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DIE GESCHICHTE DES FC

DIETRICH SCHULZE-MARMELING

DIETRICH SCHULZE-MARMELING REDS „We’re not English, we’re Scouse.“ Fans des FC Liverpool

„Die Stadt, der Verein, das Stadion – das fügt sich zu einem Mythos zusammen. Das muss man gesehen und erlebt haben.“ Didi Hamann ie Geschichte des FC Liverpool

Bill Shankly und Jürgen Klopp. Heysel und Hillsborough. Steven REDS D Gerrard und . Istanbul 2005 und Madrid 2019. Die Geschichte des FC Liverpool ist reich an Triumphen und Tragödien, aber auch an legendären Spielern und Trainern. Dieses Buch nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Historie des Kultklubs von der Merseyside und macht dabei auch Ausflüge in die Musikszene der Stadt sowie in ihre sozialen und politischen Kämpfe.

ISBN 978-3-7307-0438-7 VERLAG DIE WERKSTATT INHALT

VORWORT In Liverpool ...... 9

KAPITEL 1 „Team of the Macs“ ...... 17

KAPITEL 2 und die zweite Geburt des FC Liverpool ...... 61

KAPITEL 3 Triumphe und Tragödien ...... 99

KAPITEL 4 Entwicklungshilfe aus Frankreich und Spanien . . . . 163

KAPITEL 5 Die Suche nach dem perfekten Manager ...... 213

KAPITEL 6 Der beste „Vize“ aller Zeiten und Champions-League-Sieger ...... 244

Literatur ...... 282

Die Autoren ...... 284 „Die Stadt, der Verein, das Stadion – das fügt sich zu einem Mythos zusammen . Das muss man gesehen und erlebt haben .“ Didi Hamann

„Wir wissen, dass dieser Klub eine Mischung aus Atmosphäre, Emotionen, Verlangen und fußballerischer Qualität ist . Nimmt man eine Sache davon weg, funktioniert es nicht . Dieser Klub lebt Emotionen und Leidenschaft, in ihm schlägt ein großes Herz .“ Jürgen Klopp VORWORT In Liverpool

Hierzulande wird die Stadt Liverpool mit drei Dingen in Verbindung gebracht: Fußball (einschließlich Hooliganismus), Musik und Arbeits- losigkeit. Was den Fußball und die Musik betrifft, wird der Reisende in den Touristenshops in den Albert Docks und der Innenstadt bestens bedient. Diese sind voll mit Beatles- und FC-Liverpool-Devotionalien. Der FC Everton kommt deutlich seltener vor. Vermutlich, weil sich auswärtige Gäste primär für die „Reds“ interessieren. Man bekommt den Eindruck, als würde die Stadt ohne den Fußball und die Musik überhaupt nicht existieren. Über die sozialen Probleme der Stadt, das harte Leben und die Kämpfe ihrer Bürger erfährt man im Bereich des Stadtzentrums nur etwas im Museum of Liverpool am Pier Head und im Casa in der ober- halb des Zentrums gelegenen Hope Street, einem Klub und Kulturzen- trum, dessen Geschichte eng mit dem Streik der Hafenarbeiter in den Jahren 1995 bis 1998 verbunden ist. 2016 war Liverpool die Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit auf der britischen Insel, aber an der noch in den Thatcher-Jahren revitalisierten schicken Waterfront sieht man davon nichts. Wer das „andere“ Liverpool sehen will, muss dafür das Stadtzentrum verlassen und beispielweise in die Gegend der beiden Stadien fahren.

Kulturstadt Liverpool 2008 war Liverpool Europas Kulturhauptstadt, was einer Wiederge- burt gleichkam. In der Tat hat die Stadt kulturell einiges zu bieten. Allein in den Albert Docks, einst das modernste Importlager der Welt, wo Rum, Tabak und Baumwolle umgeschlagen wurden, warten auf den Besucher vier Museen: Story, Tate Liverpool, das Mer- seyside Maritime Museum und das International Slavery Museum. Zum bereits erwähnten Museum of Liverpool sind es von hier aus nur wenige Fußminuten. Auch die Walker Art Gallery und das World Museum Liverpool, beide in der William Brown Street, sollte der Besucher nicht auslassen.

9 Englands ehemaliges Tor zur Welt, wo einst mehr gesoffen wurde als in jeder anderen englischen Stadt, hat natürlich auch viele tradi- tionsreiche Pubs und eine große Klubszene. Am Freitag- und Samstag- abend verwandelt sich Liverpool in eine schrille Partystadt, wobei man das Cavern Quarter (Mathew Street), wo einst die Beatles und Gerry and the Pacemakers in einem dunklen Keller Geschichte schrieben, aber auch Eric Clapton, The Who und die Rolling Stones auftraten, eher meiden sollte. Aus dem einst schmutzigen Vergnügungsviertel ist eine touristische Amüsiermeile geworden. Kathedralen hat Liverpool auch. Die mächtige, dunkle und ein- schüchternd wirkende Liverpool Cathedral auf dem St. James Mount, eine anglikanische Trutzburg, an der 74 Jahre gebaut wurde, beher- bergt sogar ein Café und einen Bookshop, in dem man auch Bücher über die beiden Fußballklubs kaufen kann. Und dann ist da noch die römisch-katholische Liverpool Metropolitan Cathedral auf dem Mount Pleasant, ein 1967 in Betrieb genommener kreisrunder Tempel aus Beton und Glas. Die beiden Kathedralen verbindet die Hope Street, an der auch die im Art-déco-Stil gehaltene Philarmonic Hall, Heim des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, und The Philharmonic Dining Rooms, im Volksmund „Phil“ genannt, liegen. Hier tranken die jungen Beatles gern ihre Pints. bedeutendste Kathedralen sind aber seine Fußballsta- dien: das Stadion an der Road und der , die nur wenige Hundert Meter Luftlinie getrennt in einer Gegend liegen, die voller Narben ist und dokumentiert, dass diese Stadt unverändert ihre sozialen Schattenseiten hat.

