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Internationaler Rundbrief Nr. 49 Fe- bruar 2004 Karl-Leisner-Kreis ______

Der Bamberger Reiter

MÖCHTEST NICHT DU DIESER REITER SEIN? – Karl Leisner am 10.11.1935

1 Zum Umschlagbild: Karl Leisner hat die ersten beiden Seiten seines zu Beginn des Wintersemesters 1935/36 begonnenen Tagebu- ches mit einer Kunstkarte vom Bamberger Reiter und einem Text gestaltet, der auf der Rückseite dieses Rund- briefes abgebildet ist.

Redaktionsschluß für den Februar-Rundbrief 2005 ist der 15. November 2004.

Impressum: Herausgeber: Internationaler Karl-Leisner-Kreis e.V. (IKLK) Redaktion: Hans-Karl Seeger, Klaus Riße Geschäftsstelle: Leitgraben 26, 47533 Kleve-Kellen Telefon 02821/92595; Telefax 02821/980331

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Bildnachweis: Umschlagbild vorne und hinten IKLK-Archiv; S. 10 Dr. Hans Harro Bühler; S. 23, 41, 84 IKLK- Archiv; S. 37, 45, 54, 55, 57 Archiv Latzel; S. 43, 51 Archiv Altgassen; S. 82 Heidi Hinzmann; S. 85 Dr. Georg Kaster.

Satz: Hans-Karl Seeger Druck: Massing GmbH, Emmerich

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Inhalt Seite An die Freunde von Karl Leisner 2 Einleitung 4 Karl Leisner und der Bamberger Reiter 6 Meditation zum Bamberger Reiter von Weihbischof Werner Radspieler, Bamberg 13 Der Bamberger Dom und sein Reiter – kunsthistorische Erkenntnisse 15 „Jenseits des Tales standen ihre Zelte“ 18 In Memoriam Josef Neunzig 23 Erinnerungen an Johannes Sonnenschein 37 „Was mir Karl Leisner bedeutet“ 42 Unterwegs auf dem Jakobsweg in Spanien 43 Karl Leisner hörte Peter Wust 59 Der Heilige Arnold Janssen aus Goch 78 Straßen und Gebäude benannt zu Ehren Karl Leisners 81 Karl Leisner als Patron einer Seelsorgeeinheit in Cambrai (Frankreich) 81 Karl Leisner-Haus in Gescher 81 Karl Leisners Sterbezimmer in Planegg 82 Karl Leisner-Haus in Wesel 83 Karl Leisner-Straße in Goch 83 Lebensdaten Karl Leisners 84 Karl Leisners Eltern stammten aus Goch 84 Veröffentlichungen über Karl Leisner 86 Nachrichten aus aller Welt 87 Mitgliederversammlung 2003 87 Register zu den Rundbriefen 88 Aus den Berichten der Kontaktpersonen in Europa 88 Einladung zur Mitgliederversammlung 2004 90 Pilgerfahrt nach Dachau im Dezember 2004 91 Informationsmaterial über Karl Leisner 92

1 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde von Karl Leisner! Neben der legendären Gestalt des Parzival 1 sind es Der KZ-Priester Josef Neunzig, der den Leichnam Kunstwerke wie die Stifterfiguren aus dem Naum- Karl Leisners 1945 von Planegg in die Heimat burger Dom und vor allem der Bamberger Reiter, überführt hat, würde am 1. März 100 Jahre alt. An die in der Jugendbewegung jungen Menschen Ori- ihn erinnern wir in diesem Rundbrief. entierung gaben und für sie richtungsweisend wur- Einer der letzten ehemaligen KZ-Priester und den. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich in Weggefährten Karl Leisners, Pfarrer Johannes Son- Karl Leisners Tagebüchern Hinweise in Wort und nenschein, verstarb am 31. August 2003. Bild auf dieses Kunstwerk finden bis hin zu der Unsere Mitglieder Kordi Altgassen und Ga- Frage: „ Möchtest nicht du dieser Reiter sein? “2 briele Latzel waren beide allein auf dem Jakobsweg In diesem Rundbrief sind die Gedanken zum in Spanien unterwegs. Während Gabriele Latzel die Bamberger Reiter aus dem schriftlichen Nachlaß 300 Kilometer von Hospital de Órbigo nach Sant- Karl Leisners und seiner Familie gesammelt. Sie iago de Compostela innerhalb von 27 Stunden im verdienen sowohl vor dem Hintergrund der Ju- Mietwagen zurücklegte, ging Kordi Altgassen den- gendbewegung als auch des Nationalsozialismus selben Camino in einem Zeitraum von 17 Tagen zu besondere Beachtung. Fuß. Beide schildern ihre Erfahrungen und Ein- Im Nachlaß der Familie Leisner fand sich ein drücke. interessanter Brief, der den stellvertretenden Cha- Karl Leisners Vorlesungsmitschriften von Pro- rakter der Seligsprechung Karl Leisners vorweg- fessor Peter Wust gewinnen an Bedeutung. Der LIT nimmt. Bischof Joseph Höffner (1906-1987) Verlag in Münster bringt dessen Werke neu heraus. schrieb am 19. März 1966 an Mutter Leisner: Der Anfang ist bereits gemacht mit dem bedeuten- Sehr geehrte Frau Leisner! den Buch „Ungewißheit und Wagnis“. Unser Mit- [...] Zu meiner großen Freude ist in den vergan- glied Marc Röbel, der über Peter Wust promoviert, genen Jahren während des Wiederaufbaues des hat Karl Leisners Tagebucheintragungen bezüglich Domes die Pflege des Andenkens an die Blut- Peter Wust gelesen und gibt uns einen Einblick in opfer des niederrheinischen Gebietes in zahlrei- die Bedeutung des Philosophen für Karl Leisner. chen Wallfahrten und Sühne-Gedenkstunden bereits getätigt worden. Dabei ist in wachsen- Unter der Rubrik „Straßen und Gebäude be- dem Maße auch der Wunsch laut geworden, die nannt zu Ehren Karl Leisners“ lassen sich interes- Gebeine Ihres Sohnes, des „KZ-Primizianten“ sante Projekte aufführen: Karl Leisner, stellvertretend zugleich für so viele Karl Leisner wurde Patron einer Seelsorgeein- Priesteropfer, in die Krypta des Domes zu über- heit in Cambrai in Frankreich. führen. [...] Eine Außenwohngruppe der bischöflichen Stif- tung Haus Hall für Behinderte in Gescher hat ihrer Wohngemeinschaft den Namen „Karl- Leisner-Haus“ gegeben. 1 Siehe Rundbrief des IKLK Nr. 42. 2 Tagebucheintrag Karl Leisners am 10.11.1935. Siehe Am 12. August 2003 wurde der Gedenktag Karl auch Rückseite des Rundbriefes. Leisners in Planegg festlich begangen. Das

2 Sterbezimmer Karl Leisners ist nach einer Ge- und Freising) und Bischof Lettmann (Münster), neralsanierung neu zugänglich. deren Vorgänger die Zustimmung zur Weihe gege- Wesel hat wieder ein Karl Leisner-Haus. ben haben, sowie Erzbischof Simon (Clermont). Goch bekommt eine Karl Leisner-Straße. 3 Dazu laden wir besonders herzlich ein und machen In der Familie Haas ist ein Foto des Elternhau- darauf aufmerksam, daß die Emmaus-Reisen-Di- ses von Mutter Leisner in Goch aufgetaucht. özesanpilgerstelle Münster GmbH eine Pilgerreise Das ist Anlaß, die Häuser der Großeltern von vom 17. bis zum 20. Dezember 2004 nach Dachau Karl Leisner in Goch vorzustellen. Zugleich anbietet. Nähere Informationen dazu siehe S. 91. kommt Goch in den Blick durch die Heiligspre- Diesbezügliche Anfragen und Anmeldungen bitte chung von Pater Arnold Janssen, der 1837 in ausschließlich an folgende Adresse richten: Goch geboren wurde. Emmaus-Reisen-Diözesanpilgerstelle Münster GmbH, Horsteberg 21, 48143 Münster, Telefon Nach Hinweisen zu Veröffentlichungen über Karl 0251/265500. Leisner wird die Rubrik „Was mir Karl Leisner bedeutet“ weitergeführt. Der letzte Teil des Rundbriefes bringt wie immer Der für August 2004 zum 60. Jahrestag der Nachrichten und Neuigkeiten. Priesterweihe und Primiz Karl Leisners vorgese- Frau Elisabeth Haas und Schwester Imma Mack hene 50. Rundbrief erscheint als Buch im LIT Ver- gilt unser herzlicher Glückwunsch zur Vollendung lag in Münster und wird den Mitgliedern zuge- ihres 80. Lebensjahres. Mögen sie noch viele Jahre schickt. Im Buchhandel ist es unter der ISBN in Gesundheit und Wohlergehen verbringen. Altern 3-8258-7277-7 zum Preis von 14,90 € erhältlich. bedeutet nicht die Last der Jahre, sondern eine Für eine eventuelle Mitfinanzierung dieses Jubilä- lange Vergangenheit, in der die Einsicht reift, daß umsgeschenkes durch die eine oder andere Spende das Sichtbare der Schleier des Unsichtbaren ist. unserer Mitglieder sind wir sehr dankbar. Ihren irdischen Pilgerweg vollendeten Frau Lui- Da der August-Rundbrief für 2004 entfällt, fin- se Brucklacher aus Ingolstadt, Herr Robert Croo- den Sie auf S. 90 bereits die Einladung zur Mitglie- nenbrock aus Kleve-Materborn, Pater Joseph Haller derversammlung am 3. Adventssonntag – Gau- aus Obernai (Frankreich) und Pfarrer Johannes dete – , dem 12. Dezember 2004, in Xanten. Sonnenschein aus Ahaus. Sie mögen ruhen in Frie- Auf Initiative des dritten Nachfolgers von Mgr den. Gabriel Piguet, dem derzeitigen Erzbischof von Im Namen des Präsidiums grüße ich Sie und Clermont, Mgr Hippolyte Simon, findet anläßlich wünsche Ihnen eine gute Zeit des 60. Jahrestages der Priesterweihe Karl Leisners Ihr durch Bischof Gabriel Piguet am 4. Adventssonn- tag, dem 19. Dezember 2004, um 10.00 Uhr ein

Gedenkgottesdienst im ehemaligen KZ Dachau statt. Es konzelebrieren Kardinal Wetter (München Meine Adresse: Hans-Karl Seeger, Postfach 1304, 48723 Billerbeck 3 Siehe Rundbrief des IKLK Nr. 45, S. 114-116.

3 Einleitung

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die sowohl zu einer Metapher für als auch zum Symbol für Deutschland [wird], was auf subtile Art da- Skulptur des Bamberger Reiters und die der Uta 5 4 zu beiträgt, beides miteinander zu identifizieren. von Naumburg kaum Beachtung. Dies änderte sich Barbara Schrödl schreibt in einem Artikel: infolge der deutschen Kriegsniederlage von 1918, Ein prominenter Vertreter einer rassistischen Kunstge- als man nach Inkarnationen „deutscher Kultur“ schichte ist Schultze-Naumburg, der erklärte, dass je- de Menschenrasse ihr „eigenes Zielbild“ in sich trage, suchte. Nun fanden sich Fotos des Reiters und der 6 Uta in vielen deutschen Wohnzimmern. Die Natio- das darzustellen Aufgabe der Kunst sei (1932, 6 ). Seine Idealvorstellung der ‚nordischen Rasse’ sah der nalsozialisten erkannten in den beiden Darstellun- Autor in Werken des Mittelalters verkörpert, die in der gen das Wesen des deutschen Menschen arischer deutschen Kunstgeschichtsschreibung traditionell eine Rasse. hohe Wertschätzung erfahren. Den Bamberger Reiter In einer Kindergeschichte wurde im Juli 1934 beschreibt er in einem deutlich rassistischen Ton: „Dies ist der Kopf des Reiters, der ein ganzes Helden- der Bamberger Reiter so dargestellt, daß er: gedicht auf die Nordische Rasse bedeutet. In solchen Menschenbildern erblickte der Nordische Mensch sei- ne Führer und ihnen widmete er den Ausdruck seiner 4 Verehrung. Ihnen ähnlich zu sein, war das selbst- Uta von Naumburg, geschaffen um 1250, ist die verständliche Streben eines Jeden, dessen Ehrgeiz berühmteste der 12 Stifterfiguren aus dem Westchor sich ein hohes Ziel setzte.“ (1932, 14f.). 7 des Naumburger Domes, ein Kunstwerk von euro- Die Nationalsozialisten mißbrauchten den Bamber- päischem Rang schon vor der ideologischen Verein- ger Reiter als „arisches Symbol“, indem sie ihn zu nahmung durch den deutschnationalen Kult. Es Propagandazwecken nutzten. Bertold Hinz zitiert stammt aus der Zeit der Stauferkaiser. entsprechende Autoren: Die Franzosen forderten sie nach dem Ersten „Das nach einer idealen Verkörperung suchende na- Weltkrieg (1914-1918) als Reparationsleistung, ein tionale Empfinden hat in ihm ein Bild dessen gefun- Zeichen für die internationale Anerkennung des den, was es selbst in seinen besten Regungen sein Kunstwerkes. möchte.“ (1941 8) oder: „Zugleich aber ist er das Denk- In der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ mal des ewigen Deutschen.“ (19359). 10 von 1937 hing zwischen Frauendarstellungen, die Beim Festzug zum „Tag der deutschen Kunst“ am vorwiegend von expressionistischen Künstlern 15. Oktober 1933 in München wurde auch der stammten, eine Fotografie der Naumburger Uta. So sollte plakativ und didaktisch ein Inbild der kulti- vierten deutschen Frau Werken entgegengesetzt wer- 5 Ullrich S. 323. den, in denen – wie es hieß – „die Dirne zum sittli- 6 Paul Schultze-Naumburg, Kampf um die Kunst, Heft chen Ideal erhoben“ worden war. 36 der Nationalsozialistischen Bibliothek. Geschichtlich ist über Uta (11. Jahrhundert) we- 7 Schrödl, Internetseite. nig bekannt. Sie entstammt dem Adelsgeschlecht der 8 H. Mayer, Bamberg. Askanier und war mit dem Marktgrafen von Meißen, 9 A. Stange, Die Bamberger Domstatuen, ihre Aufstel- Ekkehard II., verheiratet. Wegen Kinder-losigkeit lung und Deutung. vermachte sie ihren gesamten Besitz der Kirche. 10 Hinz S. 29.

