Pdf/Mehmat/Mm2.Pdf) [23] Siegmund-Schultze, Reinhard: Mathematicians Fleeing from Na- [4] Fricker, François: Einführung in Die Gitterpunktlehre,Birkhäuser, Zi Germany
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Von Wiesbaden nach Tiflis Die wechselvolle Lebensgeschichte des Zahlentheoretikers Arnold Walfisz Ekkehard Krätzel und Christoph Lamm 1 Familie und Studium bis 1918 Im Herbst 1914 musste ich meine Studien unter- brechen und nahm in Wiesbaden meinen Wohn- Arnold Walfisz (1892–1962) stammte aus einer wohlha- sitz, wo meine Eltern seit 1906 dauernd wohnhaft benden jüdisch-polnischen Familie. Sein Großvater Aron sind. Ich benutzte diesen Aufenthalt zur weiteren Walfisz (1821–1891) war Papierhändler in Warschau. Arbeit, namentlich in Gruppentheorie und analyti- Zwei der sechs Söhne Arons wurden Chemiker, Arnolds scher Zahlentheorie. 1918 kehrte ich nach Göttin- Vater Zygmunt (1867–1939) war Kaufmann. Im Jahr 1905 gen zurück und studierte, unter privater Anleitung kamen Zygmunt und sein jüngerer Bruder Bronislaw mit von Prof. Landau, die Theorie der Dirichlet’schen ihren Familien nach Deutschland. Die antisemitischen Po- Reihen sowie analytische Zahlen- und Idealtheo- rie. Februar 1919 nahm ich an der Leitung der grome, die 1903–1905 im russischen Reich verstärkt auf- 2 traten, führten zu dieser Zeit zu einer Auswanderungs- von Geh. Klein eingerichteten Repititionskurse für welle. Kriegsteilnehmer teil und habe einen Kursus über Differential- und Integralrechnung gelesen. Während die Familie von Bronislaw nach wenigen Jahren nach Warschau zurückkehrte, blieb Zygmunt Walfisz mit In der Zeit bis August 1920 veröffentlichte er ein Ergeb- seiner Frau Luise und 4 Kindern dauerhaft in Deutsch- nis zusammen mit Edmund Landau (1877–1938), und er land. Nach einem halben Jahr in Seesen am Harz, wo stellte seine Doktorarbeit fertig: Arnold Walfisz und sein jüngerer Bruder Henryk Schü- Von Ende 1919 datiert die in der Anlage beigefügte, ler der Jacobson-Schule waren, zog die Familie im Früh- gemeinsam mit Prof. Landau verfasste Arbeit: „Über jahr 1906 nach Wiesbaden. Dort wurde Arnolds jüngste die Nichtfortsetzbarkeit einiger durch Dirichlet’sche Schwester Sophie 1911 geboren. Reihen definierter Funktionen“. Ich bin Mitglied des Walfisz besuchte 2 Jahre lang ein Realgymnasium in Wies- Lesezimmers des Math. Phys. Seminars und habe, auf baden, machte dann aber doch in Warschau das russische Aufforderung der Professoren hin, an Sitzungen der Abitur. Als Grund gab er im Lebenslauf, der dem Promo- hiesigen Math. Gesellschaft teilgenommen. Angefan- tionsgesuch beiliegt, an: gen v. August vorigen Jahres habe ich eine Arbeit u. d. T. „Über die summatorischen Funktionen eini- Ostern 1906 bis Ostern 1908 besuchte ich das städ- ger Dirichlet’scher Reihen“ fertiggestellt und sie vor tische Reformrealgymnasium zu Wiesbaden und ab- einiger Zeit Prof. Landau vorgelegt. Prof. Landau hat solvierte die Unter- und Obertertia. Da ich jedoch sich über diese Arbeit im durchaus günstigen Sin- infolge meiner damaligen mangelhaften Kenntnis der ne geäussert und seine Bereitschaft erklärt, sie als deutschen Sprache durch das Umsatteln 2 Jahre ver- Doktordissertation anzunehmen. loren habe und, da meine Eltern insbesondere ei- ne Anstellung für mich in