„We’re not English, we are Scouse“ Liverpool ist nicht schön. Liverpool lebt nicht von seinen Gebäuden, sondern seinen Menschen. „Diese Stadt ist nur das Nebenprodukt der Menschen hier“, bemerkte der walisische Maler Ben Johnson, als er wäh- rend des Kulturhauptstadt-Jahres in der Walker Art Gallery öffentlich sein Gemälde The Liverpool Cityscape beendete. Das monumentale Werk ist heute in der Skylight Gallery des Museum of Liverpool zu besichtigen. Am 23. Juni 2016 sprachen sich bei einer Volksbefragung im Ver- einigten Königreich von Großbritannien und Nordirland 51,89 % der Wähler für einen Brexit, d. h. einen Austritt aus der EU, aus. Die höchste

10 Zustimmung für „Leave“, also für das Verlassen der Gemeinschaft, wurde in registriert, wo 53,4 % für den Austritt stimmten. Hingegen trugen in Schottland und Nordirland mit 62 bzw. 55,8 % die Befürworter eines Verbleibs („Remain“) einen klaren Sieg davon. Der Brexit war also kein britisches Projekt, sondern ein englisches. Aber auch dies stimmt nicht ganz. So votierten in Liverpool 58,2 % für „Remain“ – nur geringfügig weniger als in London und Umgebung (59,9 %). Ähnlich sah es bei den Wahlen zum europäischen Parlament im Mai 2019 aus. Das Ergebnis für Liverpool: Labour 41,4 %, Brexit Party 18,9 %, Liberal Democrats 18,3 %, Green Party 17 %, Conserva- tives 7,7 %, United Kingdom Independent Party (UKIP) 3,1 %. In ganz England hatten 45,9 % für das Brexit-Lager aus Brexit Party, Conser- vative Party und UKIP gestimmt, in Liverpool waren es nur 29,7 %. Labour, Liberal Democrats und Green Party kamen hier auf 76,7 %. Liverpool ist anders. Liverpool ist nicht englisch, sondern britisch und irisch. Ende der 1980er Jahre besuchte der Autor dieses Buchs erstmals die Stadt am Mersey. Vor der Weiterfahrt nach Nordirland – via Stran- raer in Schottland – suchte er in der Nähe von Anfield, dem Stadion des FC Liverpool, eine Tankstelle auf. Als er das Benzin mit einem EC-Scheck bezahlen wollte, war dem Tankwart dieses Zahlungs- mittel völlig unbekannt. (Jüngeren Lesern dieses Buches wird es in diesem Moment vermutlich nicht anders ergehen …) Der Autor war irritiert. Auf der Strecke von Dover nach Liverpool war das Bezahlen mit EC-Schecks kein Problem gewesen. Also versuchte er dem Tank- wart zu erklären, dass das Papier ein auch in England zulässiges und bekanntes Zahlungsmittel sei und er mit seinen Schecks bislang noch an keiner englischen Tankstelle Probleme gehabt hätte. „Dies ist ein EC-Scheck. EC steht für European Community. Und England ist Mit- glied der European Community.“ Der Tankwart blieb unbeeindruckt: „England? Sorry, wir sind hier in Liverpool!“ Ob der Tankwart die Europäische Gemeinschaft mochte oder nicht, weiß ich nicht. Von spürbar größerer Bedeutung war aber, dass er eines überhaupt nicht mochte: dass ich der Auffassung war, Liver- pool sei eine englische Stadt. Nirgendwo in England findet man eine so stark ausgeprägte Loya- lität gegenüber der eigenen Stadt wie in Liverpool. Diese übertrifft bei

11 Weitem die Identifikation mit England und der britischen Monarchie. Liverpool pflegt einen Blick auf den Rest Englands, der von Skepsis bis unverhohlener Ablehnung der nationalen Autoritäten und der zent- ralen Macht geprägt ist. Das war schon immer so. Im 19. Jahrhundert war Liverpool eine Stadt der Extreme: Hochkultur und Welthandel auf der einen Seite, Kriminalität, Bandenwesen, soziales Elend auf der anderen. In den 1880ern tauften die US-Medien die Stadt „Chicago of England“. Die London Illustrated News strapazierten ebenfalls einen Vergleich mit einer amerikanischen Stadt: Liverpool sei das New York von Europa, „eher eine Weltstadt als nur eine britische Provinzmetropole“. In Großbritannien und Irland hieß es, Liverpool sei die „größte irische Stadt“, „Englands Dublin“, „Irlands zweite Hauptstadt“ oder „Irlands eigentliche Hauptstadt“. Liverpools Verhältnis zu London ist ähnlich dem von Marseille zu Paris oder von Neapel zu Rom. Liverpools Bürger werden nach ihrem Dialekt „Scousers“ genannt und nennen sich auch selber so. Das Wort Scouse kommt ursprünglich von „Lobscouse“, einem traditionellen seemännischen Gericht, in Deutschland als Labskaus bekannt. Mit der Zeit erfuhr dieser Dialekt Veränderungen, bedingt durch die Einwan- derung von Iren und Walisern. In den Jahren der konservativen und extrem marktliberalen Regie- rung von Margaret Thatcher erfuhr die Scouse Identity einen Auf- schwung. Damit einher ging der Abstieg der in Liverpool einst auch unter der Arbeiterschaft starken Tories in die Bedeutungslosigkeit. Der Niedergang der Tories hatte allerdings schon mit den Lokal- wahlen 1973 begonnen. Damals erreichten die Liberalen und Labour jeweils 35 % und verwiesen die Konservativen mit 27 % auf Platz drei. 1987 saß im Stadtparlament erstmals kein einziger Tory. Anti-Thatcherism und Liverpool wurden Synonyme. Der von Militant, einer trotzkistischen Gruppe innerhalb der Labour Party, dominierte Stadtrat spielte erfolgreich auf dieser Klaviatur, schürte eine Liverpool-Identität, die mit der Ideologie des Thatcherismus schlichtweg nicht vereinbar war. „Real Scousers don’t vote Conser- vative“, hieß es fortan. Thatcherismus bzw. Konservativismus waren nun etwas Fremdes, das mit Liverpool nichts zu tun hatte. Das Muster, Katholiken wählen Labour, Protestanten Tories, galt nicht mehr.

