, Lemberg und Leipzig. In Leipzig wurde er 1898 un- ter Sophus Lie und Adolph Mayer mit der Dissertation Beitr¨age zu der Theorie der ” Iterationsrechnung“ promoviert. Anschließend war er an der Polytechnischen Hochschule in Lemberg, zun¨achst als Assistent, ab 1910 dann als Adjunkt. Bottcher¨ schrieb un- gef¨ahr 20 mathematische Arbeiten, die sich zumeist — wie bereits die Dissertation — mit Fragen der Iterationstheorie besch¨aftigten. Des Weiteren verfasste er einige Lehrbucher.¨ Am 31. August 1935 wurde er pensioniert. Er war verheiratet und hatte vier Kinder.

Harald Bohr war der Sohn des d¨anischen Physiologen Christian Bohr, sein Bruder war der Physiker Niels Bohr. Bohrs Forschungsgebiete lagen im Bereich der Funktionentheorie und der analytischen Zahlentheorie. Er studierte ab 1904 an der Universit¨at Kopenhagen Mathematik. Zun¨achst verfolgte Bohr aber auch eine Karriere als Sportler. Er galt, neben seinen F¨ahigkeiten als Wis- senschaftler, als einer der besten Fußballer seiner Zeit: Bohr war Spieler der d¨anischen Nationalmannschaft und gewann bei den Olympischen Sommerspielen 1908 die Silberme- daille; zusammen mit seinem Bruder war er fur¨ den Verein Akademisk Boldklub aktiv. 1910 wurde er in Kopenhagen promoviert (bei , Beitr¨age zur Theo- ” rie der Dirichletreihen“) und war einige Monate in G¨ottingen bei Landau. Der Vertei- digung seiner Doktorarbeit sollen weit mehr fußballerisch als mathematisch interessierte Zuschauer beigewohnt haben. Ein Schwerpunkt seiner mathematischen Arbeiten waren Dirichletreihen. Insbesondere untersuchte er, teilweise zusammen mit Edmund Landau, die riemannsche ζ-Funktion, die wohl bekannteste und wichtigste Dirichletreihe. 1914 formulierten die beiden den Satz von Bohr-Landau, welcher — vereinfacht ausgedruckt¨ — besagt, dass die uberwiegen-¨ de Anzahl der Nullstellen der riemannschen ζ-Funktion in einem beliebig kleinen Streifen um die kritische Gerade liegt. Daruber¨ hinaus ist Bohr der Begrunder¨ der Theorie der fastperiodischen Funktionen in einer Reihe von Arbeiten 1924 bis 1926 in den Acta Ma- thematica. In der Theorie der Gammafunktion ist er einer der Namensgeber fur¨ den Satz ∞ X n von Bohr-Mollerup. Auch der Satz, dass aus | anz | ≤ 1 fur¨ |z| < 1 folgt, dass n=0 ∞ X n 1 |anz | ≤ 1 fur¨ |z| ≤ 3 , wird heute Satz von Bohr (uber¨ Potenzreihen) genannt. n=0 1 Bohr hatte ihn 1914 eigentlich nur fur¨ die Konstante 6 . Dass der Satz fur¨ frac13 und 1 dass 3 bestm¨oglich ist, wurde sp¨ater von Marcel Riesz, Issai Schur und Friedrich Wilhelm Wiener jeweils unabh¨angig bewiesen.

9 1915 wurde Bohr Professor an der Polytechnischen Lehranstalt in Kopenhagen, 1930 wurde er an die Universit¨at Kopenhagen berufen. Von 1926 bis 1951, unterbrochen nur von 1930 bis 1936, war er Pr¨asident der D¨anischen Mathematischen Gesellschaft (DMF). 1925 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der G¨ottinger Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. Seit 1926 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1945 wurde er in die American Philosophical Society aufgenommen. 1932 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Zurich¨ (Fastperiodische Funktionen einer komplexen Ver¨anderlichen) und 1950 war er Invited Speaker auf dem ICM in Cambridge (Massachusetts) (A survey of the different proofs of the main theorems in the theory of almost periodic functions). 1934 sorgte ein offener Brief von an Bohr im Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) fur¨ einen Skandal, der Bieberbachs Ruck-¨ tritt von seinen Amtern¨ in der DMV zur Folge hatte. Bieberbach hatte diesen Brief, in dem er auf eine Kritik von Bohr (der judische¨ Vorfahren hatte) an seiner Mathematiker- Typisierung einging, ohne Abstimmung im Jahresbericht ver¨offentlicht.

Andreas Bolsch ist ein deutscher Mathematiker und Schuler¨ von Christian Pom- merenke, Technische Unisversit¨at Berlin. Leider ist kein Eintrag in Wikipedia zu finden. Er lehrt heute an der Technischen Hochschule Mittelhess, Campus Gießen.

Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor (* 3. M¨arz 1845 in Sankt Petersburg; †6. Januar 1918 in Halle an der Saale) war ein deutscher Mathematiker. Er lieferte wichtige Beitr¨age zur modernen Mathematik. Insbesondere ist er der Begrunder¨ der Mengenlehre und ver¨anderte den Begriff der Unendlichkeit. Der revolution¨are Gehalt seines Werks wurde erst im 20. Jahrhundert richtig erkannt. Cantor wurde als Sohn von Georg Woldemar Cantor, einem wohlhabenden Kaufmann und B¨orsenmakler, und Marie Cantor, geb. Bohm¨ , in St. Petersburg, der damaligen Hauptstadt Russlands, geboren. Sein Vater war in Kopenhagen geboren und in jungen Jahren mit seiner Mutter nach St. Petersburg gekommen, wo er in der dortigen deutschen lutherischen Mission aufgezogen worden war. Die Aussagen Georg Cantors, sein Vater stamme aus einer sephardischen Familie und sei erst in Sankt Petersburg lutherisch getauft worden, lassen sich folgendermaßen erg¨anzen: Der am 6. Mai 1814 den judischen¨ Eheleuten Lipman und Esther Cantor in Kopenhagen geborene Sohn erhielt den Namen Hirsch und wurde zu einem bisher nicht bekannten Zeitpunkt auf den Namen Georg Woldemar getauft. Der Tee- und Porzellanh¨andler Lipman Jacob Cantor hatte Esther, geborene Meyer, verwitwete Levy, 1811 geheiratet. Lipman Cantor geh¨orte zwar der portugiesisch-judischen¨ Gemeinde an, war jedoch sehr wahrscheinlich ein Nachkomme des um 1680 nach Kopenhagen eingewanderten Abraham Cantor aus Hil- desheim. Georg Cantors Mutter war in St. Petersburg geboren, r¨omisch-katholisch, und stammte aus einer bekannten ¨osterreichischen Musikerfamilie. Die Großeltern mutterli-¨ cherseits, Franz Bohm¨ und Marie Bohm¨ , geb. Morawek, waren beide Berufsmusiker (Violinisten), Franz Bohm¨ war Kapellmeister der Kaiserlichen Oper in Sankt Petersburg und der Bruder des Geigers Joseph Bohm¨ . Die Kinder wurden im lutherischen Glauben und in einem deutschen kulturellen Um- feld aufgezogen. Der Vater war sehr fromm und instruierte seinen Sohn in religi¨osen Din- gen. Zeit seines Lebens blieb Georg Cantor ein tief religi¨oser Mensch. Die Elementar- schule besuchte er in Sankt Petersburg. Als er 11 Jahre alt war, siedelte die Familie wegen

10 des schlechten Gesundheitszustandes des Vaters 1856 von St. Petersburg in das mildere Klima der Kurstadt und etwas sp¨ater nach Frankfurt am Main uber.¨ Nach dem Schulabschluss ( mit Auszeichnung“) 1860 an der Realschule Darmstadt, ” wechselte er auf die H¨ohere Gewerbeschule Darmstadt, die heutige Technischen Univer- sit¨at Darmstadt. Dort begann er auf Wunsch seines Vaters eine Berufsausbildung fur¨ Ingenieure. 1862 gelang es ihm, den Vater davon zu uberzeugen,¨ dass seine St¨arken eher in der Mathematik lagen, und er begann ein Mathematikstudium am Polytechnikum in Zurich.¨ 1863 wechselte er an die Universit¨at nach Berlin. 1866 besuchte er ein Sommer- semester lang die Universit¨at G¨ottingen und wurde 1867 an der Universit¨at Berlin bei Ernst Eduard Kummer promoviert. Zu seinen Lehrern z¨ahlten Karl Weierstraß, Ernst Eduard Kummer und Leopold Kronecker. Unmittelbar danach wurde er als Mathematiklehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium Berlin t¨atig. Bereits zu dieser Zeit litt er zeitweilig an Depressionen. Nach der Habilitation 1869 an der Universit¨at Hal- le mit dem Thema De transformatione formarum ternarium quadricarum“ lehrte und ” arbeitete Cantor bis zu seinem Lebensende in Halle, zun¨achst als Privatdozent, seit 1872 als Extraordinarius und seit 1877 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1913 als ordentlicher Professor. In Halle verkehrte er unter anderem freundschaftlich mit Edmund Husserl, dem Begrunder¨ der Ph¨anomenologie. Im Jahre 1870 gelang ihm die L¨osung des mathematischen Problems der Darstellung einer Funktion als Summe trigonometrischer Reihen. Es folgten ab 1872 weitere Arbeiten uber¨ trigonometrische Reihen und 1873 der Beweis, dass rationale Zahlen abz¨ahlbar sind und es zu jeder naturlichen¨ Zahl genau eine rationale Zahl gibt. Bereits im darauffolgenden Jahr gelang ihm der Umkehrschluss, dass reelle Zahlen nicht abz¨ahlbar sind. Damit bewies er auch, dass beinahe alle Zahlen transzendent sind. 1874 heiratete er Vally Guttmann, mit der er zwei S¨ohne und vier T¨ochter hatte (das letzte Kind wurde 1886 geboren). Der Sohn Erich war Arzt, die Tochter Else ei- ne Konzerts¨angerin und bekannte Musikp¨adagogin. Seine Flitterwochen verbrachte er im Harz, wo er auch intensiv mit Richard Dedekind, einem engen Freund, den er zwei Jahre zuvor w¨ahrend eines Urlaubs in der Schweiz kennengelernt hatte, uber¨ Mathematik diskutieren konnte. Im gleichen Jahr setzte er seine Ver¨offentlichungen zur Mengenlehre mit Uber¨ eine Eigenschaft des Inbegriffs aller reellen algebraischen Zahlen“ fort. 1877 ” behandelte er geometrische Anwendungen der Mengenlehre, zum Beispiel, ob ein Qua- drat mit der Seitenl¨ange 1 genauso viele Elemente enth¨alt wie die Linie zwischen 0 und 1. Obwohl er ursprunglich¨ von der Annahme ausging, dass es nicht so sei, war er selbst uber¨ seine gemachte Entdeckung und die Beweisfuhrung¨ uberrascht.¨ Ich sehe es, aber ” ich glaube es nicht“ schrieb er selbst. Das hatte große Auswirkungen auf die bisherigen geometrischen Anschauungen. Die dazu von ihm angefertigten Abhandlungen, die er zur Ver¨offentlichung an Crelles Journal geschickt hatte, wurden von seinem fruheren¨ Lehrer Leopold Kronecker zuruckgehalten,¨ der ein Vertreter finitistischer Mathematik war, dem Begriff der Unendlichkeit skeptisch gegenuberstand¨ und sich zu einem einflussreichen Gegner der cantorschen Mengenlehre entwickelte. Erst die Intervention seines Freundes Dedekind fuhrten¨ zur Ver¨offentlichung. Ab 1879 entwickelte er weitere revolutionierende Ideen zur Mengenlehre. So gab er bis 1884 eine Artikelreihe mit dem Titel Uber¨ unend- ” liche lineare Punktmannigfaltigkeiten“ heraus. Darin begrundete¨ er die Grundlagen und Haupts¨atze der Mengenlehre. Teil 5 der Reihe besch¨aftigt sich mit den Grundlagen einer ” allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre“. Der Widerstand gegen seine mathematischen Ideen belasteten Cantor und fuhrte¨ mit dazu, dass er fur¨ fast zehn Jahre sein mathematisches Fachgebiet verließ und sich mit

11 literaturhistorischen Forschungen, philosophischen und theologischen Themen besch¨aftig- te. Das erfolgte fast zeitgleich mit dem st¨arkeren Ausbruch seiner Krankheit, die ihn in der zweiten Lebensh¨alfte immer mehr dominierte. So litt Cantor von 1884 an wieder- holt an einer manisch-depressiven Erkrankung und musste sich erstmals in psychiatrische Behandlung begeben. Cantors Besch¨aftigung mit der Frage nach dem wahren“ Autor der ” shakespeareschen Werke f¨allt in die erste Zeit seiner geistigen Erkrankung. Er sprach sich in mehreren Ver¨offentlichungen fur¨ Francis Bacon als Verfasser aus. Ahnliche¨ Er¨orte- rungen stellte Cantor auch in Hinblick auf die Werke von Jakob Bohme¨ und John Dee an. Dieses sehr forcierte literaturgeschichtliche Engagement wird oft als Folge seiner Geisteskrankheit betrachtet, doch war die Beteiligung an dem R¨atselraten um Shakes- peare allgemein sehr verbreitet, und Cantor zeigte stets an Fragen außerhalb seines Fachgebietes großes Interesse, besonders an Philosophie und (katholischer) Theologie, die fur¨ ihn in engem Bezug zu den mengentheoretischen Problemen der Unendlichkeit stand. In diesen zehn Jahren erfuhr er zahlreiche Ehrungen und erlebte auch die zunehmen- de Wertsch¨atzungen seiner bisherigen mathematischen Erkenntnisse. Er wurde Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und beteiligte sich aktiv an der Grundung¨ der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, die 1890 erfolgte. Cantor wurde zum ersten Vorsitzenden gew¨ahlt. Erst 1895 griff er seine Arbeiten zur Mengenlehre wieder konsequent auf. Er ver¨offentlicht die Beitr¨age zur transfiniten Mengenlehre“, besch¨aftigt ” sich mit der Kontinuumshypothese und besuchte 1897 den ersten internationalen Mathe- matikerkongress in Zurich.¨ 1899 folgte ein zweiter Sanatoriumsaufenthalt. Kurz danach starb Cantors jungster¨ Sohn pl¨otzlich (w¨ahrend eines Vortrags von Cantor bezuglich¨ der Bacon-Theorie und Shakespeare). Diese Trag¨odie verst¨arkte seine Depressionen und beeintr¨achtigte seine mathematische Arbeit, weshalb er 1903 erneut in einem Sanatorium behandelt wurde. Ein Jahr sp¨ater hielt Julius Konig¨ auf dem 3. Internationalen Mathematikerkongress in Heidelberg einen Vortrag, in dem er vermeintlich beweisen konnte, dass die M¨achtigkeit des Kontinuums unter den Alephs uberhaupt¨ nicht vorkommt. Das widersprach Cantors Kontinuumshypothese. Als Reaktion auf diesen in seiner Wirkung als sensationell“ emp- ” fundenen Vortrag soll Cantor sich aufgewuhlt¨ und emp¨ort daruber¨ gezeigt haben, dass man es gewagt hatte, seine (laut seiner Aussage von Gott ubermittelte)¨ Studie widerlegen zu wollen und auch daruber,¨ dass seine T¨ochter und Kollegen die vermeintliche Wider- legung mitanh¨oren mussten und die damit verbundene an ihm vollzogene Demutigung.¨ Obwohl Ernst Zermelo schon einen Tag sp¨ater demonstrierte, dass Julius K¨onigs Be- weisfuhrung¨ falsch war, verblieb Cantor schockiert, ver¨argert und begann sogar, an seinem Glauben zu zweifeln. (Hinsichtlich der Reaktion Cantors auf K¨onigs Vortrag liegen seitens der Teilnehmer des Kongresses auch abweichende Schilderungen vor.) 1911 wurde Cantor als einer der bevorzugten ausl¨andischen Gelehrten zum 500. Jahrestag der Grundung¨ der Universit¨at St. Andrews in Schottland eingeladen. Zu dieser Zeit ver¨offentlichte Bertrand Russell mit Alfred North Whitehead das beruhmte¨ Werk Principia Mathematica, in dem Russell sich h¨aufig auf Cantors Arbeiten bezog. In der Hoffnung, Bertrand Russell bei diesem Anlass zu treffen, nahm Cantor an der Grundungsfeier¨ von St. Andrews teil, eine Begegnung kam nicht zustande. Ein Jahr sp¨ater wollte dieselbe Universit¨at Cantor den Ehrendoktortitel verleihen, aber Cantor konnte durch seine Krankheit gehindert nicht pers¨onlich daran teilnehmen. 1913 ging Cantor in Pension, w¨ahrend des Ersten Weltkrieges litt er an Armut und Mangelern¨ahrung. Die ¨offentliche Feier zu seinem 70. Geburtstag wurde wegen des Krieges abgesagt. Am 6. Januar 1918 starb Georg Cantor an einer Herzinsuffizienz

12 in Halle in dem Sanatorium, in dem er das letzte Jahr seines Lebens verbracht hatte. Sein Grab ist auf dem Friedhof Giebichenstein in Halle erhalten. Sein Nachlass wird vom Zentralarchiv deutscher Mathematiker-Nachl¨asse an der Nieders¨achsischen Staats- und Universit¨atsbibliothek G¨ottingen aufbewahrt. Cantor befasste sich zun¨achst mit Zahlentheorie und wandte sich in Halle unter dem Einfluss von Eduard Heine Fourierreihen zu. Er bewies 1869 die Eindeutigkeit der Darstellung von Funktonen durch trigonometrische Reihen, ver¨offentlicht im Journal fur¨ die reine und angewandte Mathematik 1870. Genauer bewies er, dass falls

∞ c0 X + c cos kx + d sin kx = 0 2 k k k=1

fur¨ alle 0 ≤ x ≤ 2π cj = dj = 0 fur¨ alle j ∈ N>0. Der Satz bleibt auch bei endlich vielen Ausnahmestellen x gultig¨ (in denen die Fourierreihe nicht konvergiert oder ungleich Null ist). Er baute beim Beweis auf den Untersuchungen von Bernhard Riemann auf und korrespondierte im Vorfeld des Beweises mit seinem Studienfreund Hermann Amandus Schwarz, der einen wichtigen Baustein des Beweises lieferte. Die Theorie der Fourier- reihen war auch der Ausgangspunkt seiner Besch¨aftigung mit Mengenlehre, als er sich fragte, ob sein Eindeutigkeitssatz bei unendlich vielen Ausnahmestellen erhalten bleibt. Cantor begrundete¨ in den Jahren 1874 bis 1897 die Mengenlehre, die er anfangs (1877) noch Mannigfaltigkeitslehre nannte. Er formulierte 1895 folgende oft zitierte Defi- nition der Menge:

Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohl- ” unterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente von M genannt werden) zu einem Ganzen.“

Cantor kam zu seiner Mengenlehre durch die Betrachtung eindeutiger (heute: bijek- ” tiver“) Zuordnungen der Elemente von unendlichen Mengen. Er bezeichnete Mengen, fur¨ die eine solche Beziehung hergestellt werden kann, als ¨aquivalent oder von glei- ” cher M¨achtigkeit“, auch gleichm¨achtig“. Demnach ist die Menge der naturlichen¨ Zah- ” len {0, 1, 2, 3, 4,...} der Menge der rationalen Zahlen (Bruche)¨ ¨aquivalent, was er durch sein Diagonalisierungsverfahren zeigte. Mit seinem zweiten Diagonalargument bewies er dann, dass die Menge der reellen Zahlen m¨achtiger ist als die der naturlichen¨ Zahlen. Eine Verallgemeinerung war der Satz von Cantor. Die Arbeiten waren unter den Mathemati- kern seiner Zeit wegen der ungekl¨arten Fragen hinsichtlich des aktual Unendlichen“ und ” der Einfuhrung¨ der transfiniten Zahlen umstritten. Insbesondere geriet Cantor in einen tiefgreifenden wissenschaftlichen Gegensatz zu Leopold Kronecker. Man vermutet hierin den Grund fur¨ die Verz¨ogerung der Publikation von Cantors Artikel Ein Beitrag ” zur Mannigfaltigkeitslehre“ in Crelles Journal. Diese Kontroverse zwischen Cantor und Kronecker wird als Pr¨aludium fur¨ den sp¨ateren Streit zwischen Intuitionisten und ” Formalisten“ gesehen. Cantor hatte schon fruh¨ Unterstutzung¨ durch einflussreiche Ma- thematiker, darunter David Hilbert, von dem das klassische Zitat stammt, Cantor habe ein Paradies geschaffen, aus dem niemand die Mathematiker vertreiben k¨onne und Henri Poincare´e´). Cantor selbst geh¨orte auch zu den ersten Entdeckern der Antinomien der naiven Mengenlehre und bewies mit den beiden cantorschen Antinomien, dass gewisse Klassen keine Mengen sind. Er ist sogar als Sch¨opfer der axiomatischen Mengenlehre anzusehen,

13 denn Cantors Mengenaxiome aus Briefen von 1889/99, die allerdings erst posthum publi- ziert wurden, nehmen die Axiome der sp¨ateren Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre vorweg. Auf Cantor geht auch die cantorsche Paarungsfunktion (auch Nummerierungsfunk- tion) zuruck.¨ Schließlich schuf Cantor 1870 mit der sogenannten Punktmenge die Grundlagen der Theorie der sp¨ater von Benoˆıt Mandelbrot so bezeichneten Fraktale. Die cantorsche Punktmenge folgt dem Prinzip der unendlichen Wiederholung selbst¨ahnlicher Prozesse. Die Cantormenge gilt als das ¨alteste Fraktal uberhaupt.¨

Constantin Caratheodory´ (griechisch Kωνσταντινoς Kαραθεoδωρη Konstant´ı- nos Karatheodor´ı;(* 13. September 1873 in Berlin; † 2. Februar 1950 in Munchen)¨ war ein Mathematiker griechischer Herkunft. In der Literatur findet sich der Nachname auch als Karatheodori, Caratheodory oder Carath´eodori. Er wurde als Sohn von Stephanos Caratheodory´ , einem griechischen Diplomaten im Dienste des Osmanischen Reiches, geboren. Die Familie Caratheodory´ weist eine lange diplomatische Tradition auf und mehrere Familienmitglieder hatten wichtige Regierungsposten in Konstantinopel inne. Ein Großonkel, Alexander Caratheodory´ Pascha, der zugleich der Vater seiner Ehefrau Euphrosyne war, hatte 1878 als Außenminister die Hohe Pforte auf dem Berliner Kon- gress vertreten. Die Familie stammt ursprunglich¨ aus dem Dorf Vosnochori (Boσνoχωρι) heute Nea Vyssa (Nεα Bυσσα) bei Orestiada. Caratheodory´ wuchs in Brussel¨ auf, wo sein Vater ab 1875 Botschafter war. Bereits in seinen Jugendjahren wurde seine mathematische Begabung deutlich und er gewann diverse schulische Auszeichnungen. Zweimal gewann er bei den Concours g´en´ereauxaller h¨oheren Schulen des Landes den ersten Preis in Mathematik. 1891 legte er das belgische Abitur ab und trat als ´el`eve ´etranger in die Ecole´ Militaire de Belgique in Brussel¨ ein. Das Ingenieurstudium an dieser Kadettenanstalt schloss er nach vier Jahren ab. Als Bauingenieur im Offiziersrang begab er sich 1895 in das Osmanische Reich nach Mytilene (Lesbos), um dort beim Ausbau des Straßennetzes zu helfen. Weitere Bauprojek- te verhinderte der Griechisch-Turkische¨ Krieg 1896/97. Carath´eodory ging nach London, um wenig sp¨ater fur¨ eine britische Firma am Suez-Kanal zu arbeiten. In Assiout arbei- tete er zwei Jahre lang als Assistant-Engineer fur¨ die Nil-Regulierung. In seiner Freizeit besch¨aftigte er sich mit der Mathematik und studierte die Werke Jordans. Er fuhrte¨ Mes- sungen im Eingang der Cheops-Pyramide durch, die er auch ver¨offentlichte. Hier fasste er zur großen Uberraschung¨ seiner Familie den Entschluss, sich kunftig¨ ausschließlich mit der Mathematik zu besch¨aftigen. Caratheodory´ besuchte die Universit¨aten Berlin (1900–1901) und G¨ottingen (1902– 1904). Fur¨ seine Promotion an der Universit¨at G¨ottingen, die zu dieser Zeit wegen ihrer herausragenden Mathematiker weltweit einen hervorragenden Ruf genoss, w¨ahlte er das Thema Uber¨ die diskontinuierlichen L¨osungen in der Variationsrechnung“. In G¨ottingen ” wurde die Begabung Carath´eodorys erkannt und noch am Vortag des Rigorosums trat Felix Klein an ihn mit dem Vorschlag heran, sich in G¨ottingen zu habilitieren. Den Doktorgrad erwarb er am 1. Oktober 1904. Sein Doktorvater war Hermann Minkowski. Bereits im M¨arz des darauffolgenden Jahres erhielt er die venia legendi, die Lehrbefugnis. Seine Habilitationsschrift wurde ohne Einhaltung einer Frist vorgelegt. Drei Jahre lang arbeitete er in G¨ottingen als Privatdozent. 1908 wechselte er nach Bonn, ein Jahr sp¨ater, 1909, wurde er ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Hannover. Im Jahr darauf wurde er an die neu gegrundete¨ Technische Hochschule Breslau berufen. 1913 kehrte er als Nachfolger von Felix Klein nach G¨ottingen zuruck.¨ 1918 folgte er dem

14 Ruf nach Berlin. Zusammen mit Albert Einstein wurde er 1919 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Bei der Aufnahme Carath´eodorys hatte kein Geringerer als Max Planck die Laudatio gesprochen. Im selben Jahr wurde er zum korrespondierenden Mitglied der G¨ottinger Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. Im Jahre 1920 erhielt er den Ruf der Universit¨at Smyrna, dem heutigen Izmir, die ihn zum Pr¨asidenten ernannte. Er trug maßgeblich zu deren Aufbau bei, aber seine Ar- beit endete 1922 mit dem Einmarsch der Turken¨ im Ruin. Caratheodory´ konnte noch rechtzeitig seine Familie — Frau, Sohn und Tochter — auf der Insel Samos in Sicherheit bringen, um allein nach Smyrna zuruckzukehren.¨ Dort organisierte er die Rettung kostba- ren Schriftguts der Universit¨at, das er auf Booten nach Griechenland transportieren ließ. Danach fand Caratheodory´ mit seiner Familie Zuflucht in Athen. Hier lehrte er bis zum Jahre 1924. 1924 wurde er Nachfolger von Ferdinand Lindemann an der Universit¨at Munchen.¨ 1925 wurde er als ordentliches Mitglied in die mathematisch-naturwissenschaftliche Klas- se der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. Den Antrag fur¨ seine Auf- nahme hatte Alfred Pringsheim mit unterzeichnet. Caratheodory´ war 1927 Mit- unterzeichner des Antrags dieser Klasse, Albert Einstein, mit dem er regelm¨aßigen Briefkontakt pflegte, als korrespondierendes Mitglied aufzunehmen. An der Akademie war Caratheodory´ unter anderem mitverantwortlich fur¨ die Herausgabe der Werke von Johannes Kepler. Ihn und seine Kollegen Oskar Perron und Heinrich Tiet- ze bezeichnete man als Munchner¨ Dreigestirn der Mathematik“. ” 1928 hielt Caratheodory´ sich l¨angere Zeit in den Vereinigten Staaten auf. Er hielt Gastvortr¨age an der University of Pennsylvania, in Harvard, in Princeton, sowie an der University of Texas at Austin und an der University of Texas at San Antonio. 1930 trug die griechische Regierung die Bitte an ihn heran, die Neuorganisation der Universit¨aten Athen und Thessaloniki zu organisieren. Caratheodory´ folgte dieser Bit- te, obwohl Munchner¨ Kollegen wie Arnold Sommerfeld versuchten, ihn zum Bleiben zu bewegen. W¨ahrend dieser Zeit schrieb er auch fur¨ die große griechische Enzyklop¨adie einen Beitrag uber¨ Mathematik. Auf der Akropolis untersuchte er den Parthenon. Nach Erledigung dieses Auftrages kehrt er nach Munchen¨ zuruck.¨ 1938 erfolgte seine Emeritie- rung. Die Zeit des Nationalsozialismus verbrachte er zuruckgezogen¨ als Kirchenvorstand der Griechischen Kirche zum Erl¨oser am Munchner¨ Salvatorplatz, wobei er nach einj¨ahri- ger Pause wieder eine Vorlesung uber¨ Potentialtheorie hielt. Im Sommer 1946 hielt er nach schwerer Erkrankung seinen ersten Vortrag beim Mathematischen Colloquium in Munchen¨ zum Thema Uber¨ L¨ange und Oberfl¨ache“. Ende Januar 1950 verschlechterte ” sich sein Gesundheitszustand erneut. Am 2. Februar verstarb er an seinem Leiden. Ca- ratheodory´ ist auf dem Munchner¨ Waldfriedhof begraben. Seine Frau Euphrosyne war bereits am 29. Juli 1947 verstorben. Caratheodory´ war stark von David Hilbert beeinflusst. Er lieferte fundamentale Ergebnisse in vielen Gebieten der Mathematik, insbesondere in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen, der Funktionentheorie (carath´eodorysche Metrik) und der Maß- und Integrationstheorie. Seine Beitr¨age zur Variationsrechnung, Funktionentheorie, geometrischen Optik, Ther- modynamik sowie zur theoretischen Physik beeinflussten viele namhafte Mathematiker. Aus der Korrespondenz mit Albert Einstein geht hervor, dass Caratheodory´ diesem wichtige mathematische Erkl¨arungen fur¨ seine Grundlegung der Relativit¨atstheorie geben konnte. Der neue Feldbegriff, den Caratheodory´ in die Variationsrechnung eingefuhrt¨ hat, sollte große Folgen haben. Caratheodory´ leitete daraus eine Ungleichung ab, die

15 20 Jahre sp¨ater unter anderem Namen als bellmansche Gleichung oder Ungleichung in der mathematischen Welt Aufsehen erregt und die Grundlage wird fur¨ das Prinzip der dynamischen Optimierung, und seither weit uber¨ die Mathematik hinausstrahlt. Seine Untersuchungen uber¨ einfache Integrale in der Variationsrechnung blieben nicht auf die Ebene beschr¨ankt, sondern er entwickelte sie weiter fur¨ den Raum. Daneben ar- beitete er an Variationsproblemen mehrfacher Integrale. Auch der Optik, der Mechanik sowie der Planetenbewegung widmete er als Akademiemitglied mehrere Abhandlungen. Einen besonderen Platz nahm aber die Thermodynamik ein. Schon seine 1909 erschienene Ver¨offentlichung auf diesem Gebiet (Erste axiomatisch strenge Begrundung¨ der Thermo- dynamik) fand große Beachtung durch Planck und Max Born. In der Funktionentheorie ist der Satz von Caratheodory´ sein 1913 bewiesenes Resul- tat, dass eine konforme Abbildung der Einheitskreisscheibe auf ein von einer Jordankurve begrenztes Gebiet eine stetige, bijektive Fortsetzung auf den Rand des Einheitskreises hat. Des Weiteren ist nach ihm sein 1912 gefundenes Resultat benannt, dass die lokal gleichm¨aßige Konvergenz einer Folge von konformen Abbildungen der Einheitskreisschei- be der Kernkonvergenz der Bildgebiete entspricht. In der Differentialgeometrie wird ihm die Vermutung von Caratheodory´ zugeschrieben, die die Existenz mindestens zweier Nabelpunkte auf jeder glatten, geschlossenen und konvexen Fl¨ache postuliert (die Vermu- tung ist offen). 1926 fuhrte¨ er den allgemeinen Beweis, dass kein System aus Linsen und Spiegeln ohne optische Abbildungsfehler (Aberrationen) existiert, mit der Ausnahme des trivialen Falls fur¨ ebene Spiegel. 1940 ver¨offentlichte er gemeinsam mit Bernhard Schmidt eine Theorie eines Spiegelteleskops zur Theorie des Schmidt-Teleskops, dessen erstes Exemplar dieser in Hamburg-Bergedorf gebaut hatte und von dem bald weitere z.B. auf dem Mount Palomar folgten. 1932 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathemati- kerkongress in Zurich¨ (Uber¨ die analytischen Abbildungen durch Funktionen mehrerer Ver¨anderlicher). Er hat diverse weitere mathematische Lehrs¨atze entdeckt, darunter das Maximumprin- zip. Der Maßerweiterungssatz von Caratheodory´ ist bis heute Gegenstand zahlreicher mathematischer Untersuchungen. Die Ludwig-Maximilians-Universit¨at Munchen¨ hat 2002 in Anerkennung seiner Lei- stungen einem der gr¨oßten H¨ors¨ale des Mathematischen Instituts in einer Feierstunde den Namen Constantin-Carath´eodory-H¨orsaal verliehen. Unter den G¨asten war seine Tochter Despina Rodopoulou-Caratheodory´ . Caratheodory´ erfreute sich wegen seines außergew¨ohnlichen analytischen Verstan- des und seiner fachlichen Kompetenz, zugleich aber auch wegen seiner pers¨onlichen Inte- grit¨at einer hohen Wertsch¨atzung weit uber¨ sein Fach hinaus. Neben seinen zahlreichen Verdiensten in der Mathematik ist er aber auch fur¨ sein außergew¨ohnliches Sprachtalent bekannt. Seine Muttersprachen waren Griechisch und Franz¨osisch. Zus¨atzlich publizierte er die meisten seiner Arbeiten auf Deutsch, und er sprach fließend Englisch, Italienisch und Turkisch.¨

