JOHANNISTREFFEN 2017 GUNSBACH,

HELENE SCHWEITZER BRESSLAU (1879 – 1957)

Texte

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 2/76

Programm

Da es keinen Gottesdienst gibt, hat sich eine Änderung ergeben.

Freitag 09.06.2017

18.00 Uhr Eintreffen – Zimmerbezug

18.30 Uhr Erste Vorstellungsrunde und Apéro (Keller)

19.15 Uhr Abendessen (vegetarisch)

20.30 Uhr Zweite Vorstellungsrunde und Einstiegsreferat Helene Schweitzer Bresslau – ein eigenes Leben. Eine feministisch-kritische Darstellung (Esther Suter, Basel)

Anschliessend offenes Gespräch

Samstag 10.06.2017

08.30 Uhr Frühstück

09.15 Uhr «Denn wir sind beide Ketzer... » Spekulationen zu Brieffragmenten aus der Zeit vor Lambaréné (1902 – 1912) (Rudy Van Kerckhove, Gossau)

10.30 Uhr Pause

11.00 Uhr Die Familie Bresslau als Beispiel von einem Liberal-jüdischen und assimiliert- jüdischen Schicksal. (Rudy Van Kerckhove, Gossau)

12.00 Uhr Mittagessen (vegetarisch) Mittagspause

14.30 Uhr Wanderung zum Albert-Schweitzer-Denkmal (Kanzrain)

15.00 Uhr Begehung und Begegnung im «Maison Schweitzer» Es besteht die Möglichkeit Bücher zu kaufen, sich über die Projekte, die anstehen, zu informieren (Jenny Litzelmann)

16.00 Uhr Pause 17.00 Uhr «Zur Judenfrage» Sendschreiben an Herrn Prof. von Harry Bresslau. Harry Bresslau nahm Stellung zum Antisemitismusstreit in (1875)

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18.30 Uhr Evt. Anmerkungen, Wünsche für 2018.

19.15 Uhr Abendessen

Fakultativ: 20.30 Uhr Lesung aus «Der Jude mit dem Hakenkreuz» (Rudy Van Kerckhove)

Sonntag 11.06.2017

08.30 Uhr Frühstück und

09.30 Uhr Ende des diesjährigen Treffens. Da es an diesem Sonntag keinen Gottesdienst gibt, fällt dieser aus und endet das Johannistreffen 2017 mit dem Frühstück. Wer ein bestimmtes Thema in 2018 behandelt haben möchte, kann das während des Treffens mitteilen oder spätestens beim Frühstück mitteilen. Tipp:

11.06.2017 Unitarier Basel (Englisch!)

Für die Interessierten besteht die Möglichkeit an diesem Sonntag in Basel bei den Unitariern einen prominenten Vertreter der liberalen religiösen Bewegung in den USA kennen zu lernen: Paul Rasor.

Der Gottesdienst der unitarischen Gemeinde findet im Gemeindesaal der Leonhardskirche, Basel, statt. Anfang ist 11.00 Uhr. Es sollte also theore-tisch möglich sein, mit Abfahrt um 09.30 Uhr, rechtzeitig für diesen Got-tesdienst (Englischsprachig) in Basel zu sein.

Publikationen:

2005: «Faith without Certainty, liberal theology in the 21th Century» 2012: «Reclaiming Prophetic Witness, Liberal religion in the Public Square»

Ort: Lohnhof 8, Basel Vom Bahnhof Basel: Tram 8 (Richtung Weill am Rhein), 11 (Richtung St. Louis) oder 3 (Richtung Burgfelden) Aussteigen am Barfüsserplatz. Dann zu Fuss zum Lohnhof (bei der Leonhardskirche).

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Vorschläge 2018:

1. : vom liberalen Theologen zum Freidenker? WENN SIE INTERESSIERT SIND, MELDEN SIE SICH BITTE BEI MIR: [email protected] Ich kann Ihnen dann auch mitteilen, welche Bedingungen für die Teilnahme zu erfüllen sind und welche Unterkunftsmöglichkeiten geboten werden.

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JOHANNISTREFFEN 2017 HELENE SCHWEITZER BRESSLAU – EIN EIGENES LEBEN EINE FEMINISTISCH-KRITISCHE DARSTELLUNG Esther Suter, Basel

Zwei Biografien liegen vor für dieses Johannistreffen. Eine ausführliche, auf deutsch 1998 erschienene von Verena Mühlstein: Helene Schweitzer Bresslau: ein Leben für Lambarene, die nicht ins Englische übersetzt wurde und über die wir morgen etwas erfahren.

Diejenige die ich vorstelle, kam im 2014 auf englisch heraus mit dem Titel „Helene Schweitzer Bresslau. A Life of Her Own“, von Patti M. Marxsen. Sie hat einen feministischen Blickwinkel, geht mehr analytisch vor im Stile heutiger feministischer Genderkritik. Das ist zwar nicht ganz neu, jedoch etwas gewöhnungsbedürftig sowohl sprachlich wie auch vom Zugang. Schon seit ein paar Jahren wird versucht mit einem solchen Ansatz die unsichtbaren Missionarsfrauen der letzten 200 Jahre sichtbar zu machen, die meist nicht erwähnt werden, oder dann ohne eigenen Vornamen einfach als Madame Jean Muller, womit angezeigt wurde, dass der ausgesandte Missionar verheiratet war. Heute findet eine in der Forschung eine Aufarbeitung statt (Putting Names with Faces) und es zeigt sich, die Missionarsgattinnen führten nicht nur ihr eigenes Leben, sondern wirkten auf vielfältige Weise in der Mission, was jetzt langsam herausgeschält wird. Doch hier lässt sich Helene Schweitzer Bresslau nicht einreihen, denn sie war keine Missionarsfrau. Vergleichbar ist jedoch, wie wenig sie erwähnt wird, auch namentlich und dass die Forschung ein neues Feld beackert damit.

Die Autorin Patti Marxsen erklärt, weshalb sie es notwendig fand, dass nochmals eine Biografie und explizit auf englisch erscheint. Albert Schweitzer hat seine Frau kaum erwähnt in seinen eigenen Schriften, stellt sie fest, oder wenn, dann als „meine Frau“ und nie namentlich. Das sei ein Hauptgrund für ihre Darstellung von Helene Schweitzer Bresslau, erklärt sie im Vorwort.

Im ersten Buch von Schweitzer über das Leben in Afrika „Zwischen Wasser und Urwald. Erfahrungen eines Arztes in Äquatorial-Afrika“ (1921) gibt es wenige Fakten, Wissenswertes und nur einen verhüllten Bezug auf Helene als „meine vertrauteste Freundin“, die vor allen andern schon wusste, dass er ein medizinischer Missionar werden wollte. Helene kommt kaum vor in seiner meistverkauften Autobiografie „Aus meinem Leben und Denken“, 1931.-

Wir erfahren von Helene durch Zeitschriften, eine begrenzte Anzahl Briefe und ein paar wenige veröffentlichte Artikel. Aber es gibt kein eigenes Archiv, wo ihre Papiere aufbewahrt werden. Sie sind verstreut in mehreren Ländern wie Frankreich, Gabon, Deutschland, der Schweiz und den USA und beziehen sich jeweils auf Albert Schweitzer.

Seit dem Erscheinen von Mühlsteins Buch sind neue Quellen erschlossen worden. Marxsen entdeckte zusätzlich Schriften von Helene Schweitzer Bresslau in einer Sammlung von Antje Lemke Bultmann in Bezug auf Albert Schweitzer im „Special Research Center of Syracuse University Libraries“, die erst ab 2010 zum Studium frei gegeben wurden. So kamen Papiere zum Vorschein, die Bezug nehmen auf Helene‘s frühe Arbeit in Strassburg, ihre US Dia-Vorlesungen zum Projekt Spital in Lambare von 1937-38.

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Schriften aus den Tagebüchern und Journals von 1893-1951, umfassen eine Zeit von über 50 Jahren.

Was hat Helene Schweitzer Bresslau genau gemacht? Wieso ist das wichtig für uns heute?

Patti Marxsen verwendet in ihrem Buch Kriterien für andere Ansätze als einer reinen Biografie. Ihre Methode ist: Auslassungen aufspüren und in Frage stellen. Es ist ihr wichtig, zwischen den Zeilen zu lesen. Interpretationen sind nötig, kritische Fragen müssen gestellt werden, um die Wahrheit zu erspüren.

Ich möchte einsteigen mit Worten von Helene Schweitzer Bresslau selbst und zwar mit ihrer eigenen Lebensdarstellung als Lebenslauf, wie sie es 3 Jahre vor ihrem Tod, 1954, beschrieb. Eine Seite Lebenslauf, aus der Marxsen ein paar Stellen herausgegriffen hat und sich die Frage stellte, was hat Helene erwähnt und was hat sie ausgelassen. Hören wir also: „In Berlin geboren, kam ich mit 11 Jahren ins Elsass, da mein Vater an die Universität von Strassburg berufen wurde im 1890“.

Marxsen stellt fest, wie bewusst es Helene Bresslau war, dass es eine bereichernde Gelegenheit war in zwei Kulturen, der deutschen und französischen, aufzuwachsen… dann kommt Helene auf das Thema der Frauenemanzipation zu sprechen:

„Meine Jugend fiel in die Zeit der Frauenbewegung, was an der Universität von Strassburg zur Zulassung von Frauen an die Vorlesungen führte, wenn die Professoren zustimmten, dass unser Lehrerexamen gültig war für die Zulassung“.

Daher war es „Fräulein Bresslau“ möglich, einige Semester der universitären Kurse in Geschichte und vor allem Kunstgeschichte zu studieren. Aber das akademische Leben war nicht ihr Schicksal.

„Die Vorsehung brachte mich in Kontakt mit der neu geschaffenen Sozialarbeit in der Stadtverwaltung von Strassburg. Ich konnte während vier Jahren aktiv wirken als städtische Waiseninspektorin in Strassburg. In dieser Zeit war es mir möglich, die Gründung eines Mütterheims zu verwirklichen“.

Natürlich hatte dieser Akt der Vorsehung eine Menge zu tun mit ihren beträchtlichen Fähigkeiten, wenn sie zum Beispiel auf ihre medizinische Ausbildung anspielte:

„Als im Elsass das Staatsexamen für Krankenpflege eingerichtet wurde, griff ich Krankenpflege wieder auf, um mehr darüber zu lernen. Dann wurde ich Schülerin im Frankfurter Seminar der evangelischen Diakonissen-Vereinigung… wo ich meine Ausbildung ergänzte und das Examen bestand“.

Sie erwähnt in ihrer Darstellung nichts von ihren jugendlichen Reisen durch Europa, nichts über die Geburt von Rhena, oder über Grosskinder. Ähnlich steht es auch mit der Nichterwähnung der jüdischen Wurzeln, oder die Internierung während des ersten Weltkriegs oder den Verlust von Freunden und Familie vor und während dem Zweiten Weltkrieg. Die Darstellung enthält einen Abschnitt über das Spital in Lambarene und einen Schlusssatz: „Gegen Ende dieses Jahres haben mein Mann und ich vor, dorthin zurückzukehren.

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Was will sie aussagen? Will sie ein gängiges Bild der Frau korrigieren? Sie verfasste diesen Text mit 75 Jahren und wollte darin die wichtigen Etappen in ihrem Leben angeben. Vielleicht war sie es müde, von andern als eine fragile Aufgabe wahrgenommen zu werden oder als eine mütterliche Präsenz, so wie sie in Erica Anderson’s preisgekrönten Dokument „Albert Schweitzer“ erscheint, das in der ersten Hälfte der 50er Jahre in Europa, Afrika und unterwegs nach Afrika gefilmt wurde. Dieses Dokument zeigt Helene eher beiläufig als eine die lächelt und aus einem Fenster in Günsbach winkt und ihre Grosskindern auf einer Bank unterhalb eines Baumes liebkost. Das Skript für den Film hatte Albert Schweitzer verfasst und in der deutschen Version des Films gelesen. Es erwähnt Helenes Namen einmal als ein Faktum seines eigenen Lebens, da sie die Frau war, die er geheiratet hatte. Weder die deutsche noch die US-amerikanische Version enthält ein Bild von Helene in Afrika oder irgend eine Art Kommentar über ihre Rolle als fähige Krankenschwester oder als Mitbegründerin des Schweitzer Spitals.

Marxsen stellt die Frage, ob Helene einverstanden war damit, unsichtbar zu sein in diesem bedeutenden Film. Wenn ja, hätte es ihren eigenen Nachkriegs-Aktivitäten widersprochen, die mit ihrer sorgfältigen Triage von Papieren beginnen, um der Nachwelt ein genaues Verständnis über ihre Rolle zu geben. Es hätte auch dem Geist ihrer Bemerkungen widersprochen, die im 1949 in der NYT zitiert wurden und noch mehr in ihrem soeben angeführten Lebenslauf von 1954, in dem sie festhält: „Nach meiner Heirat mit Dr. Albert Schweitzer reisten wir im 1913 nach Lambarene, einer Missionsstation in Äquatorialafrika, weil wir von Missionaren gehört hatten, dass dort ein dringender Bedarf nach einem Arzt bestand. Wie wir unser Spital bauten und dort arbeiteten, hat mein Mann in seinem Buch „Zwischen Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwald Äquatorialafrikas, 1921, beschrieben“. Während all dieser Zeit brauchte Helene immer die erste Person Plural –wir- und bezog es auf die geleistete Arbeit in Afrika. Auch als ihre Fähigkeit, physisch beizutragen abnahm, behielt sie das Verständnis von gemeinsamem Eigentum und einen Wunsch nach Sichtbarkeit in der langen Geschichte von Lambarene bei. Im 1954 fand Helenes letztes internationales Auftreten statt als „Madame Schweitzer“ an Alberts eher angespannten Nobelpreiszeremonie in Oslo, wo auch Sitzplätze reserviert waren für Emmy Martin und Erica Anderson.

Schon sehr früh begannen in Lambarene Frauen mitzuwirken in der Arbeit, die zuerst Helene Schweitzer Bresslau alleine ausführte. Marxsen spricht von einer Feminisierung des Spitals, von hohem Frauenanteil. Helene hatte sich sogar 1930 dafür ausgesprochen aus Realität und Notwendigkeit. So wie sie schon früher dieser Ansicht war, gegenüber den älteren Freundinnen, mit denen der junge Albert Umgang hatte. Alle diese Frauen in Lambarene, vor allem jene die lange dort arbeiteten, waren Persönlichkeiten.

Spannungen kamen (zwar) auf, vor allem in der ersten Hälfte der 50er Jahre, als Helenes Herzprobleme anfingen, die sich im täglichen Leben auswirkten. Das liess bei ihr selbst Gefühle von Hilflosigkeit und Irritation aufkommen. Irritation auch, wenn sie als ältere Lady von jüngeren Frauen begrüsst wurde, in einer Art von Mitleid gegenüber ihrer Befindlichkeit oder mit Ungeduld , wenn sie auf der Veranda sass, eher in sich gekehrt und alleine. Während die Arbeitslast der jüngeren Frauen ihre Ungeduld gegenüber der älteren Dame hochkommen liess. Hatte sie ein Problem, ihre eigene Hilflosigkeit zuzulassen? Unabhängig und nützlich sein waren Helenes Wunsch. War sie später im Alter isoliert? Oder gehörte sie einem Milieu an, das nicht mehr in die Zeit passte?

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Da war auch die stolze Natur von Emmy Martin und ihre sichere Position in Günsbach, wo sie komfortable Lebensbedingungen im Maison Schweitzer genoss. Das war eine unangenehme Tatsache im Leben von Helene und mit der Zeit eine Quelle von Traurigkeit und Entfremdung. Sie hatte sich im Dorf von Alberts Jugendzeit nie wirklich zuhause gefühlt. Friderike Zweig - Stefan Zweigs Frau, schrieb „Emmy Martin war die grösste Unterstützung von Albert Schweitzer über mehr als vierzig Jahre“.

Daneben gibt es jedoch auch eine Einschätzung von Sonja Müller, die spätere Sonja Müller Poteau, die schrieb: „sie (Helene)… war isoliert und sie (die andern Frauen)… konnten mit ihrem Mann zusammenarbeiten, das muss für sie sehr schwierig gewesen sein, einer Frau, die so brilliant ist… das Spital mitbegründet hat.. die auf so vielen Ebenen in der heroischen Zeitperiode gearbeitet hat“. An der 100 Jahrfeier des Spitals äusserte Poteau: „Er (Schweitzer) hätte es nicht ohne sie verwirklichen können“.

Schweitzer war geneigt mit zunehmendem Alter ungeduldig und auch unvorhergesehen emotional zu werden. Eine Tatsache dafür waren die engen Lebensbedingungen und die nie endende Arbeit des Spitallebens in einem schwierigen Klima, so ist es nicht erstaunlich, dass im letzten Tagebuch von Helene mehr Gefühle von Frustration auftauchen als in früheren Aufzeichnungen ihres Lebens.

Wer war Helene Schweitzer Bresslau? Helene Bresslau wurde am 25.1.1879 in Berlin geboren als zweites Kind und einzige Tochter von Harry und Caroline Bresslau-Isay, hinein in eine warme und behütete Familie, in ein intellektuelles kulturell jüdisches Milieu. Ihr Vater war Privatdozent in Berlin und erhielt einen Ruf als ordentlicher Professor für Geschichte an die Kaiser Wilhelm Universität nach Strassburg. Im antisemitischen Berlin war seine Karriere in Gefahr. Bresslau hatte in einer öffentlichen Debatte mit dem ausgesprochen antisemitischen Historiker Heinrich von Treitschke (also um 1880, nach der Geburt von Helene) eine oppositionelle Rolle eingenommen. In der von Deutschland im 1871 eroberten Region Elsass-Lothringen hatte Bresslau die Chance für einen Aufstieg. Helene wurde mit ihren zwei Brüdern im 1886 von einem lutherischen Pfarrer getauft. 1904 wurde Bresslau Kanzler der Universität Strassburg, eine seltene Leistung für einen Juden zu jener Zeit. Helene besuchte eine private Mädchenschule und erzielte hervorragende Leistungen. Sie erwarb das Lehrerpatent als Lehrerin für höhere Mädchenschulen in einem statt in zwei Jahren im 1896. Mit 20 studierte sie Klavier und Gesang am Strassburger Konservatorium und übte mit ihrer schönen Stimme im Chor St Guillaume. Sie lernte schnell Fremdsprachen. Bald wurde sie mit Albert Schweitzer bekannt und wirkte inspirierend auf ihn ein mit ihrem Weltverständnis, ihren Idealen und Vorstellungen einer modernen Frau zu einer Zeit, als es kaum Rollenvorbilder gab für Frauen. „Die Unabhängigkeit, die sie immer noch verwirrend anstrebte, musste erst noch erfunden werden“ schrieb Jean Paul Sorg. Sie tat es, nicht ohne Schwierigkeiten. Schon früh sprach sie fliessend Englisch, war 1902 ein Semester in England und unterrichtete Musik, Französisch und Englisch an einer Mädchenschule in Brighton. Für Albert Schweitzer waren ihre Englischkenntnisse eine Hilfe für das gesellschaftliche Wirken.

Die Biografie von Marxsen ist keine aufbereitete Ausgabe von Mühlsteins Biografie. Die Autorin wollte tiefer kritische Zeiten in Helene Schweitzer Bresslaus Leben im 20. Jahrhundert sichten, anstelle einer traditionellen „von der Wiege-bis-zum-Tod-Biografie“. Als us-amerikanische Feministin versteht Marxsen Helene Schweitzer Bresslau als unabhängige Frau in dauernder Bewegung, und nicht als eine sich aufopfernde oder

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 9/76 tragische Figur, trotz ihres lebenslangen Kampfes mit Tuberkulose. Sie nähert sich Helene Schweitzer Bresslau auch einfach als einem Menschen, keiner Heiligen oder Heldin oder Genie, trotz ihrer Bewunderung für ihre enormen Leistungen. Somit kann sie auch Albert Schweitzers patriarchale Ansichten befragen in einer Welt, die oft durch eigennützige Sprache Gewohnheiten und Auslassungen weitertragen in Bezug auf Helene Schweitzer Bresslaus öffentliches Ansehen. Eine frische Sicht wird eröffnet für die komplexe Identität von Helene Schweitzer Bresslau als einer emanzipierten Frau, die ihr ganzes Leben lang darum kämpfte, als Individuum verstanden zu werden.

Sicher ist da auch Neugierde, wie sich die beiden kennen gelernt haben. Helene, die mit 30 geheiratet und mit 40 das erste und einzige Kind geboren hat.

Sie traf Albert zum erstenmal „zufällig“ im 1898, als sie 19 war, an der Hochzeit von Lina Haas und Willibald Conrad. Linas und Alberts Väter kannten sich seit Jahren und sowohl Helene wie ihr Bruder Ernst waren Freunde der Braut. Im Haus der Bresslau schien es die perfekte Gelegenheit zu sein, die eigene Tochter der besten Strassburger Gesellschaft vorzustellen: Die Gemeinschaft der deutschen Geburt, die jetzt die aktive Führungselite der Stadt Strassburg ausmachte für die ambitiöse Erweiterung der Stadt, sowie auch der erfolgreichsten Professoren und verheissungsvollen Studenten von der Universität. So war Albert mit Jahrgang 1875 ein Deutscher. An dieser Hochzeit lebten sie in einer aufblühenden Zeit. Am Tisch wurde die Anordnung bewusst so gesetzt, dass Helene neben Albert zu sitzen kam, den 23jährigen, der wohl bekannt war für seine Orgeldarbietungen in der Kirche St. Guillaume, wo Helene im Chor sang, wie auch für seine Predigten in der Kirche St Nicolas und seinem kürzlichen Erfolg im Staatsexamen in Theologie. Er war nett, charmant und sprühte vor Intelligenz, stand aber entschieden ausserhalb der sozialen Elite-Kreise, welche diese Hochzeit darstellte.

Drei Jahre später gründet Helene zusammen mit zwei Freundinnen einen Veloclub. Auf ihren Vorschlag wurde Albert dazu eingeladen. Im 1902 unternimmt sie mit Albert eine Velotour dem Rhein entlang. An einem bestimmten Ort, den sie nie bekannt geben und ihr Leben lang erinnern werden, schliessen die beiden einen Bund der immerwährenden Freundschaft. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts schrieben sich Albert und Helene mehrmals pro Woche, eine Korrespondenz, die jetzt 3 Bände füllt und durch den Schweitzer Schüler Jean- Paul Sorg weitgehend ins Französische übersetzt wurde. Die Einführung zum letzten Band macht klar, dass das ganze Jahrzehnt hindurch Schweitzers Persönlichkeit die Begleitung von Frauen anzog, die ebenso intelligent wie unabhängig waren. Das ist insofern vielsagend, als Schweitzer seine Strategie Helene Bresslau im 1903 mit den Worten erklärte „Solange wenige Frauen mit einem edlen Geist mich mit ihrer aufrechten Sympathie begleiten, kann ich meinen Weg alleine gehen“. Edouard Nies-Berger beschrieb etwa 50 Jahre später: Er wusste sehr gut, dass er seinen „Ehrfurcht vor dem Leben“ Traum nie erreichen würde ohne die Frauen, die ihre Leben für sein Anliegen widmeten.

Entgegen dem Gemeinplatz von Ansichten, dass Schweitzer die Werte und Prinzipien seiner „treusten Freundin“ formte, bestätigen die Fakten über Helenes frühere Lebenszeit vor 1909-10; dass sie in sein Leben trat mit einer tiefen Wahrnehmung für die sozialen Bedürfnisse und mit eigenen Ambitionen, in der Welt etwas zu verändern. Teil der Anziehung zu dem Mann, den sie „Bery“ nannte, schloss sicherlich ihre Einsicht ein, dass sie mit ihm eine Rolle spielen kann, die sie genaustens auszufüllen wusste. Mühlstein schreibt: „Helene Schweitzer Bresslau war sich immer über ihre Bedeutung klar. Sie wusste um ihren starken Einfluss auf Schweitzer und welch bedeutende Rolle sie in seiner Arbeit einnahm.

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James Brabazon schrieb: „Helenes soziales Bewusstsein war etwa so entwickelt und hoch ausgebildet wie Schweitzers, zusätzlich hatte sie Enthusiasmus, Wirksamkeit-efficiency, und eine feine Verachtung gegenüber sozialen Konventionen… dieser letzte wesentliche Zug erlaubte ihr, mit Schweitzer zurecht zu kommen mit seinem Insistieren auf einer Partnerschaft ohne Heirat, obwohl sie ursprünglich diese Vorstellung als einen Schock erfuhr.

Sie schlossen 1902 am Rhein einen Pakt der Freundschaft, von dessen Inhalt niemand anders etwas erfuhr. Bald danach schrieb sie nach seiner Klarstellung: „Ich gewann neue Einsichten“… Als moderne junge Frau in einem Kreis von jungen wohlhabenden Deutschen und volljährig geworden in einem germanisierten Strassburg war Helene offen für neue Ideen und Aktivitäten. Sie ging nachts alleine aus, um in einem Chor zu singen; mit ihrer Freundin Elly Kapp organisierte sie einen Velo-Club. Ihre Einladung an Schweitzer, diesem Club beizutreten, führte ihn in ihre Elite-Gesellschaft ein, obwohl er sich immer als Sohn eines Dorfpfarrers verstand. Sie war sogar bereit, die Missbilligung ihrer Eltern hinzunehmen, als sie für ihre Arbeit in Strassburg ein wöchentliches Salär bezog, als sie anfing als städtische Waiseninspektorin zu arbeiten im 1905.

Mit der Zeit jedoch wurde Helene Alberts meist geschätzte Freundin, wie auch zuverlässigste Herausgeberin, Forschungsassistentin und Korrektorin seiner Buchmanuskripte. Es begann mit seiner Einladung, ihm mit dem Index der deutschen Ausgabe von „Johann Sebastian Bach“ im 1904 zu helfen. Sie schrieb ausführliche Forschungsnotizen und erstellte Verzeichnisse für die „Leben Jesu Forschung“, unter anderem weil ihr Deutsch besser ausgebildet war im Vergleich zu ihm. Schweitzer war in einem Dorf gross geworden in einer bäuerlichen Familie und besser vertraut mit Elsässisch als mit Hochdeutsch. Helene Bresslau war als Professorentochter Mitglied einer kultivierten Strassburger Gemeinschaft, die sich die „Altdeutschen“ nannte, was die echten Deutschen meinte. Sie wird ihm gelegentlich sogar Ratschläge geben, wie er sich verhalten soll, um seine Bücher zu vermarkten. Wenn Mühlstein Helene Bresslau als grosse Individualistin bezeichnet, so erklärt Marxsen, dass Helene einer Welt des Reisens, des Exils, Vertriebenseins und der Trennung angehörte als Teil eines liberalen und sozialen Milieus. Als junge Frau war Helene 6 Monate in Italien1899; 3 Monate in England, 10 Monate in Deutschland und vier Monate als Rekonvaleszentin im Schwarzwald, wo sie sich von Tuberkulose und der Anstrengung der Krankenpflegeausbildung erholte (1910-11). Später war sie in der Nähe des Baltischen Meers, in Kopenhagen… kurz vor ihrer Hochzeit 1912 unternahm sie eine letzte Reise mit den Eltern in die Schweiz bzw. ins Tessin. Ihre Briefe drücken ihren modernen Geist aus. Sie versteht sich als frei, dank ihrer Fähigkeit und Offenheit, ihrer Intelligenz und ihrer Distanz. Das ist eine andere Sichtweise als zu beschreiben, wie sie „verzichtet“… Es mag jedoch sein, dass ihre Agenda von Aktivitäten für sie eine gezielte Möglichkeit darstellte zu vermeiden, sich selbst zu verlieren, wenn sie zu sehr in Alberts einnehmender Gegenwart war. Sie wurde zum Symbol einer idealisierten modernen Frau, femininen Heroin, oder zu Schweitzers Führung und Schutzengel. Der junge Schweitzer war anspruchsvoll mit seinen grossen Ambitionen. Seit 1903 fühlten sie sich miteinander verbunden, trotz der grossen geografischen Distanz, als Helene in Stettin war zur Ausbildung in Krankenpflege.

Während den vier Jahren als Inspektorin am Städtischen Waisenhaus in der Administration in Strassburg erbrachte sie Leistungen in Sozialarbeit wie das Haus unverheirateter Mütter, das sie mit einer Freundin im Strassburger Vorort Neudorf im 1907 errichtete.

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Mit zehn Jahren schon traten erste Anzeichen von Tuberkulose auf, in einer Zeit, wo noch kein Penicillin zur Verfügung stand. Als sie ihre Empfehlungen als Krankenschwester erwarb, existierte ein Plan für die Errichtung eines Spitals in Afrika mit dem Mann, mit dem seit 1902 die Freundschaft in ihr Leben getreten war und sie wollte vorbereitet sein. Ihre aktive Rolle in Schweitzers fruchtbaren Schreiben in Theologie, Philosophie und Musik kamen mit all diesen Engagements zusammen, wie später auch als die alleinerziehende Mutter durch viele Jahre hindurch, weil ihr Mann beschloss, die meiste Zeit auf einem andern Kontinent zu leben und arbeiten.

Was hat Helene zum gemeinsamen Projekt beigetragen? Von 1937-38 zog sie mit Rhena nach New York, um ihrer pubertierenden Tochter eine Chance zu geben, ihre eigenen Sprachkenntnisse zu entwickeln und ausserhalb der chaotischen Zustände in Europa einen Sekretärinnenkurs zu absolvieren. Vielleicht wollte sie selbst eine Zeit in einem weiteren Umfeld verbringen, denn sie war innerlich international ausgerichtet. Sie reiste bis nach St. Louis, um auf Englisch Vorlesungen über das Schweitzerspital zu halten, was dazu beitrug, die us-amerikanische Aufmerksamkeit für Lambarene zu öffnen und so den Grund zu legen für die Albert Schweitzer-Fellowship in Boston.

Nicht nur am 100 Jahr Jubiläum des Spitals wurde Helene Schweitzer Bresslau konsequent genannt als gleichwertige Partnerin mit der Stärke und Energie, um nach Afrika zu reisen und ein Spital zu errichten. Ging sie mit ihm? Oder ging er mit ihr?

