2 Rocha

Eryk Rocha und

Kinotour1 + Werkschau 2

11.11. bis 29.11.2011 Eryk Rocha und Glauber Rocha Spieltermine im Filmmuseum Düsseldorf

Eryk Rocha

Fr 11.11., 20 Uhr Transeunte | 2010 Quimera | 2004 in Anwesenheit von Eryk Rocha Sa 12.11., 19 Uhr Rocha que Voa | Stones in the Sky | 2002 Medula | 2005 in Anwesenheit von Eryk Rocha Mi 23.11., 18 Uhr Intervalo Clandestino | 2006 Mo 28.11., 20 Uhr Pachamama | 2009

Glauber Rocha

Di 15.11., 20 Uhr Barravento | Sturm | 1961 Pátio | 1959 Sa 19.11., 20 Uhr Deus e o Diabo na Terra do Sol | Gott und Teufel im Land der Sonne | 1964 Amazonas, Amazonas | 1965 So 20.11., 17.30 Uhr Terra em Transe | Land in Trance | 1967 Maranhão 66 | 1966 Mo 21.11., 20 Uhr O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro | Antônio das Mortes | 1969 Glauber Rocha So 27.11., 14 Uhr Der Leone have sept Cabeças | Der Löwe mit den sieben Köpfen | 1971 * 14. März 1939 So 27.11., 16.45 Uhr Câncer | Krebs | 1972 n 22. August 1981 Di Cavalcanti | 1977 Di 29.11., 20 Uhr A Idade da Terra | Das Alter der Erde | 1980

Rocha Encore

So 20.11., 20 Uhr Diário de Sintra | Sintra Tagebuch | 2008 Sa 26.11., 15 Uhr Le vent d’est | Ostwind | 1970 So 27.11., 16 Uhr Improvisiert und zielbewusst | 1967

Spieltermine im Filmmuseum Düsseldorf 3 Eryk Rocha Kinotour 2011

5./6.11. Frankfurt Filmforum Höchst 13.11. Köln Filmclub 813 Emmerich-Josef-Straße 46a Hahnenstr. 6 65929 Frankfurt am Main (Höchst) 50667 Köln

15.11. Bochum Metropolis Filmkunsttheater 7.11. Mainz Ciné Mayence im Institut français Kurt-Schumacher-Platz 1 Schillerstr. 11 44787 Bochum 55116 Mainz

16.11. Leverkusen Kommunales Kino 8.11. Saarbrücken Filmhaus Saarbrücken Volkshochschule Leverkusen Mainzer Straße 8 Am Büchelter Hof 9 im Forum 66111 Saarbrücken 51373 Leverkusen

9.11. Karlsruhe studio 3 – Kinemathek Karlsruhe 18.11. Hannover Kino im Sprengel Kaiserpassage 6 Klaus-Müller-Kilian-Weg 1 76133 Karlsruhe 30167 Hannover

11./12.11. Düsseldorf Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf 19.11. Berlin Haus der Kulturen der Welt Schulstr. 4 John-Foster-Dulles-Allee 10 40213 Düsseldorf 10557 Berlin

Eryk Rocha Kinotour 2011 4 5 Inhalt

Martin Schlesinger: Film als Filter. Das Programm-Kino des Eryk Rocha...... 8

Eryk Rocha Transeunte | Passant...... 16 Quimera | Chimäre...... 17 Rocha que Voa | Stones in the Sky...... 18 Medula | Knochenmark...... 19 Intervalo Clandestino...... 20 Pachamama...... 21

Ute Mader: Interview mit Eryk Rocha...... 24

Peter B. Schumann: Glauber Rocha – Ein Portrait...... 29

Glauber Rocha: Äztetyk des Hungers...... 32

Glauber Rocha Barravento | Der Sturm...... 40 Patio...... 41 Deus e o Diabo na Terra do Sol | Gott und Teufel im Land der Sonne...... 42 Amazonas, Amazonas...... 43 Terra em transe | Land in Trance...... 44 Maranhão 66...... 45 O drâgão da Maldade contra o Santo Guerreiro | Antônio das Mortes...... 47 Câncer | Krebs...... 50 Di Cavalcanti...... 51 Der Leone have sept Cabeças | Der Löwe mit den sieben Köpfen...... 52 A idade da terra | Das Alter der Erde...... 55

Filmographie Glauber Rocha...... 56

Rocha Encore Diário de Sintra | Sintra Tagebuch...... 58 Le vent d'est | Ostwind...... 60 Improvisiert und zielbewusst...... 61 Werberatschlag Antonio das Mortes

Impressum...... 64

Inhalt 7 Das Cinema Novo, das neue bra- Film als Filter. silianische Kino der 1950er/1960er Das Programm- Jahre, stellt bis heute Regisseure und Werke anderer Epochen in den Kino des Schatten. Neben der anhaltenden Eryk Rocha Aura eines ästethisch revolutionären und politisch engagierten Kinos, ist es eine umfassende Verbundenheit von Filmen und Publikationen, die Vorbild oder Gegensatz für prakti- Martin Schlesinger sche und theoretische Filmarbeiten bleibt. Vor allem die Filmemacher selbst, insbesondere der bis heute wichtigste brasilianische Regisseur Glauber Rocha, haben zu Zeiten der Militärdiktatur (1964–1985) in Kritiken, Monografien und Manifesten domi- nante Grundsätze und Diskurse hervorgebracht, die dauerhaft als Richt- maß für ein bestimmtes Bild eines eigenständigen brasilianischen Kinos dienen. Mit dem Cinema Novo begann in Brasilien eine eindrucksvolle Selbstlegitimation gegenüber den Kinokulturen der restlichen Welt und zugleich eine bemerkenswerte nationale Filmgeschichtsschreibung und Filmtheoretisierung, deren Verfügbarmachung auch in Deutschland eine beständige Übersetzungsaufgabe bleibt. Die Mehrzahl der neuen Produktionen haben es hingegen schwer im Aus- land wahrgenommen zu werden, auch wenn sie, wie zuletzt José Padilhas Tropa de Elite (2008), Festivalpreise gewinnen. Der brasilianische Film wird in Deutschland, und vermutlich international, zumeist auf einen Titel reduziert: Cidade de Deus (City of God, , 2002). Dessen Einfluss und die weltweite Bewunderung sind berechtigt, doch seit dem Cinema Novo und der Demokratisierung Anfang der 1990er Jahre wurden viele Filme gedreht, die in ihrer Einzigartigkeit und Vielfalt entsprechen- de Anerkennung verdient hätten. Auch unter gegenwärtigen Umständen, ohne richtungsweisende filmische Bewegungen und weiterhin ohne ein funktionierendes Studiosystem à la Hollywood, ist die Filmproduktion für viele junge brasilianische Regisseure eine soziale und politische Heraus- forderung.

8 Eryk Rocha 9 Von Eryk Rocha, der zudem der Sohn Glauber Rochas ist, und der sich da- tels der Auf- und Erfindung origineller brasilianischer Charaktere wesent- für entschieden hat, das filmische Erbe seines Vaters an-, und selbst eine lich waren. Hauptinteresse der Cinema Novo-Regisseure sollten die typi- Kamera in die Hand zu nehmen, ist dabei viel zu erwarten. Er sollte – so zu- schen Einwohner Brasiliens sein, bevorzugt die armen, in Kontrast zu den mindest eine Behauptung – eine klare Position gegenüber den vererbten reichen, die in ihrem Elend gewalttätige Konflikte zu lösen haben, deren Ideen, und bestenfalls auch einen eigenen Stil entwickeln – und das ist Religiösität oder Probleme aufgrund von Rassismus. ihm in seiner bisherigen Laufbahn beachtenswert gelungen. In seinen Do- Wenn auch weniger ästhetisch gewaltsam als Glauber Rocha (siehe das kumentarfilmen Rocha que Voa (2002), Intervalo Clandestino (2006) und Manifest „Äztetyk des Hungers“ in diesem Heft), so widmet sich auch Eryk Pachamama (2009), und jüngst in seinem ersten SpielfilmTranseunte (2010), Rocha in seinen Dokumentationen Land und Leuten; gewöhnlichen Kuba- hat Rocha nicht nur je eigene ästhetische Strategien entworfen, sondern nern, Brasilianern, Peruanern, Bolivianern, der indigenen Landbevölke- über alle seine Filme hinweg ist zudem ein persönliches Programm zu er- rung ohne eigenes Land; Bauern, Arbeitern, Angestellten. Sein Blick, das kennen; eine künstlerische Kohärenz, die ihn zu einem der auffälligsten ist deutlich, beschränkt sich nicht auf Brasilien, sondern ihn interessieren brasilianischen Regisseure der Gegenwart macht. Seine Dokumentatio- die Gesichter und Stimmen aller lateinamerikanischen Völker, der mittel- nen können dabei als eine zusammenhängende Trilogie gesehen werden; losen oder ausgebeuteten und marginalisierten Gruppen, die um soziale als ein mehrteiliges Ausloten persönlicher, familiärer, brasilianischer und Anerkennung und Gerechtigkeit kämpfen müssen. Wenn diese Menschen, lateinamerikanischer Angelegenheiten; als eine notwendige Vorarbeit für denen er auf seinen Drehrouten begegnet, von Politik, Klassenkampf und sein erstes fiktionales Projekt. Rocha que Voa als Auseinandersetzung mit Revolution gegen korrupte Kapitalisten, gegen Imperialismus und Koloni- der väterlichen Vergangenheit und kubanisch-brasilianischen, linksorien- alismus sprechen, dann scheint es, als hätte sich in den Jahrzehnten seit tierten Solidaritäten; Intervalo Clandestino als Dokument gegenwärtiger dem Cinema Novo und der Diktatur nicht viel in Lateinamerika geändert. politischer Euphorie und Utopie während der Wahl des Präsidenten Luiz In seiner kontinentalen Reichweite ist Eryk Rochas Projekt mit dem von Inácio Lula da Silva; und Pachamama als ein nahezu zeitloser Blick auf vergleichbar, der in seinen Roadmovies Terra Estrangeira brasilianische Nachbarn und lateinamerikanische Kämpfe mit den vom (Fremdes Land, 1996), Central do Brasil (Central Station, 1998) und Diari- Ausland dominierten, kapitalistischen Interessen. os de motocicleta (Die Reise des jungen Che, 2004) ebenso nicht nur von In seiner ersten Langfilmerfahrung Rocha que Voa bezog Eryk Rocha brasilianischen Problemen erzählt, sondern vom grenzüberschreitenden auch sogleich Stellung und verband die Suche nach einer eigenen Aus- und vereinenden Suchen nach lateinamerikanischen Identitäten. Rochas drucksweise mit einer naheliegenden Konfrontation mit Glauber Rochas grundlegende dokumentarische Taktik ist dabei das ‚In Bewegung blei- aktionsreicher Karriere; genauer, dessen Exilzeit in Kuba. Eine besonders ben‘; zwar auch mit Fahrzeugen wie in Pachamama, aber größtenteils zu geeignete Epoche, da es dem Cinema Novo wie dem revolutionären ku- Fuß auf kleineren Routen durch Städte, um in der Anonymität der Masse, in banischen Kino um eine Analyse angemessener intellektueller Wege und zufälligen und flüchtigen Begegnungen Aussagen und Blicke der Bevölke- um eine richtige revolutionäre Ästhetik für die eigene Realität ging. In rung zu registrieren – Fußgänger wie er selbst. dieser geschickten Thematisierung der Wahl der künstlerischen Haltung Neben den Bildern von Massenansammlungen bei Kundgebungen, Pro- lassen sich Gegenstände, Verfahren und Formen beobachten, an denen testen, Festen und Fußballspielen und der vielfältigen Sammlung von Eryk in den folgenden Filmen, auch ohne Bezug auf Glauber Rocha, an- Passanten-Portraits, sind es in Intervalo Clandestino vor allem die Stim- knüpfte. men der Straßen, die ein fiktives Volk als Meinungsmixtur der Masse for- Das ist vor allem die Entscheidung sich weiterhin mit zentralen Anliegen men; eine akustische Verdichtung, die beständig in ihre Einzelteile, indi- des Cinema Novo zu beschäftigen. Diese lassen sich auf zwei Worte redu- viduelle Statements und Sprachstile, zerfällt. So wie Eryk Rocha all diese zieren: terra und povo – Land und Volk. Zwei Begriffe, die für das politische Wähler-Stimmen zusammenfügt wird klar, dass dieses Gewirr sich nur als Kino auf der Suche nach der Möglichkeit einer revolutionären Nation mit- ein beständig gegensätzliches Chaos entdecken lässt. Zum einen be-