4 „Reiter“ mitgeführt. Berthold Hinz zitiert dazu den chung härten nur den Willen des Königs und seine Kunsthistoriker Heinrich Lützeler (1902-1988): Gewißheit: „Es bleibt das Reich!“ Diese Bewährung, Stolz und Treue schufen in dem vollkommenen Reiter Denn der „Reiter“ „vermag ... in sinnbildlicher Dichte den Künder des ewigen Deutschlands. das Verhältnis von Führer und Volk darzustellen“ (1936). 11 Neben diesen im Nachlaß gefundenen Werken Es ist nicht zu erkennen, was Karl Leisner von dem fußen die Ausführungen über den Bamberger Reiter gewußt hat, wozu der Nationalsozialismus den auf folgenden Veröffentlichungen: Bamberger Reiter mißbrauchte. Er betrachtete ihn Jürgen Reulecke, Männerleid im Männerlied. Anmer- auf dem Hintergrund der Jugendbewegung als eine kungen zum „Bündischen“ in der Weimarer Re- publik, in: Siegener Universitätsreden, Podium Idealfigur mit der Frage: „ Möchtest nicht du dieser 16, Ehrenpromotion Prof. Dr. George L. Mosse, Reiter sein? “ Siegen 1999, S. 21-33 (zit.: Reulecke); Seit dem 13. Februar 2003 gibt es in der Dauer- Berthold Hinz, Der „Bamberger Reiter“ in: Martin briefmarkenserie „Sehenswürdigkeiten“ eine Brief- Warnke (Hrsg.) Das Kunstwerk zwischen Wis- marke im Wert von 2,00 € mit dem Bild des Bam- senschaft und Weltanschauung, Gütersloh 1970, berger Reiters. Der Entwurf stammt von Prof. Fritz S. 26-44 (zit.: Hinz); Haase und Sibylle Haase, Bremen. Stefan Fröhling, Andreas Reuß, Der Bamberger Rei- Im Nachlaß von Familie Leisner befinden sich ter – Neueste Ergebnisse der Bauforschung am folgende Bücher, die sich mit dem Bamberger Rei- Bamberger Dom, in: www.historisches-fran- ken.de/bamreiter/reiter02.htm; ter beschäftigen: Wolfgang Ullrich, Der Bamberger Reiter und Uta Oscar Doering, Der Bamberger Dom, Die Kunst dem von Naumburg, in: Etienne François und Hagen Volke Nr. 25, München 1916, Nachdruck 1923. Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I, Helmut Paulus, Der Bamberger Reiter, Gütersloh München 2001 (zit.: Ullrich); 1943 (1. Auflage der Feldausgabe). Barbara Schrödl, „Das steinerne Buch“ Eine virtuelle Wolfram Steinert, Ingeborg Limmer, Der Bamberger Reise zu einem deutschen Baudenkmal im natio- Dom, Langewiesche Bücherei, Königstein o. J. nalsozialistischen Deutschland, in: www-fakkw. Die Bildwerke des Bamberger Doms, Geleitwort von uni-paderborn.de/graduiertenkolleg/english/ Karl Gröber, Insel-Bücherei Nr. 140. links/schroedl_workshop03.htm (zit.: Schrödl); Karl Leisners Schwester Paula schenkte ihrer Hans Schmitt, Jenseits des Tales standen ihre Zelte, Schwester Maria zu Weihnachten 1945 die Novelle in: www.pbhorizonte.de/lieder/jenseits.html (zit.: von Helmut Paulus „Der Bamberger Reiter“. Der Schmitt). Umschlagtext lautet: Es war schwer, an eine Ausgabe der Zeitschrift Durch die Jahrhunderte ist des unbekannten Meisters „Der Feuerreiter“ zu kommen, die Karl Leisner im Reiterstandbild im Bamberger Dom das Idealbild des deutschen Mannes. Der stumme Stein gewinnt Leben Zusammenhang mit dem Bamberger Reiter 1937 und Sprache in dieser den deutschen König beschwö- erwähnt. Unser Mitglied Dr. Hans Harro Bühler in renden Novelle. Helmut Paulus läßt in einfacher und Freiburg stöberte sie in der dortigen Universitätsbi- doch umgreifender, zwingender Darstellung den sie- bliothek auf und ließ daraus Fotos anfertigen, die er genden Glauben in der deutschen Not aufleben. Freundschaft und Verrat der Fürsten und alle Versu- dem Archiv des IKLK schenkte. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Hans-Karl Seeger 11 Hinz S. 35f.

5 Karl Leisner und der Bamberger Reiter

Vom 17. bis 21. Mai 1932 war das 1. Reichstreffen Der Bamberger Reiter ist ein Ausdruck die- der Sturmschar 12 in Koblenz mit Lager, Sportturnier ser Jünglingsgestalt. Er ist auch das Symbol der und Lagerzeitung vom Treffen 13 . Der Bamberger Sturmschar. Sturmschar muß aus dem Geiste Reiter wurde als Leitbild propagiert. 1934 heißt es dieses christlichen deutschen Reiters geformt werden. Wer aber zum Reiter kommen will, muß im Rundbrief der Sturmschar: durch eines der Tore am Bamberger Dom, durch Ein anderes Symbol ist der Bamberger Reiter. die Adamspforte, durch die Fürstenpforte oder Ein ganz anderes Symbol [als das Christusban- durch die Gnadenpforte. Jedes dieser Tore ist in ner]. Eine Gestalt, die uns etwas zu sagen hat, dem anderen geheimnisvoll enthalten. Die die uns verpflichten will zu heroischem Leben. Adamspforte sagt: Lebe ein natürliches Leben, Es müssen alle unsere Kerle mit der Zeit die ein blutvolles, ein kraftvolles Leben. Das Für- Gestalt des Bamberger Reiters kennen lernen. stenportal sagt uns: Lebe ein adeliges, ein he- In unseren Zimmern, unseren Heimen, unserer roisches, ein heldisches Leben und die Gnaden- Bude soll immer wieder uns der Bamberger Rei- pforte will uns ermahnen: Lebe ein übernatürli- ter mahnen und rufen zum ritterlichen Tun und ches, ein erhöhtes, ein göttliches Leben. ritterlichen Stolz. 14 Es ist also unsere Aufgabe, das vitale Leben Im Rundbrief der Sturmschar hatte Karl Leisner zu fördern. Der blutvolle sehnsuchterfüllte, ener- vermutlich gelesen: giegeladene Mensch, der den Hufschlag im Blu- Im Alter der Jungenschaft reifen wir zum Jüng- te hat wie es Gmelin [1886-1940] in „Konradin ling heran, der zu sich selbst kommt, der sich reitet“ 15 schildert, ist unsere Aufgabe. Der selbst entdeckt. Oftmals fehlt diese Selbstent- Mensch soll aufs Ganze gehen, ein Ja oder Nein deckung. Daraus entsteht die Aufgabe des Füh- wollen wir hören, damit stehen wir in der heldi- rers, zu dieser Jünglingsgestalt den Jungen zu schen, stoischen Haltung. Der Reichspropagan- führen. daminister [Joseph Goebbels 16 ] sprach einmal:

12 Die Sturmschar des Katholischen Jungmännerverban- des, 1919 in Altenberg gegründet, war in ganz 15 Otto Gmelin, Konradin reitet, Leipzig 1933, Reclams Deutschland verbreitet und verstand sich als Kern des Universal-Bibliothek, Nr. 7213. Katholischen Jungmännerverbandes (KJMV). Nach 16 Joseph Goebbels, geboren am 29.10.1897 in Rheydt, 1933 wurde sie örtlich behindert und verboten, im dort in bescheidenen katholischen Verhältnissen auf- Februar 1939 endgültig verboten. gewachsen, beging am 1.5.1945 in Selbst- 13 Aus der Lagerzeitung wurde die „Junge Front – mord, war einer der radikalsten Vertreter des Natio- Wochenzeitung ins deutsche Jungvolk“. Diese Zeit- nalsozialismus. Er studierte von 1917 bis 1921 mit fi- schrift war ab 1932 eine Wochenzeitung der Katholi- nanzieller Unterstützung des katholischen Albertus- schen Jugend. Von 1933 an wurde sie oft beschlag- Magnus-Vereins. Anschließend wurde er Mitglied nahmt, im Januar 1936 endgültig verboten. Ihre der NSDAP, 1926 Gauleiter von Berlin, von 1927 bis Nachfolgerin war ab dem 1.7.1935 die Zeitschrift 1935 gab er in Berlin die Wochenzeitschrift „Der „Michael“. Angriff“ heraus. 1929 war er Reichspropagandaleiter 14 Sturmschar 1934, S. 152f. der NSDAP, ab 1933 Reichsminister für Volksaufklä-

6 Leben, das fällt uns Deutschen so schwer, aber Münster, Freitag, 18. Januar 1935 (Reichsgrün- sterben, das können wir fabelhaft. All das muß dungstag 19 ) [Tgb. Nr. 15, S. 72-73] aber gebändigt werden, geweiht werden durch Heijo, fein! „Konradin reitet“ (Otto Gmelin). den Geist der Ritterlichkeit, durch die Adeligkeit 17 Am Dienstag, dem 22. Januar 1935, schrieb er in und die adelige Form. „Meine Bücherlese (+ „Lesefrüchte“) S. 8: 1935 hieß es dann: Otto Gmelin „Konradin reitet“. Lebendiges Der Bamberger-Reiter ist wohl die Figur, die am stärksten in den vergangenen Jahren Symbol Jungenschaftsleben! Ganz! In Reclam Nr. 7213. der Schar geworden ist. Der Bamberger-Reiter Er schrieb in sein Tagebuch: hat uns etwas gesagt. Wir haben gehört, wir ha- Münster, Dienstag, 22. Januar 1935 (Heilige 20 ben sein Bild gesehen und müssen nun das in martyres Vincentius et Anastasius ). [Tgb. Nr. uns Leben werden lassen. Allmählich aber ist 15, S. 74-77] der Reiter zu Tode symbolisiert. Wenn jetzt so- Ach und dann, wie ich geritten bin, gejauchzt gar moderne Zeitschriften als Reklamefigur für hab’ mit dem heldischen Jungen, dem Konradin, 4711 den Bamberger Reiter gebrauchen, dann, dem letzten Hohenstaufen! Otto Gmelins „Kon- so meinen wir, ist sein Wert dadurch nicht ge- radin reitet“ – wunderbares Singen und Klingen sunken, aber das Gespräch über ihn und seine Verwertung ist zu Ende. 18 des nordischen, germanischen Blutes, aber doch verklärt, in wunderfeiner Christlichkeit. Wun- Karl Leisner las Anfang 1935 von dem deutschen dervoll! Das Leben der deutschen Jungenschaft Schriftsteller Otto Gmelin das Buch „Konradin mit all’ ihren geheimsten, größten und tiefsten reitet“. Es handelt von Konradin von Schwaben Sehnsüchten – das Reiten, die Weite, das Lie- (1252-1268), einem jungen König (in spe). A ls ben, das Fassen des Lebens, das Sinnen und Sohn Konrads IV. (1228-1254) war Konradin mit zwei Träumen – ach, es steckt das all’ noch so in mir Jahren vaterlos geworden und am 29. Oktober 1268 – so manchmal, dann packt’s einen mit Urge- auf dem Marktplatz von Neapel als 16jähriger walt – ei, dann möcht’ man so los: trampen, auf durch Karl von Anjou (1226-1285) hingerichtet Fahrt, heijo! Aber – ich kann und will warten worden, nachdem dieser ihn in der Schlacht von bis zu den Ferien, und jetzt heißt’s für Christi Tagliacozzo 1268 besiegt hatte. König Konradin Aufgabe und Beruf sich bereiten in stiller, ste- war der „letzte Hohenstaufe“. ter, straffer rechter Arbeit für’s Examen. Es soll In seinem Tagebuch erwähnt Karl Leisner die- mich nicht schrecken – ach nein, trotzdem ich ja ses Buch: viel mehr bisher hätte „oxen“ können. Ich ar- beite, wie’s geht, so gut – und das andere tut

19 Der Gründungstag des Zweiten Deutschen Reiches war am 18.1.1871. rung und Propaganda. 1943 erließ er seinen Aufruf 20 Seit der liturgischen Kalenderreform 1969/70 gibt es zum totalen Krieg. das Fest des heiligen Martyrers Anastasius des Per- 17 Sturmschar 1934, S. 159f. sers, der am 22.1.628 mit ca. 70 Gefährten gemartert 18 Sturmschar 1935, S. 129. wurde, nicht mehr.