Sie führte von 1913-15 Tagebuch in Afrika, so als ob dieser Ort schon an eine Nachwelt spräche, insgesamt 320 Seiten, in denen sie beschreibt, wie sie beide, Helene und Albert, sich in Afrika verliebten.

Albert Schweitzer hat Helene Schweitzer Bresslau kaum erwähnt und auch nicht beschrieben, dass sie sich Notizen im Tagebuch machte in Kurrentschrift… wie ist es möglich, die Geschichte dieses Ortes zu schreiben, ohne Helene Schweitzer Bresslau zu erwähnen? Ist es bürgerliche Diskretion? Oder blinde Unsensibilität eines aufgeblähten Ego? Ist ihre Unsichtbarkeit eine Frage von Auslassung, oder ist sie ein fehlendes Stück, das nur geübten Augen von feministischem Bewusstsein sichtbar ist? Als Beispiel: Auf Koffern und medizinischen Rapporten steht ASB. Im alten Spitaldorf ist Helene ausser Sicht: Auf den Steinsäulen sind keine Initialen von ihr. Kein Bild von ihr mit einem weisen Spruch, keine öffentliche Statue. Auf dem Friedhof, wo ihre Asche unter dem einzigen sichtbaren Monument ruht, ist ein Stein mit der Inschrift von Albert Schweitzer: „Hier ruht die Asche von Helene Schweitzer Bresslau, geb. 25.1.1879, verheiratet mit Albert Schweitzer am 18. 6.1912, in Lambarene angekommen am 18. 4.1913, um ein Spital für die Eingeborenen zu errichten. Verstorben in Zürich am 1. 6.1957. - Kein weiteres Wort…

Vielleicht war Schweitzer ein Kind seiner Zeit, unfähig wahrzunehmen – und noch weniger den enormen Beitrag von seiten oft unverheirateter, oft kinderlosen Frauen, für sein Werk zu bestätigen. Das wird zum Dilemma, wenn Schweitzer als Genie humanistischer Ethik, dessen Existenz in einer instinktiven Ehrfurcht für alles Leben in Erinnerung bleibt? Das Dilemma, solches Bild zu bewahren. Zugegeben, Helene Schweitzer Bresslau’s Unsichtbarkeit in Schweitzers ersten Niederschrift über ihr gemeinsames Projekts bedeutet einen Akt von Erinnerungsverlust, denn sogar ein zufälliges Lesen seines Bestsellers „Zwischen Wasser und Urwald“ macht deutlich, dass der Mitbegründer – vielmehr die Mitbegründerin - des Spitals namentlich nicht erscheint und dass der von Schweitzer

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 12/76 erwählte Nachfolger Walter Munz gelegentlich Helene Schweitzer Bresslau beschreibt. Eher spricht Schweitzer von Helene nur in Beziehung zu ihm selbst als „meine Frau“ oder „meine fast wörtlich erschöpfte Frau“… so als er aufwendig mit Lob und Bewunderung seinen indigenen Pfleger Joseph Azowani beschreibt. Helene Schweitzer Bresslau ist ein namenloser Schatten, wenn nicht eine fehlende Person unter den sich fast wie Verzeichnisse lesenden andern namentlich erwähnten Personen, wie auch einer kleinen Gesellschaft von Missionaren und ihren Frauen. Wir erfahren tatsächlich von Helenes Mann nichts über ihre medizinische Arbeit in den frühen Jahren in Lambarene bis 1931, als er seine Autobiografie „Aus meinem Leben und Denken“‘ publizierte. Dort schreibt er: „meine Frau, die als Krankenschwester ausgebildet wurde, gab mir unschätzbare Hilfe im Spital. Sie schaute nach den schwierigen Fällen, hatte Aufsicht auf die Wäsche und Bandagen, arbeitete in der Apotheke, sterilisierte chirurgische Instrumente etc.“ Im Buch, das zehn Jahre vorher erschien, können Leser und Leserinnen nur wenig über die Mitbegründerin erfahren aus anekdotischen Notizen, die erklären, dass „sie lernte zu löten, um in der Lage zu sein, die Mehlbüchsen und Maisdosen zu schliessen“ oder als sie mit Wanderameisen konfrontiert wurde, dass sie Geistesgegenwart bewies, um „das Horn von der Wand zu nehmen und dreimal zu blasen“.

Beschreibungen wie: Frau Schweitzer, eine Frau würdig erwähnt zu werden als treue Ehefrau, die der Legende gemäss, Krankenschwester wurde, um dem Traum ihres Mannes zu folgen. Aber wie so oft auch hier, sind Legenden enttäuschend, in Wahrheit ging Helene Bresslaus medizinische Ausbildung von 1904 derjenigen von Schweitzer voraus und sehr wahrscheinlich inspirierte diese seinen Entscheid, Arzt zu werden. Die Time Magazine veröffentlichte 1949 die Geschichte von Schweitzers erstem und letztem Besuch in die USA und schloss ein Familienfoto von 1924 ein mit einem Titel der den tröstlichen Refrain besingt vom treuen Weib das dem Mann nachfolgt: „im Juni 1912 heiratete Albert Schweitzer Helene Bresslau, die Tochter eines bekannten Strassburger Historikers. Sie hatte sich selbst ausgerüstet für das Leben, das sie zusammen führen wollten, indem sie Krankenschwester wurde. Ihre ersten Monate des Ehelebens verbrachten sie damit, Listen zu erstellen und sorgfältig medizinische Ausrüstung einzukaufen und zu verpacken. Am Karfreitag 1913 schifften sie nach Afrika ein. Auch in weiteren Beschreibungen, falls erwähnt, ist Helene ihrem Mann als Krankenschwester, treue Frau zugeordnet, die ihrem Mann folgt und ihm hilft, seine Pläne zu verwirklichen.

Diese Ambivalenz ging weiter. Sätze aus der Abdankungsfeier im Krematorium in Zürich wurden abgedruckt: „Helene Schweitzer, die Frau eines grossen Mannes… sie heiratete nicht nur Albert Schweitzer, sondern heiratete auch seine Arbeit…

Aber auch Bewunderung kam durch. Norman Cousin erwähnte in seiner Biogafie „Dr Schweitzer of Lambarene“: Ich besuchte mehrere Male Frau Schweitzer, wenn ich in Lambarene war. Ich begann ihren Stolz, ihre einfallsreiche Art, Zähigkeit und dauerndes Interesse an der Aussenwelt zu bewundern… ihr Leben war nicht immer einfach, aber es kannte Ziel, Hoffnung und Gnade“, oder: „Sie, Helene Schweitzer, ist eine hochkultivierte Frau und äusserst begabte Linguistin. Sie sieht zerbrechlich aus, hat aber einen unbezähmbaren Willen“.

Mit vierzig hatte Helene Schweitzer Bresslau sich als Jüdin und Nichtjüdin erlebt, als exiliertes Mitglied der kolonisierenden Klasse, als Berufsfrau in einer Managerposition, als global orientierte humanitäre Intellektuelle, als Opfer von Tuberkulose, Kriegsgefangene,

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 13/76 und als unterstützende Frau eines berühmten Mannes. In den kommenden 20 Jahren hat sie sich als Mutter und als Flüchtling vor Nazi-Europa erfahren in einem Ort, den sie als Heimat bezeichnete, in einem Spitaldorf am Ufer des Ogoweflusses in Äquatorialafrika.

Rhena schrieb: „Seit seiner Zeit in Lambarene wurde mein Vater weltberühmt. Meine Mutter, seine Lebenspartnerin und unersetzliche Mitarbeiterin im frühen Werk in der Errichtung ihres Dschungelspitals, lebte danach in seinem Schatten. Nur wenige Menschen wissen, welch wichtiger Teil sie spielte in seiner Entwicklung und welche wichtige Rolle sie in seinen frühen Jahren einnahm. Sie war eine Frau, deren Leistung ein eigenes Recht und eigenen Anteil beanspruchen.

Für Schweitzer wurde die geistige, spirituelle Dimension seiner Liebe für Helene tiefer fühlbar, wenn sie auseinander waren. Dann konnte er sich Helene vorstellen, wie er sie haben wollte, als ein Symbol, wie er es dann einmal nachts ausdrückte: „Ich fühle deine Seele so rein um mich herum und bin dadurch getröstet“.

Wenn wir annehmen, dass Albert und Helene gleich unabhängig waren, begann das Leben, das sie wählten, mehr wie eine gemeinsame Suche für ein Gleichgewicht auszusehen als ein Vertrag von Verzicht. Ihre unkonventionelle Existenz wäre nicht möglich gewesen ohne Helenes besondere Mischung von Modernität, Wanderlust, Introversion und Selbständigkeit.

Esther R. Suter, Juni 2017

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«DENN WIR SIND BEIDE KETZER... » SPEKULATIONEN ZU BRIEFFRAGMENTEN AUS DER ZEIT VOR LAMBARÉNÉ (1902 – 1912)

Rudy Van Kerckhove, Gossau

1992 erschien beim Beck Verlag, München, «Albert Schweitzer Helene Bresslau. Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902 – 1912»1. In ihrem Vorwort zeigt Rhena Schweitzer Miller sich erstaunt, dass etwa zwei Drittel der Briefe französisch geschrieben sind. Für Albert Schweitzer war das eher normal, da es sich in kultivierten Familien im Elsass eingebürgert hatte einerseits miteinander elsässisches Dialekt zu reden, andererseits aber sich auf Französisch zu schreiben.

Die Korrespondenz mit Helene Bresslau beginnt in der Zeit der Habilitation von Albert Schweitzer als Privatdozent2. Ken- nen gelernt hatten sich Helene Bresslau und Albert Schweitzer an der Hochzeit von Lina Haas mit dem Baurat Willibald Conrad.3 Fritz Haas, Sohn eines mit der Familie Schweitzer befreundeten Richters, war auch befreundet mit Ernst Bresslau, Bruder der Helene. Die Haas und Bresslau bildeten in Strassburg einen «Radelclub». Dabei ging es nicht so sehr um einen Sportverein als um einen Rahmen in welcher beide Geschlechter sich etwas freier begegnen konnten als durch die konventionellen Schranken eingeengten gesellschaftlichen Verkehr. Die Anregung Albert Schweitzer zu diesem Radelclub einzuladen kam von Helene Schweitzer4. Die Frauen in diesem Club waren freier und hatten nicht nur Heirat, Kinder und Küche in den Sinn. Sie waren an gesellschaftliche Fragen interessiert.

1902 beginnt die Korrespondenz. Albert Schweitzer begann mit seinen knapp 27 Jahren als Privatdozent an der evange-

1 Die Jahre vor Lambarene: Briefe 1902-1912 / Albert Schweitzer; Helene Bresslau. Hrsg. von Rhena Schweitzer Miller und Gustav Woytt, München 1992. Weiterhin zitiert als Briefe 2 Im Sommer 1899 promovierte Albert Schweitzer in Strassburg mit einer Arbeit über «Die Religionsphilosophie Kants». Anschliessende widmete er sich wieder der Theologie. 1902 habilitierte er sich als Privatdozent mit einer Skizze zum Leben Jesu. Seine Antrittsvorlesung hielt er über den Logosbegriff bei Johannes. 3 Albert führte Helene zu Tisch. 4 «Entstanden ist der Gedanke bei einer Gesellschaft bei Bresslaus, bei der meine Schwester, Elly Knapp und ich selbst eingeladen waren… Es war wohl seine (Ernst Bresslaus) Schwester (Helene), die die Anregung gab, Albert Schweitzer in die Vereinigung einzubeziehen, denn näher zu sein seit ihrer ersten Bekanntschaft auf der Hochzeit meiner Schwester ihr steter heimlicher Wunsch gewesen sein musste.», Erinnerungen von Fritz Haas 1935 in Briefe.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 16/76 lisch-theologischen Fakultät, daneben war er noch Vikar an der Nikolauskirche, Organist. Er arbeitete an sein Buch über Bach, das er auf Anregung seines Orgellehrers, Charles Marie Widor, angefangen hatte. Die ersten Briefe von Albert Schweitzer haben als Anrede «Sehr geehrtes Fräulein», während Helene ihn mit «treuer Freund» anredet. Dann entwickelt sich die Anrede zu «mein guter Kamerad» bis zu «mein Grosser»; «mein Geliebter». Albert und Helene täuschen sich in ihren Briefen aus. Sie haben es über die Arbeit. Auch die Pläne für ein soziales Engagement legen sie einander offen dar. Bei Albert Schweitzer ist natürlich vom Widerstand gegen seine Pläne in die Mission zu gehen, seitens der Direktion der Missionsgesellschaft, die Rede.

In den Briefen findet sich auch Kritik auf Glaubensvorstellungen. Im Brief vom 19. Januar 1904 an Helene äussert Albert Schweitzer: «… denn wir sind beide Ketzer und könnten einen ehrbaren Diener Gottes wohl einschüchtern…» Was ist hier gemeint?

Helene Schweitzer begann 1904 einen 3monatigen Krankenpflegekurs am städtischen Krankenhaus in Stettin. Albert schreibt ihr aus dem Stift, wo er über die Feiertage bleibt und sich Gedanken zur Weihnachtsbescherung für die Bedürftigen macht. Immer wieder finden wir in den Briefen die Freude, welche Albert Schweitzer bekundet, dass er predigen kann. Er predigt gerne, betrachtet seine Predigten aber auch kritisch. So schreibt er im Brief vom 23. Dezember 1903: «… ich habe mit grosser Freude jeden Sonntag gepredigt. Es waren «unvollkommene» Predigten insofern, als ich nicht bis ans Äusserte meines Denkens gegangen bin, denn man hätte mich nicht verstanden. Ist es nicht merkwürdig, dass diese grosse Gestalt uns alle unterjocht und in Ketten gelegt hat? …. Er hat uns unsere Persönlichkeit genommen; aus freien Menschen hat er uns zu Sklaven gemacht! Wie viele schöne Anlagen hat er erstickt – und er hat elende Menschen geschaffen, da wir ohne ihn grossartige Charaktere geworden wären. Das ist Blasphemie, wenn Sie so wollen, aber er hat die Grösse, Blasphemie zu ertragen – und Sie verstehen, was mit Blasphemie gemeint ist. Nehmen Sie all die kindischen Predigten, die man in diesen Tagen über «das Jesuskind» halten wird – er hat sie bestimmt nicht gewollt, aber er hat sie dennoch bewirkt. Ich habe noch keine klare Vorstellung davon, was ich am Sonntag morgen predigen werde»5. Diese kritische Äusserung Albert Schweitzers – „die kindischen Predigten“ – legt die Vermutung nahe, dass beide dem traditionellen kirchlichen Reden kritisch gegenüber standen. Am 1. Januar 1904 begann für Helene Bresslau einen dreimonatlichen Krankenpflegekurs am städtischen Krankenhaus in Stettin. Zu den Verpflichtungen gehörte auch die «Pastor- stunde». Vermutlich ist diese «Pastorstunde» eine Art Religionsunterricht – was heute mit „Ethikunterricht“ vergleichbar wäre. Mit «Pastorstunde» kann auch den Konfirmanden- unterricht6 gemeint sein. Ein anderes Zitat legt nahe, dass es hier auch um ein Gespräch mit dem Pfarrer handeln kann7. Den Begriff «Pastorstunde» habe ich in Lexika nicht ge- funden. Konfirmandenunterricht kann im Zusammenhang mit Helene Bresslau wohl nicht gemeint sein, da die Eltern Bresslau am 12. Juni 1886 in der evangelischen Kirche von Su-

5 Briefe, S. 53. 6 Vgl: Hans-Joachim Seeler, «Sterley: ein Dorf im Glanz und Elend deutscher Geschichte»: «... ihr werdet alle in Sterley zur Schule gehen. Und wenn ihr eines Tages zum Konfirmandenunterricht müsst, dann habt ihr es sogar viel bequemer, ... Das kommt mir sehr gelegen, meinte Franz, „denn ich muss im kommenden Jahr zur Pastor-Stunde.“ „Du meinst, zum Konfirmandenunterricht“, verbesset die Mutter ihren Ältesten... » ; 7 Sven Bösemann, So lange die Rose blüht, S. 91: «Hier auf diesem verlassenen Feldweg sass doch tatsächlich eine alte Frau auf einem grossen Feldstein.... Ich hielt an und fragte sie, ob sie mitfahren möchte. Sofort strahlte sie... „Ja, bitte Sven, sind Sie so gut, bis vorne zur Kreuzung. Ich will zur Pastorstunde, aber meine Knie wolle nicht mehr“.... »

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 17/76 derode ihre Tochter Helene, zusammen mit den Geschwistern Ernst und Hermann, taufen liessen. Ernst war damals schon 9 Jahre alt, während Helene 7 und der jüngste Bruder 4 Jahre alt waren. Die Eltern selber behielten die jüdische Religionszugehörigkeit. Die Taufe sollte den Kindern später ermöglichen, dass sie in ihren Berufen die gleiche Vor- aussetzungen hätten, wie alle, die nicht-jüdischen Glaubens waren8.

Helene Bresslau trat mit 25 Jahren die Ausbildung als Krankenpflegerin an. Die Familie Bresslau war vermutlich nicht nur gegenüber der eigenen jüdischen Religion kritisch einge- stellt, sondern auch im Bezug zur Kirche. Verena Mühlstein beschreibt, dass obwohl die jü- dische Religion Harry Bresslau nichts mehr bedeutet er sich nie vorstellen konnte – auch wegen der Kariere – zum Christentum zu konvertieren9.

Die «Pastorstunde» war für Helene eine Zumutung. Sie betont wie Albert Recht hat mit seiner Kritik auf das kindische Gerede mancher Kirchendiener. Beide machen sich lustig über diese Pastoren- stunde. Ihre Arbeit im Krankenhaus beschreibt Helene als praktisches Chris- tentum: «... Und jetzt habe ich zwei Säle mit jungen Mädchen, in dem einen: nette, brave, in dem anderen: Mädchen aus einer Welt, die man vor uns „wohlerzogenen“ Töchtern mit allen Mit- teln zu verbergen sucht.... Ich bin sehr gerne dort, ich mache ein wenig das, wovon der Pastor neulich gesprochen hat (aber, wie Sie sich vorstellen können: nicht weil er davon gesprochen hat!): Seelenarzt, innere Mission – im übrigen glaube ich, dass ich es nicht ganz in seinem Sinn mache! Die Pastorstunde – Sie haben recht mit dem, was Sie davon halten. Er ist ein «ehrbarer Diener Gottes», ganz Honig und Wasser – aber sehr flaches Wasser! – Sie können sich vorstellen, dass ich an diesen Abenden lieber ins Bett gehen würde! Da das nicht geht, beschäftige ich mich damit, eine Stilblüten-Sammlung anzulegen. – Wenn es Sie interessiert, werde ich Ihnen welche schicken. ... Wir haben noch anderen Unterricht... »

In diesem Brief verweist Helene Bresslau auf eine Predigt, die sie von Albert Schweitzer empfangen hat. Sie hat diesen gelesen und gibt dazu folgende Bemerkung: «Sie verlangen

8 Vgl. Verena Mühlstein, Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene, S. 26: «Wie oft hat er in den letzten Jahren Zurücksetzungen in seiner akademischen Laufbahn hinnehmen müssen, nur weil er nicht bereit war, sich pro forma taufen zu lassen. ...“ 9 Das erklärt vielleicht auch weshalb die Eltern der Helene die Beziehung ihrer Tochter mit dem Theologen und Privatdo- zenten Albert Schweitzer eher kritisch gegenüber stehen. Erst allmählich ändert sich die Haltung. Vermutlich hat hier auch die Arbeit und die Ansicht Albert Schweitzers im Bezug zu Jesus als jüdischer Prediger ohne ihn aus der jüdischen Kultur, bzw Religion, herauszulösen einen Anteil gehabt.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 18/76 von mir ein Urteil über die Artikel im Kirchenboten.10 Aber nein, ich bin jetzt zu dumm, ich habe nichts mehr im Kopf als meine Kranken. Und ich lese nur das, was man mir schickt, und selbst damit werde ich nicht fertig. Ich habe eine Ihrer Predigten gelesen, „Und er predigte gewaltig“, und die Kirchenboten, davon gefällt mir „Jesus und die Weisen“ am besten. Darin erkenne ich Sie, mein Freund, und Sie wissen, ich denke beinahe wie Sie. Sie sind darin Sie selbst: hochmütig und demütig – und ein wenig paradox. Sind Sie mir böse, wenn ich Ihnen das sage? Aber Sie verstehen, in welchem Sinn ich es meine. Und manchmal scheint mir, dass Sie genau wissen, ob und dass Sie ein wenig zu weit gehen. Und ich finde, Sie haben damit ganz recht; nur durch Übertreibung rüttelt man die Geister auf, indem man sie zum Widerspruch zwingt (jetzt beim Schreiben weiss ich nicht, ob es dieses Wort (contradiction) gibt, und ich habe kein Lexikon – lachen Sie mich nicht aus!).»11

Ist mit diesem Hinweis auf die gewollte Übertreibung, damit die Geister in den Gemeinden wachgerüttelt werden, etwas Ähnliches gemeint wie beim Zitat Albert Schweitzers über das Ketzer-sein? Der Begriff «Ketzer» bezeichnet jemand, der von der offiziellen Kirchenmeinung abweicht. In seinem Buch beschreibt Christoph Auffahrth, wie der Begriff der Ketzer erstmals in Europa nach der Jahrtausendwende auftrat: «Die ersten Ketzer traten nach der Jahrtausendwende auf. Die Spätantike brachte bereits die Muster der Ausgrenzung und der Autorisierung hervor, wie aus einer religiösen Gruppe als Reformbewegung eine „fremde Religion“ wird oder umgekehrt eine Reformbewegung sich die Mehrheit unterwirft.... im frühen Mittelalter, gab es ... auch den Vorwurf gegen Einzelne, ein Ketzer zu sein. Aber es gab keine Ketzerei als Massenphänomen... »12 Das änderte sich eben mit der Jahrtausendwende. Der Gegensatz „Heterodoxie – Orthodoxie“ („andere Verehrung – richtige Verehrung“) ist weniger belastet. In der jüdischen Diskussion – ua. auch ausgelöst durch das Auftreten messianischer Bewegungen und durch den Antijudaismus – begegnen wir dem Begriff des „fremden Gottesdienstes“ im Sinne von „verbotener Gottesdienst“13. Der Begriff «Haeresie» ist durch den Mönch Rodulfus Glaber in seinem Werk «Historiae» (1046) geprägt. Darin blickt er zurück auf die Geschichte des Jahres 1000. Er bringt der Begriff im Zusammenhang mit einem Wanderprediger der zu sehr an den Freundschaften mit den Juden hängen geblieben sei14. Der deutsche Begriff «Ketzer» wird via dem italienischen gazzari vom lateinischen cathari hergeleitet. Seit dem 13. Jahrhundert ist der Begriff ins Deutsche übernommen. Der Begriff verweist ursprünglich auf die Katharer15.

10 Anmerkung in Briefe S. 372: «Zu „Jesus und die Weisen“ und „Die Missionsreise der Jünger“, vgl. den Brief vom 23. Dezember 1903. Siehe vorher S. 7. Sowohl „Jesus und die Weisen“ als auch die Predigt „Und er predigte gewaltig“ sind als Beilage hinten angefügt. 11 Briefe, S. 60. 12 Christoph Auffahrt, Die Ketzer. Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen, 2. Auflage, C.H. Beck Verlag, München, 2009, S. 11. fremder Dienst“, Götzendienst) ist der achte Traktat in der Mischna in der Ordnung Nesikin„ עבודה זרה .Avoda sara (hebr 13 (Schädigungen). Avoda sara regelt den Umgang von Juden mit Nichtjuden. Das Augenmerk liegt hierbei auf der Vermeidung von Handlungen, die als „Götzendienst“ gedeutet werden könnten. 14 Haerere: festsitzen, feststecken, festkleben, verweilen, an jemandem wie eine Klette hängen, an etwas hängen, von etwas nicht loskommen, von etwas nicht lassen können, stecken bleiben, stocken, aufgehalten werden. 15 Katharer (wörtlich „die Reinen“, von griechisch καθαρός, katharós „rein“) steht für die Anhänger einer christlichen Glaubensbewegung, die vom 12. bis zum 14. Jahrhundert vornehmlich im Süden Frankreichs, aber auch in Italien, Spanien und Deutschland verbreitet war. Verbreitet ist auch die Bezeichnung Albigenser (gelegentlich auch: Albingenser) nach der südfranzösischen Stadt Albi, einer ehemaligen Katharerhochburg. In der Volksetymologie, wie schon im lateinischen cathari (‚Katharer‘) wurde zuweilen den Zusammenhang mit cattus (‚Katze‘) betont und so auch später im Deutschen die Verbindung Ketzer mit Katze. Bis ins 12. Jahrhundert war die Katze ein guter, Nutzen bringender Hausgeist. In folge einer Dämonisierung durch die Kirche wurde die Katze für die Kirche zur Verkörperung des Bösen und schliesslich zum Teufel in Person. Vom 13. Jahrhundert bis zur Zeit der Reformation wird nachdrücklich vor der Schädlichkeit der Katze gewarnt. Mord- und Beutegier wird ihr vorgeworfen, Lüsternheit und Unzucht, Hochmut,

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Worin besteht die «Ketzerei» von Albert Schweitzer und von Helene Bresslau? Steckt eine Antwort in dieser kurzen Meldung vom 6. Februar 1904: «Wir predigen über Texte und über vorgeschriebenen Texte – um nicht unsere eigenen Gedanken zu sagen, und zuletzt sind wir unseren eigenen Gedanken so entlaufen, dass wir gar nicht mehr wissen, dass man nur mit eignen Gedanken predigen kann. Dass man uns dies in den Predigtübungen nicht gesagt hat, werfe ich den Professoren zeitlebens innerlich vor. Sie haben uns zu geschickten Handwerkern machen wollen, aber sie wollten nicht höher mit uns hinaus».16 Der Verzicht auf eigenes Denken wird hier von Albert Schweitzer kritisiert. Wenn der Begriff des Ketzers mit dem selbstständigen Denken im christlichen Glauben verbunden ist, nimmt Albert Schweitzer diese Bezeichnung gerne für sich in Anspruch, schreibt er doch in einem Brief vom 1. Mai 1904 über seine Pläne im sozialen Bereich tätig zu werden, damit seine gepredigten Worte nicht nur Worte bleiben, sondern auch zu Taten werden: «... Bald werde ich 30 Jahre alt sein -. Ich weiss sehr wohl, dass alles, was ich predige, mit den Worten, wie sie meinen Mund verlassen, zu Boden fiele, wenn ich nicht meinem Weg folgen würde. Also muss ich weitergehen. Es ist ergreifend, sein leben absolut klar vor sich zu sehen und zu wissen, dass das geistige Glück zum Leben ausreicht – und die Gemeinsamkeit des Denkens mit einigen wenigen edlen Seelen, die das Recht haben, einen zu kennen; die Fortführung seines Werkes als einziger Religion haben, nicht mehr ertragen müssen, was das Christentum an Plebejischem, an vulgärem an sich hat. Nicht mehr die Angst vor der Hölle kennen, nicht mehr nach den Freuden des Himmels trachten, nicht mehr diese falsche Furcht haben, nicht diese falsche Unterwürfigkeit, die ein wesentlicher Bestandteil der Religion ist – und doch wissen, dass man Ihn, den einen Grossen, versteht und dass man sein Jünger ist. Gestern beim Einschlafen las ich das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, weil ich so sehr den Vers liebe: „Was ihr getan habt einem dieser Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Aber wo beim Jüngsten Gericht von der Scheidung der „Schafe und der Böcke“ die Rede ist, da lächelte ich: Ich will nicht zu den Schafen und im Himmel treffe ich sicher eine ganze Gesellschaft, die ich nicht mag: St. Loyola, St. Hieronymus, und eine paar preussische Oberkirchenräte – und mit diesen allen freundlich tun und den Bruderkuss austauschen? Nein, ich verzichte, lieber in die Hölle, dort ist die Gesellschaft weniger gemischt. Mit Julian Apostata, Caesar, Sokrates, Platon und Heraklit lässt sich schon ein anständiges Gespräch führen. Aber ich diene ihm doch, seinetwegen, allein seinetwegen -, denn er ist die einzige Wahrheit, das einzige Glück... »17

Die Christus-Nachfolge ist für Albert Schweitzer das entscheidende Kriterium an welchem sich Christ-sein messen lässt. Diese Haltung kann als Jesus-mystik gedeutet werden. In diesem Jahr 1904 fällt die Entscheidung nach Afrika zu gehen. 1896 hatte er für sich einen Lebensplan entworfen: «Während draussen die Vögel sangen, (wurde ich) mit mir selber darin eins, dass ich mich bis zu meinem dreissigsten Lebensjahr für berechtigt halten wollte,

Falschheit und Putzsucht. Listig, heuchlerisch, streitsüchtig sei sie, zudem naschhaft und faul. Die natürlichen Verhaltensweisen, die man an den Katzen beobachtete – sie sind Beutejäger, ihr Paarungsverhalten ist von lautstarkem Geschrei begleitet, sie lassen sich nichts befehlen, sind schlau und geschickt, putzen sich ausgiebig und schlafen viel –, wurden als Merkmale ihres schlechten Charakters gedeutet. So wurde die Katze zum Symbol für das Prinzip des Satans. Sie seien, predigte man, von Dämonen oder vom Teufel besessen. Der Teufel suche die Menschen, speziell die Frauen, in Gestalt von Katzen, vorzugsweise schwarzen, heim. Prediger verwiesen auf die Ähnlichkeit der Wörter Katze und Ketzer, und in der Folge assoziierte man sie mit der Hexerei und allen Traditionen und Praktiken, die nicht dem herrschenden christlichen Glauben entsprachen. Ketzer und Katzen wurden Opfer der Inquisition, in zahllosen Hexenprozessen gefoltert, zum Tod verurteilt und verbrannt. Info bei: Wikipedia und Petfinder.de. 16 Briefe, S. 63. 17 Briefe S. 68.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 20/76 der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen. Gar viel hatte mich beschäftigt, welche Bedeutung dem Worte Jesu „Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird es behalten“, für mich zukomme. Jetzt war sie gefunden».18