Lennart Axel Edvard Carleson (* 18. M¨arz 1928 in Stockholm) ist ein schwe- discher Mathematiker und Abelpreistr¨ager. Er wurde 1950 bei Arne Beurling an der Universit¨at Uppsala promoviert (On a class of meromorphic functions and its associated exceptional sets). 1950/1951 war er als Post-Doc an der Harvard University (bei Antoni Zygmund und Raphael¨ Salem) und war 1951/52 Dozent in Uppsala. 1954 wurde er Professor an der K¨oniglich Technischen Hochschule in Stockholm, kehrte aber 1955 wieder

16 nach Uppsala zuruck,¨ wo er 1993 emeritiert wurde. Er blieb aber weiter in der Forschung aktiv. Er war unter anderem Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology (1957, 1974/75), an der Stanford University (1965/66) und am Institute for Advanced Study (1961/62). Carleson belebte 1968 das Mittag-Leffler-Institut neu, das er als Direktor von 1968 bis 1984 zum Zentrum der Mathematik in Skandinavien ausbaute. Zwischen 1978 und 1982 war er Pr¨asident der Internationalen Mathematischen Union. Er sorgte als Pr¨asident unter anderem fur¨ eine Einbindung Chinas und die Besserstellung der Informatik in der IMU, was unter anderem in dem von Carleson mitinitiierten Nevanlinna-Preis zum Ausdruck kam. 1956 bis 1979 war er Herausgeber der Acta Mathematica. Er ist seit 1953 verheiratet und hat zwei Kinder. Er arbeitete insbesondere zur Funktionentheorie, Fourieranalyse und zu dynamischen Systemen. Weltberuhmt¨ wurde er 1966 durch seinen Beweis, dass die Fourierreihe einer L2- Funktion fast uberall¨ gegen die Funktion konvergiert. Vermutet hatte dies 1913 Nikolai Nikolajewitsch Lusin (fur¨ stetige Funktionen, die zu den quadratintegrablen Funktio- nen geh¨oren), der Beweis widerstand aber bis 1966 allen Versuchen, man vermutete sogar die Existenz eines Gegenbeispiels, nachdem Andrei Kolmogorow 1923 ein Gegenbei- spiel fur¨ die analoge Vermutung bei L1-Funktionen fand (und 1926 sogar ein Beispiel aus dieser Funktionenklasse, dessen Fourierreihe uberall¨ divergierte). Auch Carleson such- te zun¨achst lange ein Gegenbeispiel. Der Beweis von Carleson wurde 1967 von Lars Hormander¨ vereinfacht und 1968 von Richard Hunt auf Lp-Funktionen mit endli- chem p ¿ 1 erweitert. Christoph Thiele und Michael T. Lacey gaben 2000 einen einfacheren Beweis des Satzes von Carleson und Hunt. Carleson bewies 1962 auch das schwierige Corona-Theorem in der komplexen Ana- lysis, wobei er Carleson-Maße einfuhrte.¨ Einen alternativen Beweis des Corona-Theorems gab 1979 der US-amerikanische Mathematiker Thomas Wolff. 1991 bewies er mit Michael Benedicks, dass die H´enon-Abbildung, ein viel unter- suchtes dynamisches System der Chaostheorie, eingefuhrt¨ 1976 durch den franz¨osischen Astronomen Michel Henon´ , einen seltsamen Attraktor besitzt. Das Carleson-Sj¨olin-Theorem der Fourieranalyse ist wichtig im Kakeya-Problem (Ver- allgemeinerungen des Nadelproblems von Kakeya, das nach der Fl¨ache minimalen Inhalts fragt, in der eine Nadel von Einheitsl¨ange um 180◦ rotieren kann). Carleson bef¨orderte auch das Erweiterungsproblem quasikonformer Abbildungen, fur¨ das schon Lars V. Ahlfors und Beurling Teilresultate erzielten. Er war Mitherausgeber der Gesammelten Werke seines Lehrers Arne Beurling und kommentierte viele der Arbeiten aus dem Nachlass Beurlings. Er erhielt folgende Auszeichnungen: • 1966: Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Moskau (Con- vergence and Summability of Fourier Series).

• 1984: Leroy P. Steele Prize der American Mathematical Society

• 1990: Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Kyoto (The dynamics of non-uniformly hyperbolic systems in two variables).

• 1992: Wolf-Preis in Mathematik

• 2002: Lomonossow-Goldmedaille der Russischen Akademie der Wissenschaften

• 2003: Sylvester-Medaille der Royal Society

17 • 2006: Abelpreis der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, der als eine Art No- belpreis fur¨ Mathematik gilt

Carleson ist Mitglied der russischen, franz¨osischen, d¨anischen, schwedischen, nor- wegischen, finnischen und ungarischen Akademien der Wissenschaften sowie der National Academy of Sciences, der American Academy of Arts and Sciences und der Academia Europaea. Er ist Ehrendoktor in Helsinki, Paris, Stockholm. Er ist Fellow der American Mathematical Society.

Augustin-Louis Cauchy (* 21. August 1789 in Paris; † 23. Mai 1857 in Sceaux) war ein franz¨osischer Mathematiker. Als ein Pionier der Analysis entwickelte er die von Gott- fried Wilhelm Leibniz und Sir Isaac Newton aufgestellten Grundlagen weiter, wo- bei er die fundamentalen Aussagen auch formal bewies. Insbesondere in der Funktionen- theorie stammen viele zentrale S¨atze von ihm. Seine fast 800 Publikationen decken im Großen und Ganzen die komplette Bandbreite der damaligen Mathematik ab. Nach dem Tode Leonhard Eulers war die Ansicht verbreitet, dass die Mathematik fast vollst¨andig erforscht und keine wesentlichen Probleme mehr ubrig¨ seien. Es waren insbesondere Carl Friedrich Gauß und Cauchy, die diesen Eindruck relativieren konnten. Cauchy war katholisch und ein Anh¨anger des franz¨osischen Herrschergeschlechts der Bourbonen. Letz- teres brachte ihn immer wieder in einen Konflikt zu den Anh¨angern der Republik und den Bonapartisten. Cauchys Vater Louis-Fran¸coiswar ein katholischer, belesener Royalist. Zum Zeitpunkt der Ersturmung¨ der Bastille am 14. Juli 1789 war er die rechte Hand des Lieutenant G´en´eralder Polizei von Paris, Louis Thiroux de Crosne. Dieser floh kurz darauf nach England, und Louis-Franc¸ois Cauchy verlor seinen Posten. Wenige Wochen sp¨ater wurde Augustin-Louis geboren, mitten in die Franz¨osische Revolution hinein. Im April 1794 kehrte Thiroux zuruck,¨ wurde verhaftet und am selben Tage zum Tode verurteilt. Louis-Fran¸coisnahm daraufhin aus Angst vor Denunziation seine Familie mit in ihr Land- haus nach Arcueil, wo sie in Armut lebten. Der kleine Augustin-Louis erhielt von seinem Vater grundlegenden Unterricht. Der Hunger und die gef¨ahrliche Situation hinterließen eine lebenslange Abneigung gegen Revolutionen. Nach dem Ende der Terrorherrschaft kehrte die Familie nach Paris zuruck,¨ Louis-Fran¸coismachte wieder Karriere und wur- de schließlich nach Napol´eonsStaatsstreich Generalsekret¨ar des Senats. Das fuhrte¨ zu einer engen Bekanntschaft mit dem damaligen Innenminister Pierre-Simon Laplace und dem Senator Joseph-Louis Lagrange, zwei bedeutenden Mathematikern. Sie er- kannten bereits fruh¨ das mathematische Talent des Sohns, so soll etwa Lagrange zu Akademiekollegen nach einem Gespr¨ach mit dem zw¨olfj¨ahrigen Cauchy im Palais du Luxembourg 1801 gesagt haben:

Vous voyez ce petit jeune homme, eh bien! Il nous remplacera tous tant que nous ” sommes de g´eom`etres.“ Nun sehen Sie doch diesen jungen Mann! Eines Tages wird er uns simple Geometer ” alle ubertreffen.“¨ und riet seinem Vater:

Ne laissez pas cet enfant toucher un livre de Math´ematiquesavant l’ˆagede dix- ” sept ans. Si vous ne vous hˆatezde donner `aAugustin une solide ´educationlitt´eraire, on goˆutl’entraˆınera,il sera un grand math´ematicien,mais il ne saura pas mˆeme

18 ´ecriresa langue.“ Lassen Sie dieses Kind vor dem siebzehnten Lebensjahr kein ma- ” thematisches Buch anruhren.¨ Wenn Sie sich nicht beeilen, Augustin eine grundliche¨ literarische Erziehung zu geben, so wird ihn seine Neigung fortreißen. Er wird ein großer Mathematiker werden, aber kaum seine Muttersprache schreiben k¨onnen.“

Augustin-Louis Cauchy hatte zwei jungere¨ Bruder:¨ Alexandre Laurent (1792– 1857), der wie sein Vater Jurist wurde und in den Staatsdienst eintrat, sowie Eugene` Franc¸ois (1802–1877), einen Schriftsteller. Auf Anraten von Lagrange lernte Cauchy zun¨achst klassische Sprachen, was ihn auf eine weitere Mathematikausbildung vorbereiten sollte. So besuchte er ab 1802 zwei Jahre lang die Ecole´ Centrale du Panth´eon,wo er besonders in Latein gl¨anzte. Darauf- hin entschied er sich, die Ingenieurslaufbahn einzuschlagen, und nahm ab 1804 Mathe- matikunterricht, der ihn fur¨ die Aufnahmeprufung¨ an der jungen Ecole´ Polytechnique vorbereiten sollte. 1805 absolvierte er als Zweitbester die Aufnahmeprufung,¨ die von dem franz¨osischen Mathematiker und Physiker Jean-Baptiste Biot durchgefuhrt¨ wurde. Die Ecole´ Polytechnique sollte Ingenieure fur¨ Frankreichs ¨offentlichen Dienst ausbilden, und die Studenten mussten sich fruh¨ fur¨ eine spezielle Richtung entscheiden. Cauchy w¨ahlte Straßen- und Bruckenbau.¨ Der Unterricht war sehr mathematiklastig. Seine Leh- rer trugen bekannte Namen wie Lacroix, de Prony, Hachette und Ampere` . Nach zwei Jahren war Augustin-Louis Klassenbester und durfte zur weiteren Ausbildung auf die Ecole´ Nationale des Ponts et Chauss´ees.Auch hier war er unter den Besten und durfte in seinem Praktikum unter Pierre Girard am Ourcq-Kanal mitarbeiten. In Pa- ris waren die Studenten alles andere als unpolitisch. W¨ahrend die meisten revolution¨ar und liberal eingestellt waren, trat Cauchy der Congr´egationbei, dem weltlichen Arm der Jesuiten. Er blieb dort Mitglied, bis sie 1828 faktisch verboten wurde. Nach zwei Pflichtstudienjahren verließ er die Universit¨at im Januar 1810 als aspirant ing´enieur. Im Februar 1810 erhielt Cauchy den Auftrag, beim Bau des Hafens Port Napol´eonin Cherbourg mitzuhelfen, der damals gr¨oßten Baustelle Europas mit etwa 3000 Arbeitern. Ziel war die Vorbereitung der Invasion Englands. Die Arbeitszeiten waren lang, und in seiner knappen Freizeit besch¨aftigte er sich mit der Mathematik. Seine anf¨angliche Freude und sein Interesse am Ingenieurberuf nahmen bald ab, und so reifte sein Entschluss, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Cauchys Ziel war jedoch zu diesem Zeitpunkt keineswegs die Mathematik. Die allgemeine wissenschaftliche Auffassung nach Eulers Tod war, dass die Probleme der Mathematik so gut wie vollst¨andig gel¨ost waren. Wichtig war vor allem die Ingenieurswissenschaft sowie das Finden neuer Anwendungsfelder fur¨ Mathematik. Die Forschungen w¨ahrend seiner Zeit in Cherbourg erbrachten eine kleine Verallge- meinerung des eulerschen Polyedersatzes und einen Beweis fur¨ einen Satz uber¨ die Frage, unter welchen Bedingungen Polyeder mit gleichen Fl¨achen identisch sind. Den Satz hat- te Euklid bereits in seinen Elementen formuliert, er war jedoch bis dahin nie bewiesen worden. Cauchy schuf sich durch diese Arbeit einen Namen in der Akademischen Pariser Gesellschaft. Im Sommer 1812 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand stark. Cauchy war seit seiner Kindheit nicht sehr gesund und litt an gelegentlichen Depressionen. Die große Arbeitsbelastung in Cherbourg machte ihm zu schaffen, so dass er im September krankge- schrieben wurde und die Erlaubnis erhielt, zu seiner Familie nach Paris zuruckzukehren.¨ Als sich seine Gesundheit verbesserte, war er ganz und gar nicht bestrebt, wieder als In- genieur zu arbeiten, und widmete sich der Forschung. Er befasste sich, inspiriert vom Satz von Lagrange, mit der Gruppentheorie und fand die drei Axiome, die eine Determinante

19 eindeutig definieren. Im Fruhjahr¨ 1813 endete seine Krankschreibung. Cauchy wollte auf keinen Fall nach Cherbourg zuruckkehren.¨ Da verschaffte ihm sein ehemaliger Lehrer Pierre Girard die M¨oglichkeit, weiter am Ourcq-Kanalprojekt in Paris mitzuarbeiten. Im April heira- tete er Aloise de Bure, die Tochter eines angesehenen Buchh¨andlers und Verlegers. Die beiden hatten zwei T¨ochter, Marie Franc¸oise Alicia und Marie Mathilde. Seine Forschung war in diesem Jahr unergiebig. Zwar entwickelte er eine Methode zur Bestimmung der Anzahl der L¨osungen einer algebraischen Gleichung beliebigen Grades, doch war diese nicht praxisgerecht. Er bewarb sich auf uber¨ 50 freie Stellen an den Pa- riser Akademien, allerdings ohne Erfolg — trotz der guten Beziehungen seines Vaters, der Druck ausubte,¨ wo er konnte. Seine wissenschaftlichen Kollegen Ampere` , Legend- re, Poinsot und Molard wurden berufen, Cauchy nicht. Er ließ sich im Sommer ohne Bezahlung krankschreiben. Die Niederlage Napoleons´ 1814 kam ihm zugute. Das Ourcq-Kanalprojekt wurde unterbrochen, und ihm wurde keine neue Stelle zugewiesen. Dieses Jahr markiert ebenfalls den Beginn der Besch¨aftigung Cauchys mit komplexen Funktionen. Die endgultige¨ Niederlage Napol´eons1815 verschaffte Cauchys Karriere Auftrieb. Lud- wig XVIII. wurde jetzt K¨onig von Frankreich, und mit ihm gelangten restaurative Kr¨afte an die Macht. Cauchys Vater konnte als treuer Royalist seinen Posten auch unter dem neuen Regime behalten. Wissenschaftler von zweifelhafter politischer (also revolution¨arer) Gesinnung hatten nun einen schweren Stand. Augustin-Louis als strenger Katholik hat- te diese Probleme nicht, und so erhielt er im November 1815 eine Stelle als Assistenzpro- fessor an der Ecole´ Polytechnique und bereits im Dezember eine volle Professur. Im M¨arz 1816 wurde die Acad´emiedes Sciences vom K¨onig selbst umgestaltet, zwei liberale Mit- glieder entfernt und die freiwerdenden Pl¨atze durch erzkonservative Wissenschaftler wie Cauchy besetzt, der den Platz von Gaspard Monge einnahm. Dieses Vorgehen machte ihm keine Freunde. Auch wenn er mittlerweile einen hervorra- genden Ruf als Mathematiker hatte und seine Berufungen fachlich nicht zu beanstanden waren, blieb ihnen doch der Makel der politischen Protektion. Dazu kam, dass Cauchy wenig auf die Meinungen anderer gab und nach außen sehr schroff war, insbesondere gegen Nichtkatholiken. Sein Unterstutzer¨ Lagrange war 1813 gestorben, und Cauchy schaffte es, sich auch noch Laplace zum Feind zu machen, indem er die Methoden von Laplace und Poisson als zu intuitiv und zu wenig exakt bezeichnete. Zu Poisson, der auf sehr ¨ahnlichen Gebieten arbeitete, behielt er allerdings ein gutes Arbeitsverh¨altnis, und die beiden arbeiteten h¨aufig zusammen. Einzig mit dem katholischen Ampere` verband ihn eine enge Freundschaft. Als Mitglied der Acad´emiewar eine von Cauchys Pflichten die Begutachtung von ein- gesandten wissenschaftlichen Artikeln. Dieser Arbeit widmete er viel seiner Zeit, allerdings nicht unbedingt zur Freude der Schreiber. So schrieb Niels Henrik Abel: Cauchy ist ” verruckt,¨ und man kann nichts dagegen tun. Allerdings ist er zur Zeit der einzige, der weiß, wie man Mathematik machen sollte.“ Ahnliche¨ schlechte Erfahrungen machten Galois und Poncelet. Es schien auch, dass Cauchy teilweise die Papiere der jungen Wissen- schaftler verloren hatte, was ihm heftig vorgeworfen wurde. Michail Ostrogradski dagegen fand nur warme Worte fur¨ Cauchy, der den jungen Russen sogar mehrmals aus dem Schuldturm freikaufte, wenn er mal wieder seine Miete nicht bezahlen konnte. Im Unterricht entwickelte Cauchy großen Eifer. Er hielt die Analysis fur¨ eine Grund- voraussetzung fur¨ die Mechanik und andere wichtige Ingenieursdisziplinen. In dieser Zeit entstanden im Rahmen seiner Vorlesungen die B¨ande Cours d’analyse de l’Ecole´ Poly-

20 technique. Er legte großen Wert auf die Genauigkeit der Definitionen und fuhrte¨ viel neuen Stoff ein, wie seine neue Definition der Ableitung, die auf einem Grenzwert be- ruhte und nicht auf dem Infinitesimalkalkul.¨ Dies stieß auf Widerstand der Studenten, denen Cauchys Vorlesungen zu abstrakt und zu wenig ingenieurorientiert waren; hinzu kamen politische Ressentiments — einmal wurde er sogar ausgebuht. Schwerwiegender war Widerstand auf Seiten der Professoren — mit Ausnahme Amp`eres,der ihn tatkr¨aftig unterstutzte.¨ In der Julirevolution von 1830 wurde der reaktion¨are K¨onig Karl X. gesturzt¨ und durch den Burgerk¨ ¨onig“ Louis Philippe ersetzt. Die Studenten der Ecole´ Polytechnique ” spielten eine nicht unbedeutende Rolle in den Straßenk¨ampfen. Fur¨ Cauchy war dies alles zu viel. Er verließ im September die Stadt und ließ seine Familie zuruck.¨ Zun¨achst ging er in die Schweiz, nach Freiburg, einer Hochburg der Jesuiten. Eine Ruckkehr¨ nach Frankreich setzte nun allerdings einen Treueschwur auf das neue Regime voraus, was fur¨ ihn nicht in Frage kam. So blieb Cauchy nichts anderes als das Exil fern von seiner Familie. Er verlor seine Posten und ging 1831 nach Turin, wo er auf einen Lehrstuhl fur¨ theoretische Physik berufen wurde. 1832 wurde Cauchy in die American Academy of Arts and Sciences gew¨ahlt. Bereits 1833 verließ er die Stadt, um sich Karl X. auf dem Hradschin in Prag anzuschließen, und wurde Hauslehrer dessen Enkels Henri d’Artois, des Herzogs von Bordeaux. Karl X. hatte im August 1830 abgedankt und seinen Enkel zum Thronerben erkl¨art. Dieser erhob damit ab seinem 14. Lebensjahr Anspruch auf den Titel des K¨onigs von Frankreich. Dementsprechend war seine Erziehung ein Politikum, das auch in Frankreich genau verfolgt wurde, wo einige Adlige lieber die Bourbonen als Louis-Philippe auf dem Thron wunschten.¨ Cauchy wurde aufgrund seiner wissenschaftlichen Meriten und seiner N¨ahe zu den Jesuiten ausgew¨ahlt, den Prinzen in Mathematik und den Naturwis- senschaften, insbesondere Chemie und Physik, zu unterrichten. Er nahm diese Aufgabe sehr ernst, so wie er auch den Anspruch des Prinzen auf den Thron lebhaft unterstutzte.¨ So bereitete er sich gewissenhaft auf die Unterrichtsstunden vor und betrieb in diesen Jahren so gut wie keine Forschung. Es zeigte sich auch hier, wie schon in Paris und Turin, sein mangelndes Talent als Lehrer. Der Prinz zeigte keinerlei Interesse oder Begabung fur¨ Mathematik, und er verstand von dem, was Cauchy ihm erz¨ahlte, herzlich wenig. Bis zu seinem 18. Lebensjahr, als seine Ausbildung beendet wurde, entwickelte er eine ausgiebige Abneigung gegen Mathematik. 1834 holte Augustin-Louis seine Familie nach, die er in den vorangegangenen vier Jahren nur bei seltenen Besuchen in Paris gesehen hatte. Zwei Jahre sp¨ater zog der Tross des Exilk¨onigs nach G¨orz weiter, wo der Prinz 1838 seinen 18. Geburtstag feierte. Fur¨ Cauchy bedeutete dies das Ende seines Lebens als Hauslehrer. Karl X. belohnte ihn fur¨ seine Dienste mit dem Titel eines Barons, auf den Cauchy anschließend viel Wert legte. Wegen der schlechten Gesundheit seiner Mutter, die 1839 starb, kehrte er wieder nach Paris zuruck.¨ Cauchy war nun in der schwierigen Situation, dass er wegen seiner Weigerung, den Treueeid auf den K¨onig zu schw¨oren, keine Professur mehr innehatte. Zwar war er wei- terhin Mitglied der Acad´emiedes Sciences und konnte so am wissenschaftlichen Leben teilhaben und publizieren, allerdings konnte er sich auf keine neue Stelle bewerben. Eine Ausnahme war das Bureau des Longitudes, wo er eine lockere Handhabung des Treueeids erwartete, so dass Cauchy sich dort bewarb. Ende 1839 hatte er auch Erfolg, doch be- stand die Regierung auf dem Eid. Die n¨achsten vier Jahre wurde dies am Bureau ignoriert; Cauchy war nun also wieder Professor, allerdings ohne Sal¨ar.

21 Damit begann eine seiner schaffensreichsten Perioden. In Prag hatte Cauchy so gut wie nichts ver¨offentlicht, allerdings uber¨ vieles nachgedacht, und die reifen Ideen brachte er jetzt zu Papier. Die Acad´emiehatte ein Journal eingerichtet, die Comptes Rendus, in dem die Mitglieder schnell publizieren konnten. Cauchy nutzte dies aus wie kein anderer. Zwischen 1839 und Februar 1848 ver¨offentlichte er uber¨ 300 Artikel. Rechnet man ein, dass er 1844 nicht forschte, so bleibt fast ein Artikel pro Woche, eine unglaubliche Schaf- fensgeschwindigkeit. Er muss diese Zeitschrift derartig mit Abhandlungen uberschwemmt¨ haben, dass man zukunftig¨ die Seitenzahl pro Abhandlung auf vier beschr¨ankte. 1843 starb Lacroix, und so wurde eine Professur am Coll`egede France frei. Es gab drei Bewerber — Liouville, Cauchy und Libri, der Lacroix bereits vertreten hatte und dort seine fehlende Kompetenz gezeigt hatte. Die Jesuiten versuchten in dieser Zeit, ihre Vorstellungen von der Lehre an den franz¨osischen Universit¨aten durchzusetzen. Cauchy unterstutzte¨ dieses Vorhaben nachdrucklich¨ und mit eigenem Einsatz. Libri dagegen war ein bekennender Gegner der Jesuiten, und aus diesem Grund wurde Libri zum Professor ernannt. Das Ministerium nahm dies zum Anlass, Cauchy aus dem Bureau des Longitudes zu entfernen. Er widmete daraufhin das n¨achste Jahr der Unterstutzung¨ der jesuitischen Politik. Erst die Februarrevolution von 1848, die den Burgerk¨ ¨onig Louis- Philippe sturzte,¨ fuhrte¨ wieder zur Verbesserung seiner Situation. Die Februarrevolution brachte nicht, wie von Cauchy erhofft, seinen ehemaligen Schuler¨ Henri von Bourbon an die Macht, sondern Charles-Louis-Napole´eon´ Bonaparte (ab 1852 Kaiser Napole´eon´ III.). Auch diesem wollte Cauchy keinen Treueeid schw¨oren, doch erhielt er 1849 mit einer Ausnahmegenehmigung eine Professur. Fur¨ seine Familie hingegen war die Februarrevolution ein schwerer Schlag. Sein Vater und seine beiden Bruder,¨ die seit dem Staatsstreich Napol´eonBonapartes fast 50 Jahre hoch- stehende Beamte waren und jeden Regimewechsel uberstanden¨ hatten, verloren diesmal ihre Posten. Louis Franc¸ois Cauchy starb kurz danach im Dezember 1848. 1850 bewarb Cauchy sich, ebenso wie Liouville, wieder auf die Mathematikpro- fessur am Coll`egede France — Libri war gefluchtet.¨ Liouville wurde gew¨ahlt, und es entspann sich ein h¨asslicher Streit zwischen den beiden. Cauchy wollte seine Niederlage nicht akzeptieren (die erste Abstimmung hatte elf Stimmen fur¨ ihn, zehn fur¨ Liouville und zwei Enthaltungen ergeben). Die beiden gerieten daraufhin auch wissenschaftlich in Streit. 1851 pr¨asentierte Cauchy einige Resultate Charles Hermites uber¨ doppeltperi- odische Funktionen und bewies sie mittels seines Integralsatzes. Liouville glaubte, die Resultate direkt aus seinem Satz von Liouville folgern zu k¨onnen. Cauchy zeigte da- gegen, dass man den Satz von Liouville sehr einfach mit dem Integralsatz beweisen kann. Auf die jungen Mathematiker Frankreichs ubte¨ Cauchy einen bedeutenden Einfluss aus. Auch in seinen letzten Jahren, in denen er nur noch wenig forschte, evaluierte er viele eingereichte Artikel und kritisierte sie ausgiebig. Cauchy hatte ferner die letzten Jahre versucht, seine Kollegen zum katholischen Glauben zuruckzuf¨ uhren.¨ Dies war ihm bei dem Mathematiker Duhamel gelungen. Ausgerechnet mit ihm lieferte er sich im De- zember 1856 einen Priorit¨atsstreit, den Ostrogradski zu Ungunsten Cauchys aufkl¨aren konnte. Cauchy weigerte sich, seinen Fehler zuzugeben, und wurde so Zielscheibe vieler Anfeindungen, die seine letzten Monate uberschatteten.¨ Er starb 1857 in Sceaux bei Paris im Kreis seiner Familie. Nach seinem Tod wurde er dadurch geehrt, dass sein Name in die Reihe der 72 Namen auf dem Eiffelturm aufgenommen wurde. Das Werk Cauchys ist beachtlich. Es umfasst nahezu 800 Artikel und diverse Bucher.¨ In 27 B¨anden wurde es im Laufe von fast 100 Jahren in den Œuvres compl`etes(Gauthier-

22 Villars, Paris 1882–1974) ver¨offentlicht. Die Inspiration fur¨ seine Forschung holte Cauchy sich aus zwei Quellen, der Mathema- tiklehre und der Physik. Die großen Mathematiker vor ihm, wie Euler oder Lagrange, hatten ohne saubere mathematische Definitionen gearbeitet, wie sie heute eine Selbst- verst¨andlichkeit sind, und viel intuitives Verst¨andnis von Funktionen, Differenzierbarkeit oder Stetigkeit benutzt. Bei der Vorbereitung zu seinen Vorlesungen fielen Cauchy diese Lucken¨ auf, und so stellte er als erster die Analysis auf eine strenge methodische Basis — eine seiner großen wissenschaftlichen Leistungen, weswegen man ihn als einen der ersten modernen Mathematiker betrachtet. Hatte man vorher eher intuitiv mit infinitesimalen Einheiten argumentiert, fuhrte¨ Cauchy in seinen Vorlesungen Cours d’analyse de l’Ecole´ Polytechnique (1821) Grenz- werte zur Definition der Stetigkeit und Differenzierbarkeit ein. Dies erm¨oglichte eine ex- akte Problemdefinition und die Beweisbarkeit der verwendeten Theorien. Mit dem Cours d’Analyse beginnt das Zeitalter der Strenge und der Arithmetisie- rung der Analysis. Lediglich der Begriff der (lokal) gleichm¨aßigen Konvergenz fehlt noch, um dem Werk den letzten Schliff zu geben. In Unkenntnis dieses Begriffs formulierte Cauchy f¨alschlich den Satz, dass konvergente Reihen stetiger Funktionen immer stetige Grenzfunktionen haben. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Beitr¨age Cauchys sind in seinen drei Werken Cours d’analyse de l’Ecole´ Polytechnique (1821), Exercises de math´ematique(5 B¨ande, 1826–30) und Exercises d’analyse et de physique math´ematique(4 B¨ande) aufgefuhrt,¨ die Cauchy im Rahmen seiner Vorlesungen an der Ecole´ Polytechnique verfasst hatte. Beispielhaft folgt hier die Gliederung eines Teils der Vorlesungen, die schon einen großen Teil seiner Forschungen widerspiegeln. Die wichtigsten Beitr¨age in seinen Abhandlungen betreffen vor allem Folgen und Reihen sowie komplexe Funktionen.