10 Eryk Rocha 11 steht es aus konträren Ansichten, zum anderen aus einem Zusammen- klang von Echos oft gehörter Klischees über Politik, Religion, Karneval und Fußball, gebrochen von Momenten singulärer Originalität. Diese Montage, Mischung und Verwirrung ist Konzept – und ebenso eine medienästheti- sche Konvergenz. Auch wenn es sich um Dokumentationen handelt, so mag vor allem in Intervalo Clandestino die Reihung dieser Interviews mehr wie Fernseh- umfragen wie als Film erscheinen. Dabei könnte es sich erneut um eine Beschäftigung mit der väterlichen Vergangenheit handeln: Ende der 1970er Jahre suchte Glauber Rocha im TV Tupi in seiner eigenen Sendung Programa Abertura ebenfalls auf den Straßen Rios den Kontakt zu einer durchschnittlichen, vielleicht repräsentativen Bevölkerung. Doch Eryk ko- piert keinen Fernsehstil Glauber Rochas. Durch alle seine Filme zeigt er zum einen ein besonderes Bewusstsein für die materielle Beschaffenheit dieser Begegnungen und, zum anderen, ein Gespür für eine veränderte Medienwirklichkeit, die nicht mehr die des Cinema Novo ist. Sein Kino re- flektiert und stellt die Grenzen zwischen Film und Fernsehen infrage; und das, was von diesen Medien überhaupt als eine mögliche Masse gezeigt werden kann. Operationen, die dieses eigene filmische Erfassen der Gesellschaft ver- ständlich machen, sind über alle Filme hinweg beispielsweise Einfärbungen der Bilder, Überblendungen, Vergrößerung, Zeitraffer, Verlangsamungen oder Verschiebungen in der Tonspur; Anhalten von Bewegungen oder Wie- derholungen, welche Körper rhythmisch takten; das Abfilmen von Bildschir- men, das Einschneiden von spezifischem Fernsehmaterial wie Werbung oder das Montieren und Modifizieren von Archivmaterial wie Ausschnitte aus Glauber Rochas Filmen. Die Wahrnehmung von Welt erscheint da- durch als eine immer schon vermittelte; Land und Volk sind nicht als etwas Ursprüngliches auf der Straße vorzufinden, sondern immer schon bear- beitete Bilder und arrangierte Töne, die unscharf werden und in Pixel und Piepsen zerfallen, wenn ihnen ein Beobachter zu nahe kommt. Intervalo Clandestino, das ‚heimliche Intervall‘ im Betriebssystem der Gesellschaft ist eine Illusion, und die Analogie ist klar: ein einzelner Passant und sei- ne Ansicht machen noch kein Volk; ein Bildpunkt lässt keine Rückschlüsse auf das sich in ständiger Bewegung befindende Gesamtbild zu; aber alle sind am großen Rauschen beteiligt, das in der Fülle der Gleichzeitigkeiten Intervalo Clandestino ohne Filter nur als solches vernommen werden kann; und auch der Film

12 Eryk Rocha 13 kann als Beobachtungs- und Anordnungsapparatur dieses Intervall, die- leben sei, begleitet. Ohne zu viel zu verraten: Letztlich muss er sein eige- se Lücke zwischen Verständlichkeit und Trance nicht schließen, sondern nes Sendungsbewusstein, ein Publikum und eine eigene Form entdecken, nur in punktueller Reduktion als nationale Fiktion auffächern. Ohne politi- um nicht nur als bloßer Konsument der Eindrücke im individuellen Vaku- sches Programm und wegweisende Vorgaben sind Eryk Rochas Filme we- um zu vegetieren. Jeder Mensch, so könnte eine simple Botschaft lauten, niger Wahrheiten als Zeitgeist-Collagen; Montagen von massenmedialem braucht Zuschauer und Zuhörer für die Vermittlung der eigenen Realität; Material, über welche das Volk nur als Medienmasse imaginiert werden jeder Stimme einen Kanal wie zum Beispiel ein Mikrofon zum Singen des kann. eigenen Soundtracks; kleine Momente extrovertierten Glücks. Neben der Visualisierung dieser fundamentalen Unübersichtlichkeit und Eryk Rocha inszeniert keine gesamtgesellschaftlichen Heilsversprechen Unruhe schaltet sich an mancher Stelle jedoch eine auffällige Metapher wie Politiker oder (Kino-)Propheten, denen Mengen und Massen folgen ein, nämlich dann wenn Bilder und Stimmen offensichtlich wie Radiofre- sollen; er entwirft keine alleingültige filmische Konstruktion, die andere in quenzen angepeilt werden. Dadurch wird, erstens, suggeriert, dass Kame- den Schatten stellt, sondern er betont bescheiden die punktuelle positive ra und Mikrophon wie Radioempfänger simultane Sendungen anzapfen Entfaltung und die alltägliche, kreative Emanzipation. Die Erforschung von und andere dabei ausgeblendet werden; zweitens, wird behauptet, dass Meinungen und ihren Bildern, von internationalen und individuellen Inte- die Medien Fernsehen, Radio, Film oder auch die Presse gemeinsame ressensfeldern, die er dabei als Programmdirektor seines eigenen Film- Charakteristiken in ihrer Übertragung aufweisen und ihre Wellen parallell Fernseh-Funks mischt und montiert, ist sicherlich keine nur brasilianische verlaufen; dass sie interagieren und auch interferieren; und drittens wird oder lateinamerikanische Angelegenheit. In Zeiten von Finanz- und mög- deutlich, dass Filmemacher und Fußgänger, Brasilianer und Kubaner, Volk licherweise Identitätskrisen sind seine Filme auch für europäische Emp- und Individuum oder Mensch und Medium in wechselseitigem Sender- fänger ein aktueller Appell, für das Durcheinander von Ländern, Leuten Empfänger-Verhältnis miteinander verbunden sind. All diese Beziehungen und Leben eigene (filmische) Formen zu finden. lassen in ihrem Aufbau und in ihren Zwischenräumen einen transmedi- alen Äther erahnen, durch welchen diese persönlichen Programme auf verschiedenen Frequenzen funken; Kanäle, die eine andere Ästhetik einer sozialen Sphäre erzeugen als das zu Zeiten des Cinema Novo denkbar gewesen wäre. Natürlich hat das Kino auch schon damals – wie beispiels- weise in Nelson Pereira dos Santos Rio, Zona Norte (Rio, Northern Zone, 1957) – mediales Zusammenwirken und die Konsequenzen einer Radio- Realität erfasst, doch bei Eryk Rocha greift der Funk auf eine andere Weise in den Film ein, nämlich als ästhetische Auffassung einer brasilianischen Wirklichkeit, in der alte Fragen und Gegenstände – und letztlich Brasilien – Weiterführende Literatur wieder neu entdeckt werden müssen.

Um solch eine Neuentdeckung eines Landes, einer Stadt, eines Lebens, Regina Aggio: Cinema Novo. Neues brasilianisches Kino 1954–1964, Gardez! Verlag, geht es schließlich auch in Rochas erstem Spielfilm, der konsequenterwei- Remscheid 2005. Günter Giesenfeld: Im Schatten des Cinema Novo. Kino und Filmwissenschaft in Brasilien, se Transeunte / Passant heißt. Hier konzentriert er sich auf eine Art Fallbei- Schüren, Marburg 2006. spiel eines einsamen und in der Masse verlorenen Mannes. In einer Phase Martin Schlesinger: Brasilien der Bilder (= Serie moderner Film, Bd. 7), VDG, Weimar 2008. der Des- und Neuorientierung flaniert dieser passiv und beobachtend wie Peter Schulze: Transformation und Trance. Die Filme des Glauber Rocha als Arbeit am post-kolonialen Gedächtnis, Gardez! Verlag, Remscheid 2005. eine Kamera durch die Straßen. Auf seinen urbanen Streifzügen wird er Peter W. Schulze und Peter B. Schumann (Hg.): Glauber Rocha e as culturas na América Latina, über Kopfhörer beständig von Rundfunk-Radschlägen, wie das Leben zu Biblioteca Luso-Brasileira 26, Berlin 2011.

14 Eryk Rocha 15 2004 wurde ich mit meinem Kurzfilm Qui- 2008 Linha de Passe realisierte, empfoh- Transeunte mera zu den Filmfestspielen nach Cannes len wurde. […] Passant eingeladen. Als ich zwischendurch in ei- Bei dem Film handelt es sich zwar nicht nem Café am Meer saß, beobachtete ich um ein “feel-good-movie” aus Hollywood, die vorbeigehenden Prominenten und optimistisch und realitätsfern, er erzählt Regie Eryk Rocha, mit Fernando hatte urplötzlich das Bild eines älteren aber über den Prozess der Wiedergeburt Bezerra, José Paes de Lira, Luciana Domschke u.a. einsamen Mannes vor Augen, der durch eines Mannes ohne Hoffnung, dessen Le- Kamera Miguel Vassy die Menschenmassen im Zentrum Rio de ben nach dem Tod seiner Frau beendet Buch Manuela Dias, Eryk Rocha Janeiros läuft. In dem Moment war Expe- schien, und der nach und nach Gründe Musik Fernando Catatau dito, die Hauptfigur meines ersten Spiel- findet, wegen denen es sich weiterzule- BRA 2010 | 125’ | OmeU | 35mm | 1:1,85 films, geboren. ben lohnt. Eryk Rocha Herausragend sind die Schwarzweiß- Bilder des Kameramanns Miguel Vassy. Das Spiel des Hauptdarstellers Fernando Expedito ist eine Figur der Nacht. Die Bezerra ist so authentisch, dass man ihn Verwendung sehr vieler Nah- und Nacht- für einen Laiendarsteller halten könnte, aufnahmen verleiht dem Film Intimität. den Eryk Rocha speziell ausgewählt hät- In der Entscheidung ausschließlich in te, um ein möglichst hohes Maß an Au- schwarzweiß zu drehen, wurde Eryk Ro- thentizität zu erreichen. Es handelt sich cha von großen Vorbildern wie Miche- allerdings um einen äußerst erfahrenen langelo Antonioni oder Roberto Rossellini Schauspielprofi, der ihm von Walter Sal- beeinflusst. les, der mit Fernando Bezerra bereits in: Gazeta do Povo, 2011

So 6.11.2011, 20.30 Uhr Filmforum Höchst Frankfurt Chimäre: Ein der griechischen Mytholo- Mo 7.11.2011, 20.30 Uhr Ciné Mayence Mainz gie entstammendes Tier. Ein Mischwesen Quimera aus Löwe, Ziege und Schlange. Di 8.11.2011, 20 Uhr Filmhaus Saarbrücken Chimäre Experimentalfilm, in dem der Zuschau- Fr 11.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf er die Perspektive einer Straßenkatze Regie Eryk Rocha einnimmt, die einem Mann beim Rasie- So 13.11.2011, 20 Uhr Filmclub 813 Köln BRA 2004 | 16’ | OmeU | 35mm | 1:1,85 ren zuschaut. Der Bart verwandelt sich Di 15.11.2011, 18 Uhr Metropolis Filmkunsttheater Bochum in eine Katze, die Katze wird rasiert und verwandelt sich zurück in einen Bart. An Mi 16.11.2011, 20 Uhr Kommunales Kino Leverkusen der Grenze des Sichtbaren verschmelzen

Fr 18.11.2011, 20.30 Uhr Kino im Sprengel Hannover Mann und Katze.