russischen Diensten er- Das Photo (Abbildung 1) anlässlich der Promotion Carl strebten – kehrte ich, nach meiner Versetzung in die Ludwig Siegels (1896–1981) im Juni 1920 zeigt Studenten Untersekunda, Ostern 1908 nach Warschau zurück, von Edmund Landau, David Hilbert (1862–1943), Con- um mich dort privatim auf eine Abiturientenprüfung stantin Carathéodory (1873–1950) und James Franck 1 vorzubereiten. (1882–1964).3 Walfisz gehörte in dieser Gruppe zu den Nach der Abiturprüfung 1909 begann er das Mathema- älteren Studenten. Mit Ausnahme von Willi Windau 4 tikstudium in München. Er studierte dort ein Jahr, danach (1889–1928) warenseineMitstudenten2bis8Jahre genauso lang in Berlin und Heidelberg und dann bis zum jünger, erreichten aber zwischen 1920 und 1922 bereits Beginn des Ersten Weltkriegs in Göttingen. ihre Promotion oder sogar Habilitation (Krull und Sie- gel). Walfisz wurde im November 1921 promoviert. In sei- 2 Erster Weltkrieg, Promotion nem Gutachten schrieb Edmund Landau am 8. November 1921: Da Walfisz als Ausländer Reisebeschränkungen unter- Verf. ist in den modernen Hardyschen Methoden worfen war, konnte er das Studium in Göttingen während der analytischen Zahlentheorie gut eingearbeitet; er des Ersten Weltkriegs nicht fortsetzen: hat das Thema der Diss. selbständig gewählt und 42 RETROSPEKTIVE DOI 10.1515/dmvm-2013-0018 Abbildung 1. Feier der Promotion Carl Ludwig Siegels (sitzend, im Bollerwagen, direkt darüber Walfisz) in Göttingen, Juni 1920 [6] ohne Hilfe wichtige neue Ergebnisse gefunden. Es war nicht vorauszusehen, dass man mit jenen Me- thoden durchkommen würde, um die beiden Sätze zu beweisen, welche des Verf. Hauptresultate aus- machen:[...]AnBeweismittelnwerdeningeschick- tester Weise herangezogen und mit der Hardyschen Methode kombiniert: Die Heckesche Funktionalglei- chung, die Theorie der linearen Differentialgleichun- gen, die Summabilitätstheorie u. a. m. Zum Schluss behandelt er auf analogem Wege das Teilerproblem (Verallgemeinerung der Voro- noischen Identität für ab≤x 1 auf den Fall a1···ak ≤x 1, wobei er zugleich Voronois Beweis des Spezialfalls sehr vereinfacht). Für ein besonders gutes Prädikat spricht die Schwie- rigkeit der Materie, die nur ganz wenigen Mathema- tikern bekannt ist, und die Selbständigkeit bei der Arbeit; nach unten fällt ins Gewicht, dass Verf. kei- nen neuen Kunstgriff erfunden hat. Für Zulassung mit dem Prädikat II (sehr gut). Die Ergebnisse der Doktorarbeit wurden von Harald Abbildung 2. Promotionsakte, Ausschnitt der ersten Seite [7] Cramér in den Abschnitt Teilerprobleme seines im Mai 1922 fertiggestellten Encyclopädie-Beitrags mit Harald Bohr [2] aufgenommen. MDMV 21 / 2013 | 42–51 RETROSPEKTIVE 43 3 Wiesbaden, 1921–1927 Wir wissen nicht, ob ein Habilitationsgesuch Walfiszs in Göttingen abgelehnt wurde. Die ganz ähnliche Situation Dass Arnold Walfisz nach der Promotion nicht direkt das von Chaim Müntz (1884–1956) wird in [17] so beschrie- Ziel der Habilitation in Göttingen verfolgte, lag vermut- ben, dass die Habilitation nur befürwortet wurde, wenn lich an seiner familiären Situation: Er heiratete 1919 oder es auch die Aussicht auf eine Professur gab (im Gegensatz 1920 Grete Seyd; ihre Tochter Dorothea Stefanie wur- zur unbezahlten Privatdozentenstelle). Eine solche