COURS D’ANALYSE DE L’ECOLE´ Vorlesung der Analysis an der K¨oniglichen ROYALE POLYTECHNIQUE Polytechnischen Hochschule Premi`erePartie: Analyse alg´ebrique Erster Teil: Algebraische Analysis 1. Des fonctions r´eelles 1. Reelle Funktionen 2. Des quantit´esinfiniment petites ou in- 2. Unendlich kleine oder unendlich große finiment grandes, et de la continuit´edes Gr¨oßen. Singul¨are Funktionswerte in be- fonctions. Valeurs singuli`eresdes fonctions stimmten F¨allen dans quelques cas particuliers 3. Des fonctions sym´etriqueset des foncti- 3. Symmetrische und alternierende Funk- ons altern´ees. Usage de ces fonctions pour tionen. Verwendung dieser Funktionen fur¨ la r´esolutiondes ´equationsdu premier de- die L¨osung von Gleichungen ersten Gra- gr´e`aun nombre quelconque d’inconnues. des mit mehreren Unbekannten. Homoge- Des fonctions homog`enes ne Funktionen 4. D´etermination des fonctions enti`eres, 4. Vollst¨andige Bestimmung ganzer Funk- d’apr`esun certain nombre de valeurs par- tionen anhand einzelner bekannter Funk- ticuli`eressuppos´eesconnues. Applications tionswerte. Anwendungen 5. D´etermination des fonctions continues 5. Bestimmung stetiger Funktionen mit ei- d’une seule variable propres `av´erifiercer- ner Variablen unter Berucksichtigung¨ be- taines conditions stimmter Bedingungen

23 6. Des s´eries(r´eelles)convergentes et di- 6. Reelle divergente und konvergente Rei- vergentes. R`eglessur la convergence des hen. Regeln der Konvergenz von Rei- s´eries.Sommation de quelques s´eriescon- hen. Summation ausgew¨ahlter konvergen- vergentes ter Reihen 7. Des expressions imaginaires et de leurs 7. Komplexe Ausdrucke¨ und ihre Betr¨age modules 8. Des variables et des fonctions imaginai- 8. Komplexe Variable und Funktionen res 9. Des s´eriesimaginaires convergentes et 9. Komplexe konvergente und divergen- divergentes. Sommation de quelques s´eries te Reihen. Summation von ausgew¨ahlten imaginaires convergentes. Notations em- konvergenten komplexen Reihen. Verwen- ploy´eespour repr´esenter quelques foncti- dete Notation, um bestimmte komplexe ons imaginaires auxquelles on se trouve Funktionen darzustellen, die bei der Rei- conduit par la sommation de ces mˆemes hensummation auftreten s´eries 10. Sur les racines r´eelles ou imaginai- 10. Reelle oder komplexe Wurzeln alge- res des ´equationsalg´ebriquesdont le pre- braischer Gleichungen, deren erstes Glied mier membre est une fonction rationnelle eine ganze rationale Funktion einer Varia- et enti`ered’une seule variable. R´esolution blen ist. Algebraische oder trigonometri- de quelques ´equationsde cette esp`ecepar sche L¨osung derartiger Gleichungen l’alg`ebreou la trigonom´etrie 11. D´ecomposition des fractions rationnel- 11. Zerlegung rationaler Bruche¨ les 12. Des s´eriesr´ecurrentes 12. Rekursive Folgen

In der Theorie der Folgen und Reihen hat Cauchy viele wichtige Kriterien fur¨ deren Konvergenz entwickelt. Von grundlegender Bedeutung fur¨ die Theorie der Folgen und Rei- hen ist die Cauchyfolge. Cauchy benutzte im Cours d’analyse das Cauchykriterium fur¨ Reihen, das analog auf Folgen angewandt werden kann, um ihre Konvergenz zu zeigen. Einen echten Beweis dafur,¨ dass Cauchyfolgen in R konvergieren, gab er allerdings nicht. Bernard Bolzano hatte bereits 1817 bewiesen, dass der Grenzwert einer Cauchyfol- ge eindeutig bestimmt sein muss, allerdings setzten offenbar sowohl Bolzano als auch Cauchy die Existenz dieses Grenzwerts in R als anschaulich gegeben voraus. Erst in der von Eduard Heine und Georg Cantor begrundeten¨ Theorie der reellen Zahlen (vgl. Konstruktion von R aus Q) wurde dieser Mangel beseitigt, indem R einfach als Men- ge von (Aquivalenzklassen¨ von) Fundamentalfolgen definiert wurde. Zu Ehren Cauchys heißen diese seither Cauchyfolgen. Cauchy zeigte die Konvergenz der geometrischen Reihe und leitete daraus das Quo- tientenkriterium und das Wurzelkriterium ab. Einer ¨ahnlichen Idee folgt die Formel von Cauchy-Hadamard, mit der man den Konvergenzradius einer Potenzreihe ermitteln kann. Der Grenzwertsatz von Cauchy besagt schließlich, dass das arithmetische Mit- tel der Elemente einer konvergenten Folge gegen den Grenzwert dieser Folge strebt. Der cauchysche Verdichtungssatz gibt ein Kriterium an, wie ausgew¨ahlte Glieder einer Reihe (daher verdichtet) als Kriterium fur¨ eine streng monoton fallende Reihe verwendet wer- den k¨onnen. Im Reihenproduktsatz wies er erstmals nach, dass die so genannte cauchy- sche Produktreihe zweier konvergenter Reihen unter besonderen Bedingungen ebenfalls konvergiert. Dieser Beweis wird h¨aufig fur¨ die Konvergenzanalysen von Potenzreihen her- angezogen. Cauchy hat außer dem Reihenproduktsatz noch weitere Erkenntnisse uber¨

24 die Potenzreihen geliefert. Vor allem bewies er erstmals mit formaler Strenge den tay- lorschen Satz und entwickelte in diesem Zusammenhang das cauchysche Restglied einer Taylorreihe. Als erster bewies er streng die Konvergenz der schon von Leonhard Euler unter- 1 n suchten Folge (1+ n ) , deren Grenzwert die eulersche Zahl e ist. Eine spezielle Anwendung konvergenter Folgen findet sich im cauchyschen Hauptwert, mit dessen Hilfe Integrale von Funktionen mit Polstellen bestimmt werden k¨onnen. Man untersucht hier, ob das Integral der Funktion in der Umgebung der Polstelle konvergiert. Ebenfalls im Cours d’Analyse findet sich Cauchys Definition der Ableitung als Grenzwert. Seine Zeitgenossen Lagran- ge und Laplace hatten die Ableitung uber¨ Taylorreihen definiert, da sie annahmen, dass eine stetige Funktion durch eine unendliche Taylorreihe eindeutig dargestellt werden konnte, die Ableitung war dann einfach der zweite Koeffizient der Reihe. Cauchy wider- legte diese Annahme erstmals. In der Integralrechnung benutzte Cauchy ebenfalls als erster (auch im Cours d’Analyse) eine Definition uber¨ einen Grenzwertprozess, bei dem das Integrationsintervall in immer kleiner werdende Teilintervalle unterteilt wird und die L¨ange jedes Teilintervalls mit dem Funktionswert am Anfang des Intervalls multipliziert wird. Cauchys Leistungen auf dem Gebiet der Funktionentheorie, also der Lehre von komple- xen Funktionen, waren bahnbrechend. Euler und Laplace hatten bereits auf intuitive Weise die komplexe Zahlenebene zur Berechnung von reellen Integralen benutzt, aller- dings ohne diese Vorgehensweise durch einen Beweis rechtfertigen zu k¨onnen. Es war Laplace, der Cauchys Interesse fur¨ diese Methode weckte. Cauchy begann 1814 damit, sich systematisch mit komplexen Funktionen auseinanderzusetzen. Er definierte im Cours d’Analyse als erster formal eine Funktion komplexer Variablen und war faktisch bis etwa 1840 der einzige, der sich mit Funktionentheorie besch¨aftigte. Dementsprechend groß ist sein Beitrag zu diesem Gebiet. In seinem beruhmten¨ Aufsatz Sur les int´egralesd´efinies“ begann er 1814, reelle Funk- ” tionen uber¨ Rechtecke in der komplexen Zahlenebene zu integrieren, um reelle Integrale auszurechnen. Hier tauchen zum ersten Mal die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen auf, die komplexe Differenzierbarkeit und partielle Differentialgleichungen verbinden. Eine komplexwertige Funktion ist genau dann komplex differenzierbar, wenn sie total differen- zierbar ist und dem oben genannten System der Cauchy-Riemann-Gleichungen genugt.¨ Es folgt ein Beweis des cauchyschen Integralsatzes fur¨ das Rechteck. Schließlich besch¨aftigt sich der Aufsatz mit dem Fall, dass die Funktion in dem Rechteck einfache Polstellen hat, und enth¨alt den Residuensatz fur¨ den Fall der Integration uber¨ ein Rechteck. Diese Ans¨atze verfolgt er in den n¨achsten zehn Jahren weiter und verallgemeinerte sie auf be- liebige Integrationspfade (wobei er davon ausging, dass der jordansche Kurvensatz gilt) und auch auf mehrfache Pole. Ferner stellte er Poissons Ansatz, ein reelles Integral uber¨ eine Polstelle durch Ausnutzen der komplexen Ebene auszurechnen, auf fundierten Boden. Alle holomorphen Funktionen k¨onnen mit Hilfe der Integralformel von Cauchy beliebig oft differenziert werden. Man kann dann mit diesen Ableitungen holomorphe Funktionen als Potenzreihen darstellen. Mit der cauchyschen Majorantenmethode kann die Existenz der L¨osungen einer Dif- ferentialgleichung mit einer holomorphen Funktion als rechte Seite untersucht werden. Grundlage dafur¨ ist die Potenzreihenentwicklung der L¨osung. Cauchy untersuchte eben- falls gew¨ohnliche Differentialgleichungen und gab fur¨ lineare Systeme mit konstanten Ko- effizienten einen L¨osungsweg, basierend auf der Fouriertransformation und seinem Residu- ensatz. Er lieferte ebenfalls mit Hilfe des eulerschen Polygonzugverfahrens einen einfachen

25 Existenzbeweis. Nach ihm ist das Cauchyproblem benannt, das sind Anfangswertproble- me, bei denen die L¨osungen auf dem kompletten Raum gesucht werden. Im Kapitel 5 seiner Analyse alg´ebrique untersuchte Cauchy die vier Funktionalglei- chungen Φ(x + y) = Φ(x) + Φ(y) Φ(x + y) = Φ(x) · Φ(y) Φ(x · y) = Φ(x) + Φ(y) Φ(x · y) = Φ(x) · Φ(y)

und bewies, dass die stetigen L¨osungen die Form Φ(x) = ax, Φ(x) = ax (mit a > 0), Φ(x) = a log x, Φ(x) = xa haben. Fur¨ die erste dieser Funktionalgleichungen hat sich seither die Bezeichnung Cauchyfunktionalgleichung bzw. cauchysche Funktionalgleichung eingeburgert.¨ Seine Forschungen in der Elastizit¨atstheorie waren grundlegend auch fur¨ heutige An- wendungen. So entwickelte Cauchy den Spannungstensor eines Wurfels,¨ mit dessen neun Kennzahlen die Spannung in einem Punkt eines elastischen K¨orpers vollst¨andig beschrie- ben werden kann. Dagegen gibt die Cauchyzahl das Verh¨altnis der Tr¨agheitskr¨afte zu den elastischen Kr¨aften bei Schwingungen des Schalls in einem K¨orper an. Nach dem cauchy- schen Ahnlichkeitsmodell¨ haben zwei K¨orper dann das gleiche Elastizit¨atsverhalten, wenn sie die gleiche Cauchyzahl aufweisen. Die Bedeutung dieser Erkenntnis liegt darin, dass man so mit Modellen die Stabilit¨at von realen Bauwerken untersuchen kann. Die theo- retischen Erkenntnisse Cauchys in der Elastizit¨atstheorie machten erst die umfassenden Forschungen Naviers in Bezug auf Bruckenbau¨ an der Ecole´ Polytechnique m¨oglich. In einem gewissen Zusammenhang mit der Elastizit¨atstheorie stehen auch die For- schungen Cauchys uber¨ das Licht. Man wollte zu dieser Zeit das Wesen der Lichtwellen mit Hilfe der Dispersion, also der wellenl¨angenabh¨angigen Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht beim Durchgang durch ein Prisma, untersuchen. Cauchy hatte schon 1815 Wellengleichungen untersucht und sich vor allem in seinen Studien zur Elastizit¨at mit linearen partiellen Differentialgleichungen besch¨aftigt, was er fur¨ die Untersuchung von Lichtwellen ausnutzen konnte. Man ging davon aus, dass der Raum von einem mit einer Flussigkeit¨ vergleichbaren Medium, dem sogenannten Ather,¨ erfullt¨ sein musse,¨ da die Wellen ja einen Tr¨ager fur¨ ihre Verbreitung br¨auchten. Zuf¨allig ergab dieser Ansatz im Wesentlichen die gleichen Ergebnisse wie die heutige Relativit¨atstheorie. Cauchy leitete aus diesen Forschungen empirisch einen einfachen Zusammenhang zwischen Brechungsin- dex des Prismas und der Wellenl¨ange des Lichts ab. Die Cauchyverteilung oder auch t-Verteilung mit einem Freiheitsgrad zeichnet sich da- durch aus, dass sie keine Momente besitzt. Das Integral der Erwartungswerte konvergiert hier nicht. Die Cauchy-Schwarz-Ungleichung gibt an, dass der Absolutwert des Skalarproduktes zweier Vektoren nie gr¨oßer als das Produkt der jeweiligen Vektornormen ist. Diese Er- kenntnis dient beispielsweise als Basis fur¨ den Korrelationskoeffizienten in der Statistik. Ein wertvoller Beitrag zur Stochastik ist das Prinzip der Konvergenz mit Wahrschein- lichkeit 1, mit der eine Folge von Zufallsvariablen fast sicher gegen eine Zufallsvariable konvergiert. In der Geometrie bewies er um 1812, dass konvexe Polyeder starr sind (Starrheitssatz fur¨ Polyeder von Cauchy). Er gab damals auch einen der ersten strengen Beweise des eulerschen Polyedersatzes. Der Mondkrater Cauchy und die Rupes Cauchy sind nach ihm benannt.

26 Hubert Cremer (* 27. Dezember 1897 in Munchen;¨ †26. Februar 1983 in Merzhau- sen) war ein deutscher Mathematiker. Er war von 1949 bis 1966 ordentlicher Professor fur¨ Mathematik am Lehrstuhl C fur¨ Mathematik und Großrechenanlagen an der RWTH Aachen und Autor mehrerer Bucher.¨ Hubert Cremer, Sohn der Physiologieprofessors Max Cremer, war der Bruder der Physikochemikerin Erika Cremer und des Elektrotechnikers und Akustikers Lo- thar Cremer, sowie der Vater des Physikers Christoph Cremer, des Humangeneti- kers Thomas Cremer und des Wirtschaftswissenschaftlers Georg Cremer, General- sekret¨ar des Deutschen Caritasverbandes. Er war verheiratet mit Elisabeth Rahner. Bedeutung Im Juli 1952 organisierte er die erste Konferenz uber¨ elektronische Computer in Deutschland an der RWTH Aachen, bei der der Astrophysiker Ludwig Biermann (G¨ottingen, wo als erste deutsche elektronische Rechenanlage die G1 seines Mitarbei- ters Heinz Billing lief), Alwin Walther, Konrad Zuse, Joachim Weyl (der uber¨ die Entwicklung in den USA berichtete) und Hans Buckner¨ (Analogrechner, Firma Schoppe und Faeser in Minden) Vortr¨age hielten. Teilnehmer war auch Heinz Nixdorf, der damals bei RWE an Computern arbeitete, und sein Chef Josef Lucking¨ . Auf Cre- mers Initiative hin wurde 1956/57 das erste Rechenzentrum heutigen Typs des Landes Nordrhein-Westfalen an der RWTH Aachen gegrundet,¨ dessen Leitung er bis 1965 inne- hatte. 1958 setzte sich Cremer fur¨ die Beschaffung der Z 22 der Zuse KG ein. Die Z 22 war der erste serienm¨aßig hergestellte R¨ohrenrechner und das siebte Modell, das Konrad Zuse konstruierte. Die Anlage war bis Ende 1966 in Betrieb und stand anschließend im ehemaligen Computermuseum der RWTH Aachen. Professor Cremer schloss 1927 seine Studien in Mathematik, Physik und Chemie mit der Promotion bei Ludwig Bieberbach an der Universit¨at Berlin ab. Nach wechselnder T¨atigkeit als Assistent in Munster¨ und Leipzig habilitierte er sich 1931 an der Universit¨at zu K¨oln. Hier wurde er auch 1938 zum außerordentlichen Professor ernannt. 1940 erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor an die Technische Hochschule Breslau, wo er bis Kriegsende blieb. 1946 kam er im Rahmen eines Lehrauftrages an die RWTH Aachen. 1949 wurde er unter Ernennung zum ordentlichen Professor auf den Lehrstuhl fur¨ Mathematik berufen und zum Direktor des Mathematischen Instituts ernannt. Cremer forschte schwerpunktm¨aßig auf dem Gebiet der Funktionentheorie, insbeson- dere zur von Pierre Fatou und in den Jahren 1918/19 begrundeten¨ Iterationstheorie rationaler Funktionen. Im Jahre 1925 verfasste Cremer einen Uber-¨ sichtsartikel uber¨ die Fatou-Juliasche Theorie. Bei seinen eigenen Ergebnissen zum Thema sind vor allem seine Beitr¨age zum Zentrumsproblem zu nennen. Die von ihm als Nicht- ” zentren“ bezeichneten Punkte werden heute zu seinen Ehren Cremerppunkte genannt. Weitere wichtige Arbeiten wurden von ihm den Gebieten der Theoretischen Akustik und Stabilit¨atstheorie der Regelungstechnik gewidmet und er befasste sich mit Schiffs- Hydrodynamik und Str¨omungsproblemen bei Windkan¨alen. Im Bereich der Lehre sind vor allem seine Vorlesungen uber¨ elektronische Rechenanlagen und seine Programmier- kurse zu erw¨ahnen. Das erste Rechenmaschinen-Kolloquium auf deutschem Boden fand auf seine Initiative und unter seiner Leitung im Jahre 1952 in Aachen statt.

Robert Luke Devaney (* 9. April 1948 in Methuen, Massachusetts) ist ein US- amerikanischer Mathematiker. Er studierte am College of the Holy Cross (Bachelor 1969)

27 und wurde 1973 an der University of California, Berkeley bei Stephen Smale mit der Dissertation Reversible Diffeomorphisms and Flows“ promoviert. Er lehrte an der Nor- ” thwestern University und Tufts University, bevor er 1980 Professor an der Boston Uni- versity wurde. Devaney befasst sich mit dynamischen Systemen und mathematischer Chaostheorie (zum Beispiel Mandelbrotmenge, Juliamenge), verfasste daruber¨ einige Lehrbucher¨ fur¨ unterschiedliche Zielgruppen und h¨alt daruber¨ regelm¨aßig in den USA und internatio- nal Vortr¨age. Er ist seit uber¨ 18 Jahren Organisator der Math Field Days der Boston University fur¨ Schuler¨ und erhielt fur¨ seine p¨adagogische Arbeit mehrere Preise der Ma- thematical Association of America, der National Science Foundation (deren Dynamical Systems Technology Project er seit 1989 leitete) und der Universit¨at Boston. Er ist Fellow der American Mathematical Society.

Alexandre Eremenko, Transkription Alexander Emmanuilowitsch Jerjo- menko (* 1954 in Charkiw) ist ein aus der Ukraine stammender US-amerikanischer Ma- thematiker. Er ist Professor an der Purdue University. Er studierte Mathematik an der Nationalen Iwan-Franko-Universit¨at Lemberg mit dem Abschluss 1976 und der Promotion 1979 bei Naum Samoilowitsch Landkof und Anatoli Asirowitsch Goldberg (1930–008) an der Universit¨at Rostow (Asym- ptotische Eigenschaften meromorpher und subharmonischer Funktionen). Bis 1990 war er in Charkiw am Institut fur¨ Physik tiefer Temperaturen und ging dann in die USA. Er befasst sich mit geometrischer Funktionentheorie, Wertverteilungstheorie und kom- plexer Dynamik sowie mit mathematischer Physik. In der komplexen Dynamik untersuchte er entkommende Mengen (Escaping Sets) bei der Iteration ganzer transzendenter Funktionen und vermutete, dass die Zusammenhangs- komponenten dieser entkommenden Menge unbeschr¨ankt sind (Vermutung von Eremen- ko). Die Vermutung ist offen. 2002 war er Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Peking (Value distribution theory and potential theory). Er erhielt den Humboldt-Forschungspreis und wurde 2013 Fellow der American Mathematical Society.

Pierre Joseph Louis Fatou (* 28. Februar 1878 in Lorient; †10. August 1929 in Pornichet) war ein franz¨osischer Mathematiker. Nach dem Studium an der Ecole´ normale sup´erieurein Paris von 1898 bis 1900 arbeitete er ab 1901 am Observatorium in Paris. Ne- ben seinen astronomischen Forschungen lieferte er eine Vielzahl mathematischer Arbeiten und promovierte 1907 in Mathematik mit einer Arbeit uber¨ trigonometrische Reihen und Taylorreihen. Diese war eine der ersten Anwendungen des Lebesgueintegrals auf andere Probleme der Analysis. Bereits im Jahre 1906 untersuchte er die Iteration gewisser ratio- naler Funktionen. Sp¨ater befasste er sich ausfuhrlicher¨ mit dem Thema und ver¨offentlichte in den Jahren 1919 und 1920 (in drei Teilen) seine umfangreichen Untersuchungen uber¨ Iteration rationaler Funktionen. Unabh¨angig davon wurden solche Untersuchungen gleich- zeitig auch von Gaston Julia durchgefuhrt.¨ Fatou wollte ursprunglich¨ am 1915 fur¨ das Jahr 1918 ausgeschriebenen Wettbewerb fur¨ den Preis der Akademie der Wissenschaften teilnehmen, der diesem Thema gewidmet war, und ver¨offentlichte erste Ergebnisse in den Comptes Rendus im Dezember 1917. Nachdem Gaston Julia, der zu ¨ahnlichen Ergeb- nissen gekommen war, in einer Note in den Comptes Rendus 1917 Priorit¨atsanspruche¨ anmeldete (er hatte seine Arbeit zuvor in einem versiegelten Umschlag bei der Akademie

28 hinterlegt), nahm er davon Abstand. Fatou zeigte 1906, dass sie eine nicht-analytische Jordankurve ist. Die in der Theorie grundlegenden Mengen werden heute als Fatoumenge und Julia- menge bezeichnet. Fatou und Julia definierten diese Mengen auf unterschiedliche Weise. Heute folgen praktisch alle Lehrbucher¨ uber¨ komplexe Dynamik, wie die Fatou-Juliasche Iterationstheorie auch genannt wird, dem fatouschen Zugang. Bis Anfang der 1980er Jahre fand die komplexe Dynamik relativ wenig Beachtung, trotz wichtiger Beitr¨age von Hu- bert Cremer, und anderen. Dann stieg das Interesse daran stark an, zum einen auf Grund der sch¨onen Computergraphiken von Juliamengen, die durch Benoˆıt Mandelbrot, Heinz-Otto Peitgen und andere einem breiten Publikum be- kannt wurden, zum anderen durch wichtige neue mathematische Methoden, die durch , , John H. Hubbard und weitere Mathematiker eingefuhrt¨ wurden. Bei der Untersuchung der Iteration von Funktionen zweier komplexer Ver¨anderlicher wurde Fatou auf die heute Fatou-Bieberbach-Gebiete genannten Mengen gefuhrt.¨ Im Jahre 1926 untersuchte er auch die Iteration ganzer transzendenter Funktionen. Ein wei- teres bedeutendes Ergebnis seiner Arbeiten ist das Lemma von Fatou und der Satz von Fatou aus seiner Dissertation, der Bedingungen angibt, wann eine im offenen Einheits- kreis definierte holomorphe Funktion punktweise auf den Rand fortgesetzt werden kann. Er ver¨offentlichte auch uber¨ Himmelsmechanik, zum Beispiel Doppelsternsysteme. Ein Jahr vor seinem Tod erhielt er 1928 den Titel eines Astronomen. Er war Mitglied der Ehrenlegion. Er war ab 1904 Mitglied der Soci´et´eMath´ematiquede France (SMF) und 1926 deren Pr¨asident.

Theodore William Gamelin (* 1939) is an American mathematician. He is a professor emeritus of mathematics at the University of California, Los Angeles. He received his B.S. degree in mathematics from Yale University in 1960, and completed his Ph.D. at the University of California, Berkeley in 1963. His doctoral advisor was Frantiˇek Wolf. His doctoral dissertation was titled The extension problem for restrictions of ” functions in a subspace of c(x)“. He served as C.L.E.Moore Instructor at the Massachusetts Institute of Technology from 1963 to 1965, before joining the UCLA faculty. In 2012, he became one of the inaugural Fellows of the American Mathematical Society.

M.E. Herring k¨onnte ein Schuler¨ von Irvine Noel Baket sein, jedenfall war er um 1998 auch am Imperial College in London t¨atig.

Michael Robert Herman (* 6. November 1942 in New York; †2. November 2000 in Paris) war ein franz¨osischer Mathematiker, der sich mit dynamischen Systemen besch¨aftig- te. Er ging in Frankreich zur Schule und studierte an der Ecole´ polytechnique bei Laurent

Schwartz. Er promovierte 1976 an der Universit¨at Paris-Sud¨ (Univ. Paris XI) in Orsay bei Harold Rosenberg (Sur la conjugaison differentiable des diffeomorphismes du cercle a des rotations). Herman leitete ein bekanntes Seminar uber¨ dynamische Systeme in Paris an der Ecole´ Polytechnique und war Mitgrunder¨ und Herausgeber der Zeitschrift Ergodic ” Theory and Dynamical Systems“.

29 Herman wurde durch seine Arbeiten uber¨ die Linearisierung von Diffeomorphismen des Kreises bekannt, untersuchte invariante Kurven von Twist-Diffeomorphismen, Probleme der Kleinen Nenner“ (Small Divisors), Konstruktion invarianter Tori bei quasiperiodi- ” scher Bewegung. In der Komplexen Dynamik ist der Herman-Ring (auch als Arnold- Herman-Ring bezeichnet) nach ihm benannt. Er war Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress (ICM) in Hel- sinki 1978 (Resultats recents sur la conjugaison differentiable) und in Berlin 1998 (Some open problems in dynamical systems). 1976 erhielt er den Salem-Preis. Zu seinen Doktoranden z¨ahlt der Fieldsmedaillen-Gewinner Jean-Christophe Yoccoz.

Adolf Hurwitz (* 26. M¨arz 1859 in Hildesheim; † 18. November 1919 in Zurich)¨ war ein deutscher Mathematiker. Er stammte aus einer judischen¨ Familie in Hildesheim. Sein Vater, Salomon Hurwitz, war als Handwerker t¨atig, jedoch gesch¨aftlich nicht sehr erfolgreich. Die Mutter, Elise Wertheimer, starb, als Adolf drei Jahre alt war. In Hildesheim besuchte Hurwitz den damaligen Realklassenzweig des Andreanums. Dort wurde seine mathematische Begabung durch seinen Lehrer Hermann Schubert erkannt und gef¨ordert. Schon als 17-j¨ahriger Schuler¨ ver¨offentlichte Hurwitz mit seinem Lehrer erste wissenschaftliche Arbeiten. Hurwitz begann 1877 das Studium der Mathematik an der K¨oniglich Bayerischen Technischen Hochschule, an der Felix Klein sein maßgeblicher Lehrer wurde. 1877–1878 studierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universit¨at zu Berlin, wo er Vorlesungen bei Ernst Eduard Kummer, Karl Weierstraß und Leopold Kronecker besuchte. Nachdem Klein einen Ruf an die Universit¨at Leipzig angenommen hatte, folgte ihm 1880 Hurwitz dorthin und promovierte 1881 bei Klein uber¨ das Thema Grundlagen einer independenten Theorie der elliptischen Modulfunktionen und Theorie der Multiplikatorgleichungen 1. Stufe. Danach wechselte er an die Georg-August-Universit¨at G¨ottingen, wo er sich habilitierte und zum Privatdozenten ernannt wurde. 1884 erhielt er auf Betreiben Ferdinand von Lindemanns ein Extraordinariat an der Albertus-Universit¨at K¨onigsberg, wo er Hermann Minkowski und David Hilbert kennen- lernte, die dort promovierten. Mit Letzterem verband ihn eine lebenslange Freundschaft. 1892 wurde er der Nachfolger von Ferdinand Georg Frobenius an der ETH Zurich.¨ Er besch¨aftigte sich vor allem mit Zahlentheorie, aber auch mit Funktionentheorie, wo er das Geschlecht von riemannschen Fl¨achen untersuchte. Nach ihm sind die Hurwitzquaternionen, das Hurwitzpolynom und das Hurwitzkrite- rium aus der Stabilit¨atstheorie dynamischer Systeme sowie die Riemann-Hurwitz-Formel aus der Funktionentheorie benannt. Mehrere S¨atze tragen den Namen Satz von Hurwitz. So gibt es in der Funktionentheorie den Satz von Hurwitz uber¨ Folgen holomorpher Funk- tionen und den Satz von Hurwitz uber¨ Automorphismengruppen kompakter riemannscher Fl¨achen. In der Zahlentheorie ist ein Resultat uber¨ Approximation reeller Zahlen durch rationale Zahlen als Satz von Hurwitz bekannt. 1897 hielt Hurwitz einen Plenarvortrag auf dem ersten Internationalen Mathemati- kerkongress in Zurich¨ (Uber¨ die Entwickelung der allgemeinen Theorie der analytischen Funktionen in neuerer Zeit).

Gaston Maurice Julia (* 3. Februar 1893 in Sidi bel Abb`es,Algerien; †19. M¨arz 1978 in Paris) war ein franz¨osischer Mathematiker. Julia wuchs in Franz¨osisch-Algerien auf, wo sein Vater landwirtschaftliche Maschinen reparierte. Er besuchte die Schule in

30 Oran und ab 1910 mit einem Stipendium ein Gymnasium in Paris. Er studierte ab 1911 an der Ecole´ normale sup´erieure(ENS), nachdem er bei den Eingangsprufungen¨ zur ENS (und zur Ecole´ polytechnique) als Bester abgeschnitten hatte. 1914 wurde er als Unteroffizier im Ersten Weltkrieg eingezogen und bei seinem ersten Gefecht im Januar 1915 schwer verwundet, eine Kugel traf ihn ins Gesicht und zerst¨orte die Nase, so dass er nach mehreren erfolglosen Wiederherstellungs-Operationen fur¨ den Rest seines Lebens einen Lederriemen im Gesicht trug. 1916 wurde er bei Emile´ Picard am Coll`egede France promoviert. 1918 ver¨offentlichte er seinen bekanntesten Aufsatz uber¨ die Iteration rationaler Funktionen (M´emoiresur l’it´erationdes fonctions rationnelles, Journal de Math´ematiquespures et appliqu´ees). In diesem Aufsatz fuhrte¨ er die Juliamenge ein, die eine wichtige Rolle in der Theorie dynami- scher Systeme spielt. Unabh¨angig von Julia fuhrte¨ auch Pierre Fatou entsprechende Untersuchungen durch. Seit den 1980er Jahren ist dieses wieder ein Gebiet intensiver mathematischer Forschung. Die damit zusammenh¨angenden Computergraphiken wurden von Benoˆıt Mandelbrot,Heinz-Otto Peitgen und anderen auch einem breiteren nichtmathematischen Publikum bekannt gemacht. Fur¨ seine Arbeit uber¨ die Iteration rationaler Funktionen erhielt Julia den Großen Preis der franz¨osischen Akademie der Wissenschaften und hielt 1919 die Peccot-Vorlesungen am Coll`egede France. Im selben Jahr wurde er Maˆıtrede conf´erences an der ENS, Repetitor an der Ecole´ Polytechnique und Professor an der Sorbonne. 1937 wurde er Professor an der Ecole´ Polytechnique. 1934 wurde er in die franz¨osische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, deren Pr¨asident er 1950 war, und war Mitglied zum Beispiel der P¨apstlichen Akademie der Wissenschaften. Er war 1932 Pr¨asident der franz¨osischen Mathematischen Gesellschaft. 1950 wurde er Offizier der Ehrenlegion. Er war seit 1916 mit Marianne Chausson verheiratet (seine Krankenschwester, die Tochter des Komponisten Ernest Chausson) und hatte mit ihr sechs Kinder. Eines von ihnen war der Chemiker Marc Julia.

Linda Goldway Keen (geboren als Linda Goldway; * 9. August 1940 in New York City) ist eine US-amerikanische Mathematikerin. Sie studierte am City College of New York und am Courant Institute of Mathematical Sciences of New York University, wo sie 1964 bei Lipman Bers promovierte (Canonical Polygons for Finitely Generated Fuchsian Groups). 1964/65 war sie am Institute for Advanced Study und danach am Hunter College der City University of New York (CUNY). 1968 ist sie am Lehman College der CUNY, wo sie seit 1974 Professor ist und daneben Mitglied des Graduate Center CUNY. Keen war auch unter anderem Gastprofessorin und Gastwissenschaftlerin an der Princeton University, der University of California, Berkeley, dem MIT, der Boston University und der Columbia University. Sie arbeitete uber¨ riemannsche Fl¨achen und ihre Modulr¨aume (Teichmuller-R¨ ¨aume, sie klassifizieren konforme Strukturen auf riemannschen Fl¨achen) und h¨oher dimensio- nale hyperbolische Geometrie (von der riemannsche Fl¨achen zweidimensionale Beispiele liefern), komplexe Dynamik sowie die der Theorie zugeh¨origen kleinschen und fFuchs- schen Gruppen. Teilweise arbeitete sie dabei mit Caroline Series zusammen. Bereits in ihrer Dissertation bei Bers gab sie geometrische Deutungen der reell-analytischen Struktur von Teichmullerr¨ ¨aumen, die Bers und Lars V. Ahlfors zuvor untersucht hatten. Mit Caroline Series untersuchte sie die von Bernard Maskit eingefuhrte¨ komplex-analytische Struktur von Teichmullerr¨ ¨aumen mit geometrischen Methoden der hyperbolischen Geometrie, die William Thurston mit seiner Schule entwickelt hatte.