12 Bei den Bürgermeisterwahlen 2012 landete der Kandidat der Kon- servativen mit 4,49 % auf Rang sieben. Der Kandidat der Labour Party, Joe Anderson, Sohn einer Putzfrau und eines Seemannes sowie ein- gefleischter Everton-Fan, verbuchte 59,33 %. Heute tragen Fans des FC Liverpool stolz T-Shirts mit der Auf- schrift „Scouse not English“. Auf der Hintertortribüne „The Kop“ hängt ein großes Banner mit der Aufschrift „WE’RE NOT ENGLISH WE ARE SCOUSE“. Fans feiern ihre Mannschaft und deren Trainer Jürgen Klopp mit Bannern, auf denen geschrieben steht: „JURGEN’S REDS – SCOUSE NICHT ENGLISCH“. Das Champions-League-Finale 2019 in Madrid nahmen einige Fans zum Anlass, ihre Ablehnung des Bre- xits zu demonstrieren. „BREXIT MY ARSE, WE LOVE EUROPE“, hieß es auf einem der Banner.

Liverpool und seine Iren Ein Grund für Liverpools Andersartigkeit und Abneigung gegenüber dem Süden Englands sind die vielen walisischen, schottischen, vor allem aber irischen Einwanderer. Liverpool unterhält historische Ver- bindungen zu Schottland, Wales, Irland und den USA. Alle prägten und prägen die Stadt in unterschiedlicher Weise, aber am stärksten wirkt sicherlich die irische Connection. 1846/47 waren geschätzt 580.000 Iren im Hafen Liverpools von Bord gegangen, 370.000 von ihnen allein zwischen dem 1. Januar und 1. Juni 1847. Das Gros der irischen Einwanderer kam aus dem Westen und Südwesten Irlands und war vor den Hungerkatastrophen („The Great Famine“) auf der Insel geflohen. Aber schon davor waren 17 % der Bevölkerung Liverpools irischer Herkunft. Für viele der Einwan- derer hatte Liverpool zunächst nur die Funktion einer Transitstelle. Von hier aus sollte es über den Atlantik in die USA gehen. Der Höhe- punkt der Emigration wurde 1852 erreicht, als über 1.000 Schiffe 299.099 Menschen in die „Neue Welt“ transportierten. (Im Zeitraum von 1840 bis 1935 brachen von hier schätzungsweise neun Millionen Menschen in die USA auf – natürlich nicht nur Iren.) Viele der iri- schen Auswanderer blieben aber in der Stadt am Mersey hängen, da ihr Geld nicht für die Schiffspassage reichte. Es wird geschätzt, dass mindestens die Hälfte der heutigen Ein- wohner Liverpools irische Vorfahren hat. Berühmte Liverpooler mit

13 irischem Background sind u. a. , der in seiner Jugend und seinen ersten Profijahren beim FC Everton spielte, sowie die Bea- tles John Lennon, Paul McCartney und George Harrison. Lennon und McCartney beschäftigten sich in ihren Songs auch mit dem Bürger- krieg in Nordirland. Nach dem sogenannten Blutsonntag von Derry, als britische Soldaten in der nordirischen Stadt 14 Bürgerrechtler erschossen, schrieben sie „Bloody Sunday“ (Lennon) und „Give Ire- land back to the Irish“ (McCartney). Auch Anfield, der Name des berühmten Stadions des FC Liver- pool, hat eine irische Quelle. Um 1860 wanderte der Ire Samuel Robert Graves nach Liverpool aus. Graves stammte aus New Ross in der iri- schen Grafschaft Wexford. Der Kaufmann und Reeder war Mitglied der konservativen Partei. 1861 wurde Graves Bürgermeister von Liver- pool und war damit der erste Ire in England, der diese Position beklei- dete. Von 1865 bis zu seinem Tod 1873 war er Mitglied des britischen Parlaments. Als Bürgermeister kaufte er in Liverpool Land, das er Annefield Farm taufte. Annefield war der Name einer Gemarkung bei New Ross, wo Graves’ Elternhaus – Rosbercon Castle – stand. Graves nannte die Straße zu seinem Liverpooler Landbesitz Annefield Lane, woraus mit der Zeit die Anfield Road wurde. Hier entstand 1884 das Stadion des FC Everton bzw. FC Liverpool. Liverpools Desinteresse an London und dem englischen Süden korrespondiert mit dem Desinteresse südenglischer Tory-Snobs am englischen Nordwesten, speziell an Liverpool. In den That- cher-Jahren plädierten einige Tories dafür, Liverpools wirtschaftliche und soziale Probleme dadurch zu lösen, dass man die Stadt einfach untergehen lasse. Spätestens seit Ende der 1990er Jahre lässt sich in England beobachten, dass der britische Nationalismus mehr und mehr einem englischen weicht. (Ein britischer Nationalismus wird eigentlich nur noch von Nordirlands Protestanten und den schot- tischen Tories gelebt.) Als die Engländer 1996 gefragt wurden, ob sie sich eher als Engländer oder als Briten sehen, präferierte nur ein knappes Drittel der Engländer eine englische Identität. 2011 sahen sich dagegen nur 16 % in erster Linie als Briten. Aber eine Bevölke- rung wie in Liverpool, die überwiegend irischen, schottischen und walisischen Ursprungs ist, kann sich mit einem englischen Nationa- lismus kaum anfreunden.

14 Fußballstadt Liverpool Die Stadt Liverpool gewann seit Einführung der Football League 1888 27 englische Fußballmeisterschaften. Allein 18 gingen auf das Konto des FC Liverpool. Nur Manchester United konnte mit 20 noch mehr erringen. Lokalrivale Everton wurde neunmal Meister. Obwohl die Liverpooler Klubs seit 1990 keinen Meistertitel mehr holen konnten, hat die Stadt im englischen Fußball noch immer die Nase vorn. Aus Manchester kam der Meister bislang 26-mal, aus London 21-mal. Der FA-Cup wurde zwölfmal von den „Roten“ und den „Blauen“ gewonnen. Siebenmal triumphierte Liverpool, fünfmal Everton. Hier liegen London und Manchester klar vor Liverpool. Anders sieht es im Europapokal aus, wo Liverpool 13-mal einen Sieger stellte, das letzte Mal im Mai 2019, als man mit Trainer Jürgen Klopp zum sechsten Mal die begehrteste Trophäe im europäischen Klubfußball, den Europapokal der Landesmeister bzw. die Cham- pions League, gewann und damit seinen zwölften europäischen Titel überhaupt. Kein anderer englischer Verein hat den berühmten „Henkelpott“ so häufig erobert wie die „Reds“. Europaweit wird der Klub hier nur von Real Madrid und dem AC Mailand übertroffen. In einer Gesamtwertung für alle europäischen Wettbewerbe (ohne den UEFA-Super-Cup) liegt der FC Liverpool hinter Real Madrid und dem FC Barcelona gemeinsam mit dem AC Mailand auf Rang drei. Real kommt auf 15 Titel, Barça auf zwölf, Liverpool und Milan jeweils auf neun. Der FC Liverpool ist noch mehr als Manchester United und die Londoner Klubs das Gesicht des englischen Fußballs in Europa. Dies gilt erst recht für die deutsche Sicht auf den englischen Fuß- ball. Zwischen dem 17. März 1965 und 19. Februar 2019 mussten deut- sche Teams in den europäischen Pokalwettbewerben 19-mal an der Liverpooler Anfield Road antreten. Den Auftakt machte in der Saison 1964/65 im Europapokal der Landesmeister der 1. FC Köln. Seither gastierten dort noch der FC Bayern (viermal), (dreimal), , Bayer Leverkusen (je zweimal), Ein- tracht Frankfurt, der Hamburger SV, BFC Dynamo Berlin, Borussia Mönchengladbach, 1899 Hoffenheim, der FC Augsburg und 1860 München (je einmal). Die Bilanz für die deutschen Klubs ist nieder- schmetternd: null Siege, vier Remis, 15 Niederlagen. Tore: 9:41. Dem FC Bayern gelang bei seinen vier Auftritten in Anfield nicht ein Tor.