Christentum ist gelebte Nächstenliebe. Gerade wegen dieser Nächstenliebe sind alle Glaubensvorstellungen oder –vorschriften zweitrangig oder sogar unwichtig, ja nichtig. In seiner Betrachtung auf Albert Schweitzer als Theologe betont Ulrich Lutz, dass er sich selber als Diener Jesu betrachtet: «... Jesus hat mich gefangen genommen seit meiner Kindheit ... Mein Gehen nach Afrika ist ein Gehorsam gegen Jesus. Meine Entwicklung ist ohne jeden Bruch vor sich gegangen».19 Also kein Bekehrungserlebnis, wie es Paulus, Luther oder andere durch den Glauben erleuchtete Gestalten der Kirchengeschichte erlebt haben. Ver- mutlich ist diese Jesusfrömmigkeit auch ein Bindeglied mit den Herrnhutern?20

Die Sicht Albert Schweitzers auf Jesus hat Fragen aufgeworfen, der Jesusforschung viel zu denken gegeben, aber von Beginn an abgelehnt und sie hat sich nicht durchgesetzt. Auch das lässt uns zu hier den Begriff «Ketzer» zu deuten als eine Selbsteinschätzung Schweitzers: er wusste, das seine Sicht auf Jesus den wissenschaftlichen Kreisen nicht angenehm wäre. Die Sicht Albert Schweitzers kann auch als die Sicht der Helene Bresslau gedacht werden. Denn, während Helene Bresslau im ersten Vorwort der «Geschichte der Leben-Jesu-Forschung»21 nicht erwähnt wird, wird sie im Vorwort zur zweiten (1913) erwähnt: «Viel verdanke ich, wie in der ersten so auch in dieser Auflage, der Mitarbeit meiner Frau. ... » Helene Bresslau hat also schon 1906 mitgearbeitet. In einem Brief bezeichnet er sich als Philosoph, der aber in seinem Denken sich Christum ausgeliefert betrachtet: «Wir leben, wenn unsere Gedanken in anderen wiedergeboren werden. Deshalb leben Sokrates und Christus. Das ist die lebendige Unsterblichkeit!... Im Grunde bin ich Philosoph – aber ich habe mich von ihm, dem grössten, dem göttlichsten aller Philosophen, bei dem das sublime Denken zum Naiven zurückgekehrt ist, gefangen nehmen lassen. Wegen dieses Gehorsams wird er mir meine Ketzerei verzeihen: ich bin so etwas wie einer jener Satrapen, die man an die Grenze des Reiches schickt und ihnen etwas freie Hand lässt, weil sie es verteidigen und schützen».22

Auf dieser Selbsteinschätzung als Philosoph, reagiert Helene Bresslau mit einer Frage zu Albert Schweitzers Haltung und einem Hinweis auf ihre Entwicklung: «... sind Sie zur Philosophie zurückgekehrt? – Wissen Sie, dass Sie den Krebsgang machen? Das heisst, dass Sie genau dahin gehen, woher ich gekommen bin? Ihre Idee über Unsterblichkeit, diese unpersönlichen Vorstellungen, dass unserer Gedanken auferstehen in den Menschen, die nach uns kommen, die habe ich gehabt, bevor ich zu jenen gelangte, von denen ich Ihnen auf dem Weg nach Günsbach gesprochen habe – erinnern Sie sich? – womit ich mich – in dieser Hinsicht und in aller Bescheidenheit! – dem grossen Kant nähere und die ich mit so grosser Freude entdeckt habe. ... wenn unsere Gedanken in anderen leben – wenn wir aufgehört haben zu leben – und vielleicht in einer reineren Form wieder aufleben, ist das

18 Zitiert bei Ulrich Lutz, Albert Schweitzer als Theologe, in: Albert Schweitzer. Facetten einer Jahrhundertgestalt. Berner Universitätsschriften, Bd. 59, S. 67, Haupt Verlag, Bern 2013. 19 Lutz, S. 67. 20 Die Herrnhuter betonen die Jesusnachfolge, wie z.B. in den Liedern „Jesus geh voran“ und „Wir wolln uns gerne wagen“ 21 Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, J.C.B. Mohr, Tübingen, 9. Auflage, 1984, S. 26ff. 22 Briefe, S. 70.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 21/76 dann nicht der Zustand höchster Vollkommenheit, von der Kant spricht -, wenn er ihn sich auch nicht in menschlicher Gestalt und auf dieser Erde gedacht haben mag. Aber ist dann nicht im Seelenwanderungsgedanken diese Philosophie schon längst gedacht? Wenn das Unsinn ist, verzeihen Sie mir, ich habe nicht Philosophie studiert! – Wenn es das ist, was Sie Atheismus nennen, bin ich seit vielen Jahren Atheistin. Aber ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit Kuck und Rudolf Spindler auf der Rückfahrt von Weissenburg nach Wingen hatte, auf der ich ihnen sagte: „Alles in allem bin ich eben doch eine Ketzerin“, und man mir antwortete: „Sie müssen zugeben, dass Sie von Christus nicht loskommen und Christ sein heisst nichts anderes als Jesum Christum lieb haben.“ Wie oft habe ich daran gedacht, wenn ich mit Leuten sprach, die genau die gleichen Ideen hatten wie ich, aber nicht wagten, sich damit Christen zu nennen. Was ist das anderes als eine Frage des Namens? Name ist Schall & Rauch & ich wollte, dass ein Pfarrer, anstatt sich heimlich einen Atheisten zu nennen, es denen, die mit freierem Nachdenken & Verneinung all des Formelkrams & des Drum & Dran nicht mehr den Mut haben, sich dem Christentum zuzuzählen (weil sie leider zu der Ansicht haben kommen können, in diesem Drum & Dran & Formelkram bestehe das Wesen des Christentums) & die doch gar nicht immer stark genug sind, um ohne Schaden für sich allein stehen zu können, dass er es denen frei und offen sagte, dass wahrstes, reinstes Christentum heisst: Jesum Christum lieb haben & wer ihn lieb hat, der folge ihm nach. Er wird finden, was ich so oft gefunden habe; dass in ihrem Atheismus nichts ist, was sich mit solchem Christentum nicht deckte - & er kann es ihnen besser sagen, als ich es konnte & kann.»23

Albert Schweitzer und Helene Bresslau sind sich darin wohl einig, dass Christ-sein sich in tätiger Nächstenliebe zu bewähren hat. Deshalb betont Alber Schweitzer in einem Brief aus 1905: «... Was ich will, das kann kein Hirngespinst sein. Dafür bin ich zu realistisch. Aber ich will mich aus diesem bürgerlichen Leben befreien, das alles in mir töten würde, ich will leben, als Jünger Jesu etwas tun. Das ist das Einzige, woran ich glaube – und an Deine Freundschaft... »24

Diese Bereitschaft zur Nachfolge beinhaltet auch die Aufgabe einer wissenschaftlichen Laufbahn: «... Ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, ein grosser Gelehrter zu werden, sondern mehr – einfach ein Mensch. ... Wir alle sind nicht Menschen, sondern Wesen, die in einer von der Vergangenheit überkommenen Zivilisation geistig gefangengehalten und eingeengt sind. Keine Bewegungsfreiheit, nichts. Der Mensch, alles in uns wird getötet durch die Berechnung unserer Zukunft, unserer sozialen Stellung, unseres Ranges. Du siehst, ich bin nicht glücklich – und dennoch glücklich. Ich leide, aber das gehört zum Leben. Ich lebe, ich kümmere mich nicht um die Existenz, das ist der Anfang der Weisheit, nämlich einen Wert für diese Existenz zu suchen, den die anderen überhaupt nicht kennen und auch nicht zulassen. Nicht eine Professur, ein bequemes Leben – sondern etwas anderes. Ich habe ihn gefunden, ich glaube ihn zu besitzen, diesen Wert: Jesus dienen. Ich bin weniger ruhig, als ich es wäre, wenn es mein einziges Bestreben wäre, eine Professur und eine vornehme Frau zu haben, aber ich lebe. Und das ist dann ein ungeheures Glücksgefühl, wie wenn man in einem ganz tiefen Schacht ein Licht schimmern sieht, wie wenn man töne um sich hört. Man fühlt sich entwurzelt, denn man fragt sich, was kommen wird, welchen Entscheidungen man folgen soll – aber lebendiger, glücklicher als die, die im Leben verankert sind – Mit losgerissenem Anker treiben –

23 Briefe, S. 71. 24 Briefe, S. 82.

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Eines weiss ich: wenn ich meinen Plan, Jungen aufzuziehen, nicht ausführen kann, dann bleibe ich nicht hier: ich würde daran zugrunde gehen. Ich würde alle beneiden, die etwas für Jesus tun konnten, die dümmste Frau von der Heilsarmee. ... Ich bin so glücklich, dass Du eine grosse Aufgabe gefunden hast! So ist es: Die letzten werden die ersten sein, und die ersten werden die letzten sein. Damals war ich näher am Ziel als Du, und jetzt bist Du tätig, und ich bin ganz einfach Privatdozent – ein Mensch der doziert statt zu handeln. ... Du wirst jetzt Deinen Weg finden. ... Weisst Du, dass ich ein Versprechen vom Rheinufer von Dir habe: „Wenn Sie mich einmal brauchen, versprechen Sie mir, dass Sie mich rufen.“ Ich habe es Dir versprochen – und ich denke manchmal daran. Wenn ich Dich je brauche, rufe ich Dich, sei gewiss.... »25

In diesem Beitrag geht es um «Spekulationen». Alle, die sich mit der Korrespondenz und den Gedanken von Albert Schweitzer und Helene Bresslau auseinandersetzen werden den Begriff «Ketzer» auf dem Hintergrund der eigenen Tradition verstehen.

Liberal-protestantisch hat der Begriff, m.E., keine negative Färbung. Im Vorwort zur Ausgabe der «Geschichte der Leben-Jesu-For- schung» aus dem Jahre 1950 schreibt Albert Schweitzer: «Zum Wesen des Protestantismus gehört, dass er eine Kirche ist, die nicht kirch- gläubig, sondern christgläubig ist. Dadurch ist ihm verliehen und aufgegeben, durchaus wahrhaftig zu sein. Hört er auf, unerschrokkenes Wahrhaftigkeitsbedürfnis zu besitzen, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst und damit untauglich, der christlichen Religion und der Welt das zu sein, wozu er berufen ist.»26 Mit der Selbstbezeichnung «Wir sind Ketzer» haben Helene Bresslau und Albert Schweitzer sich zwar zu einer Beziehung zu Jesus von Nazareth, wie er in den Evangelien beschrieben, bzw. verkündigt worden ist, bekannt. Zugleich aber haben sie sich von einem dogmatisch eingeengten kirchlichen Christusverständnis abgewendet. Mit dem Wunsch «einfach ein Mensch» zu sein, hat Albert Schweitzer ein Ideal aus der jüdischen Tradition aufgegriffen. Ob er sich dessen bewusst war, ist die Frage. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei den gelegentlichen Treffen im Hause Bresslau oder umgekehrt im Pfarrhaus Günsbach es nicht zu Gesprächen zwischen dem Professor und dem Privatdozenten oder zwischen dem Professor und dem Privatdozenten und dessen Vater, der Pfarrer, zum Judentum oder zum jüdischen Hintergrund der frühchristlichen Schriften, gekommen ist. Leider fehlt davon jede Spur, sodass es hier lediglich um Spekulation im wahrsten Sinne des Wortes handelt.

In seiner Würdigung Albert Schweitzers als Theologe schreibt Ulrich Luz: «Die meisten der Fragen, die Schweitzer angepackt hat, sind bis heute unerledigt. Darin besteht die bleibende Faszination von Schweitzers Jesusbild für die Wissenschaft. ... Für Schweitzer gehört Jesus ganz ins zeitgenössische Judentum. Er ist ein zeitgebundener Vertreter einer jüdisch- apokalyptischen Jenseits-Eschatologie. Durch den Einsatz seines eigenen Lebens für seine

25 Briefe, S. 83f. 26 Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, J.C.B.Mohr, Tübingen, 9. Auflage, 1984, S. 42.

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Jünger hat er versucht, das Kommen des Reiches Gottes herbeizuführen. Die Geschichte zeigte, dass dieser Versuch illusionär war und scheiterte. Zugleich aber ist er zukunftsweisend: Er ist eine heroische Darstellung einer Wahrheit, die für das ganze aus seinem Wirken herauswachsende Christentum grundlegend ist: Jede sittlich-religiöse Betätigung ist Arbeit am Kommen des Reiches Gottes. Und schliesslich muss man sagen, dass Schweitzers Jesusbild zwar nicht historisch, wohl durch Schweitzers eigenes Lebenswerk ... gerechtfertigt worden ist. ... Er verstand seine eigene Arbeit in Afrika als Arbeit am Reich Gottes – auf ganz andere Weise natürlich als Jesus. Aber ist das, was Schweitzer selbst tat, wirklich etwas völlig Anderes als das, was seiner Meinung nach Jesus tat, wenn er nach Jerusalem zog ... ? Schweitzer hat sich selber als Nachfolger Jesu verstanden. Und dies – so denke ich – mit vollem Recht.» 27 Was Ulrich Luz hier über Albert Schweitzer und seinen Einsatz für die Nachfolge Christi schreibt, gilt selbstverständlich für Helene Bresslau, denn beide waren geprägt von der Idee des sozialen Engagements.

27 Luz, S. 74.

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JESUS UND DIE WEISEN28

Was würde er sagen, was würde er tun, wenn er mit der heutigen Wissenschaft in Berührung käme? Es ist das keine bloße Frage der Neugierde, wie wenn man sich etwa vorstellte, daß Cäsar wiederkäme und sich nun staunend unsre Eisenbahnen, unsre Bauten und unser Kriegswesen ansähe; sondern wir möchten wirklich Jesum gern hineinstellen können in die ganze Gelehrsamkeit, weil wir oft nicht wissen, wie wir uns mit seinen Gedanken in der modernen Zeit bewegen sollen. Wie würde er reden, wenn er mit der heutigen Astronomie und Naturwissenschaft, mit der heutigen Philosophie und – nicht zuletzt – mit der heutigen Theologie zusammenträfe? Wenn er mit der Lehre von den Gesetzen und selbstwirkenden Kräften der Natur, mit den Erkenntnissen der Philosophie bekannt wäre, wenn er vernähme, daß im Alten Testament verschiedene Quellen sich finden, daß die Propheten lebten, bevor man das Mose zugeschriebene Gesetz aufstellte, würde die Verkündigung, die er den Menschen zu bringen hat, irgendwie beeinflußt oder umgestaltet? Wie würde Jesus uns Menschen des 20. Jahrhunderts die Bergpredigt halten?

Nun gab es ja zu seiner Zeit unter den Juden auch eine Gelehrsamkeit, wenn auch ganz anderer Art als die heutige, nämlich die Gesetzesgelehrsamkeit. Aber sie nahm das Interesse des Volkes gerade so stark, wenn nicht noch stärker, in Anspruch, als es die heutige Wissenschaft mit uns tut. Die Auslegung des Gesetzes bis in die kleinsten Bestimmungen, das war die Beschäftigung und die Gelehrsamkeit der Gebildeten jener Zeit. Und in dieser Hinsicht gehörte Jesus zu den Gebildeten, denn er war ein Gesetzesprediger. Bis zu seinem öffentlichen Auftreten war er für seine Umgebung nichts anderes, als was noch viele andere waren, ein Arbeiter, der sich in das Studium des Gesetzes und der Propheten vertieft hatte und deshalb Anspruch darauf machen konnte, ein Rabbi, ein Meister zu sein. Auch die Pharisäer und Sadduzäer haben ihn nie für einen Ungelehrten angesehen, sondern sie haben die theologischen Streitfragen über die Art der Heilighaltung des Sabbats, über die Ehescheidung, über das größte Gebot und über die Auferstehung vor ihn gebracht. Und er, in den Antworten, die er gibt, verleugnet den Gesetzesgelehrten nicht, sondern er entscheidet nach denselben Grundsätzen, wie sie, das heißt, er stellt Sprüche aus dem Alten Testament nebeneinander und zieht daraus seine Schlüsse. So z.B. setzt er das große Gebot der Liebe aus zwei Sprüchen des Alten Testaments zusammen; auch seine freiere Auffassung vom Sabbat rechtfertigt er aus der Schrift. Gewiß war er für gar manche seiner Zeitgenossen nichts anderes als ein frommer Rabbiner mit etwas zu freien und absonderlichen Ansichten. Jedenfalls war er kein Feind der Gesetzesgelehrsamkeit, denn sonst hätte er zum Volk nicht sagen können: Alles nun, was euch die Schriftgelehrten und Pharisäer sagen, daß ihr’s halten sollt, das haltet und tut.

Und doch, obwohl selbst ein Schriftgelehrter, war er innerlich unberührt geblieben von der Schriftgelehrsamkeit. Die andern tranken an der Quelle; er aber saß daran und wehrte nicht, daß sie ihm den Fuß netzte. Wie er dort sich zur jüdischen Gelehrsamkeit stellte, so hätte er sich, wenn er in unsre Welt und in unsre Bildung hineingeboren worden wäre, innerlich gleichgültig gegen unsre Wissenschaft und unsre Erkenntnis verhalten. Eine überlegene Gleichgültigkeit wäre es gewesen, wie sie nur ein Herrscher haben kann; eine Gleichgültigkeit, in der Gewährenlassen und Feindschaft nebeneinander wohnen und sich von einem Augenblick zum andern ablösen können. Auch für die Pharisäer hatte er anerkennende Worte – und die Geißel.

28 Erschienen in Evangelisch-protestantischer Kirchenboten für Elsass-Lothringen, 32. Jg., 1903, Nr.47 (21. November), S. 380-382). Übernommen aus der Version für eBook.

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In dieser Hinsicht gibt es nur einen noch, den man ihm vergleichen kann, einen von den wenigen, die man mit ihm zusammen noch nennen darf – Sokrates. Er lebte vier Jahrhunderte vor Jesus, in einer Zeit, wo das Denken und die Wissenschaft auf Erden überhaupt zum erstenmal erwachten und wo der Wissensstolz die Menschen überkam wie eine Trunkenheit. Unsre ganze Eingebildetheit auf die moderne Wissenschaft ist farblos und leblos, verglichen mit dem Selbstbewußtsein jener ersten Denker und Naturforscher. Und trotzdem er in jenem Wissen und Forschen unterrichtet war und einen klaren, durchdringenden Verstand besaß, blieb Sokrates von aller jener Gelehrsamkeit unberührt. Selber ein Sophist, das heißt ein Gelehrter, bekämpfte er die Sophisten mit ihren eigenen Waffen und überwand sie, indem er ihnen zeigte, daß ihre Wissenschaft, um die sie soviel Lärm machten, den Menschen zum innerlichen geistigen Leben nichts gab. So haben auch Jesus und Paulus als Gesetzesgelehrte die Gesetzesgelehrsamkeit überwunden.

Auch in unserer Zeit steht jeder Mensch, der innerliches Leben hat, über der Wissenschaft, und es wird so bleiben, solange es Menschen und Wissenschaft gibt. Und wenn Jesus zu unsrer Zeit erstände, würde er es mit der heutigen Wissenschaft halten, wie er es mit der Jesus und die Weisen

Was würde er sagen, was würde er tun, wenn er mit der heutigen Wissenschaft in Berührung käme? Es ist das keine bloße Frage der Neugierde, wie wenn man sich etwa vorstellte, daß Cäsar wiederkäme und sich nun staunend unsre Eisenbahnen, unsre Bauten und unser Kriegswesen ansähe; sondern wir möchten wirklich Jesum gern hineinstellen können in die ganze Gelehrsamkeit, weil wir oft nicht wissen, wie wir uns mit seinen Gedanken in der modernen Zeit bewegen sollen. Wie würde er reden, wenn er mit der heutigen Astronomie und Naturwissenschaft, mit der heutigen Philosophie und – nicht zuletzt – mit der heutigen Theologie zusammenträfe? Wenn er mit der Lehre von den Gesetzen und selbstwirkenden Kräften der Natur, mit den Erkenntnissen der Philosophie bekannt wäre, wenn er vernähme, daß im Alten Testament verschiedene Quellen sich finden, daß die Propheten lebten, bevor man das Mose zugeschriebene Gesetz aufstellte, würde die Verkündigung, die er den Menschen zu bringen hat, irgendwie beeinflußt oder umgestaltet? Wie würde Jesus uns Menschen des 20. Jahrhunderts die Bergpredigt halten?

Nun gab es ja zu seiner Zeit unter den Juden auch eine Gelehrsamkeit, wenn auch ganz anderer Art als die heutige, nämlich die Gesetzesgelehrsamkeit. Aber sie nahm das Interesse des Volkes gerade so stark, wenn nicht noch stärker, in Anspruch, als es die heutige Wissenschaft mit uns tut. Die Auslegung des Gesetzes bis in die kleinsten Bestimmungen, das war die Beschäftigung und die Gelehrsamkeit der Gebildeten jener Zeit. Und in dieser Hinsicht gehörte Jesus zu den Gebildeten, denn er war ein Gesetzesprediger. Bis zu seinem öffentlichen Auftreten war er für seine Umgebung nichts anderes, als was noch viele andere waren, ein Arbeiter, der sich in das Studium des Gesetzes und der Propheten vertieft hatte und deshalb Anspruch darauf machen konnte, ein Rabbi, ein Meister zu sein. Auch die Pharisäer und Sadduzäer haben ihn nie für einen Ungelehrten angesehen, sondern sie haben die theologischen Streitfragen über die Art der Heilighaltung des Sabbats, über die Ehescheidung, über das größte Gebot und über die Auferstehung vor ihn gebracht. Und er, in den Antworten, die er gibt, verleugnet den Gesetzesgelehrten nicht, sondern er entscheidet nach denselben Grundsätzen, wie sie, das heißt, er stellt Sprüche aus dem Alten Testament nebeneinander und zieht daraus seine Schlüsse. So z.B. setzt er das große Gebot der Liebe aus zwei Sprüchen des Alten Testaments zusammen; auch seine freiere Auffassung vom Sabbat rechtfertigt er aus der Schrift. Gewiß war er für gar manche

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 27/76 seiner Zeitgenossen nichts anderes als ein frommer Rabbiner mit etwas zu freien und absonderlichen Ansichten. Jedenfalls war er kein Feind der Gesetzesgelehrsamkeit, denn sonst hätte er zum Volk nicht sagen können: Alles nun, was euch die Schriftgelehrten und Pharisäer sagen, daß ihr’s halten sollt, das haltet und tut.

Und doch, obwohl selbst ein Schriftgelehrter, war er innerlich unberührt geblieben von der Schriftgelehrsamkeit. Die andern tranken an der Quelle; er aber saß daran und wehrte nicht, daß sie ihm den Fuß netzte. Wie er dort sich zur jüdischen Gelehrsamkeit stellte, so hätte er sich, wenn er in unsre Welt und in unsre Bildung hineingeboren worden wäre, innerlich gleichgültig gegen unsre Wissenschaft und unsre Erkenntnis verhalten. Eine überlegene Gleichgültigkeit wäre es gewesen, wie sie nur ein Herrscher haben kann; eine Gleichgültigkeit, in der Gewährenlassen und Feindschaft nebeneinander wohnen und sich von einem Augenblick zum andern ablösen können. Auch für die Pharisäer hatte er anerkennende Worte – und die Geißel.

In dieser Hinsicht gibt es nur einen noch, den man ihm vergleichen kann, einen von den wenigen, die man mit ihm zusammen noch nennen darf – Sokrates. Er lebte vier Jahrhunderte vor Jesus, in einer Zeit, wo das Denken und die Wissenschaft auf Erden überhaupt zum erstenmal erwachten und wo der Wissensstolz die Menschen überkam wie eine Trunkenheit. Unsre ganze Eingebildetheit auf die moderne Wissenschaft ist farblos und leblos, verglichen mit dem Selbstbewußtsein jener ersten Denker und Naturforscher. Und trotzdem er in jenem Wissen und Forschen unterrichtet war und einen klaren, durchdringenden Verstand besaß, blieb Sokrates von aller jener Gelehrsamkeit unberührt. Selber ein Sophist, das heißt ein Gelehrter, bekämpfte er die Sophisten mit ihren eigenen Waffen und überwand sie, indem er ihnen zeigte, daß ihre Wissenschaft, um die sie soviel Lärm machten, den Menschen zum innerlichen geistigen Leben nichts gab. So haben auch Jesus und Paulus als Gesetzesgelehrte die Gesetzesgelehrsamkeit überwunden.

Auch in unserer Zeit steht jeder Mensch, der innerliches Leben hat, über der Wissenschaft, und es wird so bleiben, solange es Menschen und Wissenschaft gibt. Und wenn Jesus zu unsrer Zeit erstände, würde er es mit der heutigen Wissenschaft halten, wie er es mit der Gesetzesgelehrsamkeit gehalten hat. Er würde ihre Sprache reden, ihr Gleichnisse entlehnen und in ihren Anschauungen leben. Gewiß, er wäre ein durch und durch moderner Mensch, was man so unter modern versteht. Aber innerlich blieben seine Lehre und sein Glaube dieselben; nur das Gewand wäre anders. Ein Freund der Wissenschaft aber wäre er nur, soweit eben die Freundschaft bei innerster Gleichgültigkeit reicht; und als Feind erstände er, sobald die Wissenschaft das innere Leben der Menschen lahmzulegen drohte.

Aber dann nicht ein Feind, wie die heutigen christlichen Gegner der Wissenschaft: Feinde, die Feinde sind, weil sie sich fürchten und Angst haben für ihr Christentum und die Religion überhaupt, und die der Wissenschaft Duldung und Anerkennung abzuzwingen, manchmal abzubetteln suchen – sondern ein selbstbewußter, stolzer Feind.

Der Frieden zwischen Jesus und der Wissenschaft würde nicht einmal solange halten, wie der mit der Schriftgelehrsamkeit; denn viel klarer, als wir es vermögen, würde er erkennen, was die Wissenschaft und die sogenannte wissenschaftliche Bildung unsrer Zeit an unserm geistigen Leben zugeschüttet haben. So sehr an sich die Wissenschaft berechtigt und notwendig ist, so darf man es doch andrerseits nicht übersehen, daß sie für viele Menschen das persönliche geistige Leben erstickt hat. Für viele ist sie nur eine andere Form der Gedankenlosigkeit, eine Art geistiger Betäubung geworden. In dem Irrgarten der modernen

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Geschichts- und Naturwissenschaften verirren sich die Menschen von sich selbst und haben zuletzt ganz das Bewußtsein davon verloren, daß das geistige Leben etwas Höheres ist als das Wissen. Sie fragen nicht mehr: Was gibt mir dieses Wissen, was gibt es mir für mein inneres Leben, sondern sie sind wie Bäume, die in einem engen Hof gepflanzt sind und nicht die innerliche Kraft haben, über die Häuser hinaus zur Sonne und zum Licht emporzuwachsen. Daß heutzutage der Streit über»Glaube«und»Wissen«noch in dieser Weise und so allgemein geführt wird, beweist nur, wie viele Menschen noch nicht über das Wissen hinausgewachsen sind.

Jesus hätte Mitleid mit den Menschen, die durch die heutige gelehrte Bildung ihres inneren geistigen Lebens verlustig gehen. Er würde die Wissenschaft bekämpfen; er würde sie unbarmherzig in ihrer inneren geistigen Armut bloßstellen; er wäre auch einmal ungerecht gegen sie, gegen das Gute und Berechtigte an ihr, wie er ungerecht war gegen die Pharisäer, und gewalttätig, wie die Gewalttätigen, von denen er sagt, daß sie das Himmelreich an sich reißen; und wenn er reden hörte von Versöhnung von Glauben und Wissen, würde er lachen, denn es gibt keine; zum Glück gibt es keine: Es gibt nur eine Herrschaft des innerlichen geistigen Lebens über das Wissen. Und weil Jesu Evangelium die höchste Form des geistigen Lebens ist, triumphiert es von selbst über alles Wissen in jedem Menschen, der geistiges Leben hat. Das wußte er; darum durfte er sagen: Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.

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29 UND ER PREDIGTE GEWALTIG UND NICHT WIE DIE SCHRIFTGELEHRTEN.