zu be- 5 kommen, war aber für Müntz und Walfisz als polnische de am 23. Januar 1921 geboren. Ab 1921 wohnte die 6 Familie in Wiesbaden bei Walfiszs Eltern (Rüdesheimer Juden in Deutschland nahezu aussichtslos. Str. 7). Es ist anzunehmen, dass die wirtschaftliche Lage Zum 50. Geburtstag ihres Lehrers Edmund Landau stell- der Eltern sich mit dem Ersten Weltkrieg und aufgrund ten seine Schüler 1927 ein Photoalbum zusammen. Es der beginnenden Inflation in Deutschland und Polen ver- enthält für 23 Doktoranden Landaus ein Photo und eine schlechtert hatte, und deshalb Arnold Walfisz mit seiner Widmung7 und ist im Jahr 2010 in einem Antiquariat in Familie nicht ohne eigenes Einkommen in Göttingen le- Los Angeles/USA aufgetaucht. Auf der Doppelseite von ben konnte. Arnold Walfisz gibt es das in Abbildung 3 gezeigte Photo. Über das Jahr 1922 sind außer der Publikation der Dok- Das Album wurde 2011 verkauft; es ist nicht bekannt, wo torarbeit keine Informationen vorhanden. Ab 1923 be- es sich heute befindet. ginnt eine eindrucksvolle Reihe von Veröffentlichungen. Insgesamt sind es 16 Artikel, die man der Wiesbadener Zeit zurechnen kann. Eine Analyse dieser Artikel zeigt: Walfisz hielt die Verbindung zu Göttingen aufrecht (sie- 4 Entscheidung für Warschau, 1927/28 1 he: Zur Abschätzung von ζ( 2 + it), vorgelegt in der Sit- zung am 2. Mai 1924 in Göttingen), bei drei Arbeiten aus der zweiten Jahreshälfte von 1925 heißt es aber „fertig- 1926 bemühte sich Edmund Landau, ein Rockefeller- gestellt in Warschau“; in dieser Zeit erscheint auch ein Stipendium für Walfisz zu bekommen, um ihn zurück Bericht in den Mitteilungen der polnischen Mathematiker- nach Göttingen zu holen. Der Antrag wurde jedoch abge- Vereinigung, Wiadomosci´ Matematyczne (sein erster Ar- lehnt. Im Februar 1927 versuchte es G. H. Hardy (1877– tikel auf Polnisch). Ab 1925 war er Mitglied der DMV. 1947) noch einmal und schrieb an Augustus Trowbridge, Das mathematische Schaffen von Arnold Walfisz kon- richtig ist. Dafür schreibt man auch nach E. Landau ϑ zentrierte sich auf die Zahlentheorie, vornehmlich auf O(x ). 1 die analytische Zahlentheorie. Sein Hauptinteresse galt C. F. Gauss zeigte ϑ ≤ 2 . Wir nennen dieses Ergebnis der Theorie der Gitterpunkte, das heißt die Abzählung heute trivial, da es ohne tiefliegende Mittel analytischer von Gitterpunktanzahlen in großen geschlossenenen Be- Funktionen oder der Abschätzung von Exponentialsum- reichen der Ebene und in mehrdimensionalen Räumen, men erzielt wurde. Diese Situation finden wir auch bei sowie der damit in Zusammenhang stehenden Abschät- anderen Problemen bis Ende des 19. Jahrhunderts. Man zungen von Mittelwerten zahlentheoretischer Funktio- vergleiche hierzu auch den 13. Abschnitt „Die mittleren nen. Ferner erbrachte er wichtige Ergebnisse in der ad- Werthe zahlentheoretischer Funktionen“ in dem 1894 ditiven Zahlentheorie, speziell der additiven Primzahl- erschienenen Buch „Die analytische Zahlentheorie“ von theorie. Wir wollen uns hier auf die Theorie der Gitter- P. B a c h m a n n [ 1]. Die Situation änderte sich grundlegend, 1 punkte konzentrieren. als W. Sierpinski´ 1906 ϑ ≤ 3 nachwies. Eine kurze Zeit 1 Wir nennen einen Punkt des p-dimensionalen Euklidi- glaubte man, dass ϑ = 3 das wahre Ergebnis sei. Das 1 schen