Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

HERIBERT SMOLINSKY

„Docendus est populus“

Der Zusammenhang zwischen Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts

Originalbeitrag erschienen in: Walter Brandmüller (Hrsg.): Ecclesia militans : Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte. Paderborn: Schöningh, Bd. 2: Zur Reformationsgeschichte, 1998, S. [539] - 559 "Docendus est populus"

Der Zusammenhang zwischen Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts

HERIBERT SMOLINSKY / FREIBURG i. Br.

Der Ruf nach Reform, der in der Kirche seit den Konzilien von Kon- stanz und Basel nicht mehr unterdrückt werden konnte, wurde durch und die von ihm ausgelöste reformatorische Bewegung unüberhörbar. 1 Jede Gruppe in Kirche und Gesellschaft wurde von ihm erreicht, kaum eine religiöse Lehre oder Praxis blieb von ihm unberührt. Forschungen zur Kirchenreform des 16. Jahrhunderts ha- ben daher ein Ineinander der verschiedensten Komponenten zu be- rücksichtigen: das Weiterleben der alten Ideen, das Vordringen neuer Lehren und die Verstrickung der verschiedenen Gruppen, die sich den Gedanken der Kirchenreform zu eigen machten, mit der Zeitgeschichte.2 Im Umfeld der Römischen Kurie entstanden seit 1523 ebenso wie auf der Ebene der bischöflichen Kirchenpolitik, die z.B. in Süd- deutschland im Rahmen des Metropolitanverbandes Salzburg unter starkem Druck der Bayerischen Herzöge und Österreichs betrieben

1 Vgl. die Überblicke bei F. DrrnucH, Beiträge zur Geschichte der katholi- schen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, in: HJ 5 (1884) 319- 398; H. JEDIN, Geschichte des Konzils von Trient, I Freiburg 21951, 1-132; G. ALBERIGO - P. CAMAIANI, Katholische Reform und Gegenreformation, in: SM (D) II (1968) 1078-1107. 2 Vgl. H. SMOLINSKY, Reformationsgeschichte als Geschichte der Kirche. Katholische Kontroverstheologie und Kirchenreform, in: HJ 103 (1983) 372-394. 540 Heribert Smolinsky

wurde, erste Reformordnungen, zu denen die Entwürfe Johannes Ecks, des Mühldorfer Konventes u.a. zählen.3 Als bedeutendes Forum, das Reformvorschläge anregte und selbst hervorbrachte, erwiesen sich die verschiedenen Reichstage und die kaiserliche Politik der Religionsgespräche. Die Reformaufrufe von Augsburg 1530 und Speyer 1544 sowie die Admonitio Gasparo Con- tarinis, des päpstlichen Legaten in Regensburg 1541, regten intensive Aktivitäten in der Mainzer Kirchenprovinz an, trugen aber auch dazu bei, daß der Kölner Kurfürst und Erzbischof Hermann von Wied sei- nen Reformationsversuch begann. 4 Unter den auf Reichsebene erar- beiteten Texten erwies sich die den katholischen Ständen auferlegte "kaiserliche Reformation" des Augsburger Reichstages vom 14. Juni 1548 am wirksamsten, weil sie eine Fülle von Diözesan- und Provin- zialsynoden sowie Visitationen in Deutschland verursachte, deren konkreter Erfolg zwar gering war, aber die den Reformgedanken wachhielten. Wie hoch ihr Stellenwert zu veranschlagen ist, belegt die Tatsache, daß sie auf dem Augsburger Reichstag von 1559 in verbes- serter Fassung noch einmal herausgegeben wurde. 5 Gleichzeitig im-

3 Vgl. die Entwürfe bei G. PFEILSCHWEER (Hrsg.), Acta reformationis catholicae ecclesiam Germaniae concernentia saeculi XVI. Die Reformver- handlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570, I Regensburg 1959 (im folgenden zitiert als ARCEG); R.E. Mc NALLY, Pope Hadrian W (1522-23) and Church Reform, in: AHP 7 (1969) 253-285; R. BÄUMER, Johannes Cochlaeus und die Reform der Kirche, in: Reformatio Ecclesiae, Festg. f. E. Iserloh, hg. v. R. BÄUMER, Paderborn u.a. 1980, 333-354; H. SMOLINSKY, Die Reform der Kirche in der Sicht des Johannes Eck, in: Johannes Eck. Leben und Werk. Internatio- nales Symposion in Ingolstadt 1986, hg. v. E. ISERLOH ( = RGST), Münster (er- scheint demnächst). 4 Vgl. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, 1747, Ndr. Osnabrück 1967, Zweiter Teil, 313 ff. 434. 510 ff.; ARCEG IV, 5-268; G. FRA- GNITO, Contarini, Gasparo, in: DBI 28 (1983) 172-192; K. GANZER, Contarini, in: TRE 8 (1981) 202-206. Zu Hermann von Wied vgl. A. FRANZEN, Hermann von Wied (1477-1552), in: Rheinische Lebensbilder III, Düsseldorf 1971, 57-77; DERS., Bischof und Reformation. Erzbischof Hermann von Wied in Köln vor der Entscheidung zwischen Reform und Reformation ( = KLK 31), Münster 1971; J.F.G. GOETERS, Der katholische Hermann von Wied, in: Monatshefte für Evan- gelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 35 (1986) 1-17. 5 Die "Kaiserliche Reformation" in: ARCEG VI, Nr. 20. Der Neudruck: Formula Reformationis Ecclesiasticae, in Comitiis Augustanis, Anno MDLIX quibusdam adiectionibus aucta, et locupleta, Moguntiae 1559. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 541 plizierten die Religionsgespräche in den dort verhandelten dogmati- schen Fragen Probleme der Kirchenreform, die notwendig mit der Lehre zusammenhing, wenn sie über reine Äußerlichkeiten hinaus- kommen wollte.6 Parallel zu diesen Bemühungen im Reich liefen in je unterschied- licher Intensität die Aktivitäten der Landesherren, die sich auf Grund ihrer obrigkeitlichen Verantwortung und des Versagens der Bischöfe, aber auch längst gewohnter landesherrlicher Praxis um die Reform bemühten. Während die Bayerischen Herzöge seit 1522 in Abstim- mung mit der Päpstlichen Kurie und der Salzburger Kirchenprovinz erste reformerische und gegenreformatorische Maßnahmen ergriffen, fühlten sich andere Landesherren durchaus berechtigt, in eigener Verantwortung Reformordnungen zu erlassen, um die religiöse Ein- heit des Territoriums zu wahren. Dazu gehört der Entwurf, den Her- zog Georg von Sachsen im Frühjahr 1538 durch Georg Witzei erar- beiten, aber nie publizieren ließ.? Bekannter als diese kurzzeitige und wirkungslose Initiative des sächsischen Herzogs sind die Reforment- würfe von Jülich-Kleve-Berg, die eng mit der vermittelnden Kirchen- politik dieses Herzogtums verbunden sind und von denen weiter un- ten ausführlich die Rede sein wird. Konzeptionell reichte die Bandbreite der verschiedenen Vor- schläge von der wenig strukturierten Ansammlung einzelner Punkte bei Johannes Eck bis zum durchdachten, an den Kirchenvätern und dem Ideal der ecclesia antiqua ausgerichteten, Lehre und Disziplin eng miteinander verbindenden großen Reformentwurf, wie ihn z.B. die Kölner Synodalstatuten von 1536 eindrucksvoll darstellten, denen als Instrument der Lehre noch das "Enchiridion" Groppers beigege- ben wurde.8