31 Von Keen stammt das fur¨ die geometrische Analyse hyperbolischer Fl¨achen wichtige Collar-Lemma, das geschlossenen geod¨atischen Kurven auf hyperbolischen Fl¨achen ein Nachbarschaftsgebiet (collar neighborhood) mit einem Fl¨achenmaß zuordnet, dass nur von der L¨ange der Geod¨ate abh¨angt und monoton gegen Unendlich geht, wenn die L¨ange der Geod¨ate gegen Null geht. 1985 bis 1987 war sie Pr¨asidentin der Association for Women in Mathematics. 1992 bis 1995 war sie Vizepr¨asidentin der American Mathematical Society, deren Fellow sie ist. 1993 war sie Noether-Lecturer (Hyperbolic geometry and spaces of Riemann Surfaces).

Paul Koebe (* 15. Februar 1882 in Luckenwalde; † 6. August 1945 in Leipzig) war ein deutscher Mathematiker, der sich fast ausschließlich mit Funktionentheorie besch¨aftigte. Er war der Sohn eines Fabrikbesitzers in Luckenwalde (L¨oschfahrzeuge fur¨ die Feuerwehr) und besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin. Er studierte in Kiel (Sommer- semester 1900) und danach an der Technischen Hochschule und der Universit¨at in Berlin, wo er bei Hermann Amandus Schwarz 1905 promovierte. Ein weiterer seiner Lehrer war Friedrich Schottky. Danach ging er nach G¨ottingen, wo er sich 1907 habilitierte und 1910 außerplanm¨aßiger außerordentlicher Professor wurde. 1911 bis 1914 war er au- ßerordentlicher Professor in Leipzig, danach ordentlicher Professor in Jena und ab 1926 in Leipzig, wo er 1933 bis 1935 Dekan der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakult¨at war. 1922 erhielt er den Ackermann-Teubner-Ged¨achtnispreis. Im November 1933 geh¨orte er zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Univer- sit¨aten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. Koebe war Mitglied der S¨achsischen, der Preußischen, der Heidelberger und der G¨ot- tinger Akademie der Wissenschaften sowie der Finnischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Doktoranden in Leipzig z¨ahlt Herbert Grotzsch¨ . Heinz Prufer¨ habili- tierte sich bei ihm und war sein Assistent. Koebe heiratete nie. Er starb an Magenkrebs. Er wurde in der Familiengrabst¨atte auf dem Evangelischen Friedhof in Luckenwalde bei- gesetzt. Koebe wurde im Jahre 1907 schnell beruhmt¨ fur¨ seinen Beweis des von Felix Klein, Schwarz und Henri Poincare´ vorbereiteten Uniformisierungstheorems fur¨ riemann- sche Fl¨achen, ein Thema auf das er immer wieder in unterschiedlichen Varianten zuruck-¨ kam. Dieser Uniformisierungssatz ist die Verallgemeinerung des riemannschen Abbildungs- satzes auf riemannsche Fl¨achen. Er l¨oste damit das 22. von Hilberts Problemen, damals eines der gr¨oßten ungel¨osten Probleme der Mathematik. Fur¨ den ursprunglichen¨ Beweis des Hauptsatzes der Uniformisierungstheorie benutzte er einen nach ihm benannten Ver- zerrungssatz (den Viertelsatz“). Koebe gab auch einen Beweis von Riemanns Abbil- ” dungssatz 1914, der den Beweis von Caratheodory´ von 1912 vereinfachte. Gleichzeitig gab auch Poincare´ 1907 einen Beweis des Hauptsatzes der Uniformisierungstheorie mit seiner Methode de Balayage“. Das Theorem besagt, dass eine einfach zusammenh¨angende ” riemannfl¨ache biholomorph ¨aquivalent (d.h. durch eineindeutige holomorphe Funktionen abbildbar auf) entweder zur Riemannsph¨are, der komplexen Ebene oder der Einheitskreis- scheibe ist. Bei beliebigen Riemannfl¨achen, die sich als Quotientenr¨aume ihrer Uberlage-¨ rungsfl¨ache modulo Abbildungen diskreter Gruppen ergeben, ist die Uberlagerungsfl¨ ¨ache einfach zusammenh¨angend, und das Theorem greift ebenfalls. Einer von Koebes Verzerrungss¨atzen ist das koebesche 1 -Theorem“ (Viertelsatz) fur¨ ” 4 Abbildungen der Einheitskreisscheibe durch schlichte Funktionen. Die offene Kreisscheibe 1 mit Radius 4 um den Ursprung ist im Bild einer Abbildung des Inneren der Einheitskreis- D D 1 scheibe durch beliebige in schlichte Funktionen. Dabei ist der Wert 4 bestm¨oglich,

32 z wie das Beispiel der Koebefunktion f(z) = (1−z)2 zeigt. Koebe untersuchte auch die konformen Abbildungen mehrfach zusammenh¨angender ebener Gebiete auf von Kreisen berandete Gebiete. Hier bewies er fur¨ endlich mehr- fach zusammenh¨angende Gebiete die konforme Aquivalenz¨ (das heißt Existenz schlichter Abbildungen) zu von Kreisen berandeten Gebieten (Kreisnormierungsproblem). Die Un- tersuchungen wurden z.B. in der Schule von William Thurston weitergefuhrt,¨ der geometrische Zug¨ange (uber¨ Kugelpackungen) zum riemannschen Abbildungssatz bzw. seinen Erweiterungen im Uniformisierungstheorem untersuchte. Oded Schramm bewies in diesem Zusammenhang 1992 eine bis dahin offene Vermutung von Koebe. Koebe hielt mit seiner Auffassung der Bedeutung seiner Leistungen nicht hinter dem Berg. In Deutschland zirkulierten zahlreiche Anekdoten uber¨ ihn und seine h¨aufig etwas poltrige Art. Sein ehemaliger Assistent Cremer bescheinigt ihm allerdings einen Sinn fur¨ Humor und hebt die Lebendigkeit seiner Vorlesungen hervor. Außerdem hebt Cremer hervor, dass Koebe grunds¨atzlich seine teilweise sehr detailverliebten Ver¨offentlichungen allein schrieb. Sein Interesse konzentrierte sich auf die Funktionentheorie, obwohl er auch eine Reihe von Arbeiten uber¨ clifford-kleinsche Raumformen schrieb. An Anwendungen war er uberhaupt¨ nicht interessiert. Sein Spezialgebiet verteidigte“ er sehr k¨ampferisch ” gegen Konkurrenten. Koebe wurde aufgrund seiner gewichtigen Selbsteinsch¨atzung auch Gegenstand von Spott und praktischen Scherzen. Beispielsweise verbreitete man, selbst die Straßenjungen aus Koebes Heimatort Luckenwalde wurden¨ den großen Funktionentheoretiker preisen, wie sich Hans Freudenthal erinnerte, der wie Koebe aus Luckenwalde kam, Koebe aber dort nur einmal aus der Ferne gesehen hatte. Gleich bei seinem ersten Tag des Mathematikstudiums in Berlin fragte Ludwig Bieberbach, nachdem er von seinem Heimatort erfuhr, nach, ob er auch einer dieser Straßenjungen gewesen sei. Man erz¨ahlte, Koebe wurde¨ nur anonym in Hotels absteigen, da er es leid sei, die Frage zu beantworten, ob er mit dem großen Funktionentheoretiker verwandt sei, und unter Kollegen bezeichnete man ihn kurz als den gr¨oßten Funktionentheoretiker aus Luckenwalde. Bekannt ist ein Vorfall, der sich mit L.E.J. Brouwer ereignete. Brouwer besch¨aftig- te sich um 1911 mit der strengen topologischen Begrundung¨ des Uniformisierungssatzes von Poincare´ und Koebe, auf dem sich Koebes Ruhm grundete.¨ Koebe machte im Anschluss an das Symposium der DMV uber¨ automorphe Funktionen im September 1911 in Karlsruhe, bei dem Brouwer seine Arbeit vorstellte und auch Koebe vortrug, selbst Priorit¨atsanspruche¨ in dieser Angelegenheit geltend und erkl¨arte Brouwers Arbeiten fur¨ uberfl¨ ussig,¨ da die Ergebnisse schon aus seinen eigenen S¨atzen folgen wurden.¨ Darauf wandte sich Brouwer an Hilbert und sp¨ater sogar an Poincare´, w¨ahrend er vergebens Koebe aufforderte, seinen eigenen Beweis vorzustellen (den dieser auch nicht erbringen konnte, weil er sich in seinen Priorit¨atsanspruchen¨ gegenuber¨ dem Pionier der Topolo- gie Brouwer verrannt hatte). Seine eigene Note dazu ver¨offentlichte Brouwer 1912 in den Nachrichten der G¨ottinger Akademie. Brouwer hatte auch als kleines Zugest¨andnis an Koebe diesen in einer Passage erw¨ahnt, fand aber in der ver¨offentlichten Version ei- ne Umformulierung, die seiner Anerkennung von Koebes Priorit¨at gleichkam. Nach einer Anekdote, die Freudenthal erz¨ahlt w¨are ein Unbekannter mit tief ins Gesicht gezoge- nem Hut, hochgeschlagenem Kragen und blauen Brillengl¨asern beim Drucker vorstellig geworden und h¨atte Einsicht in die Druckvorlage genommen. Koebe selbst schob dies laut Freudenthal auf einen ublen¨ Streich, den man ihm gespielt habe. Brouwer war emp¨ort und kontrollierte in der Folge sehr genau, was er zur Ver¨offentlichung freigab.

33 Janina Kotus (* 15. November 1954 in Warschau) ist eine polnische Mathematike- rin. Da in Wikipedia leider kein Eintrag zu finden ist, gebe ich hier den Link zu ihrm curriculum vitae an: https://www.impan.pl/ kotus/cv.html

Samuel Lattes` (* 21. Februar 1873 in Nizza; †5. Juli 1918) war ein franz¨osischer Mathematiker. Er studierte von 1892 bis 1895 an der Ecole´ Normale Superieure. Danach war er Lehrer in Algier, Dijon und Nizza. Nach seiner Promotion in Paris im Jahre 1906 war er zun¨achst ab 1908 in Montpellier, danach in Besan¸con,bevor er 1911 schließlich Professor an der Universit¨at in Toulouse wurde. Er starb 1918 an Typhus. Heute ist Latt`esvor allem fur¨ seine Arbeiten zur komplexen Dynamik bekannt, insbe- sondere fur¨ Beispiele rationaler Funktionen, deren Juliamenge die gesamte riemannsche Zahlenkugel ist. Heute bezeichnet man diese auch als Latt`esabbildungenoder Latt`esbei- spiele.

Leopold´ Leau (* 6. April 1868; †28. Dezember 1943) war ein franz¨osischer Mathe- matiker. Er studierte an der Ecole´ normale sup´erieure in Paris und promovierte dort im April 1897. Sp¨ater war er Professor an der Universit¨at Nancy. Dort war er 1931–34 Dekan der Facult´edes Sciences. In seiner Dissertation untersuchte Leau unter anderem das Iterationsverhalten holo- morpher Funktionen in der Umgebung eines rational indifferenten Fixpunkts. Seine Re- sultate sind heute unter dem Namen (Leau-Fatou) Flower Theorem bekannt. Sie spielen in der komplexen Dynamik eine wichtige Rolle. Leau initiierte am 17. Januar 1901 die Delegation zur Annahme einer internationalen Hilfssprache und engagierte sich auch im Folgenden fur¨ Plansprachen. Mit Louis Cou- turat verfasste er eine Geschichte der Universalsprachen.

Joseph Liouville, (* 24. M¨arz 1809 in Saint-Omer; † 8. September 1882 in Paris) war ein franz¨osischer Mathematiker. Er studierte in Toul und ab 1825 in Paris an der Ecole´ polytechnique, wo er zwei Jahre sp¨ater, unter anderem bei Poisson, seine Prufungen¨ ablegte. Nach einigen Jahren als Assistent an verschiedenen Universit¨aten wurde er 1838 zum Professor an der Ecole´ polytechnique ernannt. 1850 setzte er sich bei der Bewerbung um einen Mathematiklehrstuhl am Coll`egede France knapp gegen Cauchy durch, woraus sich ein Streit zwischen den beiden entwickelte, und 1857 wurde er uberdies¨ auf einen Mechaniklehrstuhl berufen. Neben seiner herausragenden Forschung war Liouville auch ein sehr guter Organisa- tor. 1836 grundete¨ er das noch heute sehr angesehene Journal de Math´ematiques Pures et Appliqu´ees,um die Arbeit anderer Mathematiker zu verbreiten und leitete dieses Journal von 1836 und 1874. Er war der erste, der die Bedeutung der Schriften von Evariste´ Ga- lois voll erfasste und ver¨offentlichte sie 1846 in seiner Zeitschrift. Liouville war auch zeitweise politisch aktiv und wurde 1848 in die Nationalversammlung gew¨ahlt. Nach einer Wahlniederlage im Jahr darauf zog er sich allerdings aus der Politik zuruck.¨ 1839 wurde er Mitglied der Acad´emiedes sciences. 1856 wurde er zum ausw¨artigen Mitglied der G¨ottin- ger Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. 1859 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gew¨ahlt. Liouville arbeitete in zahlreichen mathematischen Teilgebieten, darunter Zahlen- theorie, Funktionentheorie und Differentialgeometrie, aber auch in mathematischer Phy- sik und sogar in Astronomie. Ein bekanntes Ergebnis ist der Satz von Liouville, an

34 dem heute keine Einfuhrung¨ in die Funktionentheorie vorbeikommt. In der Theorie der quasikonformen und quasiregul¨aren Abbildungen wird als Satz von Liouville sein Er- gebnis bezeichnet, dass fur¨ n ≥ 3 die einzigen konformen Abbildungen eines Gebiets in Rn Einschr¨ankungen von M¨obiustransformationen sind. Liouville war auch der erste, dem ein Beweis fur¨ die Existenz transzendenter Zahlen gelang, indem er eine unendliche Klasse solcher Zahlen als Kettenbruche¨ konstruierte (Liouvillezahlen). Er fuhrte¨ auch ei- ne zahlentheoretische Funktion, die Liouvillefunktion ein. Weiter zeigte Liouville, dass die Stammfunktion elementarer Funktionen nicht elementar sein muss. Seine Frage nach einem Algorithmus, mit dem entschieden werden kann, wann dies der Fall ist, wurde 1969 von Robert Risch beantwortet. In der mathematischen Physik stellt die Sturm- Liouville-Theorie, die er gemeinsam mit Charles-Franc¸ois Sturm entwickelte, einen der wichtigsten Zug¨ange zur L¨osung von Integralgleichungen dar. Nach dem liouvilleschen Satz fur¨ konservative physikalische Systeme, die im Hamiltonformalismus beschrieben wer- den, ist das von benachbarten Trajektorien im Phasenraum eingeschlossene (mehrdimen- sionale) Volumen konstant. Der Mondkrater Liouville ist nach ihm benannt.

Rudolf Otto Sigismund Lipschitz (* 14. Mai 1832 in K¨onigsberg i. Pr.; †7. Okto- ber 1903 in Bonn) war ein deutscher Mathematiker und Hochschullehrer. Er studierte ab 1847 an der Albertus-Universit¨at K¨onigsberg Mathematik und wurde Mitglied des Corps Littuania. Sp¨ater ging er an die Friedrich-Wilhelms-Universit¨at Berlin und promovierte 1853 bei Gustav Dirichlet und Martin Ohm zum Dr. phil. Er wurde 1857 in Berlin Privatdozent und heiratete Ida Pascha. 1862 folgte die Ernennung zum a.o. Professor an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universit¨at Breslau. 1864 erhielt er den Lehrstuhl der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universit¨at Bonn. Dort war Felix Klein einer sei- ner Schuler¨ und eine Zeitlang sein Assistent. Fur¨ das akademische Jahr 1874/75 wurde er zum Rektor der Bonner Universit¨at gew¨ahlt. In seiner Rektoratsrede am 18. Oktober 1874 befasste er sich mit Wissenschaft und Staat. Lipschitz arbeitete auf fast allen Gebieten der reinen und angewandten Mathema- tik. Insbesondere wurde er bekannt durch sein Lehrbuch der Analysis (2 Bde., Bonn 1877 und 1880). Heute noch von besonderer Bedeutung ist der von ihm entwickelte Begriff der Lipschitz-Stetigkeit. Er forschte auch auf dem Gebiet der Differentialformen und der Mechanik, insbesondere der Hamilton-Jacobischen Methode zur L¨osung von Bewegungs- gleichungen. Außerdem ist ein Konvergenzkriterium fur¨ Fourier-Reihen nach ihm benannt. Begraben ist er auf dem Poppelsdorfer Friedhof. 1959 ver¨offentlichte die Annals of Mathematics einen Leserbrief, der angeblich in Hades von Lipschitz verfasst wurde. Der Autor freut sich daruber,¨ dass man sich wieder fur¨ die Clifford-Algebren interessiert. Ferner weist er auf einige Ergebnisse aus seinem Untersu- chungen uber¨ die Summen von Quadraten hin, die besser als die bis 1959 wiederentdeckten sind.

Yinian Lu¨ Zu diesem Namen habe ich leider uberhaupt¨ nichts gefunden. Vermutlich eine chinesische Mathematikerin oder ein chinesischer Mathematiker. Es ist mir auch nicht klar welches der Vor- und Nachname sind. Er/sie hat einige Arbeiten zur Iteration mit N.I. Baker und J. Kotus geschrieben.

Mikhail Yu’revic Lyubich (* 25 February 1959 in Kharkiv, Ukraine) is a mathe- matician who made important contributions to the fields of holomorphic dynamics and chaos theory.

35 He graduated from Kharkiv University with a master’s degree in 1980, and obtained his PhD from Tashkent University in 1984. Currently, he is a Professor of Mathematics at Stony Brook University and the Director of the Institute of Mathematical Sciences at Stony Brook. From 2002–2008, he also held a position of Canada Research Chair at the University of Toronto. He is credited with several important contributions to the study of dynamical systems. In his 1984 Ph.D. thesis, he proved fundamental results on ergodic theory and the struc- tural stability of rational mappings. Due to this work, the of maximal entropy of a rational map (the Mane-Lyubich´ measure) bears his name. In 1999, he published the first non-numerical proof of the universality of the Feigenbaum constants in chaos theory. He received the 2010 Jeffery-Williams Prize from Canadian Mathematical Society. In 2012 he became a fellow of the American Mathematical Society. He was selected as one of the plenary speakers for the 2014 ICM in Seoul.

Benoˆıt B. Mandelbrot (* 20. November 1924 in Warschau; †14. Oktober 2010 in Cambridge, Massachusetts) war ein franz¨osisch-US-amerikanischer Mathematiker. Er leistete Beitr¨age zu einem breiten Spektrum mathematischer Probleme, einschließlich der theoretischen Physik, der Finanzmathematik und der Chaosforschung. Am bekanntesten aber wurde er als Vater der fraktalen Geometrie. Er beschrieb die Mandelbrotmenge und pr¨agte den Begriff fraktal“. Er trug selbst stark zur Popularisierung seiner Arbeiten bei, ” indem er Bucher¨ schrieb und Vorlesungen hielt, die fur¨ die Allgemeinheit bestimmt waren. Mandelbrot verbrachte die meiste Zeit seiner Karriere an IBMs Thomas J. Wat- son Research Center, wo er die Position eines IBM Fellows innehatte. Sp¨ater wurde er Sterling Professor fur¨ Mathematik (Mathematical Sciences) an der Yale University. Er war ferner wissenschaftlicher Mitarbeiter am Pacific Northwest National Laboratory, der Universit¨at Lille I, dem Institute for Advanced Study und dem Centre national de la recherche scientifique. Mandelbrot lebte bis zu seinem Tode in den Vereinigten Staaten. Mandelbrot wurde in Polen in einer litauisch-judischen¨ Familie mit akademischer Tradition geboren. Seine Mutter war Arztin,¨ sein Vater Kleiderh¨andler. Als Junge wur- de Mandelbrot von zwei Onkeln in die Mathematik eingefuhrt,¨ von denen einer, Szolem Mandelbrojt, am Coll`egede France Mathematik lehrte. Im Jahr 1936 siedelte die Fami- lie nach Paris uber,¨ um der sich ankundigenden¨ Bedrohung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Mandelbrot besuchte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das Lyc´eeRolin in Paris. Er erwarb den Ruf einer mathematischen Hochbegabung durch seine F¨ahigkeit, Aufgaben als geometrische Probleme zu visualisieren. Bei einem nationalen Test l¨oste er eine Rechenaufgabe als einziger Schuler¨ in Frankreich. Nach eigener Angabe versuchte er dazu gar nicht erst, das komplizierte Integral zu berechnen, sondern erkannte, dass der Aufgabe eine Kreisformel zugrunde lag, und transformierte die Koordinaten, um den Kreis in der L¨osung einzusetzen. Seine Familie fluchtete¨ vor der deutschen Besatzung ins Vichy-Frankreich, nach Tulle, wo ihn der Rabbiner von Brive-la-Gaillarde bei seiner Schulausbildung unterstutzte.¨ Von 1945 bis 1947 studierte er Ingenieurwissenschaften an der Ecole´ polytechnique bei Gaston Julia und Paul Levy´ . Anschließend absolvierte er ein Studium der Aeronautik am California Institute of Technology, das er 1949 mit einem Master abschloss. Nach seinem Studium kehrte Mandelbrot nach Frankreich zuruck¨ und promovier- te 1952 an der Universit¨at von Paris im Fach Mathematik. Von 1949 bis 1957 war er

36 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre national de la recherche scientifique. W¨ahrend dieser Zeit verbrachte Mandelbrot ein Jahr am Institute for Advanced Study in Prince- ton (New Jersey), wo er von John von Neumann unterstutzt¨ wurde. 1955 heiratete er Aliette Kagan, zog mit ihr nach Genf und anschließend zuruck¨ nach Frankreich. Nach einem Jahr an der Universit´eLille Nord de France trat Mandelbrot 1958 in die Forschungsabteilung im Thomas J. Watson Research Center bei IBM ein und wurde dort 1974 zum IBM-Fellow ernannt, eine Auszeichnung, die ihm weitgehende Freiheiten fur¨ seine Forschungen erm¨oglichte. Ab 1951 ver¨offentlichte Mandelbrot Arbeiten uber¨ Probleme der Mathematik, aber auch uber¨ Probleme angewandter Gebiete wie der Informationstheorie, Wirtschaftswissen- schaften und Str¨omungsmechanik. Er war zunehmend davon uberzeugt,¨ dass eine Vielzahl von Problemen in diesen Gebieten von zwei zentralen Themen bestimmt seien, n¨amlich fat tail“-Wahrscheinlichkeitsverteilungen und selbst¨ahnlichen Strukturen. ” Mandelbrot fand heraus, dass die Preisschwankungen der Finanzm¨arkte nicht durch eine Normalverteilung, sondern durch eine L´evyverteilung beschrieben werden k¨onnen, die theoretisch eine unendliche Varianz aufweist. Zum Beispiel zeigte er, dass die Baumwoll- preise seit 1816 einer L´evy-Verteilung mit dem Parameter α = 1.7 folgen, w¨ahrend α = 2 einer Gaußverteilung entsprechen wurde¨ (siehe auch alpha-stabile Verteilungen). So lie- ferte er auch eine m¨ogliche Erkl¨arung fur¨ das Equity Premium Puzzle. Mandelbrot wandte diese Ideen auch im Bereich der Kosmologie an. 1974 schlug er eine neue Erkl¨arung fur¨ das Olberssche Paradoxon des dunklen Nachthimmels vor. Er zeigte, dass sich das Paradoxon auch ohne Ruckgriff¨ auf die Urknall-Theorie vermeiden l¨asst, wenn man eine fraktale Verteilung der Sterne im Universum annimmt, in Analogie zum sogenannten Cantorstaub. 1975 pr¨agte Mandelbrot den Begriff fraktal, um derartige Strukturen zu beschrei- ben. Er ver¨offentlichte diese Ideen in dem Buch Les objets fractals, forme, hasard et ” dimension“ (1975; eine englische Ubersetzung¨ Fractals: Form, Chance and Dimension“ ” wurde 1977 ver¨offentlicht). Mandelbrot entwickelte damit Ideen des tschechischen Geo- grafen, Demografen und Statistikers Jarom´ır Korcˇak´ (1895–1989) weiter, die dieser in dem Artikel Deux types fondamentaux de distribution statistique“ ver¨offentlicht hatte ” (1938; deutsch Zwei Grundtypen der statistischen Verteilung“). ” W¨ahrend seiner Anstellung als Gastprofessor fur¨ Mathematik an der Harvard Univer- sity 1979 begann Mandelbrot mit dem Studium der fraktalen Juliamengen, die gegenuber¨ bestimmten Transformationen in der komplexen Ebene invariant sind und die zuvor von Gaston Julia und Pierre Fatou untersucht wurden. Diese Mengen werden durch die iterative Formel z 7→ z2 + c erzeugt. Mandelbrot benutzte Computerplots dieser Men- ge, um ihre Topologie in Abh¨angigkeit von dem komplexen Parameter c zu untersuchen. Dabei entdeckte er die Mandelbrotmenge, die nach ihm benannt ist. 1982 erweiterte Mandelbrot seine Ideen und publizierte sie in seinem wohl bekann- testen Buch The Fractal Geometry of Nature“ (die deutsche Ubersetzung¨ erschien 1987 ” unter dem Titel Die fraktale Geometrie der Natur“). Dieses einflussreiche Buch machte ” Fraktale einer breiteren Offentlichkeit¨ bekannt und brachte auch viele der Kritiker zum Schweigen, die Fraktale bis dahin als Programmier-Artefakt abgetan hatten. Mandelbrot verließ IBM 1987 nach 35 Jahren Firmenzugeh¨origkeit, nachdem IBM be- schlossen hatte, seine Abteilung fur¨ Grundlagenforschung aufzul¨osen. Er arbeitete dann in der mathematischen Abteilung der Yale University, wo er 1999 im Alter von 75 Jah- ren seine erste unbefristete Professorenstelle ubernahm.¨ Als er 2005 emeritierte, war er Sterling Professor fur¨ Mathematik. Seine letzte Anstellung trat Mandelbrot 2005 als

37 Battelle Fellow am Pacific Northwest National Laboratory an. Im selben Jahr veranstalte- te die Deutsche Bundesbank ein Festkolloquium anl¨asslich seines im Vorjahr begangenen 80. Geburtstags zum Thema Heavy tails and stable Paretian distributions in finance and macroeconomics, um seine Betr¨age zum besseren Verst¨andnis von Finanzm¨arkten und Finanzmarktstabilit¨at zu wurdigen.¨ Seine jungste¨ Ver¨offentlichung zu fraktalen mathematischen Strukturen an den Fi- nanzm¨arkten Fraktale und Finanzen“ bekam den Wirtschaftsbuchpreis der Financial ” Times Deutschland. Fraktale und Rauheit in der Natur Obwohl Mandelbrot den Begriff fraktal pr¨agte, wurden einige der in The Fractal ” Geometry of Nature“ dargestellten Objekte schon fruher¨ von Mathematikern beschrie- ben. Vor Mandelbrot wurden sie allerdings eher als unnaturliche¨ mathematische Abson- derlichkeiten angesehen. Es war Mandelbrots Verdienst, die fraktale Geometrie fur¨ die Beschreibung realer Objekte anzuwenden, deren raue“, nicht durch einfache Idealisie- ” rungen beschreibbare Objekte sich bis dahin der wissenschaftlichen Untersuchung entzo- gen. Er zeigte, dass all diese Objekte bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben, wie die Selbst¨ahnlichkeit, Skaleninvarianz und oft eine nicht-ganzzahlige Dimension. Beispiele naturlicher¨ Fraktale sind die Formen von Bergen, Kustenlinien¨ und Flussen,¨ Ver¨astelun- gen von Pflanzen, Blutgef¨aßen und Lungenbl¨aschen, die Verteilung von Sternhaufen in Galaxien und die Pfade der brownschen Bewegung. Fraktale Strukturen finden sich auch in quantitativen Beschreibungen menschlichen Schaffens und Handelns, etwa in der Mu- sik, der Malerei und der Architektur sowie in B¨orsenkursen. Mandelbrot war daher der Auffassung, dass Fraktale viel eher der intuitiven Erfassung zug¨anglich sind als die kunstlich¨ gegl¨atteten Idealisierungen der traditionellen euklidischen Geometrie:

Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Kustenlinien¨ keine Kreise. Die ” Rinde ist nicht glatt — und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.“

Mandelbrot wurde als Vision¨ar und als unabh¨angiger Geist (engl. Maverick“) be- ” zeichnet. Sein allgemeinverst¨andlicher und leidenschaftlicher Schreibstil und seine Beto- nung bildlicher geometrischer Anschauung machten insbesondere sein Buch The Fractal ” Geometry of Nature“ auch fur¨ Nichtwissenschaftler zug¨anglich. Das Buch l¨oste ein breites ¨offentliches Interesse an Fraktalen und Chaostheorie aus. Mandelbrot starb im Alter von 85 Jahren an Bauchspeicheldrusenkrebs.¨ Der Ma- thematiker Heinz-Otto Peitgen bezeichnete Mandelbrot anl¨asslich seines Todes als eine der wichtigsten Pers¨onlichkeiten der letzten 50 Jahre fur¨ die Mathematik und deren Anwendung in der Naturwissenschaft. Der franz¨osische Staatspr¨asident Nicolas Sarkozy wurdigte¨ Mandelbrot als einen großen und originellen Geist, dessen Arbeit vollst¨andig jenseits des wissenschaftlichen Mainstreams verlief. Die Zeitschrift The Eco- nomist wies zudem auf seine Beruhmtheit¨ jenseits der Wissenschaft hin und nannte ihn den Vater der fraktalen Geometrie. Der Name der deutschen Live-Coding-Band Benoˆıtand the Mandelbrots bezieht sich auf den beruhmten¨ Mathematiker. Die Gruppe wurde 2009 in Karlsruhe gegrundet.¨ Ehrungen, Preise und Mitgliedschaften (Auswahl)

• 1982: Aufnahme in die American Academy of Arts and Sciences

• 1983: Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Warschau (On fractal geometry and a few of the mathematical questions it has raised).

• 1985: Barnard-Medaille

38 • 1986: Franklin-Medaille des Franklin Institute

• 1987: Alexander-von-Humboldt-Preis

• 1987: Aufnahme in die National Academy of Sciences

• 1988: Steinmetz-Medaille

• 1990: Franz¨osische Ehrenlegion; 2006 Bef¨orderung zum Offizier • 1991: Nevada-Medaille

• 1993: Wolf-Preis fur¨ Physik

• 1999: Ehrendoktorwurde¨ der University of St Andrews • 2000: Lewis-Fry-Richardson-Medaille

• 2000: Benennung des kleinen Asteroiden (27500) Mandelbrot

• 2003: Japan-Preis

• 2004: Aufnahme in die American Philosophical Society

• 2010: Ehrendoktorwurde¨ der Johns Hopkins University

August Ferdinand Mobius¨ (* 17. November 1790 in Pforta; † 26. September 1868 in Leipzig) war ein deutscher Mathematiker und Astronom an der Universit¨at Leipzig. Sein Vater Johann Heinrich Mobius¨ war Tanzlehrer in Schulpforte (fruher¨ Schulpforta). Er starb bereits drei Jahre nach der Geburt von August Ferdinand. Die Mutter Johanne Katharine Christiane Keil (1756–1820) war eine Nachfahrin von Martin Luther. 1820 heiratete Mobius¨ Dorothea Christiane Juliane Rothe (* 26. April 1790 in Gera; † 9. September 1859 in Leipzig). Die beiden hatten eine Tochter, Emilie Au- guste (1822–1897) sowie zwei S¨ohne August Theodor (1821–1890) und Paul Hein- rich August (1825–1889). Die Tochter heiratete 1851 den Astronomen Heinrich Louis d’Arrest. Einer seiner Enkel war der Psychiater Paul Julius Mobius¨ . Mobius¨ besuchte die in seinem Geburtsort ans¨assige, traditionsreiche Landesschule Pforta und legte dort das Abitur ab. Er studierte zun¨achst Rechtswissenschaften, bevor er sich im zweiten Semester 1809 bis 1814 dem Studium der Mathematik an der Univer- sit¨at Leipzig zuwandte. Er promovierte bei Johann Friedrich Pfaff mit dem Thema De computandis occultationibus fixarum per planetas“, also uber¨ Berechnungsmethoden ” fur¨ Bedeckungen von Fixsternen durch Planeten. Im Jahr 1815 habilitierte er sich mit astronomischen Arbeiten. Ein Jahr sp¨ater wurde er auf Empfehlung von Carl Fried- rich Gauß zum außerordentlichen Professor und Observator der Leipziger Sternwarte berufen. Zum Direktor der Sternwarte wurde er 1848 ernannt. Seit 1846 war er Mitglied der G¨ottinger Akademie der Wissenschaften. M¨obius verfasste zahlreiche umfangreiche Abhandlungen und Schriften zur Astrono- mie, Geometrie und Statik. Er leistete wertvolle Beitr¨age zur analytischen Geometrie, u.a. mit der Einfuhrung¨ der homogenen Koordinaten und des Dualit¨atsprinzips. Er gilt als Pionier der Topologie. Im Jahre 1846 geh¨orte er zu den Mitbegrundern¨ der K¨oniglich S¨achsischen Gesellschaft der Wissenschaften.