15 Allerdings bleibt der FC Liverpool auch mit dem ersten Triumph eines deutschen Klubs auf der europäischen Bühne verbunden. In der Saison 1965/66 besiegte Borussia Dortmund die „Reds“ im Finale des Europapokals der Pokalsieger nach 120 Minuten mit 2:1. Anschlie- ßend gab es noch zwei weitere Finalbegegnungen deutscher Vereine mit den „Reds“: Borussia Mönchengladbach zog in den Spielzeiten 1972/73 und 1976/77 im UEFA-Pokal bzw. Europapokal der Landes- meister jeweils den Kürzeren. Der FC Liverpool ist aber auch mit zwei der größten Katastrophen im europäischen Fußball verbunden, die sich allerdings beide nicht in seiner Stadt zutrugen: Heysel 1985 und Hillsborough 1989.

Fußball, Musik und Politik Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte des FC Liverpool, aber auch ein wenig die Geschichte der Stadt. Da dürfen Ausflüge in die Musik sowie die sozialen und politischen Kämpfe nicht fehlen. Hierzu haben Uli Hesse, Malte Oberschelp und Pit Wuhrer Exkurse beige- steuert. Moritz Ablinger und Benjamin Schacherl widmen sich der Entfremdung zwischen dem FC Liverpool und dem Stadtteil Anfield, Bernd Beyer erinnert an die Zeit des deutsch-jüdischen Fußballpio- niers Walther Bensemann in Liverpool, und Hardy Grüne, Deutsch- lands wandelndes Fußballlexikon, erklärt, was es mit dem Wappen des Klubs auf sich hat. Mein besonderer Dank gilt den Lektoren Simon Kraßort und Julia Vogt vom Verlag Die Werkstatt sowie Maura und Phil Evans, sie Irin, er Waliser, die wiederholt großartige Gastgeber bei meinen Besuchen in Liverpool waren.

Dietrich Schulze-Marmeling Juli 2019

16 © Imago Liverpool-Spielern aller Zeiten den achten Platz. einflussreichsten den zu Umfrage einer bei er 2013 belegte Noch 1953. Jahr im Liddell Billy Flügelspieler schottische der Autogrammjägern: von Umringt © Imago mit dem 1983. Meisterpokal siegreiche Team und seinen Manager. Shankly begrüßte sie mit den Worten: „Der Vorsitzende Mao hat niemals eine derartige Demonstra- tion roter Stärke gesehen!“ Über sein Verhältnis zu den Fans existieren zahllose Geschichten. Eine erzählt von der Rückfahrt einer kleinen Gruppe von LFC-Fans vom Auswärtsspiel ihres Teams beim Londoner Klub Queens Park Rangers. Auf dem Bahnsteig entdeckten sie Shankly, der ebenfalls auf den Zug nach Liverpool wartete. Sie näherten sich ihm, in der vagen Hoffnung, vielleicht ein „Hallo“ aus dem Mund des Idols zu ver- nehmen. Aber Shankly beließ es nicht dabei, sondern bat die Gruppe in sein Abteil, wo er eine Stunde lang über seine Fußballphilosophie referierte. Zum Abschied erhielt jeder Fan ein Foto des Trainers mit seiner Unterschrift. Shankly sah sich und seine Spieler als „Diener“ der Community. Der Trainer in einer Ansprache an die Fans: „Seit ich in Anfield bin, habe ich meinen Spielern immer wieder eingetrichtert, dass es ein Pri- vileg ist, vor und für euch zu spielen.“ Shankly wurde von den Fans verehrt, wie vor und nach ihm kein anderer Manager. Für sie war er ein Sachverwalter „des Guten“ in einem Spiel, dessen Deformierung durch kommerzielle Interessen bereits begonnen hatte. Shankly war Liverpools erfolgreichster Sozialarbeiter. , der von 1929 bis 1940 für den FC Everton spielte und später selbst trainierte: „Bill Shankly war Liverpools Antwort auf Vandalismus und Hooliganismus. Die Kids kamen, um Liverpool zu sehen … Er war ihr Held, ihr Fuß- ballgott.“ Bill Shankly starb am 29. September 1981 im Alter von nur 68 Jahren. Die Nachricht von seinem Tode erschütterte die Fans zutiefst. Der zeitgleich tagende Parteitag der Labour Party legte für den Mann, der sich sein Leben lang zum Sozialismus bekannte und den Fußball als eine Form von Sozialismus verstand, eine Schweigeminute ein.

98 KAPITEL 3 Triumphe und Tragödien

Die Jahre 1974 bis 1990 waren die erfolgreichsten in der Geschichte des FC Liverpool. Der Klub gewann fünf europäische Trophäen (viermal den Europapokal der Landesmeister, einmal den UEFA-Pokal) und zehnmal die First Division. Allerdings fallen in diesen Zeitraum auch die größten Tragödien in der LFC-Geschichte. Beim Europapokalfinale 1985 stürmten Liverpooler Hooligans im Brüsseler Heyselstadion einen Block mit Fans von Juventus Turin. Bei der folgenden Massenpanik kamen 39 Juve-Fans ums Leben. Und am 15. April 1989 wurden beim FA-Cup-Halbfinale in Sheffield gegen Nottingham Forest 96 Fans der „Reds“ auf einer überfüllten Steh- tribüne getötet.