6 Vgl. die Texte in: ARCEG III-VI; G. MÜLLER (Hrsg.), Die Religionsge- spräche der Reformationszeit ( = SVRG 191), Gütersloh 1980; M. HOLLERBACH, Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinan- dersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts ( = Europäische Hochschul- schriften Reihe 3, Bd. 165), a. M. - Bern 1982. 7 Vgl. ARCEG I; SMOLINSKY, Reformationsgeschichte 389-393. 8 Vgl. SMOLINSKY, Reformationsgeschichte mit weiterer Literatur. Zu Grop- per vgl. J. MEIER, Das "Enchiridion Christianae institutionis" (1538) von Johan- nes Gropper. Geschichte seiner Entstehung, Verbreitung und Nachwirkung, in: ZKG 86 (1975) 289-328; R. BRAUNISCH, Gropper, Johannes, in: TRE 14 (1985) 266-270. Die Synodalstatuten in: ARCEG II Nr. 72. Vgl. auch ARCEG IV, 2 f; 542 Heribert Smolinsky

Schon die Mitarbeit von humanistisch gesinnten Theologen wie Georg Witzei, Michael Helding u.a. bedingte es, daß zusammen mit einer ohnehin vorhandenen, auf Klerusbildung drängenden Reform- tradition die Forderung nach der Belehrung in diesen Vorschlägen eine große Rolle spielte. Die Erfolge der Reformation förderten zugleich die Erkenntnis, daß der Zusammenhang zwischen religiöser Bildung und praktischem Verhalten nicht auf den Klerus beschränkt bleiben durfte, wenn man den von allen Parteien umworbenen "Ge- meinen Mann" gegen die attraktiven Lehren der einzelnen evangeli- schen Gruppen immunisieren und ihn zu einer wirklich tiefgreifenden Reform bewegen wollte.9 Zunehmend wurde die Formel Docendus est populus ein Lieblingssatz der Reformentwürfe des 16. Jahrhun- derts, welcher Klerus und Volk in gleicher Weise in die Pflicht nahm: die einen als Träger der Belehrung in Predigt und Katechese, was eine Verbesserung ihres eigenen Bildungsniveaus voraussetzte; die anderen als Rezipienten, denen Dogma und religiöse Praxis zu ver- mitteln und einsichtig zu machen waren. Viele dieser Entwürfe kamen über den Status eines "Beratungs- objektes" nie hinaus oder blieben publiziertes Papier ohne Wirkung, so daß sie in der Forschung wenig Interesse weckten. Ihre stereotyp- formelhafte Sprache und Argumentation schreckte außerdem den Leser ab, sich näher mit ihnen zu befassen. Sie werden zwar im Zu- sammenhang mit der jeweiligen Religionspolitik oder bei der Biogra- phie ihres Verfassers erwähnt, aber es fehlen vor allem komparatisti- sche Studien, aus denen ihre formale und inhaltliche Entwicklung hervorginge. Ein erster Einstieg in vergleichende Studien soll im folgenden an- hand der Reformordnungen des Herzogtums Jülich-Kleve-Berg ver- sucht werden, die von 1532 bis 1567 entstanden und für die Frage- stellung Docendus est populus gut geeignet sind. Sie manifestieren ei- nerseits die schon im 15. Jahrhundert sich anbahnende landesherrli- che Kirchenpolitik in den niederrheinischen Territorien und das Zu- rückdrängen der geistlichen Jurisdiktion, aber auch die fortdauernde

A. FRANZEN, Das Kölner Provinzialkonzil von 1536 im Spiegel der - geschichte, in: Die Kirche im Wandel der Zeit, Festg. Joseph Kardinal Höffner, hg. v. F. GRONER, Köln 1971, 95-110. 9 Zum propagandistischen Kampf um den "gemeinen Mann" vgl. R.W. SCRIBNER, For the sake of simple folk. Popular propaganda for the German Re- formation ( = Cambridge studies in oral and literate culture 2), Cambridge 1981. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 543

Linie der herzoglichen Reformbemühungen seit dem 15. Jahrhun- dert. Andererseits belegen sie den großen Einfluß des von Rotterdam am Niederrhein, der mit den wichtigsten Räten der Her- zöge Kontakte hatte und dessen Gedankengut, vermischt mit den Traditionen der Devotio moderna, in die Ordnungen einfloß. Wie sich zeigen wird, kommen als bestimmende Kräfte die Kölner Kir- chenpolitik und die kaiserliche Religions- und Einigungspolitik hinzu, der auf seiten des Herzogtums eine konfessionsneutrale Politik im Reich entsprach. 1 Die sachliche Abhängigkeit der Ordnungen unter- einander verspricht, daß sich an ihnen in besonderer Weise der wach- sende Erkenntnisprozeß nachweisen läßt, mit dem die Notwendigkeit der Volksbelehrung erkannt und reformerisch umgesetzt wurde. Da methodisch dieser Aspekt im Vordergrund steht, ist es nicht beab- sichtigt, eine inhaltliche Analyse der Reformentwürfe zu liefern und sie dogmatisch einzuordnen oder ein Gesamtbild der kirchenpoliti- schen Reform in den Vereinigten Herzogtümern zu zeichnen. 1. Die Entstehung der einzelnen Reformordnungen Seit der Verordnung Herzog Johanns III. am 3. Juli 1525, 11 die eine erste, durch den kaiserlichen Sieg in Pavia gegen die Franzosen be- dingte Wende zur aktiven Auseinandersetzung mit den besonders

10 Vgl. zur Kirchenpolitik O.R. REDLICH (Hrsg.), Jülich - Bergische Kirchen- politik am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit, 2 Bde. ( = PGRGK 28), Bonn 1907-15, Ndr. Düsseldorf 1986 (im folgenden zit. als REDLICH 1 u. II.); DERS., Staat und Kirche am Niederrhein zur Reformationszeit ( = SVRG 164), Leipzig 1938; F. PETRI, Im Zeitalter der Glaubenskämpfe (1500-1648), in: Rheinische Geschichte, hg. v. F. PETRI - G. DROEGE. Bd. II: Neuzeit, Düsseldorf 31980, 1 ff; A.P. LUTTENBERGER, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptio- nen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik (1530-1552) (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg) ( = SHKBA, Schrift 20), Göttingen 1982; Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg, hg. vom Städtischen Museum Haus Koekkoek Kleve und vom Stadtmuseum Düsseldorf, Kleve 21984; A. GLE- ZERMAN - M. HARSGOR, Cleve - ein unerfülltes Schicksal ( = Historische For- schungen 26), Berlin 1985. Zu den Ordnungen vgl. J. HASHAGEN, Erasmus und die clevischen Kirchenordnungen von 1532/33, in: Festg. F. v. Bezold, Bonn - Leipzig 1921, 181-220; J.P. DoLAN, The influence of Erasmus, Witzel and Cas- sander in the church ordinances and reform proposals of the United Duchees of Cleve during the middle decades of the 16th century ( = RGST 83), Münster 1957. Vgl. auch unten Anm. 16. Zur Formel "Docendus" vgl. CÖLESrIN I: D. 62 c. 2 (Friedberg I, 234). 11 REDLICH, Kirchenpolitik I, Nr. 227. 544 Heribert Smolinsky

durch die Nachlässigkeit der Seelsorger bedingten kirchlichen Miß- ständen bedeutete, erhielt die Kirchenreform in Jülich-Kleve-Berg eine wachsende Bedeutung. Eine kurze Verlautbarung vom 18. Juli 153012 legte die zukünftige Richtung fest: Aussagen über die Predi- ger, den Inhalt und das Ziel der Predigt sowie Kampf gegen Mißbräuche, Neuerungen und Aufruhr, der daraus folgen konnte. Es stand in der Linie einer seit dem 15. Jahrhundert zu beobachtenden. Praxis des landesherrlichen Kirchenregimentes, als Johann nach län- geren Vorüberlegungen am 11. Januar 1532 eine erste kurze Reform- ordnung erließ, deren konkreter Anlaß mit dem Auftreten der sog. Wassenberger Prädikanten im Westen des Jülicher Landes in Zu- sammenhang stand. Der Herzog begründete sein Vorgehen ebenso wie schon in den vorhergehenden Verordnungen damit, daß die geistliche Gewalt versagt habe, und stellte sein Unternehmen unter den Vorbehalt eines General- oder Nationalkonzils. 13 Ein Jahr spä- ter, am 8. April 1533,14 folgte eine inhaltliche Erweiterung und Präzi- sierung mit der Deelaratio. Beide Texte sind Erasmus von Rotterdam vorgelegt worden, der zur Declaratio in einem Brief an Johann Vlat- ten wegen der von ihm gewünschten Schriften über das Vater Unser, das Symbolum und den Dekalog auf seine schon erschienenen Arbei- ten hinwies. Zum Inhalt der vorgelegten Ordnung sagte er so gut wie nichts, um bei den Pariser Theologen nicht in Verruf zu geraten.15 Ein direkter Einfluß des großen Humanisten auf die Texte ist da- her nicht anzunehmen, aber die einflußreiche Stellung der Eras- mianer Konrad von Heresbach, Johannes Vlatten, Karl Harst, Hein- rich Olisleger und Johann Ghogreve am herzoglichen Hof macht es sehr wahrscheinlich, daß erasmischer Geist die Ordnungen mitprägte, was vor allem das Drängen auf eine christliche Ethik, auf Einheit und Frieden sowie den frommen und belehrten Christen betraf. 16 Hier