39 Paul Antoine Aristide Montel 29. April 1876 in Nizza; †22. Januar 1975 in Paris war ein franz¨osischer Mathematiker. Er war der Sohn eines Photographen und besuchte das Gymnasium in Nizza. Nach seinem Studium von 1894 bis 1897 an der Ecole´ normale supErieure´ in Paris arbeitete er zun¨achst als Gymnasiallehrer in Poitiers, Nantes und Paris. Im Jahre 1907 promovierte er auf Dr¨angen von Freunden, die sein Potential erkannten, in Paris an der Sorbonne (bei Henri Lebesgue und Emile´ Borel sowie Paul Painleve´e´), kehrte aber wieder in seinen Lehrerberuf zuruck.¨ In seiner Dissertation Sur les suites infinies de fonctions“ ” fuhrte¨ er sein Konzept normaler Familien von Funktionen in die Funktionentheorie ein, das sogleich z. B. Anwendung in der Theorie der Iteration analytischer Funktionen fand (Gaston Julia 1918, Pierre Fatou). 1911 war er doch zun¨achst Dozent an der Facult´e des Sciences und dann ab 1918 als Professor t¨atig. W¨ahrend der deutschen Besatzung Frankreichs war er Dekan der Fakult¨at. Zu seinen Studenten geh¨orten unter anderen Jean Dieudonne´ und Henri Cartan. Montel war Herausgeber der Zeitschriften Annales scientifiques de l’Ecole´ normale supˆerieureund Bulletin des Sciences Mathematiques. 1937 wurde er in die franz¨osische Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. Er war au- ßerdem Großoffizier der franz¨osischen Ehrenlegion. 1925 war er Pr¨asident der Soci´et´e Math´ematiquede France.

John Willard Milnor (* 20. Februar 1931 in Orange, New Jersey) ist ein US- amerikanischer Mathematiker. Derzeit lehrt er Mathematik als Professor an der State University of New York at Stony Brook in New York und ist Co-Director am dortigen Institute for Mathematical Sciences. Er ist der Sohn eines Ingenieurs. Er studierte an der Princeton University, wo er auch 1954 bei Ralph Fox promovierte (uber¨ link groups“, die Knotengruppen verallgemei- ” nern). Noch als Student bewies er 1949 den Satz von Fary´ und Milnor, der besagt, dass eine Raumkurve ein Unknoten ist, falls das Integral der Krummung¨ l¨angs der geschlos- senen Kurve ≤ 4π ist. Er l¨oste damit eine Vermutung von 1947 von Karol Borsuk, w¨ahrend er Student von Albert W. Tucker war. Borsuk und unabh¨angig Werner Fenchel hatten bewiesen, dass die Gesamtkrummung¨ einer geschlossenen Raumkurve immer gr¨oßer oder gleich 2π ist, wobei die Gleichheit nur gilt, falls die Kurve einen ebenen konvexen Bereich umrandet. Borsuk fragte dann, ob es Untergrenzen fur¨ die Krummung¨ verknoteter Kurven gebe. Seit Studententagen war Milnor auch mit John Nash be- freundet, mit dem er sich zusammen mit Spieltheorie zu besch¨aftigen begann und dem er in sp¨ateren Jahren half, nach seiner Erkrankung eine Arbeit zu finden. 1960 wurde er Professor fur¨ Mathematik in Princeton und ubernahm¨ 1962 den Lehr- stuhl. Im selben Jahr wurde ihm auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Stock- holm die Fields-Medaille verliehen fur¨ seine Beweisfuhrung,¨ dass auf der 7-dimensionalen Sph¨are verschiedene differenzierbare Strukturen existieren k¨onnen, sie ist eine sogenannte exotische Sph¨are“. Mit Michel Kervaire zeigte er, dass es genau 15 sind, mit Beruck-¨ ” sichtigung der Orientierung 28. Milnor besch¨aftigte sich auch mit der Topologie von Singularit¨aten, in der die exotischen Sph¨aren ebenfalls eine Rolle spielen (u. a. Milnorfa- serung). 1961 fand er erste Hinweise fur¨ Gegenbeispiele (in Dimension 6) zur sogenannten Hauptvermutung (von Heinrich Tietze) uber¨ die Eindeutigkeit der Triangulierbarkeit topologischer Mannigfaltigkeiten. 1964 zeigte er, dass das Eigenwertspektrum des Lapla- ceoperators nicht ausreicht, kompakte riemannsche Mannigfaltigkeiten bis auf Isometrie zu charakterisieren (sein Gegenbeispiel waren zwei 16-dimensionale Tori). Fur¨ Fl¨achen

40 fuhrte¨ das auf das Can one hear the shape of a drum? Problem von Mark Kac. Fur¨ die Rand Corporation schrieb er auch Berichte uber¨ Spieltheorie, u. a. 1951 Ga- ” mes against nature“, wobei es auch um Quantenmechanik geht. 1954 erschien mit Sum ” of positional games“ die erste Untersuchung nicht-neutraler Spiele der kombinatorischen Spieltheorie. Milnors Bucher¨ uber¨ algebraische Topologie und Differentialtopologie (oft nur hekto- graphiert) gelten als Standardwerke. Neben seinen Arbeiten zur Differentialtopologie trug er wesentlich zur Entwicklung der algebraischen K-Theorie bei. Ein weiteres Interessengebiet von Milnor ist die Dynamik, besonders die holomorphe Dynamik (Iteration holomorpher Funktionen). Er ist mit der Topologin Dusa McDuff verheiratet. Zu seinen Schulern¨ z¨ahlen John N. Mather, Jonathan Sondow, Michael Spi- vak und Laurent Siebenmann. Auszeichnungen Fur¨ seine Arbeit erhielt Milnor unter anderem folgende Preise und Ehrungen: • 1955 Sloan Research Fellow,

• 1958 war er Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Edin- burgh (Bernoulli numbers, homotopy groups and a theorem of Rokhlin, mit Michel Kervaire), • 1951 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences,

• 1962 Fields-Medaille,

• 1633 Mitglied der National Academy of Sciences,

• 1965 Mitglied der American Philosophical Society,

• 1967 National Medal of Science,

• 1982 Leroy P. Steele Prize der American Mathematical Society,

• 1989 Wolf-Preis,

• 1994 Ausw¨artiges Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften,

• 1994 Ausw¨artiges Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, • 2003 Leroy P. Steele Prize der American Mathematical Society und nochmals 2011 fur¨ sein Lebenswerk,

• 2011 Abelpreis fur¨ seine grundlegenden Entdeckungen in der Topologie, Geometrie and Algebra.

Michal Misiurewicz (* 9. November 1948 in Warschau) ist ein polnischer Mathe- matiker. Er gewann 1966 die Goldmedaille bei der Mathematik-Olympiade und wurde 1974 an der Universit¨at Warschau bei Bogdan Bojarski uber¨ Dynamische Systeme und Ergodentheorie promoviert. Er ist Professor an der Purdue University. Misiurewicz untersuchte dynamische Systeme, speziell die Intervallabbildung. Hier sind Misiurewiczpunkte (auch Misiurewicz-Thurston-Punkte) der Mandelbrotmenge nach ihm benannt.

41 1983 war er Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress in War- schau (One dimensional dynamical systems). Er ist Fellow der American Mathematical Society.

Sir Isaac Newton (* 4. Januar 1643 in Woolsthorpe-by-Colsterworth in Lincolnshi- re; †31. M¨arz 1727 in Kensington) war ein englischer Naturforscher und Verwaltungsbeam- ter. In der Sprache seiner Zeit, die zwischen naturlicher¨ Theologie, Naturwissenschaften, Alchemie und Philosophie noch nicht scharf trennte, wurde Newton als Philosoph be- zeichnet. Isaac Newton ist der Verfasser der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, in denen er mit seinem Gravitationsgesetz die universelle Gravitation beschrieb und die Bewegungsgesetze formulierte, womit er den Grundstein fur¨ die klassische Mechanik legte. Fast gleichzeitig mit Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte Newton die Infinite- simalrechnung. Er verallgemeinerte das binomische Theorem mittels unendlicher Reihen auf beliebige reelle Exponenten. Bekannt ist er auch fur¨ seine Leistungen auf dem Gebiet der Optik: die von ihm verfochtene Teilchentheorie des Lichtes und die Erkl¨arung des Lichtspektrums. Aufgrund seiner Leistungen, vor allem auf den Gebieten der Physik und Mathematik, gilt Sir Isaac Newton als einer der bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten. Die Principia Mathematica werden als eines der wichtigsten wissenschaftlichen Werke einge- stuft. Eine Sammlung von Schriften, im Bestand der National Library of Israel, zu theolo- gischen und alchemistischen Themen wurde 2015 von der UNESCO zum Weltdokumen- tenerbe erkl¨art. Newtons gleichnamiger Vater Isaac Newton, ein erfolgreicher Schafzuchter¨ und Inhaber des Titels Lord of the Manor, starb drei Monate vor der Geburt seines Sohnes. 1646 heiratete seine Mutter Hannah Ayscough zum zweiten Mal. Sie zog zu ihrem Ehemann Barnabas Smith, der Pfarrer in der nahen Gemeinde North Witham war, und Isaac blieb bei seiner Großmutter Margery Ayscough in Woolsthorpe. Newton empfand uber¨ diese Vernachl¨assigung zeitlebens Bitterkeit, und er kam auch nicht mit seinem Großvater James Ayscough klar. Dieser hinterließ ihm nichts, als er 1653 starb und Newton erw¨ahnte ihn sp¨ater nie mehr. Als er mit 19 Jahren seine Sunden¨ auflistete, war darunter auch der Wunsch, das Haus seiner Mutter und seines Stiefvaters Smith an- zuzunden.¨ Nach dem Tod seines Stiefvaters 1653 kehrte seine Mutter nach Woolsthorpe zuruck¨ und Newton lebte kurz mit ihr, seiner Großmutter und den drei Kindern aus der Ehe seiner Mutter mit Smith. Als er bald darauf die Kings School in Grantham besuchte, einer ¨offentlichen Schule (Free Grammar School) 5 Meilen von Woolthorpe, wohnte er in Grantham bei einer Familie Clark. Am Schulunterricht war er nach den Schulberichten wenig interessiert, soll aber zu Hause Vergnugen¨ an mechanischen Basteleien gefunden haben. Seine nunmehr wohlhabende Mutter, eine Gutsbesitzerin, holte ihn versuchswei- se von der Schule, damit er die Verwaltung ihres Verm¨ogens ubernahm,¨ es zeigte sich aber, dass er dafur¨ kein Talent und Interesse hatte. Newtons Onkel William Ayscough uberzeugte¨ die Mutter, dass Newton studieren sollte, und Newton besuchte ab 1660 wieder die Schule in Grantham, wobei er diesmal beim Schulleiter Stokes wohnte und mehr Lerneifer zeigte. M¨oglicherweise kam er damals schon mit Euklids Elementen in Beruhrung,¨ es gibt aber keinen sicheren Beleg dafur,¨ dass dies vor seinem Studium 1663 geschah. Am 5. Juni 1661 begann er am Trinity College in Cambridge zu studieren, einem

42 College, das schon sein Onkel besuchte. Er war — trotz des Verm¨ogens seiner Mutter — ein Sizar, das heißt sein finanzieller Unterhalt wurde teilweise vom College ubernommen.¨ Dafur¨ musste er als Diener fur¨ andere Studenten arbeiten. M¨oglicherweise war ein entfern- ter Verwandter und Fellow des Trinity College, Humphrey Babington, sein Patron. Er studierte zun¨achst mit der Absicht, Jurist zu werden. Ab dem dritten Studienjahr hatte er aber mehr Freiheiten in den Studienf¨achern. Damals war in Cambridge die Lehre von Aristoteles und die sp¨atscholastische Schule der Cambridger Platoniker tonan- gebend, das bedeutet qualitative Naturphilosophie anstelle quantitativer Untersuchungen im Sinne von Galilei. Newtons Notizen aus der Studienzeit, die er Quaestiones quaedam philosophicae (Einige philosophische Fragen) betitelte, zeigen den Einfluss von Descartes’ mechanistisch-dualistischem Denken, Gassendis atomistischen Vorstellungen und Henry Mores platonisch-hermetischen Ansichten. Weiter studierte er Thomas Hobbes und Robert Boyle. Obwohl sie radikal unterschiedlich sind, beeinflussten die Anschauun- gen der Mechanisten bzw. Hermetiker fortan Newtons Denken und bildeten — in ihrer Spannung — das Grundthema seiner Laufbahn als Naturphilosoph. Den Quaestiones stell- te er allerdings den Spruch voran, dass Aristoteles und Plato seine Freunde w¨aren, sein bester Freund w¨are aber die Wahrheit. Er studierte auch Galileo Galilei und Johannes Kepler (Optik). Ab Ende 1663 begann er sich auch fur¨ Mathematik zu interessieren, las Euklids Ele- mente in der Ausgabe von Isaac Barrow (1630–1677), William Oughtred (Clavis mathematica), die Geometrie von Descartes und das Buch von Frans van Schooten daruber,¨ die Ausgabe der Gesammelten Werke von Franc¸ois Viete` von Frans van Schooten (mit Anh¨angen seiner Schuler¨ Johan de Witt, Johan Hudde, Hendrick van Heuraet) und die Algebra von John Wallis, die auch schon erste Ans¨atze zur Analysis enthielt und Newton unmittelbar zu eigenen Arbeiten anregte. Barrow war 1663 Fellow des Trinity College geworden, Newton kam aber wohl erst ein paar Jahre sp¨ater in n¨aherem Kontakt zu ihm auf mathematischem Gebiet. Am 28. April 1664 wurde er Scholar, und im April 1665 erhielt er den Bachelorab- schluss. Sein eigentlicher Durchbruch als Mathematiker und Naturwissenschaftler erfolgte, als die Universit¨at im Sommer 1665 wegen der Großen Pest geschlossen wurde und er an seinen Wohnort Woolthorpe zuruckkehrte,¨ wo er die n¨achsten zwei Jahre bis zur Wieder- er¨offnung der Universit¨at in relativer wissenschaftlicher Isolation verbrachte. Nach seinem eigenen Bezeugen in den Quaestiones hatte er in den Jahren 1665/1666 seine ersten weitreichenden Ideen, die ihn auf die Spur seiner drei großen Theorien fuhrten:¨ der Infinitesimalrechnung (in Newtons Terminologie Theorie der Fluxionen), der Theorie des Lichts und der Gravitationstheorie. Wie weit er mit seinen theoretischen Ans¨atzen in dieser fruhen¨ Zeit schon war, ist unklar. Die Ver¨offentlichung seiner Lehren auf diesen Gebieten bzw. Zirkulation seiner diesbezuglichen¨ Manuskripte erfolgte erst viel sp¨ater. Nach Aufhebung der Quarant¨ane im Jahr 1667 wurde Newton Fellow des Trinity Col- lege (Cambridge); dies bedeutete nicht nur Zustimmung zu den 39 Artikeln der Church of England, sondern auch das Z¨olibatsgelubde.¨ Außerdem musste er innerhalb von sieben Jahren die geistlichen Weihen empfangen. 1669 wurde er dort Inhaber des Lucasischen Lehrstuhls fur¨ Mathematik. Sein Vorg¨anger Isaac Barrow, der sich zuruckzog,¨ hat- te ihn selbst empfohlen. Im selben Jahr erschien De Analysi per Aequationes Numeri ” Terminorum Infinitas“, Vorl¨aufer der Infinitesimalrechnung als Manuskript. Das war der erste Schritt zu Newtons Ruhm; wenn auch nur wenige Eingeweihte von seinen Leistungen wussten, so war er doch der fuhrende¨ Mathematiker seiner Zeit geworden. Von 1670 bis 1672 lehrte er Optik, wobei er besonders die Lichtbrechung untersuchte.

43 Außerdem konnte er Optiken anfertigen. 1672 baute er ein — sp¨ater nach ihm be- nanntes — Spiegelteleskop, das er der Royal Society in London vorfuhrte.¨ Im selben Jahr ver¨offentlichte er seine Schrift New Theory about Light and Colours“ in den Philosophical ” Transactions der Royal Society. Dieses Papier rief große Diskussionen hervor. Besonders zwischen ihm und Robert Hooke, einer fuhrenden¨ Pers¨onlichkeit der Royal Society, herrschte ein angespanntes Verh¨altnis, da beide angesehene Wissenschaftler waren, doch grundverschiedene Meinungen hatten und jeder auf sein Recht“ pochte. ” Kritik an seinen Ver¨offentlichungen konnte Newton schwer ertragen, daher zog er sich mehr und mehr aus der wissenschaftlichen Gemeinde zuruck¨ und konzentrierte sich auf seine alchimistischen Versuche. Um 1673 begann er, die Texte der Heiligen Schrift und der Kirchenv¨ater intensiv zu studieren — eine T¨atigkeit, die ihn bis zu seinem Tod in Anspruch nahm. Seine Studien fuhrten¨ ihn zu der Uberzeugung,¨ dass die Dreifaltigkeitslehre eine H¨aresie sei, die den Christen im 4. Jahrhundert eingeredet worden sei. 1675 erwirkte er einen Dispens von der Verpflichtung, die Weihen zu empfangen — wohl weil dies seinen unorthodoxen Ansichten widersprochen h¨atte. 678 erlitt Newton einen Nervenzusammenbruch; im folgenden Jahr starb seine Mut- ter. Sechs Jahre lang, bis 1684, befand sich Newton in einer Phase der Isolation und der Selbstzweifel. 1679 kehrte er zu seinen fruheren¨ Uberlegungen¨ zur Mechanik zuruck;¨ seine Schrift De Motu Corporum“ von 1684 enthielt die Grundzuge¨ dessen, was er drei ” Jahre sp¨ater in den Principia darlegte. In diesem Werk vereinte er die Forschungen Galileo Galileis zur Beschleunigung, Johannes Keplers zu den Planetenbewegungen und Descar- tes’ zum Tr¨agheitsproblem zu einer dynamischen Theorie der Gravitation und legte die Grundsteine der klassischen Mechanik, indem er die drei Grundgesetze der Bewegung for- mulierte. Newton wurde nun international anerkannt; junge Wissenschaftler, die seine unorthodoxen naturwissenschaftlichen (und auch theologischen) Ansichten teilten, schar- ten sich um ihn. Wieder folgte ein Streit mit Hooke — dieses Mal uber¨ das Gravitations- gesetz. (Hooke behauptete, Newton habe ihm die Idee, dass die Schwerkraft mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, gestohlen.) 1687 hatte er auch eine wesentliche Rolle in der Protestbewegung, die Konig¨ James II. hindern wollte, die Universit¨at Cambridge in eine katholische Einrichtung umzuwandeln. Um 1689 begann Newton einen theologi- schen Briefwechsel mit dem englischen Philosophen John Locke (1632–1704) sowie eine sehr intensive Freundschaft mit dem Schweizer Mathematiker Nicolas Fatio de Duil- lier. Er wurde als Abgesandter seiner Universit¨at fur¨ ein Jahr Mitglied des englischen Parlamentes. Als im Jahr 1693 die Freundschaft mit Fatio zerbrach, erlitt er einen weite- ren Nervenzusammenbruch; seine Freunde Locke und Samuel Pepys waren alarmiert und kummerten¨ sich um ihn. 1696 wurde er durch Vermittlung seines Freundes, des sp¨ateren Earl of Halifax, War- dein der Royal Mint in London; 1699 wurde er zu ihrem Master“ ernannt. Damit war seine ” Karriere als sch¨opferischer Wissenschaftler faktisch beendet. Das Amt des Wardein wurde allgemein als lukrative Pfrunde¨ angesehen, Newton aber nahm seine Aufgabe ernst. Sein hartes Vorgehen gegen Falschmunzer¨ war beruchtigt.¨ Drei Jahre sp¨ater (1699) wurde er an der Pariser Akademie zu einem von acht ausw¨artigen Mitgliedern berufen. 1701 trat er von seinen Pflichten als Professor in Cambridge zuruck;¨ im selben Jahr ver¨offentlichte er (anonym) sein Gesetz uber¨ die Abkuhlung¨ fester K¨orper an der Luft. 1703 wurde er Pr¨asident der Royal Society, eine Position, die er bis zu seinem Tod innehatte. Ein Jahr danach starb Hooke, und er konnte endlich seine Opticks ver¨offentlichen. 1705 wurde er von Konigin¨ Anne — nicht wegen seiner Verdienste um die Wissenschaft, sondern fur¨ seine politische Bet¨atigung — zum Ritter geschlagen. Im selben Jahr begannen auch

44 die Priorit¨atsschwierigkeiten mit Gottfried Wilhelm Leibniz uber¨ die Erfindung der Infinitesimalrechnung. Bereits seit 1696 lebte Newton in London. Er bewohnte ein herrschaftliches Haus, das ein kleines Observatorium beherbergte, und studierte Alte Geschichte, Theologie und My- stik. Ab 1697 (1707?) wurde Newtons Haus von seiner Halbnichte Catherine Barton gefuhrt.¨ Newton war nicht verheiratet. Nach den von William Stukeley gesammel- ten Erinnerungen an Newton fasste er in seiner Schulzeit in Grantham eine Neigung zur Tochter des Apothekers, bei dem er wohnte. Die Freundschaft hielt auch an, als sie einen anderen heiratete. 1699 wurde er ausw¨artiges Mitglied der Acad´emiedes sciences in Paris. 1720 verlor er bei der Sudsee-Spekulation¨ 20.000 Pfund (heute etwa 3 Millionen Euro), nachdem er zuvor gr¨oßere Gewinne gemacht hatte. Er klagte, er k¨onne die Bewegung der ” Sterne berechnen, aber nicht die Dummheit der Menschen“, blieb jedoch bis zu seinem Tod ein wohlhabender Mann. In den folgenden Jahren machten ihm Blasensteine zunehmend zu schaffen. Acht Tage nach seinem Tod wurde Newton unter großen Feierlichkeiten in der Westminster Abbey beigesetzt. Newton galt als recht zerstreut und bescheiden, reagierte jedoch h¨aufig mit großer Sch¨arfe auf Kritik. Bekannt ist sein von boshafter Rivalit¨at gekennzeichnetes Verh¨altnis zu anderen Wissenschaftlern wie Robert Hooke, Christiaan Huygens, John Flam- steed oder auch Gottfried Wilhelm Leibniz, dem er im Streit um die Urheberschaft der Infinitesimalrechnung das Herz gebrochen“ zu haben sich ruhmte.¨ Nachdem Flam- ” steed ein Verfahren wegen geistigen Diebstahls gewonnen hatte, tilgte Newton in der Ausgabe der Principia von 1713 jeden Hinweis auf Flamsteed (obwohl er gerade dessen pr¨azisen Beobachtungen viel verdankte). Drei Jahre nach seinem Tod erdachte Alexander Pope folgende Inschrift fur¨ New- tons Grab, die dort aber nicht ausgefuhrt¨ wurde:

Nature and Nature’s Laws lay hid in Night: God said, Let Newton be! and all ” was Light.“

Natur und der Natur Gesetz waren in Nacht gehullt;¨ Gott sprach: Es werde ” Newton! Und das All ward lichterfullt.“¨

Newton hielt seine Antrittsvorlesungen uber¨ seine Theorie der Farben. Als die Royal Society von seinem Spiegelteleskop erfuhr, konnte er es dort vorfuhren¨ und stieß auf leb- haftes Interesse. In einem Brief an die Royal Society erw¨ahnte er im Zusammenhang mit dem Bau des neuartigen Teleskops gegenuber¨ dem damaligen Sekret¨ar Henry Olden- burg eine neue Theorie des Lichtes. Das Ergebnis war die Ver¨offentlichung seiner Theorie uber¨ das Licht und die Farben, die 1704 die Grundlage fur¨ das Hauptwerk Opticks“ or a ” ” treatise of the reflections, refractions, inflections and colours of light“ bildete ( Optik oder ” eine Abhandlung uber¨ die Reflexion, Brechung, Krummung¨ und die Farben des Lichtes“). Seit Johannes Keplers Schrift Paralipomena“ war die Optik ein zentraler Bestandteil ” der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. Ahnlich¨ wie die Untersuchun- gen Galileo Galileis auf dem Gebiet der Mechanik hatte Ren´eDescartes’ Entdeckung des Gesetzes der Lichtbrechung die Ansicht untermauert, dass der Kosmos insgesamt nach ma- thematischen Grunds¨atzen angelegt sei. Abweichend von der antiken Vorstellung, farbige Erscheinungen beruhten auf einer Ver¨anderung des Lichtes (das von Natur aus weiß sei), kam Newton durch Experimente mit Lichtspalt und Prisma zu dem Ergebnis, dass wei- ßes Licht zusammengesetzt ist und durch das Glas in seine Farben zerlegt wird. (Vorl¨aufer

45 hatten behauptet, das Prisma fuge¨ die Farben hinzu.) Auf diese Weise konnte er muhelos¨ die Entstehung des Regenbogens erkl¨aren. Als Robert Hooke einige seiner Ideen kritisierte, war Newton so emp¨ort, dass er sich aus der ¨offentlichen Diskussion zuruckzog.¨ Die beiden blieben bis zu Hookes Tod erbitterte Kontrahenten. Aus seiner Arbeit schloss Newton, dass jedes mit Linsen aufgebaute Fernrohr un- ter der Dispersion des Lichtes leiden musse,¨ und schlug ein Spiegelteleskop vor, um die Probleme zu umgehen. 1672 baute er ein erstes Exemplar. Der von ihm vorgeschlagene (und sp¨ater nach ihm benannte) Typ wurde fur¨ viele Generationen das Standardger¨at fur¨ Astronomen. Allerdings war Newtons Prototyp den damals gebr¨auchlichen Linsen- teleskopen nicht uberlegen,¨ da sein Hauptspiegel nicht parabolisiert war und daher un- ter sph¨arischer Aberration litt. Sp¨ater wurden achromatische Linsenkombinationen aus Gl¨asern verschiedener Brechungseigenschaften fur¨ Fernrohre entwickelt. Seine Feststellung, dass einzelne Lichtstrahlen unver¨anderliche Eigenschaften haben, fuhrte¨ ihn zu der Uberzeugung,¨ Licht bestehe aus (unver¨anderlichen und atom¨ahnlichen) Lichtteilchen. Damit wich er grundlegend von Descartes ab, der Licht als Bewegung in Materie beschrieben hatte und weißes Licht als ursprunglich¨ (und sich damit nicht so weit von Aristoteles entfernt hatte). Nach Newton entsteht der Eindruck der Farben durch Korpuskeln unterschiedlicher Gr¨oße. In der Schrift Hypothesis of Light“ von 1675 fuhrte¨ Newton das Atherkonzept¨ ein: ” Lichtpartikel bewegen sich durch ein materielles Medium — dies war reiner Materialis- mus. Unter dem Einfluss seines Kollegen Henry More ersetzte er den Licht¨ather jedoch bald durch — aus dem hermetischen Gedankengut stammende — okkulte Kr¨afte, die die Lichtpartikel anziehen bzw. abstoßen. Mit der Teilchentheorie des Lichtes waren allerdings Ph¨anomene wie die — von New- ton selbst beschriebene und genutzte — Interferenz oder die Doppelbrechung (auf Grund von Polarisation, von Erasmus Bartholin bereits im Jahr 1669 beschrieben) nicht er- kl¨arbar. In der New Theory about Light and Colours vertrat Newton neben seiner Farb- auch seine Korpuskeltheorie. Dies fuhrte¨ zu einem wiederum erbittert ausgetragenen Dis- put mit Christiaan Huygens und dessen Wellentheorie des Lichtes, welchen er 1715 durch Desaguliers vor der Royal Society fur¨ sich entscheiden ließ. Nachdem Thomas Young im Jahre 1800, lange nach beider Tod, weitere Experimente zur Best¨atigung der Wellentheorie durchgefuhrt¨ hatte, wurde diese zu herrschenden Lehre. Heute sind beide Theoriekonzepte in der Quantenmechanik mathematisch vereint — wobei allerdings das moderne Photonenkonzept mit Newtons Korpuskeln kaum etwas gemeinsam hat. Auch die Grundsteine der klassischen Mechanik, die drei Grundgesetze der Bewegung und die Konzepte von absoluter Zeit, absolutem Raum und der Fernwirkung (und so auch indirekt das Konzept des Determinismus) wurden von ihm gelegt. Zusammen waren dies die wesentlichen Grundprinzipien der Physik seiner Zeit. Newton lehrte eine dualisti- sche Naturphilosophie — beruhend auf der Wechselwirkung von aktiven immateriellen Naturkr¨aften“ mit der absolut passiven Materie —, welche zur Basis des naturwissen- ” schaftlichen Weltbildes vieler Generationen wurde. Erst die Relativit¨atstheorie Albert Einsteins machte deutlich, dass Newtons Mechanik einen Spezialfall behandelt. Vom Jahr 1678 an besch¨aftigte er sich, in Zusammenarbeit mit Hooke und Flam- steed, wieder intensiv mit Mechanik, insbesondere mit den von Kepler formulierten Gesetzen. Seine vorl¨aufigen Ergebnisse ver¨offentlichte er 1684 unter dem Titel De Motu ” Corporum“. In diesem Werk ist allerdings noch nicht die Rede von der universellen Wir-

46 kung der Schwerkraft; auch seine drei Gesetze der Bewegung werden hier noch nicht dar- gelegt. Drei Jahre sp¨ater erschien, dieses Mal mit Unterstutzung¨ von Edmond Halley, die Zusammenfassung Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ (Mathematische ” Grundlagen der Naturphilosophie). Mit diesem Werk wollte er insbesondere die Naturphi- losophie von Descartes abl¨osen (Principia philosophiae, 1644), obwohl er von diesem das Konzept der Tr¨agheit ubernehmen¨ musste, das ein Zentralpunkt der newtonschen Mechanik wurde. Newton war der Erste, der Bewegungsgesetze formulierte, die sowohl auf der Erde wie auch am Himmel gultig¨ waren — ein entscheidender Bruch mit den Ansichten der traditionellen Lehre von Aristoteles und sp¨aterer Peripatetiker, wonach die Verh¨alt- nisse im Himmel grundlegend andere seien als auf der Erde. Daruber¨ hinaus lieferte er die geometrische Argumentation fur¨ Keplers drei Gesetze, fuhrte¨ sie auf einheitliche Ursa- chen (Fernwirkung der Gravitation und Tr¨agheit) zuruck¨ und erweiterte sie dahingehend, dass nicht nur Ellipsen, sondern s¨amtliche Kegelschnitte m¨oglich seien (Georg Samuel Dorffel¨ hatte allerdings bereits 1681 gezeigt, dass Kometen sich auf hyperbolischen Bahnen bewegen). Mit seinen drei Bewegungsgesetzen und der Einfuhrung¨ der allgemein wirkenden Schwerkraft (auch das Wort Gravitation geht auf ihn zuruck)¨ hatte Newton die Arbeiten von Kopernikus, Kepler und Galilei uberzeugend¨ best¨atigt. Seine Me- chanik galt Generationen von Wissenschaftlern und Historikern als fundamentaler Beitrag im Sinne rationaler Begrundung¨ von Naturgesetzen (hypotheses non fingo bedeutet sinn- gem¨aß: In der Experimentalphilosophie gibt es keine Unterstellungen“). Dabei wird gerne ” ubersehen,¨ dass Newtons Uberlegungen¨ auf einem Konzept beruhten, das durchaus nicht als objektiv wissenschaftlich gilt: der hermetischen Tradition, mit der er sich w¨ahrend der Quarant¨anezeit 1665–1666 eingehend besch¨aftigt hatte. Die traditionelle Naturphi- losophie erkl¨arte Naturerscheinungen mit der Bewegung materieller Teilchen (so etwa statische Elektrizit¨at) durch ein ¨atherartiges Medium (so noch Newtons Hypothesis of Light von 1675). Eine Fernwirkung (durch Kr¨afte“) erschien ihr ebenso unm¨oglich wie ” das Vakuum. So findet sich sowohl bei Descartes wie bei Leibniz (1693) die Vorstel- lung, dass Wirbel in einem Fluidum“ (Lateinisch fur¨ Flussigkeit)¨ die Planeten auf ihren ” Bahnen hielten. Von 1679 an jedoch schrieb Newton gewisse Vorg¨ange (exotherme Reak- tion oder Oberfl¨achenspannung) der Wirkung anziehender bzw. abstoßender Kr¨afte zu — dies war eine direkte Umsetzung der okkulten Sympathien“ bzw. Antipathien“ der her- ” ” metischen Naturphilosophie. Wesentlich neu war jedoch, dass Newton diese Kr¨afte als Quantit¨aten behandelte, die sich sowohl experimentell als auch mathematisch-geometrisch fassen lassen. 1679 suchte Hooke den Kontakt mit Newton zu erneuern und erw¨ahnte in einem Brief seine Theorie der Planetenbewegung. Darin war die Rede von einer Anziehungskraft, die mit der Entfernung abnimmt; Newtons Antwort ging von konstanter Schwerkraft aus. Dieser Briefwechsel (der sich mit einem Experiment auf der Erde befasste) war Ausgangs- punkt des sp¨ateren Plagiatsvorwurfs von Hooke an Newton. Newton musste zugeben, dass Hooke ihn auf den richtigen Weg gefuhrt¨ habe: 1. eine Bahnellipse ruhrt¨ von einer (mit dem Quadrat der Entfernung von einem Brennpunkt) abnehmenden Anziehungskraft her und 2. erkl¨art dieses Konzept außerirdische, also planetarische Bewegung. Jedoch be- ruhte Hookes Vorschlag abnehmender Schwerkraft auf Intuition, nicht — wie bei Newton — auf Beobachtung und logischer Ableitung. Außerdem hatte Newton selbst das Kon- zept quadratisch abnehmender Schwerkraft bereits 1665/66 entwickelt. Andererseits kam Newton auf den Gedanken der universellen (also auch außerirdischen) Wirkung der Schwerkraft erst deutlich nach 1680.