Bill Shanklys Nachfolger wurde sein Assistent Bob Paisley, was damals im englischen Fußball noch höchst ungewöhnlich war. Der bereits 55-Jährige erzählte den Spielern, dass er nicht nach dem Job gegiert habe, „aber irgendeiner muss ihn schließlich machen“. Der Vorstand dachte auch über Shanklys Empfehlung und nach. Beide waren deutlich jünger als Paisley, Robson war 41, Charlton erst 39. Aber Charltons Idee vom Spiel passte nicht zu den „Reds“. Robsons schon eher, aber LFC-Boss Robinson sah die Fort- setzung von Shanklys Arbeit am ehesten durch einen Mann aus dem Boot Room garantiert. Paisleys Training unterschied sich nicht groß von dem seines Vor- gängers. Die schon unter Shankly endlos praktizierten Fünf-gegen- Fünf-Spiele wurden stärker auf den kommenden Gegner ausgerichtet. War dieser dafür bekannt, dass er tief stand, zählte ein Tor nur dann, wenn sich alle Spieler der angreifenden Mannschaft jenseits der Mit- tellinie befanden. Die Spieler sollten so zu einer hochstehenden Ver- teidigung ermutigt werden. Um die schnelle Zirkulation des Balles zu üben, waren nur zwei Kontakte erlaubt. Im Falle eines dritten Kontakts war der Ball dem Gegner zu übergeben. Erwartete der LFC einen Top- gegner und folglich ein intensives Spiel, wurde das Fünf-gegen-Fünf

99 mit Pressing gespielt. Spielte ein Spieler einen Pass und blieb anschlie- ßend stehen, bekam der Gegner einen Freistoß zugesprochen. Die Bälle wurden so hart aufgepumpt, dass sie Betonkugeln glichen. Aber der knallharte Ball war schwieriger zu kontrollieren, schulte also die Ballsicherheit. Zwischen den einzelnen Spielformen wurde gerannt. Fünfmal 80 Meter und zurück zur nächsten Fünf-gegen-Fünf-Spiel- form; viermal 40 Meter und zurück zur nächsten Fünf-gegen-Fünf Spielform usw. Typische Anweisungen vom Spielfeldrand waren: „Schau nicht auf den Ball“, „halt den Kopf hoch“, „beweg dich weiter“, „lass den Ball die Arbeit machen.“ Paisley beobachtete die Einheiten von seinem Büro aus. Die Spieler sahen ihn häufig am Telefon. Dann gab der Manager den Buchmachern seine Pferdewetten durch. Paisleys Trainingsregime war härter als Shanklys, außerdem inte- ressierte er sich mehr für taktische Fragen. Der Manager erzählte, daheim würde er sein Hirn strapazieren – auf der Suche „nach etwas Neuem, nach kleinen Strohhalmen“. Und während Shankly im 4-3-3- System spielen ließ, präferierte Paisley ein 4-4-2, das Züge eines 4-4- 1-1 hatte, was mit , dem überragenden Spieler in seiner Amtszeit, zu tun hatte. Uli Hoeneß attestierte Paisleys „Reds“, sie seien eine kontinentaleuropäisch spielende Mannschaft geworden.

Weiter erfolgreich Shankly hinterließ Paisley ein intaktes und zukunftsfähiges Team, das im Sommer 1974 noch durch den 23-jährigen und den gleichaltrigen verstärkt wurde. Kennedy war die letzte Verpflichtung Shanklys. Er kam für 180.000 Pfund von Arsenal und war von Haus aus Mittelstürmer, was auch seine Wunschposition war. Aber vorne hatte Paisley bereits Keegan und Toshack, weshalb er den Neuzugang ins linke Mittelfeld zurückzog. Eine Maßnahme, die sich als sehr erfolgreich erwies. Kennedy erzielte auch aus dieser Position so manches Tor. Phil Neal kam von Northampton Town, Liverpool musste dem Viertligisten nur 60.000 Pfund zahlen. Ein Schnäppchen, denn Neal war ein gutes Jahrzehnt der zuverlässigste LFC-Akteur. Der Abwehr- spieler blieb bis zum Ende der Saison 1984/85. Von den 462 Liga- spielen seines Klubs in diesem Zeitraum bestritt er 455. In den zehn Spielzeiten zwischen August 1975 und Mai 1985 verpasste er nur eine

100 Begegnung. Neal stand mit den „Reds“ fünfmal in einem europäischen Finale und ist der einzige Liverpooler, der vier europäische Trophäen gewann. Für die englische Nationalelf lief er 50-mal auf. Paisleys erste Saison endete trophäenlos. In der Meisterschaft wurde man mit zwei Punkten Rückstand auf Brian Cloughs Derby County Zweiter. Im FA-Cup kam das Aus in der vierten Runde bei Ipswich Town (0:1), und im Europapokal der Pokalsieger schied Liver- pool nach zwei Unentschieden bereits in der zweiten Runde gegen Ferencváros Budapest aus, das in Anfield war torreicher gewesen, sodass die Auswärtstorregel den Ausschlag zugunsten der Ungarn gab. Die Saison 1975/76 begann mit einer Niederlage am ersten Spieltag bei den Queens Park Rangers (0:2). Der Klub aus Shepherd’s Bush im Westen Londons war Liverpools härtester Konkurrent im Kampf um den Meistertitel. Erst in der Rückrunde kamen die „Reds“ richtig in Fahrt. Die ersten neun Spiele blieb die Mannschaft ungeschlagen, den Auftakt bildete eine 2:0-Revanche gegen den Meisterschaftskonkurrenten. Es folgte eine Minikrise: Am 31. Spieltag unterlag man bei Arsenal mit 0:1, und aus den folgenden beiden Spielen gegen Derby und Middlesbrough wurde nur ein Punkt geholt. Aber an den Spieltagen 34 bis 41 verließ man siebenmal als Sieger den Platz, einmal reichte es nur zu einem Remis. Als Liverpool letztmalig auflief, hatten die Queens Park Rangers ihr Programm bereits komplett abgespult und lagen noch einen Punkt vor den „Reds“. Die Entscheidung im Titelrennen fiel also im letzten Spiel – bei den Wolverhampton Wanderers. Spannender hätte der Meis- terschaftskampf nicht ausfallen können, zur Halbzeit führten die Gast- geber noch mit 1:0, womit sie QPR zum Meister gemacht hätten. Aber am Ende gewannen die „Reds“ mit 3:1 und lagen nun in der Schlussab- rechnung einen Punkt vor ihrem Konkurrenten. Der FC Liverpool gewann in dieser Saison auch noch den UEFA- Pokal. Gegner in den beiden Finalspielen war der FC Brügge mit dem späteren Kölner Roger Van Gool und dem ehemaligen Gladbacher Ulrik le Fevre. In Anfield lagen die Gäste bereits nach 13 Minuten durch Tore von Raoul Lambert und Julien Cools mit 2:0 in Front. Erst nach einer Stunde gelang Ray Kennedy der Anschlusstreffer für die Reds. Doch nun ging es Schlag auf Schlag. 61. Minute: Ausgleich durch , der nach der Pause für gekommen war. (Toshack war mit sechs Treffern der erfolgreichste Torschütze seines