7 der Heilige Geist, den ich in allem so urkräftig Einen kurzen Gruß dir, liebes Tagebuch, zu Be- spüre und atme, um den ich flehe und bete und ginn der langerwarteten Examenswoche. Ein ringe, hinzu – ja, Vertrauen! Wie vor’m Abitur: frohes, mutiges, hoffnungsstarkes Wort: „Suchet „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Ge- zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. rechtigkeit – und alles andere wird euch hinzu- Alles andere wird euch hinzugegeben.“ – Auf gegeben werden [vgl. Mt 6,33 und Lk 12,31]“. der Suche bin ich. Gestern erlebte ich mit heißer Da kommt mir noch’n Gedanke: Was schreibst Seele die große Idee der Sturmschar mit Hans du da Großes und Schönes, heimlich tief drin- Niermann 23 , mit dem ich auf Vorbereitung für nen im Herzen wirst nicht gar stolz darüber – die Italienfahrt und das große Reichstreffen in nein! Das soll nicht und will ich nicht! Immer den Abruzzen 24 ging. Herrliche Blicke in Ge- demütiger und dankbarer werden, wie die Wei- schichte: „Italien und wir Deutschen“. Tiefe sen aus dem Morgenland ( → Hello „Heiligen- Sinnbildhaftigkeit/Symbolkraft glüht auf. Wun- gestalten“ 21 ) und wie’s uns unser lieber „Chef“ derbare Tiefen schauen wir – hinein in unsere Franz Schmäing 22 so fein in der Konferenz am Drei Reiche, die wir so lieben und ersehnen: Montagmorgen sagte. Das Reich eines reinen/starken kommenden, Kind werden und bleiben: Demütig und rein und harten Jugendgeschlechtes, das Reich eines voll der Heiligkeit und Heiterkeit in Gott, dem freien, großen und innerlich geeinten deutschen Dreifaltigen, in dem ewigen gütigen Vater, in Volkes, das Reich einer menschheitsumfassen- seinem ewigen Sohn, der uns durch Maria erlö- den, gottgeeinten Menschheit: das Gottesreich. ste, und in seinem Heiligen Geiste, der uns – Der Bamberger Reiter blickt uns an aus wei- durchdringt und alles um uns! Kosmos, Harmo- ten Fernen und „Konradin reitet“ in uns und – nie, heilige Ordnung! Amen! Alleluja, Und nun: wir verstehen, folgen! – Glutender Brand für Gut’ Nacht! diese Drei Reiche und ihre große Einheit und Münster, Sonntag, 10. Februar 1935 (5. Sonntag Kraft hat uns gepackt. nach Erscheinung des Herrn) [Tgb. Nr. 15, S. Auf der 6. Reichstagung des 1924 entstandenen 88-89] Katholischen Jungmännerverbandes Deutschlands

23 Hans Niermann, geboren am 10.8.1914 in Rheine, war 1932 Diözesansturmscharführer der Diözese 21 Ernest Hello (1828-1885), französischer Schriftsteller Münster und als Nachfolger Franz Stebers ab 1935 und katholischer Mystiker, schrieb 1858 Les physio- Reichsführer der Sturmschar. Er wurde wiederholt nomies des saints, deutsch: Heiligengestalten, Leipzig verhaftet, war 1936 acht Monate in Untersuchungs- 1934, aus dem Französischen übertragen von Richard haft und ist am 18.6.1940 an der Westfront in Frank- Kühn. reich gefallen. Vgl. Der Weg des Soldaten Johannes. Kapitel „Die heiligen drei Könige“ S. 11-19. Aus Tagebuchblättern und Briefen zusammengestellt 22 Franz Schmäing, geboren am 12.5.1884 in Anholt, von Michael Brink. Als Manuskript gedruckt, Düs- Priesterweihe am 25.5.1907 in Münster, gestorben am seldorf 1940. 25.1.1944 in Lippstadt. Am 8.5.1934 wurde er Di- 24 Das Reichstreffen fand vom 13. bis 27.4.1935 in Rom rektor im Collegium Borromaeum. statt. Siehe: Rundbrief des IKLK Nr. 40, S. 5-9.

8 vom 18. bis 22. Juni 1931 in Trier, die als „Ruf von Am Anfang des Wintersemesters 1935/36, am Trier“ in die Geschichte deutscher katholischer 10. November 1935, schrieb Karl Leisner in sein Jugendarbeit eingegangen ist, ist viel von den drei Tagebuch [Tgb. Nr. 16, S. 69]: Reichen die Rede. Gemeint sind: Jugendreich, Wohl steht der Reiter im Dom zu Bamberg aus Deutsches Reich, Gottesreich. Hier spricht man Stein gemeißelt von Meisters Hand, doch ist er auch vom „Didaktischen Dreieck“, mit dem vor nicht Standbild und totes Werk nur, NEIN: allem der Generalpräses Ludwig Wolker 25 gearbei- Deutschen Jungmanns lebendig’ Bild! Macht tet hat. und Gnade, Mut und Beherrschung, Zucht und In Trier wurde das verkündet, was 1. für die Schönheit, Gehorsam und Liebe künden die Zü- Entwicklung der Kirche bis hin zum Zweiten Vati- ge des Reiters. MÖCHTEST NICHT DU DIE- kanischen Konzil (1962-1965) bedeutsam war, 2. SER REITER SEIN? der Persönlichkeitsbildung des einzelnen jene Rich- Am 6. Juni 1938 schenkte er seiner Schwester Ma- tung wies, ohne die er die kommenden Jahre des ria „Die Bildwerke des Bamberger Doms, Geleit- Kampfes gegen den Nationalsozialismus wohl wort von Karl Gröber, Insel-Bücherei Nr. 140“ und kaum überstanden hätte, und 3. das Gefühl für poli- schrieb als Widmung: tische Verantwortung so stärkte, daß selbst beim Dir, Maria, im Gedenken an unsere große Traum vom Reich mit theokratischer Überhöhung Trampfahrt von Freiburg heimwärts, besonders die „braunen Rattenfänger“ mit ihrer rassenideo- an die Tage in Bamberg! logisch verfälschten Reichsidee keinen Widerhall Pfingsten 1938. Dein Karl fanden. 26 Münster in Westfalen, 6.6.1938. Im Tagebuch Nr. 20 berichtet er vom Beginn des Arbeitsdienstes in Sachsen. Auf die Innenseite des 25 Ludwig Wolker, geboren am 8.4.1887 in München, Einbandes vom Tagebuch Nr. 20 klebte er eine nach Studium in München und Innsbruck Priester- Fotokarte mit dem Bamberger Reiter. weihe am 29.6.1912 in Freising, gestorben am Parola [Tgb. Nr. 20, S. 2] 17.7.1955 in Cervia bei Ravenna (Italien). Er wurde Hoch am Himmel ziehn die Sterne leuchtend ihre im Mai 1926 Diözesanpräses des Katholischen Jung- Bahn. männerverbandes Deutschlands in der Diözese Mün- chen-Freising und im Juni 1926 Landespräses für Unser Hoffen, unser Wagen gehet allzeit himmelan. Bayern. Vom 9.11.1926 bis zur endgültigen Auflö- Was ficht uns an die Not in diesem bißchen Zeit, 27 sung des Katholischen Jungmännerverbandes im Fe- wo unsre wahre Heimat ist die Ewigkeit. bruar 1939 war er dessen Generalpräses. Nachdem Freiburg, 1.-2.III.1937 Michael Kardinal Faulhaber ihn freigegeben hatte, Adveniat Regnum Tuum konnte er am 3.5.1927 nach Düsseldorf ziehen als [Dein Reich komme Mt 6,10]! Generalpräses des Katholischen Jungmännerverban- des und als Vorsitzender des Katholischen Sportver- bandes DJK (Deutsche Jugendkraft). reich der Gnade“, „Wir wollen ein Vaterland uns 26 Zitate Ludwig Wolkers finden sich in „Der Ruf von bauen, wir suchen ein Reich, das deutsches Vaterland Trier hallt immer noch nach“, Eine Dokumentation, stark umfaßt.“ Düsseldorf 1981; S. 42, 73: „Jugendreich im Gottes- 27 Diese Verse hat Karl Leisner selbst gedichtet.

9 (Kleve, 1.IV.1937) 28 Noch glühen unsre Sterne Meine Dienstzeit im Reichsarbeitsdienst. („Mein am Himmel hoch im Glanz, Tagebuch“). [Tgb. Nr. 20, S. 4] wir stürmen ihre Ferne, Karl Leisner und zwingen sie zum Tanz! Kleve – Dahlen i/Sa – Georgsdorf i/Ha. Wir tanzen unser Leben 29 und jauchzen hell im Schwung, RAD-Abt. 3/157 x RAD-Abt. 7/314 uns ist es aufgegeben: Eine eingeklebte Postkarte, die der Diözesanpräses die Welt wird wieder jung! 30 von Münster, Heinrich Roth , Karl Leisner ins Thomas Klausner 31 Außensemester nach Freiburg in die Hansjakob- straße 43 geschrieben hat, trägt folgenden Spruch: [Tgb. Nr. 20, S. 6] HEIHO noch schäumt das Leben

Heiho, noch schäumt das Leben im Kelch wie junger Wein, das Feuer wilder Reben, es will getrunken sein!

28 Mit dieser Parola und diesem Text beginnt auch Tagebuch Nr. 21. Es scheint für Vornotizen gedient zu haben, die er dann sauber und mit Fotos, Fahrkarte u. a. versehen, ins „Tagebuch Nr. 20“ eingetragen hat. 29 Dahlen in Sachsen – Georgsdorf in Hannover. (Es hieß damals: Regierungsbezirk Osnabrück, Provinz Hannover), Reichsarbeitsdienst-Abteilung ( 3/157= 3. Abteilung der 7. Gruppe des Arbeitsgaues XV) in Sachsen x Reichsarbeitsdienst-Abteilung ( 7/314= 7. Abteilung der 4. Gruppe des Arbeitsgaues XXXI) im Emsland. Siehe: Rundbrief des IKLK Nr. 39. Der erste Brief aus dem Arbeitsdienst nach Hause: 30 Heinrich Roth, geboren am 12.8.1899 in Oberhausen- [Tgb. Nr. 20, S. 24] Osterfeld, Priesterweihe am 22.12.1923 in Münster, Dahlen, den 9.4.1937 gestorben am 23.4.1972. Von 1932 bis 1934 war er Ihr Lieben alle! Mitglied des Reichsvorstandes des Jungmännerver- [...] Wenn Ihr vor Pfingsten zufällig mal ein Pa- bandes, am 9.4.1934 wurde er Diözesanpräses des Jungmännerverbandes und 1937 nach dessen Auflö- ketchen schicken solltet, dann schickt mir bitte sung Diözesanjugendseelsorger, 1934 Domvikar, 1949 Spiritual im Priesterseminar in Münster, 1959 Generalassistent der Marienschwestern von Schön- 31 Text: Thomas Klausner (Georg Thurmair); Weise: statt. Wilhelm M. Fasbender.

10 einige Bilder aus Wacht 32 etc. (zum Beispiel den soll das hin! Ist das Würde, menschliche und Bamberger Reiterkopf und ähnliches) mit zum christliche Größe? Wohin?! – Adam 36 , Eva, Kö- Schmücken. nig und Königin, Propheten 37 und Seherin – gar In sein Tagebuch notierte er: tief sprechen sie mir ins Herze. Und doch sing Sonntag, 13. Juni 1937 [Tgb. Nr. 21, S. 48-53] ich das heimliche Lied einer namenlosen Sehn- Bamberger Reiter im „Feuerreiter“ gelesen. 33 – sucht. – Eine Seele ist mir aufgesprungen. – Ergriffen von Dom und Reiter aufs Neue. Tödliches Ringen. Münster, Donnerstag, 7. Juli 1938 (Cyrill und Methodius) [Tgb. Nr. 24, S. 81-89] [...] Der Reiter in Bamberg und der Priester 34 : Tiefe Eindrücke zum priesterlichen Opfer, aber auch entsetzliches Nüchternwerden in legendo epistolam ep. bav. [beim Lesen des Hirtenbrie- zu stärken und in der Treue gegen die heilige Kir- fes der Bayerischen Bischöfe 35 ]. – O Gott – wo che zu festigen. Dann folgen heftige Anklagen gegen den Staat, der 32 auf verschiedensten Ebenen das Leben der Kirche Der Jungführer, Heft 1/2 (1937), S. 7: behindert und bekämpft und damit die im Konkordat [...] Zum „eisernen Bestand“ dieses Apostolats- verbrieften Rechte bricht. Es geht vor allem um die dienstes aber gehört die Zusendung der Wacht. Kein Dienstpflichtiger soll sie in den Jahren des Schulen und den Religionsunterricht, der nicht allein Arbeits- und Heeresdienstes entbehren müssen. eine Lebensgrundlage der Kirche, sondern auch des Sie soll den Arbeitsmännern und Soldaten Monat Staates sei, wie man jetzt in Spanien sehen könne: für Monat eine religiöse Kraftquelle sein, ein Bote Nachdem dort 25 Jahre kein Religionsunterricht er- unserer Treue – Künder und Mahner zugleich! [...] teilt worden sei und man die Kinder nicht im Glauben Diese [die Wacht] wird vom Reichsamt für 10 unterwiesen habe, sei der Boden für den Bolsche- Pfennig berechnet, wenn der Verein die Dienst- wismus bereitet. Folglich sei Religionsunterricht die pflichtigen namentlich meldet mit Angabe des beste Vorbeugung gegen den auch von den National- Standortes und der Dienstdauer. sozialisten erkannten Hauptfeind. Nach dem Hinweis, 33 „Der Feuerreiter“ vom 8.5.1937 (Jahrgang 13, Nr. 19) die Bischöfe wollten sich damit nicht in die Politik brachte als Titelblatt eine Abbildung des Bamberger einmischen, gipfelt der Brief in folgenden Worten: Reiters (siehe S. 10) und einen Artikel mit vielen Bil- Es ist uns Bischöfen schwer genug, immer wieder dern „700 Jahre Bamberger Dom. Eines der größten zu klagen und zu warnen, aber die strenge und Denkmale deutscher Baugeschichte.“ heilige Pflicht gegen Kirche und Vaterland fordert, 34 Karl Leisner setzt sich bei dem umfangreichen Tage- daß wir nicht schweigen, wo so viel auf dem Spiele bucheintrag an diesem Tag mit dem Priesterwerden steht und in Gefahr ist. Auch wenn wir für unseren auseinander. Freimut wieder die schwersten Angriffe zu erwar- 35 Es handelt sich vermutlich um das unter anderem bei ten haben, wird uns nichts abhalten von der treue- sten Pflichterfüllung bis zum Tode. (S. 232). Volk, Faulhaberakten II, Nr. 583 (S. 228-233) abge- 36 druckte „Hirtenwort des Bayerischen Episkopats“ Der Bamberger Dom hat eine „Adamspforte“ mit einer Darstellung von Adam und Eva. vom 24.11./6.12.1936. Darin heißt es einleitend: 37 Wir möchten heute ein gemeinsames Hirtenwort An der Fürstenpforte stehen die Apostel auf den an Euch richten, um Euch in den ernsten, schwe- Schultern der Propheten; auch an der Nordschranke ren Glaubensstürmen der Gegenwart im Glauben des Georgschores sind Propheten dargestellt.