Sa 19.11.2011, 22 Uhr Haus der Kulturen der Welt Berlin So 27.11.2011, 18 Uhr Fr 11.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

16 Eryk Rocha 17 Das Filmprojekt entstand noch wahrend weckte einerseits sein Interesse, in die Rocha Eryk Rochas Studienzeit auf Kuba. Rocha Denkweise und das Werk seines Vaters que Voa wurde auf Basis zweier Inter- einzutauchen und ermöglichte ihm an- que views mit Glauber Rocha entwickelt. Beide dererseits, eine kritisch-sachliche Dis- stammen aus dem Jahr 1971 und wurden tanz zu wahren. Voa von Eryk Rocha im Archiv des “ICAIC-In- In collageartiger Form montiert, fügt sich Stones in the Sky stituto Cubano Del Arte e Indústria Cine- ein fragmentarischer Diskurs zusammen. matográficos” in Havanna entdeckt. „Es sind Schichten aus persönlichen, indi- viduellen und kollektiven Erinnerungen“, Regie Eryk Rocha Rocha que Voa ist kein Film über Glauber erklärt Eryk Rocha. Die Mehrheit der Bil- Kamera Miguel Vasilskis Buch Eryk Rocha, Bruno Vasconcelos Rocha, sondern ein Film „durch Glauber der wurde in schwarzweiß gefilmt, um die Musik Pedro Paulo Rocha Rocha hindurch“, wie der Regisseur selbst nach wie vor ursprüngliche Stimmung BRA•CUB 2002 | 94’ | OmeU | 35mm | 1:1,37 behauptet. Auf diesem Weg hat Eryk Ro- beispielsweise Havannas festzuhalten. cha versucht, den damaligen politischen Die aufwändige digitale Montage dauer- und kulturellen Zeitgeist Lateinamerikas te acht Monate: Neben Farbanpassungen zu erfassen. Der ganze Film ist durchzogen und Änderungen der Maserung mussten von Glauber Rochas Stimme und seinen verschiedenste Ausgangsformate kon- provozierenden Ideen, die Eryk Rocha als vertiert werden: Video, Super8, 16mm und Anhaltspunkt nimmt, um eine ganze Ge- unter anderem Fragmente der Filme Deus neration und einen historischen Moment e o Diabo na Terra do Sol, Câncer, Der Leo- festzuhalten und zu verstehen: der Traum, ne have sept Cabeças von Glauber Rocha dass das Kino das künstlerische Werkzeug sowie Filme anderer Regisseure wie Vira- sei, ganz Lateinamerika zu vereinen. mundo von Geraldo Sarno und Tire dié „Der Film kann als ein kleiner Teil dieses von Fernando Birri. Traums verstanden werden“, erzählt Eryk Claudia Costa, 2002 Rocha, der den Film selbst als ein poetisches Labyrinth betrachtet, ein „Gedächtnis in Trance“. Die Tatsache, dass er erst drei Jahre alt war, als Glauber Rocha starb,

Im Salon einer aristokratischen Villa Mo 31.10.2011, 18 Uhr Ciné Mayence Mainz herrscht Aufbruchstimmung. Ein Paar be- Medula Sa 5.11.2011, 18.30 Uhr Filmforum Höchst Frankfurt reitet sich für den Besuch eines Balls vor. Knochenmark Der Ehemann hilft seiner Gattin mit ihrer Mi 9.11.2011, 19 Uhr studio 3 - Kinemathek Karlsruhe prächtigen Garderobe, nicht bemerkend, Regie Tunga, Eryk Rocha Sa 12.11.2011, 19 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf dass ein Beobachter das liebevoll minu- tiöse Zuknöpfen des Kleides mit ansieht. BRA 2005 | 15’ | OmeU | 35mm | 1:1,85 Mi 16.11.2011, 18 Uhr Kommunales Kino Leverkusen

So 17.11.2011, 20 Uhr Filmclub 813 Köln

Sa 19.11.2011, 19.30 Uhr Kino im Sprengel Hannover Fr 11.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

18 Eryk Rocha 19 Eryk Rocha spricht bei laufender Kamera Einige Regisseure haben einen einzigar- Intervalo auf der Straße Passanten an und befragt tige Blick auf die Welt. So ist es bei ihnen Pacha- sie zur anstehenden Wahl, zur aktuel- sofort nach den ersten Szenen möglich, Clandes- len Politik, zu ihren Hoffnungen und Ent- zu erkennen, wer hinter der Kamera steht. mama täuschungen. Es sind kurze Gespräche, tino flüchtige Momente und unkontrollierte Der Meister des brasilianischen Doku- Intervalle. Dieser Wust an ungefilter- mentarfilms ist sicher- Regie Eryk Rocha ten Gedanken mutiert zu einem offenen lich einer von ihnen. Aber auch einige Kamera Eryk Rocha Buch Eryk Rocha Regie Eryk Rocha Diskurs, der in seiner Gesamtheit ohne junge Regisseure weisen eine eigene Musik Aurélio Dias Kamera Flávio Ferreira Hilfe rhetorischer Mittel ein klares gesell- Handschrift auf. So beispielsweise Beto Buch Pedro Paulo Rocha, Eryk Rocha BRA 2009 | 105’ | OmeU | DVD | 1:1,85 schaftliches Abbild ergibt. Brant im Spielfilmbereich oder Eryk Ro- BRA 2006 | 95’ | OmeU | DVD | 1:1,85 Neben dem Text ist es vor allem das visu- cha als Dokumentarist. elle Element, das einen tiefer gehenden Subtext offenbart, der aufgrund der visu- Sofort in den ersten Szenen von Pacha- ellen Inszenierung, der Kameraführung, mama, Rochas dokumentarischer Reise der Lichtsetzung und Montage das Akus- quer durch den lateinamerikanischen tische in den Hintergrund rücken lässt. Kontinent, die am letzten Freitag urauf- Die Kamera heftet sich an die Augen der geführt wurde, werden wir zu einem sinn- Passanten, liest aus ihnen weitaus mehr lichen Trip eingeladen, ähnlich lebendig als sich mit Worten ausdrücken ließe und wie bereits in Rocha que Voa. Auf der Su- formuliert so eine dezidierte Bildsprache che nach einem Lateinamerika im Um- von Auge zu Auge. bruch zeigt uns der Regisseur einen in- digenen Kontinent, dessen Erbe aus der Inka-Zeit uns wesentlich näher ist, als es sich aus der Ferne vermuten ließe.

Der Film entstand während der Reise ei- ner Forschergruppe, die in zwei Jeeps von Brasilien nach Bolivien und Peru das Dreiländereck durchquerte. Die Forscher stehen selbst nie im Fokus. Vor der Kamera befindet sich ausschließlich die Bevölke- rung dieser drei Länder – oftmals spontane Zufallsbekanntschaften auf der Straße.

Straßen, Felder, Berge. Pachamama taucht ab in das Herz eines jeden Kontinentes. Cuzco in Peru, El Alto in Bolivien und ein verlorener Ort zwischen zwei Dörfern in den Anden. “August ist der Monat, in dem wir die Erde nicht krank werden lassen” erzählt die Indianerin Aymara. Eine ungewöhnliche, ganzheitliche Sicht auf Zeit und Raum beginnt sich zu formen.

Mi 23.11.2011, 18 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

20 Eryk Rocha 21 In poetisch-sanften Bewegungen inter- essiert sich die Kamera hauptsächlich für die Menschen. Politikern wie Evo Morales lauscht man mit der gleichen Aufmerk- samkeit wie seinen Kritikern in der sepa- ratistischen Provinz Santa Cruz. Ihre Kri- tik an der bolivianischen Regierung: Sie würde „ihren Gegnern nicht zuhören“ und “keinen wirklich demokratischen Prozess vorschlagen.”

Es ist dieser Mut, keiner Auseinanderset- zung aus dem Weg zu gehen, gepaart mit einem besonders kreativen Einsatz von Bild und Ton, den wir aus den frühe- ren Dokumentarfilmen von Eryk Rocha bereits kennen, die Pachamama zu einer Entdeckung machen. Ein Film für jene, die Nachrichten aus Lateinamerika erhalten möchten, die über die Fernsehberichterstattung hinausgehen. Es sind Nachrichten von einem „Kontinent in Trance“.

Paradoxerweise wird gerade Brasilien aus der Ferne betrachtet. “Je weiter wir uns vom Ausgangspunkt entfernen, desto mehr lernen wir über uns selbst” sagte ein- mal Wim Wenders. Pachamama ermöglicht uns, eine Brücke zu schlagen zwischen Brasilien und den Ländern, die uns so fern erscheinen, es aber in Wirklichkeit nicht sind. Der Film ermöglicht uns auch wahrzunehmen, wie reich und vielfältig der bra- silianische Dokumentarfilm heute ist – mehr als so mancher denken mag. Walter Salles: Kontinent in Bewegung, 2009

Di 1.11.2011, 20.30 Uhr Ciné Mayence Mainz

So 6.11.2011, 15 Uhr Filmhaus Saarbrücken

Sa 12.11.2011, 19 Uhr studio 3 – Kinemathek Karlsruhe

Mo 28.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

22 Eryk Rocha während seiner Eryk Studienzeit Rocha in Havanna, Kuba. 23 Kannst du als unabhängiger Filme- Transeunte ist eine fiktive Geschichte, die von der Einsamkeit eines älteren Interview macher deine Arbeiten in der Weise Mannes in Schwarzweiß-Bildern erzählt, dessen Umwelt sich im starken Maße mit Eryk Rocha realisieren, wie du dir das vorstellst? verändert…

Seit zwölf Jahren kann ich vom Kino In Transeunte geht es unter anderem um die Veränderung, die der Prota- leben, jedoch arbeite ich nicht gonist Expedito erfährt, weil er in Rente geht. Mir geht es darum, den so- Ute Mader nur als Filmemacher, sondern mit zialen Wandel und seine Auswirkungen für die brasilianische Gesellschaft mehreren Medien, unter anderem zu verdeutlichen. Ein Indiz dafür ist das Gebäude, das gegenüber seiner auch als Fotograf und Produzent. Wohnung neu hochgezogen wird. Mir geht es um die kleinen Details des Ich habe an der Filmschule in San Neubeginns: Jeder Moment ist eine neue Phase des Lebens für diesen Antonio de los Baños in Kuba studiert und habe dort sehr viel gelernt: wie Mann, der aufgrund der neuen Situation zudem stark verunsichert ist. Mit man Dokumentarfilmen eine visuelle Poesie und politische Imagination diesem Film habe ich Möglichkeiten, den Spuren dieses Mannes zu folgen. verleiht und damit ein Anliegen dem Zuschauer näher bringt. Ich wollte Die Einsamkeit der Menschen an sich ist ein Charakteristikum dieser Zeit dieses auf bestimmte Weise in dem Film Intervalo Clandestino umsetzen. und entspricht ihr voll und ganz, man spürt das auch vor allem, wenn er Die Auseinandersetzung mit der Politik in Brasilien ist in formaler Hinsicht sich in der Stadt zwischen der Menschenmenge bewegt. Diese Perspekti- in diesem Film ein essayistischer Ansatz, um die unterschiedlichen Vor- ve ist typisch für das Leben in der heutigen Gesellschaft und ihre Auswir- stellungen der Menschen zum Ausdruck zu bringen. Pachamama ist ein kungen auf die Menschen, deshalb geht es mir um die kleinen Details, die Roadmovie, das die Forderungen einer sozialen Bewegung formuliert. In man sieht. Der Fokus liegt in den verschiedenen Bedeutungsebenen des dem Film geht es um die Probleme der Indianer an der Grenze zwischen Films, die Melancholie und Einsamkeit verkörpern. Brasilien und Kolumbien. Das Thema des Grenzganges ist für mich ein uni- verselles Thema, das unterschiedliche Herausforderungen in sich birgt.

Du hast Schwarzweiß-Bilder für Transeunte gewählt, um den Film zu drehen?

Rocha que Voa setzt sich mit dem Werk und Leben deines Vaters Glauber Für mich sind Schwarzweiß-Bilder signifikant für die heutige Zeit. Dabei Rocha auseinander und weist eine bestimmte filmische Handschrift auf… geht es um die Farben, die versteckt und unsichtbar für den Zuschauer sind. Zudem hat Expeditio keine Geschichte, er ist ohne Vergangenheit Der Film ist eine dreifache Liebeserklärung: an den Vater, an das Kino und Zukunft. Der Hauptdarsteller ist dennoch mit seiner Vergangenheit und an Lateinamerika. Es soll eine Brücke oder auch ein Dialog zwischen verbunden und da für ihn ein neuer Lebensabschnitt beginnt, ist er in den Generationen sein. Seine Stimme liegt über allem als eine Art Spiritus hohem Masse verunsichert. Der Zuschauer wird mit seinen Zweifeln kon- Rector, der die Montage inhaltlich begleitet. Für mich persönlich war die- frontiert. Der Film entfaltet sich vor allem auf einer großen Leinwand, die ser Film eine Form der Katharsis und eine persönliche Entdeckung des Annäherung des Zuschauers vollzieht sich über die Hauptfigur, die von Kinos, bei der sich meine Erinnerung mit der der Allgemeinheit vermischt: Fernando Bezerra verkörpert wird. Der Rhythmus des Films wird vom Radio es geht hierbei um drei Zeitabschnitte: um die 1960er Jahre in Havanna, bestimmt, das ein fundamentales Element im Film ist. Nachrichten, Musik, um die 1990er Jahre und die Gegenwart. Mir ist wichtig, zu schauen, was Radio und Ton bestimmen die rhythmische Gestaltung des Films, und sind Kino- und Filmemachen heutzutage bedeutet. Zudem geht es um die in diesem Kontext unsichtbare Elemente. Die Beziehung zur Außenwelt de- Rolle Kubas in diesem Zusammenhang und welche Auswirkungen das Exil finiert sich über Fußball. Die Gestaltung der Tonspur war eine besondere auf einen Künstler hat, sowie um seine eigene Rolle dabei. Herausforderung für den Sounddesigner. Wir haben den Rhythmus über

24 Interview mit Eryk Rocha 25 das Drehbuch und die Montage entwickelt. Ich persönlich habe auch eine besondere Beziehung zum Radio. Als ich noch ein Kind war, war es für mich eines der größten Vergnügen und ich konnte damit besser ein- schlafen. Auch heute habe ich immer noch ein kleines Radio dabei. Im eigentlichen Sinne ist es natürlich eine ziemliche nostalgische Reminis- zenz in den Zeiten der neuen Medien.

