Zum „Vorrath an Musicalien, Von JS Bach Und
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Vom„apparatder auserleßensten kirchenStücke“ zum „Vorrath an Musicalien,von J. S. Bach undandern berühmtenMusicis“–QuellenkundlicheErmittlungen zurfrühenThüringerBach-Überlieferung undzueinigen Weimarer Schülern undKollegenBachs1 VonPeter Wollny(Leipzig) ChristophWolff zum75. Geburtstag Johann SebastianBachs Jahreals Organist derNeuen KircheinArnstadt (1703–1707), derDivi-Blasii-KircheinMühlhausen(1707–1708) undder SchloßkapelleinWeimar(1708–1717) gelten alsseine formativePeriode,in derder junge Musikersich über dieGrenzen seines unmittelbaren Wirkungs- kreiseshinausals geachteter Virtuose undKomponist etablierte unddas Fun- dament zu einerbeispiellosen Karriere legte, dieihm in derFolgedas Kapell- meisteramt am Köthener Hofund schließlichdas LeipzigerThomaskantorat bescherte.2 Da Bach dasKompositionshandwerk–nach Aussage desNekro- logs –„größtentheilsnur durchdas Betrachtender Wercke derdamaligen be- rühmtenund gründlichenComponisten undangewandtes eigenes Nachsinnen erlernet hatte“, 3 richtet dieForschung in ihremBemühen,Bachskünstlerische Entwicklungnachzuzeichnen, ihre Aufmerksamkeitseitlängeremnicht nur aufdie vonihm selbst komponierten Werke, sondernebensoauf dievon ihm zusammengetragenen Kompositionenanderer Meister.Unsergesichertes Wissen über dieZeitvor Bachsdreißigstem Lebensjahr istallerdings außer- ordentlich lückenhaft.Dennaus derZeitvor seiner Ernennungzum Kon- zertmeisterder Weimarer Hofkapelle am 2. März 1714 undder mitdiesem Datum einsetzenden turnusmäßigen Verpflichtung, im Gottesdienstder Him- melsburg „Monatlich neüeStücke“ aufzuführen,4 sind nurwenigeseiner KompositioneninPrimär- oder sicher datierbarenSekundärquellenüber- liefert, undauchdie Tradierung vonStückenaus BachsNotenbibliothek setzt 1 DasBach-Archiv Leipzig erkundet im Rahmen einesseitSeptember 2015 vonder FritzThyssen StiftungKölngeförderten Forschungsprojektsdie Lebenswege von BachsSchülernund derenRolle in derÜberlieferung seiner Werke. 2 Siehedie umfassende Darstellungbei C. Wolff, Johann SebastianBach,Frankfurt/ Main 2000,aktualisierte Neuausgabe 2005,spezielldie Kapitel4–6. 3 DokIII,Nr. 666 (S.82). 4 DokII, Nr.66. 100 Peter Wollny –von bemerkenswerten Ausnahmenabgesehen5 –erstinden mittlerenWei- marerJahrenein.6 Da zudemdie Anzahl derdie ersten drei Lebensjahrzehnte desKomponisten betreffenden biographischen Zeugnisseentmutigend gering ist, erweistsich derVersuch,ein aussagekräftiges unddifferenziertesBilddieserfrühenJahre zu entwerfen, alsaußerordentlich schwierigesUnterfangen. DieErweiterung desFundusanhistorischenund musikalischenQuellen speziell für dieseZeit bleibt daherein zentralesAnliegen. Auch dievon Hans-Joachim Schulzebe- reitsvor dreißigJahrengeforderte„permanente Durchforstung“ desbekannten musikalischenQuellenmaterials7 gehörtnachwie vorzuden zentralenAuf- gabender Bach-Forschung,wennwir dieLückenhaftigkeit vonWerküberlie- ferung undBiographienicht alsunabänderlich hinnehmenwollen. Es gilt also, nach MöglichkeitLicht in dienochdunklen Provenienzwege zu bringen, bis- her anonymeSchreiber chronologischund regional einzuordnen(im Idealfall auchnamentlichzuidentifizieren)und ihre