11 Aus Anlaß des Empfangs der Ostiarier- und Lekto- renweihe 38 durch Bischof Clemens August Graf von Galen 39 hält Karl Leisner einen Rückblick: Münster, Freitag, 1. Juli 1938 [Tgb. Nr. 25, S. 20-35] Am Feste des kostbaren Blutes unseres Herrn Im März [1937]: Der Reiter und die Begegnung mit dem Priester 40 . Deo Gratias [Gott sei Dank]. – Herr, wohin willst Du mich?

Karl Leisner wurde am 9. November 1939 verhaftet und kam schließlich nach Gefängnisaufenthalten in Freiburg und ins KZ. Die Fahrt vom KZ Sachsenhausen ins KZ Dachau führte auch über Bamberg. Vermutlich hat er an seinen Besuch dort im März 1937 gedacht. In einem Brief an seine Familie schreibt er: Dachau, Sonntag, 15. Dezember 1940 41 [...] Über Bamberg – Nürnberg kamen wir dann gegen Frühmittag hier an. Hans-Karl Seeger

38 Am 30.6.1938 hatte er die Tonsur empfangen und am 2.7.1938 empfing er die Exorzisten- und Akolythen- weihe. Vor der Liturgiereform gab es für die Männer, die Priester werden wollten, vier Niedere Weihen: Ostia- rier (Türhüter/Pfortendienst), Lektor (Vorleser), Ex- orzist (Teufelsbeschwörer/Amt der Befreiung von der Gewalt des bösen Feindes) und Akolyth (Altardie- ner/Gehilfe des Subdiakons). 39 Dr. theol. h. c. Clemens August Graf von Galen, ge- boren am 16.3.1878 auf Burg Dinklage, Priesterweihe am 28.5.1904 in Münster, Bischofsweihe am 28.10. 1933, Bischof von Münster, 17.2.1946 Kardinal, ge- storben am 22.3.1946 an einem Blinddarmdurch- bruch. 40 Siehe F. 23, S. 11. 41 Dieser Brief trägt als Absender „Block 28/1“.

12 Meditation zum Bamberger Reiter von Weihbischof Werner Radspieler

Der Weihbischof von Bamberg, Dr. Werner Rad- chenpfeilers und links unten im Bild den blanken spieler, geboren 1938, bringt an Hand des Bamber- Fels, einen wohl behauenen, aber nicht ge- ger Reiters jungen Menschen den Sinn der Schöp- schmückten Stein. Das ist die Erde, ich könnte auch fung nahe: sagen: Das ist die unbelebte Welt. Sie ist dazu ge- macht, das Leben zu tragen. Dann schuf Gott die

Pflanzen und die Wälder – und diese Pflanzenwelt „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, ist voller Leben. Die Blätterranken rechts unten im den Schöpfer des Himmels und der Erde!“ so lautet Bild haben Augen und einen Mund. Die Bäume und unser Glaubensbekenntnis. Von Gott, dem Schöp- die grünenden Wiesen sind also sprechend und fer, ist die Rede. Dieses Bekenntnis der Christen schauend und lebendig. Gott aber ist ein Freund hat seine Wurzel im alttestamentlichen Schöp- des Lebens … also ein Freund der lebendigen Welt fungsbericht – dann aber auch in der Weisheitslite- der Pflanzen. ratur, die uns Gott als den Schöpfer und besonders Und dann wandert unser Blick nach oben, zum als den „Freund des Lebens“ vor Augen stellt. Wir Pferd. Das Pferd stellt das Reich der Tiere dar. Die lesen im Buch der Weisheit, im 11. Kapitel: „Du Hufe des Pferdes berühren die Pflanzen, aber liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von Pflanzen und Blätter werden nicht zerstört. Das Tier allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas und die Pflanzen leben in Harmonie – ohne die gehaßt, so hättest du es nicht geschaffen. Wie Pflanze hätte das Pferd keine Nahrung und kein könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, Leben! Gott aber ist ein Freund des Lebens. oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht Unser Blick gleitet weiter aufwärts: Auf dem von dir ins Da-sein gerufen wäre? … Herr, du Pferd reitet der Mensch. Er ist ein Teil der Schöp- Freund des Lebens“ (Weish 11,24-26). fung. Der Mensch wird als Mitglied einer Schöp- Ich lade Sie nun ein, in Gedanken etwa acht fungsgemeinschaft in den Pflanzen und Tieren und Jahrhunderte zurückzugehen und mit mir nachzu- auch in der unbelebten Welt seine Geschwister forschen, wie der Christ des Abendlandes damals erkennen. Gleichzeitig aber ist er auch der Herr Gottes Schöpfung darzustellen versuchte. Ich habe dieser Schöpfung, denn er soll ja herrschen über die Ihnen eine Ansichtskarte mitgebracht und darf Sie Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels bitten, dieses Bild zur Hand zu nehmen: und über die ganze Erde … so lesen wir es im Buch Der „Bamberger Reiter“! Sie finden diese le- Genesis, im ersten Kapitel (vgl. Gen 1,26). Wir bensgroße Figur in der Kathedrale zu Bamberg, in sehen den Menschen in seiner Doppelrolle: einer- meiner Bischofsstadt, im Norden Bayerns gelegen. seits Geschöpf wie alle Geschöpfe, andererseits Der geniale Steinmetz hat diese Figur um 1200 aus das Abbild Gottes, ausgestattet mit freiem Willen dem Sandstein gehauen. Man weiß nicht, wen diese und damit auch mit Macht. Der Mensch darf also auf Reiterfigur darstellen soll, aber man weiß sehr ge- dem Pferd reiten, er darf seine Macht ausüben … er nau, was dieses Kunstwerk uns mitteilen will. darf die Natur zähmen und nützen! Und das Tier Dieses Kunstwerk erzählt uns das Weltbild und dient dem Menschen. Es wäre nun aber ganz gleichzeitig das Gottesbild des gläubigen Menschen falsch, den Genesis-Text vom „Beherrschen“ der im 12. und 13. Jahrhundert. Natur isoliert und einseitig zu sehen. Wir müssen Gott schuf aus dem Nichts zunächst die unbe- weiterblättern im Buch Genesis – und im zweiten lebte Welt. Sie sehen den nackten Stein des Kir- Kapitel lesen wir dann, daß Gott, der Herr, den

13 Menschen in den Garten Eden setzte, damit er ihn Geschöpf hat er eine einmalige Verantwortung für bebaue und hüte (vgl. Gen 2,15). Also nicht nur die Schöpfung. Als das Ebenbild Gottes hat er eine „herrschen“, sondern ebenso „behüten“ … also einmalige Würde vor seinem Gott. In uns Men- schützen und pflegen. schen, in unserem Tun, in unserem Handeln an der Als Abbild Gottes ist der Mensch dem ewig wal- Welt muß also etwas vom Schöpfergott selber auf- tenden Gott in besonderer Weise verantwortlich. leuchten; in unserem Handeln an der Welt muß die Deshalb sehen wir über dem Kopf des Reiters eine liebevolle Fürsorge Gottes für diese unsere Erde Heilige Stadt mit ihren Toren, Zinnen und Türmen. sichtbar werden. Deshalb werden im Alten Testa- Das ist die Wohnung Gottes, die das ganze Schöp- ment die Könige und die Mächtigen immer daran fungswerk bekrönt. Diese Heilige Stadt, die hier gemessen, ob sie ihre Herrschaft und ihre Macht als dargestellt wird, wirft ihren Schatten auf den Rei- Liebesdienst an ihren Mitgeschöpfen verstehen. Im ter… Der Reiter wird „überschattet“ vom Geist Got- Buch des Propheten Jeremia lesen wir eine heftige tes. Der Schöpfergott schenkt dem Menschen Wür- Kritik an den Königen in Jerusalem. Diese Kritik aus de und Leben und erwartet gleichzeitig Ver- der Antike ist aktuell; wir sollten sie lesen als Kritik antwortung und Rechenschaft. Sicher ist dieses an den heutigen Mächtigen: „Weh den Hirten, die prächtige Bauwerk zu Häupten des Reiters auch die Schafe meiner Weide zugrunde richten und das neue, himmlische Jerusalem, die neue Erde zerstreuen – Spruch des Herrn. – Darum – so und der neue Himmel. Wir wissen ja, daß die ganze spricht der Herr, der Gott Israels, über die Hirten, Schöpfung, also die ganze Erde, erneuert und erlöst die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zer- werden muß: „Auch die Schöpfung soll von der streut und versprengt und habt euch nicht um sie Sklaverei und von ihrer Verlorenheit befreit werden gekümmert. Jetzt ziehe ich euch zur Rechenschaft zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ wegen eurer bösen Taten – Spruch des Herrn“ (Jer (Röm 8,21). Wir wissen, daß die ganze Schöpfung 23,1f.). mit hineingenommen wird in diese neue, dann voll- Gott wird den Menschen also zur Rechenschaft endete Wohnung Gottes, von der das Buch der ziehen und ihn fragen, wie hast du gesorgt? Wie Apokalypse im 21. Kapitel spricht: „… Seht, die hast du dich gekümmert um meine Schöpfung, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ich dir anvertraut habe? Daß wir das Rechte tun und ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; daß uns dieses Kümmern und unser Sorgen auch und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen gelingt – dazu sind wir zusammengekommen. von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Auch Karl Leisner waren solche und ähnliche Ge- Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf danken nicht fremd. „Natur und Gnade“ war für ihn dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu“ ein wichtiges Thema, ritterlich in dieser Schöpfung (vgl. Offb 21,1–5a). zu leben, war sein Bestreben. Trotz unserer Gedanken, die sich zum endzeitli- Hans-Karl Seeger chen Reich Gottes nach oben tasten, bleibt die Mitte des Bildes der Reiter – der Mensch. Der Mensch in dieser Spannung zwischen „oben“ und „unten“! Als

