SCHLHAGLICHT Meinungen I Thesen I Aspekte Das Oberappellationsgericht in Lübeck – ein kurzer Nachruf aus Anlass seiner Einsetzung vor 200 Jahren Dr. Marcel Welzel, Vizepräsident des Landgerichts Lübeck

Nach langjährigen Verhandlungen über seine Einrichtung ligen Verfahren vergegenwärtigt, ist dies angesichts heutiger nahm das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Bre- Gegebenheiten kaum noch vorstellbar. men, am Main, und Lübeck am 13. No- Das Oberappellationsgericht in Lübeck ist eng verknüpft vember 1820 seinen Betrieb auf. Bemerkenswert ist die Grün- mit seinem ersten Präsidenten Georg Arnold Heise. Dessen dung des gemeinsamen Gerichts in Lübeck als der kleinsten Amtszeit dauerte bis 1851. In den drei Jahrzehnten seiner Prä- der beteiligten Städte. Ein wichtiger Grund dafür lag sicherlich sidentschaft erlangte das Gericht hohes Ansehen. Es hatte in der großen Rechtstradition dieser Hansestadt, wo das Ge- große Bedeutung für die Entwicklung des Zivil- und insbeson- richt den bis dahin bestehenden Oberhof ablöste. Das Ober- dere des Handelsrechts; und zwar weit über die vier beteilig- appellationsgericht existierte von 1820 bis 1879 und hatte ten Städte hinaus. Hervorzuheben ist auch die besondere Ver- seinen SitzSitz zunächst zunächst für für kurze kurze Zeit Zeit in inden den Schüsselbuden Schüsselbuden Nr. Nr.15 bindung zwischen Wissenschaft und Praxis, die oftmals in den und15 und anschließend anschließend in inder der Königstraße Königstraße 21, 21, demdem ehemaligen Urteilen des Gerichts ihren Ausdruck fand. Dahinter standen Haus der Lübecker Zirkelgesellschaft. Heute wird das Gebäu- Richterpersönlichkeiten wie der zuvor erwähnte Georg Arnold de von der Willy-Brandt-Stiftung als Museum genutzt. Heise, der vor seiner Ernennung zum Gerichtspräsidenten als Rechtsprofessor in Heidelberg und Göttingen tätig war. Sei- ne beiden Nachfolger Karl Georg von Wächter und Johann Friedrich Martin Kierulff hatten zuvor ebenfalls als Professoren gewirkt. Auch viele Gerichtsräte waren von wissenschaftli- chem Rang. wird die Äußerung zuge- schrieben, dass es für einen wissenschaftlichen Juristen der damaligen Zeit in Deutschland nur zwei höchste Ehren gab: Nachfolger Savignys auf seinem Pandektenlehrstuhl in Berlin zu werden und an Heises Stelle in Lübeck zu treten (Schultze- von Lasaulx, Georg Arnold Heise, in: Neue Deutsche Biogra- phie 8 (1969), S. 453 f.). Nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit durch die preußi- sche Annexion schied zunächst Frankfurt am Main zu Beginn des Jahres 1867 aus dem Verbund aus. Als Folge wurde der Name des Gerichts in „Oberappellationsgericht der Freien Hansestädte“ geändert und das Gericht auch als „Hansea- tisches Oberappellationsgericht“ bezeichnet. Anschließend folgte die Abgabe der Zuständigkeit für das Handelsrecht an das Reichsoberhandelsgericht in Leipzig, womit dem Gericht eine Kernzuständigkeit genommen war. Mit der Neuorganisa- tion der Gerichtsverfassung durch die Reichsjustizgesetze im Jahr 1879 wurde das Oberappellationsgericht schließlich am 1. Oktober 1879 aufgelöst. Die herausragende Bedeutung des Gerichts und das Zu- sammenwirken von Wissenschaft und Praxis wird in einem Nachruf von Rudolf von Jhering auf Gottlob Walther Friedrich Agathon Wunderlich, einen im Jahr 1878 verstorbenen Ober- appellationsrat, deutlich. Er formulierte: „So konnte man das Lübecker O.A.Gericht als den gelehrten Gerichtshof Deutsch- Das Gericht war die dritte und zugleich oberste Berufungs- lands bezeichnen, und die deutsche Wissenschaft hat die Pro- instanz in Zivil- und Strafsachen für die Gerichte der vier be- be, zu der sie hier in Verbindung mit der Praxis berufen ward, teiligten freien Reichsstädte. Außerhalb seiner eigentlichen mit Ruhm bestanden; die Lübecker Urtheile gehörten zu den- Zuständigkeit wurde das Gericht – zuerst von Bayern und jenigen, denen der Praktiker wie der Theoretiker in gleicher Preußen, später auch von anderen Staaten – als Schiedsge- Weise Anerkennung zollte, es fanden sich darunter wahre richt bei Streitigkeiten zwischen den Staaten gewählt. Neben Meisterstücke, gleichmäßig nach Form und Inhalt, Leistungen den Rechtsprechungsaufgaben oblag dem Gericht die Prüfung die auf wenig Seiten ganze dickleibige juristische Monogra- der juristischen Kandidaten aus den vier Städten. Das Oberap- phien aufwogen.“ (Jhering, Jahrbücher für die Dogmatik des pellationsgericht bestand aus einem Präsidenten, sechs Ge- heutigen römischen und deutschen Privatrechts Bd. 17 (1879), richtsräten, einem Sekretär und zwei Kanzlisten. Selbst, wenn S. 156.) Solche Urteile wünscht man sich bisweilen auch 200 man sich die lange Zeit bestehende Schriftlichkeit der dama- Jahre nach der Gründung des Oberappellationsgerichts.

444 SchlHA 11/2020