BeziehungzuBachsogenau wie möglich nachzuverfolgen,ummit Hilfevon diplomatischenMethodendie Bestimmung vonChronologie-und Echtheitsfragenvoranzutreiben. In diesem Sinneerkundetder vorliegendeBeitrag aufbisherwenig beschrittenenPfaden einige Aspekteder frühen Bach-Überlieferung in Thüringen. I. DasBerliner Konvolut Mus. ms.30244 hat bislangkaumBeachtung gefunden. DerBandenthält insgesamtsechs in separatenFaszikeln niedergeschriebene anonymegeistlicheFiguralstücke,deren Bedeutungfür dieBach-Forschung sich ausdem im folgenden zu erörterndenSchreiberbefund ergibt.Das Eti- kett aufdem vorderen Einbanddeckelträgt die–nachträglichkanzellierte– 5 Siehe Weimarer Orgeltabulatur.Die frühestenNotenhandschriften Johann Seba stianBachs sowieAbschriften seinesSchülersJohannMartinSchubartmit Werken vonDietrich Buxtehude, Johann Adam Reinkenund Johann Pachelbel. Faksimile, Übertragung und Kommentar,hrsg. vonM.Maulund P. Wollny, Kassel 2007 (FaksimilereiheBachscher Werkeund Schriftstücke.NeueFolge, Bd.III;zugleich DocumentaMusicologica, Bd.II/39). –Die seinerzeit vonMartinStaehelin (siehe Mf 61,2008, S. 319–329; Mf 62,2009, S. 37 und150f.)vorgebrachten Zweifelander Identifizierungder Tabulaturen habensich alsgegenstandsloserwiesen; siehe M. Maulund P. Wollny, Bachund Buxtehude–neue Perspektivenanhandeines Quellenfundes,in: Dieterich Buxtehude. Text –Kontext –Rezeption.Bericht über dasSymposionander MusikhochschuleLübeck10.–12. Mai2007, hrsg.von W. Sandbergerund V. Scherliess,Kassel2011, S. 144–187, speziell S. 181–187. 6 SieheBeißwenger, S. 44. 7 SchulzeBach-Überlieferung, S. 10. Quellenkundliche Ermittlungen zur frühen Thüringer Bach-Überlieferung 101 Aufschrift „Sechs |Festtags-Kantaten|Partitur“; alsSchreiber dieses Titels kann derBraunschweiger MusikgelehrteFriedrich Conrad Griepenkerl (1782–1849)bestimmtwerden. DieZuweisung wird vonder aufdem vorderen Spiegelnotierten Akzessionsnummer „2172“ bestätigt. Dieseführt zu einem Bestandvon 22 mitkonsekutivenAkzessionsnummernversehenenHand- schriften undDrucken, dieam9.Juni1849von derKöniglichen Bibliothek Berlin über dasBerliner Antiquariat Asheraus demNachlaß Griepenkerls angekauftwurden.8 Griepenkerlwiederumhatte dieHandschrift anscheinend ausdem Nachlaßseines LehrersJohann Nikolaus Forkel übernommen; im Anhang vondessenNachlaßkatalog findetsich jedenfalls unterder Losnum- mer 136die an Griepenkerls TitelerinnerndeEintragung„7alteFesttags- Cantaten P[artitur]G[eschrieben]“. DieDiskrepanzinder Zahl dervorhande- nenStückemag darauf zurückzuführensein, daßForkeldie Handschriften noch alsloseHefte verwahrte undein siebtesStück vorder vonGriepenkerl veranlaßtenbuchbinderischenVereinigung entfernt wurde.ÜberForkel hinaus lassen sich zunächst keineverwertbarenAnhaltspunkte fürweitere Vorbesit- zerausmachen; dieses Problemwirduns noch beschäftigen. Schon einersterBlick zeigt, daßdie sechsStückezweideutlichvoneinander unterscheidbaren chronologischenSchichten angehören. Währenddie Faszi- kel4–6 derzweiten Hälftedes 18.Jahrhundertszuzuordnensindund drei –einst weit verbreiteteund entsprechend durchmehrere Konkordanzen abge- sicherte –Kantatenvon GottfriedAugustHomiliusenthalten,9 sind dieersten drei Faszikel desBandesdeutlichälter;sie stammenaus