Was bedeutet für dich der Neorealismus oder das Cinema Novo oder aber auch die anderen Bewegungen der Autorenfilmer?

Tomás Gutierrez Alea, Roberto Rossellini, Godard und viele andere form- ten mich und meinen Geschmack. Für mich ist die Auseinandersetzung mit ihren Filmen eine Frage der Geisteshaltung gewesen. Rossellini hat das Phänomen als „estado de espiritú“ bezeichnet. Hier in Brasilien ist die Sichtweise auf das Cinema Novo leider oft ein wenig speziell und wird stark mystifiziert. Auch die anderen Regisseure wie Herzog, Wenders und Fassbinder haben mich neben Eisenstein und Pasolini durchaus in star- kem Masse geprägt. Die Schwarzweiß-Bilder sind möglicherweise eine Konsequenz der Auseinandersetzung mit den Mythen und der Nostalgie, die Kino und Film für mich bedeuten. Ich persönlich mag die Schwarz- weiß-Bilder gerne und sie haben eine bestimmte Bedeutung für mich.

Das Interview führte Ute Mader anlässlich der Eryk Rocha-Kinotour 2011.

Pachamama

26 Interview mit Eryk Rocha 27 Das brasilianische Kino der siebzi- Glauber ger Jahre war kein neues Kino mehr, keines, das sich in neuen Formen Rocha – auszudrucken suchte. Es war uber ein Portrait weite Strecken ein etabliertes Kino geworden, das sich in der Erfindung neuer Metaphern erschopfte, um das alte Engagement bewahren zu Peter B. Schumann konnen – bis auf allzu wenige Aus- nahmen ein glattes Erzahlkino der schonen Botschaften in kulturvollen Bildern. Einer, der sich diesem Trend wider- setzte, wie er sich immer gegen Kon- ventionen gestraubt hat, war Glau- ber Rocha, die Stimme des neuen Kinos. Er hatte Brasilien 1971 verlas- sen, nachdem er in Afrika Der Leone have sept Cabecas (Der Lowe mit den sieben Kopfen, 1970) und in Spa- nien Cabezas Cortadas (Abgeschnit- tene Kopfe, 1970) vollendet hatte. Er wahlte das Exil aus Protest gegen den Terror der Militars. Er hoffte, von Europa aus diese Politik der Repres- sion mit seinen Filmen denunzieren zu konnen. Aber der eben noch auf europaischen Festivals Gefeierte fand keine Produzenten. Schließlich drehte er História do Brasil (1973), seine Geschichte Brasiliens – ein langer Dokumentarfilm voller Zitate aus seinen fruheren Meisterwerken, ein erstes Zeichen ideo- logischer Verwirrung. Mithilfe des italienischen Fernsehens konnte er Claro (1975) machen, einen Experimentalfilm, der grundlich mit traditio- nellen Erzahlweisen aufraumte. Beide Arbeiten stießen auf allgemeines Unverstandnis. Glauber Rocha mit Schauspielerin Rosa Maria Penna am Set von […] Antônio das Mortes

Glauber Rocha – ein Portrait 29 Dann ging er an die Realisierung eines alten Plans: A Idade da Terra (Das Alter der Erde, 1980). Er verfolgte dabei auf die assoziativmonomanische Weise, die er im Exil entwickelt hatte, die Geschichte Brasiliens vom Ur- schrei an, ihre Ideologien, ihre Mythen, ihre Obsessionen. Er zertrummerte alles Vorhandene auf seiner Suche nach neuer Verwirklichung, vielleicht war sogar diese verzweifelte Suche das Einzige, was fur ihn Bestand hatte. So chaotisch und ideologisch wirr dieser Strom von Bildern auch ist, so unverstandlich beim ersten Hinsehen, so sehr pragen sich manche Ein- stellungen ins Gedachtnis ein. Stellt man dieses Werk in den Kontext der ubrigen Produktion, in den Wust der Normalitat, des gebildeten Kunstge- werbes, dann wirkt es wie ein Fels in der Brandung des Ublichen – eine ein- same Alternative zu allem, was herrscht, exzentrisch, radikal, besessen. Ein letzter Film und nun sein Vermachtnis. Am 22. August 1981 starb Glau- ber Rocha in einem Krankenhaus von Rio de Janeiro an Lungenkrebs im Alter von zweiundvierzig Jahren. Ein extremer Denker, gefahrdet wie alle Genies, ein Einzelkampfer wie Paulo, der politisierende Dichter in seinem Meisterwerk Terra em Transe, ein Revolutionar, der das System des Gleich- GlauberBildunterschrift? Rocha maßes aufbrechen wollte, an dem er letztlich scheiterte. in: Handbuch des brasilianischen Films. Frankfurt am Main 1988

Glauber Rocha 1979 in Rio de Janeiro Bildunterschrift? © Paula Gaitán

30 Glauber Rocha – ein Portrait 31 Frei von der informativen Einleitung, seine Nostalgie nach Primitivismus befriedigen; und dieser Primitivismus Äztetyk die sich zu einer allgemeinen Cha- ist hybrid, verkleidet als späte Nachlässe der zivilisierten Welt, missver- des rakteristik der Diskussionen über standen, weil sie durch die kolonialistische Konditionierung besteuert sind. Lateinamerika gewandelt hat, ziehe Lateinamerika bleibt eine Kolonie und was den Kolonialismus von gestern Hungers ich es vor, die Reaktionen zwischen vom jetzigen unterscheidet, ist nur die verfeinerte Form des Kolonisators: unserer und der zivilisierten Kultur und neben den tatsächlichen Kolonisatoren, die subtilen Formen derjeni- mit weniger reduzierten Begriffen gen, die ebenso über uns zu zukünftigen Schlägen ausholen. Glauber Rocha zu verorten als mit denen, die auch Lateinamerikas internationales Problem ist weiterhin ein Wechsel der Ko- die Analysen des europäischen Be- lonisatoren, das bedeutet, dass eine mögliche Befreiung noch für eine obachters prägen. Während Latein- lange Zeit im Dienste einer neuen Abhängigkeit stehen wird. amerika seine allgemeine Misere Diese wirtschaftliche und politische Konditionierung hat uns zu philoso- beklagt, kultiviert der ausländische phischer Rachitis geführt und zur Impotenz, die, manchmal unbewusst, Gesprächspartner dabei den Ge- manchmal nicht, im ersten Fall Sterilität und im zweiten Hysterie verur- schmack dieser Misere nicht als tra- sachen. gisches Symptom, sondern als rein Die Sterilität: diese Werke, die man haufenweise in unseren Künsten fin- formalen Fakt innerhalb seines Inte- det, wo der Autor sich durch formale Übungen selbst kastriert, die jedoch ressengebietes. Weder teilt der Lati- nicht die volle Kraft ihrer Formen erlangen. Der verhinderte Traum der no dem zivilisierten Menschen seine Universalisierung: Künstler, die noch nicht aus dem ästhetischen Ideal ih- wahre Misere mit, noch versteht der rer Jugend erwacht sind. Deshalb sehen wir Hunderte von Gemälden in zivilisierte Mensch wirklich die Misere den Galerien, verstaubt und vergessen; Bücher mit Geschichten und Ge- des Latino. dichten, Theaterstücke, Filme (die vor allem in São Paulo auch Konkurse Das ist – im Wesentlichen – die Situ- auslösten) Die offizielle Kunstwelt generierte karnevaleske Ausstellungen ation der Künste in Brasilien vor der auf mehreren Festivals und Biennalen, fabrizierte Konferenzen, einfache Welt: bis heute konnten sich nur aus- Erfolgsformeln, Cocktails in verschiedenen Teilen der Welt, neben einigen (These, die während der Diskussio- nen über das Cinema Novo anläss- geklügelte Lügen der Wahrheit in offiziellen Kulturmonstern, Akademikern der Literatur- und Kunstwissen- lich der Retrospektive im Überlick quantitativen Formeln (die formalen schaften, Malerei-Juries und kulturelle Prozeduren im ganzen Land. Uni- des Lateinamerikanischen Kinos in Exotismen, welche soziale Probleme versitäre Monstrositäten: die berühmten literarischen Zeitschriften, die Genua, im Januar 1965, unter der vulgarisieren) mitteilen, was eine Wettbewerbe, die Titel. Schirmherrschaft von Columbia- Reihe von Irrtümern verursacht hat, Die Hysterie: ein komplexeres Kapitel. Die soziale Empörung bringt flam- num, vorgetragen wurde. Das von Sekretär Aldo Viganó vor- die nicht an den Grenzen der Kunst mende Diskurse hervor. Das erste Symptom ist der Anarchismus, der bis geschlagene Thema war Cinema halt machen, sondern das grundle- heute die junge Poesie (und die Malerei) kennzeichnet. Das zweite ist eine Novo und Weltkino. gende Terrain des Politischen konta- politische Reduktion der Kunst, die aufgrund übermäßigen Sektierertums Unvorhergesehene Umstände zwan- minieren. schlechte Politik macht. Das dritte, und das effektivste, ist die Suche nach gen zur Modifikation: Der Paternalis- mus des Europäers im Verhältnis zur Für den europäischen Beobachter einer Systematisierung der Volkskunst. Aber der Irrtum bei alledem ist, Dritten Welt – das war das Haupt- sind die künstlerischen Schaffens- dass unser mögliches Gleichgewicht nicht aus einem organischen Kör- motiv des Tonwechsels.) prozesse der unterentwickelten Welt per hervorgeht, sondern aus einer titanischen und selbstzerstörerischen nur insofern interessant, als dass sie Anstrengung die Impotenz zu überwinden: Und als Resultat dieser Zan-

32 Glauber Rocha 33 gengeburt nehmen wir uns, da wir nur unter den Limes inferior des Kolo- nisators fallen, als verhindert wahr: Und wenn er uns versteht, dann nicht aufgrund der Klarheit unseres Dialogs, sondern wegen der Menschlich- keit, zu welcher ihn unsere Mitteilung inspiriert. Wieder einmal ist der Pa- ternalismus die Methode für das Verständnis einer Sprache der Tränen oder des stummen Leidens. Der Latino-Hunger ist deshalb nicht nur ein alarmierendes Symptom: er ist der Nerv seiner eigenen Gesellschaft. Darin liegt die tragische Originalität des Cinema Novo gegenüber dem Weltkino: unsere Originalität ist unser Hunger und unsere größte Misere ist, dass dieser Hunger, der gefühlt wird, nicht verstanden wird. Von Aruanda bis Vidas Secas erzählte, beschrieb, poetisierte, besprach, analisierte, erregte das Cinema Novo die Themen des Hungers: Figu- ren, die Erde essen; Figuren, die Wurzeln essen; Figuren, die stehlen, um zu essen; Figuren, die töten, um zu essen; Figuren, die fliehen, um zu es- sen; schmutzige, hässliche, magere Figuren, die in dreckigen, hässlichen, dunklen Häusern wohnen: Es war diese Galerie der Hungernden, die das Cinema Novo als den von der Regierung so verurteilten Miserabilismus identifizierte; verurteilt von der Kritik, in Funktion antinationaler Interes- sen, von den Produzenten und vom Publikum – das die Bilder der eige- nen Misere nicht ertragen konnte. Dieser Miserabilismus des Cinema Novo steht im Gegensatz zu der Tendenz des Verdaulichen, empfohlen vom Chef-Kritiker aus Guanabara, Carlos Lacerda: Filme über reiche Leute, in hübschen Häusern, die Automobile der Luxusklasse fahren: fröhliche, komische, schnelle Filme ohne Botschaft, mit rein industriellen Absichten. Das sind die Filme, die sich dem Hunger entgegensetzten, als ob die Filme- macher im Gewächshaus und in den Luxus-Appartements die moralische Misere einer undefinierten und fragilen Bourgeoisie verstecken oder als ob selbst die eigenen technischen und szenografischen Materialien den