14 Der Bamberger Dom und sein Reiter Kunsthistorische Erkenntnisse

Bambergs Herzstück ist der Dom, eine herausra- unterschiedlichste Vermutungen wider, die bis ins gende Leistung mittelalterlicher Schaffenskraft und 18. Jahrhundert zurückreichen. Häufig sind es gei- wohl zugleich das bedeutendste Kunstdenkmal im stesgeschichtlich-theologische Spekulationen, die weiten Umkreis. An der Stelle der heutigen Kathe- man im Zusammenhang mit dem Reiter geäußert drale wurde zwischen 1004 und 1012 der Hein- hat. Viele Deutungen scheiden inzwischen bei ge- richs-Dom erbaut, eine Stiftung vom später heilig- nauer Beobachtung aus: Es kann sich nicht um gesprochenen Heinrich II. (973-1024) zur Bistums- einen Kaiser handeln, denn die Figur trägt eine gründung. Heinrich war 1002 zum deutschen König Königskrone. Weiterhin dachte man an den heiligen und 1014 zum Kaiser (Heinrich II.) gekrönt wor- Georg, der hier aber waffenlos dargestellt wäre. den. Dieser Dom brannte jedoch 1081 nieder. Das Zudem wurde von einem der Heiligen Drei Könige gleiche Schicksal erlitt auch der Nachfolgebau. gesprochen, doch dazu fehlen die anderen Reiter Nach neuesten Forschungen wurde der Neubau und die Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe. bereits vor 1200 begonnen. So fanden die Feier- Eine sehr alte Überlieferung vermutet in der lichkeiten anläßlich der Heiligsprechung Kuni- Reiterfigur den 1083 heilig gesprochenen König gundes (+1033), der Gattin Heinrichs II., wahr- Stephan I. von Ungarn (um 969-1038). Zu diesen scheinlich schon im neuen Chor statt. Nach relativ Erkenntnissen tritt ein zusätzliches Forschungser- kurzer Bauzeit wurde 1237 einer der großartigsten gebnis der Architektin Maren Zerbes. Sie hat sich Sakralbauten der staufischen Epoche 42 eingeweiht. genauer mit der Blickrichtung des Reiters und mit Die wohl bekannteste Skulptur der Kathedrale dem Winkel befaßt, den dieser Blick einschließt. ist der Bamberger Reiter, ein edler Jüngling im Mißt man exakt nach, entdeckt man, daß der Reiter Turniersattel. Ein genialer Bildhauer schuf dieses ungefähr in die Mitte des alten Heinrichs-Domes erste monumentale Reiterstandbild Deutschlands schaut, und zwar auf die Stelle, an der sich – ent- zwischen 1225 und 1237. Was den stolzen Reiter sprechend archäologischer Grabungen – die kaiser- mit einer Krone auf dem gotischen Lockenkopf liche Grabstätte der Heiligen Heinrich und Kuni- weiterhin interessant macht, ist die Tatsache, daß gunde im 13. Jahrhundert befanden; denn der Hein- man nicht weiß, wen er darstellt. Wie kaum eine richs-Dom war kleiner als der Nachfolgebau und andere Figur hat er immer wieder für Diskussions- seine Mittelachse lag südlicher. Der Reiter an seiner stoff gesorgt und Kunsthistoriker zu den verschie- Säule im Ostchor des Bamberger Doms läßt sich densten Deutungsversuchen veranlaßt. wie eine Momentaufnahme betrachten. Er kommt Die Beantwortung der Frage, welche Gestalt der durch das Fürstenportal hereingeritten, hält das Geschichte oder Kultur hier dargestellt sei, spiegelt Pferd an – dessen Beinstellung deutet auf ein ge- rade erfolgendes Stehenbleiben hin – und wendet seinen Blick nach rechts, um den Kaiser und seine 42 Die Staufer – Hohenstaufen – hatten von 1138 bis 1254 den deutschen Königs- und den Kaiserthron in- Gemahlin zu würdigen. ne.

15 Der ursprüngliche Standort des Bamberger Rei- Daß es sich um eine hoheitliche Person handelt, ters ist nicht sicher. Einige Forscher vermuten, im zeigt der über dem Reiter angebrachte Baldachin. Gegensatz zur recht willkürlich erscheinenden König und zugleich Heiliger; insofern könnte es Position mancher Figuren habe sich der Standort sich tatsächlich um König Stephan I. von Ungarn des Bamberger Reiters nicht verändert, er sei be- handeln. Er war mit Kaiser Heinrich II. verschwä- reits zur Bauzeit des Domes, also noch vor dessen gert. Vajk (oder Waik) war ein ungarischer Fürsten- Weihe 1237, an seinem heutigen Platz aufgestellt sohn, der bei seiner Taufe den Namen Stephan worden. Diese Ursprünglichkeit bestätige sich auch erhielt, weil seiner Mutter einer Legende zufolge durch das original erhaltene Fugenmaterial des aus der biblische Erzmärtyrer Stephanus erschienen sei acht Steinblöcken geformten und zusammenge- und das zukünftige Königtum ihres Sohnes verkün- setzten Reiters. Die winzigen Reste einer ersten det habe (griechisch στεφανος , stephanos = die Farbfassung auf den Fugen seien ein zusätzliches Krone). Doch es ist realistischer anzunehmen, daß Indiz dafür. er erst seit seiner um 997 erfolgten Vermählung mit Die Untersuchung der ersten Farbfassung durch Gisela, der Schwester des Bayernherzogs Heinrich den Kunsthistoriker und Restaurator Walter Hart- (später Kaiser Heinrich II.), den Namen Stephan leitner zeigt, daß das Pferd nicht braun war, wie führte, weil er auch erst zu diesem Zeitpunkt die man vorher angenommen hatte. In Wirklichkeit Taufe empfing. Schließlich sorgte er als König ab muß es weiß gewesen sein, mit dunkleren Flecken, 1001 für die Christianisierung seines Landes. Er also möglicherweise ein Apfelschimmel. Auf dem genoß in Bamberg hohes Ansehen, denn vom 13. Mantel der Reiterfigur selbst ließ sich eine mittel- bis ins 18. Jahrhundert wurde er im Bamberger alterliche Rotfassung feststellen. Ein Schimmel und Dom zusammen mit dem Erzmärtyrer Stephanus ein purpurner Mantel waren königliche Attribute. verehrt. Das Haar des Reiters war nicht, wie man in der Zeit Aus einer Dissertation über den Bamberger des Nationalsozialismus gerne annahm, blond, Dom geht hervor, daß es sich bei dem Sattel, in sondern dunkelbraun bis schwarz. dem der Reiter sitzt, um eine altungarische Form In dieser Farbigkeit – von Gold über Rot, handelt, was ebenfalls ein Hinweis auf König Ste- Schwarz, Silber und Weiß – sowie in seiner Le- phan sein dürfte. Bei dem Pferd ist interessant, daß bensgröße und gestalterischen Lebendigkeit hat der dort eine der ersten Darstellungen von Hufeisen mit Reiter auf die zeitgenössischen Betrachter gewiß Nägeln zu finden ist. eine Faszination ausgeübt, wenn sie das dunkle Auch im Hause Andechs-Meranien war Stephan Dominnere durch das Fürstenportal betraten. Die von Ungarn sehr angesehen. Das Adelsgeschlecht Entfernung der Farben und eine damit verbundene derer von Andechs-Meranien war vor allem in Süd- Purifizierung des Domes wurden erst im 19. Jahr- bayern und Franken vom 11. bis 13. Jahrhundert hundert unter dem bayerischen König Ludwig I. sehr einflußreich. Mehrere Mitglieder dieser Fami- (1786-1868) angeordnet und durchgeführt. lie wurden zu Bischöfen ernannt, unter anderen Der Bamberger Reiter ist ein König, denn er Ekbert von Andechs-Meranien, der dem Bistum trägt eine Königskrone, und ein Heiliger, denn Bamberg – mit Einschränkungen – zwischen 1203 sonst wäre er nicht in der Kathedrale aufgestellt. und 1237, dem Jahr der Domweihe, vorstand. Er

16 gilt als Mitinitiator des Dombaus und möglicher bolische Dreieckskonstellation zwischen Ekbert, Auftraggeber für die Bildhauerarbeiten. Stephan und Heinrich, die mehr als zwei Jahrhun- Ekbert war mit König Andreas II. von Ungarn derte Geschichte umspannt. (1176-1235) verschwägert; denn seine Schwester Wer auch immer mit dem Reiter gemeint sein Gertrud hatte diesen geheiratet. Doch die Ver- mag, es handelt sich um ein hoheitsvolles Abbild schwägerung mit König Andreas war nicht der eines adeligen Herrschers, den man für so wichtig einzige Ungarnbezug. Ekbert war erst kurze Zeit und wert erachtete, seinen Platz auf ewig in der Bischof von Bamberg, als 1208 König Philipp von Bamberger Kathedrale zu finden. All die histori- Schwaben mit dem Schwert in der Bamberger Bi- schen Überlegungen sollen nicht die Leistung der schofspfalz getötet wurde. Der Mörder war Pfalz- Meister schmälern, die mit der Ausstattung des graf Otto von Wittelsbach, aber Ekbert war als Bamberger Domes und der Gestaltung des Bamber- Hausherr sein Leben lang dem Verdacht der Mit- ger Reiters einen Höhepunkt ihrer Kunst erreicht wisserschaft ausgesetzt. So verfiel er der Reichs- haben. acht und floh zu seinen Verwandten ans ungarische Manche Interpreten sehen im Bamberger Reiter Königshaus. Obwohl Ekbert bereits 1211 rehabili- die Verkörperung der gesamten Welt. Der Dämon tiert wurde, kehrte er erst 1219 endgültig nach unten rechts stellt die Unterwelt dar, darüber Bamberg zurück. Vermutlich wollte er mit der kommt die Pflanzenwelt, dann die Tierwelt, sodann Schaffung eines großartigen Reiterstandbildes für der Mensch, und darüber symbolisiert der Balda- den in Bamberg verehrten Stephan von Ungarn chin die schwebende Stadt Jerusalem und das Welt- seinen Beziehungen zum ungarischen Königshaus all. Ausdruck geben. Insofern ergibt sich eine sym- Hans-Karl Seeger

17 Jenseits des Tales standen ihre Zelte

Was der Bamberger Reiter als figürliche Darstel- das Buch „Konradin reitet“ von Otto Gmelin zwar lung für die jungen Menschen der Jugendbewegung mit Begeisterung, möchte es „aber doch verklärt, zum Ausdruck brachte, sahen diese in der Gestalt in wunderfeiner Christlichkeit“ sehen. 44 des jungen Konradin verwirklicht, wie ihn Otto Das Fehlen des Liedes trifft ebenfalls für das Gmelin in seiner Dichtung „Konradin reitet“ schil- nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) erschie- dert. Dieser junge König ist wiederum die Hauptge- nene „Altenberger Singebuch“ 45 und den „Burgmu- stalt in dem weithin bekannten und oft gesungenen sikanten“ 46 zu. Lied „Jenseits des Tales standen ihre Zelte“. Hans Schmitt, ehemals Evangelische Jungen- 1. Jenseits des Tales standen ihre Zelte, schaft Karlsruhe, bemerkt zu dem Lied: Vorm roten Abendhimmel quoll der Rauch, Börries Freiherrn von Münchhausen [1874-1945] Und war ein Singen in dem ganzen Heere, schrieb unzählige Balladen und Lieder. In seinen Und ihre Reiterbuben sangen auch. Balladen verehrte er die Ritterlichkeit und kam 2. Sie putzten klirrend am Geschirr der Pferde, dadurch dem romantischen Lebensgefühl der Hertänzelte die Marketenderin, deutschen Jugendbewegung entgegen. Von der Und unterm Singen sprach der Knaben einer: Jugendbewegung wurde der Appell an Ritter- „Mädchen, Du weißt’s, wo ging der König hin?“ lichkeit und Adel des Herzens begeistert aufge- 3. Diesseits des Tales stand der junge König nommen. Dieses Lied wurde früher sehr oft ge- Und griff die feuchte Erde aus dem Grund, sungen. Jedoch die wenigsten wagten, die zwei Sie kühlte nicht die Glut der armen Stirne, letzten Verse zu singen. In der evangelischen Sie machte nicht sein krankes Herz gesund. Jugend zum Beispiel wurde sogar der dritte Vers 4. Ihn heilten nur zwei knabenfrische Wangen umgeändert: „...und der König trat in ihre Mitte 47 Und nur ein Mund, den er sich selbst verbot, und zur Gefolgschaft hieß uns sein Geheiß...“ – Noch fester schloß der König seine Lippen Sehr interessante Gedanken finden sich bei Profes- Und sah hinüber in das Abendrot. 5. Jenseits des Tales standen ihre Zelte, sor Dr. Jürgen Reulecke: Vorm roten Abendhimmel quoll der Rauch, Als Ballade ist der Text in dieser Fassung wohl und war ein Lachen in dem ganzen Heere, erstmalig 1907 gedruckt worden. Er stammt von Und jener Reiterbube lachte auch. 43 dem damals gut 30jährigen Börries Freiherrn Es ist erstaunlich, daß unter den so zahlreich ange- von Münchhausen (1874-1945) und findet sich in seinem Gedichtband „Die Balladen und ritter- führten Liedern in den Tagebuchtexten Karl Leis- lichen Lieder“ in dessen zweiter Auflage. Börries ners das Lied „Jenseits des Tales standen ihre Zel- von Münchhausen gilt als wichtiger Erneuerer te“ nicht auftaucht. Es kommt allerdings auch in den von ihm erwähnten Liederbüchern nicht vor. 44 Siehe S. 7. Offensichtlich ist Karl Leisner nicht der mit dem 45 Lied verbundenen Konradin-Verherrlichung durch Altenberger Singebuch, Freiburg 1948. 46 Der Burgmusikant, Liederbuch des Bundes der Deut- die Nationalsozialisten gefolgt. Andererseits liest er schen Katholischen Jugend, Diözese Münster, Noten- ausgabe 1952. 43 Reulecke S. 25. 47 Siehe: www.pbhorizonte.de/lieder/jenseits.html.