Was haben sich denn die Leute damals bei jener ersten Predigt gedacht, dass sie sagten: Er predigt gewaltig? Warum sagen sie nicht: Er predigt neu, er predigt interessant? Warum wagen sie nicht einmal, sich zu ärgern an der neuen Lehre, die er vorträgt? Warum? Sie wissen nur das eine: Ob er uns beleidigt, oder ob er uns tröstet, ob er uns in die Hölle stösst oder in den Himmel erhebt – er hat das Recht dazu. Sie haben einen gefunden, der das Recht hat, die Wahrheit zu sagen, jegliche Wahrheit, und darum spüren sie nur das eine: Gewalt. Sie wissen nicht, dass er dieses Recht hat, weil er rein und heilig lebt bis in seine innersten Gedanken, weil er nicht für sich, sondern nur für die andern lebt, weil er entschlossen ist, für die Menschen in den Tod zu gehen und ihre Schuld auf sich zu nehmen – sie fühlen es aber an der Gewalt seiner Worte. Das Recht haben, die Wahrheit zu sagen. Es genügt nicht, dass etwas wahr ist. Man muss auch das Recht dazu haben, die Wahrheit zu sagen, sonst ist sie wie ein Stein, von Kinderhand geschleudert, der vor den Füssen des Werfenden niederfällt. Wir leben in einer Zeit der Kraftlosigkeit der Wahrheit, weil keine Menschen da sind, die das Recht haben, sie zu sagen. Wahrheit ist viel da: Schlagt die Bücher auf, die unsere Zeit hervorbringt, lest ihre ernsten Romane und seht die Dramen, die sie schafft – da ist viel tiefe und ideale Wahrheit drin. Aber es fehlen die Menschen dahinter. Wo ist der Dichter, der uns die ideale Idee seines Stückes vorlebt und, statt weiter Stücke zu schreiben, der Menschheit seine Person, seine Kraft, seine Ideen, seine Ideale dahingibt und nun erst das Recht hat, alles Tiefe, das er in seinen Stücken gesagt hat, als Mensch zu sagen? Es gibt viele gewissenhafte Lehrer, es gibt viele gewissenhafte Eltern in unserer Zeit, aber es geht keine Gewalt und Kraft von ihnen aus, denn sie haben nicht das innerliche Recht, die Wahrheit, die sie aussprechen, mitzuteilen. Nur zwei Fragen, denn ich meine, ihr versteht, was ich sagen will: Wieviel Väter haben das Recht, zu ihren Söhnen zu sprechen: halte deine Jugend heilig, und wie viele Mütter haben das Recht, ihrem Kinde bei der ersten Lüge in die Augen zu schauen und zu sprechen: Du sollst nicht lügen? Soll ich von uns Predigern reden? Es gibt in unserer Zeit keine grossen, aber mehr als zu je einer Zeit ernste, gewissenhafte Prediger. Und doch, gewaltig ist unser Wort nicht, denn sonst wäre eine andere Zeit da. Wir brauchen nicht die Wirkung auf die Zeit in Betracht zu ziehen, wir wissen es von uns selbst. Es sind die höchsten und wahrsten Gedanken, die ein Prediger nicht so aussprechen darf, wie sie ihm vorschweben, sondern er muss sie abtönen, bis sie zu seiner Person passen. Wie manchmal möchte er glühend reden von der Bruderliebe, heiss von dem Vergeben, aber er darf es nicht so glühend sagen, wie er es sich denkt, weil er sich nicht das Recht dazu erworben hat. Wie oft, meint ihr, dass unten an der Kanzeltreppe auf den ernsten Prediger die Frage wartet: Mit welchem Recht hast du das soeben gesagt? Und er kann nur antworten: Weil ich ein verordneter Prediger des Evangeliums bin. Aber er kann nicht sagen: Weil ich von mir aus das Recht habe, so zu reden – und dann weiss er, dass seine Worte nicht gewaltig waren. Lasst mich euch ein Beispiel geben. Letzten Sonntag war Missionsfest. Da hat gar mancher junge Prediger sich seinen Text gesucht und sich voll Begeisterung an seine Predigt gemacht, um seine Gemeinde für die Mission zu begeistern. Und dann kam alles so unlebendig heraus, es kam ein Unbehagen über ihn, und die schönsten Gedanken brachen ihm unter der Feder zusammen, und die Predigt, die er wirklich hielt, war nur aus den Trümmern derjenigen zusammengesetzt, die ihm vorgeschwebt hatte. Warum? Er hörte eine Frage, klar oder verworren, aber er hörte sie, wenn er mit sich aufrichtig war: Wenn

29 Albert Schweitzer Predigten 1898 – 1948. Werke aus dem Nachlass im Verlag C.H. Beck, München 2001, S. 515ff.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 30/76 die Mission etwas so Herrliches ist und der Arbeiter so viele braucht, warum bist denn du hier, wo der Arbeiter genug, und nicht dort, wo sie fehlen? Da verlor er seine Unbefangenheit und konnte nur noch erbaulich, aber nicht gewaltig predigen. Man sagt, die Predigten unserer Zeit sind nicht mehr so feurig und so hoheitsvoll wie vor hundert oder zweihundert Jahren. Ganz gewiss. Vor Zeiten wagten es die Prediger, als Richter auf die Kanzel zu treten und mit schwungvollen Worten die höchsten Wahrheiten als selbstverständlich auszusprechen, aber unser Geschlecht ist zurückhaltenden und ängstlicher geworden, denn die Zeiten haben sich verändert: Wir sind Realisten geworden, im Bösen, aber auch im Guten, und viel strenger in der Wahrhaftigkeit gegen uns und andere. Wir verlangen – ihr und ich, wir gehören dazu – dass überall hinter jeder Autorität, welche sie auch sei, ein Mensch steht, der das Recht zur Autorität hat. Vor unsern Augen sehen wir, wie alle Autorität, im Irdischen wie im Geistigen, untergraben ist, und wie die christliche Kirche selbst Risse bekommt, dass man sich fragt: Wird sie nicht zusammenstürzen? Aber sagt nicht, das ist nur Geist der Unordnung, der Gleichgültigkeit, der Zuchtlosigkeit: Es ist die Wahrheit selbst, welche die unterirdischen Minen gräbt und die unterirdischen Sprengungen macht, deren Detonation uns erschreckt; die Worte und Autoritäten sind verbraucht, nur die Menschen können helfen. Unsere Zeit braucht Menschen, die das Recht haben, die Wahrheit zu sagen, Menschen, die Gewalt haben. Ihr erinnert euch, dass ich einmal die Notwendigkeit der Menschwerdung Christi so erklärt, dass die göttliche Wahrheit für uns Menschen unfassbar ist und bleibt, wenn sie sich nicht mit einer menschlichen Person, einem menschlichen Geiste und einem menschlichen Leben verbindet uns do unserm Geiste mitteilsam wird. Aber jene Menschwerdung der Wahrheit ist nur der Anfang einer bis in Ewigkeit sich fortsetzenden Menschwerdung der Wahrheit, die sich immer und immer auf Grund der Menschwerdung der Wahrheit in Christus in der Menschheit vollziehen muss. Es ist so viel göttliche Wahrheit in der Welt, als davon sich mit menschlichen Wesen verbunden hat und getragen wird von einem menschlichen Geiste. Siehe, ihr und ich, wir können den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, nicht mehr Wahrheit vermitteln, wir können ihnen nicht mehr geistig geben, als was in uns zu lebendiger Kraft geworden ist. Und wenn wir die Wahrheit in die herrlichsten Worte kleiden könnten, lebendig ist davon nur soviel, als wir innerlich das Recht haben, zu sagen, und das übrige sind kraftlose Worte, die der Wind uns vom Munde verweht. Das einzig Reale in der sinnlichen und in der geistigen Welt ist die Kraft, und nichts kann darüber hinwegtäuschen, wenn die Kraft nicht da ist. Das ist nun nicht etwas Allgemeines, sondern etwas für uns alle, denn wir alle brauchen Kraft für die andern, denn keiner von uns, auch der einsamste nicht, lebt ihm selber und stirbt ihm selber (Römer 14,7), sondern wir sind alle da, dass wir einander etwas sind und miteinander der Wahrheit entgegengehen. Ja, alle brauchen wir Gewalt: die Eltern zum Erziehen der Kinder, die Lehrer zum Lehren, die Prediger zum Predigen, die Leiter zum Leiten, die Vorsteher zum Vorstehen. Das ist es gut, dass wir schonungslos klar sehen. Die Welt entschuldigt die Menschen gern, wenn sie nichts ausrichten. Sie redet von Gaben, von Umständen, vom Verfahren und von den Methoden. Aber wir wissen das betrifft alles nur das Äusserliche – das, worauf es allein ankommt, ist das Innerliche. Wir können nur das an andern ausrichten, was in unserm Leben selbst lebendige Wahrheit geworden ist. Darum möchte ich besonders euch Eltern fragen, die ihr von Gott mit der hohen Aufgabe betraut seid, Kinder zu erziehen: Habt ihr an das eine, das einzige, was hiezu not, gedacht und denkt ihr immer daran? Ich meine manchmal, das Leben beginnt erst dann recht, wenn wir in die Lage kommen, andern etwas zu geben, und wir uns nun immer und immer wieder fragen müssen: Was hast du denn eigentlich zu geben? Was ist denn von aller Wahheit, von allem Streben dein

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Eigentum geworden, dass du andern davon geben könntest, und was hast du das Recht, ihnen zu sagen? Alle müssen wir in die Wahrheit hineinwachsen. Ich meine das nicht so in der allgemeinen Bedeutung: Es muss jeder auch tun nach dem, was er lehrt, sondern etwas viel Höheres. Die christliche Wahrheit, die wir der Welt und unsern Kindern geben wollen, steht hoch über allem, was wir mit unsern Kräften vermögen. Aber wenn wir auch nicht das Recht haben, sie andern mitzuteilen als die Vollkommenen, so haben wir es als die Kämpfenden. Siehe, wer sprechen kann aus innerstem Herzen: «Nicht dass ich es schon ergriffen hätte, ich jage ihm aber nach, ob ich es ergreifen möge» (Phil. 3,12) – der hat das Recht, die Wahrheit, alle Wahrheit, zu sagen, und in dessen Worten liegt Kraft. Wenn ein Mensch so strebt und ringt, da ragt die Kraft Christi in sein Leben hinein und geht von ihm aus. Und wenn man einmal dieses Ringen an einem Menschen verspürt hat, dann ist er etwas anderes geworden für uns, als er war. Ich kenne einen Pfarrer, der ungerechterweise schwer gekränkt worden war von einem Mitglied seiner Gemeinde. Als er sich an seine Karfreitagspredigt machte, da liess es ihm keine Ruhe, und obwohl er der Gekränkte war, tat er den ersten Schritt, um die Versöhnung herbeizuführen, mit schwerer Selbstüberwindung. Dieser hatte ein Recht, zu predigen am Karfreitag. Meint ihr, dass die, so um euch sind, dieses Ringen in euch verspüren? Ihr Ehegatten, weisse eines vom andern, was es für ein Sehnen und Köpfen im Herzen trägt? Ihr Eltern, meint ihr, dass euere Kinder fühlen, dass euer innerstes Trachten aufwärts geht? Ihr Lehrer, meint ihr, dass die Kinder in den Bänken vor euch wissen uns spüren: Da ist mehr als ein Lehrer, da ist ein christlicher, lebendiger Mensch? Wenn dem nicht so ist, dann seid ihr nichts füreinander und könnt nichts ausrichten. Aber überall, wo dieses Ringen, dieses Ernstmachen mit dem Christentum im Leben ist, das ist die Wahrheit lebendig und gewaltig. Ernst machen mit dem Christentum an uns und in unserem Leben, das ist, was uns allen fehlt. Wir leben so in einer Art christlicher Ehrbarkeit dahin, aber da steckt keine Kraft drin, denn es ist kein Kämpfen und kein Überwinden. Ach, möge der Herr uns geben Mut und Entschlossenheit, Ernst zu machen mit dem Christentum, dass es in uns lebendig werde und sich wieder kräftig und gewaltig erweise an der Welt und besonders an den Menschen, die geistig auf uns angewiesen sind.

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DIE FAMILIE BRESSLAU ALS BEISPIEL VON EINEM LIBERAL-JÜDISCHEN UND ASSIMILIERT-JUDISCHEN SCHICKSAL.

Rudy Van Kerckhove, Gossau

Am 25. Januar 1879 wird Helene als 2. Kind von insgesamt 3 Kindern in Berlin geboren.30 Verena Mühlstein beschreibt die Familie als «typische Repräsentanten der jüdischen Mittelschicht in Deutschland»31

Die Familie Bresslau gehörte zu einer jüdischen Schicht, die wir auch in der Lebensbeschreibung vom jüdischen Piloten aus dem Ersten Weltkrieg32 begegnen: voll und ganz Deutsch. Eine Bevölkerungsschicht deren Welt 1933 zerbrach.

Der Vater Harry Bresslau wird am 22. März 1848 als ältestes Kind des Bankiers und Ziegeleibesitzers Abraham Bresslau in Dannenberg in Niedersachsen geboren. Der Vater ist mehr in Literatur und Politik – allen voran in der Emanzipation der Juden und deren Gleichberechtigung in der deutschen Gesellschaft – als in seinem Geschäft interessiert. Das Streben nach gleichberechtigter Aufnahme in der deutschen Gesellschaft kann als Folge von Forderungen nach Integration und Assimilierung von nicht-jüdischer Seite interpretiert werden.33 Abraham Bresslau ist ein Anhänger des führenden Reformrabbiners Abraham Geiger.34 Als Befürworter der Reformbewegung will er dass seine Kinder die deutsche Sprache beherrschen, weil das die Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Aufstieg ist. Als Abraham 1866 Konkurs anmelden muss – die Wirtschaftskrise ist eine Folge des Preussisch-Österreichischen Krieges. Er hinterlässt seine Familie und zieht nach Amerika in der Hoffnung die Familie bald nachkommen lassen zu können. Sein Gehalt bei der New Yorker Staatszeitung reicht kaum zum Leben. Die Familie ist von Armut betroffen und die in Deutschland zurückgelassene Frau ist mit ihren fünf Kindern auf die Unterstützung der wohlhabenden Geschwister angewiesen. Harry Bresslau kann in Berlin Geschichte und Philologie studieren. Als Marianne Bresslau 1870 an die Folgen der Tuberkulose stirbt, fällt ihm als ältester Sohn die Rolle des Familienoberhaupts zu. Damit er sich um die Familie kümmern kann, nimmt er neben dem Studium noch eine Stellung als Erzieher im jüdischen Waisenhaus von Berlin an. Mit 21 Jahren promoviert er, gefördert vom berühmten Historiker .

Die Religion verliert für Harry Bresslau zunehmend an Bedeutung. Assimilierung und Emanzipation führen im 19. Jht dazu dass Juden ihre Religion verlassen und sich taufen

30 Ernst Bresslau wurde 1877 und Hermann Bresslau 1882 geboren. 31 Verena Mühlstein, Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene. C.H. Beck Verlag München, 1998, S. 13ff. Ich stütze mich im Folgenden grösstenteils auf diese Quelle. 32 Lorenz S. Beckhardt, Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2016. 33 Eine gewisse Ähnlichkeit würde ich hier sehen mit den modernen Forderungen an islamischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sich unserer Gesellschaft «anzupassen». Die Juden haben sich nach der Französische Revolution überall dort, wo man ihnen Glaubens- und Niederlassungsfreiheit gewährte, assimiliert. Aber die Assimilierung konnte den Antijudaismus nicht besiegen. Ob eine Assimilierung von Muslime eine Linderung der anti-islamischen Stimmung zur Folge haben wird, wird sich zeigen. 34 Abraham Geiger hat sehr viel über Jesus und das Christentum publiziert. „In seinem Werk Das Judentum und seine Geschichte hat er Jesus als Pharisäer definiert. Christliche Theologen waren darüber sehr verbittert. Geiger war der erste Jude, der christliche Texte einer detaillierten historischen Analyse aus explizit jüdischer Perspektive unterzog. ... Seine Forschung zielte ... auf eine Judaisierung des Christentums“. Siehe: Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Jüdische Verlagsanstalt Berlin, 1998, S.27ff.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 34/76 lassen. Für den «Urvater» des Reformjudentums, Moses Mendelssohn (1729 – 1786) galt, was später in der Neoorthodoxie von Samson Raphael Hirsch (1808 – 1888) ebenfalls als Motto galt: «Ein Jude zuhause, ein Mensch auf der Strasse»35. Das Judentum blieb für «emanzipierte Juden» eine lästige Barriere vor dem gesellschaftlichen Aufstieg.36 Erst die Bekehrung zum Christentum, sei es katholisch oder evangelisch, öffnete weitere Türen. Das «Judentaufen» um die Wende vom 18. zum 19. Jht wird zu einer Prüfung für das jüdische Leben. Reformjudentum («liberales») und Neoorthodoxie waren die neue Antworten auf diese Bedrohung. Harry Bresslau geht nicht so weit, dass er sich taufen lässt. Verena Mühlstein hält fest, dass Emanzipation für ihn nicht «Emanzipation des Judentums», sondern «vom Jüdischen» bedeutet.37 Im Jahre 1872 habilitiert Harry Bresslau im Fach Geschichte. Ein Jahr zuvor hatte die Verfassung des Deutschen Reichs bestimmt, dass «... die Konfession kein Hindernis zur Bekleidung öffentlicher Ämter sein dürfte... »38 Das Judentum wurde aber nur als eine geduldete, den christlichen Kirchen nicht ebenbürtigen, Religion anerkannt. Als Privatpersonen hatten die Juden zwar Bürgerrechte, von höheren Staatsfunktionen (Justiz, Armee und Universität) blieben sie ausgeschlossen. Für akkulturierten, wie assimilierten Juden auch bezeichnet werden könnten, entstand ein Problem. Sie empfanden sich als «Deutsche jüdischer Konfession» aber mussten feststellen dass sie doch nicht als integriert betrachtet wurden. Sowohl Protestanten als Katholiken bezeichneten die Juden in ihren Gottesdiensten und Hasstiraden die Juden als «Gottesmörder». Dazu kam noch ein neuer Typus von Antisemitismus. Neben dem kirchlichen Antijudaismus, dessen Spuren in die Zeit des Urchristentums weisen, entstand ein rassistischer Antisemitismus, der die Juden als «Fremdkörper» betrachtete. Die politischen Liberalen bejahten zwar die Gleichberechtigung, lehnten aber die jüdischen Lebensformen ab. In seiner Stellungnahme zum Antisemitismusstreit39, forderte der liberale Gelehrte Theodor Mommsen 1880 von den Juden die Selbstaufgabe ihres Judentums: «Die Juden führte kein Moses wieder in das gelobte Land; mögen sie Hosen verkaufen oder Bücher schreiben, es ist ihre Pflicht, so weit sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu tun und alle Schranken zwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen».40 Dem Optimismus der Gründerjahre machte einen Börsenkrach einem Ende und in Folge vernichtete die Wirtschaftskrise viele Existenzen. Die Sozialdemokratie empfanden die konservativen Kräfte als Bedrohung und ein «Sündenbock» musste her. Die Antisemiten behaupteten, dass die Juden die Arbeiter zum Umsturz aufhetzten. Der Hofprediger Kaiser Wilhelms I., Adolf Stoecker, gründete die «Christlich-Soziale Arbeiterpartei» und machte ausschliesslich die Juden für die Wirtschaftskrise verantwortlich.41 Der Begriff der

35 Albert H. Friedländer, Von Berlin in die Welt. Personen und Stationen der jüdischen Reformbewegung, in: Jüdische Lebenswelten. Essays, Jüdischer Verlag, Suhrkamp. 3. Aufl. 1992. S. 15ff. 36 Vgl. Ludwig Philippsons Kommentar in der «Allgemeine Zeitung des Judentums» 1861: «Die Gewissensfreiheit ist solange nicht eine vollständige, als es noch bevorrechtete Religionen oder Konfessionen im Staate, solange es noch eine Staatsreligion gibt. Erst wenn entweder alle Kulte einen gleichen oder gar keinen Anspruch auf die Staatsmittel und – anstalten haben, wie jenes in Frankreich, dieses in Nordamerika der Fall ist, ist die vollständige Gewissens- und Glaubensfreiheit besiegelt». Zitiert bei: Walter Grab, Juden und Demokratie. Zwei Jahrhunderte sozialen und politischen Engagements in Deutschland, in: Jüdische Lebenswelten. Essays, Jüdischer Verlag, Suhrkamp. 3. Aufl. 1992, S. 339ff. 37 Verena Mühlstein, S. 15. 38 Walter Grab, S. 341. 39 Ausgelöst von Heinrich von Treitschke. Darüber später. 40 Walter Grab, S. 342. 41 «Den Auftakt der offen einsetzenden antijüdischen Hetze und Propaganda bildete eine Artikelserie von Dezember 1874 bis Dezember 1875 in der Gartenlaube, welche die Juden für den «Börsen- und Gründungsschwindel»

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«Weltverschwörung» trat auf die politische Bühne und fand bei den Kleinbürgern und Handwerkern, die von der Industrialisierung überholt worden waren, Gehör. Die antisemitische Stimmung, welche Adolf Stoecker in den «Unterschichten» erreichte, erreichte sein Gesinnungsfreund, Professor Heinrich von Treitschke, bei der «feine Gesellschaft».42 Heinrich von Treitschke betonte die «deutsche nationale Mission» der Hohenzollerndynastie. In seinen Publikationen beschuldigte er die Arbeiterpartei, Mordpläne gegen das Kaiserhaus auszubrüten. Jüdische Sozialdemokraten schimpfte er «orientalische Chorführer des Umsturzes» und sein Ausruf «Die Juden sind unser Unglück!» wurde zum Losungswort der Antisemiten.43

Harry Bresslau wird 1873 Privatdozent an der Universität Berlin und Lehrer am Andreasgymnasium für Geschichte, Deutsch, Englisch und Französisch. In diesem Jahr lernt er in Trier seine zukünftige Frau Caroline Isay kennen, die er 1874 heiratet.

Caroline Bresslau, ge- nannt Carry, wurde am 26. August 1853 in der Gemeinde Schweich gebo- ren. Ihre Eltern waren der Handelsmann Heymann I- say und Heba Isay, gebo- rene Pelzer. In erster Ehe war Heymann Isay mit Leila Simon (1816 – 1845) verheiratet gewe- sen und brachte aus die- ser Ehe die Töchter Bar- bara und Henrietta mit. In der 2. Ehe wurden Isidor (1846–1902), Moses (1850–1925), Karl (1852– 1852), Caroline (1853– 1941) und Johanna Isay (1855–1913) geboren. Vermutlich hat Carry die jüdische Elementarschule in Schweich, vermutlich von 1859 bis 1867, be- sucht. Die Familie zog nach Trier um. Dieser Umzug von jüdischen Bürgern vom Land in die grösseren Städte kommt in der zweiten Hälfte des 19. Jhts häufiger vor.44

verantwortlich machte. Die Gartenlaube war ,mit 375000 Abonnenten, damals die führende Familienzeitschrift im deutschen Kaiserreich. 42 Walter Grab, S. 343. Ausführliche Information zum Phänomen des modernen Antisemitismus bei: H.H. Ben-Sassoon, Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. C.H. Beck Verlag, München 1995, S. 1068ff. 43 Diese Parole prägte auch die erste Seite der nationalsozialistischen «Der Sürmer» von Julius Streicher. 44 Willi Körtels, Caroline Bresslau-Isay, Schwiegermutter Albert Schweitzers, Internet.

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Beim jungen Ehepaar finden auch die jüngere Geschwister von Harry Bresslau, Clara (15) und Ludwig (13), Aufnahme. Ludwig geht aufs Gymnasium und Clara beginnt später eine Ausbildung als Lehrerin. Harry Bresslau hat – wie sein Vater – eine fortschrittliche Einstellung zur Mädchenbildung. Caroline nimmt, nach dem Tod ihrer Halbschwester Barbara im Jahre 1873, die beiden schulpflichtige Söhne, Jacques und Leo auf, damit sie ihre Gymnasialstudien in Berlin fortsetzen konnten. Am 10. Juli 1877 wird das erste Kind von Harry und Carry Bresslau-Isay geboren, Ernst. Einige Tage zuvor, am 5. Juli 1877, war Harry Bresslau zum ordentlichen Professor ernannt worden. Wenige Tage vor der Geburt der Tochter Helene im Jahre 1879 bezieht die Familie eine grössere Wohnung in Berlin. Die Familie Bresslau ist als eine sehr gastfreundliche Familie in Erinnerung geblieben.45

Habilitation, Anstellung als Privatdozent und Gymnasiallehrer, Heirat, Ernennung zum Professor und Geburt der eigenen Kinder fallen in dieser Zeit der mit dem «Antisemitismusstreit»46 seinen Höhepunkt erreicht. Zugleich kann wohl der Umzug der Familie Bresslau von Berlin nach Strassburg als Folge dieses Streites betrachtet werden. Im Jahr der Geburt Helenes Bresslau erschien im November 1879 in den Preussischen Jahrbüchern der Aufsatz Unsere Aussichten von Heinrich von Treitschke. In diesem Artikel beschreibt er die Juden als eine «Schar strebsamer hosenverkaufender Jüngliche» und «deutsch redender Orientalen». Er warnt vor einem «Zeitalter deutsch-jüdischer Mischkultur». Auslöser für diese Reaktion von Treitschkes war offenbar die Lektüre des 11. Bandes der Geschichte der Juden von . Diesem unterstellte Treitschke «einen Todhass gerade wider die meisten und mächtigsten Vertreter germanischen Wesens von Luther bis herab auf Goethe und Fichte». Graetz wies die Vorwürfe in der Schlesischen Presse zurück und betonte, dass nicht er der Fanatiker, sondern Treitschke, weil dieser nicht bemerke, was er mit seiner Publikation bewirke.47 In dem nun einsetzenden Streit meldeten sich hauptsächlich Juden zu Wort, getaufte und ungetaufte: Rabbiner Manuel Joel, Harry Bresslau48, Moritz Lazarus, Hermann Cohen, Ludwig Bamberger, Heinrich Bernhard Oppenheim. In ihrer Reaktionen betonten sie, dass die in Deutschland lebenden Juden sich als Deutsche fühlten und sich lediglich durch die Religionszugehörigkeit von den christlichen Landsleuten unterschieden. Theodor Mommsen gehörte zu den wenigen Nichtjuden, die protestierten49.

Verena Mühlstein berichtet dass auf keinen «Aufsatz kommen so viele empörte Antworten mit wütenden antisemitischen Beschimpfungen wie auf den des assimilierten Harry Bresslau. Heinrich von Treitschke findet dass Harry Bresslau überempfindlich reagiert50. Harry Bresslau macht die gleiche Erfahrung, die Abraham Geiger bereits Jahre zuvor beschrieben hatte. Während die orthodoxen und armen Juden verspottet und verachtet

45 Willi Körtels. Auch Verena Mühlstein, S. 17: «Harry Bresslau führt ein gastliches Haus. Regelmässig werden seine Studenten eingeladen, und jeden ersten Montag im Monat kommen die Kollegen mit ihren Ehefrauen zu Besuch. Unter den Gästen sind zwar Juden oder mit Jüdinnen verheiratete Dozenten in der Mehrzahl, doch immer sind auch Nichtjuden darunter, was durchaus nicht selbstverständlich ist. Bresslaus werden sogar zu christlichen Kollegen eingeladen – eine noch grössere Seltenheit.» 46 Die Zeitgenossen sprachen von «Treitschkestreit» oder von «Treitschkiade». Seit 1965 hat sich die Bezeichnung «Berliner Antisemitismusstreit» eingebürgert. 47 Julius H. Schoeps, Das Evangelium der Intoleranz. Theodor Mommsen gegen Heinrich von Treitschke: Eine grosse Dokumentation wirft neues Licht auf den Berliner Antisemitismusstreit. 30. Oktober 2003. Zeit-Online. Literatur. 48 Die Reaktion von Harry Bresslau ist als Anhang zum diesjährigen Johannistreffen beigefügt. 49 Eine Rezension über die von K. Krieger herausgegebene Quellensammlung ist ebenfalls als Anhang beigefügt. 50 Verena Mühlstein S. 20ff.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 37/76 werden, werden die modernen Juden, die sich angepasst haben nicht verachtet, sondern «er wird gehasst».

Die Erfahrungen werden der Familie Bresslau jedes naive Vertrauen in die Sicherheit der Juden in der deutschen Gesellschaft nehmen. Trotz den antisemitischen Stimmung – oder gerade vielleicht gerades deswegen – legt Harry Bresslau Wert darauf, dass seine Kinder eine Erziehung bekommen in der sie «deutsche Sitte, deutschen Geist, deutsche Cultur ganz und voll in sich aufnehmen». Der «patriotische Geist» in welcher die Bresslauer Kinder erzogen werden, lässt später Helene sich als «fremd» im französisch gewordenen Günsbach vorkommen. Harry Bresslau ist empfindlich für versteckter Antisemitismus, der sich z.B. auch in Komplimenten versteckt, wie die Feststellung, dass er, Harry Bresslau «doch eigentlich gar kein Jude sei». Harry Bresslau möchte seinen Kindern die Erfahrung der Diskriminierung ersparen.

Helene ist sich bewusst, dass sie in einem privilegierten Umfeld aufwächst, genau wie ihr späterer Ehemann, Albert Schweitzer. Beide teilen ein Verantwortungsgefühl für die weniger materiell Abgesicherten aufgrund ihrer privilegierten Kindheit. Verena Mühlstein zitiert einen Rückblick von Helene Schweitzer Bresslau auf ihre langjährige Ehe mit Albert: «Wir begegneten einander in dem Gefühl der Verantwortlichkeit für all das Gute, was wir in unserem Leben empfangen hatten, und in dem Bewusstsein, dass wir dafür zu bezahlen hätten durch Hilfeleistung gegenüber anderen».51 Im Juni 1886 entscheidet Harry Bresslau, dass seine Kinder getauft werden sollten. Die Taufe wird im Ort, wo die Familie die Sommerferien verbringt, Suderrode im Harz, stattfinden. Für Harry Bresslau ist das Christentum, wie das Judentum, eine zeitgebundene Glaubensform. Mit der Taufe seiner Kinder erhofft er ihnen die letzten Hindernissen für eine Assimilation zu nehmen. Für seine Frau und für sich kommt die Taufe nicht in Frage. Zur jüdischen Synagoge und zum Judentum haben sie kaum, eher keine, Beziehung. Trotzdem wollen sie nicht übertreten. Verena Mühlstein vermutet, dass er einen Übertritt als Verrat gegenüber seiner Familie und Freunden empfunden hätte, wenn er sich aus reinen Nützlichkeitserwägungen hätte taufen lassen. Vielleicht hat Harry Bresslau ähnlich empfunden wie Abraham Mendelssohn, der fünfzig Jahre zuvor in einem Brief an seinen Sohn Felix, die Taufe seiner Kinder gerechtfertigt hätte mit den Worten: «... ich musste für Euch wählen. Dass ich keinen innerlichen Beruf fühlte, bei meiner Geringsschätzung aller Form überhaupt, die jüdische als die veraltetste verdorbenste, zweckwidrigste für Euch zu wählen, versteht sich von selbst. So erzog ich Euch in der christlichen als der gereinigteren von der grössten Zahl civilisirter Menschen angenommen.» Christentum ist für Harry Bresslau etwas Äusserliches. Seine Mutter hatte damals seine Schwester, die zur Teilnahme

51 Verena Mühlstein, S. 24.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 38/76 an christliche Gebete gezwungen wurde, geschrieben: «... die äussere Form ist ja nur ein Kleid,... bete für Dich zu Deinem Gott, während Du die Form mitmachst». Harry Bresslau ist der einzige in seiner Familie der diese Entscheidung fällt. Sie ist ihm auch ein wenig peinlich. Die Taufe findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Sommerort statt. Entsprechend dem mehr oder weniger übliche Praxis, dass Juden ausserhalb des Gottesdienstes, im privaten Rahmen getauft wurden. Helene hatte mit ihrer Taufe keine Mühe. Jüdisches Bewusstsein kannte sie nicht. Erst als sie an Leib und Leben als Jüdin gefährdet ist, erinnert sie sich an die Stellungnahme ihres Vaters gegen von Treitschke.