12 REDLICH, Kirchenpolitik I, Nr. 235. 13 REDLICH, Kirchenpolitik I, Nr. 240. Vgl. zum Vorbehalt des Konzils RED- LICH, Staat und Kirche 29. 14 REDLICH, Kirchenpolitik I, Nr. 249. 15 Vgl. HASHAGEN, Erasmus 184-189; REDLICH , Staat und Kirche 29-31; Erasmus von Rotterdam, Opus Epistolarum, hg. v. P.S. ALLEN . 12 Bde., Oxford 1906-58, Nr. 2728. 2804. 2845. Zu den Ideen des Erasmus vgl. C. AUGUSTIJN , Erasmus von Rotterdam. Leben - Werk - Wirkung, München 1986. 16 Vgl. Anm. 10 genannte Literatur sowie A. FRANZEN, Die Herausbildung des Konfessionsbewußtseins am Niederrhein im 16. Jahrhundert, in: AHVNRh Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 545 war eine Basis gelegt, auf der der pädagogische Grundzug der späte- ren Reformentwürfe aufbauen konnte. Die Verordnungen von 1532/33 blieben bis 1567 ein Leitbild für die herzogliche Politik, welche ab 1539 Wilhelm V. führte. Aber sie waren zu wenig systematisch ausgearbeitet, um einer Reform zu ent- sprechen, die dogmatisch eine vermittelnde Linie verfolgte, auf deren Grundlage das Volk belehrt werden konnte. Dazu bedurfte es weite- rer Überlegungen. Ein erster Anlaß, auf kirchlich offizieller Ebene das Thema auszufalten, ergab sich schon 1535 bei den Verhandlun- gen der Jülicher Räte im Vorfeld der Kölner Provinzialsynode, die ein Jahr später stattfand. In den Jülicher Ratschlägen tauchte die Formel Populus docendus und ihre Abwandlung stereotyp auf, und die Synodalstatuten selbst sind der beste Beleg, daß diese Erkenntnis auf breiter Ebene 1536 durchgedrungen war. Konrad von Heresbach legte außerdem eine Liste von Korrekturvorschlägen vor, die er zehn Jahre später gut gebrauchen konnte.17 Den direkten Anlaß, in Jülich-Kleve-Berg eine neue Reformord- nung zu erarbeiten, lieferte der Abschied des Speyerer Reichstages von 1544, der die Stände zur Abfassung einer Reformation aufrief, die

158 (1956) 164-209; DERS., Das Schicksal des Erasmianismus am Niederrhein im 16. Jahrhundert, in: HJ 83 (1964) 84-112. Zu Heresbach vgl. A. WOLTERS, Kon- rad von Heresbach und der Clevische Hof zu seiner Zeit, Elberfeld 1867; C. BEUTLER - F . IRSIGLER, Konrad Heresbach (1496-1576), in: Rheinische Le- bensbilder VIII, Köln 1980, 81-104. Zu Vlatten vgl. A. GAIL, Johann von Vlatten und der Einfluß des Erasmus von Rotterdam auf die Kirchenpolitik der vereinig- ten Herzogtümer, in: Düsseldorfer Jahrbuch 45 (1951) 1-109; DERS., Johann von Vlatten (vor 1500-1562), in: Rheinische Lebensbilder II, Düsseldorf 1966, 53-73. Gail hat die Tendenz, Heresbach zugunsten des Einflusses von Vlatten abzuwer- ten. 17 Zu den Verhandlungen vgl. ARCEG II, 142 ff. Die Korrekturvorschläge von Heresbach ARCEG II, Nr. 54, 142-156. Vor allem folgende Punkte: Brevier und Missale sind zu korrigieren; Gesang in der Messe (145); Aufbau der Predigt (149); Tadel innerhalb der Predigt (148); Examen derjeniger, die zur Kommu- nion gehen wollen (150); Heilige als Vorbild (152); Reform der Johanniter und Antoniter (153), wirkten auf die Ordnung von 1545 ein (s.u.). Zu Wilhelm V. vgl. G. BERS, Wilhelm, Herzog von Kleve-Jülich-Berg (1516-1592) ( = Beiträge zur Jülicher Geschichte 31), Jülich 1971. 546 Heribert Smolinsky

man auf der Reichsebene beraten wollte. 18 Aus dem Tagebuch des Konrad von Heresbach ergibt sich, daß am 22. Februar 1545 in Kleve eine Beratung des Kanzlers Ghogreve, des Rates Heresbach und des herzoglichen Kaplans Arnold Bongard mit Herzog Wilhelm V. statt- fand,19 und die Instruktion des Herzogs für den Wormser Reichstag vom 14. April 1545 spricht von der noch laufenden Arbeit an einer Reformation . 2° Ghogreve, Heresbach und Bongard legten 1545 schließlich einen großen, systematischen Reformentwurf vor, der den Titel trug: Articuli aliquot seu Capita earum rerum, quarum ratio ha- benda videtur tam in reformanda Religione quam visitandis Ecclesiis, wobei Heresbach die Hauptarbeit geleistet haben dürfte, denn seine Kölner Reformvorschläge schlugen sich an vielen Stellen nieder.21 J.P. Dolan hat versucht, den Einfluß des Georg Witzel auf diese Ordnung nachzuweisen. 22 Eine genaue Analyse relativiert seine Er- gebnisse beträchtlich, denn in vielen Passagen ist das Regensburger Buch von 1541 wörtlich oder der Sache nach übernommen worden. Der ursprünglich fehlende Abschnitt De ecclesia wurde von anderer Hand nachgetragen und ist eine Kompilation aus dem Gutachten,