Cartoon von , erschienen anlässlich Glauber Rochas Tod in: Hunger verbergen könnten, der in der eigenen Unzivilisiertheit verwur- O Pasquim. Rio de Janeiro, August 1981. zelt ist. Als ob, vor allem, in diesem Aufgebot tropischer Landschaften, die geistige Armut der Regisseure, die diese Art von Film machen, kaschiert werden könnte. Was das Cinema Novo zu einem Phänomen von internati- onaler Bedeutung gemacht hat, war genau das hohe Niveau seiner Ver- pflichtung zur Wahrheit; es war sein eigener Miserabilismus, der anfangs von der Literatur der 30er verfasst, und jetzt durch den Film der 60er fo- tografiert wurde; und wurde er zuvor als soziale Anklage geschrieben, so

34 Glauber Rocha 35 wird er heute als ein politisches Problem diskutiert. Die Phasen des Mi- aus Porto das Caixas primitiv? Eine Ästhetik der Gewalt des Cinema Novo serabilismus in unserem Kino sind in sich evolutionär. Wie Gustavo Dahl ist weniger primitiv als revolutionär, das ist der Ausgangspunkt damit der bemerkt, reichen sie vom Phänomenologischen (Porto das Caixas), zum Kolonisator die Existenz des Kolonisierten versteht: Erst wenn dem Koloni- Sozialen (Vidas Secas), Politischen (Deus e o Diabo), Poetischen (Ganga sator die einzige Möglichkeit, die Gewalt, des Kolonisierten bewusst wird, Zumba), Demagogischen (Cinco Vezes Favela), Experimentellen (Sol sob- kann er, aus Entsetzen, die Kraft der Kultur verstehen, die er ausbeutet. So- re a Lama), Dokumentarischen (Garrincha, Alegria do Povo), zur Komödie lange er nicht seine Waffen erhebt, ist der Kolonisierte ein Sklave: ein erster (Os Mendigos); Erfahrungen in viele Richtungen, einige gescheitert, ande- toter Polizist war notwendig, damit der Franzose einen Algerier wahrnahm. re umgesetzt, aber alle zusammen ergeben nach drei Jahren einen histo- Aus moralischen Gründen ist diese Gewalt jedoch nicht mit Hass erfüllt, rischen Rahmen, der nicht zufällig die Quadros-Goulart-Periode charak- aber wir würden auch nicht sagen, dass sie mit dem alten kolonialisie- terisieren wird: eine Zeit der großen Gewissenskrisen und der Rebellion, renden Humanismus zu tun hat. Die Liebe, die diese Gewalt beendet, ist der Agitation und Revolution, die im April-Putsch gipfelte. Und seit April hat ebenso brutal wie die Gewalt selbst, weil es sich nicht um eine Liebe der das Bekenntnis zum verdaulichen Kino in Brasilien an Gewicht gewonnen Nachsicht oder der Kontemplation, sondern um eine Liebe der Tat und und das Cinema Novo systematisch bedroht. Transformation handelt. Wir verstehen diesen Hunger, den die Mehrheit der Europäer und der Bra- Deshalb macht das Cinema Novo auch keine Melodramen: Die Frauen silianer nicht versteht. Für den Europäer ist es ein seltsamer tropischer des Cinema Novo waren immer Lebewesen auf der Suche nach einem Surrealismus. Für den Brasilianer ist er eine nationale Schande. Er hat Ausweg für die Liebe, angesichts der Unmöglichkeit mit Hunger zu lieben: nichts zu essen, aber er schämt sich es zu sagen; und vor allem weiß er Die prototypische Frau, die aus Porto das Caixas, tötet den Ehemann; die nicht woher dieser Hunger kommt. Wir wissen es – wir haben diese häss- Dandara aus Ganga Zumba flieht aufgrund einer romantischen Liebe aus lichen und traurigen Filme gemacht, diese herausgeschrieenen und ver- dem Krieg; Sinhá Vitória träumt von neuen Zeiten für die Kinder; Rose wird zweifelten Filme, in denen nicht immer die Vernunft die Stimme erhob – wir kriminell um Manuel zu retten und um ihn unter anderen Umständen zu wissen, dass der Hunger nicht durch Planungen des Kabinetts geheilt wer- lieben; das Mädchen des Priesters muss die Soutane zerreißen, um einen den wird und dass die Flicken des Technicolors seine Tumore nicht verste- neuen Mann zu gewinnen; die Frau aus O Desafio macht mit ihrem Ge- cken, sondern verschlimmern werden. Deshalb kann sich nur eine Kultur liebten Schluss, da sie lieber ihrer bürgerlichen Welt treu bleibt; die Frau des Hungers, die ihre eigenen Strukturen untergräbt, qualitativ überwin- in São Paulo S.A. will die Sicherheit der kleinbürgerlichen Liebe und ver- den: und die edelste kulturelle Manifestation des Hungers ist die Gewalt. sucht deshalb das Leben ihres Mannes auf ein mittelmäßiges System zu Das Betteln, eine Tradition, die sich mit dem erlösenden kolonialistischen beschränken. Mitleid eingenistet hat, war eine der Ursachen für die politische Mystifizie- Die Zeit, in der sich das Cinema Novo erklären musste, um zu existieren, ist rung und die selbstüberhebliche Kulturlüge: Die offiziellen Berichte über schon vorbei: Das Cinema Novo muss sich entwickeln, um sich zu erklä- den Hunger betteln die kolonialistischen Länder um Geld an, um Schulen ren, in dem Maße, in dem sich unsere Realität vor dem Licht der Gedanken, zu bauen, ohne Lehrer auszubilden, um Häuser zu errichten, ohne Arbeit die nicht vom Hunger geschwächt oder verwirrt sind, klarer abzeichnet. zu vergeben, um Berufe zu lehren, ohne das Alphabet beizubringen. Die Das Cinema Novo kann sich nicht effektiv entwickelt, solange es am Rande Diplomatie bettelt, die Ökonomen betteln, die Politik bettelt: Das Cinema des wirtschaftlichen und kulturellen Prozesses des lateinamerikanischen Novo hat auf internationaler Ebene nichts gefordert: Die Gewalt seiner Bil- Kontinents bleibt; umso mehr, weil das Cinema Novo ein Phänomen der ko- der und Töne hat sich auf 22 internationalen Festivals durchgesetzt. lonisierten Völker und keine privilegierte Vereinigung Brasiliens ist: Wo ein Für das Cinema Novo ist die richtige Verhaltensweise für einen Hungern- Filmemacher dazu bereit ist, die Wahrheit zu filmen und den scheinheiligen den die Gewalt, und die Gewalt eines Hungernden ist kein Primitivismus. und polizeilichen Normen der Zensur entgegen zu treten, da wird das Ci- Ist Fabiano primitiv? Ist Antão primitiv? Ist Corisco primitiv? Ist die Frau nema Novo aufkeimen. Wo es einen Filmemacher gibt, der bereit ist, sich

36 Glauber Rocha 37 der Kommerzialisierung, der Ausbeutung, der Pornographie, der Techni- sierung entgegen zu stellen, da wird das Cinema Novo aufkeimen. Wo es einen Filmemacher gibt, egal welchen Alters und welcher Herkunft, bereit, seine Filme und seinen Beruf in den Dienst der wichtigen Anliegen seiner Zeit zu stellen, da wird das Cinema Novo aufkeimen. Die Definition ist diese und durch diese Definition grenzt sich das Cinema Novo von der Indust- rie ab, weil das industrielle Kino der Lüge und der Ausbeutung verpflichtet ist. Die wirtschaftliche und industrielle Integration des Cinema Novo hängt von der Freiheit Lateinamerikas ab. Das Cinema Novo setzt sich für diese Freiheit ein, in eigenem Namen, im Namen seiner engsten und verstreuten Mitglieder, von den dümmesten zu den talentiertesten, von den schwächs- ten zu den stärksten. Es ist eine Frage der Moral, die sich in den Filmen widerspiegeln wird, in der Zeit, wie lange ein Mann oder ein Haus gefilmt werden, in der detaillierten Beobachtung, in der Philosophie: Nicht ein Film, sondern ein sich entwickelndes Ensemble von Filmen wird letzlich der Öf- fentlichkeit das Bewusstsein für seine eigene Existenz vermitteln. Deshalb haben wir wenig mit dem Weltkino gemeinsam. Das Cinema Novo ist ein Projekt, das sich in der Politik des Hungers rea- lisiert und das aus diesem Grund an allen daraus resultierenden Schwä- chen seiner Existenz leidet.

Glauber Rocha: „Eztetyka da fome“, in: Ders: Revolução do Cinema Novo, Alhambra/Embrafilme, Rio de Janeiro 1981, S. 28–33.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Martin Schlesinger, Oliver Fahle

Filmographie::

Aruanda (Linduarte Noronha, 1960) Cinco Vezes Favela (Miguel Borges, Joaquim Pedro de Andrade, , Marcos Farias, Leon Hirszman, 1962) Deus e o Diabo na Terra do Sol (Glauber Rocha, 1964) Ganga Zumba (Carlos Diegues, 1963) Garrincha, Alegria do Povo (Joaquim Pedro de Andrade, 1963) Os Mendigos (Flávio Migliaccio, 1962) O Desafio (Paulo César Saraceni, 1965) Porto das Caixas (Paulo César Saraceni, 1962) São Paulo, Sociedade Anônima (Luís Sérgio Person, 1965) Glauber Rocha 1969 mit seinem Film „Antônio das Mortes“ Sol sobre a Lama (Alex Viany, 1963) zu Gast bei den Filmfestspielen in Cannes Vidas Secas (Nelson Pereira dos Santos, 1963)

38 Glauber Rocha 39 Die Fischer in einem Dorf in Bahia an der Damals schien uns der Film „ziemlich revolutionär“ zu sein. Aber in Wirklichkeit ist er Barravento Nordküste Brasiliens müssen ihr Netz von ein naiver Film: Er suggeriert, dass man den Menschen die fertige Revolution brin- Sturm einem Händler mieten und dafür 90 Pro- gen könne, er enthüllt die Illusion, in der eine gewisse linke Intelligenz einige Jahre zent des Fangs abgeben. Mehr noch: Der gelebt hat. Wenn aber der Film auch keinen revolutionären Prozess zeigt, spiegelt Netzbesitzer droht ihnen immer wieder, er in seiner Aufrichtigkeit doch einen Aspekt der brasilianischen Gesellschaft wi- Regie Glauber Rocha ihr Arbeitsgerät zu entziehen. der: den Bruch zwischen den Massen und ihren Führern oder denen, die sich dafür mit Antônio Pitanga, Luiza Maranhão, halten. Wie viele andere Filme reflektiert Barravento eine populistische Politik wie Lucy de Carvalho u.a. Kamera Tony Rabatony Wenn man den tiefen Eindruck zu ana- zur Zeit von Vargas, die die Massen statt sie zur Aktion zu treiben, eher in die Reg- Buch Glauber Rocha, José Telles de lysieren versucht, den Barravento hin- losigkeit führt. Magalhães, Luiz Paulino Dos Santos terlassen hat, drängen sich zwei Filme Jean-Claude Bernardet, 1967 Musik Washington Bruno unmittelbar ins Gedächtnis: Tabu von F.W. BRA 1962 | 80’ | OmU | 35mm | 1:1,37 | Murnau und Robert Flaherty (1931) und Re- FSK 0 des, den Fred Zinnemann 1935 in Mexiko machte, bevor er nach Hollywood ging. Alex Viany, 1962 Pátio will nichts sagen, will nicht diese Auf formaler Ebene manifestiert sich in oder jene menschliche Haltung erklären Barravento schon die für Rochas Werk oder erzählen, sondern lediglich das in typische Verbindung verschiedenster seiner Umgebung erschaffen, was wir Darstellungsformen: So verschmelzen bei dem Griechen Cacoyannis und in Ku- Elemente wie die betonte Theatralik und bricks Der Tiger von New York (Killer’s Kiss) Didaktik eines Brecht mit konstruktivis- finden können: ›Zustände‹, die nur durch tischen Bildkompositionen im Stil Eisen- Integration und Montage erzeugt wer- steins und neorealistischen Komponen- den können, die Arbeitsmittel des Film- ten zu einer originären Sprache, mit der schaffenden, der sich seines Handwerks © Tempo Glauber die afro-brasilianische Kultur dargestellt bewusst ist. Diese Feststellung mag an- wird. Bereits Rochas erster Spielfilm ist ein maßend klingen, doch sie gibt nur eine Werk, in dem sich eine spezifische Arbeit ehrliche Haltung wieder angesichts eines Patio an postkolonialem Gedächtnis manifes- Kinos, das heute, wie der Kritiker Cláudio tiert. Barravento kann als der erste Spiel- Bueno Rocha es genannt hat, nicht mehr Regie Glauber Rocha film gelten, der sich eingehend mit der ist, als bloße Unterhaltungskunst. mit Solou Barreto, Helena Ignez Glauber Rocha über Pátio afro-brasilianischen Kultur auseinander- Kamera José Ribamar de Almeida, in: Jornal do Brasil, 1959 setzt. Luiz Paulino dos Santos Peter Schulze, 2005 Buch Glauber Rocha Musik Pierre Henry, Pierre Schaeffer u.a. BRA 1959 | 11’ | ohne Dialog | 16mm | 1:1,37 | ab 18