Während für Harry Bresslau das Judentum keine Bedeutung (mehr) hat, lag dies vermutlich bei seiner Frau Carry anders. Verena Mühlstein betont, dass Carry Bresslau aus einem wesentlich traditionelleren jüdischen Elternhaus als Harry kam.52 Sie äusserte sich nicht über die Religion und die Entscheidungen ihres Mannes. Sie erzählte ihren Kindern Erzählungen aus der hebräischen Bibel, enthielt sich aber mit ihnen zu beten oder über das Judentum zu reden. Die christliche Feste wie Weihnachten und Ostern werden in ihre säkularisierten Form – Weihnachtsbaum, Ostereier – begangen.

Am 12. März 1890 wird Harry Bresslau zum ordentlicher Professor an der Kaiser-Wilhelm- Universität in Strassburg berufen. Die Universität ist ein Prestigeobjekt des deutschen Kaiserreichs. Eigentlich ist es eine Abschiebung, da er gehofft hatte an einer der alten renommierten Universitäten berufen zu werden. Aber er ist nicht getaufter Jude. Es ist eine Ausnahme, ohne Taufe, ein Ordinariat zu bekommen. Er stellt sich der Aufgabe mit seiner Arbeit einen Beitrag zu leisten damit die widerstrebenden Elsässer sich für das Deutschtum gewinnen lassen. In der weltoffenen Stadt Strassburg fühlen sich die Bresslaus bald daheim. Hier spielt die jüdische Herkunft der Familie eine untergeordnete Rolle. Sie sind an erster Stelle Deutsche und bilden so eine Minderheit.53 Sie erleben hier keinen offenen Antisemitismus, sind voll integrierte Mitglieder der deutschen Professorenfamilien. In der St. Wilhelmskirche besucht Helene den Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Engelmann, ein Vertreter der liberalen Theologie. Durch und durch Rationalist, lässt er den Konfirmandinnen und Konfirmanden keine Katechismustexte oder Lieder auswendig lernen, sondern liest mit ihnen die Bibel. Universalismus, Vernunft und Toleranz, die Ideale der Aufklärung sorgen dafür, dass Harry Bresslau seine Entscheidung, die Kinder taufen zu lassen, nicht bereut. Glaube und Vernunft sind keine Gegensätze. In einem Brief an Albert Schweitzer, blickt die erwachsene Helene zurück auf diese Zeit und interpretiert ihren Konfirmationsspruch im Sinne eines Auftrags: «... der Gott, dem ich mein Leben in die Hände legte, seit ich religiös denken kann – der Geist ist erhaben über Allem & doch nicht zu erhaben, um nicht auch im Kleinsten wirksam zu sein. „Gott ist die Liebe“ und wer in der Liebe bleibet, der bleibt in Gott und Gott in ihm“». Wie ihren Vater sein Bar- Mizwa-Spruch durchs Leben begleitet, versteht sie diese Worte aus dem 1. Johannesbrief als einen Auftrag. Sie versteht dieses Bibelwort als Aufforderung, sich in Liebe ihren Mitmenschen zuzuwenden.54

Im Herbst 1895 fängt Helene ihre Ausbildung am Lehrerinnenseminar an. Sie besteht die Prüfung schon mit 17 Jahren und am 12. Dezember 1896 erhält sie ihr «Zeugnis der

52 Verena Mühlstein, S. 28. 53 Verena Mühlstein, S. 35. 54 Verena Mühlstein, S. 37.

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Befähigung zur Anstellung als Lehrerin an Höheren Mädchenschulen in Elsass-Lothringen». Am städtischen Konservatorium fängt sie, neben dem Studium der Musiktheorie, mit einem Klavier- und Gesangsstudium an.

Am 6. August 1898 lernt sie bei einer Trauung Albert Schweitzer kennen. Er ist ihr als Tischpartner zugeteilt. Sie ist gerade 18 und er hat sein erstes theologisches Staatsexamen mit 23 bestanden. Im Gegensatz zu Helene, spricht er kein perfektes Hochdeutsch. Die Familie Schweitzer sprach Elsässisch als Umgangssprache und pflegte die französische Sprache. Der Vater, Louis Schweitzer, war nach der Niederlage Frankreichs nicht aus seiner Gemeinde weggezogen, weil er sich der Gemeinde verpflichtet fühlte. Verena Mühlstein betont, dass es vermutlich nicht „Liebe auf dem ersten Blick“ war. Helene interessierte sich für ihren älteren Tischpartner, der aber zu dieser Zeit sich eher zu älteren Frauen hingezogen fühlte, wie z.B. seine Tante Mathilde in Paris.

Helene begleitet ihre Eltern im Herbst 1899 auf einer sechsmonatigen Archivreise durch Italien. Die Landschaft um den Lago Maggiore bedeutet ihr sehr viel. Mit dem Vater als Reiseführer reist die Familie von Oberitalien nach Neapel. In Rom begegnen sie, um Weihnachten, die Familie von Ludwig Geiger, Sohn des bekannten Reformrabbiners Abraham Geiger, der auch über Jesus und das Judentum publizierte. Ihre Begeisterung für die Kunst führt dazu, dass sie im Herbst 1900 sich für das Sommersemester bei dem Kunsthistoriker Georg Dehio anmeldet. Die Strassburger Universität gewährte Frauen die Möglichkeit des Studiums.55

Als im Februar 1901 Elly Knapp, Elsa und Fritz Haas bei Bresslaus zu Besuch sind, beschliessen sie einen «Radelclub» zu gründen. Andere Freunde sollten noch eingeladen werden und so schlägt Helene vor, Albert Schweitzer dazu einzuladen. Sie erinnert sich dass sie ihm an der Hochzeit versprochen hatte «Huttens letzte Tage» von Conrad F. Meyer zu schicken. Sie löst ihr Versprechen ein und bekommt am 2. März 1901 eine Karte von Albert Schweitzer der sich ebenfalls an sie erinnert. Als Schweitzer zum Radelclub stosst, ist er schon promoviert in Philosophie und Theologie, Vikar an der St. Nicolaikirche und mit der Habilitation beschäftigt. Er hat schon einen Namen als Organist. In seinen Erinnerungen wundert sich Fritz Haas, dass «dieser vielbeschäftigter Mann sein Genüge fand in unserem sicher angeregten, aber doch genau besehen harmlosen Kreis junger namenloser Menschen. Er fühlte sich behaglich unter uns, er fand in uns ein dankbares und aufnahmefähiges, aber doch nicht kritikloses Publikum, und unser fröhliches, aufgeschlossenes Wesen und der Humor, der in unserem Kreis herrschte, waren für ihn eine geistige Erholung».56

Das Radfahren war nur die Legitimation für das Zusammensein der jungen Leute und nicht länger einziger Zweck. Fritz Haas: «Man brauchte in der damaligen zeit eben ein Mittel, um die konventionellen Schranken, die den freien gesellschaftlichen Verkehr der Geschlechter einengten, niederzulegen, und man fand es im Radsport». Harry Bresslau vertraut auf dem Erziehungsgrundsatz seines Lüneburger Gymnasiums: «Freiheit behütet die jungen Menschen davor, sich Unerlaubtes herauszunehmen». Albert Schweitzer ist auch davon angetan mit jungen Frauen reden zu können, die anders in den Sinn haben als Hochzeit, Kinder und Küche, dafür aber sich für soziale Fragen, Musik, Literatur und Kunstgeschichte interessieren.

55 Verena Mühlstein, S. 45. 56 Verena Mühlstein, S. 48ff.

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Helene Bresslau ist je länger je mehr von Albert Schweitzer beeindruckt. Bei ihm findet sie eine Auffassung von Christentum, die ihren Vorstellungen entspricht. Auch seine tiefe Frömmigkeit beeindruckt sie. Bei einem Ausflug am 22. März 1902 eröffnet Albert ihr seine Absicht auf eine Ehe zu verzichten und statt dessen Waisenkinder bei sich aufzunehmen. Er bittet Helene aber um ihre Freundschaft und sie willigt ein. Sie versprechen sich, täglich um 10 Uhr abends an einander zu denken. Dieses Versprechen taucht immer wieder in der Korrespondenz auf.

Wenn Albert Schweitzer Helene Bresslau anvertraut, dass Religion für ihn nur «schlicht Mensch sein im Sinne Jesu» heisst, dann versteht sie diesen Gedanken, weil er ihr von klein auf vertraut ist, da er ja einer langen jüdischen Tradition entspricht.57 Dieser Tag, den 22. März 1902, ist der Anfang einer lebenslangen Freundschaft und Beziehung. Nachdem Helene ihren Eltern über die Freundschaft informiert hat, beginnt ein reger Briefwechsel. Harry Bresslau hat von seinen Kollegen Ziegler und Holtzmann über den neuen Privatdozenten gehört und die Eltern haben nichts gegen die Freundschaft einzuwenden.

57 Verena Mühlstein, S. 54ff. «Martin Buber hatte schon im Jahre 1901 bei der Lektüre von Schweitzers theologischer Dissertation über das Abendmahlsproblem erstaunt „die Weltoffenheit und damit auch die eigentümliche Israelnähe“, festgestellt.»

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DAS SENDSCHREIBEN VON HARRY BRESSLAU AN HEINRICH VON TREITSCHKE «ZUR JUDENFRAGE»

Rudy Van Kerckhove, Gossau

In ihrem Brief an Luise Bresslau-Hoff vom 24.09.1940 schreibt Helene Schweitzer Bresslau: «In letzter Zeit spricht man auch hier in der Öffentlichkeit über die Rassenfrage und nicht immer in einer gemässigter Form. Ich denke an die (gedruckten) Diskussionen, die mein Vater mit seinem Kollegen, den grossen Historiker T(reitschke)58 führte, & ich hätte gern eine Kopie davon, um vergleichen zu können, & um denen, die es betrifft, entge- genzuhalten.»

58 Im Zitat bei Verena Mühlstein steht nur „T.“ Ergänzung RVK

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Zur Judenfrage.

Sendschreiben

an

Herrn Professor Heinrich von Treitschke

von

Dr. Harry Bresslau,

a.o. Professor der Geschichte an der Universität Berlin.

Zweite, mit einem Nachwort vermehrten Auflage.

Berlin 1880.

Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung

Harrwitz & Gossmann.

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Sehr geehrter Herr College!

Als ich, wie Sie, die Herbstferien dieses Jahres im Auslande verbrachte, hatte ich nur eine unbestimmte und undeutliche Kunde von der antijüdischen Bewegung, die indessen in der Hauptstadt des deutschen Reiches begonnen hatte so viel peinliches Aufsehen zu erregen. Wohl gelangte ab und zu eine deutsche Zeitung in meine Hände, in der ich einen Bericht über die doch mehr grotesken als gefährlichen Reden las, welche in den christlich-sozialen Parteiversammlungen gehalten waren; aber eine grösser Bedeutung glaubte ich diesen immerhin bedauerlichen Symptomen der Intoleranz nicht beimesen zu sollen. Mich mit den Männern, welche an der Spitze dieser Agitation standen, in eine Discussion einzulassen, fühlte ich auch nach meiner Rückkehr in die Heimat um so weniger Versuchung, als ich fest überzeugt war, dass diese ganze Bewegung an ihrer eigenen Uebertreibung und Masslosigkeit in kurzer zeit zu Grunde gehen werde, dass sie einen grossen und dauernden Schaden nicht anzurichten vermöge. Um so mehr musste es mich befremden und erregen, dass auch Sie, geehrter Herr College, Ihre weithallende und einflussreiche Stimme in den misstönenden Chorus der Stöcker und Knönagel, der Marr und Diestelkamp einmischen; ich sah voraus – und diese Erwartung hat sich schon nach wenigen Tagen bestätigt! - dass Sie fortan als unanfechtbare Autorität für Männer gelten würden, mit denen ich gehofft hätte, Sie nie in Gemeinschaft nennen zu müssen. War vornehmes Schweigen die einzige Antwort, die dem gebildeten Juden gegenüber jener von Ihnen selbst als brutal und gehässig bezeichneten Agitation geziemte, so dürfte Ihnen gegenüber ein solches Schweigen leicht als Zustimmung oder doch als aus Unfähigkeit zur Widerlegung entsprungen gedeutet werden können. Und gerade weil ich bisher die Ehre gehabt habe, in freundlich- collegialischen Beziehungen zu Ihnen zu stehen, weil ich ein jünger derselben Wissenschaft bin, als deren hochbegabten und hochgefeierten Vertreter Deutschland Sie kennt, weil ich endlich bisher in politischen Dingen im Wesentlichen auf demselben Standpunkt gestanden habe, wie Sie selbst, fühlte ich mich um so eher berufen und verpflichtet, mit meinem achtungsvollen aber entschiedenen Einspruch gegen die Anschauungen nicht zurückzuhalten, welche Sie im Novemberheft der „Preussischen Jahrbücher“ über die sog. Judenfrage entwickelt haben. Vielleicht gelingt es mir Sie zu überzeugen, dass die thatsächlichen Voraussetzungen, auf welche Sie Ihre Schlüsse begründen, zum grossen Theil irrig sind, dass Ihr Urtheil ungerecht und verletzend ist, dass Sie mit einem Wort eine schwere Verantwortung auf Sich genommen haben, indem Sie von unhaltbarer Grundlage aus eine grosse Zahl Ihrer Mitbürger tief gekränkt und in einer zeit, da die socialen Gegensätze ohnehin schon allzu scharf gespannt sind, ohne Noth zur weiteren Steigerung derselben beigetragen haben.

Ich fürchte nicht Ihrem Widerspruch zu begegnen, wenn ich bei den nachfolgenden Erörterungen von einer Voraussetzung ausgehe. Sie werden mit mir darin übereinstimmen, dass die Judenfrage in der Weise, wie sie heute auftritt, keine religiöse, sondern eine Frage der Nationalität, wenn Sie wollen, der Race ist. Indem Sie selbst von getauften und ungetauften Juden reden, in dem Sie Felix Mendelssohn und Börne trotz ihres Uebertritts zum Christenthum zu den Juden rechnen, indem Sie an uns nur die Aufforderung richten, Deutsche zu werden, uns aber das Festhalten an unserer Religion gestatten wollen, bereiten Sie den gemeinsamen Boden, auf dem es mir erst möglich ist, in die Discussion mit Ihnen einzutreten: über Fragen religiöser Natur mit Ihnen zu streiten, würde es mir so an der Neigung wie an dem Berufe gefehlt haben. Wie Sie selbst werde ich demnach den Ausdruck

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Jude nur zur Bezeichnung der Abkunft, nicht der Religion anwenden59; wenn ich mich nicht des neuerdings in Aufnahme gekommenen Namens Semit bediene, so geschieht das nicht, weil ich gegen denselben irgend eine besondere Abneigung hätte, sondern nur weil er mir doch sehr wenig passend zu sein scheint. Ihnen ist es ja sehr wohl bekannt, dass die Begriffe Jude und Semit sich in keiner Weise decken, dass wir über die Charak- tereigenschaften der zum Semitenstamme gehörigen Völker zum Theil nur sehr schlecht unterrichtet sind, und dass jedenfalls manche derselben sich nicht weniger scharf und bestimmt von einander unterscheiden, als Germanen und Slaven, Inder und Kelten. Wenn trotzdem auch Sie gelegentlich in unserer Frage den Ausdruck Semit anwenden, so kann ich darin nur eine Concession an einen zwar populären, aber darum nicht minder ungenauen Sprachgebrauch erkennen, in der ich Ihnen nicht zu folgen gedenke.

«Vor wenigen Monaten», so beginnen Sie Ihre Ausführungen, «herrschte in Deutschland noch das berufene «umgekehrte Hep-Hep-Geschrei». Ueber die Nationalfehler der Deutschen, der Franzosen und aller anderen Völker durfte Jedermann ungescheut das Härteste sagen; wer sich aber unterstand, über irgend eine unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters gerecht und massvoll zu reden, ward sofort von der gesammten Presse als Barbar und Religionsverfolger gebrandmarkt». Dem gegenüber heben Sie es hervor, wie die Sache heute doch ganz anders stehe. Der Instinct der Massen habe eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt, es sei keine leere Redensart, wenn man heute von einer deutschen Judenfrage rede. Und dem entsprechend sagen Sei (S. 575), die laute Agitation des Augenblicks erscheine als eine zwar brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgeistes gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen zu breiten Raum eingenommen habe; sie habe das Verdienst den Bann einer stillen Unwahrheit von uns genommen zu haben; es sei schon ein Gewinn, dass ein Uebel, das jeder fühlte, aber niemand berühren wollte, jetzt öffentlich besprochen werde. Nichts in Ihrem ganzen Aufsatz hat mich in höheres Erstaunen versetzt, als diese Zeilen. Leben wir denn wirklich so schnell, dass selbst ein Historiker von Ihrer Bedeutung Dinge, die sich erst vor kurzer Zeit vor seinen Augen ereignete haben, die damals nicht geringes Aufsehen erregten, so völlig vergessen haben kann? Um so nöthiger aber ist es Ursprung und Charakter der gegenwärtigen Judenagitation klarzulegen, damit nicht unter der machtvollen Einwirkung einer Autorität, wie die Ihrige ist, gänzlich irrige Ansichten darüber sich festsetzen.

Die Judenhetze des neuen deutschen Reiches ist mit nichten erst wenige Monate alt: sie ist entstanden im Jahre 1875. Zum Johannisquartalwechsel dieses Jahres veröffentlichte die «Kreuzzeitung» ihre vielberufenen fünf Artikel über die Aera Bleichröder-Camphausen- Delbrück, welche die Germania (1875, Nr. 185) sehr treffend als «Artikel über die Juden- wirtschaft in Preussen und Deutschland» bezeichnete. Ihre Tendenz ist bekannt. Sie enthielten die schärfsten Angriffe gegen die finanzielle und wirthschaftliche Politik der damaligen preussischen und deutschen Regierung. Es wurde beabsichtigt, zu zeigen, dass dieselbe bewusst oder unbewusst unter dem mächtigen Einflusse einer Anzahl von Juden stehe; man hoffte, dass man die in weiten Kreisen des Volkes schlummernden Vorurtheile gegen die Juden zur Untergrabung der Autorität der Regierung benutzen könne, welche man bekämpfte. Der Gedanke war zu schlau und zu niederträchtig, als dass er nicht alsbald hätte Nachahmung finden sollen. Auf hochconservativer und hochorthodoxer Seite stimmte seit dem November 1875 der «Reichsbote» ein (vgl. Germania Nr. 271). Schon vorher hatte nicht nur die «Deutsche Eisenbahnzeitung» des Herrn Gehlsen, die nachmalige

59 Um jedes Missverständnis auszuschliessen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.

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«Reichsglocke», sondern auch die «Deutsche Landeszeitung» des Herrn M. A. Niendorf, das Hauptorgan der damals noch nicht in hoher Gnade stehenden agrarischen Partei sich in gleichem Sinne vernehmen lassen; am 14. September erhielt die letztere von der «Germania» das Compliment, dass sie im Kampfe gegen den Schwindel der Geldmacht und des Judenthums unermüdlich sei. Die «Germania» selbst begann die Serie ihrer eigentlichen Judenartikel am 17. August; der Plan der «Kreuzzeitung» war ihr offenbar sehr sympathisch; in fast naiver Weise verrieth sie in dem ersten Artikel ihre Absicht mit folgenden Worten: «Auch der Culturkampf ist zum Theil und in vielen seiner Erscheinungen ausschliesslich eine Folge der Judenwirthschaft. Deshalb freut es uns auch des Culturkampfes wegen, dass die Judenfrage seit einiger Zeit klar und entschieden gestellt ist.» Der weitere Verlauf des Artikels suchte dann zu zeigen, dass es das Bestreben der Juden gewesen sei, die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes auf den Culturkampf abzulenken, um dasselbe während dessen gründlich ausbeuten zu können. Von da ab bildete nicht nur bis in den Spätherbst des Jahres die Judenfrage das Thema der täglichen Leitartikel der «Germania», sondern das von dem ultramontanen Centralorgan gegebene Signal fand auch volltönendes Echo in der Provinzialpresse ihrer Partei. Schon am 6. October 1875 (Nr. 228) konnte die «Germania» folgende 12 Blätter aufzählen, welche in ihrem Sinne Judenartikel gebracht hatten: «Oesterreichischer Volksfreund», «Beierischer Kurier», «Bavaria», «Augsburger Postzeitung», «Badischer Beobachter», «Mainzer Journal», «Fuldaer Zeitung», «Kölnische Volkszeitung», «Düsseldorfer Volksblatt», «Essener Blätter», «Wupperthaler Volksblätter», «Köln-Bergheimer Zeitung»; sie fügten ein «u.u.» hinzu, und gewiss würde sich bei weitere Durchsicht der Provinzialpresse auch der nächsten Zeit diese Zahl noch beträchtlich vermehren lassen. Schon seit dem 17. September hatten auch ultraradicale Presserzeugnisse, wie die «Staatsbürger Zeitung» und die «Neue freie Zeitung», sich in ähnlichem Sinne geäussert; im October eröffnete die «Dresdener Reichszeitung», in welcher der verbissenste grün-weisse Particularismus zum Ausdruck kam, eine Reihe von Judenartikeln. Seitdem ist die sogenannte Judenfrage nicht wieder von der Tagesordnung verschwunden. Immer wieder haben die Blätter der bezeichneten Richtungen längere oder kürzere Aufsätze darüber gebracht60; auch an judenfeindlichen Broschüren hat es seit dem Anfang 1876 nicht gefehlt. Alles, was die letzten Monate Neues gebracht haben, beschränkt sich im Wesentlichen – denn von der Antisemiten-Liga zu reden, werden Sie mir nicht zumuthen – auf die Thatsache, dass Herr Hofprediger Stöcker und seine Gesinnungsgenossen die Agitation von der Presse in die Volksversammlung getragen und durch die Macht des lebendigen Wortes noch weiteren kreisen zugänglich gemacht haben, und – auf die bedauerliche Erscheinung, dass auch Sie Sich der antijüdischen Bewegung angeschlossen haben.

Dies, sehr geehrter Herr College, ist die Entstehungsgeschichte, dies der Charakter der neuesten deutschen Judenhetze. Werden Sie mir nicht zustimmen müssen, wenn ich behaupte, dass dieselbe nicht aus dem Instinct der Massen hervorgegangen, sondern unter Benutzung alter Vorurtheile von bestimmten politischen Parteien zu bestimmten politischen Zwecken künstlich in dieselben hineingetragen ist? Was Sie bis zum Schluss des Jahres 1875 an derselben betheiligt finden, die extremen Blätter derjenigen Parteien, welche der Reichspolitik und dem leitenden Staatsmann die schärfste Opposition machten, deckt sich nahezu mit dem, was man damals unter dem Namen Reichsfeinde zusammenzulassen pflegte. Ich meine, für den Patriotismus und die nationale Gesinnung der Juden, in dem

60 In welchem Sinne, das zeigt z.B. die «Germania» vom 28. März 1876: «Wir müssen nächstens wieder Judenartikel schreiben, denn die Juden beginnen von Neuem üppig zu werden» oder vom 7. September 1877: «Unseren lieben Juden. Zum Neujahrsfeste»; Abdruck des Edikts von 1724 betreffend die Ausweisung der «unvergleiteten Juden».

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Sinne wie Sie und ich sie verstehen, kannn es kaum ein vollgiltiges Zeugniss geben! Schon im Herbst 1875 (vgl. «Germania» vom 9. October) warnte ein kleines schlessisches Blatt, die «Natibor-Leob-schützer Zeitung» die Juden, sich am Culturkampf zu betheiligen. «Sie haben», so äusserte sich die Zeitung, «offenbar nicht daran gedacht, dass sich die beiden Parteien eines schönen Tages vertragen und auf ihrem (der Juden) Rücken ein Compromiss schliessen könnten». Noch vermag ich nicht zu glauben, dass wir schon so weit gekommen sind!

In einem ebenso bedauerlichen Irrthum wie über den Ursprung und Charakter der anti- jüdischen Bewegung befinden Sie Sich, wenn Sie danach versuchen, die allerdings naheliegende Frage zu beantworten, wie es denn komme, dass man im Westen und Süden Europa’s, in England, Frankreich und Italien, ein Vorurtheil, wie es in Deutschland gegen die Juden besteht, nicht zu begreifen vermöge. Sie statuiren, um das zu erklären, innerhalb des Judenthums einen neuen nationalen Unterschied; Sie sprechen von einem spanischen und einem polnischen judenstamm und nehmen an, dass der erstere im Westen und Süden, der letztere in Deutschland vorherrsche, dass jener es verstanden habe sich dem europäisch- abendländischen Wesen leichter einzufügen als dieser. Nur für Italien dürfte wenigstens die eine Ihrer Voraussetzungen zutreffen. Hierhin ergoss sich in der That der Hauptstrom der Auswanderung, als die Juden Spaniens und Portugals aus diesen Ländern ausgetrieben wurden, die Zugezogenen fanden aber hier, namentlich im Kirchenstaat, schon eine starke einheimisch-jüdische Bevölkerung vor. Ganz irrig sind dagegen Ihre Ansichten hinsichtlich der Juden Frankreichs und Englands. In dem ersteren Staate belief sich die Zahl der Juden spanischer Herkunft im Anfang dieses Jahrhunderts auf nur wenige Tausende, die im Süden, wesentlich in und um Bordeaux concentrirt waren61; ausserdem gab es in Frankreich noch einige hundert jüdische Familien, die in Avignon unter päpstlicher Herrschaft gelebt hatten und darum von den Ausweisungsmassregeln des 16. Jahrhunderts nicht betroffen waren. Alle übrigen Juden Frankreichs in den Departements des Ostens und Nordens sind aus Deutschland und zwar zumeist aus dem Elsass und Lothringen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts eingewandert: unter den jüdischen Notabeln, die Napoleon I. 1806 zu einem grossen Sanhedrin vereinigte, stehen aus Frankreich nur 10 Spanier 52 Deutschen und 6 Einheimischen gegenüber; und die deutsch- oder nach Ihnen polnisch-französischen Juden übertreffen an Zahl die Spanier noch heute nach Abtretung von Elsass-Lothringen um ein vielfaches62. Ganz ebenso waren zwar die ersten jüdischen Ansiedler Englands unter Cromwell Spanier, aber die grosse Mehrzahl der englischen Juden ist aus Deutschland gekommen: deutschen Familien gehören die 4 jüdischen Mitglieder des Unterhauses an, von deutscher Abkunft war der erste jüdische Lordmayor von London, aus Deutschland stammt die Familie des ersten englischen Juden, der auf die Bank der Oberrichter erhoben worden ist, des Master of the Rolls Sir George Jeffel; die spanische Judenschaft Englands hat dem gegenüber nur zwei hervorragende Namen, Disraeli und Montefiore, aufzuweisen.

Sie würden, sehr geehrter Herr College, ohne Frage diese Thatsachen ebenso leicht haben ermitteln können, wie ich. Sie würden dann bei reiflicherer Erwägung wohl auch diejenige Antwort auf die obige Frage gefunden haben, welche mir die allein richtige zu sein scheint. Was zunächst England betrifft, so sind Sie überhaupt schlecht berichtet, wenn Sie an- nehmen, dass das sociale Vorurtheil daselbst geringer sei, als bei uns; es besteht dort nahezu in derselben Schärfe, wenn es auch niemals einen so widerwärtigen Charakter

61 Vgl. Malvezin, Hist. des Juifs à Bordeaux. Bordeaux 1875. 62 Und wie mit der Zahl, so steht es mit der Intelligenz. Die drei jüdischen Generale der Armee, die zwei jüdischen Präfek-ten, die vier jüdischen Mitglieder des Institut de France, die fünf jüdischen Docenten der Ecole des hautes Etudes stam-men aus deutschen Familien.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 47/76 angenommen hat, wie das gegenwärtig in Deutschland der Fall ist. In den romanischen Ländern dagegen besteht der Unterschied nicht, der meines Erachtens bei uns am meisten dazu beiträgt, das sociale Vorurtheil gegen den Juden rege zu erhalten. Der französische und italienische Jude unterscheidet sich in seinem Typus, seiner äussern Erscheinung nur sehr wenig von dem Franzosen oder Italiener; und da in beiden Ländern überdies nicht wie bei uns bei jeder erdenklichen Gelegenheit, bei jedem Civilstandsacte und bei jeder Auflegung von Steuer- oder Wahllisten, die Angabe der Confession verlangt wird, so weiss man in der Regel nur in den nächsten Bekanntenkreisen eines Juden, welchem Stamme und Bekenntniss er angehört, während uns die Eigenthümlichkeit unserer äusseren Erscheinung oft schon aus der Ferne kenntlich macht. Es ist eine der trübsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit, mit welchem Schmerz und mit welcher Bitterkeit es mich erfüllte, wenn mir als siebenjährigem Knaben, der sich keiner Schuld bewusst war und von nationalen Unterschieden noch wenig verstand, die Buben auf der Strasse schmähend Jude nachriefen. Heute denke ich milder davon und wundere mich ebensowenig darüber, wie es mich in Erstaunen setzt, unsere Gassenjungen eine fremde Uniform begaffen oder einen chinesischen Zopf anstarren und betasten zu sehen. Bedenkt man nun noch, dass in Deutschland infolge der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts auch die religiösen Gegensätze viel schärfer empfunden werden, als in den romanischen Ländern wesentlich einheitlichen Bekenntnisses, so wird man über das Vorhandensein von Vorurtheilen zumal in den minder gebildeten Klassen nicht erstaunen. Aber dieselben sind latent; sie sind heute ohne Frage viel geringer, als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten; der Gebildete beginnt sich ihrer zu schämen, und es ist doch nur die mit gewisser Regelmässigkeit periodisch wiederkehrende systematische Agitation von oben herab, die sie lebendig erhalten hat und noch erhält.