18 Vgl. Neue Sammlung 510. Zur Wirkung dieses Abschiedes vgl. ARCEG III, 427 mit Anm. 515. Ebenso dürfte das sog. Scriptum Latinum mit der Auffor- derung zur Reform in Speyer zusammenhängen; vgl. ARCEG VI Nr. 3. 19 Vgl. WOLTERS, Heresbach 168 Anm. 1; GAIL, Vlatten 91 Anm. 3 . 2° ARCEG III, 453: Soviell betrift die religion wollen wir durch frome versten- dige friedtliebende personen unser bedencken und reformation begreifen lassen. 21 Der Text ist in einer von zwei Schreibern angefertigten Abschrift im Staatsarchiv Düsseldorf erhalten: Jülich-Berg II Nr. 200, Fol 1-47 (im folgenden zit. als Articuli). Die Aufschrift (von anderer Hand) lautet: Disses, wie es klare ge- standen, ist ein abschrifft der Notell, so anno 1545 overmiz [durch] den Canzler Ghogreff, Doctor Conrad Herßbach und Arnolt Bongart meins hem Capellan be- griffen. Der Text ist von zwei verschiedenen Händen am Rande glossiert bzw. er- gänzt worden, z.B. Fol 11 durch eine lange, stärker "katholische" Ausführung zum Glauben, der in der Kirche lebendig ist. Da dies die hier gemeinte Fragestellung nicht betrifft, werden solche Zusätze nur wo notwendig berücksichtigt. Sie könn- ten bei den späteren Verhandlungen angebracht worden sein. Zu Heresbach vgl. Anm. 16. Siehe auch unten Anm. 28. 22 DOLAN, Influence. Seine Methode besteht darin, Auszüge aus den Articuli mit Zitaten aus Witzels Werken zu konfrontieren. Einen direkten Einfluß Wit- zels kann er nirgendwo nachweisen. Vgl. zu den Articuli auch: FRANZEN, Her- ausbildung des Konfessionsbewußtseins 203-204; DERS., Die Kelchbewegung am Niederrhein im 16. Jahrhundert ( = KLK 13), Münster 1955, 53-55. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 547 welches die Jülicher Theologen am 15. Dezember 1540 auf dem Wormser Religionsgespräch vorlegten, und dem Regensburger Buch.23 Daraus wird deutlich, daß die neue Reformordnung im engen Zu- sammenhang mit den Religionsgesprächen stand. Das entsprach ihrer ursprünglichen Absicht, als Vorlage auf dem Reichstag zu dienen, so daß ihr Einfluß auf spätere Ordnungen nicht übermäßig groß, aber doch 1567 in vielen Passagen spürbar ist und die Tendenz belegt, daß man die eigene vermittelnde Reformpolitik auf den Ergebnissen der kaiserlichen Einigungsbemühungen aufbauen wollte. Gleichzeitig er- hielt der Leitsatz Populus est docendus von hierher einen doppelten Impuls: Er konnte mit dogmatischen Inhalten gefüllt werden und war selbst ein Prinzip des Regensburger Buches, das man teilweise über- nahm. Wie stark der Akzent in den Articuli auf der Belehrung liegt, ergibt sich aus dem ersten Kapitel, das über die Schule und den Pfar- rer als Grundlage des Staates spricht: erstere hat die Kinder zu bil- den, letzterer die Jugendlichen und die Erwachsenen. 24 Eine Univer- sitätsgründung, für die Herzog Wilhelm Mitte der 50er Jahre erste konkrete Schritte unternahm, wird schon jetzt vorgeschlagen. Sie sollte nach dem Vorbild Ingolstadts und Freiburgs erfolgen und aus Kirchenmitteln finanziert werden.25

23 Vgl. Articuli Fol 9'40 De libero arbitrio auf der Grundlage von ARCEG VI, 24-26; Fol 10-11 De peccato originali, ARCEG VI, 27-28; Fol 23" De bap- tismo mit ARCEG VI, 66-67; Fol 38' ff De disciplina christiana mit ARCEG VI, 84-87; Fol 47 De disciplina populi mit ARCEG VI, 87 f. Der Zusatz De ecclesia Fol 22" wörtlich ARCEG III, 312. 317 und Regensburger Buch, ARCEG VI, 55. Anklänge an Worms auch bei der Zölibatsfrage: vgl. Fol 41" mit ARCEG III, 319. Schon diese Nachweise, welche vermehrt werden könnten, dürften zur Ge- nüge die gegenseitige Abhängigkeit beweisen. 24 Articuli Fol 3: Seminaria et fundamenta christianae ac tranquillae Reipubli- cae, quae principem ac magistratum in primis observare convenit, sunt haec tria: Scholae parrochiarum cura et disciplina ckri ac populi. Scholae, quae pueritiam ve- luti omnium ordinum segetem adhuc in herba vegetent atque educent. Pastores au- tem, qui iuvenes simul et adultos recta doctrina forment atque exemplo vivendi invi- tent, utque his populus obsequatur. 25 Articuli Fol 4": Item cogitandum de Academia instituenda in ditione princi- pis ad exemplum Ingolstadiensis et Friburgensis . Zur Universitätsgründung vgl. W. RING, Geschichte der Universität Duisburg, Duisburg 1920, 5-20, der die hier ge- nannte Stelle nicht kennt; H. JEDIN, Der Plan einer Universitätsgründung in 548 Heribert Smolinsky

Die vermutlich falsche Datierung eines Gutachtens der herzogli- chen Räte durch Lacomblet hat in der Literatur für viel Verwirrung gesorgt, wenn es darum geht, eine weitere Reformordnung näher zu bestimmen, die undatiert in mehreren Entwürfen vorliegt und den Ti- tel trägt: Einfaltige Anleitung und Bedencken Christlicher und Politi- scher Lehr.26 Lacomblet suggerierte, daß es sich dabei um einen Ent- wurf des Herzogs von 1545 handele, was ihn dazu zwang, die Articuli als Gutachten der Räte hinzustellen, welches gleichzeitig entstanden sei.27 Die damit verbundenen historiographischen Komplikationen, daß man für 1545 einen eigenen herzoglichen Entwurf und eine völlig andere neue Vorlage der Räte annehmen müßte, lösen sich am ein- fachsten, wenn man die Einfaltige Anleitung auf einen späteren Zeit- punkt datiert, was sich auch aus inneren Kriterien nahelegt. Sie könnte 1556 entstanden sein, als Wilhelm V. erneut über eine Re- form verhandelte, nachdem der Augsburger Religionsfriede eine neue Situation geschaffen hatte. 28 Nimmt man eine noch spätere Da-

Duisburg 1555-64, in: G. v. RODEN , Die Universität Duisburg ( = Duisburger Forschungen 12), Duisburg 1968, 1-32. 26 Das Gutachten ist abgedruckt als Beilage 12 Des Herzogs Wilhelm Entwurf einer christlichen Reformation, in: T.J. LACOMBLET, Archiv für die Geschichte des Niederrheins V, Düsseldorf 1865, 172-175. Lacomblet datiert es auf 1545 und setzt S. 175 Anm. 1 den vom Herzog vorgelegten Entwurf, von dem das Gutach- ten der Räte handelt, mit der Einfaltige Anleitung gleich, die er damit 1545 ent- stehen ließ. Die Einfaltige Anleitung befindet sich im Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg II Nr. 202, Fol 23-241 in fünf verschiedenen Fassungen und mit ver- schiedenen Verbesserungsvorschlägen. Im folgenden wird die fünfte Bearbeitung benutzt, Fol 198-241, welche am vollständigsten sein dürfte (zit. als Einfaltige Anleitung). Schon FRANZEN, Kelchbewegung 54 Anm. 20 hat Zweifel an der Da- tierung. 27 LACOMBLET 175 Anm. 1. 28 Für die Verhandlungen 1556 spricht die Aufschrift auf den Articuli, Fol 1: Postrema consultatio in negotio religionis ante annum quinquagesimum sextum so- wie die deutsche Aufschrift in Fortsetzung des o.g. Textes (Anm. 21): 1556 hat der Canzler Hatten neben Herßbachio und etlichen andern hierauß ein andere No- teil begriffen, so hierneben zu finden. Der innere Zusammenhang zwischen den Ar- ticuli und der Einfaltige Anleitung aber ist zu gering, um an eine direkte Abhän- gigkeit beider voneinander denken zu können. Damit gewinnt die Vermutung an Wahrscheinlichkeit, daß die Glossen zu den Articuli das umgearbeitete Gutach- ten von 1556 bedeuten; vgl. WOLTERS, Heresbach 168 Anm. 2. Eine weitere Mög- lichkeit wäre, daß die Einfaltige Anleitung erst im Zuge der Verhandlungen ab 1564 entstand. Ein innerer Grund für die Datierung nach 1545 ist folgender Pas- Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 549 tierung an, dann wäre es auch möglich, daß dieser Text 1559 an den Kaiser zur Begutachtung geschickt wurde, worauf vermutlich keine Antwort erfolgte.29 Die Einfaltige Anleitung ist ein relativ kurzer Entwurf, der in der Sprache biblisch geprägt ist und aus den Articuli von 1545 kaum An- leihen machte.3 Wichtiger ist deshalb der letzte große Reforment- wurf von 1567, der kurz vor dem endgültigen Wechsel in der herzog- lichen Politik entstand, die sich unter dem Druck der Ereignisse in den Niederlanden und eventuell der Erkenntnis, daß man mit dem zunehmenden Calvinismus keine Kompromisse schließen könne, der Gegenreformation zuwandte.31 Vorausgegangen waren langwierige Verhandlungen, an denen seit 1564 auch Georg Cassander beteiligt war. Ihre Einzelheiten brauchen hier ebensowenig erwähnt zu werden wie das Zwischenspiel der Bitte an den Württemberger Reformator Johannes Brenz, zwei verschie- dene Entwürfe einer Kirchenordnung zu überprüfen, wozu mit großer Wahrscheinlichkeit die obengenannte Einfaltige Anleitung ge- hörte, und darüber ein Gutachten abzugeben, was als Ergebnis den Vorschlag von Brenz brachte, man solle die Württembergische Ord- nung übernehmen. 32 Am Ende intensiver Beratungen stand 1567 eine Reformordnung, die alle ihre Vorgänger, wenn auch in unterschiedli- cher Intensität, rezipierte, wie keine andere auf Volksbelehrung