So 6.11.2011, 18.30 Uhr Filmforum Höchst Frankfurt

Di 15.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf Di 15.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

40 Glauber Rocha 41 Die Ballade eines armen brasilianischen Ich bin von einem sehr poetischen Text ausgegangen. Die Basis von Gott und Teufel Deus e o Viehtreibers, der sich verzweifelt einem im Land der Sonne war eine metaphorische Sprache, ein Heldenepos. wandernden Propheten und später ei- Den Versen des Mittelalters und den vergleichbar, gibt es in Brasilien eine Diabo na nem Banditenchef anschließt, letztlich große Tradition volkstümlicher Gedichte und Lieder, die unser portugiesisches und aber erkennen muss, dass er seinem spanisches Erbteil ist. Es ist die Tradition blinder Troubadours im Nordosten, eigene Terra do Sol Schicksal als Unterdrückter nicht ent- Geschichten zu erfinden. Legenden. Die ganze Corisco-Episode in Gott und Teufel Gott und Teufel im kommen kann. im Land der Sonne basiert auf vier oder fünf volkstümlichen Romanceiros, und die Sequenz des Todes von Corisco folgt dem Aufbau eines Liedes. Als ich mit einigen Land der Sonne Rocha, ehemaliger Filmkritiker, nennt vie- Blinden sprach und auch mit dem Mann, der Corisco getötet hat, haben sie mir un- le Vorbilder für seine filmische Sprache; gefähr dieselbe Geschichte erzählt, aber jeder mischte unter die Wahrheit erfun- unter ihnen Eisenstein, Buñuel, Rossellini, dene Details. Der Major Joe Rufino, den man in „ Memoria do Cangaço“ sieht und Regie Glauber Rocha Visconti. Stilelemente von ihnen allen sind der mich zu der Figur des Antônio das Mortes inspiriert hat, hat mir dreimal auf ver- mit Geraldo Del Rey, Yoná Magalhães, in seine Ästhetik eingegangen. Sie wirken schiedene Weise erzählt, wie er Corisco getötet habe. Und in dem Film von Soares Othon Bastos u.a. jedoch weder wie Einflüsse noch wie Zita- erzählt er eine vierte Variante. Was man genau weiß, ist, dass er die Frau Coriscos Kamera Waldemir Lima Buch Glauber Rocha te; vielmehr gewinnt man den Eindruck ei- am Bein verletzt hat, und das zeige ich im Film. Der portugiesische Ausdruck „ver- Musik Villa-Lobos (Liedtexte von Sérgio ner nachgerade verzweifelten (und dabei dade e imaginação“ ist sehr geläufig im Nordosten. Die Blinden im Volkstheater, im Ricardo, Glauber Rocha) erstaunlich kontrollierten) Mobilisierung Zirkus, auf den Jahrmärkten sagen: Ich werde eine Geschichte aus Wahrheit und BRA 1964 | 125’ | DF | 35mm | 1:1,33 | FSK 18 aller nur zur Verfügung stehenden Aus- Erfindung erzählen; oder aber: das ist wahre Erfindung. Die Idee zu dem Film ist mir drucksmittel, um einer grausigen Wirk- ganz spontan gekommen, mit plötzlicher Evidenz. Meine ganze Bildung ist in diesem lichkeit zu begegnen. Und dabei kommt Klima entstanden. Es gab in meiner Haltung nichts Intellektuelles. es immer wieder dahin, daß die Kamera, Glauber Rocha unfähig, den Anblick zu ertragen, vom physischen Mittelpunkt des Geschehens sich fortreißt oder es nur anzuschnei- den vermag. Darin kommt freilich nichts weniger als dem Bürgerschreck gebär- Eine Auftragsarbeit. Eine klassische Doku- dender Avantgardismus zum Ausdruck. mentation über die Schönheit und den Amazonas, Hier werden nicht die eigenen Neurosen natürlichen Reichtum der Amazonas-Re- gehätschelt; hier prallt das Ich des Künst- gion. Es lassen sich typische Stilmerkma- Amazonas lers auf Dinge, die einfach zuviel sind. Die le Glauber Rochas feststellen: die lyrische Kunst hat ihre Grenzen vor der Realität. Raffinesse in den Einstellungen, das cha- rakteristische Insistieren auf seinen na- Regie Fernando Duarte, Luiz Augusto Theodor Kotulla, 1967 Mendes, Glauber Rocha tionalen und progressiven Anliegen, die Kamera Fernando Duarte Mi 9.11.2011, 21.15 Uhr studio 3 – Kinemathek Karlsruhe Darstellung von Personen bei der Arbeit, Musik Heitor Vila-Lobos Fr 11.11.2011, 21.15 Uhr von städtischen Umgebungen, von Pro- BRA 1966 | 15’ | Om.frz.U | 16mm | 1:1,37 | dukten und Waren. ab 18 Sa 19.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf www.tempoglauber.com.br

Sa 19.11.2011, 21.15 Uhr Kino im Sprengel Hannover

Mi 30.11.2011, 19.30 Uhr Filmforum Höchst Frankfurt Sa 19.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

42 Glauber Rocha 43 Im imaginären Land Eldorado erzählt der einer von Faschismus unterdrückten Exis- Terra em sterbende Schriftsteller und Journalist tenz vorzieht.“ Paulo von seinen an Intrigen und Halbhei- Enno Patalas, 1967 transe ten gescheiterten Reformbemühungen. Land in Trance Er schwankte stets zwischen zwei Anwär- Manche Leute haben gemeint, Land in tern auf das höchste Staatsamt: Don Por- Trance sei eine surrealistische Erfindung, firio Diaz, dem Politiker der Hauptstadt, dabei ist es ein sehr exakter Dokumen- und Don Felipe Vieira, dem Statthalter der tarfilm. Wenn man seine Technik unter- Regie Glauber Rocha Provinz Alecrim. Vieira, dem die Kirche zur sucht, wird man – wenn der Stil auch sehr mit Jardel Filho, , José Lewgoy u.a. Seite stand, hielt seine Wahlversprechen ungleich ist – feststellen, dass die Kamera Kamera Luiz Carlos Barreto nicht ein, der mystische Diaz wurde von in sehr verschiedenen Einstellungen, die Buch Glauber Rocha Don Julio Fuentes und den Medien unter- Position einer Dokumentarfilmkamera Musik Sérgio Ricardo stützt. Cinema Novo ist ein Kino, das die hat. Ich möchte, dass man diesen Blick BRA 1967 | 109’ | OmU | 35mm | 1:1,66 | FSK 16 Vergangenheit und kulturelle Einflüsse zur Kenntnis nimmt. Das ist keine surrea- ablehnt, das zwischen Neuartigkeit und listische Erfindung, kein Buñuelismus. [...] Inexistenz hin und her gerissen wird, ein Als ich Gott und Teufel im Land der Sonne Kino im Zustand der Trance. drehte, liebte ich die Landschaft und Glauber Rocha auch Coriscos Gesicht, und wenn ich auch Kritik übte, fühlte ich mich den Per- Terra em transe, das ist für Rocha „El Do- sonen verbunden. An Land in Trance da- rado“, das heißt Brasilien, das heißt Ibe- gegen habe ich mit gewissem Ekel gear- roamerika. Er beschreibt die Vision eines beitet, ich fand alles widerlich, man kann Sterbenden, eines Dichters, der, aufgezo- das sehen. Ich erinnere mich, dass ich zu gen von einem führenden Politiker seines meinem Cutter sagte: Das ekelt mich an, Landes („Porfirio Diaz“), einmal Protegé, es gibt keine einzige schöne Einstellung einmal Widersacher der Herrschenden, in diesem Film. Alle Einstellungen sind mit wechselnden politischen Kräften pak- hässlich, weil es sich um fatale Gestalten tiert, der revoltiert, und resigniert, Kom- handelt, um eine verrottete Landschaft, promisse schließt und sich Kompromissen um falschen Barock. verweigert und nichts erreicht, ein Dich- Glauber Rocha ter, nach Rocha, „dessen Sprache macht- los ist, da in seinem Land die Schönheit bereits von der Wirklichkeit übertroffen Der Film ist im Auftrag von José Sarney, Maranhão 66 worden ist, der den anarchistischen Tod Governeur des Staates Maranhão, ent- standen. (Sarney sollte 19 Jahre spä- ter Präsident der Republik werden.) Er Regie Glauber Rocha wünschte, dass sein Freund Glauber Ro- Kamera Fernando Duarte Buch Glauber Rocha Sa 5.11.2011, 20.30 Uhr Filmforum Höchst Frankfurt cha einen Dokumentarfilm über die Fei- BRA 1966 | 11’ | Om.frz.U | 16mm | 1:1,33 | erlichkeiten zu seiner Amtsübernahme Do 20.11.2011, 17.30 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf ab 18 erstelle.

44 Glauber Rocha 45 Die Ehrlichkeit der Films ist vollkommen Ein einsamer, unbesiegbarer Cangacei- und kündigt bereits den Ton von Terra em ro und Banditenkiller soll im Dienste eines O dragão Transe an. Glauber Rocha drehte voller brasilianischen Großgrundbesitzers Auf- Überzeugung und ohne Eingeständnis- ständische bekämpfen. Als er erkennen da malda- se oder ein Entgegenkommen an seinen muss, dass er diesen sozial näher steht, Auftraggeber. Im Gegenteil: der Film führt wechselt er die Seite und bereitet den de contra die demagogischen Wahlversprechen Feudalherren in einem blutigen Massaker Sarneys vor. Während der Politiker sich ein schreckliches Ende. o santo feierlich verpflichtet die Armut in der Re- © Tempo Glauber gion zu beenden, wird diese in einfachen, Brasilien ist ein einziger Karneval, und guerreiro sachlichen Bildern dokumentiert. Die Bil- Karneval muss mit der Wurzel der sind parallel mit den Ansprachen des Gouverneurs montiert und zeigen den ausgerottet werden. Antônio das schrecklichen Gegensatz zwischen Rhetorik und Wirklichkeit. Glauber Rocha Mortes www.tempoglauber.com.br In normaler Rede äußern sich im Film Es ist eine Reportage über die Wahlen eines Governeurs (José Sarney) in Maranhão. Großgrundbesitzer, ein korrupter Poli- Regie Glauber Rocha Sie ist sehr wichtig für mich, weil ich mit direktem Ton gefilmt habe. An den Etappen tiker, deren Freunde und Gehilfen und mit Maurício do Valle, , Othon Bastos u.a. einer Wahlkampagne teilnehmen zu können war eine wichtige Erfahrung für Terra der Dorflehrer. Die Ausdrucksmittel der Kamera Alfonso Beato em Transe. anderen sind Tanz, Gesang, Kampf oder Buch Glauber Rocha Glauber Rocha, 1980 eine ekstatische, poetische Sprache. Der Musik , Walter Queiroz, Mächtige scheint diese Ausdrucksmittel Sergio Ricardo Ich habe das Amt des Governeurs in Maranhão übernommen und beging mit Glau- zu fürchten, denn wenn der große Ma- F·BRA·BRD 1969 | 100’ | OmU | 35mm | 1:1,66 | FSK 18 ber Rocha, einem Freund von solchem Format, eine Kühnheit die ich nicht hätte chetenkampf stattfindet zwischen dem begehen dürfen. Ich bat ihn, meine Amtseinführung zu filmen. Glauber schuf einen Cagaceiro und Antônio, der gleichzeitig Dokumentarfilm der vor 15 Jahren in einem Kunstfilmkino gezeigt wurde. Als das ein Tanz ist im Rhythmus der Lieder, ein Publikum sah, dass in einer Kunstfilmvorstellung ein Dokumentarfilm gezeigt wur- Schauspiel mit dem Leben als Einsatz, de, der den Hauch eines Werbefilms haben könnte, reagierte es wie es reagieren dann schreit der Reiche, man solle auf- musste. Aber dann begann der Film und als die zwölf Minuten vorbei waren, erhob hören zu singen. Die Lieder und der Tanz sich das Publikum und applaudierte stehend, nicht zu dem Thema des Dokumentar- tragen die Unterdrückten in einen Rhyth- filmes aber zu der Weise in der ein großer Künstler einen einfachen Dokumentarfilm mus, der ein anderer ist als der ihres in ein Kunstwerk verwandelt hatte: Er filmte nicht meine Amtsübernahme, er filmte armseligen Lebens. Sie versetzen sie in das Elend von Maranhão, die Armut, er filmte die Hoffnungen die in Maranhão gebo- Ekstase, in denen sie Argumenten in der ren wurden, in den Hütten, den Krankenhäusern, den Strassen und über alles legte Sprache der Oppressoren, die die Spra- er meine Stimme, aber nicht die Stimme des Governeurs. Er veränderte den Klang che der Gesetze ist, nicht mehr zugäng- damit meine Stimme in dem Dokumentarfilm klänge, als wäre es die Stimme eines lich sind. Gespenstes über diesen beinahe irrealen Dingen, die das Elend des Staates waren. Frieda Grafe, 1969 José Sarney, 1981 Antônio das Mortes ist die erste Analyse, die ich von meinen früheren Filmen ge- Do 20.11.2011, 17.30 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf macht habe. Es ist ein gereinigtes Resü-