47 Es wird auch die Geschichte erz¨ahlt, dass Isaac Newton durch die Betrachtung eines Apfels am Apfelbaum, evtl. auch des Falls des Apfels vom Baum, im Garten von Woolst- horpe Manor auf die Idee kam, die Himmelsmechanik beruhe auf derselben Gravitation wie der Fall von Apfeln¨ auf die Erde. Dies geht auf die Memoires of Sir Isaac Newton’s Life von William Stukeley zuruck;¨ mit ¨ahnlichen Worten schilderte Voltaire die legend¨are Entdeckung. Ob es sich wirklich so zugetragen hat, bleibt fraglich. Fachleute halten es fur¨ m¨oglich, dass Newton selbst in sp¨ateren Jahren die Geschichte erfunden hat, um darzulegen, wie er Einsichten aus Alltagsbeobachtungen gewonnen habe. Die geometrisch orientierten Darlegungen Newtons in den Principia waren nur Fach- leuten verst¨andlich. Daran ¨anderten auch zwei sp¨atere Ausgaben (1713 mit wesentlichen Erweiterungen und 1726) nichts. Der Durchbruch auf dem Kontinent ist Emilie´ du Chateletˆ zu verdanken, die von 1745 an das Werk in Franz¨osische ubersetzte,¨ die geo- metrische Ausdrucksweise Newtons in die von Leibniz entwickelte Notation der Infinite- simalrechnung ubertrug¨ und seinen Text mit zahlreichen eigenen Kommentaren erg¨anzte. Zus¨atzlich zu seinen fundamentalen Leistungen zur Physik war Newton neben Gott- fried Wilhelm Leibniz einer der Begrunder¨ der Infinitesimalrechnung und erbrachte wichtige Beitr¨age zur Algebra. Zu seinen fruhesten¨ Leistungen z¨ahlt eine verallgemeinerte Formulierung des Binomischen Theorems mit Hilfe von unendlichen Reihen. Er bewies, dass es fur¨ s¨amtliche reellen Zahlen (also auch negative und Bruche)¨ gultig¨ ist. Anfang des 17. Jahrhunderts hatten Bonaventura Cavalieri und Evangelista Torricelli den Einsatz infinitesimaler Rechengr¨oßen erweitert. Gleichzeitig nutzten Rene´ Descartes und Pierre de Fermat die Algebra, um Fl¨acheninhalte und Steigun- gen von Kurven zu berechnen. Bereits 1660 verallgemeinerte Newton diese Methoden. Fermats und Newtons Lehrer Isaac Barrow hatten erkannt, dass diese beiden Verfah- ren eng miteinander verknupft¨ sind: sie sind zueinander invers. Newton gelang es, sie in der Fluxionsmethode“ tats¨achlich zu verbinden; 1666 entwickelte er die Infinitesimal- ” rechnung. Er ver¨offentlichte seine Ergebnisse allerdings erst in einem Anhang zu Opticks im Jahr 1704. Leibniz erarbeitete von 1670 an das gleiche Verfahren; er nannte es Differential- ” rechnung“. W¨ahrend Newton vom physikalischen Prinzip der Momentangeschwindigkeit ausging, versuchte Leibniz eine mathematische Beschreibung des geometrischen Tangen- tenproblems zu finden. Bis 1699 galt Leibniz als Erfinder; dann ver¨offentlichte Newtons ehemaliger Freund Fatio eine Schrift, in der er dessen Priorit¨at behauptete und unterstell- te, Leibniz habe 1676 bei einem Besuch in London Newtons Idee gestohlen. Das Ergebnis war ein Priorit¨atsstreit, der bis zum Tod Newtons anhielt. Heute gilt als erwiesen, dass die beiden Wissenschaftler ihre Ergebnisse unabh¨angig voneinander entwickelten. Ohne die Infinitesimalrechnung h¨atte Newton seine bahnbrechenden Einsichten in der klassischen Mechanik kaum gewinnen bzw. belegen k¨onnen. Er leistete auch einen bedeutenden Beitrag zur ebenen algebraischen Geometrie, in- dem er die Kubiken klassifizierte und auf eine elliptische Kurve als Normalform durch birationale Transformationen zuruckf¨ uhrte¨ (ver¨offentlicht 1710). In der numerischen Ma- thematik ist das Newton-Verfahren (Newton-Raphson-Verfahren) nach ihm benannt. Unter dem Titel The Mathematical Papers of Isaac Newton“ brachte der Mathe- ” matikhistoriker und Newton-Experte Derek Thomas Whiteside an der University of Cambridge zwischen 1967 und 1981 zahlreiche mathematische Manuskripte Newtons in acht B¨anden heraus. Neben der Anfertigung des ersten funktionierenden Spiegelteleskops und der Ent- deckung der Schwerkraft als Ursache der Planetenbewegungen ist eine fruhe¨ Theorie

48 zur Entstehung der Fixsterne zu erw¨ahnen. 1712 versuchte er in seiner Eigenschaft als Pr¨asident der Royal Society gemeinsam mit Halley, auf der Basis von Flamsteeds Be- obachtungen — und gegen dessen Willen — einen Sternkatalog mit Sternkarte (Historia coelestis Britannica) herauszubringen. Dies fuhrte¨ zu einem weiteren heftigen Streit uber¨ Urheberrechte. Ein Gericht entschied zu Gunsten Flamsteeds. Im Gegensatz zu seinem großen Interesse an Alchemie hielt Newton nichts von Astro- logie und befasste sich damit auch nicht. Einer der besten Kenner der Manuskripte von Newton, Derek Whiteside, konnte in Newtons umfangreichen Nachlass kein einzi- ges Wort zur Astrologie finden und von den Buchern¨ in Newtons Bibliothek, von denen 1752 identifiziert wurden, waren die Mehrzahl (477) uber¨ Theologie, gefolgt von Alche- mie (169), Mathematik (126), Physik (52) und Astronomie (33), aber nur vier, die der Astrologie zugeordnet werden k¨onnen. Gegenuber¨ seinem Vertrauten John Conduitt erw¨ahnte er zwar kurz vor seinem Tod, dass sein Interesse fur¨ Naturwissenschaften 1663 als Student durch ein Buch uber¨ Astrologie angeregt wurde, dessen Diagramme er nicht verstand, nach der gleichen Quelle meinte Newton aber auch, dass er sich bald darauf von der Eitelkeit und Leere der vorgeblichen Wissenschaft der Astrologie uberzeugte.¨ Die manchmal herangezogene Anekdote, Newton habe Edmond Halley auf eine despektier- liche Bemerkung zur Astrologie geantwortet, er habe das Gebiet studiert, Halley nicht, ist falsch, sie bezieht sich auf Theologie und nicht auf Astrologie und stammt aus der Newton-Biographie von David Brewster. Newton entwickelte auch ein Gesetz, das die Abkuhlung¨ fester K¨orper an der Luft beschreibt. Weiter stellte er, hier einer bahnbrechenden Untersuchung von Robert Boy- le folgend, in den Principia dar, wie sich die gemessene Schallgeschwindigkeit (in Luft) begrunden¨ l¨asst. Im selben Werk definierte er die Viskosit¨at einer idealen (newtonschen) Flussigkeit¨ und legte damit den Grundstein zur mathematischen Erfassung des Verhaltens von Fluiden. Eine fruhe¨ Formel zur Absch¨atzung der Durchschlagskraft von Geschossen wurde von ihm entwickelt. Im Jahr 1700 erfand er mit der Newton-Skala eine eigene Temperaturskala. Auch stammt von ihm die erste Skizze eines Ger¨ates zur Winkelmessung mit Hilfe von Spiegeln und somit die Grundidee fur¨ den ein halbes Jahrhundert sp¨ater erfundenen Sextanten. Weniger bekannt als seine wissenschaftlichen Errungenschaften aus heutiger Sicht sind Newtons Arbeiten in der christlich-unitarischen Theologie und in der Alchemie als Vorg¨anger des modernen Naturwissenschaftsverst¨andnisses. In der Theologie lehnte Newton die Trinit¨atslehre ab, vertrat also eine antitrini- tarische (fachsprachlich: unitarische) Ansicht. Diese Haltung war auf seinem Posten als Fellow/Professor in Cambridge nicht ungef¨ahrlich (sein Prot´eg´eund Nachfolger William Whiston wurde 1710 unter ebendieser Beschuldigung entlassen). Er beschuldigte Atha- nasius, mit seinem Trinit¨atsdogma die christliche Lehre verdorben zu haben ( Athanasius ” corruption of doctrine“), worauf bald danach die allgemeine Korruption des Christentums gefolgt sei: a universal corruption of Christianity had followed the central corruption of ” doctrine“.] Seine diesbezuglichen¨ Schriften (darunter Observations Upon the Prophecies of Daniel and the Apocalypse of St. John.) konnten nur postum ver¨offentlicht werden. Erst vor dem Hintergrund seiner unitarischen Auffassung, dass Gott nicht dreifaltig, sondern als Einheit die ganze Welt von innen und von außen erfasst und umfasst, konnte Newton seine Vorstellung davon bilden, dass Raum und Zeit das Sensorium Gottes sei, durch das er zu allen Zeiten und allen Orten zugleich wirksam ist. 1728 — also gleichfalls postum — erschienen seine chronologischen Berechnungen (The Chronology of Ancient Kingdoms Amended), in denen er versuchte, die klassische Chro-

49 nologie mit astronomischen Daten in Ubereinstimmung¨ zu bringen. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die Welt 534 Jahre junger¨ sei als von James Ussher berechnet. Neben seinen physikalischen Arbeiten und dem Studium der Bibel verbrachte er (bis etwa 1696) auch viel Zeit mit der Suche nach dem Stein der Weisen, von dem man sich unter anderem versprach, Quecksilber und andere unedle Metalle in Gold umzuwandeln. Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes ersteigerte im Jahre 1936 einen Großteil der alchemistischen Handschriften Isaac Newtons fur¨ das King’s College in Cambridge. 369 Bucher¨ aus Newtons pers¨onlicher Bibliothek hatten Bezuge¨ zur Mathe- matik und Physik seiner Zeit, 170 hingegen sind Werke der Rosenkreuzer, der Kabbala und der Alchemie. Keynes bezeichnete Isaac Newton daraufhin als den letzten großen Renaissance-Magier“. Newton hat fur¨ sich einen alchemistischen Index mit 100 Auto- ” ren, 150 Schriften und 5000 Seitenverweisen unter 900 Stichworten angelegt. Jan Golin- ski vermutet, dass Newton dies in der Hoffnung getan habe, ein zusammenh¨angendes Ganzes, eine zusammenh¨angende Lehre daraus ableiten zu k¨onnen. Betty T. Dobbs meint, dass Newton die alchemistische Literatur bis ins 17. Jahrhundert uberaus¨ grund-¨ lich studiert habe und dies 30 Jahre lang, ohne Unterbrechung. Der Newtonbiograph Richard Westfall schreibt dazu: Newton verlor seine erste Liebe [gemeint ist die ” Alchemie] niemals aus den Augen.“ Westfall nimmt an, dass alchemistische Uberle-¨ gungen auch in die Newton-Schrift Hypothesis of Light (1675) eingeflossen seien und dass Newtons Uberlegungen¨ zur Orbitalmechanik durch die Alchemie eine Wandlung erfah- ren h¨atten. Betty T. Dobbs schreibt: Newtons Wiedereinfuhrung¨ des Begriffes der ” Anziehung in seiner Principia und seine dortige Ablehnung eine sich auf den Ather¨ be- rufende Mechanik als Erkl¨arung der Schwerkraft, schien sowohl Westfall als auch mir ein uberzeugendes¨ Argument fur¨ den Einfluss der Alchemie auf sein Denken, denn viele alche- mistische Abhandlungen behandeln nicht-mechanische aktive Prinzipien, die konzeptuell vergleichbar mit Newtons Gravitationstheorie sind.“ Johannes Wickert charakterisiert den spagyrischen Newton uberaus¨ treffend: Heimlich des Nachts experimentierte derselbe Mensch, der uber¨ die Grundlage der ge- ” samten Naturlehre nachsann, oft in versteckten Laboratorien.“ Und weiter schreibt er: Er verfertigte aus dem Museum Hermeticum, einem Standardwerk der Alchemisten, ” umst¨andliche Auszuge¨ und verehrte Gestalten wie Michael Sendivogius, Michael Maier und Elias Ashmole ... Newton liebte alchemistische Geheimnisse, entr¨atsel- te gern esoterisch-alchemistische Zeichen, ja, er benutzte sie selbst ... Ganze Texte sind in der allegorischen Alchemistensprache abgefasst.“ (Wickert: Man kann mit Betty Dobbs zu dem Schluss kommen, dass alles, was Newton nach 1675 unternahm, der Integration der Alchemie in seine Mechanik diente. Isaac Newton hat alles getan, um seine alchemistischen Studien voranzutreiben und hat sie dennoch verborgen gehalten. Einflusse¨ seiner alchemistischen Studien auf seine Forschungen sind zweifelsohne vorhan- den. W¨ahrend der Experimente, zum Teil am eigenen K¨orper, vergiftete sich Newton mehrmals. Newton vererbte seinen schriftlichen Nachlass seiner Nichte Catherine Barton und ihrem Mann John Conduitt. Deren Tochter heiratete 1740 ein Mitglied der ad- ligen Portsmouth-Familie, auf deren Landsitz in Hurstbourne Park in Hampshire der Nachlass, deshalb auch Portsmouth Collection genannt, war. 1872 ubergab¨ der Earl of Portsmouth den wissenschaftlichen Teil des Nachlasses an die Cambridge University Library. Der Rest wurde 1888 in Cambridge katalogisiert. Er kam 1936 bei Sotheby’s zur Versteigerung, erbrachte aber nur 9000 Pfund. Einen Großteil der alchemistischen Manuskripte ersteigerte dabei John Maynard Keynes, der sie dem King’s College in

50 Cambridge ubergab.¨ Viele der theologischen Manuskripte wurden von Abraham Ya- huda ersteigert, uber¨ den sie zum großen Teil an die Jewish National and University Library in Jerusalem kamen. Der Rest ist in mehrere Bibliotheken weltweit zerstreut, un- ter anderem die Dibner-Collection, das Babson College (Massachusetts), die Smithsonian Institution. Weitere Sammlungen von Newtons Manuskripten sind in den Archiven der Royal Society, der Bibliothek des Trinity College in Cambridge, der Bodleian Library in Oxford (besonders zu Newtons theologischen und chronologischen Arbeiten), dem Public Record Office (aus Newtons Arbeit bei der Munze).¨ Nach Newton sind das newtonsche N¨aherungsverfahren und die SI-Einheit der Kraft (Newton), die newtonschen Axiome, das newtonsche Fluid, das Newton-Element sowie die Newton-Cotes-Formeln benannt, außerdem der am 30. M¨arz 1908 von Joel Hastings Metcalf in Taunton entdeckte Asteroid (662) Newtonia, der am 5. September 1986 von Henri Debehogne am La-Silla-Observatorium entdeckte Asteroid (8000) Isaac Newton sowie Newton, ein Mondkrater. Ein luxemburgisches Schiff tr¨agt seinen Namen. Ferner ist er Namensgeber fur¨ die ˆIle Newton in der Antarktis. Auch die Pflanzengattung Newtonia Baill. aus der Familie der Hulsenfr¨ uchtler¨ (Fabaceae) ist nach ihm benannt. Sein Portr¨at zierte von 1978 bis 1984 die englische 1-Pfund-Note.

Charles Emile´ Picard (* 24. Juli 1856 in Paris; † 11. Dezember 1941 ebenda) war ein franz¨osischer Mathematiker. Sein Vater war Besitzer einer Seidenfabrik. Er starb aber 1870 bei der Belagerung von Paris (Deutsch-Franz¨osischer Krieg), und die danach v¨ollig verarmte Familie (Emile´ und sein jungerer¨ Bruder) musste durch die Arbeit der Mutter durchgebracht werden. Picard war auf dem Lyc´eeHenri IV einer der besten Schuler,¨ speziell in klassischer Philologie, und bei den Eingangstests fur¨ die Eliteschulen Ecole´ polytechnique und die Ecole´ normale sup´erieurezweiter bzw. erster. Da er nach einem Vortrag von Louis Pasteur fur¨ die Wissenschaften begeistert war (damals besonders an der Ecole´ normale sup´erieuregepflegt, w¨ahrend die Polytechnique eher Ingenieure ausbil- dete), w¨ahlte er die Ecole´ normale sup´erieure, wo er 1877 seinen Abschluss machte, als erster seiner Klasse. Er war ein Jahr Assistent an seiner Alma Mater, wurde 1878 Dozent an der Universit¨at von Paris und 1879 Professor an der Universit¨at Toulouse. 1881 wurde er Maˆıtrede conf´erences fur¨ Mechanik und Astronomie an der Ecole´ normale sup´erieure und 1885 als Nachfolger von Jean-Claude Bouquet Professor fur¨ Differentialrechnung an der Sorbonne. Er war auch 1894–1937 Professor an der Ecole´ centrale Paris, wo er haupts¨achlich Ingenieure unterrichtete. Picard lieferte wichtige Beitr¨age zur Funktionentheorie, Analysis, Algebra und Geo- metrie. Bekannt sind der picardsche Satz (1879), das picardsche Iterationsverfahren in der Theorie der Differentialgleichungen, mit dem der Satz von Picard-Lindel¨of ublicherweise¨ bewiesen wird. In dem zweib¨andigen Th´eoriedes fonctions alg´ebraiquesde deux variables ind´ependantes (1897, 1906) mit Georges Simart (1846–1921) untersuchte er Integrale algebraischer Funktionen auf algebraischen Fl¨achen. Picard besch¨aftigte sich auch mit Fragen der mathematischen Physik, so untersuchte er die Ausbreitung elektrischer Pulse in Dr¨ahten (Leitungsgleichung). Als Hochschullehrer war er fur¨ seine hervorragenden Vorlesungen bekannt; sein Schuler¨ Jacques Hadamard nannte sie sogar die perfektesten, die er je geh¨ort habe. Das spiegelt sich auch in seinem Trait´ed’Analyse wider, der sofort nach Erscheinen zu einem Klassiker wurde. Von 1884 bis 1917 war er korrespondierendes Mitglied der G¨ottinger Akademie der Wissenschaften. 1889 wurde er in die Pariser Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt (nach-

51 dem er schon 1881 erfolglos dafur¨ nominiert wurde). 1917 bis 1941 war er ihr st¨andiger Sekret¨ar. 1888 erhielt er den großen Preis der Akademie und 1886 den Ponceletpreis. 1903 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences und 1909 als ausw¨artiges Mit- glied (Foreign Member) in die Royal Society gew¨ahlt. 1932 erhielt er das Großkreuz der Ehrenlegion. 1924 wurde er Mitglied der Acad´emiefran¸caise.1920 war er Pr¨asident des Internationalen Mathematikerkongresses in Straßburg. 1937 erhielt er die Mittag-Leffler- Goldmedaille. 1908 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathematikerkongress in Rom (La math´ematiquedans ses rapports avec la physique). Nach dem Ersten Weltkrieg war er eine der treibenden Kr¨afte auf franz¨osischer Seite, Deutschland und Osterreich¨ aus der internationalen mathematischen Union und von den internationalen Mathematiker- kongressen (was ihm nur bis 1928 gelang) auszuschließen. 1884 und 1897 war er Pr¨asident der Soci´et´eMath´ematique de France. Der Asteroid (29613) Charlespicard wurde 2002 nach ihm benannt. Picard heiratete 1881 eine Tochter des Mathematikers Charles Hermite, dessen Werke er auch mit herausgab. Das Paar hatte eine Tochter und zwei S¨ohne, die beide im Ersten Weltkrieg fielen.

Hans Vilhelm R˚adstrom¨ (* 1919; †1970) war ein schwedischer Mathematiker, der sich mit Funktionentheorie und Funktionalanalysis befasste. Er wurde bei Torsten Carleman (und Fritz Carlson) an der Universit¨at Stockholm promoviert (Convexity and Norm in Topological Groups). 1949 bis 1950 war er am Institute for Advanced Study, wo er mit Olof Hanner zusammenarbeitete. 1952 wurde er Lektor an der Universit¨at Stockholm und 1969 Professor an der Universit¨at Link¨oping. Er bewies einen nach ihm benannten Einbettungssatz (die nicht leeren konvexen kom- pakten Untermengen eines reellen normierten Vektorraums k¨onnen isometrisch in einen konvexen Kegel eines normierten reellen Vektorraums eingebettet werden). Zu seinen Doktoranden geh¨oren Per Enflo und Martin Ribe (der aber erst nach seinem Tod promoviert wurde). 1952 wurde er Mitherausgeber der Nordisk Matematisk Tidskrift.

Georg Friedrich Bernhard Riemann (* 17. September 1826 in Breselenz bei Dannenberg (Elbe); † 20. Juli 1866 in Selasca bei Verbania am Lago Maggiore) war ein deutscher Mathematiker, der trotz seines relativ kurzen Lebens auf vielen Gebieten der Analysis, Differentialgeometrie, mathematischen Physik und der analytischen Zahlentheo- rie bahnbrechend wirkte. Er gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker. Riemann wuchs in einem lutherischen Pfarrhaus als eines von funf¨ Kindern unter beengten Verh¨altnissen auf. Seine Mutter, die Tochter des Hofrats Ebell in Hannover, starb fruh¨ (1846). Sein Vater, Friedrich Bernhard Riemann, der aus Boizenburg stammte, hatte an den Befreiungskriegen teilgenommen (Armee von Wallmoden) und war zuletzt in Quickborn Pastor. Riemann hielt stets enge Verbindung zu seiner Familie. Er besuchte von 1840 bis 1842 das Gymnasium in Hannover, danach bis 1846 das Gymnasium Johanneum in Luneburg,¨ von wo aus er den katastrophalen Brand Hamburgs in der Ferne beobachten konnte. Schon fruh¨ fielen seine mathematischen F¨ahigkeiten auf. Ein Lehrer, der Rektor Schmalfuss, lieh ihm Legendres Zahlentheorie (Th´eoriedes Nombres), ein schwieriges Werk von 859 Quartformat-Seiten, bekam sie aber schon eine Woche sp¨ater zuruck¨ und fand, als er Riemann im Abitur uber¨ dieses Werk weit uber¨ das Ubliche¨ hinaus prufte,¨ dass Riemann sich dieses Buch vollst¨andig zu eigen gemacht hatte.

52 Riemann sollte zun¨achst wie sein Vater Theologe werden und hatte dazu schon in Luneburg¨ neben Latein und Griechisch auch Hebr¨aisch gelernt; dann aber wechselte er in G¨ottingen zur Mathematik. Von 1846 bis 1847 studierte er in G¨ottingen u.a. bei Moritz Stern, Johann Benedict Listing — einem Pionier der Topologie (1847 schrieb er ein Buch daruber)¨ — und Carl Friedrich Gauß, der aber damals fast ausschließlich uber¨ Astronomie und nur noch selten uber¨ angewandte Themen wie seine Methode der kleinsten Quadrate las. 1847–1849 h¨orte Riemann in Berlin Vorlesungen von Peter Gustav Dirichlet uber¨ partielle Differentialgleichungen, bei Jacobi und Gotthold Eisenstein — mit dem er n¨ahere Bekanntschaft schloss — uber¨ elliptische Funktionen, bei Steiner Geometrie. Nach Richard Dedekind beeindruckten ihn in dieser Zeit auch die Ereignisse der Revolution vom M¨arz 1848 — so hielt er als Teil des Studentenkorps einen Tag Wache vor dem k¨oniglichen Schloss. 1849 war er wieder in G¨ottingen und begann die Arbeit an seiner Dissertation bei Gauß zur Funktionentheorie, die er 1851 abschloss. Danach wurde er vorubergehend¨ Assistent des Physikers Wilhelm Eduard Weber. 1854 habilitierte er sich. Das Thema seines Habilitationsvortrages am 10. Juni 1854 lautete Uber¨ die Hypothesen, welche der ” Geometrie zu Grunde liegen“. 1855 starb sein Vater. Ab 1857 hatte Riemann in G¨ottingen eine außerordentliche Professur. Im selben Jahr zogen seine zwei verbleibenden Schwestern zu ihm, fur¨ die er nach dem Tod seines Bruders trotz seines schmalen Gehalts sorgen musste — zur damaligen Zeit bestand das Gehalt eines Professors zum großen Teil aus H¨orergeldern, und je anspruchsvoller die Vorlesung war, desto weniger H¨orer stellten sich in aller Regel ein. Riemann erlitt aus Uberarbeitung¨ einen Zusammenbruch und begab sich zur Erholung nach Bad Harzburg zu Dedekind. 1858 besuchten ihn die italienischen Mathematiker Francesco Brioschi, Enrico Betti und Felice Casorati in G¨ottingen, mit denen er sich anfreundete und denen er topologische Ideen vermittelte. Im selben Jahr besuchte er erneut Berlin und traf dort Ernst Eduard Kummer, Karl Weierstraß und Leopold Kronecker. 1859 trat er die Nachfolge Dirichlets auf dem Lehrstuhl von Gauß in G¨ottingen an. 1860 reiste er nach Paris und traf Victor Puiseux, Joseph Bertrand, Charles Hermite, Charles Briot und Jean-Claude Bouquet. 1862 heiratete er Elise Koch, eine Freundin seiner Schwestern, mit der er eine Toch- ter, Ida, hatte, die 1863 in Pisa geboren wurde. Er hielt sich dann l¨anger in Italien auf und traf seine italienischen Mathematikerfreunde wieder. Auf der Ruckkehr¨ von einer Italienreise 1862 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Riemann litt an Tuber- kulose. Auch l¨angere Aufenthalte im milden Klima Italiens konnten die Krankheit nicht heilen. Auf neuerlicher Suche nach Erholung auf seiner dritten Italienreise starb er im Alter von 39 Jahren in Selasca am Lago Maggiore. Er wurde in Biganzolo begraben. Das Grab existiert nicht mehr, nur der Grabstein in der Friedhofsmauer blieb erhalten. Seine Tochter Ida (1863–1929) war mit dem Mathematiker und Nautiker Carl Schilling verheiratet und auch die Witwe Elise Riemann (1835–1904) und deren Schwester Ida Koch (1825–1899) zogen 1890 zu den Schillings nach Bremen. Trotz seines relativ kurzen Lebens wurde Riemann zu einem der herausragendsten Ma- thematiker, dessen Werk bis heute von großer Bedeutung fur¨ die Naturwissenschaften ist. Zum einen geh¨orte er zu den Begrundern¨ der Funktionentheorie, der Lehre von den Funk- tionen der komplexen Ver¨anderlichen. Zum anderen gilt er als Begrunder¨ der riemannschen Geometrie als einer der Wegbereiter von Einsteins allgemeiner Relativit¨atstheorie. Ver¨offentlicht hat er seine Ideen zur riemannschen Geometrie“, d.h. Differentialgeo- ” metrie in beliebig vielen Dimensionen mit lokal definierter Metrik, nur in seinem Habi-

53 litationsvortrag 1854, den er noch in Gegenwart des tief beeindruckten Carl Fried- rich Gauß hielt. Er hatte mehrere Themen vorgeschlagen und die Hypothesen, welche ” der Geometrie zugrunde liegen“ nur als letztes aufgefuhrt.¨ Gauß w¨ahlte (was eigentlich unublich¨ ist) gezielt dieses Thema. In dem Vortrag musste sich Riemann gezwungener- maßen fur¨ einen breiteren Kreis verst¨andlich ausdrucken,¨ und es kommen deshalb nur wenige Formeln darin vor. In einer Pariser Preisschrift (publiziert erst 1876 in den Ge- sammelten Werken) deutet Riemann die konkretere Ausfuhrung¨ seiner Vorstellungen an (u.a. Christoffel-Symbole, Krummungstensor).¨ Seine geometrische Begrundung¨ der Funktionentheorie mit der Einfuhrung¨ riemann- scher Fl¨achen, auf denen mehrdeutige Funktionen wie der Logarithmus (unendlich viele Bl¨atter) oder die Wurzelfunktion (zwei Bl¨atter) eindeutig“ werden, geschah in seiner ” Dissertation, die nach Dedekind schon im Herbst 1847 in Berlin fertig war (in Diskus- sionen mit Eisenstein soll er seinen Differentialgleichungszugang zur Funktionentheorie gegenuber¨ der mehr formalen Einstellung Eisensteins vertreten haben). Komplexe Funk- tionen sind “harmonische Funktionen“ (das heißt, sie erfullen¨ die Laplacegleichung bzw. ¨aquivalent dazu die cauchy-riemannschen Differentialgleichungen) auf diesen Fl¨achen und werden durch die Lage ihrer Singularit¨aten und die Topologie dieser Fl¨achen (Zahl der Schnitte u.a.) beschrieben. Das topologische Geschlecht“ der riemannschen Fl¨achen wird w ” durch g = 2 − n + 1 gegeben, wobei in den w Verzweigungspunkten der Fl¨ache n Bl¨atter aneinandergeheftet sind. Fur¨ g > 1 hat die riemannsche Fl¨ache 3g − 3 Parameter (die Moduln“). ” Seine Beitr¨age zu diesem Gebiet sind zahlreich. Sein beruhmter¨ riemannscher Abbil- dungssatz besagt, dass jedes einfach zusammenh¨angende Gebiet in der komplexen Zahle- nebene C entweder zu ganz C oder dem Innern des Einheitskreises biholomorph“ ¨aqui- ” valent ist (das heißt, es gibt eine holomorphe Abbildung, auch in umgekehrter Richtung). Die Verallgemeinerung des Satzes in Bezug auf riemannsche Fl¨achen ist das beruhmte¨ Uniformisierungstheorem, um das sich im 19. Jahrhundert u.a. Henri Poincare´ und Felix Klein bemuhten.¨ Auch hier sind strenge Beweise erst mit der Entwicklung aus- reichender mathematischer Werkzeuge — in diesem Fall aus der Topologie — gegeben worden. Fur¨ den Beweis der Existenz von Funktionen auf riemannschen Fl¨achen verwendete er eine Minimalbedingung, die er das Dirichletprinzip nannte. Karl Weierstraß wies sofort auf eine Lucke¨ hin. Riemann hatte mit seiner Arbeitshypothese“ (fur¨ ihn war die ” Existenz des Minimums anschaulich klar) nicht beachtet, dass der zugrundeliegende Funk- tionenraum nicht vollst¨andig sein muss und deshalb die Existenz eines Minimums nicht gesichert war. Durch die Arbeiten von David Hilbert in der Variationsrechnung wurde das Dirichletprinzip um die Jahrhundertwende auf theoretisch sicheren Boden gestellt. Weierstraß war im Ubrigen¨ von Riemann sehr beeindruckt, insbesondere von sei- ner Theorie abelscher Funktionen. Als diese erschien, zog er sein eigenes Manuskript, das schon bei Crelle lag, wieder zuruck¨ und publizierte es nicht mehr. Beide verstanden sich gut, als Riemann ihn 1859 in Berlin besuchte. Weierstraß regte seinen Schuler¨ Hermann Amandus Schwarz an, nach Alternativen zum Dirichletprinzip in der Be- grundung¨ der Funktionentheorie zu suchen, worin dieser auch erfolgreich war. Fur¨ die Schwierigkeiten, die zeitgen¨ossische Mathematiker mit Riemanns neuen Ideen hatten, ist eine Anekdote bezeichnend, die Arnold Sommerfeld uberlieferte.¨ Weierstraß hat- te sich Riemanns Dissertation in den 1870er Jahren zum Studium in den Urlaub auf dem Rigi mitgenommen und klagte, sie sei schwer verst¨andlich. Der Physiker Hermann von Helmholtz borgte sich die Arbeit uber¨ Nacht aus und gab sie mit dem Kommentar