sus in der Einfaltige Anleitung, Fol 201: Auch angemerckt, das die zeit vast kurte unsers lebens, und fur unserem endt . Das paßt besser in die spätere Zeit als auf das Jahr 1545, wo der Herzog 29 Jahre alt war. Das von Lacomblet edierte Gut- achten der Räte zwingt ebenfalls nicht zum Datum 1545; es würde ebenso gut 1556 oder später sinnvoll sein. Zur Kirchenpolitik 1556 vgl. REDLICH, Staat und Kirche 89 ff. 29 Das könnte sich aus REDLICH, Staat und Kirche 105 ergeben. 30 Zu diesem Ergebnis kam ein erster Vergleich der Texte miteinander. 31 Aus der Reinschrift im Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg II Nr. 200, Fol 210-284 ediert bei: J.D. v. STEINEN, Kurtze und Generale Beschreibung der Re- formationshistorie des Hertzogtums Cleve, Lippstadt 1727, 263-388. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert (als: Ed. STEINEN). Ein Konzept befindet sich im Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg II Nr. 201, Fol 83-144. Zur Kirchenpoli- tik des Herzogs vgl. REDLICH, Staat und Kirche 104-116; FRANZEN, Kelchbewe- gung 68-75. Die These vom Calvinismus bei FRANZEN, Herausbildung des Kon- fessionsbewußtseins 207. 32 Vgl. REDLICH, Staat und Kirche 108-116; FRANZEN, Das Schicksal des Erasmianismus 103-111. 550 Heribert Smolinsky

drängte und dazu konkrete Anweisungen gab, sowie als Katechismus die Kurtze Christliche underweisung und eine ausführliche Agende als Beigabe erhielt, auf die man im Text des Reformentwurfes immer wieder hinwies. Sie wurde allerdings weder Georg Witzel zur Begut- achtung vorgelegt, wie man geplant hatte, noch publiziert, aber bildet vier Jahre nach dem Abschluß des Trienter Konzils ein erstaunliches Beispiel territorialer eigenständiger Kirchenpolitik.33 2 Der wachsende Wert der Volksbelehrung in den Kirchenordnun- gen von Jülich-Kleve-Berg Die Abhängigkeit der einzelnen Reformentwürfe untereinander er- laubt es, an ausgewählten Punkten den wachsenden Wert der Volks- belehrung zu überprüfen, die einen immer breiteren Raum in den Ordnungen einnahm. Inhaltlich betraf das vor allem den zentralen Stellenwert der Predigt, die damit zusammenhängenden Anforderun- gen an die Prediger, eine detailliertere Ausfaltung der Predigtinhalte sowie die "lehrhafte Seite" der Sakramentenspendung, wobei Taufe, Firmung und Kommunion bzw. Messe an erster Stelle zu nennen sind. Von Anfang an war man sich in den Vereinigten Herzogtümern darüber klar, daß dem gesprochenen Wort in einer Zeit "reformatori- scher Predigtbewegung" eine besondere Bedeutung zukomme und die Gefahr einer durch Irrlehren bedingten Uneinigkeit sowie des ständig befürchteten Aufruhrs sich aus zwei Quellen ableitete: dem persönlichen sowie doktrinellen Versagen der katholischen Prediger und Pfarrer und den unkontrollierbaren protestantischen Prädikan- ten verschiedenster Richtungen. 34 Folgerichtig zielten die Ordnungen auf eine Verknüpfung von scharfer Kontrolle der Predigtlegitimation und Verbesserung von Lehre und Leben derjenigen Prediger, die man als "ordentlich Berufene" erkannt hatte. Nur die Articuli von 1545 haben ihrem systematischen Charakter entsprechend in einem grundsätzlichen Vorwort die beiden Bil- dungsinstitutionen Schulen und Pfarrer einander zugeordnet, welche unter der Aufsicht des Staates ihre Pflicht zu erfüllen haben. 35 Aus-

33 Katechismus und Agende in: Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg II Nr. 201, Fol 156-249. Vgl. REDLICH, Staat und Kirche 111. 34 Vgl. die Verordnung vom 3. Juli 1525, REDLICH I Nr. 227, und alle folgen- den Verordnungen (s. Anm. 12-14). 35 Articuli, Fol 3; vgl. oben Anm. 24. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 551 wirkungen auf die nähere Bestimmung des Stellenwertes der Predigt im Verhältnis zu den anderen Reformentwürfen hat dieser Gedan- kengang nicht. Im Sinne der oben genannten Voraussetzungen läßt sich von 1532/33 bis 1567 eine Zunahme der Kontrollvorschriften, der Bil- dungsanforderungen und der einzelnen Predigtinhalte nachweisen. Schon die Tatsache, daß man 1567 vier Kapitel ausarbeitete, um das Predigt- und Pfarramt zu beschreiben, belegt deren Wert. 36 Das erste Kapitel handelt davon Waß Persohnen zum Predig-Ambt zu gestatten und sonst von derselben Beruffung; Kapitel zwei lautet Von Lehrung des Göttlichen Worts und Ampt der Prädicanten; Kapitel 13 spricht Von der Prädicanten Ordnung und Beruff und Kapitel 18 greift das Thema noch einmal auf Von Anstellung guter Seelsorger und Pfarr-Herrn . In dieser Ausführlichkeit hatte man in den anderen Ordnungen das Amt nicht beschrieben. 1545 und 1567 verweist man auf die Arbeit des Erasmus von Rotterdam Ecclesiastes als Leitbild für die Prediger,37 aber man darf mit guten Gründen daran zweifeln, daß man sich in der Praxis ernsthaft mit diesem komplizierten und umfangreichen Werk beschäftigte. Die Visitationsberichte aus Jülich belegen, daß nur an einer Stelle dieses Buch 1560 gefunden wurde, während die einfacheren und nützlicheren Paraphrasen des Erasmus in vielen Pfarrhäusern vorhanden waren. 38 Die wechselnden Anforderungen an die Bildung lassen sich daran ablesen, daß man ab 1545 sowie in den folgenden Texten auf die Kenntnis der biblischen Sprachen Wert legt."