46 Glauber Rocha 47 mee von Barravento, Gott und Teufel im Lande der Sonne und Land in Trance. Der ursprüngliche Titel lautete auf por- tugiesisch O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro, das heißt „Der Drache der Bosheit gegen den heiligen Krieger“. Leider musste ich den Titel ändern. Aber die Legende vom heiligen Georg und dem Drachen ist sehr geläufig in Brasi- lien. Außerdem gibt es einen Bezug zu bestimmten afrikanischen Mythen. Dem heiligen Georg entspricht in der afrika- nischen Religion Oxosse, der Gott der Jagd. Der ganze Film ist eine Diskussion zwischen dem heiligen Krieger und dem Drachen. Antônio das Mortes ist für mich mein ers- tes filmisches Unternehmen. Außerdem geht es um Probleme der Gegend, aus der ich komme. Das hat viel mit meiner Kindheit und meinem Leben zu tun. In Brasilien gibt es alles, was zum Western gehört, und ein Film wie Antônio das Mortes geht in diese Richtung. Ich habe mir vier oder fünf Western ausgesucht, die ich mir immer wieder ange- schaut habe, um einiges herauszubekommen. Ich habe Red River gesehen, El Do- rado und Rio Bravo. Ich habe mir gesagt: Man müsste den Geist, die Gesten wie- derfinden, die bei Hawks in vollkommener Intimität entstehen. Das ist wirklich die anti-expressionistische Epik. Glauber Rocha

Ich glaube, dass eine revolutionäre Haltung in einem revolutionären Ausdruck ih- ren Anfang und ihr Ende haben muss. Ich möchte über das historische Ereignis sprechen, dass die Befreiung der Dritten Welt darstellt. Mein Film soll episch und didaktisch zugleich sein, das heißt mehr historisch als individuell.

Glauber Rocha

Storyboard Antônio das Mortes Mo 21.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

48 Glauber Rocha 49 Von allen Filmen Glauber Rochas, dem zweifellos wichtigsten Regisseur des brasili- In 27 Einstellungen improvisieren drei anischen Cinema Novo, dürfte Câncer der unbekannteste sein; er wird selbst in den Câncer Schauspieler Situationen zum Thema Ge- meisten Filmografien nicht erwähnt. Dabei erfüllt gerade dieser Film die Forderun- walt. Experimentalfilm über strukturelle, Krebs gen von Rochas Kritikern, die seine Arbeiten fast regelmäßig zu indirekt, zu intellek- psychologische, sexuelle und rassisti- tuell und vor allem zu allegorisch fanden. Obwohl Câncer keine durchgehende Sto- sche Gewalt, der zugleich die politische ry erzählt, sondern modellhafte Situationen in loser Verbindung aneinanderreiht, Situation Brasiliens Ende der 1960er Jahre Regie Glauber Rocha ist es, neben Barravento das klarste und vielleicht auch in seiner Leidenschaftlich- spiegelt. mit Odete Lara, Hugo Carvana und keit unmittelbarste Werk des Regisseurs. Antônio Pitanga Hans Günther Pflaum, 1976 Kamera Luiz Câncer ist ein Film, bei dem es keinen Sinn Buch Glauber Rocha hatte, ihn in Farbe oder auf 35mm zu ma- BRA 1972 | 86’ | OmeU | DVD | 1:1,33 | ab 18 chen. Es ist kein kommerzieller Film; ich habe ihn nicht gedreht, um ihn in den Ki- nos zu zeigen. Es ist ein Werk, bei dem ich Das Exil wurde zur Dauerdepression, zum und meine Freunde viel Spaß hatten. Ich Trauma der Erfolglosigkeit umso mehr, beschloss, den Film auf 16mm zu machen. als etwa gleichzeitig ein neuer Boom des Ich rief meine Schauspieler zusammen, brasilianischen Kinos unter einem neuen meine Freunde, und sagte zu ihnen: „Wir liberaleren Militarregime begann. 1976 werden jetzt einen Film machen, ohne fand er eine Moglichkeit der Ruckkehr. Er, große Kosten.“ Jetzt liegt das Material da, der sein Land weniger aus Not denn aus aber es ist nicht fertig, und ich weiß nicht, Protest verlassen hatte, sah in den regie- wann ich es weiterbearbeiten werde. Ich renden Generalen plotzlich eine Hoff- habe den Film gemacht, um zu bewei- © Tempo Glauber nung fur Brasilien, sah in ihnen „die Ver- sen, dass es im Kino nicht nur einen Weg treter des Volkes“ – wie er zum Entsetzen gibt. Ich drehte Câncer einige Tage vor seiner Freunde schrieb. Antônio das Mortes, weil die Dreharbeiten Das Regime empfing ihn trotzdem nicht Di zu diesem Film sich verzögert hatten und mit offenen Armen und winkte nicht mit ich einen Moment lang herumsitzen soll- großen Krediten: Man ahnte wohl, daß da Cavalcanti te. Ich holte zwei Darsteller von Antônio ein Unberechenbarer kam. Er durfte sich das Mortes und wir machten eine Probe Regie Glauber Rocha zunachst an einem Kurzfilm bewahren: Di mit Direktton. Damals sagten einige Leu- Kamera Mário Carneiro, Cavalcanti, weniger ein Portrait des toten te: „Das Weg des Kinos ist der Farbfilm, die Nona­to Estrela Malers Emiliano di Cavalcanti als eine fil- Buch Glauber Rocha große Show“, und andere sagten: „Der mische Eruption Rochas, ein existentieller Musik , Vila-Lobos, Weg des Kinos ist der 16mm-Film, der Un- , Lamartine Babo, Schrei. derground-Film.“ Jorge Bem Peter B. Schumann aus: Handbuch Glauber Rocha Sprecher Glauber Rocha des brasilianischen Films, 1988 © Tempo Glauber BRA 1977 | 18’ | Om.frz.U | 35mm | 1:1,37 | ab 18

So 27.11.2011, 16.45 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf So 27.11.2011, 14 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

50 Glauber Rocha 51 Der Befreiungskampf afrikanischer Völ- bekam, weil er im Restaurant von einer Krise befallen wurde, sich die Brust mit einer Der Leone ker und die damit die grundlegenden Rasierklinge aufschneiden wollte und dabei schrie: „Ich will drehen! Ich will dre- Probleme der sogenannten „Dritten Welt“ hen, weil ich zu viel Energie besitze und ohne eine Kamera vor mir nicht leben kann!“ have sept thematisiert diese Allegorie, in der eine Da gab ich ihm etwa zehn Ohrfeigen und sagte Santi, er solle ihn nach Paris zurück- blonde Europäerin den Kolonialismus schicken. (Ein Regisseur soll die Darsteller immer mit offener Hand ohrfeigen, um Cabeças und ein mythisches Fabeltier die Revolu- die Gesichter nicht zu verletzen). Der Löwe mit den tion verkörpert. Die Afrikaner waren erschrocken, lachten, rannten hin und her und riefen die Poli- zei, denn sie dachten, dass der Film schon angefangen hatte: Niemals war bis da- sieben Köpfen Ich will erklären, warum ich von Brasilien hin ein Film in Brazzaville gedreht worden. Als Léaud sah, dass ich ihn wirklich weg- zum nahen Afrika gereist bin, das in un- schicken wollte wurde er sanft und ich befahl ihm, sich bei allen Angestellten des serer uninformierten Einbildung so weit Hotels Cosmos zu entschuldigen. Regie Glauber Rocha entfernt ist. Von dem Tag an herrschte Frieden in der Gruppe bis zum letzten Tag, als Léaud mit Rada Rassimov, Gabriele Tinti, Ich ging nach Afrika, um einen Film zu erneut seinen Allüren verfiel. Aber da hat niemand mehr darauf geachtet und er, Jean Piere Léaud u.a. drehen, weil ich begriffen hatte, dass die ein genialer Schauspieler, ein goldener Charakter, begriff endlich, dass im Film der Kamera Guido Cosulich Stunde gekommen war, wo die Selbstiso- Dritten Welt kein Platz für Marlon Brando-Komplexe ist. Buch Glauber Rocha, Gianni Amico Musik Baden Powell lierung mancher Filmemacher der Drit- Glauber Rocha I·F 1971 | 103’ | OmU | 35mm | 1:1,66 | FSK 16 ten Welt aufgehoben werden musste. Und der Titel – „Der Löwe mit den Sieben Köp- Der Filmtitel Der Leone have sept Cabeças ist zusammengesetzt aus Sprachbro- fen“: soll einfach heißen: ein gleiches Kino cken der Kolonialmächte, die Afrika unter sich aufgeteilt haben. Er ist darüber hi- und verschiedene Ausdrucksformen, sie- naus, wie vieles in Glauber Rochas neuestem Film, den er selbst als seinen bisher ben, siebzig oder siebenhundert. besten, da politisch eindeutigsten, bezeichnet, eine Anspielung auf die Apokalypse Dieser Film wurde in Brasilien vor drei Jah- des Johannes. Marlène, das „goldene Tier der Gewalt“, erscheint als die große Hure ren geboren, als Theaterstück das ich des Kapitalismus. Sie steht zeitweilig mit jedem in Verbindung – auch mit dem Pre- dem Ze Celso Martinez schenken wollte. diger und dem weißen Revolutionär –, nicht jedoch mit den revoltierenden Schwar- Dann begriff ich, dass ich kein Talent als zen. Glauber Rocha überführt die transzendente Thematik der Apokalypse in die Theatermacher hatte und hörte auf. Das koloniale Situation des vom Spätkapitalismus ausgebeuteten Schwarzafrika. Stück ist verlorengegangen. Erst danach Eine gelungene Darstellung sozialistischer Ideen mit künstlerischen Mitteln ist die- konnte ich mich bruchstückhaft wieder ser neueste in Afrika hergestellte Film des Brasilianers Glauber Rocha. Ohne auf daran erinnern. symbolische und rituelle Stilisierung zu verzichten, nimmt er unmissverständlich Da das Original verschwunden war, habe gegen die Ausbeutung der Dritten Welt Stellung. ich versucht, es neu zu schreiben, aber Evangelischer Filmbeobachter, 1971 es nahm allmählich die Form eines Filmes an und plötzlich merkte ich dass ich an einem Drehbuch schrieb, das in Afrika spielte. [...] Und aus Frankreich kam der wunderba- re Jean-Pierre Léaud der vor Beginn der Dreharbeiten eine Tracht Prügel von mir So 27.11.2011, 14 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