An die eben besprochene Gedankenreihe schliessen Sie die folgende Worte an: «Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, dass auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge». So schön und voll der letztere Satz klingt, so wenig ist er richtig; und auch der Patriot sollte nicht behaupten, was der Historiker nicht verantworten kann. Unsere Gesittung ist mit nichten auch nur vorzugsweise eine germanische, und wir haben thatsächlich eine Mischcultur. Drei Factoren sind es, auf denen dieselbe beruht: Germanenthum, Christenthum, klassisches Alterthum, und die nahen Beziehungen in denen der zweite und mächtigste dieser Factoren zum Judenthum steht, sollte man bei der stolzen Abweisung einer deutsch-jüdischen Mischcultur ebensowenig vergessen, wie die Thatsache, dass nichts mächtiger auf die Cultur des deutschen Volkes eingewirkt hat, als die Bibel alten und neuen Testaments, die doch unleugbar ein Product des Judenthums ist.

Die Forderung selbst, die Sie in jenem Satze stellen, unterschreibe ich im Uebrigen ganz und völlig. In diesem Zusammenhange hätten Sie Sich in der That ein wesentliches Verdienst um die Entwicklung der Judenfrage erwerben können, wenn Sie nicht blos in die gewöhnliche, vor ihnen schon von Andern oft genug und ebenso gewandt unternommene lediglich negative Kritik des Judenthums eingestimmt, sondern die Frage positiv zu vertiefen Sich bemüht hätten. Sie hätten dann untersuchen müssen, wodurch denn der in Deutschland geborene und erzogene Jude, der nicht Gründer und nicht Wucherer ist (und diesen beiden Kategorien, auf die wir zurückkommen, gehört doch nur ein verschwinden geringer Procentsatz der deutschen Juden an), sich von dem in gleichen Bildungs- und Standeverhältnissen lebenden Germanen unterscheidet. –

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Ich habe diese Frage schon wiederholt Ihren Gesinnungsgenossen vorgelegt und niemals eine befriedigende oder über die allgemeinsten Phrasen hinausgehende Antwort von ihnen erhalten; vielleicht gelänge es Ihnen hierüber Aufschluss zu geben. Würden Sie uns dann ferner die Mittel angegeben haben, vermöge deren dieser Process der Umwandlung des Ju- den zum Germanen beschleunigt werden könnte, so würden Sie jeden unbefangenen und vorurtheilsfreien Juden Sich zu Dank verpflichtet haben, und Ihre Darlegung würde sich sehr vortheilhaft von der bisher erschienenen antijüdischen Literatur unterscheiden. Statt dessen umgehen Sie dies schwierige Problem mit der in ihrer Allgemeinheit durchaus unrichtigen Behauptung, es sei unleugbar, dass zahlreiche und mächtige Kreise unseres Judenthums den guten Willen, schlechtweg Deutsche zu werden, durchaus nicht hegen, d.h. also Sie unterstellen, dass zahlreiche und mächtige Kreise des deutschen Judenthums sich mit Bewusstsein der Entäusserung derjenigen Eigenschaften widersetzen oder enthalten, durch welche dieselben von den Germanen unterschieden sind. Ist dies wirklich der Sinn Ihrer Behauptung, so stehe ich nicht an, dieselbe mit aller Entschiedenheit für eine durchaus unrichtige zu erklären: Jahr lang fortgesetzte genaue Beobachtung der inneren Entwicklung des deutschen Judenthums berechtigt mich dazu. Mit der Offenheit, derzufolge ich mich für verpflichtet halte in dieser Schrift auch dasjenige nicht zu verschweigen, was der von mir vertretenen Sache ungünstig erscheinen kann, räume ich Ihnen ein, dass es in der That ein kleines Häuflein ultraorthodoxer jüdischer Rabbiner giebt, die auf einem derartigen Standpunkte stehen, indem sie Palästina auch jetzt noch für die Juden als das Land der Verheissung betrachten, die daher den Aufenthalt der Juden in Deutschland nur für einen zeitlich begrenzten halten und schon aus diesem Grunde nicht ganz und völlig Deutsche zu werden geneigt sind. Aber ihre Zahl ist gering; nicht viele Mitglieder ihrer eigenen Gemeinden stehen auf demselben Standpunkte wie sie; und die grosse Mehrzahl der deutschen Juden für ihre Gesinnungen verantwortlich zu machen, würde ebenso ungerecht und unwürdig sein, wie wenn man die grosse Mehrzahl der deutschen Katholiken deshalb verdammen wollte, weil einige fanatische Ultramontane bereit sind, in jedem Augenblick den Machtsansprüchen Roms ihr deutsches Nationalgefühl unterzuordnen. In jedem Falle ist dieser kleine Haufe, dessen Zahl zudem mehr und mehr abnimmt, dem deutschen Wesen un-gleich weniger gefährlich, als das Treiben jener Römlinge, die sich erdreisten den Juden Patriotismus lehren zu wollen.

Muss ich also durchaus bestreiten, dass ein irgendwie erheblicher Bruchtheil der deutschen Juden sich mit Bewusstsein dem Aufgehen innerhalb der deutschen Nation widersetze, so bin ich doch nicht gemeint in Abrede zu stellen, dass thatsächlich noch heute eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Juden vorhanden ist – wie gross oder wie klein dieselbe ist, darüber können bei dem Mangel an statistischem Material weder Sie noch ich entscheiden – welche noch nicht völlig die deutsche Cultur in sich aufgenommen haben; sie finden sich hauptsächlich im Osten Preussens, vereinzelt aber auch in ganz Deutschland, namentlich auf dem platten Lande. Aber wie könnte das anders sein? Seit zwei und einem halben Jahrhundert sind nunmehr die Lausitzen unter deutscher Herrschaft, losgelöst von jedem Zusammenhange mit der slavischen Welt. Ohne eine nennenswerthe Literatur, durch ihre Religion mit den deutschen Nachbarn eng verbunden, ohne geschichtliche Erinnerungen, hat die dortige Wendenbevölkerung in einer Zahl von mehr denn 100,000 Seelen trotzdem ihre Sprache und Nationalität bewahrt, ohne sich in der deutschen zu verlieren. – Die Juden hinderte noch vor einem Jahrhundert Alles deutsch zu werden. Der Gegensatz der Religion, die Intoleranz christlicher und jüdischer Pfaffen, vor Allem aber die Gesetzgebung, die sie zu Parias machte, hielten jeden Strahl deutscher Bildung von den schmutzigen und verachteten Stadtgegenden fern, in denen landesfürstliche Gnade ihnen eine armselige und herabgewürdigte Existenz vergönnte. Welche Summe von Bitterkeit und Hass musste sich in

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 49/76 diesen Un-glücklichen ansammeln, denen man die Rechte des Menschen und Bürgers vorenthilet, oder, um mit Ihnen zu reden, denen man dieselben noch nicht geschenkt hatte! Moses Mendelssohn musste erst beginnen durch seine Bibelübersetzung seine Stammesgenossen deutsch lesen und reden zu lehren, um den widerwärtigen Jargon der Ghetti, der bis dahin ihre Sprache war, zu verdrängen. Erst die folgende Generation erhielt durch die auf vier Provinzen Preussens beschränkte Gesetzgebung des Jahres 1812 wenigstens die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins und damit einer Annäherung an ihre christlichen Mitbürger, während in den vorher mit Frankreich oder Westphalen vereinigten Gebieten die zurückgekehrten deutschen Fürsten es vieler Orten eine ihrer ersten Massregeln sein liessen, den Juden die Rechte wieder zu rauben, welche ihnen die französische Gesetzgebung eingeräumt hatte. Erst das Jahr 1848 gab den Juden Preussens wenigstens einen Theil der staatsbürgerlichen Rechte, erst das Gesetz vom Jahre 1869 beseitigte die letzten Schranken, machte die Emancipation für ganz Deutschland zur Wahrheit. Werden Sie, wenn Sie diese Thatsachen vorurtheilsfrei und als Historiker zu betrachten versuchen, Sich noch darüber wundern können, dass nicht alle Juden, ist es nicht viel mehr erstaunlich, dass schon so viele von ihnen Deutsche geworden sind? Und ergreift nicht dieser Amalgamirungsprocess, der sich vollzieht, von Jahr zu Jahr weitere Kreise? Werden Sie in Abrede stellen wollen, dass der gerade gegenwärtig so bemerkenswerthe Andrang der Juden zu der gelehrten Laufbahn, neben anderen Gründen, wesentlich ein Zeichen davon ist, wie machtvoll in vielen derselben bewusst oder unbewusst das Bedürfniss ist, deutsche Sitte, deutschen Geist, deutsche Cultur ganz und voll in sich aufzunehmen? Und während dem so ist, während die Zahl der Juden, welche an Gesittung und Bildung noch dem deutschen Wesen fremd sind, sich immer mehr verringert, während ich und meine jüdischen Gesinnungsgenossen unablässig bestrebt sind, durch das Beispiel, das wir geben, und durch directe Einwirkung, durch unsere Lehre und durch unseren Wandel jenen Process zu beschleunigen, - gesellen Sie Sich zu den Männern, die unser Werk erschweren und die Gegensätze verschärfen, welche wir uns als Lebensaufgabe gestellt haben, so viel an uns ist, verschwinden zu lassen! – Ich zweifle nicht, sehr geehrter Herr College, dass Sie das Gute wollen, aber gestatten Sie mir Ihnen zu sagen, dass Sie das Böse schaffen!

Viel weniger habe ich gegen die Bemerkungen einzuwenden, welche Sie, wie alle Ihre Vorgänger, über die jüdischen Gründer und Wucherer machen. Ich will Sie nicht daran erinnern, dass es auch zahlreiche christliche Gründer und Wucherer giebt – in Berlin z.B. zeigt ein Blick in das Adressbuch, wie sehr bei Pfandleihern und Rückkaufshändlern die germanischen Namen über die jüdischen überwiegen, und aus den Gerichtsverhandlungen weiss man, dass der gefürchteste unter allen Berliner Officierswucherern ein Mann von altem deutschen Adel ist. Ich will Sie auch nicht darauf hinweisen, wie die historische Erklärung für die betrübende Erscheinung, von der wir reden, doch in jener engherzigen Gesetzgebung liegt, der zu Folge die Juden, bis in die Jahrhunderte der Neuzeit hinein fast von jedem anderen Erwerbszweige ausgeschlossen, nothwendig auf den Geldhandel, auf Banquiergeschäfte und Zinswucher, hingedrängt wurden. Das sind ja Dinge, die Ihnen ebenso gut bekannt sind wie mir, und wenn Sie unterlassen haben, darauf ausdrücklich hinzuweisen, so ist das sicherlich nur geschehen, weil Sie von der, wie ich glaube, freilich nicht völlig begründeten Voraussetzung ausgingen, dass auch alle Ihre Leser davon unterrichtet seien. Sie haben auch nicht, wie so manche derer, die über die Judenfrage vor Ihnen gehandelt haben, den Juden die Erfindung des Wuchers und des Börsenschwindels in die Schuhe geschoben; Sie wissen, dass der erstere schon zu Zeiten der römischen Republik die entsetzlichsten Früchte getragen hat, dass Vorgänge wie der Law’sche Krach in Frankreich, wie der Südsee-Actien-Schwindel in England oder die wahnwitzigen

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Tulpenspeculationen in Holland sich vollzogen haben, die der Jude an Gründungs- operationen denken konnte. Aber wenn auch Wucher und Börsenjobberei ebensowenig jemals ganz aus der Welt zu schaffen sein werden, wie andere Laster und Vergehen – immerhin bleibt die bedauerliche Thatsache bestehen, dass die Juden einen bedeutenden Antheil an diesem Unwesen gehabt haben und noch haben, wenn auch die Zahl der jüdischen Wucherer und Gründer nur einen sehr kleinen Theil der Gesammtheit meiner Stammesgenossen ausmacht. Jedoch was ich auch hier in Ihren Ausführungen vermisse, ist jeder positive Vorschlag. Indem auch Sie diese Vorwürfe in eine die Gesamtheit der Juden treffende Polemik hineinziehen, entmuthigen Sie nur jene redlichen Männer, die, wie Sie selbst hervorheben, in ihren Kreisen nach Kräften gegen den Wucher wirken, und von de- nen, wie ich fürchte, mancher schwachmüthige sich sagen wird, «wozu unsere Mühe, wenn doch immer wieder die Gesammtheit für die Sünden der Einzelnen verantwortlich gemacht wird». Oder glauben Sie wirklich, dass auch nur ein einziger jüdischer oder christlicher Wucherer oder Gründer sich in Folge eines Artikels, wie der Ihrige ist, bessern würde? Ich bin nicht competent, um über die nationalöconomischen oder juristischen Bedenken mir ein Urtheil zu erlauben, welche man einem legislativen Einschreiten gegen die Auswüchse der Börse oder des Wuchers entgegenhält; aber das weiss ich, dass ich selber und zahlreiche meiner Gesinnungs- und Stammesgenossen jede derartige Massregel mit Freuden begrüssen und mit Eifer unterstützen würden – niemand, abgesehen von den unmittelbaren Opfern, leidet schwerer unter diesem Unwesen als wir.

In welchem gedanklichen Zusammenhange Sie nun aber in unmittelbarem Anschluss an die Erwähnung der jüdischen Wucherer die Behauptung aufstellen, dass unter den führenden Männern in Kunst und Wissenschaft die Zahl der Juden nicht sehr gross sei, um so stärker die betriebsame Schaar der Talente dritten Ranges, das ist mir nicht völlig klar geworden. Gross und sehr gross sind so relative und subjective Begriffe, dass ich ganz davon absehe, Ihnen einzelne hervorragende Namen zu nennen, deren die deutschen Juden auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft sich zu rühmen haben. Aber vielleicht gestatten Sie mir eine andere Bemerkung. An den deutschen Hochschulen wirken gegenwärtig, wie der Universitätskalender aufweist, gegen 70 Professoren rein jüdischer Abkunft; darunter namhafte Vertreter aller Disciplinen, der protestantischen Theologie und der Jurisprudenz, der Philosophie und Philologie, der Geschichte und Mathematik, der Medicin und der Naturwissenschaften. Diese Zahl – und gewiss werden Sie nicht geneigt sein, so viele Ihrer Collegen unter die betriebsame Schaar der Talente dritten Ranges zu verweisen – ist al- lerdings, wie jede unbefangene Betrachtung anerkennen wird,, gross; sie beträgt im Verhältniss zu der Gesammtzahl deutscher Professoren mehr als dreimal so viel, als nach den Bevölkerungsziffern erwartet werden sollte; gerade ihre Grösse wird uns von anderen Gegnern zum Vorwurf gemacht. Ich glaube damit gezeigt zu haben, dass die Juden nicht blos an dem materiellen, sondern auch an dem geistigen Kapital der deutschen Nation einen guten Antheil haben. Alle diese Männer mühen sich in redlicher Arbeit zur Ehre des deutschen Namens und zur Förderung des grössten Ruhmes unserer Nation, der deutschen Wissenschaft; - und alle diese Männer, welche die bisherigen Agitationen mit Gleichmuth betrachtet haben, muss Ihr Artikel auf’s tiefste verletzen!

Zu den seit langer Zeit in jeder antijüdischen Schrift wiederkehrenden Angriffen gehören die Klagen über die «Judenpresse», und dieselben nehmen denn auch in Ihrem Aufsatze einen breiten Raum ein. «Zehn Jahre lang», sagen Sie, «wurde die öffentliche Meinung in vielen deutschen Städten zumeist durch jüdische Federn «gemacht»; es war ein Unglück für die liberale Partei und einer der Gründe ihres Verfalls, dass gerade ihre Presse dem Judenthum einen viel zu grossen Spielraum gewährte. Der nothwendige Rückschlag gegen diesen un- natürlichen Zustand ist die gegenwärtige Ohnmacht der Presse; der kleine Mann lässt sich

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 51/76 nicht mehr ausreden, dass die Juden die Zeitungen schreiben, darum will er ihnen nichts mehr glauben». Das letztere mag zum Theil richtig sein; ich weiss sehr wohl, dass z.B. die ultramontanen und auch ein Theil der hochorthodoxen Zeitungen seit Jahren die Aeusserungen der liberalen Organe dadurch zu discreditiren suchen, dass sie frischweg behaupten, dieselben seien Judenblätter; mit welcher Keckheit dabei zu Wege gegangen wurde, beweist z.B. die Thatsache, dass die ultramontane «Kölnische Volks-Zeitung» ihre liberale Gegnerin, die «Kölnische Zeitung», als ein Judenblatt bezeichnete, obwohl gerade hier streng darauf gehalten worden ist, dass kein Jude der Redaction angehörte, oder dass der hiesige «Reichsbote» noch vor Kurzem der «National-Zeitung» als «dem Blatt des Herrn Dr. Salomon» die Competenz zur Besprechung kirchlicher Angelegenheiten bestritt, obwohl er wissen musste, dass die kirchenpolitische Haltung dieser Zeitung von ihrem Verleger nach keiner Richtung und in keiner Weise beeinflusst wird. Sie ersehen schon hieraus, wie wenig glaubwürdig derlei ultramontane Behauptungen im Allgemeinen sind, und es wäre vielleicht wünschenswerth gewesen, statt dieselben einfach zu wiederholen, eine Untersuchung über diese wichtige Frage anzustellen. Leicht ist das ja bei der Anonymität unserer Zeitungen nicht, zumal für Jemanden, der, wie ich, völlig ausserhalb der journalistischen Kreise steht; indessen einiges habe ich doch durch Mittheilungen sachkündiger Männer in Erfahrung gebracht. Man hat mir gesagt, dass allerdings unter den Journalisten, welche als Correspondenten und Reporter die Presse bedienen, die Juden sehr zahlreich vertreten seien, aber das ist natürlich nicht entscheidend: Correspondenten und Reporter bestimmen Haltung und Ton einer Zeitung nicht, sondern haben sich diejenige Haltung und denjenigen Ton anzueignen, den die Redaction vorschreibt, oder sich gefallen zu lassen, dass ihre Mittheilungen in diesem Sinne geändert werden. In Betracht kommt also für die Beurtheilung des Einflusses der Juden auf die Presse so gut wie ausschliesslich ihre Vertretung in den Redactionen; und da habe ich denn die mich selbst geradezu überraschende Thatsache erfahren, dass in der Mehrzahl der älteren, grösseren und einflussreicheren Organe der liberalen und freiconservativen Presse die Juden in den Redactionen fast garnicht vertreten sind. Ich nenne speciell die «Vossische Zeitung», die «National-Zeitung» und die «Post» in Berlin, die «Kölnische» und die frühere «Rheinische Zeitung» im Westen, die «Augsburger Allgemeine Zeitung», die «Augsburger Abendzeitung», den «Schwäbischen Merkur», die «Süddeutsche Presse», die «Badische Landeszeitung» im Süden, den «Hamburger Correspondenten», den «Hannöverischen Courier», die «Weser-Zeitung» im Norden, die «Magdeburger Zeitung», die Leipziger «Deutsche Allgemeine Zeitung», die «Hessische Morgen-Zeitung» im Centrum, die «Schlesische Zeitung», die «Breslauer Zeitung», die «Neue Stettiner Zeitung», die «Danziger Zeitung» im Osten Deutschlands. Bei allen diesen Blättern sind, wie mir mitgetheilt wird, die Juden garnicht, oder nur in verschwindend geringer Zahl in den Redactionen vertreten. So sind es doch, vonwenigen Ausnahmen abgesehen, zumeist nur jüngere Blätter und solche zweiten und dritten Ranges, an welche Sie bei Ihrer Behauptung gedacht haben können; ich fürchte, Sie haben aus den Verhältnissen in Berlin allgemeine Schlüsse auf die Herrschaft der Juden in der deutschen Presse gezogen, die ich als berechtigt nicht anerkennen kann. Aber auch wenn die Zahl der jüdischen Redacteure grösser wäre, als sie in Wirklichkeit zu sein scheint, so würde ich doch nicht zugeben können, dass dies von vornherein ein Unglück wäre; dass es unter denselben sehr kennt- nisreiche und ehrenwerthe Männer giebt, werden Sie gewiss nicht in Abrede stellen.

Eine Schwierigkeit liegt dabei allerdings vor: wie soll sich ein jüdischer Redacteur bei der Erörterung von Angelegenheiten der christlichen Kirche verhalten? Dass er sie ganz von der Besprechung in seinem Blatte ausschliesse, ist natürlich von vornherein unmöglich; eine Zei-tung, die heute, da die kirchlichen Fragen so brennend geworden sind und in unserm öf-

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 52/76 fentlichen Leben einen so grossen Raum einnehmen, auf die Discussion derselben ganz verzichten wollte, würde ihren Leserkreis gar bald verlieren. Es gehört das grösste Tactgefühl dazu, diese Dinge in der richtigen Weise zu behandeln, und ich gebe Ihnen bereitwillig zu, dass dieser Tact nicht immer beobachtet worden ist; es kann Sie nicht mit grösserer Entrüstung erfüllt haben, als mich und viele meiner Gesinnungsgenossen, wie z.B. der «Berliner Börsencourier» in dieser Beziehung verfahren ist. Aber ist das nicht vielmehr auf einen all-gemeinen Missstand in unserem Presswesen zurückzuführen, als auf besondere Mängel der jüdischen Journalisten? Unsere Presse – und dasselbe gilt nach meiner Kenntnis der Dinge nicht minder von der französischen und englischen Journalistik – beschäftigt neben einer grossen Anzahl hochbedeutender und charaktervoller Männer, auch eine gewisse Zahl jener catilinarischen Existenzen, die hier leichter als in jedem anderen Berufe eine lohnende Thätigkeit finden. Es wäre eine sehr verdienstvolle, wenn auch sehr schwierige Aufgabe, wirksame Vorschläge zur Hebung dieses in unserem öffentlichen Leben sehr fühlbaren Missstandes zu machen – mit dem blossen Schelten auf die Judenpresse ist es wahrhaftig nicht gethan! Um so weniger, als ich gewiss bin Ihre Zustimmung zu finden, wenn ich behaupte, dass die schlimmsten Ausschreitungen, deren sich unsere Zeitungen schuldig gemacht haben, nicht von den jüdischen Organen, sondern vielmehr gerade von denjenigen ausgegangen sind, die in der Judenhetze in vorderster Reihe stehen. Die Beispiele liegen ja nahe genug; nie hat in der Zeit, von der ich aus eigener Erfahrung reden kann, irgend ein jüdisches Presserzeugnis an Perfidie der Polemik das römische Jesuitenblatt erreicht, das zur Schmach, des deutschen Volkes den Namen «Germania» an der Spitze trägt, nie an Niedertracht der Verläumdung die «Reichsglocke» des Herrn Gehlsen oder an frecher Verhöhnung jedweden nationalen Gefühls das «Vaterland» des urgermanischen Herrn Dr. Sigl!

Aber Sie meinen das Judenthum habe noch in anderer Beziehung einen verderblichen Einfluss auf die deutsche Presse ausgeübt. Börne zuerst habe in unsere Journalistik jenen eigenthümlich schamlosen Ton eingeführt, der über das Vaterland so von aussen her ohne jede Ehrfurcht abspricht, als ob man selber gar nicht mit dazu gehöre. Indessen jene schneidige Selbstkritik, die bei Börne allerdings in besonders bemerkenswerther Weise hervortritt, ist, wie mir scheint, von jeher einer und, wie ich meine, nicht der schlechteste Zug deutschen Charakters gewesen. Dass ich von Anderen schweige: wie unbarmherzig, um mit Ihren eigenen Worten zu reden, hat nicht schon vor zwei Jahrhunderten der von Ihnen mit Recht so hochgeschätzte Samuel von Pufendorf die Blösse seines eigenen Landes vor aller Welt aufgedeckt, er, der die Maske des frivolen Italieners vornahm, um desto unbefangener die Zustände Deutschlands kritisiren zu können, gleich als ob er gar nicht mit dazu gehöre! Und wenn Sie es bei der Besprechung von Pufendorf’s Schriften ausdrücklich hervorheben, dass der überlegene Hohn von jeher das Vorrecht grosser Publicisten gewesen, so scheint es mir nicht billig, Börne, der von jenem an heisser Gluth der Vaterlandsliebe sicherlich nicht übertroffen wurde, mit anderem Masse zu messen. Und wenn ich schliesslich mit Ihnen der Ansicht bin, dass Börne’s Einfluss auf die deutsche Journalistik ein sehr bedeutender gewesen ist, so haben doch andere Factoren weit bestimmender auf dieselbe eingewirkt. Es hat Ihnen gewiss nicht entgehen können, wie sehr unsere Presse namentlich seit der Julirevolution durch das Vorbild der Pariser beeinflusst worden ist; hat sie dieser ohne Frage eine oder die andere gute Eigenschaft zu verdanken, so ist es mir doch zweifellos, dass andererseits der vielfach in derselben eingerissene frivole Ton – eine der unerfreulichen Erscheinungen unserer Zeit – wesentlich hierauf zurückzuführen sein wird. Börne nahm es mit seiner Aufgabe alle Zeit sehr ernst.

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Ich denke alle wichtigeren Punkte, die in ihren Erörterungen über die Judenfrage begegnen, im Vorstehenden unbefangen und vorurtheilsfrei geprüft zu haben63, so weit das der starken Erregung möglich ist, die sich angesichts der gegenwärtigen Agitation jedes deutschen Juden bemächtigen musste: jedenfalls werden Sie mir nicht den Vorwurf machen können, dass ich mich zum unbedingten Apologeten unseres Judenthums habe machen wollen. Um so entschiedener und nachdrücklicher aber muss ich gegen den geradezu ungeheuerlichen Schlusssatz protestiren, in welchem Sie die Kritik desselben zusammenfassen und der gleichsam die scharfe Spitze Ihrer Ausführungen bildet. «Bis in die Kreise unserer höchsten Bildung hinauf», sagen Sie, «unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!» Man muss diesen Satz in seinen einzelnen Bestandtheilen prüfen, um seine Tragweite völlig zu ermessen. Nicht auf die althergebrachten, von den Vätern ererbten und auf die Kinder verpflanzten Vorurtheile gegen die Juden, die in weiten Kreisen unseres Volkes herrschen, beziehen Sie Sich, sondern auf die wohlerwogene Ueberzeugung von Männern, die an der Spitze der geistigen Bewegung der deutschen Nation stehen. Nicht vereinzelt, meinen Sie, herrsche in diesen Kreisen eine Antipathie gegen die Juden, sondern dieselbe verschaffe sich einen einmüthigen und einstimmigen Ausdruck. Nicht gegen einen einzelnen oder mehrere Fehler und Schwächen des deutschen Judenthums richte sich dieselbe, sondern gegen die Ge- sammtheit, die man kurzweg als unser Unglück, als das Unglück des deutschen Volks bezeichne. Dem ist zur Ehre des deutschen Volkes mit nichten so. ich habe in den letzten Wochen Gelegenheit gehabt, mit manchem meiner christlichen Freunde, die nicht weniger Anspruch darauf haben, zu den Kreisen unserer höchsten Bildung zu zählen, als Sie selbst, über diese Angelegenheit Rücksprache zu nehmen – nicht einen habe ich gefunden, der Ihren Satz zu vertreten und auf sich zu beziehen geneigt gewesen wäre!

An sich freilich sollte mich derselbe nicht Wunder nehmen. In Momenten, wie der gegenwärtige, da in dem Volke ein gewisses Unbehagen, eine allgemeine Unzufriedenheit mit seiner Lage Platz gegriffen hat, ist es von jeher beliebt gewesen, einen Sündenbock aufzusuchen, dem man die eigene und die fremde Schuld aufzubürden geneigt ist. In Deutschland haben dazu von Alters her die Juden dienen müssen. Wie man im 13. Jahrhundert den Verrath Deutschlands an die Mongolen, im 14. Das Wüthen der Pest ihnen zur Last legte, so sind sie auch heute der bequeme Prügelknabe, der für Jedermann herhalten muss. Ihnen schreiben die Conservativen die Hauptschuld an unserer liberalen Gesetzgebung, die Ultra-montanen an dem Culturkampfe zu; sie werden verantwortlich gemacht für die angebliche Corruption unserer Presse und unseres Buchhandels, für die wirthschaftliche Krisis, für den allgemeinen Nothstand und für den Verfall der Musik. Geht es doch so weit, dass sogar schon Herr Prof. Zöllner jüdischen Intriguen eine Mitschuld an dem geringen Fortschritt der spiritistischen Bewegung zuschreibt, und dass Herrn Prof. Jäger es auf ein jüdisches Complot zurückführt, dass seine Seelen-Theorie nicht die ihr nach seiner Meinung gebührende Anerkennung gefunden hat. Es ist nur eine letzte Consequenz davon, wenn Sie Alles kurz und bündig in dem vernichtenden Ausdruck zusammenfassen: die Juden sind unser Unglück! Aber dass Sie, gerade Sie Sich dazu haben entschliessen können, das war mir ein tiefer Schmerz und eine bittere Enttäuschung.

63 Wenn eine oder die Andere Ansicht, wie z.B. die Meinung, dass neuerdings ein gefährlicher Geist der Ueberhebung in jüdischen Kreisen erwacht sei, unbesprochen geblieben ist, so wird man das erklärlich finden; gegen derartige allgemeine und unsubstnaziirte Behauptungen lässt sich schlechterdings nicht polemisiren. Für Herrn Grätz aber kann ebenso wenig das Judenthum verantwortlich gemacht werden, wie z.B. das Germanenthum für die Geschichtsschreibung des Herrn Onno Klopp. Wie man übrigens in einsichtigen jüdischen Kreisen über sein Buch denkt, ergiebt sich aus Abr. Geiger, Jüd. Zeitschrift für Wissenschaft und Leben IV, 146; VI, 220.