36 Die einzelnen Kapitel Ed. STEINEN 270-274; 274-285; 341-344; 356-363. 37 Vgl. Articuli, Fol 21". 37'; Ed. STEINEN Kp. 2, S. 285: Und nachdem unter andern Erasmus Roterodamus in einen sondern ausgegangenen Buch (Ecclesiastes oder de ratione concionandi geflennt) die Prediger gantz fleißig und geschicklich in- struirt, hätte jeder Pastor oder Lehrer des Göttlichen Worts aus demselben, wie er sich in den Predig-Ampt zu halten, ferner guten und nützlichen Bericht zu nehmen. Zu Erasmus vgl. R. STUPPERICH, Erasmus von Rotterdam und seine Welt, Berlin - New York 1977, 181-183. Der Text des Ecclesiastes in: Desiderii Erasmi Opera Omnia Bd. V, Lugduni Batavorum 1704, Ndr. London 1962, 769-1100. 38 Vgl. REDLICH II 1, 869. Zu Erasmus vgl. F. KRÜGER, Humanistische Evan- gelienauslegung. Desiderius Erasmus von Rotterdam als Ausleger der Evange- lien in seinen Paraphrasen ( = BHTh 68), Tübingen 1986 . 39 Articuli Fol Veteris testamenti fides ex Hebreorum fontibus, Novi vero Testamenti e Grecorum archetipis petenda; Einfaltige Anleitung, Fol 203; Ed. STEINEN S. 283: das die Predicanten wohl gelehrt seyn, auch der Arth der Schrifft 552 Heribert Smolinsky

Vor allem aber hat man das Zulassungsexamen, von dem 1532/33 unsystematisch und allgemein gesprochen wurde, 4° seit 1545 schärfer betont, die Prüfung als Voraussetzung einer ordentlichen Berufung verlangt und auf eine öffentliche Probepredigt gedrängt;41 letzteres verschwand später wieder. Der Kontrolle und Verschärfung der Ein- laßbedingungen mit steigenden Bildungsansprüchen entsprachen in der konkreten politischen Praxis die Errichtung der Düsseldorfer La- teinschule 1545,42 die ersten Vorschläge für die Gründung einer Uni- versität, welche sich wohlgemerkt an katholische Vorbilder halten sollte,43 und ab 1559 bei der Visitation die Frage nach den Büchern, welche ein Pfarrer besaß. Das war in erster Linie als Suche nach hä- retischer, vor allem täuferischer Literatur gedacht, aber gleichzeitig wurde die Bildung und wissenschaftliche Qualifikation bewußt er- fragt.44 Parallel dazu ist eine ständige Erweiterung der Predigtinhalte und damit eine inhaltliche Auswirkung für die Volksbelehrung zu beob- achten. Den Ausgangspunkt bildet auch hier die Kirchenordnung von 1532/33, auf die man bis zum Ende der Reformtätigkeit 1567 ständig hinwies45 und die als einzige wirklich publiziert wurde und einer Visi- tation als Grundlage diente. Sie46 betonte die Schriftpredigt, wobei Schrift mit Schrift zu erklären und auf die rhetorischen Figuren in der Bibel zu achten sei. Der Prediger hat den Glauben und die Gebote zu predigen. Die soziale Dimension ist nach humanistischer Manier breit ausgearbeitet: Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, Einigkeit und der daraus resultierende Frieden sind zu predigen; die Ehre Got- tes und die Liebe zum Nächsten ist das Hauptziel der Predigt. Die Prädikanten sollen das Volk auch lehren, wie man betet. Für die und Eigenthum der Sprachen, darinn sie verfasset, gründlich wissen und fleissig an- mercken . 4° Vgl. REDLICH 1 247.261 f. 41 Articuli, Fol 5-8, bes. 5: Circa parochos igitur diligenter curandum, ut non admittantur nisi explorati . . . Utile fuerit antequam admittantur parochi, ut non so- lum examinentur, sed ut etiam in publico auscultantibus examinatoribus contionem habeant; Einfaltige Anleitung Fol 214"; Ed. STEINEN S. 341-344. 42 Vgl. REDLICH, Staat und Kirche 70 f. 43 Vgl. Anm. 25. 44 Die Visitationsinstruktion bei REDLICH II 1, S. 11-16. 45 Z.B. Ed. STEINEN 266. 46 REDLICH 1 247 f. 264-266. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 553

Glaubensunterweisung und das Gebet kündigte man einen Kate- chismus und eine Auslegung des Vater Unsers an, um die man Eras- mus bat.47 Andere Teile der Ordnung wiederholen das Repertoire der Zeit, was z.B. die eindrückliche Mahnung betrifft, keine strittigen theologischen Themen auf der Kanzel zu erörtern und keine sinnlo- sen Fabeln zu predigen.48 Dieser Grundbestand an Predigtinhalten ist später übernommen, und 1567 teilweise wörtlich wiederholt worden, um die kirchenpoliti- sche Kontinuität zu bewahren, wobei man immer wieder betonte, man wolle sich nicht von der katholischen Kirche trennen.49 Seit 1545 kommen aber neue Inhalte hinzu und werden die schon vorhandenen ausgefaltet. Aus den Anleitungen des Erasmus für den Prediger brachte man seit 1545 Hinweise für die Didaktik der Predigt, die de- ren Wirksamkeit erhöhen sollten. Der Prediger solle die Disposition am Anfang vorstellen und am Ende eine Zusammenfassung des Ge- samtinhaltes geben, die sich der Zuhörer einprägen könne. 5 Für die Volksbelehrung erwies sich zunehmend die Katechismuspredigt als wichtig, der man 1545 die vermittelnde Dogmatik des "Regensburger Buches" zugrunde legen konnte. 51 Die Bibel sollte in einer einheitli- chen Auslegung dem Volk vorgetragen werden, was 1567 zu der Vor-

47 REDLICH 1 247. 248. Vgl. dazu den Brief des Erasmus an Vlatten vom 25. Juli 1533, ALLEN Nr. 2845; GAIL, Vlatten 61-63; HASHAGEN, Erasmus 186-188. Der Katechismus von 1567 (vgl. Anm. 33) enthält entsprechend zeitgenössischem Brauch eine Auslegung des Vater Unser: Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg II Nr. 201, Fol 169-171". 48 REDLICH 1 265-266. Vgl. dazu Lateranense V, COD 3 636. 49 Am deutlichsten in der Einfaltige Anleitung, Fol 188 der Verbesserungsvor- schlag: Seint aber hiemit nit gemeint, unß der Christlichen Catholischen und Apo- stolischen gemein und kirchen abzusonderen; er wurde in die korrigierte Fassung aufgenommen, Fol 200-200". Ähnlich Ed. STEINEN 268-269. 50 Articuli, Fol 6: In initio sermonis proponatur summa dicendorum per capita. Et similiter in Epilogo cum brevi repetitione dictorum contio claudatur; Ed. STEI- NEN 275: Wie auch im Anfang der Predig die Pastör und Prediger dem Volck auff waß Puncten und Articulen ihre Predig vornemlich gericht seyn werden kürtzlich vorzuhalten, dergleichen zu Ende mit kurtzer Erholung, wovon gelehrt und geredt seye, die Predig zu beschliessen. Vgl. ERASMUS, Ecclesiastes 872. 950 (Opera omnia V). 51 Z.B. Articuli, Fol 6": Fiat subinde recitatio in concionibus Decalogi, Symboli ac precationis Dominicae pro rudioribus; Einfaltige Anleitung, Fol 204"; Ed. STEI- NEN 276. 282. 554 Heribert Smolinsky

schrift führt: . . . daß daraus ein einhelliger Verstand geschöpffi und der- selbige geprediget, darnach auch weiter der alten und Gottseeligen Leh- rern der ersten Kirchen Auslegung gemerckt und damit verglichen werden möge.52 Eine interessante Ausweitung läßt sich im Kampf gegen den Aber- glauben und unchristliche Volksbräuche feststellen, der sich deutlich steigert, wozu die Ordnung von 1545 mit dem Kapitel De cruce den theologischen Grund legt, weil sie die Kausalität der Schicksals- schläge und Unglücke erklärt53 und damit dem Irrglauben, Widerwär- tigkeiten und Leiden seien vom Teufel verursacht, den Boden entzie- hen will. Die Leiden sind als Zulassungen Gottes zu predigen und sollen die Menschen zur Buße auffordern. Hilfe gibt es nicht in aber- gläubischen Praktiken, sondern nur bei Gott, dessen Zusagen in der Schrift man fest vertrauen muß.54 Ein reiner Fiduzialglaube oder eine Abwertung der Werke läßt sich in keiner der Ordnungen nachweisen. An den Bearbeitungsstu- fen der Articuli von 1545 ist aber zu beobachten, daß um die Zuord- nung von Glaube, Liebe und Werken in den Verhandlungen gerun- gen wurde, wobei es schwierig ist, den Zeitpunkt der einzelnen Zu- sätze zu datieren. So wird die Kapitelüberschrift De iustificatione et fide von anderer Hand umgestellt zu De fide, operibus et de iustifica- tione und von nochmalig anderer Hand der Satz admoneant igitur concionatores populum, quod perfidem quidem iustificemur durch eine lange Glosse im Sinne der fides per charitatem operans ergänzt, die dem Jülicher Separatgutachten des Wormser Religionsgespräches vom 15. Dezember 1540 entnommen ist.55 Der Akzentuierung eines in guten Werken tätigen Glaubens ent- sprach es, daß man 1545 vorschlug, dem Volk bei Predigten über die Heiligen nicht deren Wundertaten, sondern Tugenden vor Augen zu stellen.56 Ebenso wurden die Prediger angewiesen, nicht nur die Frohe Botschaft des Evangeliums zu verkünden, sondern auch den