54 zuruck,¨ sie sei fur¨ ihn naturgem¨aß“ und wie selbstverst¨andlich“. ” ” Weitere H¨ohepunkte sind seine Arbeiten uber¨ abelsche Funktionen und Thetafunktio- nen auf riemannschen Fl¨achen. Riemann war seit 1857 in einem Wettkampf mit Wei- erstraß um die L¨osung des jacobischen Umkehrproblems der abelschen Integrale, einer Verallgemeinerung der elliptischen Integrale. Riemann benutzte Thetafunktionen in meh- reren Variablen und reduzierte das Problem auf die Bestimmung der Nullstellen dieser Thetafunktionen. Riemann untersuchte auch die Periodenmatrix (der g abelschen Inte- grale 1. Gattung auf g Wegen, die sich aus kanonischer Zerschneidung“ der Fl¨ache mit ” 2g Wegen ergeben) und charakterisierte sie durch die riemannschen Periodenrelationen“ ” (symmetrisch, Realteil negativ). Die Gultigkeit¨ dieser Relationen ist nach Ferdinand Georg Frobenius und Solomon Lefschetz ¨aquivalent mit der Einbettung Cn/Ω (Ω = Gitter aus der Periodenmatrix) in einen projektiven Raum mittels Thetafunktionen. Fur¨ n = g ist das die auch von Riemann untersuchte Jacobivariet¨at der riemannschen Fl¨ache, ein Beispiel einer abelschen Mannigfaltigkeit (Gitter). Zahlreiche Mathematiker wie z.B. Alfred Clebsch fuhrten¨ die von Riemann er- dachten Beziehungen zur Theorie algebraischer Kurven weiter aus. Diese Theorie l¨asst sich durch die Eigenschaften der auf einer riemannschen Fl¨ache definierbaren Funktionen ausdrucken.¨ Beispielsweise macht der Satz von Riemann-Roch (Roch war ein Student Riemanns) Aussagen uber¨ die Anzahl der linear unabh¨angigen Differentiale (mit gewissen Vorgaben an deren Null- und Polstellen) auf einer riemannschen Fl¨ache. Nach Laugwitz tauchen in einem Aufsatz uber¨ die Laplacegleichung auf elektrisch leitenden Zylindern erstmals automorphe Funktionen auf. Riemann benutzte allerdings solche Funktionen auch fur¨ konforme Abbildungen z.B. von Kreisbogendreiecken in den Kreis in seinen Vorlesungen uber¨ hypergeometrische Funktionen 1859 (von Schwarz wie- derentdeckt) oder in der Abhandlung uber¨ Minimalfl¨achen. Freudenthal sieht es als gr¨oßten Fehler Riemanns an, dass er nicht schon in seiner Einfuhrung¨ der riemannschen Fl¨achen an den Schnitten M¨obiustransformationen zul¨asst und so automorphe Funktio- nen einfuhrt¨ (was er in der Theorie der hypergeometrischen Differentialgleichung an den singul¨aren Stellen tut). Riemann kannte den Gaußnachlass, in dem auch die Modulfigur auftaucht. Seine Arbeit uber¨ die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Gr¨oße von 1859, seiner einzigen Arbeit zur Zahlentheorie, gilt mit einigen Arbeiten von Pafnuti Lwo- witsch Tschebyschow und seinem Lehrer Dirichlet als Grundungsschrift¨ der ana- lytischen Zahlentheorie. Es ging um den Versuch, den von Gauß vermuteten Primzahlsatz zu beweisen und zu versch¨arfen. In dieser Arbeit machte er mit Hilfe der Funktionen- theorie sehr weitgehende Aussagen uber¨ die Verteilung der Primzahlen. Hier findet sich vor allem auch die nach ihm benannte riemannsche Vermutung uber¨ die Nullstellen der Zetafunktion, allerdings nur in einem Satz erw¨ahnt (er habe den Beweis nach einigen fluchtigen¨ Versuchen aufgegeben, da er fur¨ den unmittelbaren Zweck der Abhandlung nicht n¨otig sei). Sie ist von tragender Bedeutung fur¨ die Zahlentheorie, aber bis heute unbewiesen. Dass auch hinter diesem kurzen Aufsatz weit umfangreichere Rechnungen Riemanns stecken, zeigte Siegel 1932 bei der Untersuchung von Riemanns Nachlass in G¨ottingen. In der Arbeit von Riemann sind noch viele weitere interessante Entwicklungen. So bewies er die Funktionalgleichung der Zetafunktion (die schon Euler bekannt ist), hinter der eine solche der Thetafunktion steckt. Auch gibt er eine viel bessere N¨aherung fur¨ die Primzahlverteilung π(x) als die gaußsche Funktion Li(x). Durch Summation dieser 1 N¨aherungsfunktion uber¨ die nichttrivialen Nullstellen auf der Geraden mit Realteil 2 gibt

55 er sogar eine exakte explizite Formel“ π(x). Riemann kannte Tschebyschows Arbeiten ” zum Primzahlsatz. Dieser hatte 1852 Dirichlet besucht. Riemanns Methoden sind aber g¨anzlich anders. Auf dem Gebiet der reellen Funktionen entwickelte er das ebenfalls nach ihm benannte Riemannintegral (in seiner Habilitation). Er bewies unter anderem, dass jede stuckwei-¨ se stetige Funktion integrierbar ist. Ebenso geht das Stieltjesintegral auf den G¨ottinger Mathematiker zuruck¨ und wird deshalb mitunter auch als Riemann-Stieltjes-Integral be- zeichnet. In seiner Habilitationsarbeit uber¨ Fourierreihen, wo er ebenfalls den Spuren seines Lehrers Dirichlet folgte, bewies er, dass riemannintegrierbare Funktionen durch Fou- rierreihen darstellbar“ sind. Dirichlet hatte dies fur¨ stetige, stuckweise¨ differenzierbare ” Funktionen (also mit abz¨ahlbar vielen Sprungstellen) bewiesen. Riemann gab als von Di- richlet nicht erfassten Fall das Beispiel einer stetigen, fast nirgends differenzierbaren Funktion, in Form einer Fourierreihe. Außerdem bewies er das Lemma von Riemann- Lebesgue. Falls eine Funktion durch eine Fourierreihe darstellbar ist, gehen die Fourier- koeffizienten fur¨ große n gegen Null. Riemanns Aufsatz war auch der Ausgangspunkt von Georg Cantors Besch¨aftigung mit Fourierreihen, woraus dann die Mengenlehre entstand. Er behandelte auch die hypergeometrische Differentialgleichung 1857 mit funktionen- theoretischen Methoden und kennzeichnete die L¨osungen durch in der Monodromiematrix beschriebenes Verhalten auf geschlossenen Wegen um die Singularit¨aten herum. Der Be- weis der Existenz einer solchen Differentialgleichung bei vorgegebener Monodromiematrix ist eines der Hilbertprobleme (Riemann-Hilbert-Problem). Riemann interessierte sich auch stark fur¨ die mathematische Physik und Naturphilo- sophie unter dem Einfluss des Philosophen Johann Friedrich Herbart. Dieser vertrat eine Art Feldtheorie“ der geistigen Ph¨anomene ¨ahnlich der elektrodynamischen in Ana- ” logie zum gaußschen Satz der Potentialtheorie. Herbart: In jedem Augenblick tritt ” etwas Bleibendes in unsere Seele, um gleich wieder zu verschwinden.“ Fur¨ Herbart, der im Ruckgriff¨ auf Hume eine mathematische Begrundung¨ der Psychologie suchte, war das Subjekt nur das ver¨anderliche Produkt der Ideen. Wie Riemann selbst angibt, konnte er sich zwar einigen erkenntnistheoretischen und psychologischen Konzepten von Herbart anschließen, nicht jedoch seiner Naturphilosophie. Seine Rezension der fruhen¨ Schriften Gustav Theodor Fechners zeigt, dass er die von Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Na- turphilosophie beeinflusste Lehre Fechners teilte, insbesondere die Idee, dass es ein Inne- ” res der Natur“ gibt, das von einem organisierenden Prinzip“ belebt ist und zu h¨oheren ” ” Entwicklungsstufen“ fuhrt.¨ Riemanns Ideen zur Naturphilosophie aus seinem Nachlass sind in seinen gesammelten Werken ver¨offentlicht. Sein Beitrag zur Elektrodynamik“ von 1858, den er von der Publikation zuruckzog,¨ ” sollte die Elektrodynamik vereinheitlichen: Coulombkr¨afte (Schwere, Elektrizit¨at) aus Wi- derstand gegen Volumen¨anderung, elektrodynamische“ Kr¨afte wie Licht, W¨armestrah- ” lung aus Widerstand gegen L¨angen¨anderung eines Linienelements (er geht von Amp`eres Gesetz der Wechselwirkung zweier Str¨ome aus). Anstelle der Poissongleichung fur¨ das Po- tential, kommt er zu einer Wellengleichung mit konstanter Lichtgeschwindigkeit. Bei der Entwicklung seiner Ideen wurde er von Isaac Newtons drittem Brief an Bentley beein- flusst (zitiert in Brewsters Life of Newton“). Rudolf Clausius fand in der postum ” ver¨offentlichten Arbeit einen schweren Fehler. Seine Verwendung des Dirichletprinzips deutet schon auf Variationsmethoden hin, und Riemann hat auch eine Arbeit uber¨ Minimalfl¨achen geschrieben. Nach Laugwitz ist sie von Hattendorff, der sie postum herausgab, ungeschickt bearbeitet worden und nimmt

56 viele Ideen von Hermann Amandus Schwarz vorweg. In der mathematischen Physik arbeitete er beispielsweise uber¨ W¨armeleitungspro- bleme, Potentialprobleme, hyperbolische Differentialgleichung (er fand 1860 eine neue L¨osungsmethode fur¨ Differentialgleichungen, die Stoßwellen beschreiben) und Figuren ro- tierender Flussigkeiten.¨ Aufgrund seiner Untersuchungen hyperbolischer Gleichungen ist das Riemannproblem nach ihm benannt. Auf dem Gebiet rotierender Flussigkeiten¨ be- antwortete er eine Frage Dirichlets und fand neue Figuren neben den schon bekannten von Dedekind, Dirichlet und Colin MacLaurin. Außerdem betrachtete er ihre Sta- bilit¨at (Ljapunow vorwegnehmend). Hattendorf hat seine Vorlesungen uber¨ partiel- le Differentialgleichungen der mathematischen Physik nach seinem Tod herausgegeben. Sp¨ater wurde daraus in der Bearbeitung von Heinrich Weber ein damals bekanntes Lehrbuch. Noch kurz vor seinem Tod arbeitete er an einer Theorie des menschlichen Ohrs. Riemanns Freund Richard Dedekind hat seine Werke nach seinem Tod 1876 zusam- men mit Heinrich Weber in erster Auflage (2. Auflage 1892 durch Heinrich Weber) herausgegeben (und mit einer Biographie versehen), darunter auch viel nicht publiziertes Material (weitere Arbeiten soll seine Haush¨alterin kurz nach seinem Tod aus Unkenntnis verbrannt haben). Die Popularisierung seiner Funktionentheorie, die damals in Konkur- renz zu der Potenzreihen-Funktionentheorie“ `ala Cauchy und Weierstraß stand, ” erfolgte vor allem durch Felix Klein in seinen Vorlesungen in Leipzig und G¨ottingen, wobei dieser sich nicht scheute, physikalische Analogien zu betonen. Auch Carl Gott- fried Neumann trug in verschiedenen Buchern¨ zur Verbreitung von Riemanns Ideen bei. Deshalb hatte Riemanns Funktionentheorie von Anfang an bei Physikern wie Her- mann von Helmholtz Erfolg. Helmholtz wandte sie schon 1868 in einer Arbeit uber¨ Flussigkeitsbewegung¨ (konforme Abbildungen) an und schrieb 1868 an Riemann an- knupfend¨ eine Arbeit uber¨ das sp¨ater so genannte Riemann-Helmholtz-Raumproblem“. ” Den Mathematikern blieb die Funktionentheorie lange Zeit suspekt, nicht zuletzt dank der weierstraßschen Kritik am Dirichletprinzip. Insbesondere fielen Riemanns Ideen in Italien, in dessen gerade gegrundetem¨ National- staat ein großer Hunger nach neuen Ideen bestand, auf fruchtbaren Boden. Es bestanden auch pers¨onliche Beziehungen von Riemann, der sich zur Wiederherstellung seiner Ge- sundheit gern in Italien aufhielt, zu italienischen Mathematikern wie Enrico Betti und Eugenio Beltrami, und diese versuchten sogar, ihn ganz nach Italien auf einen Lehr- stuhl in Pisa zu ziehen. Seine Krankheit und sein Tod verhinderten das. Zu seinen unmittelbaren deutschen Schulern¨ z¨ahlten Friedrich Schottky, Gustav Roch (der im selben Jahr wie Riemann und ebenfalls an Tuberkulose starb), Friedrich Prym, der wie Roch 1861 bei Riemann h¨orte und seine Methoden gleich in seiner Dissertation 1862 bei Kummer anwandte. Typisch fur¨ Riemann war ein konzeptionelles, viele Bereiche verbindendes Denken, er war aber auch technisch“ sehr stark. Wie sein Vorbild Dirichlet vermied er aber ” nach M¨oglichkeit Rechnungen. Mit ihm begann die Topologie eine zentrale Rolle in der Mathematik zu spielen. Der wissenschaftliche Nachlass von Riemann wird vom Zentralarchiv deutscher Ma- thematikernachl¨asse an der Nieders¨achsischen Staats- und Universit¨atsbibliothek G¨ottin- gen aufbewahrt. Er umfasst keine privaten Briefe oder pers¨onliche Dokumente, die in der Hand der Familie blieben. Ein Teil der privaten Briefe aus dem Besitz von Erich Bessel-Hagen (der sie wahrscheinlich um die Zeit des Zweiten Weltkriegs erwarb) kam an die Staatsbibliothek Berlin. In seinem Geburtsort Breselenz hat die Gemeinde Jameln nach ihm eine Straße be-

57 nannt, ebenso wie die St¨adte Berlin, Dannenberg (Elbe), G¨ottingen, Jena, Leipzig und Luneburg.¨ Nach Riemann sind folgende mathematische Strukturen benannt: Riemannintegral, ein klassischer Integralbegriff der Analysis; Riemann-Stieltjes-Integral, eine Verallgemei- nerung des Riemannintegrals; Riemannproblem, ein Anfangswertproblem, bei dem die Anfangsdaten konstant sind, bis auf einen Punkt, in dem sie unstetig sind; cauchy- riemannsche Differentialgleichungen, ein System von zwei partiellen Differentialgleichun- gen zweier reeller Funktionen; riemannsche Fl¨ache, eine eindimensionale komplexe Man- nigfaltigkeit; riemannsche Geometrie, ein Teilgebiet der Differentialgeometrie, in dem rie- mannsche Mannigfaltigkeiten untersucht werden; riemannsche Mannigfaltigkeit, eine reelle differenzierbare Mannigfaltigkeit, die mit einem Skalarprodukt auf dem Tangentialraum ausgestattet ist; riemannsche Normalkoordinaten, ein Koordinatensystem, das in der rie- mannschen Geometrie verwendet wird; riemann-siegelsche Thetafunktion; riemannsche Vermutung, eine Vermutung, nach der alle nichttrivialen Nullstellen der riemannschen 1 Zetafunktion den Realteil 2 besitzen; riemannsche Ξ-Funktion, eine Transformierte der riemannschen Zetafunktion; riemannsche Zahlenkugel, eine riemannsche Fl¨ache, die sich aus der Hinzunahme eines Punktes in der Unendlichkeit zur komplexen Ebene ergibt; riemannsche ζ-Funktion, eine komplexe Funktion, die die analytische Fortsetzung der Di- richletreihe darstellt. Weiter sind nach Riemann folgende mathematische S¨atze benannt: Formel von Rie- mann-Hurwitz; ein Zusammenhang zwischen Verzweigungsordnung, Bl¨atterzahl und Geschlecht bei holomorphen Abbildungen kompakter riemannscher Fl¨achen; riemannscher Abbildungssatz, jedes einfach zusammenh¨angende Gebiet l¨asst sich konform auf die of- fene Einheitskreisscheibe abbilden; riemannscher Hebbarkeitssatz, eine Singularit¨at einer holomorphen Funktion ist genau dann hebbar, wenn die Funktion in einem Gebiet um die Singularit¨at beschr¨ankt ist; riemannscher Umordnungssatz, ein Satz uber¨ die Umorden- barkeit bedingt konvergenter Reihen; Satz von Riemann-Roch, ein Satz uber¨ die Zahl der unabh¨angigen meromorphen Funktionen mit vorgegebenen Null- und Polstellen auf einer kompakten riemannschen Fl¨ache Außerdem sind nach Riemann benannt: (4167) Riemann, ein Asteroid des Hauptgur-¨ tels; Riemann (Mondkrater), ein Mondkrater in der n¨ordlichen Hemisph¨are; Bernhard- Riemann-Gymnasium, ein Gymnasium in Scharnebeck

Paul Charles Rosenbloom (* 1920 in Portsmouth, Virginia; †April 2005) war ein US-amerikanischer Mathematiker. Er studierte an der University of Pennsylvania (w¨ahrend dieser Zeit wurde er 1941 Putnam Fellow nach Teilnahme am gleichnamigen Wettbewerb) und er wurde 1944 an der Stanford University bei Gabor Szego¨ promoviert (On sequences of polynomials, especially sections of power series). Er war Professor fur¨ Mathematik an der Brown Uni- versity, der Syracuse University (um 1951), der University of Minnesota (Mitte bis Ende der 1950er Jahre, dort war er 1959/60 Direktor des Minnesota School Mathematics Cen- ter) und am Teacher’s College der Columbia University (ab den 1960er Jahren bis zur Emeritierung). Er befasste sich mit Analysis (z. B. Wiederentdeckung des Fixpunktsatzes fur¨ die Iteration ganzer Funktionen von Pierre Fatou 1948), speziell Funktionentheorie und Differentialgleichungen, Logik und Mathematikp¨adagogik. 1946 war er Guggenheim Fel- low.

58 Eugene` Rouche´ (* 18. August 1832 in Sommi`eres,D´epartement H´erault; † 19. August 1910 in Lunel) war ein franz¨osischer Mathematiker. Er war Gymnasiallehrer am Lyc´eeCharlemagne und danach Professor am Conservatoire national des arts et m´etiers in Paris sowie daneben Prufer¨ an der Ecole´ polytechnique. Er besch¨aftigte sich vorwiegend mit Funktionentheorie. Nach ihm ist der Satz von Rouche´ benannt (ver¨offentlicht in Journal de l’Ecole´ polytechnique, Bd. 39, 1862). Daneben verfasste er damals bekannte Lehrbucher,¨ so ein Geometrielehrbuch in zwei B¨anden, zuerst 1883 erschienen, und noch 1922 bei Gauthier-Villars neu aufgelegt, sowie Lehrbucher¨ uber¨ grafische Statik und Analysis fur¨ Ingenieure. Mit Charles Hermite und Henri Poincare´ gab er die gesammelten Werke von Edmond Laguerre heraus. In der linearen Algebra wird ein Satz von ihm uber¨ die L¨osung inhomogener linearer Gleichungssysteme nach ihm benannt (manchmal auch Satz von Rouche-Frobenius´ ). Außerdem wird dort ein Satz nach ihm und Alfredo Capelli benannt. 1883 war er Pr¨asident der Soci´et´emath´ematiquede France.

Ernst Schroder¨ (* 25. November 1841 in Mannheim; †16. Juni 1902 in Karlsruhe; vollst¨andiger Name Ernst Friedrich Wilhelm Karl Schroder¨ ) war ein deutscher Mathematiker und Logiker. Nach dem Studium der Mathematik und Physik an der Ruprecht-Karls-Universit¨at Heidelberg und Albertus-Universit¨at K¨onigsberg habilitierte Schroder¨ an der Univer- sit¨at Zurich¨ 1865. Nach einem Schuldienst wurde er 1874 Professor fur¨ Mathematik an der TH Darmstadt, anschließend 1876 an der TH Karlsruhe, wo er 1890/91 auch als Direktor fungierte. Seine Hauptarbeitsgebiete waren die Grundlagen der Mathematik, Funktionentheorie und kombinatorische Analysis. In seiner Arbeit Ueber iterirte Functionen“ aus dem Jah- ” re 1871 untersuchte er die heute nach ihm benannte schr¨odersche Funktionalgleichung, die in der komplexen Dynamik eine wichtige Rolle spielt. Dass die Logik eine selbst¨andige Disziplin wurde, ist seinen Arbeiten zur theoretischen Algebra und symbolischen Logik zu verdanken. Mit seinen Arbeiten zur Algebra der Logik errang er internationale Aner- kennung. Er optimierte die Logik von George Boole und entwickelte 1877 das erste vollst¨andige Axiomensystem der booleschen Algebra. In seiner dreib¨andigen Algebra der Logik von 1890–1895 ging er im Unterschied zu Boole, der seinen Kalkul¨ auf die Identit¨at von Klassen aufbaute, von der Inklusion von Klassen aus. Schroder¨ entwickelte ferner die Relationale Algebra (siehe Relationentheorie), fuhrte¨ den Begriff Normalform ein und entdeckte das Dualit¨atsprinzip in der Klassenlogik (siehe boolesche Algebra). Ferner l¨oste er Spezialf¨alle des Entscheidungsproblems durch Elimination der Quantoren. Giuseppe Peano baute auf Schr¨oders Logik auf; ebenso knupfte¨ Norbert Wiener in seiner Dissertation A comparison between the treatment of the Algebra of relatives ” by Schroder¨ and that by Whitehead and Russell“ an die Arbeiten Schr¨oders an. Fur¨ Alfred Tarski waren seine Arbeiten die Grundlagen fur¨ eine moderne Theorie der Algebra und die Geschichte der Logik. Er ist einer der Namensgeber fur¨ den Satz von Cantor-Bernstein-Schr¨oder. Auch die Schr¨oderzahlen sind nach ihm benannt. Ernst Schroder¨ hat mit seinem dreib¨andigen Hauptwerk zur Algebra der Logik eine der Grundlagen fur¨ die Begriffliche Wissensverar- beitung geschaffen. Daher tr¨agt auch das Ernst Schr¨oder Zentrum fur¨ Begriffliche Wis- sensverarbeitung seinen Namen. Es f¨ordert Ausbildung, Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Begrifflichen Wissensverarbeitung sowie deren Anwendung.

59 Steffen Rohde ist ein deutscher Mathematiker, der 1989 an der Technischen Uni- versit¨at Berlin bei Christian Pommerenke promoviert hat.

Hermann Amandus Schwarz (* 25. Januar 1843 in Hermsdorf, Schlesien; †30. November 1921 in Berlin) war ein deutscher Mathematiker. Er war der Sohn des Baumeisters Wilhelm Schwarz und derAuguste Lohde. Er studierte in Berlin zun¨achst Chemie am K¨oniglichen Gewerbeinstitut in Charlotten- burg und wechselte dann zum Studium der Mathematik an die Universit¨at Berlin unter dem Einfluss seiner dortigen akademischen Lehrer Ernst Eduard Kummer und Karl Weierstraß. 1864 wurde er bei Kummer in Mathematik promoviert (Dissertation: De superficiebus in planum explicabilibus primorum septem ordinum). Nach der Promotion unterrichtete er an Gymnasien in Berlin. 1866 habilitierte er sich in Berlin und wurde Privatdozent. Zwischen 1867 und 1869 war er außerordentlicher Professor in Halle, dann ab 1869 ordentlicher Professor an der ETH Zurich.¨ Seit 1875 war er ordentlicher Professor an der Universit¨at G¨ottingen und schließlich ab 1892 ordentlicher Professor an der damali- gen Berliner Friedrich-Wilhelms-Universit¨at. Im gleichen Jahr wurde er zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. Im Jahr 1885 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gew¨ahlt, und 1895 wurde er als korrespondierendes Mitglied in die Acad´emiedes sciences in Paris und 1897 in die Russische Akademie der Wissen- schaften in St. Petersburg aufgenommen. Seit 1912 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Schwarz besch¨aftigte sich insbesondere mit der Funktionentheorie und der Theorie der Minimalfl¨achen. Besonders zu erw¨ahnen sind seine Arbeiten zum riemannschen Ab- bildungssatz (Schwarz-Christoffel-Transformation), zur L¨osung der ersten Randwerteauf- gabe fur¨ den Kreis und seine Arbeiten uber¨ die hypergeometrische Differentialgleichung. Nach ihm benannt sind die Cauchy-Schwarz-Ungleichung, das schwarzsche Lemma, das Lemma von Schwarz-Pick, das schwarzsche Spiegelungsprinzip, die schwarzsche Ablei- tung und der Satz von Schwarz. Ebenfalls von Schwarz stammt das nach ihm benann- te alternierende Verfahren von Schwarz, ein iteratives Gebietszerlegungsverfahren zur L¨osung elliptischer partieller Differentialgleichungen wie die Laplacegleichung, das er auf der Suche nach einem Ersatz fur¨ das von Bernhard Riemann zur Begrundung¨ seiner Funktionentheorie verwendete Dirichletprinzip einfuhrte.¨ Bekannt wurde er auch durch ein Beispiel (schwarzscher Stiefel), das die Problematik der naiven Ubertragung¨ der Definition der Kurvenl¨ange durch Ann¨aherung durch Poly- gonzuge¨ (Rektifizierung) auf zwei und mehr Dimensionen zeigte. In seinem Beispiel wurde einem endlichen Zylinder auf diese Weise eine aus Polygonen zusammengesetzte Fl¨ache von unendlich großem Inhalt eingeschrieben. Ein enger Freund seit Berliner Studientagen war Georg Cantor, und Schwarz sprach sich auch fur¨ Cantor als seinen Nachfolger an der ETH Zurich¨ aus. Sp¨ater zer- brach die Freundschaft und Schwarz wurde zum Gegner von Cantor, wozu er sich mit Leopold Kronecker zusammentat, dem er noch in Berliner Studientagen wie Cantor kritisch gegenuberstand.¨ Bei ihm promovierten unter anderem Carl Schilling, Paul Koebe, weitere Schuler¨ waren Leopold Fejer´ , Leon Lichtenstein, Gerhard Hessenberg, Chaim Muntz¨ , Robert Remak, Theodor Vahlen und Ernst Zermelo. 1868 heiratete er Marie Elisabeth Kummer (1842–1921), die Tochter seines Dok- torvaters Kummer, und hatte mit ihr sechs Kinder. Sie war gleichzeitig Tochter von Ottilie Mendelssohn, der Tochter textscNathan Mendelssohns und Enkelin Moses

60 Mendelssohns. Der Mathematiker Roland Sprague war sein Enkel. 1902 wurde er Ehrendoktor in Oslo und 1914 an der ETH Zurich.¨

Wilhelm Schwick ist ein deutscher Mathematiker, der seit 2009 Rektor der Fach- hochschule Dortmund ist. Ich bin seit 2001 Nachfolger auf seiner Stelle an der Technischen Universit¨at Dortmund. Leider gibt es keinen Wikipedia-Eintrag von Schwick und daher verweise ich auf einen Link zu seiner Wiederwahl im Jahre 2019: https://www.fh-dortmund.de/de/news/2019/01/ personalien-prof.-dr.-wilhelm-schwick-als-rektor-wiedergewaehlt.php.

Carl Ludwig Siegel (* 31. Dezember 1896 in Berlin; †4. April 1981 in G¨ottingen) war ein deutscher Mathematiker; sein Spezialgebiet war die Zahlentheorie. Er gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Siegel war der Sohn eines Postbeamten. Er studierte ab 1915 in Berlin Astrono- mie, Physik und Mathematik, unter anderem bei Ferdinand Georg Frobenius und Max Planck. Unter dem Einfluss Frobenius’ spezialisierte er sich auf Zahlentheorie. 1917 wurde er einberufen. Da er den Wehrdienst verweigerte, wurde er in eine psychiatri- sche Anstalt eingewiesen. Nach eigenen Worten uberstand¨ er die Zeit nur, da Edmund Landau, dessen Vater in der Nachbarschaft eine Klinik hatte, ihn unterstutzte.¨ Er setzte sein Studium 1919 in G¨ottingen fort, diesmal protegiert von Richard Courant, und promovierte 1920 unter Landau mit der schon in Berlin als Viertsemester gefundenen Arbeit uber¨ die Approximation irrationaler Zahlen, die Thues Resultat versch¨arft. Bereits 1922 wurde er Professor in Frankfurt als Nachfolger von Arthur Moritz Schoenflies. Siegel, dem der Nationalsozialismus zutiefst zuwider war, schloss Freundschaft mit den judischen¨ Dozenten Ernst Hellinger und Max Dehn und setzte sich fur¨ die bei- den ein. Diese Haltung machte Siegels Berufung als Nachfolger auf den Lehrstuhl von Constantin Carathe´eodory´ in Munchen¨ unm¨oglich. In Frankfurt beteiligte er sich mit Dehn, Hellinger, Paul Epstein und anderen auch an einem Seminar zur Geschichte der Mathematik, das auf h¨ochstem Niveau be- trieben wurde (grunds¨atzlich wurden die Originale gelesen). Siegel hat diese Zeit sp¨ater in einem Aufsatz vor dem Vergessen bewahrt. In den 1930er Jahren bemuhte¨ er sich vergeblich bei der nationalsozialistischen Regierung, seinen judischen¨ Kollegen Landau, Dehn, Hellinger und Courant die Lehrstuhle¨ zu erhalten. Nachdem er Mitte der 1930er Jahre eine Weile am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey war, entschloss er sich gegen den Rat seiner Kollegen, nach Deutschland zuruckzukehren.¨ Ein Motiv war, dass er Schwierigkeiten hatte sich US-amerikanischen Lebensverh¨altnissen an- zupassen und die Atmosph¨are in Princeton als prude¨ empfand (er lebte unverheiratet mit einer Freundin zusammen). Ein anderes Motiv war, dass er seinen judischen¨ Kollegen Dehn und Hellinger in Frankfurt helfen wollte (er wollte sogar die Ersetzung von Hel- linger durch den Nationalsozialisten Werner Weber ruckg¨ ¨angig machen)[7] und ihm dort außerdem wegen seiner Abwesenheit der Pensionsentzug drohte. 1938 kehrte Siegel als Professor nach G¨ottingen zuruck,¨ entschied sich aber 1940, nach Gastaufenthalten in D¨anemark und Norwegen nicht mehr nach Deutschland zuruck-¨ zukehren. Kurz vor der deutschen Besetzung Norwegens floh er mit einem Dampfer in die USA. Die Emigration wurde ihm durch die Tatsache erleichtert, dass er keine Familie hat- te, auch wenn er mit der Mathematikerin Hel Braun eine enge Freundin in G¨ottingen zuruckließ;¨ er blieb zeit seines Lebens unverheiratet.