52 Glauber Rocha 53 Ein Exkurs über die Geschichte Brasiliens, Lateinamerikas und auch Europas, dar- A Idade gestellt an fünf Erlöserfiguren, die auf un- terschiedliche Weise gegen „Brams“, die da Terra Inkarnation der Macht, ankämpfen. Das Alter der

A Idade da Terra [...] ist gleichsam ein zu- Erde künftiges Testament, eine Offenbahrung über den revolutionären „Christus der Dritten Welt“, der als viergestaltiger, mul- Regie Glauber Rocha tirassiger Erlöser der Armen und Kämpfer mit Maurício do Valle, Jece Valadão, Antônio Pitanga u.a. gegen die Unterdrücker in Erscheinung Kamera Pedro de Moraes, tritt. A Idade da Terra kann als einer der Roberto Pires unzugänglichsten und seltsamsten Spiel- Buch Glauber Rocha, Castro Alves filme der Filmgeschichte gelten – wenn Musik Rogério Duarte die Bezeichnung „Spielfilm“ für Rochas BRA 1980 | 152’ | OmU | 35mm | 1:2,35 | FSK 0 letztes Werk überhaupt noch Gültigkeit hat. Peter Schulze

A Idade da Terra ist Glauber Rochas „Grosser Gesang“ über Lateinamerika am Beispiel Brasiliens, seinen Legenden und Mythen, seinen Revolutionen und Obsessionen. Er zertrümmert alles Vor- handene auf seiner Suche nach einem Gegenentwurf. Vielleicht war diese ver- zweifelte Suche das einzige, was für ihn Bestand hatte. So chaotisch und ideolo- gisch wirr dieser Strom von Bildern auch scheint, so unverständlich in einzelnen Aspekten, so sehr prägen sich viele Einstellungen ins Gedächtnis ein. Angesichts der übrigen Produktion jener Jahre, dem Wust an Normalität und gebildeten Kunst- gewerbe, wirkt dieses zweieinhalbstündige Alter der Erde wie ein Fels in der Bran- dung: eine einsame Alternative zu allem, was herrscht, exzentrisch, radikal, beses- sen. Sein letzter Film, sein Vermächtnis. Peter B. Schumann

Werberatschlag „Neue Filmkunst Walter Kirchner“ Di 29.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

54 Glauber Rocha 55 Filmographie Glauber Rocha

Drehbuch Regie 1967 Garota de Ipanema (Regie: Leon Hirszman) 1959 Pátio (Kurzfilm) 1973 O Nascimento dos Deuses (unverfilmt) 1959 A Cruz na Praça (Kurzfilm, unvollendet) 1962 Barravento / Sturm 1964 Deus e o Diabo na Terra do Sol / Gott und Teufel im Land der Sonne Schnitt 1965 Amazonas, Amazonas (Kurzfilm) 1961 A Grande Feira (Regie: Roberto Pires) 1966 Maranhão 66 (Kurzfilm) 1967 Terra em Transe / Land in Trance 1968 1968 (Kurzfilm, stumm, mit Afonso Beato) Darsteller 1969 O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro / Antônio das Mortes 1961 A Grande Feira (Regie: Roberto Pires) 1970 Der Leone Have Sept Cabeças 1965 Simón del Desierto / Simon in der Wüste (Regie: Luis Buñuel) 1970 Cabezas Cortadas / Abgeschlagene Köpfe 1970 Le vent d‘est / Ostwind (Regie: Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin, 1970 Letícia e Mossa em Marrocos (Kurzfilm) Gérard Martin [Groupe Dziga Vertov]) 1972 Câncer 1971 O Rei dos Milagres (Regie: Joel Barcellos) 1972 Paloma, Paloma ou Super Paloma (Kurzfilm) 1973 História do Brasil 1974 Viagem com Juliet Berto (Kurzfilm) 1975 Claro (mit Juliet Berto) 1975 As Armas e o Povo (mit den Trabalhadores da Atividade Cinematográfica de Portugal (Workers of the Cinematografic Activity of Portugal) 1977 Riverão Sussuarana (unvollendet) 1977 Jorjamado no Cinema (TV) 1977 Di Cavalcanti (Kurzfilm) 1979 no Cinema 1980 A Idade da Terra / Das Alter der Erde

56 Filmographie 57 Im Jahr 1981 lebten wir, meine Kinder, Rocha Encore mein Partner Glauber und ich im portu- giesischen Sintra. 25 Jahre später kehrte ich in diese Stadt zurück um den Film Diáro de Sintra zu dre- Diário de hen; eine Suche nach einem liebevollen, poetischen Dialog zwischen Sintra und Sintra mir, der durch Erinnerungen und den Film entstehen sollte. Mein Blick verdichtete Sintra Tagebuch sich durch alles, was ich sah – die Land- schaften, die Menschen und die Freunde, die ich des Weges traf. Regie Paula Gaitán Kamera Pedro Urano Es ist ein filmisches Reisetagebuch, das Buch Gaitán Musik: Edson Secco vergangene und gegenwärtige Notizen BRA 2009 | 90’ | OmeU | DV Cam | 1:1,85 | umfasst. Eine Wiederentdeckung dieses ab 18 geographischen Raumes, eine Topogra- phie der Erinnerung. Ich lade die Zuschauer ein, mit mir die- sen Weg zu gehen. Ein Spaziergang durch ein Labyrinth der Bilder. Eryk Rocha mit seiner Schwester Ava und zwei anderen Kindern 1981 in Sintra, Portugal, © Paula Gaitán Paula Gaitán, 2010

Paula, Sintra ist ein schöner Ort zu sterben. gestern sah ich Deinen wunderschönen Film und musste Glauber Rocha, 1981 die ganze Nacht über ihn nachdenken. Du hast Fragmente, Spuren und Risse zusammengefügt und mit Hilfe deiner Erinnerungsfetzen ein malerisches Gedicht daraus gemacht – intensiv und voller Liebe. Außerdem hat der Film meine Sehnsucht nach dem Kämp- fer und Dichter Glauber Rocha in mir wieder erweckt. Dein Film hat mich sofort erobert und vor meinem geistigen Auge hat sich die Kraft eines notwendigen und sehr per- sönlichen Kinos ausgebreitet. Schließlich resümierte ich alle die Ruinen und Fragmente der Bilder und Landschaften des Films, träumte von Epi- phanien und war glücklich. Vielen Dank. Di 29.11.2011, 20 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf in einer Email an Paula Gaitán, 2010

58 Rocha Encore 59 Zuletzt sahen wir ihn [Glauber Rocha] im Le vent Ostwind stehen, an einem Scheideweg, Improvisiert und er bedeutete uns mit einigem Pa- d‘est thos, daß es einen gemeinsamen Weg und ziel- Ostwind für ihn und uns nicht geben könne; fast wies er sogar Sympathien für seine Ar- bewusst beit und seine Ziele (pauschaler: für die Befreiungsbewegung der Dritten Welt) als Regie Groupe Dziga Vertov eine Art von linkem Neo-Neokolonialis- Regie Joaquim Pedro de Andrade (Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin, mit Glauber Rocha, Paulo Autran, Gérard Martin) mus zurück. Als hätten wir ihn je belehren Joel Barcellos, Luiz Carlos Barreto u.a. mit Gian Maria Volonté, wollen; oder als wüssten wir nicht, daß Kamera Hans Bantel Anne Wiazemsky, Glauber Rocha, der Sozialismus trotz allem in der Dritten Buch Joaquim Pedro de Andrade, Götz George, Daniel Cohn-Bendit u.a. Welt größere Chancen hat als in der Ers- Maurício Gomes Leite Kamera Mario Vulpiani Musik Baden Powell, Buch Jean-Luc Godard, Daniel Cohn- ten – allerdings wurde aus seiner Rede Bendit, Sergio Bazzini nicht deutlich, ob er eher Godard oder BRD 1967 | 30’ | DF/OmU | DVD | 4:3 (TV) F·I·BRD 1970 | 92’ | OF, deutsch ein- eher Debray oder wen sonst oder Europa gesprochen | 16mm | 1:1,37 | ab 18 schlechthin meinte. Klar wurde: er werde sich von uns Europäern niemals verein- Der von Joaquim Pedro de Andrade und K. M. Eckstein im Auftrag des ZDF produ- nahmen lassen. zierte Dokumentarfilm verdeutlicht das wachsende Interesse Europas an den Ent- Urs Jenny, 1971 wicklungen des neuen brasilianischen Films – des Cinema Novo. Andrade begleitet seine brasilianischen Kollegen Vinicius de Moraes, Maria Bethânia, Paulo César Sa- raceni, Isabel Ribeiro, Leon Hirszman, Glauber Rocha, Paulo José, Ana Maria Ma- galhães, Domingos de Oliveira und Zelito Viana am Filmset und ermöglichte dem deutschen Zuschauer die unmittelbare Teilnahme an der Entstehung großer Filme der Zeit wie El Justicero und Terra em Transe. (Das Verlangen nach Form – O Desejo da Forma, Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin 2010

Di 26.11.2011, 15 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf Di 27.11.2011, 16 Uhr Black Box – Kino im Filmmuseum Düsseldorf

60 Rocha Eryk RochaEncore 61 Es war ja nie ein Missverständnis an der Schreibfe- der, an der Stimme, an der Bewegung paranoider Meister und fatalistischer Sklaven.

Der aus diesem Zusammenprall entstandene Materialismus vernichtete idealistische Frauen.

Ich habe gelernt, Straßen im Sertão zu errichten

Ich glaube an steinsprengende Bomben.

Der Glaube an die Methode, wenn man den Zweck kennt.

Schwierigkeiten gegenüber den offiziell- illusorischen Metaphern.

Wahrheit oder nur Bild der Heimat.

Afrika noch ärmer als Brasilien.

Wo denn die revolutionäre Handlung noch?

Hollywood, blonde Frau, Rassismus.

Nackte europäische Brutalität.

“Der Löwe mit den sieben Köpfen” ist ein Manifest gegen die Kolonialisierung. Gedicht Glauber Rochas anlässlich des Films Der Leone have sept Cabeças Die Ästhetik der Gewalt ohne Mitleid mit dem Feind.

Ich will keine Koketterie an der Gitarre.

Mein Herz weint nicht.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Mário Vítor de Oliveira Diniz

62 63 Impressum Dank an Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V., Berlin Veranstalter & Herausgeber Kinemathek Le Bon Film, Basel · Schweiz Filmmuseum der Landeshauptstadt Werkstattkino, München Düsseldorf Trigon-Film, Ennetbaden · Schweiz Schulstraße 4 Sara Rocha – Tempo Glauber, 40213 Düsseldorf Rio de Janeiro · Brasilien Telefon: 0211 | 89-92232 Botschafter Cézar Amaral – Generalkonsul Fax: 0211 | 89-93768 von Brasilien in Frankfurt a.M. [email protected] Danilo Zimbres – Vizekonsul von Brasilien in www.duesseldorf.de/filmmuseum Frankfurt a.M. Carlos Frederico Graf Schaffgotsch – Filmforum – Freundeskreis des Filmmuseums Brasilianisches Kulturzentrum, Frankfurt a.M. Schulstr. 4 Martin Schlesinger, Oliver Fahle – Ruhr- 40213 Düsseldorf Universität Bochum [email protected] Peter Schulze – Johannes Gutenberg- Universität Mainz in Kooperation mit dem Peter B. Schumann Generalkonsulat von Brasilien in Ute Mader – Kommunales Kino Leverkusen Frankfurt a.M. Gabriel Amorim Mário Vítor de Oliveira Diniz Konzept, Kuration, Realisation Paula Gaitán Alessandra Röpke, Florian Deterding Maria Helena Machado Jaguar und Célia Pierantoni Redaktion Filmclub 813 – Kino in der BRÜCKE, Köln Florian Deterding, Alessandra Röpke Joachim Manzin – Freundeskreis des Filmmuseums Düsseldorf Organisation Kinotour Florian Deterding, Alessandra Röpke Mit freundlicher Unterstützung von TAP Portugal Mitarbeit Iramaia Messe Service GmbH Gueia Salles Ackermann Cococana – Brasilianische Mode in Europa Katharina Oesterreicher Margret Schild

Verantwortlich Bernd Desinger

Foto-Nachweis Filmmuseum Düsseldorf, Tempo Glauber, Trigon-Film

Gestaltung Carmen Strzelecki, Köln

64