52 Ed. STEINEN 275. 53 Articuli, Fol 12v-14, systematisch nach De Operibus und vor De orando ge- stellt. 54 Vgl. REDLICH 1 267; Articuli, Fol 12v- 14; Ed. STEINEN 279-281. 55 Articuli, Fol 10v-12v. Die Glosse Fol 11. Vgl. ARCEG III, 316 f. 56 Articuli, Fol 7. Vgl. damit das genannte Sondergutachten (wie Anm. 55) ARCEG III, 318. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 555

Zorn Gottes.57 Die christliche Freiheit solle nicht als fleischliche Freiheit gelehrt werden, sondern als Herrschaft des Heiligen Geistes in uns und als Freiheit vom mosaischen Gesetz.58 Es bleibt zu fragen, ob diese Vorschriften nicht zu theoretisch bzw. zu allgemein waren, um in eine konkrete Predigtpraxis umgesetzt zu werden. Aus diesem Grunde arbeitete man 1567 komplementär eine breit angelegte Agende und einen kurzen Katechismus aus, womit vorformulierte Ansprachen und eine kompakte Glaubenslehre be- reitgestellt wurden.59 In die Verhandlungen brachte man auch den Vorschlag ein, die Katechismen des Merseburger Bischofs Michael Helding und des Dortmunder Humanisten Jakob Schoepper als Lehrgrundlage zu nehmen, strich aber den entsprechenden Passus wieder aus.6° Die Predigt, ihre Didaktik, Inhalte und Kombination mit der kate- chetischen Lehre war der wichtigste Ort, wo die Volksbelehrung statt- fand. Ihre Intensivierung läßt sich an drei Sakramenten noch einmal verdeutlichen, nämlich der Taufe, der Firmung und der Meßausle- gung bzw. der Kontrolle und Vermahnung vor dem Kommunionemp- fang.61 Dabei stehen zwei Punkte im Vordergrund: die Auslegung der Riten und die Überprüfung des Glaubenswissens und seiner Ortho- doxie. Schon 1532/33 wurde die Taufe ausführlich behandelt und allge- mein an den Glauben an Gott, die Abschwörung des Satans und an die Glaubenslehre erinnert, die man bei dieser Gelegenheit den Teil- nehmern vortragen könne. Der zentrale Ritus solle im Anschluß an Paulus als Bad der Wiedergeburt, Tod des alten und Geburt des neuen Menschen gedeutet werden. 62 Seit 1545 drängten die Ordnun-

57 Articuli, Fol 8`'-9. 58 Ed. STEINEN 280-281. Dazu Articuli , Fol 38-38' De libertate Christiana als Grundlage. 59 Vgl. oben Anm. 33. Eine Analyse dieser Texte ist hier nicht beabsichtigt. 60 Articuli, Fol 3' am Rande von anderer Hand als Ergänzung: Michaelis Episcopi Merseburgensis auf Schoepperi Tremoniensis. Dieser Zusatz wurde wieder gestrichen. Zu Helding vgl. H. SMOLINSKY, Michael Helding, in: Katholische Theologen der Reformationszeit 2, hg. v. E. ISERLOH ( = KLK 45), Münster 1985, 124-136; zu Schöpper vgl. F. GRÜTFERS, Schöpper, Jakob, in: LThK 2 IX 476 f. 61 Ähnlich die "kaiserliche Reformation" von 1548, ARCEG VI, 363-366. 62 REDLICH 1 269 f. 556 Heribert Smolinsky gen auf eine Widerlegung der Wiedertäufer mit den damals üblichen Argumenten.63 Gleichzeitig wurde 1545 die lehrhafte Seite präzisiert, wobei der dogmatische Teil dem "Regensburger Buch" entnommen wurde. 64 An die Pflichten von Eltern und Paten, den Täufling in der christlichen Lehre zu unterweisen, erinnerten alle Reformordnungen. 65 Als Spra- che könne man bei der Taufspendung Latein oder Deutsch nehmen; auf jeden Fall sei der Ritus im einzelnen zu erklären. Nur 1567 hat man sich endgültig für einen deutschen Ritus entschieden, der ein- schließlich der Ansprachen in der Agende vorgeschrieben wurde.66 Die Firmung wurde erst 1545 in die Reformentwürfe aufgenom- men. Konstant ist sie ein Sakrament, das mit einem Examen in der Glaubenslehre verbunden ist. 67 Seit der Einfaltige Anleitung wird ihr Zusammenhang mit der Taufe deutlicher herausgearbeitet und dar- auf hingewiesen, daß der Ritus dem Volk erklärt werden müsse.68 Außerdem enthält diese Ordnung eine weitere Verschärfung, die man 1567 übernahm: Wer das Glaubensexamen nicht besteht, wird weder zur Firmung noch zur Kommunion zugelassen, sondern ist erst besser zu unterrichten. Eltern und Paten sind in diesem Falle wegen ihrer Nachlässigkeit zu ermahnen und an ihre Pflichten zu erinnern.69 Mit einer auf der Linie des Erasmus liegenden Akzentuierung auf die Verinnerlichung des äußeren Geschehens hat die Kirchenord- nung von 1532/33 das Thema Messe und Kommunion behandelt, wobei im Unterschied zu den späteren Entwürfen die beiden Teile noch zusammengesehen wurden.7° Der "Gemeine Mann" ist über fol-

63 Articuli, Fol 23"-24 (vgl. dazu Regensburger Buch, ARCEG VI, 67); Ein- faltige Anleitung, Fol 209; Ed. STEINEN 308. 312. 64 Articuli, Fol 23" -24; ARCEG VI, 66 f. 65 REDLICH I 270; Articuli, Fol 24"; Ed. STEINEN 308. 66 Articuli, Fol 24: Conveniret maxime Caeremonias baptismi auf lingua a po- pulo intellecta exhiberi . . . Aut si id omnino fieri non possit, necessitas exigere vide- tur, ut post peractum baptisma fixt diligens explicatio astantibus; Einfaltige Anlei- tung, Fol 209; Ed. STEINEN 313. Der entsprechende Text der Agende wie Anm. 33, Fol 183-193". 67 Articuli , Fol 30"; Einfaltige Anleitung, Fol 217; Ed. STEINEN 316. 68 Einfaltige Anleitung, Fol 217; Ed. STEINEN 316-317. 69 Einfaltige Anleitung, Fol 217; Ed. STEINEN 317. 7 REDLICH I 249. 270-271. 273-274. Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 557 gende Inhalte zu unterrichten: die Realpräsenz Jesu Christi in Brot und Wein; die Zusage von Gnade und Vergebung der Sünden durch Jesus im Geschehen der Messe; den daraus folgenden Trost und Kraft gegen die Anfechtung und die Sünden für die Teilnehmer; die Messe als ein Zeichen der Liebe und der Eintracht, worin die Teil- nehmer mit Christus und untereinander vereint werden. Daraus folge die innere Bereitschaft, sich gegenseitig die Vergebung zu schenken. Diese einzelnen Punkte sollten die ganze Meßfeier hindurch vor Au- gen gehalten werden, um damit die entsprechende, Liebe und Ein- tracht stiftende Disposition zu erhalten. Als Voraussetzung des Kommunionempfanges sind Reue und Beichte genannt. Die Riten und Bestandteile der Messe sind dem Volk zu erklären. Solche Vorschriften waren im Grunde zu wenig konkret, um nicht ergänzungsbedürftig zu sein. Die Ordnung von 1545 präzisierte dementsprechend einige der genannten Punkte und fügte neue hinzu. Bei der Realpräsenz wurde jetzt davor gewarnt, Spekulationen über das "Wie" der Gegenwart Christi anzustellen, was an Luthers Position erinnert und eine Diskussion über die Transsubstantiation verbot.71 Was die vorhergehende Beichte betrifft, so sei zu predigen, daß ein rein äußerliches Tun nicht genüge, sondern eine aufrichtige Reue gefordert sei. Einer weitergehenden Diskussion, die z.B. attritio und contritio betreffen könnte und in der damaligen Kontroverstheologie eine Rolle spielte, ging man aus dem Wege. 72 Ab 1545 wurde die Forderung aufgestellt, man solle dem Volk die verschiedenartige Verstehensweise des Wortes "Opfer" erklären, wofür als Grundlage Erasmus De sarcienda ecclesiae concordia zu nehmen sei.73 In den spä- teren Verhandlungen über die Kirchenordnung betonte man dieses Desiderat nochmals. 74 Die Lehre vom Opfer wurde schließlich in- haltlich präzisiert als Dank- und Gedächtnisopfer, in dem die erlö-