demfrühen18. Jahr- hundertund weisen dieSchriftzüge einesfür dieBach-Überlieferungwich- tigenKopistenauf:„Anonymus Weimar 1“ (nachDürrSt) beziehungsweise „Anonymus M1“(nach NBAIX/3),der seit einigerZeitmit überzeugenden Argumenten mitBachs frühem Schülerund direktem Nachfolger im Weimarer OrganistenamtJohann Martin Schubart (1690–1721)gleichgesetztwird.10 Nach demZeugnis vonJohann GottfriedWalther „erlernete [Schubart] bey Hrn. Johann SebastianBachendas Clavier-Spielen, undhieltesich beydem- selben von1707bis 1717 beständigauf.11 SeineKopistendienste für Bach 8 Siehehierzu K. Heller, FriedrichKonradGriepenkerl.Aus unveröffentlichten Briefendes BachSammlersund Editors,BJ1978, S. 211–228, speziell S. 223f.Die Signatur Mus.ms. 30244 istinHellers Aufstellung der Handschriften aus Griepen- kerlsNachlaß zu ergänzen. 9 HoWV II.166 („Lobetden Herrn, ihrseine Engel“,Michaelis),HoWVII.120(„Der Herr zeucht Gerechtigkeitan“,10. SonntagnachTrinitatis) undHoWVII.66 („Was suchet ihrden Lebendigen beiden Toten“,1.Ostertag). 10 Y. Kobayashi, QuellenkundlicheÜberlegungenzur Chronologieder Weimarer Vokalwerke Bachs,in: Bach-KolloquiumRostock,S.290–310, speziell S. 291; Wei marerOrgeltabulatur (wie Fußnote5), Vorwort, S. IX–X. 11 SieheWaltherL, S. 557; DokII, Nr.324 (S.233). 102 Peter Wollny lassen sich vonFebruar 1708 bisetwaOktober 1716 verfolgen.12 Schubarts erstegrößere Arbeit istseine BeteiligungamOriginalstimmensatzder Mühlhäuser Ratswahlkantate „Gottist mein König“ BWV71(St 377); in Weimar wirkte er um 1710–1712neben seinem Lehrer alsHauptschreiberder StimmenzuReinhardKeisers Markus-Passion undfertigte–von Bach an- schließend revidierte –Reinschriften derbeidenToccaten BWV913 und914 an.13 Ab März 1714 beteiligteersich regelmäßig am Ausschreiben vonAuf- führungsmaterialienzuBachs Kantaten.InMühlhausenbegann Schubart auch, seineeigeneNotenbibliothek aufzubauen; dies belegt dieTabulatur- abschrift einesOrgelchoralsvon Johann Pachelbel.14 Wenden wiruns nunden drei neuaufgefundenen Abschriften vonder Hand Schubartszu. In derfolgenden knappen Aufstellung sind dieFaszikelbereits nach schriftkundlichen Merkmalenchronologischangeordnet. –Faszikel2(S.23–32):Kantate „Ach,daß dieHilfe ausZionüberIsrael käme“inF-Dur Biniound einEinzelblatt, Blattformatca. 33 ×19,5cm; Wasserzeichen:Ge- krönterDoppeladler mitHerzschild undMühlhaue, CB-Marke(Weiß 58). Kopftitel: „In dieNatal Xi ab 8Vocicum Continuo | Tel […?] D… M [?]“;die ersten vier Wörter wurdennachträglichkanzelliert unddurch „Fest Nativit: Christi“ersetzt (siehe Abb. 1).Die Besetzungsangabe undinsbesondereder Autorennamesindfastbis zurUnkenntlichkeit verblaßt.Statt desvielleichtauf Georg PhilippTelemannzielenden Namensfragments„Tel […]“wäremög- licherweiseauch„Theil[…]“zulesen (und dieAngabeentsprechend aufJo- hann Theile zu beziehen)oderaber„JG[…]“. DieamFuß dererstenSeite angebrachten Initialen „J.M.S.“ –offenbarein Schreiber- oder Possessoren- vermerk–sinddurch dasBeschneiden desunteren Blattrands leichtversehrt. Immerhinerhärten siedie bislangtentative Identifizierung desAnonymus Weimar 1als Johann Martin Schubart.Die Schriftformenähnelndenen in den OriginalstimmenzuBWV 71,wirkeninsgesamt aber noch unbeholfener.Ge- legentlich sind dieBaßschlüsselanderrechten