18 der deutschen Balladenliteratur und als jemand, aber – Ende 1933 – war es in einem von Baldur dessen Appelle an Ritterlichkeit und Adel des von Schirach persönlich herausgegebenen Lie- Herzens vor allem in jugendbewegten Kreisen derbuch „Blut und Ehre. Lieder der Hit- begeistert aufgegriffen wurden. Ein junger Kö- ler-Jugend“ mit zwei bezeichnenden Abände- nig, vermutlich der am 29. Oktober 1268 [...] auf rungen abgedruckt worden, die von nun an obli- dem Marktplatz von Neapel als 16jähriger durch gatorisch waren. In der ersten Zeile der vierten Karl von Anjou hingerichtete König (in spe) Kon- Strophe hieß es nun nicht mehr „knabenfrische radin, der „letzte Hohenstaufe“, befindet sich im Wangen“, sondern „jugendfrische Wangen“, und erotischen Hin- und Hergerissensein zwischen in der letzten Zeile der letzten Strophe war es den Reizen einer Marketenderin und den „kna- nicht mehr „jener Reiterbube“, der mit seinem benfrischen Wangen“ eines Reiterbuben, der Heer lachte, sondern es waren „ihre Reiterbu- gleichzeitig für das Heer, also den Männerbund ben“. Das heißt: Durch den Austausch zweier steht. Nach innerem Ringen „diesseits des Ta- Wörter ist also die gesamte homoerotische An- les“ blickt der junge König schließlich hinüber ins spielung, der eigentliche Pfiff und Sinn des Lie- Abendrot zu seinem Heer; das Lachen des Hee- des, getilgt worden. Übrigens: In dieser „berei- res ist dann ein befreiendes: Der König hat sich nigten“ Fassung hat es dann auch Heino vor ein offensichtlich zum Männerbund und gegen die paar Jahren auf einer Schallplatte verewigt; er Verführung der Marketenderin entschieden: „und hat – nebenbei – als erster „Mädel“ statt „Mäd- jener Reiterbube lachte auch!“ heißt es am Ende chen“ in der zweiten Strophe gesungen. der Ballade. Was war der Grund für diesen Eingriff von Eine gewaltige Verbreitung fand dieser Text Schirachs? Direkte Quellen dazu habe ich nicht dann ab 1924, nachdem Robert Götz, ein 1892 gefunden, aber erstens weiß ich aus Interviews, in Betzdorf an der Sieg [...] geborener Wander- daß es offenbar innerhalb der Hitlerjugend eine vogel, nach 1918 Musikerzieher im Rheinland entsprechende Verfügung gegeben haben muß, und Komponist vieler sehr bekannt gewordener und zweitens hat auch Robert Götz, der Kompo- bündischer Gebrauchslieder, den Text vertont nist des Liedes, später erklärt, er habe sich da- hatte. [...] Erstmalig veröffentlichte er seine sen- mals darüber gewundert, daß sein Lied in der timentale, ans Herz gehende Melodie zu „Jen- Hitlerjugend-Führung wegen dessen homoeroti- seits des Tales“ in seinem Liederbuch „Aus schen Anspielungen verpönt gewesen sei. We- grauer Städte Mauern“, das 1924 im jugendbe- gen seines hohen Beliebtheitsgrades konnte es wegten Verlag Günther Wolff in Plauen erschien. aber offensichtlich nicht unterdrückt werden, Im Grunde gehört hier also die Melodie unbe- deshalb wohl die von oben verordnete Verfäl- dingt zum Quellencharakter des Liedes hinzu. schung! Aber warum diese Verfälschung? Zu- Viele Liederbücher haben es seither bis in die nächst hatte ich geglaubt, die Röhm-Affäre von jüngste Zeit immer wieder abgedruckt, das Lied Juni 1934 wäre der Anlaß für die ganz offen- wurde zu dem, was man etwas abfällig „bündi- sichtlich absichtsvolle „Entschärfung“ des Textes scher Heuler“ genannt hat! gewesen; die Ermordung der SA-Spitze gilt ja In seiner ursprünglichen Textfassung tauchte als „Auftaktsignal“ für die nationalsozialistische es auch noch Anfang 1934 in dem Liederbuch Homosexuellenverfolgung in den folgenden Jah- „Uns geht die Sonne nicht unter. Lieder der Hit- ren. Aber dieser Kontext kann nicht stimmen, ler-Jugend“ des nun auch Nazi-Literatur verle- denn das Schirach-Liederbuch erschien ja be- genden Günther Wolff-Verlags auf. Kurz vorher

19 reits Ende 1933. Es mußte also andere Gründe xualität in der HJ. Reinhard Heydrich, Chef der geben. , hatte schon in der Mordnacht den Be- Zwei parallele, sich ergänzende Erklärungs- fehl ausgegeben, „alle 175er [48] HJ-Führer und stränge bieten sich an: Der erste hängt direkt mit Schweine genau im Sinne der SA-Säuberungs- der Person Baldur von Schirachs zusammen: aktion zu behandeln.“ Übrigens: Der Verlagslei- Tatsächlich war es so, daß schon im Sommer ter Günther Wolff kam, anders als der aus der 1933 – verstärkt durch Rundfunksendungen aus sächsischen Freischar stammende und zur HJ dem Ausland – Gerüchte über Schirach die übergewechselte Karl Lämmermann, der in die- Runde machten, er sei homosexuell, er habe ein sem Zusammenhang ermordet wurde, mit dem Verhältnis mit dem Hauptdarsteller des Films Leben davon, wenn auch brutal zusammenge- „Hitler-Junge Quex“ (es entstand damals das schlagen. anzügliche Verb „quexen“), und er sei die „Hure Trotz seines anderen Auftretens seit Som- des Führers“. Außerdem sei der Stab der mer 1934 wurde Schirach aber seinen Ruf nicht Reichsjugendführung mit Homosexuellen durch- los. Beim Reichsparteitag von 1934 kursierte setzt. Tatsächlich war Schirach schon früh z. B. z.B. ein anonymes Pamphlet: ein fingierter Brief für einige Kreise des Exils zu einer „attraktiven eines sich als ausländischer Freund Schirachs Zielscheibe“ geworden, weil er „mit seinen mu- ausgebender Schreiber, der sich nach der sisch-künstlerischen Interessen, seinem im Ver- Röhm-Affäre von seinem ehemaligen Freund gleich zu anderen NS-Führern wenig ausge- Schirach lossagte; darin hieß es wörtlich: „Bis prägten Männlichkeitsgehabe und seinem eher zur bartholomäusnacht nannte ich dich meinen ‚weichlichen’ denn soldatisch-gestählten Er- duzfreund, obwohl ich von deiner ‚unglücklichen scheinungsbild“ gängige Homosexuellenkli- veranlagung’ wußte und mir die bedeutung des schees erfüllte (Jellonek): Entsprechende Flü- § 175 des deutschen strafgesetzbuches selbst sterwitze, z. B. über sein Schlafzimmer, kursier- als ausländer nicht ganz unbekannt war.“ Und in ten deshalb! Schirach mußte sich also nach au- George Mosses Buch Nationalismus und Se- ßen, wo es eben ging, deutlich als „normaler“ xualität findet sich der Hinweis, in Wien sei, als Mann profilieren, zumal ihm noch bis weit in das dort Schirach im Jahre 1940 als Reichsstatthal- Jahr 1934 Laschheit bei der Verfolgung homo- ter angekommen war, von Antifaschisten ein sexueller Vorkommnisse in der HJ [Hitlerjugend] Flugblatt mit dem Titel verteilt worden: „Lustkna- nachgesagt wurde. Für solche Vorkommnisse ben aus dem Dritten Reich sind soeben in Wien machte man jetzt vor allem die Unterwande- eingetroffen.“ So viel zu meinem ersten Erklä- rungsversuche der Bündischen verantwortlich, rungsversuch für die gezielte Verfälschung des denn – so tönten homophobe Kreise – „die Textes von „Jenseits des Tales“. gleichgeschlechtliche Freundesliebe“ sei „direkt Der zweite Erklärungsversuch hängt mit der eines der Hauptmerkmale dieser Bewegung“, Person des jungen Königs in dem Lied zusam- womit die Jugendbewegung, also die bündische men, mit dem vermutlich der letzte Staufer Kon- Jugend mit ihrer „jungenverherrlichenden Erzie- radin gemeint war, zumindest wurde das ange- hung“ gemeint war. Nach dem „Röhm-Putsch“ zeigte sich Schi- 48 Der Paragraph 175 erlaubte den Nationalsozialisten, rach dann – wie es heißt – in „ungewohnt ho- jeden zu verhaften, den sie homosexueller Neigung mophobem Gewand“ und verschärfte von nun auch nur verdächtigten. Erst 1969 wurde der Artikel an tatsächlich die Gangart gegen die Homose- endgültig abgeschafft.

20 nommen und lag auch angesichts der breiten, verstehen wir die Gemeinschaft der Volkswilli- oft sehr romantisch gefärbten Konradin-Über- gen, Volkgläubigen, Volkgehorsamen.“ lieferung im 19. Jahrhundert nahe. Weit bekannt Kein Wunder, daß man einen solchen Held war z. B. um 1900 vor allem eine Ballade von nicht durch homoerotische Züge befleckt sehen Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) mit dem wollte, zumal die Stauferburg Hohenstaufen bei Titel „Konradins Knappe“, wo sehr viel verhüllter Göppingen, von der seinerzeit 1267 Konradin in als bei Münchhausen eine erotische Beziehung Richtung Italien losgezogen war, nun zu einem angedeutet wird. Das Freundesmotiv, verkörpert „nationalen Heiligtum“ avancierte – vergleichbar in seinem Freund Friedrich von Baden, enge mit Mekka, zu dem jeder junge Deutsche einmal Mutterbindung des mit zwei Jahren als Sohn pilgern sollte. Bereits im Juni 1933 gab es dort Konrads IV. vaterlos gewordenen Jungen, sein ein „1. Hohenstaufentreffen der Hitlerjugend“. angeblicher Liebreiz, seine Fähigkeiten als Sän- Konradin-Mythos und Langemarck-Mythos wur- ger, seine Ritterideale tauchen neben der Empö- den jetzt gezielt zusammengebracht: Beide My- rung über die welsche Verschlagenheit des ganz then beschworen die Opferbereitschaft der deut- unritterlich zum Siege über ihn gekommenen schen Jugend auf dem Altar des Reiches zum Karl von Anjou in der Schlacht von Tagliacozzo Zwecke der Wiederaufrichtung einer starken 1268 immer wieder in den vielen Konra- deutschen Nation. Die letzten Worte Konradins din-Dichtungen bis zum Ersten Weltkrieg auf. in einem Konradin-Drama von Konrad Maisch [...] für die HJ lauten z. B.: Einen neuen großen Durchbruch erzielte Sind solche Opfer je umsonst gebracht? dann der Schriftsteller Otto Gmelin Anfang der Aus blut’ger Erde Saat reift eine Freudenernte, 1930er Jahre mit seiner als Reclam-Heft und entsteht des neuen Reiches Herrlichkeit somit als Schullektüre immens verbreiteten Er- in neuem Glanz und jugendfrischer Kraft. zählung „Konradin reitet“. In der Verlagsankün- Fazit also meiner Detailrecherche ist folgen- digung heißt es, Gmelin liefere ein bezaubern- des Erklärungsangebot: Schirachs Versuch, den des Bild des letzten Hohenstaufen, dieser „edel- Homosexuellenvorwurf gegen ihn loszuwerden, sten Blüte des Mittelalters, die so früh geknickt und das Ziel der HJ, Konradin zu einem Idol der wurde“: „Dieses junge Leben entfaltet sich wie in ganzen männlichen deutschen Jugend hochzu- einem Rausch des raschen Wachsens und Blü- stilisieren, ließen es nicht zu, das möglicher- hens bis hin zur jähen Katastrophe – ein Stück weise auf Konradin gemünzte Lied „Jenseits des deutschen Heldentums und deutscher Tragik, Tales“ mit seiner Akzeptanz der Homoerotik zu die tief ans Herz greift.“ Konradin wird so zum dulden. Da es sich aber wegen seiner großen „Urbild des ‚deutschen Jungen’“ stilisiert. Meh- Beliebtheit nicht verbieten ließ, vor allem in der rere Laienspiele erschienen nun in rascher Fol- Anfangsphase des Dritten Reiches, in der es ge zur Konradin-Thematik, in denen der junge u.a. darum ging, die Bündischen für das Regime König mythische Züge erhielt und als ju- und vor allem bündische Führer für die HJ zu gendlicher Held erscheint, der neben Jung- gewinnen, mußte es an zwei entscheidenden Siegfried Jungdeutschland verkörpern sollte; Stellen verändert werden. Wilhelm Schöttler, einer der Autoren eines sol- Diesem Fazit aus der Froschperspektive soll chen Stücks, habe Konradin für das ganze deut- aber noch ein weiteres Fazit aus der Vogelper- sche junge Volk entdeckt, hieß es damals lo- spektive folgen. Denn die von mir vorgestellte bend, und weiter: „Unter diesem deutschem Volk winzige Facette, die darauf verweist, daß beim