101 Teams in dieser UEFA-Pokal-Kampagne, gefolgt von Jimmy Case, der fünfmal traf.) 64. Minute: 3:2 für Liverpool durch einen von verwandelten Elfmeter. Bei diesem Spielstand blieb es bis zum Abpfiff durch den deutschen Referee Ferdinand Biwersi. Die „Reds“ hatten das Spiel gedreht, aber zwei Gegentore im eigenen Stadion bedeuteten keine glänzende Ausgangsposition für das Rückspiel in Brügge. Ein 1:0- oder 2:1-Sieg würde den Belgiern genügen. In Brügge gingen die Belgier erneut früh in Führung, als Raoul Lambert in der elften Minute einen Strafstoß im LFC-Tor versenkte. Nur vier Minuten später gelang Kevin Keegan der Ausgleich. 1:1 stand es auch noch nach 90 Minuten, womit der FC Liverpool zum zweiten Mal nach 1973 den dritten europäischen Wettbewerb gewonnen hatte.

Erstmals Könige von Europa In der Saison 1976/77 wurde der LFC nach einem engen Rennen mit Manchester City und Ipswich Town, die nur einen Punkt hinter den „Reds“ abschlossen, zum zehnten Mal Meister. Was aber immer noch im Trophäenschrank fehlte, war der Europapokal der Landesmeister, die begehrteste der drei europäischen Trophäen. Diese Saison bot eine neue Chance. Der erste Gegner war mehr einer zum Aufwärmen: Nordirlands Vertreter Crusaders aus dem Norden Belfasts wurde aus- wärts mit 2:0 und in Anfield mit 5:0 besiegt. Im Achtelfinale musste der LFC zunächst an die türkische Schwarzmeerküste reisen, wo man Trabzonspor mit 0:1 unterlag. Das Rückspiel wurde aber mit 3:0 gewonnen. Auch im Viertelfinale gegen den französischen Vertreter AS Saint-Étienne kassierte man zunächst eine 0:1-Auswärtsniederlage. In Anfield siegten die „Reds“ in einem wesentlich schwierigeren und engeren Spiel mit 3:1. Sechs Minuten vor Schluss lag Liverpool durch Tore von Keegan und Kennedy nur mit 2:1 in Führung – ein Tor zu wenig für das Halbfinale. In der 70. Minute hatte Paisley den 20-jäh- rigen, aus dem eigenen Nachwuchs stammenden auf den Rasen geschickt. Für ihn musste der schwache Toshack weichen. Der Wechsel erwies sich als goldrichtig. Fairclough erhöhte nun über die linke Seite den Druck auf die gegnerische Abwehr. In der 84. Minute nahm der Edelreservist einen Steilpass auf, setzte sich gegen zwei Abwehrspieler durch und erzielte das erlösende 3:1. ITV-Reporter Gerald Sinstadt feierte den Torschützen als Superjoker:

102 „Supersub strikes again!“ Keine Probleme bereitete Halbfinalgegner FC Zürich. Im Zürcher Letzigrund gewann der LFC mit 3:1, in Anfield mit 3:0. Das Finale war mit dem Gegner Borussia Mönchengladbach eine Neuauflage des UEFA-Pokalfinales von 1973. 25.000 Fans begleiteten den FC Liverpool nach Rom. Vor 52.000 Zuschauer im Olympiasta- dion gingen die „Reds“ in der 28. Minute durch Terry McDermott in Führung. Allan Simonsen konnte in der 51. Minute für die Gladbacher ausgleichen. In der 65. Minute erzielte Tommy Smith die erneute Füh- rung, und in der 83. Minute machte Phil Neal mit einem verwandelten Elfmeter den Deckel drauf. Liverpool siegte hochverdient. Ludger Schulze schrieb in seinem Buch Die Geschichte des Euro- papokals (1990): „Im FC Liverpool war ein Team an die Macht gekommen, das auf den ersten Blick das Rüstzeug für eine epochale Beherrschung des europäischen Fußballs zu besitzen schien. Denn die Mannschaft war, ähnlich wie Manchester United in den fünfziger Jahren, langsam gewachsen, trotz Erfolgen auf dem Teppich geblieben. Der Verein wurde geführt wie ein Familienunternehmen, Seriosität und Kontinuität galten als oberstes Gesetz. Der Platzwart zum Bei- spiel versah über 50 Jahre getreu seinen Dienst, sein Vater hatte den Rasen 41 Jahre lang gemäht. Und Manager Bob Paisley hatte mehr als ein halbes Leben an der Anfield Road, dem berühmt-berüchtigten Stadion, zugebracht. Vom Spieler war er über den Schuhputzer und Zeugwart zum ‚Big Boss‘ aufgestiegen.“ Liverpool habe dem Europa- cup-Geschehen zwar kaum Glanzlichter aufgesteckt, sei seinen Kon- trahenten aber „konditionell und athletisch bei weitem überlegen“ gewesen. In dieser Saison wäre sogar das „Triple“ möglich gewesen, aber im FA-Cup-Finale unterlag man Manchester United mit 1:2. Im Sommer 1977 verließ Kevin Keegan Liverpool und wechselte für 500.000 Pfund zum Hamburger SV. Keegan war einer der ersten engli- schen Spieler mit einem Agenten und verstand besser als andere, sein kommerzielles Potenzial auszuschöpfen. In der Saison 1977/78 war der Neuzugang der bestbezahlte Bundesligaprofi. Als Nachschlag für seine erfolgreiche Saison mit dem FC Liverpool, wo er allerdings bei einem Teil der Fans nicht mehr wohlgelitten war, wurde er 1978 erstmals mit dem Ballon d’Or ausgezeichnet. Eine Saison später wurde Keegan mit dem HSV deutscher Meister und gewann die Trophäe ein zweites Mal.