71 Articuli, Fol 25: Hortandus igitur populus cum non queant intelligere quo- modo sub specie panis et vini possint subesse corpus et sanguis Christi, ne in hoc sint curiosi, sed perfidem hoc omnipotentiae Dei tribuant. 72 Articuli, Fol 25v-26. Vgl. H. SCHAUERTE, Die Bußlehre des Johannes Eck ( = RGST 38-39), Münster 1919, 88-91. 73 Articuli, Fol 26v: Videndum an missa dicenda sit sacrificium et quale, eucha- risticum et repraesentativum, an propiciatorium. Consulatur Concordia Eras(mi). Vgl. ERASMUS, De sarcienda ecclesiae concordia, hg. v. R. STUPPERICH, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami V, 3, Amsterdam u.a. 1986, 309. 74 Staatsarchiv Düsseldorf, Jülich-Berg II Nr. 202, Fol 184. 558 Heribert Smolinsky sende Kraft des Kreuzesopfers mitgeteilt werde. 75 Der Prediger hat vor einem allzu großen Vertrauen auf das opus operatum der Messe zu warnen.76 Der wachsenden Tendenz zur Belehrung entspricht es, wenn man nicht nur auf das Verständnis der einzelnen Meßteile und ihrer Worte Wert legte, sondern das Katechismuswissen gleich zwei- mal erwähnte: Seine Kenntnis ist die notwendige Voraussetzung für den Empfang der Kommunion, und bei den Predigten an Festtagen in der Pfarrei, wo Evangelium und Epistel auszulegen sind, soll am Ende jeder Predigt ein Stück des Glaubenswissens repetiert werden.77 Während die Articuli im Anschluß an das Regensburger Buch erste Überlegungen zur Freigabe des Laienkelches vorschlagen, ist in der Einfaltige Anleitung dieses Problem positiv gelöst. 78 Zusammen mit der Ermahnung vor dem Kommunionempfang geht eine verschärfte Kontrolle der Lehre einher, so daß es 1567 heißt: 79 Und sollen in alle Wege die Pfarrherrn und Seelsorger in Zeit der Beicht diejenigen, so sich zu der Communion schicken, erstlich in den Articulen des Glaubens, den zehen Gebotten, Vatter unser, item von dem Sacrament der Tauff und den heiligen Nachtmahl des Herrn und ob sie auch vestiglich glauben, daß der wahrer Leib und Blut des Herren allda ohn Zweifel der glaubi- gen Seelen warhafftig vorhanden, fleißig examiniren. Für eine tiefergehende Beurteilung der Kirchen- und Reformpoli- tik im Herzogtum von Jülich-Kleve-Berg wird es notwendig sein, die inhaltlichen Aspekte der Ordnungen, ihre Abhängigkeiten und ihre Qualität weiter zu erschließen und auf Grund anderer Aktenbestände aus den Religionsverhandlungen die Materialbasis zu verbreitern. Die vorgelegten Beispiele mögen aber genügen, um aufzuzeigen, wie dem Docendus est populus ein ständig steigender Wert zukommt. Si- cherlich entspricht das dem Spezifikum der herzoglichen Kirchenpoli-

75 Einfaltige Anleitung, Fol 230v: Nemlich das es nit ein new versoen opfer sei, sondern ein Danckopfer und gedechtnuß des Opfers, damit der Herr am Creutz unß alle einmarll erloesett, und das mit disser Tractation die ewige Kraft desselbigen Op- fers durch das gebett und dancksagung denen, die das Sacrament werdich entfangen, . . . mitgedeilt werde; Ed. STEINEN, 335 mit leichten Abänderungen übernommen. 76 Articuli, Fol 27: Abusus est impius fidutiam instituere in opus sacerdotis ma- gis quam in benefitium Christi. 77 Articuli, Fol 26. 27". 78 Articuli, Fol 26v; vgl. ARCEG VI, 69. 83. Einfaltige Anleitung, Fol 210'. Vgl. FRANZEN, Kelchbewegung 50 ff, bes. 53 f. 79 Ed. STEINEN 331; vgl. Einfaltige Anleitung, Fol 230-230". Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts 559 tik, ihrer aus dem 15. Jahrhundert kommenden Tradition und der pädagogischen, von Erasmus und seinen Ideen beeinflußten Linie, aber die Übernahme von Ergebnissen der Kölner Verhandlungen von 1535 und der kaiserlichen Religionsgespräche in Worms und Re- gensburg 1540/41 warnt davor, voreilig alles mit diesen Stichworten erklären zu wollen. Die Kölner Synodalstatuten von 1536 beinhalten ähnliche Elemente der Volksbelehrung; 8° ebenso die "kaiserliche Re- formnotel" von 1548,81 und eine Rede des Naumburger Bischofs Ju- lius Pflug, die er auf dem Augsburger Reichstag 1559 hielt, begriff die Reform wesentlich als Bildungsreform.82 Der gewünschten Intensivie- rung von Predigt und Katechese entsprachen seit den 30er Jahren die Katechismen und die großen gedruckten Predigtsammlungen.83 Insofern sind die herzoglichen Ordnungen nicht singulär, sondern laufen mit einer Entwicklung parallel, die besonders von den Huma- nisten, aber nicht nur von diesen vorangetrieben wurde und im Prote- stantismus ihr Pendant vor allem in den Kirchenordnungen Bugen- hagens hatte. Für das Thema "Bildungsbewegung der Frühen Neu- zeit" besteht ihr Wert darin, daß sie den Blick auf das Gebiet der außerschulischen, äußerst wichtigen religiösen Volksbelehrung len- ken, deren voller Stellenwert neben der inhaltlichen Seite auch unter den Gesichtspunkten der Vereinheitlichung, der Sozialkontrolle und des "bonum commune" zu erschließen ist, die in den Kirchenordnun- gen von Jülich-Kleve-Berg eine so große Rolle spielten.

8° Vgl. ARCEG II Nr. 72, 255-271. 81 Vgl. ARCEG VI, 362-369. 82 Vgl. G. PFEILSCHIFTER, Die Revision der Notula reformationis Karls V. von 1548 auf dem Augsburger Reichstag 1559 und die in ihrem Zusammenhang gehaltene, neu aufgefundene Rede des Naumburger Bischofs Julius von Pflug über schulische Restauration und klerikale Reform, in: Julius Echter und seine Zeit, hg. v. F. MERZBACHER, Würzburg 1973, 317-347. 83 Vgl. SMOLINSKY, Reformationsgeschichte.