61 Siegel lehrte und arbeitete von 1940 bis 1951 am Institute for Advanced Study in Princeton wo er schon 1935 war. Er erhielt dort 1946 eine permanente Professur und wurde US-Staatsburger.¨ 1951 kehrte er nach G¨ottingen zuruck,¨ wo er 1959 emeritiert wurde (danach hielt er aber noch einige Jahre Vorlesungen) und bis zu seinem Lebens- ende blieb. Insgesamt viermal hielt er Vorlesungen am Tata Institute of Fundamental Research in Bombay. Er war seit 1949 korrespondierendes und seit 1951 ordentliches Mit- glied der G¨ottinger Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1958 wurde er zum Mitglied der Leopoldina2] und zum korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. Zu seinen Doktoranden z¨ahlen Helmut Klingen, Theodor Schneider, Kurt Mahler (als Korreferent), Hel Braun, Helmut Rußmann¨ , Gunter¨ Meinardus, Christian Pommerenke, Jurgen¨ Moser, Erhard Scheibe (in beiden letztgenann- ten F¨allen ebenfalls als Korreferent). In seiner Dissertation 1920 verbesserte Siegel die Thuesche Absch¨atzung zur Ap- proximation algebraischer Zahlen durch rationale Zahlen erheblich, ein Ergebnis, das er schon als Student im 3. Semester gefunden hatte. Es wurde 1955 durch Klaus Friedrich Roth, der dafur¨ die Fields-Medaille erhielt, nochmals (bestm¨oglich) versch¨arft (Satz von Thue-Siegel-Roth). Siegel wandte sein Ergebnis dann 1929 dafur¨ an, sein beruhmtestes¨ Resultat zu erzielen, den Beweis, dass algebraische Gleichungen in ganzen Zahlen nur endlich viele L¨osungen haben, sobald das Geschlecht g = 1 ist. Quadratische Gleichungen (Geschlecht Null, entsprechend Sph¨are) haben naturlich¨ unendlich viele L¨osungen, z. B. Pythagor¨aische Tripel. Der siegelsche Satz entsprechende Satz fur¨ rationale Zahlen heißt Mordell-Vermutung bzw. nach Faltings“ Beweis Satz von Faltings“. ” ” Siegel erweiterte die bis dahin sehr schwach ausgepr¨agte Theorie uber¨ transzendente Zahlen erheblich und entwickelte entsprechende Entscheidungskriterien dafur,¨ wann eine Zahl transzendent, also nicht L¨osung einer algebraischen Gleichung ist. Siegel fuhrte¨ neue Methoden ein, zuerst fur¨ den Beweis spezieller Werte der L¨osungen von Differenti- algleichungen 2. Ordnung, wie die Besselfunktionen. Gelfond und Schneider (der bei Siegel promovierte und dessen Assistent war) fuhrten¨ u.a. mit diesen Methoden sp¨ater Transzendenzbeweise, die eines von Hilberts Problemen l¨osten. Ferner forschte er zur Geometrie der Zahlen (im Sinne Minkowskis), der Theorie der Zetafunktion (er fand neue Ergebnisse Bernhard Riemanns in dessen Nachlass und er- weiterte diese), bewies die Funktionalgleichung fur¨ die Dedekind-Zetafunktion in alge- braischen Zahlk¨orpern, arbeitete zu quadratischen Formen und fand weitere Regeln zur Absch¨atzung von L¨osungen diophantischer Gleichungen. In der additiven Zahlentheorie untersuchte er Probleme vom Waring-Typ (maximale Anzahl k-ter Potenzen, die n¨otig sind zur Darstellung beliebiger naturlicher¨ Zahlen als Summe dieser k-ten Potenzen) mit analytischen Methoden. In seiner analytischen Theorie quadratischer Formen in mehreren Variablen bewies er seine beruhmte¨ analytische Klassenzahlformel fur¨ die Anzahl der Darstellungen einer Form durch eine andere: Auf deren einer Seite steht eine Art Thetafunktion, mit der Spur der Matrizen im Exponenten und Summation uber¨ Klassen-Repr¨asentanten; auf der anderen Seite der Gleichung steht eine Eisensteinreihe, also eine Modulform, wobei wieder uber¨ Klassenrepr¨asentanten summiert wird. Diese analytischen Gebilde liefern gleichzeitig zwei Arten, die siegelschen Modulfunktionen einzufuhren,¨ damals um 1935 aufsehenerregend, da uber¨ Funktionentheorie in mehreren Variablen wenig bekannt war. Siegel fand auch mit Richard Brauer ein Resultat uber¨ das asymptotische Verhal- ten der Klassenzahlen algebraischer Zahlk¨orper. Zusammen mit Hans Heilbronn bewies

62 er, dass die Klassenzahlen imagin¨ar quadratischer Zahlk¨orper (definiert durch Adjunktion der Wurzel von (−n) zu den rationalen Zahlen) fur¨ große n divergieren, was schon Carl Friedrich Gauß vermutete. Er rettete auch zusammen mit Harold Stark und Max Deuring den Beweis des Privatgelehrten Kurt Heegner (1952) fur¨ das Klassenzahl ” ell-Problem“ imagin¨ar quadratischer Zahlk¨orper von Gauß (also dass es keine weiteren solchen Zahlk¨orper außer den damals schon bekannten neun gab), fur¨ den er Eigenschaf- ten von Modulfunktionen benutzte. Anlass war der neue Beweis von Harold Stark in den 1960er Jahren, der zur erneuten Betrachtung des schwer verst¨andlichen, seinerzeit bezweifelten Beweises von Heegner fuhrte.¨ Nach ihm und Arnold Walfisz ist der Satz von Siegel-Walfisz benannt. Siegel untersuchte automorphe Funktionen mehrerer Variablen zun¨achst als Hilfsmit- tel fur¨ zahlentheoretische Fragestellungen, seine analytische Theorie quadratischer Formen 1935/37 in mehreren Variablen. Daraus entwickelte sich die Theorie der siegelschen Mo- dulformen (Analoga der Modulformen im siegelschen Halbraum), die bald eigener For- schungsgegenstand wurden. Er untersuchte auch die zugrundeliegenden diskontinuierli- chen Gruppen und ihre Fundamentalbereiche, die die Theorie der Modulfunktion und ihrer Modulgruppe von Robert Fricke und Felix Klein verallgemeinern. Er fand auch neue Beziehungen zwischen diesen Funktionen und untersuchte ihre Fourierkoeffizi- enten (z.B. von Eisensteinreihen). In Zusammenhang mit der Theorie seiner Modulformen spricht Siegel in einigen Arbeiten von symplektischer Geometrie“, eine Bezeichnung, ” die heute anders verwendet wird. Hier interessierte sich Siegel vor allem fur¨ Fragestellungen mit Bezug zur Himmels- mechanik, insbesondere zum Dreik¨orperproblem oder allgemeiner zum nK¨orperproblem, Fragen der Regularisierung der singul¨aren Bewegungsgleichungen (St¨oße), der Existenz algebraischer Integrale der Bewegungsgleichungen (wobei er Arbeiten von Ernst Hein- rich Bruns fortsetzte), der Mondtheorie (aufbauend auf George William Hill), der Existenz quasiregul¨arer Bahnen und ihrer Stabilit¨at (in einfacheren analytischen dyna- mischen Systemen, Siegel-Scheiben), Konvergenzfragen der St¨orungsfunktion ( Problem ” der kleinen Nenner“), sowie der Normalformen hamiltonscher Bewegungsgleichungen na- he Gleichgewichtspunkten (auf George David Birkhoff aufbauend). Sein Buch uber¨ Himmelsmechanik, geschrieben mit Jurgen¨ Moser, gilt auch als Klassiker und hat das in dieser Disziplin beruhmte¨ KAM-Theorem (benannt nach Kolmogorow, Arnold und Moser) mit vorbereitet. Wie kaum ein anderer Mathematiker des 20. Jahrhunderts hat sich Siegel kritisch zur zunehmenden Abstrahierung und Axiomatisierung der Mathematik ge¨außert. Das Bour- bakiprojekt war aus seiner Sicht der H¨ohepunkt einer katastrophalen Entwicklung“. Vor- ” bild waren fur¨ ihn die Klarheit von Gauß und Lagrange, sowie die Erforschung konkreter mathematischer Objekte.

Andreas Speiser (* 10. Juni 1885 in Basel; †12. Oktober 1970) war ein Schweizer Mathematiker und Philosoph. Er entstammte einer einflussreichen Basler Familie. Er war der Sohn von Nationalrat Paul Speiser und Enkel des Basler Regierungsrates Karl Sarasin. Sein jungerer¨ Bruder Ernst Speiser war Nationalrat und St¨anderat. Ab 1904 studierte Speiser in G¨ottingen u. a. bei David Hilbert, Felix Klein und Hermann Minkowski. Dort wurde er 1909 promoviert (Die Theorie der bin¨aren quadratischen Formen mit Koeffizienten und Unbestimmten in einem beliebigen Zahlk¨orper), offiziell bei Hilbert; da Hilbert sich damals von der Zahlentheorie den Integralgleichungen zu- wandte, hatte Speiser aber meist mit Minkowski Kontakt. Nach weiteren Studien in

63 London und Paris wurde er 1911 in Strassburg habilitiert. Ab 1917 war er ausserordentli- cher Professor und ab 1919 ordentlicher Professor an der Universit¨at Zurich.¨ 1924/25 war er Pr¨asident der schweizerischen mathematischen Gesellschaft. 1932 wurde er Mitglied der Leopoldina. 1939 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der G¨ottinger Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt. 1944 wurde er Professor in Basel. Speiser besch¨aftigte sich mit Zahlentheorie, Gruppentheorie und der Theorie rie- mannscher Fl¨achen. Er organisierte die Ubersetzung¨ des grundlegenden Buches von Leo- nard Dickson Algebren und ihre Zahlentheorie“ (1927) durch seinen Assistenten Jo- ” hann Jakob Burckhardt, das die Besch¨aftigung mit der Theorie der Algebren durch die Schulen von Emmy Noether und Helmut Hasse stark beeinflusste, und steuerte einen Anhang uber¨ Idealtheorie bei. Seine Theorie der Gruppen endlicher Ordnung ist ein klassisches, reich illustriertes Einfuhrungswerk¨ zur Gruppentheorie. Dort werden (ne- ben Anwendungen in Galoistheorie, elementarer Zahlentheorie und platonischen K¨orpern) auch ausfuhrlich¨ Ornamente untersucht, die Speiser z. B. auf einer Agyptenreise¨ 1928 studierte. Es regte viele Mathematiker zur Besch¨aftigung mit diesem Thema an (bezeugt u. a. von Heinrich Heesch und Johann Jakob Burckhardt). In der Zahlentheorie sind nach ihm und David Hilbert der Satz von Hilbert-Speiser und die Hilbert-Speiser-Zahlk¨orper benannt, in der Funktionentheorie sind der Speiser- graph einer riemannschen Fl¨ache und die Speiserklasse meromorpher Funktionen mit sei- nem Namen verbunden. Speiser befasste sich auch mit Mathematikgeschichte und war als Generaldirektor der Euler-Kommission Herausgeber von Leonhard Eulers Opera Omnia sowie der Werke von Johann Heinrich Lambert. Als Philosoph widmete er sich vor allem Platon und schrieb einen Kommentar zu dessen Dialog Parmenides. Er befasste sich auch mit Plotin und Hegel. Ihm war auch stets am Zusammenhang zwischen Mathematik und Kunst gelegen. So sagte er in einem Vortrag (11. September 1949):

In der griechischen Sprache heisst Techne gleichzeitig Kunst und Technik und so ” m¨ochte denn schliessen mit dem Appell, die drei Dinge: Formel, Kunst, Technik nie und nimmer zu trennen, sondern eingedenk zu bleiben, dass nur im gegenseitigen Zusammenwirken dieser drei das Heil liegen kann.“

Andreas Speiser sollte nicht mit dem Schweizer Ingenieur und Informatiker Am- brosius Paul Speiser verwechselt werden.

Norbert Steinmetz * 1949 ist ein deutscher Mathematiker. Er studierte nach dem Abitur in Germersheim (1968) an der TH Karlsruhe Mathematik mit dem Diplom 1975. Er war ab 1975 wissenschaftlicher Assistent in Karlsruhe und wurde dort 1978 bei Erwin Mues promoviert (Eigenschaften eindeutiger L¨osungen gew¨ohnlicher Differentialgleichun- gen im Komplexen) und habilitierte sich 1985 und war dort danach Professor. 1990 bis zur Emeritierung 2015 war er Professor an der Universit¨at Dortmund. 1994 bis 1996 war er dort Dekan und 1996 bis 2000 Mitglied des Akademischen Senats. Er befasst sich mit Differentialgleichungen im Komplexen, Nevanlinna-Theorie, geome- trischer Funktionentheorie und holomorpher Dynamik. Von ihm stammt eine Monographie uber¨ die Dynamik der Iteration rationaler Funktionen im Komplexen. 1978 gelang ihm eine Versch¨arfung des Satzes von Malmquist und Yosida. Er gab neue Beweise fur¨ die Existenz der Painlev´e-Transzendenten vom Typ I, II, IV. In der Nevanlinna-Theorie erweiterte er mit Mues den Satz von Tumura und Clunie von

64 ganzen auf meromorphe Funktionen und er gab einen neuen Beweis und eine Erweiterung des zweiten Hauptsatzes der Nevanlinnatheorie. In der komplexen Dynamik bestimmte er, wann Juliamengen rationaler Funktionen quasikonforme Jordakurven (oder B¨ogen) sind. Außerdem gab er einen Beweis eines Satzes von Dennis Sullivan uber¨ die Charakte- risierung periodischer stabiler Gebiete bei der Iteration rationaler Funktionen (n¨amlich dass diese entweder Fatougebiete sind, das heisst im Anziehungsbereich eines Fixpunkts sind, oder Rotationsgebiete, das heisst Siegelscheiben oder Arnold-Herman-Ringe).

Hans Topfer¨ war (ist) ein deutscher Mathematiker, der 1938 bei Huber Cremer an der Universi¨at zu K¨oln promoviert hat. Mehr habe ich uber¨ ihn leider nicht gefunden.

Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow, wiss. Transliteration Pafnutij L’vovicˇ Cebyˇ ˇsev¨ ; * 16. Mai 1821 in Okatowo im Kreis Borowsk (heute in der Oblast Kaluga); †am 8. Dezember 1894 in Sankt Petersburg) war ein russischer Mathematiker. Er gilt zusammen mit Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski als der bedeutendste russische Mathematiker des 19. Jahrhunderts. Sein Name schreibt sich russisch ???????? ??????? ???????, was nach heutiger Tran- skription zu Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow wird (Betonung der letzten Silbe); wiss. Transliteration Pafnutij L’vovic Cebyˇs¨ev,fruher¨ auch (falsch, da auf erster Silbe betont) als Tschebyschef oder Tschebyscheff oder Tschebyschew oder Tschebyschev und insbe- sondere im Englischen als Chebyshev transkribiert. Die meisten seiner Werke sind auf Franz¨osisch geschrieben oder ubersetzt.¨ Und sein Name ist in Franz¨osisch transkribiert: Tchebychef. Tschebyschow stammte aus der Familie des Großgrundbesitzers Lew Pawlowi- tsch Tschebyschow. Er war eines von neun Kindern, 1832 zog er mit der Familie nach Moskau, wo er bei einem der besten privaten Mathematiklehrer, P.N. Pogorelski, Un- terricht erhielt. Er studierte ab 1837 an der Lomonossow-Universit¨at bei Nikolai Dmitrijewitsch Braschman (bei dem er auch schon uber¨ Wahrscheinlichkeitstheorie h¨orte) und Nikolai Zernow. 1846 verteidigte er seine Magisterdissertation, 1847 reichte er in Sankt Peters- burg seine Dissertation ein (pro venia legendi), worauf er eine Stelle an der Universit¨at bekam. Er wurde in Sankt Petersburg von Wiktor Jakowlewitsch Bunjakowski gef¨ordert, mit dem er 1849 die zahlentheoretischen Arbeiten von Leonhard Euler her- ausgab. Schließlich verteidigte er 1849 seine beruhmte¨ Doktor-Dissertation (Habilitati- onsschrift) Theorie der Kongruenzen“, die als Buch erschien und in mehrere Sprachen ” ubersetzt¨ wurde. Sie erhielt einen Preis der Akademie. 1850 wurde er außerordentlicher Professor in St. Petersburg, 1860 ordentlicher Profes- sor. In St. Petersburg hielt er Vorlesungen uber¨ Algebra, Analysis, Zahlentheorie sowie uber¨ Wahrscheinlichkeitstheorie. W¨ahrend seiner Lehrt¨atigkeit in Sankt Petersburg un- terrichtete Tschebyschow zwischen 1852 und 1858 unter anderem auch Praktische ” Mechanik“ am Alexander-Lyzeum. Tschebyschow sprach sehr gut Franz¨osisch und schrieb auch seine mathematischen Arbeiten meist zun¨achst auf Franz¨osisch. Er hatte auch fruhzeitig¨ Kontakt zu franz¨osi- schen und ausl¨andischen Mathematikern und besuchte sp¨ater regelm¨aßig die mathemati- schen Zentren in Westeuropa. 1882 ging er in den Ruhestand, wirkte aber weiter an der St. Petersburger Akademie und unterhielt einmal w¨ochentlich ein offenes Haus fur¨ seine vielen ehemaligen Schuler.¨ 1894 starb er an Herzversagen.

65 Er war nie verheiratet. Sein jungerer¨ Bruder Wladimir Lwowitsch Tscheby- schow war General und Professor an der St. Petersburger Artillerieakademie und fi- nanzierte die erste Ausgabe der Gesammelten Werke von Tschebyschow. Tschebyschow arbeitete auf den Gebieten Interpolation, Approximation, Funk- tionentheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Zahlentheorie (insbesondere Primzahltheorie), Mechanik und Ballistik (womit er in einem Komitee der Akademie befasst war). Nach ihm benannt sind die Tschebyschow-Polynome (die zuerst in seinem Buch von 1854 uber¨ Mechanismen auftauchen), die Tschebyschow-Ungleichung, die Tschebyschow- Distanz, das Tschebyschow-Filter, der Satz von Tschebyschow, Tschebyschows schwa- ches Gesetz der großen Zahlen, der Satz von Bertrand-Tschebyschow, sowie die Tschebyschow-Summenungleichung, die Tschebyschow-Iteration und die Tschebyschow- Funktion. Ferner wird die Maximumsnorm (insbesondere in der Approximationstheorie) auch Tschebyschow-Norm genannt. Seine Magisterdissertation von 1846 behandelte Ein Versuch zur elementaren Analyse ” der Wahrscheinlichkeitstheorie“. Der Titel seiner Dissertation (1847, pro venia legendi) war Uber¨ die Integration mithilfe von Logarithmen“, in der er die elementaren Integra- ” tionsmethoden diskutierte; seine Doktor-Dissertation (Habilitationsschrift) Theorie der ” Kongruenzen“ behandelte Aspekte der Zahlentheorie. Tschebyschow befasste sich auch intensiv mit mechanischen Erfindungen, insbeson- dere Gelenkmechanismen. Einige seiner Modelle befinden sich im Mathematischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften und im Pariser Conservatoire des Arts et M´etiers.Dort ist auch ein Exemplar einer von ihm in den 1870er Jahren gebauten Rechen- maschine (ein weiteres Exemplar ist im Historischen Museum in Moskau). Er beschrieb seine Rechenmaschine 1882 in einem kurzen Artikel. Er entwickelte auch den Lambda- Mechanismus, den er erstmals auf der Weltausstellung Paris 1878 als The Plantigrade Machine ¨offentlich vorfuhrte.¨ 1893 wurden mehrere seiner Mechanismen auf der Weltaus- stellung in Chicago (World’s Columbian Exposition) ausgestellt. Tschebyschow schrieb seine mathematischen Arbeiten meist zun¨achst auf Franz¨osisch. Er ver¨offentlichte bereits 1843 in der Zeitschrift von Joseph Liouville. Er ist Begrunder¨ der St. Petersburger Mathematischen Schule. Zu seinen Schulern¨ z¨ahlen Andrei Andrejewitsch Markow, Alexander Michailowitsch Ljapu- now, Alexander Nikolajewitsch Korkin, Jegor Iwanowitsch Solotarjow, Dmitri Alexandrowitsch Grawe, Georgi Feodosjewitsch Woronoi, Wladi- mir Andrejewitsch Steklow. Er war korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1871), Ausw¨artiges Mitglied der Royal Society (1877), Mitglied der k¨oniglich italieni- schen und schwedischen Akademie der Wissenschaften. Er war seit 1860 korrespondie- rendes und ab 1874 volles Mitglied der franz¨osischen Akademie der Wissenschaften, als erster russischer Wissenschaftler. 1856 wurde er außerordentliches und 1858 ordentliches Mitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften. 1893 wurde er Ehrenmit- glied der kurz zuvor gegrundeten¨ Sankt Petersburger Mathematischen Gesellschaft. Er war Mitglied der Ehrenlegion. 1849 erhielt er den Demidow-Preis. Der Asteroid (2010) Chebyshev und der Mondkrater Chebyshev sind nach ihm benannt.

Franc¸ois Viete` oder Franciscus Vieta` , wie er sich in latinisierter Form nannte (* 1540 in Fontenay-le-Comte; †13. Dezember, nach anderen Quellen 23. Februar 1603 in Paris), war ein franz¨osischer Advokat und Mathematiker. Er fuhrte¨ die Benutzung von Buchstaben als Variablen in die mathematische Notation der Neuzeit ein. Er gilt als

66 eigentlicher Begrunder¨ der Algebra im Europa der Neuzeit. Franc¸ois Viete` wurde 1540 in Fontenay-le-Comte (im heutigen D´epartement Vend´ee in West-Frankreich) als Sohn des angesehenen Rechtsanwaltes Etienne´ Viete` geboren. Er stammte aus wohlhabenden burgerlichen¨ Verh¨altnissen. Er besuchte eine Klosterschule und begann mit 18 Jahren Rechtswissenschaften in Poitiers zu studieren mit der Absicht, eine Universit¨atslaufbahn einzuschlagen. Nach dem Studium ließ er sich in seiner Heimatstadt als Advokat nieder. Zun¨achst (1564) trat er eine Stellung als Sekret¨ar und Rechtsberater bei der sehr einflussreichen und wohlhabenden protestantischen Familie Soubise an. Nebenbei unterrichtete er als Privatlehrer die Tochter der Familie, Catherine Parthenay, deren Interesse fur¨ Astro- nomie, Astrologie und Mathematik ihn stark beeinflusst haben durfte.¨ Auf diese Weise entstand ein Werk von Vi`ete uber¨ die Darstellung der Planetentheorie auf der Grundlage des ptolem¨aischen geozentrischen Systems. Ab 1570 war er als Rechtsanwalt in Paris t¨atig und genoss schon bald einen ausgezeich- neten Ruf. Nach dem Tod seines Vaters erbte er dessen Titel Sieur de la Bigoti`ere.1574 wurde er zum Mitglied des Parlements in Rennes ernannt. Ab 1580 lebte Vi`etewieder in Paris, wirkte auch dort im Parlement und als pers¨onlicher Berater des K¨onigs. Er war Ratgeber der K¨onige Heinrich III. (1551–1589) und Heinrich IV. (1553–1610), fur¨ die er unter anderem abgefangene Botschaften des Kriegsgegners Spanien entschlusselte.¨ Er unterzeichnete als interpr`eteet d´echiffreur du roi“. ” Aufgrund politischer Intrigen — vor allem durch den Einfluss der Katholischen Liga und der Familie Guise — wurde er 1584 entlassen und zog sich aufs Land zuruck,¨ wo er sich vor allem mit Mathematik besch¨aftigte. Nach der Ermordung Heinrichs III. wurde er 1589 jedoch von dessen Nachfolger Heinrich IV. wieder in sein fruheres¨ Amt berufen. Um diese Zeit erlangte er einen internationalen Ruf als Mathematiker. Bekannt ist die Anekdote von seinem Zusammentreffen mit Adriaan van Roomen (Adrianus Romanus; 1561–1615), die in zahlreichen Quellen erz¨ahlt wird, unter anderem in den Historiettes“ von Tallemant des R´eaux. Van Roomen war ein aus L¨owen stammender ” Mathematiker, der damals in Wurzburg¨ lehrte. Er hatte eine Aufgabe als Herausforderung an alle Mathematiker Europas gestellt und war von Vi`etes L¨osung so begeistert, dass er unverzuglich¨ nach Frankreich aufbrach, um mit ihm zusammenzukommen. Viete` , der die Schnelligkeit seiner L¨osung sp¨ater trocken mit Ut legi, ut solvi (Wie gelesen, so gel¨ost) kommentierte, stellte seinerseits van Roomen die Aufgabe, alle Kreise zu finden, die drei gegebene Kreise beruhren¨ (Apollonisches Problem). Dieses Problem war bereits in der Antike von Apollonios von Perge gel¨ost worden, die Schrift des Apollonios ging aber verloren. Van Roomen l¨oste das Problem mit Hilfe einer Hyperbel. Diese L¨osung wurde von Viete` fur¨ unzureichend gehalten, weil sie sich nicht auf die klassische Methode mit Zirkel und Lineal beschr¨ankt. Viete` publizierte sp¨ater selber eine verbesserte L¨osung in seinem Apollonius Gallus. Da es Viete` gesundheitlich immer schlechter ging, bat er den K¨onig 1602 um seine Entlassung, um zu genesen. Er erholte sich aber nicht mehr und starb am 13. Dezember 1603 in Paris. Viete` lebte in einer Zeit, die von erbitterten religi¨osen K¨ampfen zwischen den Ka- tholiken und den protestantischen Hugenotten gepr¨agt war. Er selbst war zwar Katholik, wie auch der K¨onig, verkehrte aber auch in protestantischen Kreisen und stand den po- ” litiques“ nahe, die im Gegensatz zur Katholischen Liga die Uberwindung¨ der religi¨osen Gegens¨atze und die nationale Einheit suchten. Eigentlich war die Mathematik fur¨ Viete` nur eine Nebenbesch¨aftigung, trotzdem

67 wurde er einer der wichtigsten und einflussreichsten Mathematiker seiner Zeit. Er wird manchmal auch Vater der Algebra“ genannt, da er das Rechnen mit Buchsta- ” ben in der Neuzeit einfuhrte¨ und systematisch Symbole fur¨ Rechenoperationen benutzte, zumal er erkannte, dass dies weit mehr M¨oglichkeiten als bisher er¨offnete. Schon in der antiken Mathematik hatte allerdings Diophant von Alexandrien eine Buchstaben- symbolik verwendet (Viete` studierte Diophant). Vi`eteschließlich fuhrte¨ das Rechnen mit (großen lateinischen) Buchstaben ein, das auf den gleichen Prinzipien beruht wie das Rechnen mit Zahlen. Er unterschied die logistica numerosa“ als reines Zahlenrechnen ” von der abstrakteren logistica speciosa“, dem Buchstabenrechnen“ und kann somit als ” ” der Begrunder¨ der modernen Algebra bezeichnet werden. Unsere heutige Schreibweise ist gr¨oßtenteils auf ihn zuruckzuf¨ uhren.¨ Er benutzte als Erster konsequent (mit wenigen Aus- nahmen) Symbole fur¨ mathematische Operationen und reduzierte ganze mathematische Komplexe auf Formeln: So gebrauchte er die erstmals von Johannes Widmann in einem Buch 1489 verwendeten Zeichen + und − in seinen Werken. Zuvor waren diese in Rechen- operationen meist als plus und minus ausgeschrieben worden. Er verwendete auch den Bruchstrich als Symbol der Division und das W¨ortchen in“ als feststehen- ” des Kurzzeichen der Multiplikation. Die Gleichheit zweier Terme druckte¨ Viete` durch das Wort aequabitur“ aus und erfand somit das erste Gleichheitszeichen. ” Zusammengeh¨orende Terme schrieb Vieta untereinander und verband sie mit ge- schweiften Klammern. Daruber¨ hinaus hat er auf dem Gebiet der Trigonometrie Hervorragendes vollbracht und wertvolle Vorarbeiten fur¨ die nachfolgende Ausarbeitung der Infinitesimalrechnung geleistet. In diesem Zusammenhang beschrieb er 1593 als erster eine geschlossene Formel fur¨ die Kreiszahl π in Form eines unendlichen Produkts. Bekannt ist heute der Satz von Vieta uber¨ die L¨osungen einer quadratischen Glei- chung. Er griff die Arbeiten von Christophorus Clavius und anderen zum Gregorianischen Kalender ab 1600 in einer Reihe von Pamphleten an und warf ihnen Willkur¨ und Fehler vor. Er ver¨offentlichte einen eigenen Vorschlag, den Clavius 1603 nach dem Tod von Viete` in einer Ver¨offentlichung zuruckwies.¨ Der Asteroid (31823) Vi`e`eteund der Mondkrater Vieta wurden nach ihm benannt. Viete` hat zahlreiche Werke publiziert, die jedoch meistens nur in kleiner Auflage erschienen sind und fur¨ seinen Freundeskreis bestimmt waren. Die erste Gesamtausgabe wurde nach seinem Tod 1646 von Frans van Schooten in Leiden bei Elsevier unter dem Titel Opera mathematica, in unum volumen congesta, ac recognita, opera atque studio Francisci Schooten herausgegeben (Nachdruck Hildesheim: Olms 1970). Mit der Herausgabe hatte in Paris schon ab 1612 der schottische Mathematiker Alexander Anderson begonnen, der auch Kommentare verfasste. Er hatte Zugang zum Nachlass, der von Vi`etesSchuler¨ Jacques Aleaume verwahrt wurde (sein Vater war Sekret¨ar von Viete` gewesen).

Giuseppe Vitali (* 26. August 1875 in Ravenna; †29. Februar 1932 in Bologna) war ein italienischer Mathematiker. Er wurde bekannt durch den Beweis der Existenz von Mengen, die nicht Lebesguemessbar sind (Vitalimengen). Er beendete 1899 das Studium der Mathematik an der Scuola Normale Superiore in Pisa. In den folgenden zwei Jahren war er Assistent von Ulisse Dini. Aufgrund finanzi- eller Probleme arbeitete er dann als Lehrer in Genua u. a. am Colombo-Gymnasium. und

68 engagierte sich in der Sozialistischen Partei, bis diese von den Faschisten 1922 aufgel¨ost wurde. Daraufhin bewarb er sich auf Professuren und wurde zun¨achst in Modena, dann in Padua und schließlich 1930 in Bologna berufen. Seine wichtigsten Leistungen bestehen in der Einfuhrung¨ des Begriffs der absoluten Stetigkeit von Funktionen und im Bereich der Orthogonalsysteme von Funktionen. Fer- ner hat Vitali als erster die Existenz nicht-Lebesgue-messbarer Mengen nachgewiesen. Ein nach Vitali benannter Satz besch¨aftigt sich mit holomorphen Funktionenfolgen. Ein weiterer von ihm bewiesener Satz ist der Konvergenzsatz von Vitali, der Kriterien an- gibt, wann Konvergenz im p-ten Mittel und Konvergenz lokal nach Maß ¨aquivalent sind. Außerdem sind der Uberdeckungssatz¨ von Vitali, die Vitaliuberdeckung,¨ der Satz von Vitali-Carath´eodory und der Satz von Vitali-Hahn-Saks mit seinem Namen verbunden.

Lawrence Allen Zalcman (* 9. Juni 1943 in Kansas City, Missouri) ist ein US- amerikanischer Mathematiker, der sich mit komplexer Analysis besch¨aftigt. Er studierte am Dartmouth College (unter anderem bei A.S. Besicovitch) und wur- de 1968 am Massachusetts Institute of Technology bei Kenneth Hoffman promoviert (Bounded analytic functions on domains of infinite connectivity). Er lehrte an der St- anford University und war seit 1972 Assistant Professor sowie seit 1974 Professor an der University of Maryland in College Park. Er war seit den 1970er Jahren h¨aufig Gastwissen- schaftler und Gastprofessor in Israel, zum Beispiel am Technion, dem Weizmann-Institut, der Bar-Ilan-Universit¨at und der Hebrew University. 1981 und 1975 wurde er mit dem Lester Randolph Ford Award ausgezeichnet, und fur¨ die Arbeit, die den Lester Randolph Ford Award 1975 erhielt, wurde ihm 1976 auch der Chauvenet-Preis verliehen. Ein Lemma in der Theorie normaler Familien ist nach ihm benannt (Zalcman’s Lem- ma), das er im Rahmen seiner Behandlung des Prinzips von Andre´ Bloch bewies. Er ist auch Namensgeber der Zalcmangebiete, die eine Rolle in der Klassifikation riemannscher Fl¨achen spielen, und der Zalcmanfunktionen in der komplexen Dynamik. In der Theorie partieller Differentialgleichungen ist die Pizzetti-Zalcman-Formel nach ihm benannt. Von 1976 bis 1982 war er Mitherausgeber der Proceedings of the American Mathe- matical Society; seit 1987 ist er Herausgeber des Journal d’Analyse Mathematique. 2012 wurde er zum Fellow der American Mathematical Society ernannt.

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