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Ihnen, sehr geehrter Herr College, weist der hohe Rang, den Sie in Wissenschaft und Politik einnehmen, eine verantwortungsvolle Stellung zu. Mag dieser oder jener unbekannte Mensch ohne Namen und ohne Bedeutung sich mit der Wiederholung der schon hundert Mal wiederholten Anklagen und Beschuldigungen begnügen: wenn Sie Sich entschlossen, Sich an der Discussion über die Judenfrage zu betheiligen, so mussten Sie sagen, was denn geschehen solle, dieselbe zu lösen64. Solche positiven Vorschläge vermisse ich, wie im ganzen Verlauf Ihrer Darlegungen, so auch am Schluss derselben. Eine Aufhebung oder Beschränkung der Emancipation weisen Sie selbst als unmöglich und unwürdig zurück: und schliesslich begnügen Sie Sich mit moralischen Ermahnungen und legen statt jedes anderen Vorschlages die Lösung in die Hände der Juden selbst, denen Sie noch einmal zurufen, Deutsche zu sein. Dass meine Stammesgenossen nach dieser Richtung hin an sich selbst arbeiten, werden Sie gewiss nicht in Abrede stellen; noch vor einem Jahrhundert war kaum ein oder der andere in Deutschland lebende Jude ein Deutscher, und heute geben Sie zu, dass es ihrer Viele zu ihrem und des deutschen Volkes Glücke geworden seien. Eine Schrift wie die Ihrige freilich, die von gewandten Agitatoren geschickt ausgebeutet wird, kann nur dazu beitragen, die Schranken, welche zwischen Deutschen und Juden noch bestehen, zu erhöhen und zu befestigen, statt sie entfernen zu helfen.

Und doch könnten Sie und Ihre Gesinnungsgenossen erheblich dazu beitragen, die erwünschte Lösung der Frage, die sich natürlich nicht mit einem Male und sprungweise, sondern nur langsam und allmählich heraus-bilden kann, zu beschleunigen. Julian Schmidt hat einmal mit Recht hervor-gehoben, wie man sich in Deutschland eine Gemeinvorstellung von den Juden gerade nach den niedrigsten Elementen bilde, denen man am häufigsten begegne. Die Juden, die man in der Literatur und auf der Bühne vorführt, sind entweder jene edlen und guten Gestalten, jene Ideale, die aber dann als Ausnahmen erscheinen, aber es sind Trödler, Hausirer und Wucherer, die durch ihre Sprache die Lachlust und durch ihr gemeines Gebahren die billige Entrüstung der Menge erregen. Jeder einzelne Jude muss sich somit, wie Schmidt bemerkt, seine bürgerliche und gesellschaftliche Stellung erst von Neuem erkämpfen, und wenn er sie errungen hat, dann gilt auch er höchstens als eine Ausnahme, dem man, wie mir das noch vor kurzem von einem hochgebildeten, mir sehr wohl-gesinnten Manne begegnet ist, eine zweifelhaftes Compliment macht, indem man ihm sagt, dass er doch eigentlich gar kein Jude sei. Mit der grossen Masse der jüdischen städtischen Durchschnittsbevölkerung, die ohne den vordringlichen Luxus der Geldaristokratie und ohne den verkommenden Schmutz des Wucher- und Trödlerthums in stiller bürgerlicher Arbeitsamkeit lebt, ist man in christlichen Kreisen doch nur sehr wenig bekannt. Zu einfach und schlicht, vielfach auch durch manche herbe Erfahrung zu sehr ein- geschüchtert, um jene Vorurtheile zu besiegen, die sie von ihren christlichen Mitbürgern trennen, ist diese Mehrzahl meiner deutschen Stammes-genossen, abgesehen von den Beziehungen des geschäftlichen und öffent-lichen Lebens, wesentlich auf sich selbst beschränkt und auf den Verkehr im eigenen Kreise angewiesen. Wenn es gelingen könnte, den Begriff Jude aus den Merkmalen zusammen zusetzen, welche diese Mittelklasse aufweist, ohne sich durch jene Ausnahmen nach oben und nach unten beeinflussen zu lassen, so wäre, glaube ich, die sog. Judenfrage ihrer Lösung erheblich näher gebracht. Dazu aber könnten Sie, sehr geehrter Herr College, dem die Gabe des Wortes in so hervorragendem Masse verliehen ist, sehr wesentlich beitragen: Sie würden Sich damit ein grösseres Verdienst erwerben können, als indem Sie, wie immer absichtslos, einer lediglich

64 Vgl. H. v. Treitschke, Pr. Jahrb. XXV. 691: Der Publicist soll auf den Willen wirken, jeder Stil ist ihm erlaubt, jede Unebenheit der Darstellung, selbst einige triviale Sätze mögen ihm hingehen, wenn er nur ein Ende findet, wenn er nur mit höchster Bestimmtheit sagt, was er selber will.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 55/76 agitatorischen Judenhetze die Autorität Ihres Namens leihen.

Mit collegialer Hochachtung

H. Bresslau.

Nachwort zur zweiten Auflage.

Nachdem die zweite Auflage des vorstehenden Sendschreibens bereits gesetzt war, ist mir die Erwiderung auf meine Ausführungen zugegangen, welche Herr v. Treitschke im Januarheft der Preusssischen Jahrbücher veröffentlicht hat. Wenn ich es gern und dankend anerkenne, dass mein College meine Worte in demselben Geiste aufgenommen hat, in welchem sie geschrieben worden sind, so bedauere ich um so mehr, constatiren zu müssen, dass wir uns durch die Discussion hinsichtlich mehreren wichtigen Punkte doch nur wenig näher gekommenn sind. Ich beschränke mich in diesen nachträglichen Bemerkungen darauf, einige derselben,, die mir vom Gesichtspunkt des Historikers aus besonders beachtenswerth erscheinen, noch einmal in möglichster Kürze zu erörtern.

In welchem Umfange unsere Anschauungen über die gegenwärtige Bewegung noch auseinandergehen, das zeigt sich gleich in dem Erstaunen Treitschke’s über die grosse Zahl der Entgegnungen, welche sein Artikel hervorgerufen hat, und mehr noch in dem Vorwurf der krankhaften Empfindlichkeit, den er speciell an mich deswegen richtet, weil ich mich durch seinen Aufsatz gekränkt gefühlt habe. Wie es scheint, empfindet er gar nicht, wie verletzend gerade diejenigen unter den Juden, welche sich ganz deutsch zu denken und zu fühlen bewusst sind, der von mir oben Seite … als die scharfe Spitze seiner Ausführungen bezeichnete Satz: «Die Juden sind unser Unglück», berühren musste. Hier waren nicht blos Auswüchse des Judenthums angegriffen, sondern alle Juden; es war als die Anschauung der besten Kreise unserer Nation eine Behauptung hingestellt, die zurückzuweisen nicht eine übertriebene Empfindlichkeit, sondern unsere Pflicht und unsere Ehre uns geboten. War das von Herrn v. Treitschke nicht so gemeint, um so besser; allein dann hätte es auch nicht so gesagt werden dürfen; am wenigsten gerade in dem gegenwärtigen Zeitpunkt und gerade von ihm.

Auch die Ansicht meines Herrn Collegen über die Entstehung der heutigen Bewegung hat mich in keiner Weise zu überzeugen vermocht. Wäre dieselbe wirklich aus jener immer steigenden Erregung zu erklären, die er seit mehr als zehn Jahren in den Gesprächen der guten Gesellschaft beobachtet hat, so hätte sie ihm schwerlich vor zwei Monaten als das am meisten befremdende Sympton einer tiefen, durch unser Volk gehenden Unstimmung erscheinen können. Ich denke nicht daran, die Richtigkeit jener Beobachtung selbst zu bestreiten, aber ich möchte doch darauf aufmerksam machen, dass eine solche Wahrnehmung eines Einzelnen oder selbst einer Anzahl von Personen sich der Natur der Sache nach immer nur auf einen sehr eng begrenzten Kreis von Erscheinungen beziehen kann, und dass abgesehen von den von Treitschke erwähnten Gesprächen keinerlei Manifestation jener Erregung erkennbar zu Tage getreten ist. Wen ein künftiger Geschichts- schreiber der neuesten antijüdischen Agitation die Wahl hat, ob er die leidenschaftliche Erregung der Volksmassen ableiten will aus jenen von Herrn v. Treitschke beobachteten Stimmungen innerhalb gewisser Kreise der guten Gesellschaft oder aus der von mir nachgewiesenen, von ihm nicht bestrittenen planmässigen und geflissentlichen Verhetzung, wie sie seit vier Jahren fast die gesammte Presse mehrerer grossen und einflussreichen Parteien in ganz Deutschland sich zur Aufgabe gemacht hat – ich glaube, er wird nicht

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 56/76 zweifelhaft sein können, wie er sich zu entscheiden habe.

Auf seine frühere Behauptung, dass die Israeliten des Westens und Südens zumeist dem spanisch-portugiesischen Judenstamme angehörten, kommt Herr v. Treitschke, nachdem sie durch die von mir beigebrachten Thatsachen als unrichtig erwiesen ist, nicht zurück. Aber die Ansicht, dass die spanischen Juden sich dem abendländischen Wesen leichter einzufügen verständen als die deutschen, hält er fest; er beruft sich nunmehr darauf, dass auch in Frankreich 1790 ein Unterschied zwischen den Spaniern und den Juden des Elsasses und Lothringens gemacht worden sei. Das letztere würde ich nie bestritten haben; aber weder kann ich den Folgerungen zustimmen, die er daraus zieht, noch ist der Verlauf der Thatsachen im Einzelnen so, wie er ihn darstellt. Die sogenannten spanischen Juden erhielten keineswegs, wie Herr v. Treitschke annimmt, erst durch das Gesetz vom 26. Januar 1790 das active Bürgerrecht, sondern dasselbe bestätigte ihnen vielmehr, gegenüber einem vom Rewbell gestellten Antrage auf Ausschluss der Juden von der Emancipation der bisher rechtlosen Culturgenossenschaften, den Besitz der von ihnen seit unvordenklicher Zeit ausgeübten bürgerlichen Rechte.65 Diese durch königliches Patent von 1550 priviligierten Spanier waren nämlich nicht als Juden, sondern als Scheinchristen nach Südfrankreich gekommen; sie unterwarfen sich allen Gebräuchen der katholischen Kirche, hielten ihre wahre Religion streng verborgen und bekannten sich erst im Zeitalter der Aufklärung, etwa seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts, auch öffentlich wieder zum Glauben ihrer Väter. Darum entgingen sie während der Hugenotten-Kriege allen Verfolgungen, darum waren sie innerhalb des französischen Staates vollberechtigt. Es giebt unter ihnen im 17. und 18. Jahrhundert nicht wenige Männer, welche durch den Erwerb adliger Herrschaften in den erblichen Adelstand emporstiegen und alle damit verbundenen Rechte, sogar die der hohen Gerichtsbarkeit ausübten; sie haben an den Wahlen für die Generalstände von 1789 Theil genommen, und nur an wenigen Stimmen fehlte es, dass damals ein Jude von der Provinz Guyenne zum Deputirten erwählt wäre. Dass mann zwischen ihnen, die seit mehr als zwei Jahrhunderten Franzosen waren, und den bis 1790 von dem Erwerb von Grundbesitz und fast von jedem ehrlichen Gewerbe ausgeschlossenen, da-rum auch allgemein erhassten elsässischen Juden einen Unterschied machte, dass man die letzteren übergangslos aus dem Zustande völliger Rechtlosigkeit in den völliger Rechtsgleichheit überzuführen Bedenken trug, begreift sich leicht und bedarf nicht der Erklärung durch die Annahme einer verschiedener Assimilationsfähigkeit beider Gruppen der europäischen Judenschaft.

Gegenüber meinem Nachweise, dass die oft wiederholte Behauptung, unsere Zeitungen würden von den Juden geschrieben, hinsichtlich der Mehrzahl der grösseren, älteren und einflussreicheren Organe der gemässigten Parteien nicht zutreffe, betont Herr v. Treitschke nunmehr den Einfluss der jüdischen Correspondenten in höherem Masse und ist der Meinung, dass auch in der Abhängigkeit vieler Zeitungen von ihren jüdischen Abonnenten und Inserenten sich der Einfluss der Juden auf die Presse äussere. Wir kommen damit immer mehr von dem Gebiet bestimmt erweislicher Thatsachen auf ein solches, das der Natur der Sache nach keine statistische Controle mehr zulässt, und über das man daher ohne Nutzen streiten würde. Im Allgemeinen aber glaube ich nicht, dass die Juden, die man doch gewöhnlich für gute Geschäftsleute hält, sich bei der Wahl der Zeitungen, in denen sie inseriren, durch andere Rücksichten als die der grösstmögliche Verbreitung ihrer Ankündigungen leiten lassen; und als Abonnenten vermögen die Juden doch wohl kaum einen bedeutend erheblicheren Einfluss auf die Presse auszuüben, als ihnen nach ihrer

65 Les Juifs connus en France sous le nom de Juifs portugais, espagnols et avignonnais, continueront de jouir des droits desquels ils ont joui jusqu’à présent.

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Kopfzahl innerhalb des deutschen Reiches zukommt. Speciell in dem von Herrn v. Treitschke hervorgehobenen Fall der «Schlessischen Zeitung», die wegen einiger, immerhin aus ehrlicher Ueberzeugung hervorgegangenen, aber darum nicht weniger gehässigen Judenartikel 600 Abonnenten verloren haben soll, vermag ich weder etwas Tadelnswerthes, noch etwas Gefährliches zu erblicken. Man kann doch wahrlich auch dem Juden nicht zumuthen, dass er eine Zeitung halten soll, die ihm schon am frühen Morgen durch hämische Angriffe die gute Laune verdirbt; und jenes schlessische Blatt hat sich durch den Verlust an Abonnenten in keiner Weise abhalten lassen, seiner Meinung über die Juden auch später einen recht kräftigen Ausdruck zu verleihen.

Wenn Herr v. Treitschke meiner Vergleichung Börne’s mit Pufendorf entgegenhält, dass der Hohn Börne’s weder überlegen, noch auch berechtigt gewesen sei, weil er nicht in echter Vaterlandsliebe gewurzelt habe, so kann ich zu meinem Bedauern meine Ansicht hier nicht näher begründen, wenn nicht dies Nachwort zu einer literarhistorischen Abhandlung anschwellen soll; ich beschränke mich, darauf aufmerksam zu machen, dass wenigstens in letzterer Beziehung Literarhistoriker wie N. Carrière und Rudolf Gottschall die Ansicht des Herrn v. Treitschke nicht theilen. Warnen aber möchte ich davor, den Umstand, dass Börne’s Schriften heute nur noch wenig gelesen werden, als einen giltigen Richterspruch der Geschichte über seine Wirksamkeit zu betrachten. Wie ungerecht wäre dann dies Gericht nach dem bekannten Epigramm schon zu Lessings Zeiten gegen den grossen Klopstock verfahren!

So befinde ich mich denn zu meinem Bedauern hinsichtlich dieser und anderer mit unserer Frage zusammenhängenden Momente doch noch in erheblicher Differenzen der Anschauung mit meinem geehrten Collegen. In einer Beziehung aber stimme ich ihm völlig zu. Er fordert mich und meine Gesinnungsgenossen auf, ihn in dem Kampf gegen die schlechten Elemente innerhalb des Judenthums zu unterstützen. Wir mögen über den Umfang und die Ausdehnung dieser Elemente verschiedener Ansicht sein: über die Frage aber, was schlecht und niedrig und deshalb bekämpfenswerth sei, kann zwischen uns kein Unterschied der Meinung bestehen. Und ich darf ihm im eigenen Namen und in dem vieler Gesinnungsgenossen die feste Versicherung geben, dass wir es an unserer Unterstützung in jenem Kampfe in Zukunft ebensowenig fehlen lassen werden, wie wir in der Vergangenheit unterlassen haben darin, ein jeder nach seinen Gaben und nach seinen Kräften, thätig zu sein. Vor der Oeffentlichkeit freilich kann dieser Kampf nicht ausgefochten werden. Uns aber nöthigt in diesem Augenblick noch ein anderer Angriff zur Abwehr, zur Vertheidigung unserer Ehre, die man schmäht, und unseres Vaterlandes, das man uns nehmen will. Immer lauter wird das Geschrei derer, die dem deutschen Volke zurufen, mit keinem Juden geschäftliche Verbindungen anzuknüpfen, mit keinem geselligem Verkehr zu unterhalten, keinen Juden zu einem communalen oder staatlichen Ehrenamte zu wählen; sie möchten nachdem das Staatsgesetz uns die Gleichberechtigung verliehen hat, nunmehr eine sociale Excommmunication nicht bloss über die schlechten Elemente, sondern über die Gesammtheit des deutschen Judenthums verhängen. Ich darf hoffen, dass auch wir unererseits in dem gerechten Vertheidigungskampfe gegen diese Bestrebungen auf die Unterstützung meines Collegen zählen können; und ich bin sicher, dass es nicht mit seiner Zustimmung geschieht, wenn die Leiter dieser Bewegung noch immer nicht aufhören dem deutschen Volke vorzuspielen, dass Heinrich von Treitschke ihr Bundesgenosse sei.

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66 K. KRIEGER: DER “BERLINER ANTISEMITISMUSSTREIT”

Mit seinem Ende 1879 in den Preussischen Jahrbüchern veröffentlichten Aufsatz “Unsere Aussichten” und den darin enthalten Forderungen und Vorwu!rfen gegenüber den deutschen Juden sollte der bekannte, vormals liberale Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) in die Geschichte des Modernen Antisemitismus eingehen. Treitschke forderte unter anderem, die Juden “sollten Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen […]; denn wir wollen nicht, dass auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischkultur folge” (S. 12). Diese und andere Aussagen Treitschkes in seinem Aufsatz machen letztlich seine massive Überfremdungsangst deutlich. Treitschke zeichnete von sich das Bild eines neutralen Beobachters, der zwar seine Zweifel an einer vollständigen Assimilation der Juden ausspricht, indem er Tacitus zitiert, “es wird immer Juden geben, die nichts sind als deutsch redende Orientalen” (S. 15) und behauptete, dass vor allem nach der gesetzlichen Emanzipation die Juden - “nur eine Minderheit unter uns” (S. 14) - überzogene Forderungen gestellt hätten und mittlerweile ein “gefährlicher Geist der Überhebung in jüdische Kreisen erwacht ist […]. Man lese die Geschichte der Juden von Graetz Heinrich Graetz einer der bekanntesten deutsch-jüdischen Historiker dieser Zeit, veröffentlichte die elfbändige "Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart” (1853-1875) : welch fanatische Wuth gegen den ’Erbfeind’, das Christenthum, welcher Todhass grade wider die reinsten und mächtigsten Vertreter germanischen Wesens, von Luther bis herab auf Goethe und Fichte! Und welche hole beleidigende Selbstüberschätzung¡‘ (S. 12). Aber anschliessend auch relativierend erklärt, dass von einer ”Zurücknahme oder auch nur einer Schmälerung der vollzogenen Emancipation […] unter Verständigen gar nicht die Rede sein“ (S. 14) könnte. Jedoch schon in dem im Dezember veröffentlichten Aufsatz ”Herr Graetz und sein Judenthum“ postuliert er, ”mit der vollzogenen Emancipation ist auch der alte Anspruch der Juden, eine Nation für sich zu sein, gänzlich hinfällig geworden. In diesem Jahrhundert der nationalen Staatsbildungen könne die europäischen Juden nur dann eine friedliche und der Gesittung förderliche Rolle spielen, wenn sie sich entschliessen – soweit Religion, Ueberlieferung und Stammesart dies erlaubt – in den Culturvölkern, deren Sprache sie reden, aufzugehen.“ (S. 121) Einige Seiten später fährt er fort, ”tritt aber dieser Racedünkel auf den Markt hinaus, beansprucht das Judenthum gar Anerkennung seiner Nationalität, so bricht der Rechtsboden zusammen, auf dem die Emancipation ruht. Zur Erfüllung solcher Wu!nsche gibt es nur folgende Mittel: Auswanderung, Begründung eines jüdischen Staates irgendwo im Auslande […]. Auf deutschem Boden ist für eine Doppel-Nationalität kein Raum.“ (S. 126)

Treitschke forderte von den Juden somit letztlich die vollständige Akkulturation. Nämlich, dass die völlige Preisgabe ihrer kulturellen und religiösen Identität. Er verlangte damit im Grunde, was er selbst für unerfüllbar hielt, da er den Juden andererseits spezielle Eigen- schaften als wesenhaft zuschrieb. Die Lösung der Judenfrage ist aus dieser Sichtweise somit nicht möglich, da zumindest seines Erachtens, die Juden innerhalb der Nation nicht voll- ständig zum Verschwinden zu bringen sind. Er gewährt ihnen allerdings ein Gastrecht zur Existenz als Juden innerhalb des Reiches ein, allerdings unter der Massgabe, dass sie dieses Recht ohne "einen fühlbaren Einfluss auf die nationale Gesittung“ (S. 11) ausüben. Solche Bedingungen sind natu!rlich nur schwerlich zu erfüllen. In ihnen ist zumindest angelegt, dass

66 Quelle: Internet: Karsten Krieger. Der ”Berliner Antisemitismusstreit”1879-1881: Eine Kontroverse um die Zugehörig- keit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismus- forschung. München: K.G. Saur, 2003. 953 S. in 2 Bd. Reviewed by Matthias Brosch, Published on H-Soz-u-Kult (April, 2004)

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 60/76 die den Juden zugestandenen Eigenarten jederzeit auch als Grund zur Verweigerung der Assimilation ausgelegt werden können."

Mit 'Unsere Aussichten’ brachte Treitschke das Kunststück fertig, den in Deutschland gras- sierenden Antisemitismus zu unterstützen und zugleich den Eindruck zu erwecken, dass er grade dies nicht täte, indem er sich scheinbar von den Antisemiten distanzierte und seine Beschuldigungen in das Gewand vermeintlich werturteilsfreier Beobachtungen kleidete: 'Bis in die höchsten Kreise unserer Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirch- licher Unduldsamkeit und nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden’ er- töne' es heut wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück!’ ” (S. XVI) so urteilt Karsten Krieger richtig, dabei die wohl bekannteste Textstelle aus Treitschkes Aufsatz zi- tierend.

Im Aufsatz "Unsere Aussichten“ werden das Deutsche und das Jüdische von Treitschke je zu einem Wesen ontologisiert. Deutsches und Jüdisches trennt damit eine grundsätzliche Kluft. Überdies ethnisiert Treitschke die Juden zu einer Abstammungsgemeinschaft," einem Volke mit so reinem Blute und so ausgesprochener Eigenthümlichkeit” (S. 11). Durch die Verbin- dung von Ontologisierung, Ethnisierung, Personifikation und Abstraktion wird ermöglicht, das Wesen der Gesamtheit einer Personengruppe in Taten und Personen vorzustellen. Was geschieht, geschieht so Kraft der Handlungen von Personen, die ihrerseits ontologisch-eth- nisch bestimmt sind. Sie tun, was ihrer Bestimmung gemäss ist. Abstraktionen ergänzen die ontologische Bestimmung durch weiter generelle Wesensmerkmale. Diese Abstrakta erzeu- gen schuldige Täter, anstatt bei anonymen Verhältnissen stehenzubleiben.67

Äusserungen wie Treitschke sie formulierte, blieben auch damals nicht lange unerwidert. Treitschke löste mit seinem Aufsatz “Unsere Aussichten”, in dem er sich letztlich nur im letzten Drittel mit der “Judenfrage” befasst hatte, eine Diskussion aus, die über akademi- sche Kreise weit hinaus, große Teile des deutschen Bildungsbu!rgertums erfasste und in welcher wenig rational argumentiert wurde. “Kein antisemitischer Aufsatz löste jemals eine so heftige Reaktion aus, wie ’Unsere Aussichten’, und kein antisemitisches Pamphlet erzielte jemals eine derart weite Verbreitung wie die unter dem Titel ’Ein Wort über unser Judentum’ im Januar 1880 für einen grossen Leserkreis veröffentlichte preisgünstige Broschüre, in der Treitschke seine bis dahin erschienen ’Judenartikel’ zusammengefasst hatte.” (S. XVIIf.)

In der wissenschaftlichen Antisemitismusforschung herrscht im Grossen und Ganzen Einig- keit darüber, dass Treitschkes "Unsere Aussichten“ in der Genese des deutschen Antisemi- tismus eine exemplarische, möglicherweise sogar paradigmatische Bedeutung zukommt.68 In der Person Treitschkes wird die Transformation vom liberalen Nationalismus zum post- und antiliberalen, nationalen Antisemitismus erkennbar, auch wenn die Ausformulierung antisemitischer Weltanschauung nicht nur für (Ex-)Liberale reserviert war.

67 vergl. genauer zu Treitschkes Aufsatz "Unsere Aussichten“, die herausragende Analysearbeit des Soziologen Klaus Holz (Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, 2000, Kapitel III, 165- 247, ebenso ist sehr lesenswert, der Aufsatz des Historikers Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie. Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: GWU 46, 1995, S. 167-178) 68 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Treitschkes antijüdische Haltung später noch deutlicher und massiver in der vielfach aufgelegten und bis heute im Buchhandel erhältlichen fünfbändigen in den Jahren 1879-1894 veröffentlichten "Deutschen Geschichten Geschichte im 19. Jahrhundert“ hervortrat. Besonders widerlich sind hier seine stereotypen Ausführungen über das eingewanderte Ostjudentum. Die "Deutsche Geschichte“ fand eine große Verbreitung in das Bildungsbürgertum, sowie Schul- und Leihbibliotheken. Es ist anzunehmen, dass die "Deutsche Geschichte“ eine noch deutlich höhere und nachhaltigere Wirkungskraft hatte als sein Artikel "Unsere Aussichten“.

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Die durch Treitschkes in den Jahrbüchern veröffentlichten Aufsatz ausgelöste deutschland- weite Debatte, erfasste nahezu alle Milieus und polarisierte die politische Öffentlichkeit nachhaltig im hohen Maße und ist heute - obwohl von Zeitgenossen als “Treitschkestreit” bezeichnet - als “Berliner Antisemitismusstreit” jedermann ein Begriff, der sich mit dem "Modernen Antisemitismus“ befasst. Die Bezeichnung "Berliner Antisemitismusstreit” geht auf eine 1965 erstmals von dem Journalisten Walter Boehlich veröffentlichte Quellen- sammlung69 zurück, die zweifellos zu einem Standartwerk geworden ist. Obwohl Boehlich in seinem Nachwort auch anmerkte, dass es sich bei der Auseinandersetzung keinesfalls nur um einen Gelehrtenstreit gehandelt hat – genannt werden unter anderem etliche Rabbin- er70, die sich in den Streit zu Wort gemeldet haben, genauso deutsche und jüdische Zeit- ungen, die sich mittels ihrer Berichterstattung in den Streit einmischten - beschränkte er die Auswahl der insgesamt 22 Texte bis auf vier Ausnahmen71 vielmehr nur auf die we- sentlichen Äusserungen aus der Professorenschaft; neben Treitschke hier vor allem die der "jüdischen“ Professoren Graetz, Bresslau, Bamberger, Cohen und besonders die Wortmel- dungen von Theodor Mommsen72. Für Boehlich ist der Mommsen der wichtigste Widerpart Treitschkes. In seiner Textsamm- lung und dem dazugehörigen Nachwort konstruierte er die wohl bekanntesten Opponenten Treitschke und Mommsen zu einem "antagonistischen Gegensatzpaar“ (S. VIII). Auf der ei- nen Seite den rückständigen, mittlerweile zum Antiliberalen degenerierten, Nationalisten Treitschke, auf der anderen den "noblen Mommsen”, welchen er zum freisinnigen und fort- schrittlichen, toleranten Anwalt des deutschen Judentums idealisiert.

Allerdings belegt die genauere Lektüre Mommsens Werks [siehe Anmerkung 6], sowie sei- ner Replik "Auch ein Wort über unser Judenthum“ und die Korrespondenz zwischen ihm und Treitschke, dass ihre Differenzen über die "Judenfrage” möglicherweise gar nicht so gross waren, wie der Leser nach der unkritischen Lektüre der Edition und vor allem des Kommen- tars von Boehlich zu glauben scheint. Ähnlich wie Treitschke ethnisierte und ontologisierte er die Deutschen und die Juden, sprach von “deutschen Occidentalen” und “semitische Blut” und deren “Stämme […] recht sehr ungleich”(S. 700) wären, wies den Juden Sondereigen- schaften”(S. 701) zu, die allerdings so schränkt er ein zu scharf empfunden würden.

69 Böhlich, Walter (Hg.); Der Berliner Antisemitismusstreit, am Main 1965. Das Buch hatte einen Umfang von 267 Seiten, erschien in der Sammlung Insel (Bd. 6) und brachte es in einem Jahr auf zwei Auflagen von insgesamt 9000 Exemplaren. 1988 wurde es im Insel-Verlag als Taschenbuch (it 1098) nochmals neu aufgelegt. 70 Den national-liberalen Reichstagsabgeordneten Ludwig Bamberger, den Rabbiner Joel und als Fürsprecher Treitschkes den radikalen Antisemiten H. Naudh (d.i. Heinrich Nordmann, bekannt vor allem durch die vielfach aufgelegte Schrift "Die Juden und der Deutsche Staat“) und den nicht weiter bekannten Antisemiten Wilhelm Endner. 71 Den national-liberalen Reichstagsabgeordneten Ludwig Bamberger, den Rabbiner Joel und als Fürsprecher Treitschkes den radikalen Antisemiten H. Naudh (d.i. Heinrich Nordmann, bekannt vor allem durch die vielfach aufgelegte Schrift "Die Juden und der Deutsche Staat“) und den nicht weiter bekannten Antisemiten Wilhelm Endner. 72 Theodor Mommsen (1817-1902), weltbekannter Altgeschichtler, erhielt 1902 den Nobelpreis für Literatur für sein dreibändiges Standartwerk "Römische Geschichte“. Berühmt-berüchtigt sind die häufig diskutierten "antijüdischen“ Pas- sagen im Band III der "Römischen Geschichte“ (S. 550f.), die ihren Eingang in das weit verbreite, "Handbuch der Juden- frage“ gefunden haben (z.B. 28 Aufl., S. 144f), welches von dem paranoidantisemitischen Theodor Fritsch herausgege- ben wurde. An der bekanntesten Stelle der "Römischen Geschichte“ behauptet Mommsen, ähnlich wie in der an Treitsch- ke gerichteten Schrift "Auch ein Wort an unser Judentum“, die Juden wären ein ”Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Dekomposition“ gewesen, der zweite weniger bekannte Teil des Zitates lautet folgendermaßen: "und insofern ein vorzugsweise berechtigtes Mitglied in dem Caesarischen Staate, dessen Politik doch nichts als Weltbürgertum, des- sen Volkstümlichkeit im Grunde nichts als Humanität war.“ Auch Treitschke verwendete die erste Hälfte des Zitates argumentativ gegen Mommsen, um einen Rollentausch vorzunehmen. (S. 616f.) (Vergl. zu Mommsen und dem Antisemi- tismus: Malitz, Jürgen, "Ich wünschte ein Bürger zu sein”. Theodor Mommsen im wilhelminischen Reich, in: Christ, Karl; Momigliano, Arnaldo, Die Antike im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Berlin, 1988. S. 321 – 360 Oder: St. Zu- cker, Theodor Mommsen and Antisemitism, in: “Leo Baeck Institute Year Book”, 17, 1972, S. 237-241) .