103 EINWURF Gladbachs Trauma: Der FC Liverpool von Uli Hesse

Am 27. März 1979, einem Dienstag, kamen mehr als 25.000 Zuschauer ins Stadion an der Anfield Road, um einen der ganz Großen zu ehren, nämlich . Was an jenem Tag stattfand, würde man im Deutschen sein Abschiedsspiel nennen, obwohl es die Sache nicht ganz trifft, denn Hughes spielte noch fünf weitere Jahre Profifußball, wenn auch nicht für die „Reds“. Engländer bezeichnen solche Par- tien als Testimonials, wörtlich: Ehrengaben, weil es Einlagespiele sind, deren Einnahmen einem verdienten Spieler zugutekommen, um ihn finanziell abzusichern. Deswegen luden Liverpooler Helden zu Testimonials norma- lerweise populäre britische Klubs ein, etwa Chelsea (Ian St. John) und Celtic () oder gar Auswahlmannschaften der besten Spieler auf der Insel (Tommy Smith). Hughes war der erste Spieler in der Geschichte des FC Liverpool, der einen Verein vom Kontinent ersuchte, zu seinem Abschiedsspiel anzutreten: Borussia Mönchen- gladbach. Die Rheinländer sagten zu, weil ihnen bewusst war, dass Ende der 1970er Jahre eine ganz besondere Beziehung zwischen Liver- pool und dem deutschen Fußball bestand, insbesondere zwischen Liverpool und Gladbach. Um diese Beziehung in ihrem vollen Ausmaß zu verstehen, muss man sich zwei Dinge vor Augen führen. Erstens: Die Borussia war in jenem Jahrzehnt die erfolgreichste, beste und gefürchtetste Mannschaft der Bundesliga, auch wenn Bayern München auf internationalem Par- kett mehr Titel einheimste (und mehr Glück hatte). Zweitens: dass in jener Zeit – vor Privatfernsehen und Pay-per-View oder gar Internet – das deutsche Publikum nur sehr wenig Fußball zu sehen bekam, schon gar nicht aus fremden Ländern. Das hieß, dass man als Fan zwar Namen von ausländischen Stars wie John Toshack, Kevin Keegan oder Kenny Dalglish kannte – aber eben nur die Namen. Erst in den späteren Runden des Europacups bekam man solche Fußballer als Menschen aus Fleisch und Blut zu sehen, und dann auch nur, wenn sie gegen deutsche Mannschaften gelost wurden. Deshalb waren es vor allem Spieler in Rot aus einer

104 englischen Hafenstadt, die für eine oder vielleicht sogar zwei Genera- tionen von deutschen Fans zu beinahe mythischen Figuren wurden. Liverpool lieferte sich in den 1970ern nämlich gleich fünf epische Duelle mit Gladbach, und da die Roten in der Gesamtwertung stets als Sieger vom Rasen gingen, kamen sie vielen, vor allem jüngeren deut- schen Zuschauern vor wie Supermänner von einem anderen Stern, die irgendwo in einer fernen Galaxie existierten, um dann plötzlich im April oder Mai zur Erde zu kommen und die beste Elf der Bundes- liga zu zerlegen. Gut, Keegan sah nicht aus wie ein Titan, aber ker- nige Typen wie Tommy Smith, oder Ray Kennedy wirkten auf kleinen Schwarz-Weiß-Fernsehern immer athletischer als ihre deutschen Gegner. Offenbar empfanden nicht nur die Zuschauer das so, denn vor vielen Jahren sagte mir Horst Wohlers, der von 1975 bis 1979 Teil der Fohlenelf war: „Das war eine tolle Mannschaft. Wenn man gegen die spielte, sah das fast so aus wie moderner Fuß- ball. Früher, in den Siebzigern, hatte man mehr Zeit und mehr Raum, alles war etwas langsamer. Aber die Engländer gingen immer drauf, da hatte man nie Zeit.“ Wie passend, dass gleich das erste Duell der beiden Teams bibli- sche Anklänge hatte. Denn fast alle Beobachter fühlten sich an eine Sintflut erinnert, als Liverpool und Gladbach am Abend des 9. Mai 1973 den Rasen des Stadions an der Anfield Road betraten, um das erste Finale um den UEFA-Cup auszutragen. Fast eine halbe Stunde lang kämpften sich die Mannschaften bei Dauerregen durch den Morast, dann brach Schiedsrichter Erich Linemayr aus Linz die Partie beim Stand von 0:0 ab. Der Kicker machte am nächsten Tag den „harten, vielfach gewalzten Lehmuntergrund“ dafür verantwortlich, dass das Wasser nicht ablaufen konnte. Doch wenn man sich in Liverpool bis heute mit etwas auskennt, dann ist es Regen. Und wenn es damals einen legendären Platzwart gab, dann war das Arthur Riley, der als Nachfolger seines Vaters Bert von 1928 bis 1982 (!) die Spielfläche des FC Liverpool hegte und pflegte. (Riley wurde übrigens durch seinen langjährigen Gehilfen Terry For- syth abgelöst, der den Job so lange machte, nämlich bis Ende 2015, dass er Jürgen Klopp noch kennenlernte.) Nein, es lag nicht am Untergrund, sondern an einer Verstopfung in der Drainage, dass das erste Duell zwi- schen Fohlen und „Reds“ gleich am Folgetag wiederholt werden musste.