21 Übergang von der Männerbundsicht der Weima- war. Man wollte schließlich nach dem Hitlerju- rer Zeit zum Dritten Reich gleichzeitig Übernah- gend-Motto „treu leben, todtrotzend kämpfen, la- men und Eingriffe erfolgten – wie am Lied „Jen- chend sterben“ junge Helden züchten, aus deren seits des Tales“ gezeigt – , wirft ein exemplari- Augen – so Adolf Hitler – wieder das „freie, herr- sches Licht auf die Stoßrichtung einer spezifi- liche Raubtier ... blitzen“ sollte. Melancholische schen Art von „Piraterie“ der Nazis. Zugespitzt Selbstbespiegelung „innerwärts“ in der kleinen und etwas holzschnittartig ausgedrückt: Die „Pi- elitären bündischen Gruppe wäre dabei höchst raterie“ bestand darin, die bereits vorhandenen, kontraproduktiv gewesen! Hans Baumann (geb. in diesem Fall männlich-bündischen Mentalitäts- 1914) mit seinem Lied “Es zittern die morschen bestände in der Generation der (ja immer noch Knochen“ und dem Refrain „Wir werden weiter relativ jungen) Weltkriegssoldaten (geb. um marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn 1890/95) für sich zu instrumentalisieren und da- heute gehört uns Deutschland und morgen die mit die heranwachsende neue Jungmännerge- ganze Welt“, oder Horst Wessel (geb. 1907) mit neration (geb. um 1920 [...]) in der Hitlerjugend „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“, auf einen zukünftigen Krieg hin zu konditionie- wo die zweite Strophe beginnt: „Die Straße frei ren. Die Vermittlerrolle übernahmen dabei An- den braunen Bataillonen“, Baldur von Schirach gehörige einer Zwischengeneration wie Baldur selbst mit „Vorwärts, vorwärts, schmettern die von Schirach (geb. 1907), Horst Wessel (geb. Heldenfanfaren“ (Refrain: „Unsere Fahne flattert ebenfalls 1907) und andere aus den Geburts- uns voran... und die Fahne ist mehr als der jahrgängen um 1910. Tod“) und weitere Autoren wie Heinrich Anacker, An vielen der von mir in anderem Kontext un- Werner Altendorf, Herybert Menzel, Herbert Na- tersuchten „Männerbundlieder“ aus der frühen pierski, Gerhard Schumann (alle geb. zwischen Weimarer Republik läßt sich zeigen, wie sehr 1900 und 1910) – sie schufen neue Lieder, die diese neuen Lieder noch von Melancholie, von von nun an alles subjektiv Gefühlige im kollekti- Leiderfahrung mit sich und der Welt, von nach ven Rausch des „Nach-vorne-Stürmens“ unter- innen gerichteter Gefühligkeit geprägt sind. Die drücken sollten. Im dröhnenden Marsch der Ko- soldatische, landsknechtshafte Aggressivität war lonnen gab es keinen Raum mehr für Melancho- hier gewissermaßen durch Melancholie gebän- lie: Taten reimte sich auf Spaten und Soldaten; digt; der oft besungene soldatische Männerbund jeder hatte „fest im Glauben“ und „froh im Werk“ war so etwas wie ein Refugium, ein emotionaler zu sein, denn – so bestätigten die Lieder im Ge- Schutzraum, ein Ort der Selbstbestätigung in ei- stus der Selbstbeschwörung (hier ein Beispiel ner Zeit der Zerrissenheit und Perspektivelosig- von Herbert Napierski): keit. Dieses mentale Klima änderte sich dann Und keiner ist da, der feige verzagt, gegen Ende der Weimarer Republik und beson- der müde nach dem Weg uns fragt, ders nach 1933: Eine Reihe solcher Lieder wur- den uns der Trommler schlägt. de von den Nationalsozialisten gar nicht erst ak- Dieser Weg endete dann für viele junge zeptiert; einige wurden zurechtgebogen wie Männer an den Fronten von Narvik bis EI Ala- „Jenseits des Tales“, und ansonsten lieferten mein, von Arromanches bis Kiew [...] von der junge Dichter ohne eigene Kriegserfahrung aus Biskaya bis Stalingrad... 49 jener „Zwischengeneration“ neue Lieder mit ei- Hans-Karl Seeger ner aggressiven Beschwörung von Kampf und Heldentum, bei der alles Melancholische getilgt 49 Reulecke S. 25-31.

22 In Memoriam Josef Neunzig

Im Jahre 2004 wäre Geistlicher Rat h. c. Josef Josef Neunzigs Schwestern Annelies und Christa Neunzig 100 Jahre alt geworden. Das ist ein Anlaß, Neunzig übergaben mir am 18. Juni 2003 ihren sich dieses KZ-Priesters zu erinnern, der nach sei- Ordner „Briefe aus schwerer Zeit, 1941 bis 1945“. ner Befreiung aus dem KZ Dachau dafür gesorgt Christa Neunzig hat darin die Briefe ihres Bruders hat, daß Karl Leisners Leiche von Planegg nach aus dem KZ Dachau in Schreibmaschinenabschrift Kleve überführt wurde. zusammengestellt. Diese Unterlagen (zit.: Neunzig) waren hilfreich bei der Erstellung von Josef Neun- zigs Lebensbild. Außerdem fußen die Ausführun- gen auf folgenden Veröffentlichungen: Josef Neunzig, Ein Priester erzählt von Dachau, Maschinenschrift von 1945. Rudolf Zäck, Priester im Widerstand - Priester mit Zivilcourage, Pfarrer Josef Neunzig *01.03. 04 – +04.08.65, Pfarrer in Bad Bertrich 1956-1965, Herausgeber der „Stimmen von Dachau“ „... aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen ...“, Neumagen-Dhron 1996 (zit.: Zäck). Kirchengemeinde Christus König Halver (Hg), 50 Jahre danach, Rückweg in die Freiheit, 29. Mai 1945, Vikar Josef Neunzig wieder in Halver, 1995 (zit.: Halver). Karl Sommer, Maria Husemann (Sekretärin von Hans Carls), Mein Widerstandskampf gegen die Verbrechen der Hitlerdiktatur. Hans Carls, Wi- derstandskämpfer gegen die Verbrechen der Hit- lerdiktatur. Bad Honnef 1965 (zit.: Sommer). 50

50 Maria Husemann schrieb am 5.2.1966 an Heinz Römer: Ich werde Ihnen doch bei Gelegenheit und wenn sie wollen, die von mir und von Pfarrer Sommer, einem Freund von H. C. [Hans Carls], zusammen- gestellte und für München gedachte Dokuments- Zusammenstellung übersenden, in welchem auch die Nachrufe für H. C. eingefügt sind. Maria Husemann, geboren 1892, gestorben am 12.12. 1975. Sie war Hans Carls’ Sekretärin und kam ins Konzentrationslager, da man bei ihr „Schwarzpost“ von Hans Carls aus dem KZ gefunden hatte.

23 Der Seelsorger Josef Neunzig Er hatte unter den an der Schultafel stehenden Ta- Josef Neunzig wurde am 1. März 1904 in Bedburg gesspruch „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst bei Köln als erster Sohn von acht Kindern der Ehe- nichts auf der Welt“ eine Schülerin den Spruch leute Maria und Josef Neunzig geboren. Von 1915 „Hochmut kommt vor dem Fall“ schreiben lassen. bis 1924 verbrachte er seine Gymnasialzeit an der Am 15. Februar 1939 erfolgte eine weitere Verwar- ehemaligen Rheinischen Ritterakademie in Bedburg nung und am 2. August 1939 die Anklage, weil er und studierte dann bis 1929 Theologie an den Uni- sich „in böswilliger, gehässiger und hetzerischer versitäten in Bonn und Freiburg. Anschließend trat Weise gegen die äußere Form der Wiedereingliede- er ins Trierer Priesterseminar ein und empfing am rung Österreichs ... sowie gegen den Reichsleiter 12. März 1932 in Trier die Priesterweihe durch Rosenberg“ geäußert habe. Am 8. September 1939 Erzbischof Franz Rudolf Bornewasser 51 . Am 1. wurde er zu acht Monaten Gefängnis wegen Ver- August 1932 wurde er Kaplan in Plaidt, am 11. stoßes gegen den Kanzelparagraphen 52 und das Oktober 1933 in Fraulautern und am 5. August Heimtückegesetz 53 verurteilt. Die Gefängnisstrafe 1935 in Freisen. Dort stand er schon auf der setzte man später zur Bewährung aus und wies schwarzen Liste der Nationalsozialisten. Durch Josef Neunzig am 30. November 1939 aus der Di- Verfügung des Regierungspräsidenten in Koblenz özese Trier aus. Seine geistliche Behörde übertrug vom 16. Juli 1937 wurde ihm wegen „Verächtlich- machung des nationalsozialistischen Staates vor 52 Der § 130a des Strafgesetzbuches wurde am 10.12. Schulkindern“ die Genehmigung zur Erteilung des 1871 eingeführt und am 26.2.1876 ergänzt. Er be- schulplanmäßigen Religionsunterrichtes entzogen. drohte Geistliche, die in Ausübung ihres Amtes „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ Angelegenheiten des Staates behandelten, mit bis zu Caritasdirektor Hans Carls, geboren am 17.12. zwei Jahren Gefängnis oder Festungshaft. Sowohl 1886 in Metz, Priesterweihe am 24.6.1915 in Köln, während des Kulturkampfes als auch in der Zeit des gestorben am 3.2.1952. Er wurde 1924 Caritasdirek- Nationalsozialismus diente der Vorwurf des „Kan- tor in Wuppertal und kam am 13.3.1942 ins KZ Da- zelmißbrauchs“ der Reglementierung politisch miß- chau, aus dem er am 29.4.1945 befreit wurde. Er gab liebiger bzw. regimekritischer Geistlicher. als erster die „Stimmen von Dachau“ heraus. 53 Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat Prälat Heinz Römer, geboren am 1.3.1913 in und Partei und zum Schutz der Parteiuniform“ vom Ludwigshafen, Priesterweihe am 4.7.1937 in Speyer, 20.12.1934 stellte mit allgemeinen Formulierungen gestorben am 13.4.1998. Er kam am 21.2.1941 ins jede Art von Kritik am NS-Regime unter Strafandro- KZ Dachau und wurde am 9.4.1945 entlassen. Er war hung. Jede Schädigung des Ansehens von Staat und der letzte Herausgeber der „Stimmen von Dachau“. Partei sowie ihrer Vertreter konnte juristisch verfolgt 51 Franz Rudolf Bornewasser, geboren am 12.3.1866 in werden. Anschließend an die „Verordnung des Radevormwald, Priesterweihe 1894, Weihbischof Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer An- von Köln 1921, Bischof von Trier am 12.3.1922, per- griffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ sönlicher Titel „Erzbischof“ 1944, gestorben am vom 21.3.1933 schuf das Heimtückegesetz ein 20.12.1951 in Trier. Er widersetzte sich dem Natio- Rechtsinstrument zur Ausschaltung abweichender nalsozialismus und sprach sich 1935 und 1945 für das Meinungsäußerungen. Unter Strafe gestellt wurden Verbleiben des Saarlandes bei Deutschland aus. sowohl öffentliche als auch private Äußerungen.

24 ihm die Seelsorge für die Saar-Evakuierten in wir – so Gott will – sogar die Weihe eines Prie- 56 Oschersleben bei Magdeburg. In dieser Diaspora- sters hier haben. gemeinde waren viele Polen als Fremdarbeiter tätig. Am 29. Dezember 1944 schrieb er aus dem KZ Da- Um diese kümmerte er sich besonders. Als die chau einen Schwarzbrief an Vikar Heinrich Wa- 57 Evakuierten 1940 wieder in ihre Heimat zurückkeh- ßer : ren durften, übernahm ihn der Erzbischof von Pa- Am 3. Sonntag im Advent hatten wir sogar Prie- derborn, Dr. Lorenz Jaeger 54 , in seine Diözese und sterweihe des Karl Leisner aus Münster (re- spective Kleve), eine würdige Feier. Primiz hielt ernannte ihn am 3. Januar 1941 zum Pfarrvikar von er am zweiten Weihnachts-Feiertag. Er ist Halver. Tbc-krank, hat die Feierlichkeiten gut überstan- den, aber seine Gesamtverfassung ist nicht gut. Josef Neunzig Ob er seine Heimkehr noch erlebt, ist leider frag- in den Fängen der Nationalsozialisten lich. Mette, Pontifical-Hochamt und Vesper wa- Als Josef Neunzig am 23. August 1941 von einem ren recht feierlich. Wir können schon sagen, daß Besuch in seiner ehemaligen Seelsorgestelle in wir Weihnachten tief und ernst ungestört bege- 58 Oschersleben zurückkehrte, besuchte ihn ein Poli- hen konnten wie nirgendwo anderen Orts. zist und nahm ihn mit nach Dortmund. Dort kam er Am 30. Dezember 1944 schrieb er in einem ins Gefängnis in der Steinstraße, wurde wegen Schwarzbrief an seine Schwester Christa: Begünstigung polnischer Arbeiter – er hatte einem Am 3. Adventssonntag war Priesterweihe. Das gab schon die rechte Einführung zu den Festta- Polen eine Zigarre gegeben – verurteilt und am 17. gen, ohne jede Störung konnten wir Mette, Pon- Oktober 1941 ins KZ Dachau gebracht. tifical-Amt und Vesper halten. 59 Josef Neunzig schrieb am 4. Dezember 1944 in 55 Am 9. April 1945 wurde Josef Neunzig aus dem einem Schwarzbrief an seine Schwester Christa: KZ Dachau entlassen. Einen französischen Bischof haben wir seit Mo- naten unter uns und in einigen Wochen sollen Josef Neunzig ist frei Nach seiner Entlassung blieb Josef Neunzig in der Nähe des KZ Dachau. Oft kam er in Zivil als Käu- fer in die Verkaufsstelle der Plantage 60 , wo noch bis 54 Dr. Lorenz Jaeger, geboren am 23.9.1892 in Halle an der Saale, Priesterweihe am 1.4.1922, vom 19.10. 1941 bis 1973 Erzbischof von Paderborn, ab 1965 56 Neunzig S. 210. Kardinal, gestorben am 1.4.1975 in Paderborn. Er 57 Geistlicher Rat Heinrich Waßer, geboren am 12.5. war ein großer Förderer der Ökumene. 1915 in Windhagen, Priesterweihe am 19.3.1941 in 55 Neben den Terminbriefen, die die Häftlinge alle vier- Paderborn, gestorben am 14.1.2003. zehn Tage schreiben durften, gab es sogenannte 58 Neunzig S. 217; eine Kopie des Briefes befindet sich „Schwarzbriefe“, die aus dem Lager geschmuggelt im Pfarrarchiv von Christus König in Halver; er ist und auf die normale Post gegeben oder durch Mittler veröffentlicht in: Zäck S. 25f. überbracht wurden. In solchen Briefen wurden die 59 Neunzig S. 218. verdeckten Ausdrücke aus den „offiziellen“ Briefen 60 Die Plantage war 1938/39 auf Veranlassung des geklärt. Reichsführers Heinrich Himmler als Heilkräuterkul-