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Sie seien “in Deutschland ein Element der nationalen Decompositon”(S. 701)73 und auch “der jüdische Wucher” sei “keine Fabel”(S. 706). Zu guter Letzt behauptete Mommsen auch noch, dass die Juden einen "Theil der Schuld an der jetzigen Situation“ tru!gen, denn “das Wort ’Christenheit’ ” sei es, welches ”den Charakter der heutigen internationalen Civilisa- tion“ zusammenfasst.”(S. 708) Und “ausserhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zustehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll.” Offenbar gehörten die Juden, welche sich nicht zum Christentum bekannten, seines Erachtens nicht zur zivilisierten Welt. Er schließt seinen Aufsatz: “Der Eintritt in eine große Nation kostet seinen Preis”, diesen hätten bislang alle bezahlt und “sind daran ihn zu bezahlen, und wir fühlen es wohl, dass wir damit von unserem Eigensten ein Stück hingeben. Aber wir geben es dem gemeinsamen Vaterland. Auch die Juden führt kein Moses wieder in das gelobte Land [sic!]; mögen sie Hosen verkaufen [!] oder Bücher schreiben, es ist ihre Pflicht, so weit sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu thun und alle Schranken zwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen.”(S. 709)

Damit fordert er letztlich wie Treitschke die Preisgabe ihrer Identität. Die Reaktion Momm- sens deutet auf ein charakteristisches Problem des liberalen Bürgertums dieser Zeit, denn Mommsen konnte sich, ebenso wie die meisten anderen nichtju!dischen Kontrahenten Treitschkes, die soziale Integration der Juden nur in Form einer vollständigen Assimilation denken, dies wird an den etlichen Kommentaren der liberalen Presse deutlich, welche in dieser Edition zusammengestellt wurden.

Wolfgang Benz stellt fest in Bezug auf Boehlich fest, seine "Edition hat sich für die For- schung als fruchtbar erwiesen, indem sie neue Fragen eröffnete.“ Er muss jedoch auch ein- schränken, dass sie leider "auch auf falsche Fährten geführt” hat, "da die Wissenschaft der einmal vorgelegten Quellenedition nahezu ausschließlich gefolgt ist.“ (S. VII) Dem ist unbe- dingt zuzustimmen.74 Es ist daher umso erfreulicher, dass das Zentrum für Antisemitismus- forschung der TU Berlin eine gru!ndliche Quellenedition zu der bedeutenden Kontroverse in Auftrag gegeben hatte, deren zweibändiges Ergebnis dem Rezensenten nun vorliegt. Über- nommen hatte diese verantwortungsvolle Aufgabe Karsten Krieger75, der neben der an- spruchsvollen kompilatorischen Tätigkeit die überaus informative wie im Verhältnis zum Gesamtwerk vielleicht etwas knapp gehaltene Einleitung verfasst hat. Auch hat er die Quellen gekonnt durch seine kenntnisreichen wie kritischen Kommentare und Anmerkungen flankiert, die – sofern der Rezensent dies beurteilen kann – dem neuesten Stand der Forschung entsprechen. Die umfassende Quellenedition soll die wichtigsten veröffentlichten Texte verzeichnen, die zwischen August 1879 und Mai 1881 erschienen sind und so das

73 Mommsen meint damit möglicherweise auch in diesem Zusammenhang etwas Positives, denn um die diversen Völ- kerschaften zu einem deutschen Volk zu vereinen, war diese "jüdische Eigenschaft“ natürlich unbedingt hilfreich. Momm- sen macht auf diese Weise auch deutlich, dass die Juden kein “Fremdkörper” sind, der erst später oder wesensfremd hin- zutrat, sondern er bindet die deutschen Juden folglich in die Nationswerdung genuin ein. Allerdings wurde das Wort von der Mommsen wendet dieses Stereotyp also ins Positive, diese Inversion ist natürlich auch gefährlich, denn trotz der po- sitiven Charakterisierung bleibt das Stereotyp erhalten. 74 Erst in seinem soeben erschienen Aufsatz über Treitschke – wahrscheinlich die jüngste Veröffentlichung zu ihm verläßt sich Hans-Jürgen Lüsebrink in dem Teil, in welchem er sich dem "Antisemitismusstreit” widmet, alleinig auf Boehlichs Edi- tion. (Siehe: Nationalistische Publizistik und "tatbegründete“ Wissenschaft – zum Werk Heinrich von Treitschkes, in: Gru- newald, Michel; Puschner, Uwe, Das Konservative Intellektuellen-Milieu in Deutschland (1890-1960), besonders 667- 671) 75 Karsten Krieger ist Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Sein Dissertationsvorhaben trägt den Titel ”Geschichtswissenschaft, Antisemitismus und veröffentlichte Meinung im preuß- ischdeutschen Kaiserreich. Eine komparativ-biographische Studie zur Begründung kollektiven identitätsbewusstseins bei Heinrich v. Treitschke, Adolf v. Harnack und Werner Sombart“.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 63/76 komplexe diskursive Umfeld beleuchten, in das dieser Konflikt eingebettet war.

Neben Zeitschriftenaufsätzen, Zeitungsartikeln und -notizen sowie Broschüren und Flug- schriftenliteratur, wurden auch unveröffentlichte Texte, wie vor allem Korrespondenzen, in der Edition beru!cksichtig, hierdurch wird auch deutlich, dass die Debatte nicht nur Mittels des gedruckten Wortes geführt wurde; und gerade der Briefwechsel zwischen Mommsen und Treitschke ist, wie schon erwähnt, besonders aufschlussreich.

Durch die nun neu editierten Texte zum “Berliner Antisemitismusstreit” fällt auch auf, dass in dieser ersten Phase vorwiegend jüdische Deutsche und erklärtermaßen linksliberale Blätter antworteten unter den jüdischen Zeitungen die “Jüdische Presse und die ”Allgemeine Zeitung des Judentums“, unter den nichtju!dischen die bekannte ”Vossische Zeitung“ oder der ”Berliner Börsen Courier“. Selbst die ultrakonservative ”Kreuzzeitung“, in der nicht selten antisemitische Standpunkte vertreten wurden, kritisierte Treitschke. Nur die der katholischen Zentrumspartei sehr nahe stehenden ”Germania“, die schon seit dem "Gru!nderkrach“ 1873 immer wieder gegen die Juden agitierte, brachte schon kurz nach der Veröffentlichung von ”Unser Aussichten“ am 28.11.1879 einen Teilabdruck des Aufsatzes und kommentierte: ”Unsere Leser werden finden, dass die Auslassungen Treitschkes im Wesentlichen mit dem übereinstimmen, was wir seit Jahren in der Judenfrage dargelegt haben.“ Abgesehen von einem weiteren Artikel in der ”Germania“ schwieg das übrige konservative Bürgertum anfänglich.

Erst ab Januar 1880 meldeten sich auch verstärkt Antisemiten zu Wort, so H. Naudh, Will- helm Ender und Moritz Busch (April) mit ihren Broschu!ren oder zum Beispiel der antisemi- tische “Reichsbote” mit einem Artikel “über die Bedeutung für die antisemitische Bewe- gung”(S. 305), ebenso die antisemitische “Deutsche Wacht”, die zu diesem Zeitpunkt aller- dings nicht mehr in den Händen des bekannten Antisemiten Wilhelm Marr befand. Schon Anfang April 1880, so gibt die Edition zu Erkennen, war die erste Phase der Auseinander- setzung abgeschlossen.

Zum Jahresende weitete sich der Streit dann enorm aus und trat in seine zweite Phase. Bedeutend für die Ausweitung war, wie Krieger anhand der Quellen dokumentieren kann, insbesondere die Initiierung der "Antisemitenpetition“76 . Als sich im Dezember 1880 Theo- dor Mommsen mit der Broschüre “Auch ein Wort über unser Judentum”, welche es in nicht einmal einer Woche zu drei Auflagen brachte, zu Wort meldete und “sich nun die zwei be- rühmtesten Gelehrten Deutschlands gegenüberstanden,” so kommentiert Krieger, “erreichte die Polarisierung der Öffentlichkeit eine Ausmaß an Intensität, die in Bezug auf den Antise- mitismus im 19.Jahrhundert nur noch von der ’Dreyfus-Affäre’ in Frankreich übertroffen wurde.”(S. 695)

Der Streit beherrschte ab Dezember zunehmend die Titelblätter der deutschen Presse. Auch im Ausland wurde er in der Tagespresse “mit einer Mischung aus Befremden, Verachtung und Sorge” (S. 602) beobachtet und kommentiert, Krieger wählte hierfür stellvertretend zwei Artikel der Londoner “Times” aus. Die Edition der Texte illustriert eindrucksvoll, wie sich nach der Veröffentlichung der Broschüre Mommsens die Stimmung endgültig gegen Treitschke wendete. Neben den jüdischen Zeitungen, schossen sich nun auch die liberale

76 Die 1880 unter anderem von bekannten Berliner Antisemiten (Bernhard Förster, Max Liebermann v. Sonnenberg, Ernst Henrici) initiierte "Antisemitenpetition“ forderte praktisch die Aufhebung der Emanzipation der Juden im Deutschen Reich, ein bekannter Unterzeichner war u.a. der selber antisemitisch aktive Hofprediger Adolf Stöcker.

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Presse endgültig gegen Treitschke ein. Die Wortmeldungen zugunsten Treitschkes wurden seltener und zurückhaltender. Somit markierte der Aufsatz Mommsens den gleichzeitigen Höhe- wie Wendepunkt des “Berliner Antisemitismusstreits”

Wolfgang Benz urteilt in seinem Vorwort treffend: “Der ’Berliner Antisemitismusstreit’ war vor allem eine Identitätsdebatte, eine Auseinader- setzung darum, was nach der 1871 erfolgten Reichsgründung und rechtlichen Emanzipation der Juden, Deutscher zu sein und deutscher Jude zu sein, eigentlich bedeuten sollte und anhand welcher Kriterien sich diese Fragen beantworten liessen. Im ’Berliner Antisemitis- musstreit wurde nahezu alles verhandelt, was sich seit der Reichsgründung und der Juden- emanzipation in Deutschland an Identitätskonflikten aufgestaut hatte.”

Nachdem Treitschke auf Drängen Mommsens am 15. Dezember ein öffentliches Dementi zur “Studentenpetition”77 abgab und auf eine im neu beigefügten Nachwort der grade erschie- nen dritten Auflage der Flugschrift “Auch ein Wort über unser Judentum” enthaltene Zu- rechtweisung Mommsens nicht reagierte, hatte er den Streit zumindest in den Augen der Öffentlichkeit verloren.

Die im April 1881 Bismarck übergebene “Antisemitenpetition“ blieb ohne weitere Folgen. Im Gegenteil, die Linksliberalen gingen aus den nachfolgen Wahlen gestärkt hervor.

Krieger betritt mit seiner kommentierten Edition, welche eine sagenhafte Fleissarbeit dar- stellt, durch die Einbeziehung der zahlreichen Zeitungskommentare und entlegenen und mühselig zusammen getragenen Korrespondenzen absolutes Neuland und gewährt der For- schung so einen vollkommen neuen Einblick in die Debatten des “Antisemitismusstreits”. Gewiss wird diese Arbeit, die zweifellos das neue Standartwerk zum “Berliner Antisemi- tismusstreit” darstellt, der Stein des Anstoßes für weitere Forschungen sein.

Doch die unmittelbaren Folgen der Debatte wiegen im Vergleich zu den langfristigen we- sentlich geringer. Krieger selbst schätzt die Auswirkungen des Streites am Ende seiner Ein- leitung folgendermassen ein: “Wahrscheinlich prägte Treitschke wie kein zweiter das Identitätsbewusstsein sowohl der Führungseliten als auch der Mittelschichten im Deutschen Kaiserreich. Die durch ihn be- förderte und in ein nationales Weltbild integrierte scheinbare Domestizierung der Juden- feindschaft hat vermutlich massgeblich dazu beigetragen, dass der Antisemitismus einen integralen Bestandteil des eigenen Weltverständnisses bildete, dessen zerstörerisches Po- tenzial sich allerdings erst seit dem Ersten Weltkrieg offenbarte.”(S. XXXI)

Ergänzt wird die Edition durch etliche Hilfsmittel, wie ein chronologisches und alphabeti- sches Quellenverzeichnis, die Nennung der Auflagenzahlen und Erscheinungsweise der auf- genommenen Zeitschriften, die Auflistung der Artikelserien der “Allgemeinen Zeitung des Judentums” zum “Berliner Antisemitismusstreit”, ein Literaturverzeichnis, eine Zeittafel, ein Personenregister mit biographischen Angaben sowie der Nennung von Quellen, welche nicht

77 Bei der so genannten "Studentenpetition“ handelte es sich um den Versuch, die "Antisemitenpetition“ in der Studentenschaft zu verbreiten. Letztlich sollte eine demonstrative Beteiligung der Studenten an der "Antisemitenpetition“ erzielt werden. Treitschke der zu diesem Versuch offenbar positiv Stellung bezogen hatte, wurde als Idol des antisemitischen Teils der deutschen Studentenschaft als Werbeträger herangezogen. (vergl. hierzu: Kampe, Norbert, Studenten und Judenfrage, besonders S. 23ff., vergl. ebenso die zahlreichen Quellen in der Edition, z.B. den Brief des Studenten Paul Dulon an Treitschke)

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Eingang in die Edition fanden.78

If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Matthias Brosch. Review of Krieger, Karsten, Der ”Berliner Antisemitismusstreit”1879-1881: Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums fu!r Antisemitismusforschung. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. April, 2004. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=17720 Copyright © 2004 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact H-SOZ-U- [email protected].

78 Schade ist allerdings, dass der Leser nicht darüber informiert, warum diese Texte nicht in die Edition aufgenommen wurden bzw. nach welchen Kriterien die Auswahl der Texte erfolgte.

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DER JUDE MIT DEM HAKENKREUZ. 79

Aus: Lorenz S. Beckhardt, Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie.80

Lorenz S. Beckhardt, geboren 1961, Diplom-Chemiker und Journalist. Autor, Redakteur und Reporter für ARD, den WDR und 3Sat, recherchierte für den WDR-Dokumentarfilm «Der Jude mit dem hakenkreuz» (WDR 2007) über seinen Grossvater.

Lorenz S. Beckhardt, in einem katholischen Internat erzogen, erfährt erst als Achtzehnjähriger, dass er Jude ist. Allmählich erhellen sich ihm das Leben seiner Vorfahren, ihr Streben nach Anerkennung als vollwertiger Bürger und nach wirtschaftlichem Aufstieg. Sein Grossvater Fritz, gelernter Textil-kaufmann, war aus dem Ersten Weltkrieg als der höchst dekorierter Jude auf deutscher Seite zurückgekehrt. Nach 1933 wurde er wegen Rassenschande inhaftiert, kam aber mit Hilfe seines ehemaligen Geschwaderkameraden Hermann Göring aus Buchenwald frei und konnte mit seiner Frau emigrieren. Sohn Kurt und Tochter Hilde gelangten mit Kindertransporten nach England. Andere Verwandte wurden deportiert und ermordet. Nach dem Krieg pochte er auf die Einlösung des Versprechens, das er dem Schweigervater beim Ab-schied gegeben hatte: «Papa, Hitler wird den Krieg verlieren. ... wir kommen zurück; auch nach diesen wird es noch Juden am Rhein geben.» Selbst die Nazis hatten seine Kämpfernatur nicht gebrochen. Das vermochte erst die Wiedergutmachungsbürokratie der frühen Bundes-republik. Bewegend schildert Lorenz Beckhardt die Schicksale seiner Verwandten und die eigene Selbstfindung, die Folgen von Schweigen, Verdrängen, den schweren Neubeginn in der alten Heimat, die alltäglichen Demütigungen durch Nachbarn und den zermürbenden Streit um die Rückerstattung des Eigentums.81

„Der 18. Januar 1871 war ein grosser Tag für den 16-jährigen Abraham Beckhardt aus Wallertheim. An diesem Tag wurde der preussische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Bei Gründung des Kaiserreichs schien den meisten Juden, sie hätten 1800 Jahre nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem endlich wieder eine Heimat gefunden. Für Abraham hatte der Messias einen Namen: Wilhelm I., Kaiser und «allzeit Mehrer des Deutschen Reichs». Im 19. Jahrhundert hatten Juden in allen deutschen Armeen und in allen Kriegen gekämpft. In den Befreiungskriegen gegen Napoleon waren sie «für König und Vaterland» gestorben. Der Wiener Kongress hatte 1815 die Entwicklung nicht mehr aufhalten können, als er die «französischen Zustände» auszumerzen suchte. Der neu gegründete Deutsche Bund hatte seinen Mitgliedsstaaten, deren Verfassung in der Franzosenzeit entstanden waren, erlaubt, die Rechte der Juden ausser Kraft zu setzen. Preussen stellte sich an die Spitze der Judengegner, doch die rheinhessischen Juden hatten Glück, denn das Grossherzogtum Hessen folgte Preussen nicht. Als die deutsche Nationalbewegung in der Revolution von 1848 auf die Barrikaden ging, um sich eine Verfassung und ein Parlament zu erkämpfen, waren unter den 586 Abgeordneten immerhin neun Juden. Sie hatten dafür gekämpft, dass die erste deutsche Verfassung einen

79 Im Rahmen des Johannistreffens schauen wir uns als Alternative die Dokumentarsendung zu diesem Buch an. 80 Ich zitiere hier aus der Taschenbuchausgabe vom Aufbau Taschenbuch Verlag, 2016. Vor allem die Seiten, die sich mit dem «Antisemitismusstreit» von 1875 befassen. 81 Innentext TB-Ausgabe.

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Paragraphen erhielt, in dem es hiess: «Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch eingeschränkt.» Doch bis auf wenige Ausnahmen duldete die christliche Mehrheit nach wie vor keine Juden im Staatsdienst. Um Patriotismus zu beweisen, blieb nur der Dienst in der Armee. Im Preussisch-Österreichischen Krieg von 1866 hatten Juden in beiden Heeren gekämpft; auf Seiten Österreichs zählte man 200 jüdische Offiziere. Auch im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kämpften zehntausende deutsche Juden, allerdings blieben jüdische Offiziere im Kaiserreich die Ausnahme, denn «ein Jude soll einem Christen keine Befehle erteilen». Unter Reichskanzler Otto von Bismarck erlebte Deutschland ein Wirtschaftswunder, und die erfolgshungrigen Juden trieben es mit voran. ... Auf dem Land fiel der Aufschwung der Gründerjahre zwar bescheidener aus, aber auch Abraham Beckhardt erweiterte seinen Viehhandel, eröffnete eine Metzgerei mit Lebensmittelladen, baute ein Haus und heiratete. Für meine Urgrosseltern links wie rechts des Rheins waren die ersten Jahre des deutschen Kaiserreichs eine glückliche Zeit. Bismarcks preussisches «Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen» galt nun in ganz Deutschland. Ein knappes Jahrhundert nachdem Moses Mendelssohn die Juden aus der Isolation ihrer religiösen Zwänge befreien wollte, waren sie zu vollwertigen deutschen Staatsbürgern aufgestiegen. Die Religion war von nun an Privatsache, statt Talmudversen wurden Börsenkurse studiert, und des Kaisers Wort war Gottes Wille. Als im Jahr 1888 der Kaiser und dessen Sohn Friedrich starben, bestieg der 29-jährige Wilhelm II. den Thron. Bald darauf erblickte Joseph Ben Abraham, mit bürgerlichen Namen Friedrich Beckhardt, in Wallertheim das Licht der Welt.

.... Seit Kriegsbeginn konnten Juden in der preussischen Armee wieder Offiziere werden. Man brauchte sie. ... Hätte Fritz sich taufen lassen, wäre er zum Leutnant befördert worden, doch er hatte andere Pläne. Sein Regiment wurde nach Ypern in Flandern versetzt, wo die deutsche Armee im Frühjahr 1915 zum ersten Mal Giftgas eingesetzt hatte. Der getaufte Jude und spätere Chemie- Nobelpreisträger Fritz Haber, ein Freund Albert Einsteins, hatte die Verwendung des industriellen Abfallprodukts Chlorgas angeregt und die Gaseinsätze an der Front persönlich überwacht. Habers Frau beging Selbstmord; für sie war der Gatte ein Massenmörder. Kurz bevor Fritz zum letzten Mal in einen Schützengraben einrücken musste, in «eine Stellung, die von Läusen und Ratten beherrscht» wurde, nahm sein Regiment am 20. Oktober 1916 gewaschen und gebügelt im Schlosspark von Ardoye Aufstellung. Der Kaiser nahm eine Parade ab, und Fritz wurde ihm bei der Gelegenheit persönlich vorgestellt. Insgesamt zweimal habe ihm der Kaiser im Krieg die Hand geschüttelt, hat er erzählt. Doch die Freude hielt nicht lange. Am 1. November wurde er zu seinem Kompanieführer gerufen, der ihm ein Formular vor die Nase hielt. Das preussische Kriegsministerium hatte eine «Judenzählung» angeordnet.

Der viel beschworene «Geist von 1914», der die sozialen und politischen Gräben zugeschüttet zu haben schien, war längst verflogen. Mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Lebensmittelknappheit und der steigenden Existenzangst im Mittelstand mehrten sich die Stimmen, die den Juden die Schuld am Elend des Krieges und an den Versorgungsengpässen an der «Heimatfront» gaben. Vereinigungen wie der Alldeutsche Verband, der Reichshammerbund oder der Bund der Landwirte denunzierten die Juden öffentlich als «Drückeberger» und «Kriegsgewinnler». Im Oktober 1916 verschickte das preussische Kriegsministerium Formulare an alle Dienststellen der Armee, in denen erfasst werden sollte, wie vile Juden sich freiwillig

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 69/76 gemeldet hatten, wie viele an der Front kämpften, wie viele gefallen und wie viele ausgezeichnet worden waren. Die «Judenzählung» war eine Ohrfeige für die deutschen Juden. Ihr Ergebnis allerdings wurde geheim gehalten. Erst nach dem Krieg sickerte durch, dass der Anteil der jüdischen Frontsoldaten dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung exakt entsprochen hatte. Unter den jüdischen Soldaten löste die «Judenzählung» tiefe Frustration aus. Nachdem Fritz dem Kompaniechef die nötigen Angaben zur Person gegeben hatte, stürmte er vor Wut schäumend aus dem Gebäude. Er hatte nur einen Gedanken: Bloss weg hier! ... Fritz bewarb sich um eine Ausbildung bei der Fliegertruppe... Am 2. März 1917 absolvierte er den ersten Alleinflug. ... Fritz wurde in das belgische Gent versetzt. Er war jetzt fast am Ziel seiner Träume. ... Fritz flog täglich von Gent mit einem «Franz» 50 Kilometer zur Front, um die englischen Stellungen zu beobachten. ... Fritz kehrte im Sommer 1919 nach Wallertheim zurück und fand eine Arbeit in Bingen... Am 1. Juni 1919 rief der ehemalige Staatsanwalt Hans Adam Dorten in Wiesbaden die aus der Rheinprovinz, aus Rheinhessen und der Pfalz bestehende «selbstständige Rheinische Republik» aus...... Im von Barrikadenkämpfen zerrissenen Berlin kursierten in den letzten Kriegswochen antisemitische Flugblätter: «Spartakus ist der Judaskuss. Bolschewismus ist die neue Fabrikmarke für Judaismus.» Der militärischen Führung, die die Regierung zur Annahme der Waffenstilstandsbedingungen gedrängt hatte, gelang es, die Verantwortung für die Niederlage den Juden und den Sozialisten zuzuschieben...... die jüdische Soldaten ... gründeten im Februar 1919 den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. ... «Kameraden! Als wir jüdischen Frontsoldaten in Reih und Glied mit unseren Kameraden ins Feld zogen, um das Vaterland zu schützen, da wähnten wir, aller Klassen- und Glaubenshass, alle religiösen Vorurteile seien getilgt. Wir haben uns getäuscht. Gewissenlose Verleumder begrüssen uns bei der Rückkehr von den Schlachtfeldern als „feige Drückeberger“, Schandbuben schmähen unsere Gefallenen. Kameraden! Das Mass ist voll. Zwar sind wir sicher, dass der beste Teil des deutschen Volkes von diesem verruchten Treiben nichts wissen will, aber wir sind zu stolz, untätig zuzusehen, wenn unsere Ehre als Deutsche und Juden besudelt wird.»

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Teilnehmenden: Die Namen werden im Internet nicht publiziert. Ich bitte um Verständnis. Rudy Van Kerckhove

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LITERATUR

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Hans Walter BÄHR (Hrsg): Albert SCHWEITZER: Leben, Werk und Denken. 1905-1965. Mitgeteilt in seinen Briefen, Lambert Schneider Verlag, 1987.

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H.H. BEN-SASSOON: Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. C.H. Beck Verlag, München 1995.

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DEUTSCHER HILFSVEREIN FÜR DAS ALBERT-SCHWEITZER-SPITAL-LAMBARENE: Helene Schweitzer. Sein treuester Kamerad. Textzusammenstellung von Elfriede Bomze-Bamberger, H. Kunz Verlag, Kelkheim/Ts 1984.

Albert H. FRIEDLANDER: Von Berlin in die Welt. Personen und Stationen der jüdischen Reformbewegung, in: Jüdische Lebenswelten. Essays. Hrsg von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, Edward van Voolen. Berliner Festspiele. Jüdischer Verlag Suhrkamp Verlag, 1992 (3. Auflage).

Walter GRAB: Juden und Demokratie. Zwei Jahrhunderte sozialen und politischen Engagements in Deutschland, in: Jüdische Lebenswelten. Essays. Hrsg von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, Edward van Voolen. Berliner Festspiele. Jüdischer Verlag Suhrkamp Verlag, 1992 (3. Auflage).

Heinrich GRAETZ: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd 11 im Internet bei: www.zeno.org/Geschichte/M/Graetz,+Heinrich/Geschichte+der+Juden

Thomas GREIF: Im Schatten, in: Albert Schweitzer. Ehrfurcht vor dem Leben. Sonntagsblatt Thema 3/2015, Hrsg Thomas Greif.

Johannestreffen 2017 – Helene Schweitzer Bresslau 74/76

Susannah HESCHEL: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Jüdische Verlagsanstalt, Berlin 2001.

Gisela KEGLER: Von Herzen der Ihre, liebes Lenilein. Aus dem Briefwechsel zwischen Albert Schweitzer und Helene Bresslau in den Jahren 1902 bis 1912. Aschersleben 2007

Joseph KLAUSNER: Von Jesus zu Paulus. Jüdischer Verlag im Athenäum Verlag, Königstein/Ts 1980.

Willi KÖRTELS: Caroline Isay, www.mahnmal-trier.de/Carolin_Isay_Bresslau.pdf

Ulrich LUZ: Albert Schweitzer als Theologe, in: Albert Schweitzer. Facetten einer Jahrhundertgestalt. Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2013. Hrsg im Auftrag des Collegium generale von Angela Berlis, Hubert Steinke, Fritz von Gunten, Andreas Wagner. Haupt Verlag, Bern 2013.

Patti M. MARXSEN: Helene Schweitzer. A Life of Her Own. Syracuse University Press, 2015

Verena MÜHLSTEIN: Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene. C.H. Beck Verlag, München 1998.

Andreas NACHAMA und Gereon SIEVERICH (Hrsg): Jüdische Lebenswelten: Katalog. Berliner Festspiele. Jüdischer Verlag Suhrkamp Verlag, 1992.

Nils Ole OERMANN: Albert Schweitzer. 1875-1965. Eine Biographie. C.H. Beck Verlag, München 2009.

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Albert SCHWEITZER, Helene Schweitzer BRESSLAU: Ein Leben für Lambarene. Hrsg von Rhena Schweitzer Miller und Gustav Woytt, C.H. Beck Verlag, München 1998.

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Wikipedia: Helene Bresslau Schweitzer: en.wikipedia.org/wiki/Helene_Bresslau_Schweitzer

Werner ZAGER: Albert Schweitzer als liberaler Theologe. Studien zu einem theologischen und philosophischen Denker. Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung. Hrsg von Gottfried Schüz und Werner Zager. Lit Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2009.

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INHALTSAUFGABE:

1 Programm 3

2 Vorschläge 2018 5

3 Helene Schweitzer – Ein eigenes Leben. Eine feministisch-kritische 7 Darstellung (Esther Suter)

4 „Denn wir sind beide Ketzer...“ Spekulationen zu Brieffragmenten aus der 17 Zeit vor Lambaréné (1902-1912) (Rudy Van Kerckhove Juon)

5 Jesus und die Weisen (Albert Schweitzer) 27

6 „Und er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten“ (Albert 31 Schweitzer)

7 Die Familie Bresslau als Beispiel von einem liberal-jüdischen und 35 assimiliert-jüdischen Schicksal (Rudy Van Kerckhove Juon)

8 Das Sendschreiben von Harry Bresslau an Heinrich von Treitschke „Zur 43 Judenfrage“ (Rudy Van Kerckhove Juon)

9 Karstin Krieger: Der „Berliner Antisemitismusstreit“ (Matthias Brosch) 61

10 Lorenz S. Beckhardt: Der Jude mit dem Hakenkreuz 69

11 Teilnehmenden 73

12 Literatur 75

13 Inhaltsverzeichnis 77

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