105 Diesmal ließ Bill Shankly den Waliser John Toshack auflaufen, der sich tags zuvor beim Trainer noch sehr deutlich über seine Nicht- berücksichtigung beschwert hatte. Prompt machte Toshacks Luftho- heit den Unterschied – Liverpool gewann 3:0. Trotzdem wurde das Rückspiel in Deutschland noch zu einer knappen Angelegenheit, denn schon vor der Pause brachte Jupp Heynckes seine Farben mit 2:0 in Führung. Die Borussia kam auf 11:2 Ecken, als der Schlusspfiff ertönte, bejubelten dann aber doch 5.000 englische Fans (darunter so mancher Angehörige der Britischen Rheinarmee) den ersten Titel des FC Liver- pool auf internationaler Ebene. Der zweite wurde gegen Brügge errungen (UEFA-Cup 1976), der dritte dann wieder gegen Gladbach. Denn am 25. Mai 1977 standen sich die neuen Rivalen in Rom gegenüber und spielten um die bedeu- tendste Trophäe von allen, den Europacup der Landesmeister. Etwa 27.000 Fans begleiteten die „Reds“ in die ewige Stadt. Ein berühmtes Banner, das darauf anspielte, dass die Elf mit dem jungen in der Abwehr in den beiden Runden zuvor Teams aus Frankreich und der Schweiz besiegt hatte, zeugte von ihrem großen Optimismus: „Joey Ate The Frogs Legs, Made The Swiss Roll, Now He’s Munching Gladbach.“ Und sie behielten recht, denn das Team aus Liverpool „mampfte“ die Deutschen auf, vor allem dank Kevin Keegan, der neun Tage nach dem Finale einen Vertrag beim Hamburger SV unter- schrieb. Zwar erzielte er beim 3:1 keinen Treffer selbst, aber sein Job war es, seinen Manndecker Berti Vogts aus dem Zentrum wegzulo- cken. So entstand das 1:0, während das vorentscheidende 2:1 dadurch fiel, dass bei einer Ecke alles auf die kopfballstarken Keegan und Ray Kennedy achtete, was Tommy Smith erlaubte, in seinem 600. Spiel für Liverpool sein wichtigstes Tor zu erzielen. Willi Schulz hatte recht, als er in seiner Kolumne für die Welt am Sonntag schrieb: „Vogts war gegen Keegan einfach überfordert. Vor allem deshalb, weil der Engländer in der besseren Mannschaft stand.“ Doch die bessere Elf brauchte auch Glück. So traf Rainer Bonhof den Pfosten, als es noch 0:0 stand. Und nachdem Allan Simonsen mit einem Traumtor für den Ausgleich gesorgt hatte, war Uli Stielike plötzlich frei vor Torwart , der den Schuss blockte. „Ray hat vielleicht schon spektakulärere Paraden gezeigt“, sagte Trainer Bob Paisley nach dem Spiel, „aber ich bezweifle, dass eine entscheidendere darunter war.“

106 Trotz oder vielleicht wegen der Niederlage erwarben sich die Glad- bacher an jenem Abend den Respekt der Engländer. Jene wussten, dass Simonsen am Tag zuvor einen Hexenschuss erlitten hatte und stark gehandicapt gewesen war. Sie zeigten sich sehr davon beeindruckt, dass Vogts zum Siegesbankett ins Liverpooler Mannschaftshotel kam, um dem Gegner zu gratulieren. („Es war eine großartige Geste“, sagte Keegan. „Ich glaube nicht, dass ich das gekonnt hätte, wenn die Rollen anders verteilt gewesen wären.“) Die Anhänger der beiden Klubs ver- brüderten sich ebenfalls, obwohl diese Kameradschaft in Gladbach etwas intensiver gelebt wird, da die Idee von Fanfreundschaften in England nie wirklich Fuß fassen konnte. Nur zehn Monate später trafen sich die neuen Freunde erneut, diesmal nicht im Finale um den Pokal der Landesmeister, sondern eine Runde vorher, im Halbfinale. Und wieder zog die Borussia den Kürzeren. Das Heimspiel (im Düsseldorfer Rheinstadion) wurde durch einen berühmten Freistoßhammer von Bonhof in der vorletzten Minute mit 2:1 gewonnen, doch an der Anfield Road stürmten die Gastgeber, „wie die Berserker“, wie Bonhof es ausdrückte. Ein toller Angriff über Souness, Dalglish und Kennedy brachte früh das 1:0, und selbst nach dem 2:0 griffen die Engländer weiter an, gerade so, als bräuchten sie noch Tore. Eines bekamen sie noch, dann war Gladbach zum dritten Mal an den „Reds“ gescheitert. Die danach wieder mal Brügge schlugen und ihren zweiten Henkelpokal gewannen. Man kann also verstehen, warum Emlyn Hughes nach solchen Dramen die Deutschen zu seinem Abschiedsspiel einlud. Oder warum der Kop an jenem Tag Lieder für Vogts und Simonsen anstimmte. Und einmal, ja einmal gewannen die Fohlen, denn das einzige Tor des Tages gelang Ewald Lienen in der 28. Minute nach einer Ecke. Für diesen 1:0-Sieg bekam Gladbach endlich eine Trophäe. Sie zeigte ein christliches Motiv und war von einer Keksfirma gestiftet worden. Ein Trostpreis für viele verpasste Chancen.

„Henkelpott“-Verteidiger Shankly hatte sein erstes großes Team um die drei Schotten Ian St. John, Ron Yeats und gebaut. Paisley plante sein Post-Keegan-Team ebenfalls mit drei Schotten als Eckpfeilern: Kenny

107 © Imago © Das „Wunder von Istanbul“: präsentiert stolz den Henkelpott. © Imago der Ecke Jordan Street/Jamaica Street zu bestaunen ist. ist. bestaunen zu Street Street/Jamaica Jordan Ecke der 2018 an Ende seit dort das Wandbild, dieses zeigt ist, Liverpool in Klopp beliebt Wie DIE GESCHICHTE DES FC LIVERPOOL

DIETRICH SCHULZE-MARMELING

DIETRICH SCHULZE-MARMELING REDS „We’re not English, we’re Scouse.“ Fans des FC Liverpool

„Die Stadt, der Verein, das Stadion – das fügt sich zu einem Mythos zusammen. Das muss man gesehen und erlebt haben.“ Didi Hamann ie Geschichte des FC Liverpool

Bill Shankly und Jürgen Klopp. Heysel und Hillsborough. Steven REDS D Gerrard und Ian Rush. Istanbul 2005 und Madrid 2019. Die Geschichte des FC Liverpool ist reich an Triumphen und Tragödien, aber auch an legendären Spielern und Trainern. Dieses Buch nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Historie des Kultklubs von der Merseyside und macht dabei auch Ausflüge in die Musikszene der Stadt sowie in ihre sozialen und politischen Kämpfe.

ISBN 978-3-7307-0438-7 VERLAG DIE WERKSTATT