25 zur Kapitulation Priesterhäftlinge arbeiteten. Er sere Geduld ist schwach geworden. Ein Aufat- brachte viel mehr mit, wenn er kam, um den Hun- men und erste Freude am Himmelfahrtstag! gernden zu helfen, als er mitnahm beim „Kauf“ von Unsere tapfere Jüngste hat es geschafft, mit Blumen oder Gewürzen. Am 29. Mai 1945 kehrte dem Fahrrad zu uns zu gelangen, nicht ohne er nach Halver zurück. Christa Neunzig beschreibt Gefahr. Sie bringt uns die Nachricht, daß alle Lieben in der Heimat die schweren letzten Tage die Heimkehr ihres Bruders Josef: und Wochen des Krieges überstanden haben. Am 12. April erlebe ich mit meiner Mutter den Mit Entbehrungen und schlechter Ernährung Einmarsch der Amerikaner in Halver im westli- müssen wir wohl alle noch lange leben. Jetzt chen Sauerland. Hier wurde mein Bruder, der aber ist die Hauptlast von uns gefallen. Der un- katholische Pfarrer dieses Ortes, am 23.8.1941 sinnige Krieg ist zu Ende, keine Fliegerangriffe verhaftet. Fast vier Jahre hat er im Konzentrati- mehr. Die Hoffnung steigt, daß alle noch onslager Dachau verbracht. Nun hoffen wir und schmerzlich Vermißten bald heim kommen. Ei- die Gemeinde auf seine baldige Heimkehr. Hier ner kommt nicht mehr wieder, unser jüngster ist der Krieg zu Ende. Die Kapitulation erfolgt Bruder. erst am 8. Mai. Die deutsche Wehrmacht kämpft Man hört, daß die Priester von Dachau auf bis zum Letzten. Dadurch werden Leid und Ver- dem Heimweg seien. Wenn es doch stimmte! wüstung im Lande nur vermehrt. Am 1. Mai mel- 61 Das wäre ein schönes Pfingstfest. Das Warten det das Radio: Dachau ist befreit. Unsere Hoff- ist jedoch noch nicht zu Ende. Im Pfarrhaus ist nung erhält neue Nahrung. zu dieser Zeit ein Kommen und Gehen von Sol- Post geht schon lange nicht mehr durch we- daten und Evakuierten, zu kurzer Rast, zum Es- gen der wechselnden Fronten. Wir haben auch sen, manche auch zu einem Nachtlager. Viele keine Telefonverbindung mehr zu den übrigen sind noch auf der Suche nach einer Bleibe, die verstreut lebenden Angehörigen. Obwohl die meisten streben nach Hause zu ihren Familien. Entfernungen gar nicht so weit sind, kann man Auch zu Pfingsten ist der Ersehnte noch nicht nicht zueinander kommen. Dazu kommt die be- angekommen, doch wenigstens zeigt sich eine lastende Ungewißheit über das Schicksal unse- Spur von ihm. rer Soldaten. Unser Nachbarpfarrer W. 62 , der im letzten Am 6. Mai bekommt die Hoffnung einen Kriegsjahr noch nach Dachau kam, steht zwei Dämpfer, als es im Rundfunk heißt: Im Lager Tage vor dem Fest in der Haustür, als Mutter Dachau ist noch Flecktyphus ausgebrochen. öffnet. Ihren enttäuschten Ausruf: „Sie kommen Hoffentlich wird Josef davon nicht mehr er- allein?“ beantwortet er beruhigend, daß ihr Sohn wischt. Ob er schon auf dem Heimweg ist? Un- wohl in den nächsten Tagen ankommen wird. Wir erfahren Erstaunliches! Die SS hat Anfang April schon viele Priester entlassen, aber nicht alle am gleichen Tag. So wurden die Freunde tur angelegt worden. „Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung“ war die offizielle Be- getrennt und konnten sich nicht mehr verständi- zeichnung. Ab März 1942 gab es Arbeitskommandos der Priester in der Plantage, die eine Verkaufsstelle 62 Josef Witthaut, geboren am 6.11.1898 in Barkhausen, für die Zivilbevölkerung hatte. Priesterweihe am 20.3.1926, gestorben am 11.2.1979. 61 Am 29.4.1945 befreiten die Amerikaner das KZ Er kam am 7.8.1944 ins KZ Dachau und wurde am Dachau. 11.4.1945 entlassen.

26 gen, denn sie hatten eigentlich vor, zusammen von uns gefallen. Glockengeläut ertönt! Der die Heimreise anzutreten. Nach Hause konnte Junge hat es in Bewegung gebracht. So war es keiner, weil um München noch gekämpft wurde. verabredet, dreimal fünf Minuten lang zu läuten, Jeder mußte sehen, wo er einen Unterschlupf um der Gemeinde zu verkünden, ihr Pfarrer ist fand. Pfarrer W. landete in einem Kloster, das zurückgekehrt. Ein hilfreicher Mensch hat Josef schon acht Tage vor Dachau von den Amerika- die Heimfahrt ermöglicht mit seinem Auto. nern eingenommen wurde. So hatte er natürlich Als erste Handlung hält mein Bruder die Vorsprung. Mein Bruder hatte dieses Glück Maiandacht mit den herbeigeeilten Leuten und wahrscheinlich nicht. Die Verzögerung kann singt ein Lob- und Danklied vor dem Altar. Es ist man sich nur so erklären. In mir aber ist eine für uns ein glückliches Erleben, ihn wieder in Ungeduld, die ich nur mühsam beherrschen seinem Amt zu sehen, und alle freuen sich. Die kann. Fast vier Jahre haben wir ausgehalten. Meßdiener haben ihre Festgarnitur angezogen, Jetzt glauben wir, es geht nicht mehr. Mutter ist die Organistin gibt ihr Bestes her. Nach dem sehr still, sie fühlt sich nicht gut. Doch dann Gottesdienst scharen sich draußen die Getreuen gibt’s den 29. Mai! Nach Mittag, ich bin noch der Gemeinde um ihren Pfarrer, und es werden beim Spülen, höre ich durch das offene Kü- immer mehr. Von überall her kommen sie, denn chenfenster, daß draußen Fahrräder an die die Diasporagemeinde ist weit verstreut. Kinder Hauswand gelehnt werden. Als ich hinaus blik- bringen Blumensträuße. Josef sieht gut aus. Er ke, sind es meine älteste Schwester Maria und ist seit seiner Befreiung in München von guten Schwägerin Lucie. Obwohl ich mich sehr freue Menschen gepflegt worden und hat im letzten sage ich ihnen gleich: „Josef ist aber noch nicht Jahr im Lager nur noch wenig gearbeitet. Sein hier.“ Maria sagt, daß sie es nicht länger aus- optimistisches Temperament und sein Humor hielt, sie wollte Mutter ihr schweres Herz aus- bewahrten ihn zu resignieren. Die Hungerjahre schütten. Ihr jüngster Bub, 20 Monate alt, ist am 1941/42 waren furchtbar. Zahlreiche Pakete aus Pfingstsonntag in Bilstein mangels ärztlicher Hil- der Heimat, die dann geduldet wurden, haben fe an Bronchialasthma gestorben. Maria ist in vielen das Leben gerettet. Menschliche Schika- Bilstein evakuiert, Lucie hat sie mit zwei Kindern nen und Quälereien bleiben bis zuletzt. Mein bei sich aufgenommen. Wir sitzen noch weinend Bruder hat sich noch um die zurückgebliebenen beisammen, als es mehrmals stürmisch an der Kameraden gekümmert, als er schon entlassen Haustür schellt. Die Ungeduld der Meßdiener, war. Mit einem Rucksack voller Brote schlich er vermute ich ärgerlich. Die Maiandacht ist doch sich mehrmals ins Lager, sehr gefährlich für ihn. erst in einer Stunde. Ja, es ist einer von den Die Versorgung war gerade in der letzten Zeit Jungen, ganz aufgeregt sprudelt er heraus: wieder sehr schwierig geworden. „Pfarrer Neunzig ist in der Kirche.“ Ehe ich es Wie sich später herausstellte, sind die Jahre fassen kann und die Stufen herunter springe, der Verbannung nicht ohne gesundheitliche liege ich schon in seinen Armen. Unter Lachen Schäden an ihm vorübergegangen. Immerhin und Weinen ziehe ich ihn hinein zu Mutter, die hat er noch 20 Jahre priesterlich wirken können, ihn gar nicht mehr loslassen will. Wie gut, daß bis er 1965 sein Leben in die Hand des Schöp- ausgerechnet heute die Beiden von Bilstein ge- fers zurückgab. 63 kommen sind. Welch ein Trost für Maria. So na- he beieinander liegen Leid und Freude. Jetzt überwiegt die Freude, denn eine große Last ist 63 Neunzig S. 240ff.

27 Josef Neunzig als „Fahrvikar“ daß er ein Auto in Elberfeld aufgebracht hatte Nach seiner Rückkehr in die Heimat wirkte Josef und mich abholte. Herr Hengst fuhr persönlich Neunzig weiter in seiner Gemeinde in Halver. Den- und nahm noch einen Freund von Bayern mit, noch fuhr er schon nach 14 Tagen wieder nach Herr Kölker war es, der uns die Fahrt wirklich Dachau und in den folgenden Monaten noch zwei- froh gestaltete. [...] Am anderen Tag fuhren wir weiter. In Elber- mal. Christa Neunzig schrieb am 21. Mai 1966 an feld wollte ich ungesehen ins Marienheim 65 kom- Heinz Römer: men und ging deshalb heimlich in die Kapelle, Er gönnte sich aber keine Ruhe und fuhr kurz kniete am Altar nieder und dankte Gott für meine hintereinander dreimal nach Dachau, um Kame- Rettung. Da brauste plötzlich ein Chor durch das raden zu holen, die in Folge von Krankheit oder Haus: „Lobet den Herren“, ein herzlicher Emp- Mangel an Transportmöglichkeiten nicht nach fang wurde mir bereitet, den ich nie vergessen Hause konnten. Wie er die erste Fahrt organi- werde. 66 siert hat, weiß ich gar nicht mehr. Da brachte er Seine zweite Fahrt nach Dachau machte Josef Caritasdirektor Carls mit. Dann hat dieser in El- Neunzig mit dem „Holzkocher“ – dieser wurde statt berfeld von einem Fabrikanten einen Lastwagen mit Benzin mit Holz angetrieben – den Hans Carls zur Verfügung gestellt bekommen. Wissen Sie, das war noch einer mit Holzvergaser. [...] Beim wie oben erwähnt von einem Wuppertaler Fabri- dritten Transport sollte der inzwischen verstor- kanten zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Es bene, im KZ geweihte junge Priester Karl Leis- war ein LKW mit Anhänger, der sogenannte „Cir- ner in die Heimat geholt werden. Nun wehrte cus-Neunzig“. Damit transportierte er ehemalige sich aber die Mutter, daß ihr Sohn schon wieder Häftlinge und deren Angehörige von München fahren sollte, weil er doch nun dringend etwas durch die amerikanische, französische und britische Schonung gebraucht hätte. Auch seine Ge- Besatzungszone nach Wuppertal. meinde, die ihn so lange entbehrte, sah es gar Bei einer solchen Gelegenheit half er auch Fa- nicht gerne. Er war damals noch Pfarrvikar: Sie milie Leisner. Karl Leisner schrieb in sein Tage- gaben ihm schon den Namen „Fahrvikar“. Da kam der Herr Caritasdirektor eigens aus Elber- buch: feld, um erstens die Mutter umzustimmen, und Montag, 9. Juli 1945 zweitens stieg er bei einer Abendandacht auf die „Circus Neunzig“ reist ab. Vater mit. Mutter Kanzel unseres Diasporakirchleins und erzählte bleibt. Bekommt Lebensmittelmarken. der aufmerksamen Gemeinde die Geschichte von Karl Leisner und warum ihr Vikar noch ein 65 Das Marienheim, gegründet 1897, wurde von Aren- letztes Mal nach Bayern müßte. Nun, alle ließen berger Dominikanerinnen bis 1971 als Klinik geführt. sich beschwichtigen und Josef tat den letzten 64 In der Klosterchronik des Marienheims findet sich im Liebesdienst an dem Primizianten von Dachau. Jahre 1945 folgende Eintragung: Hans Carls berichtet: Am 5. Juni kehrte die Caritassekretärin Frl. Huse- Ich werde es meinem lieben Freund und Lei- mann aus dem KZ Eger heim. Wir nahmen sie als densgefährten Josef Neunzig nie vergessen, Kranke auf. Am 21. Juni traf auch Herr Caritasdi- rektor Carls nach vierjähriger KZ-Haft aus Dachau ein. Wir überließen ihm das Besuchszimmer Nr. 64 Original im Archiv Bistum Speyer, Nachlaß Römer 125 auf der 11. Etage. Nr. 57. 66 Sommer S. 153.

28 Aus einem Brief von Heinrich Auer 67 vom 14. No- Vater kam wohlbehalten in Kleve an und vember 1945 an Emil Thoma 68 : sagte uns: „Karl wartet auf Euch. Er möchte sei- 71 72 [...] Sein [Karl Leisners] Vater fuhr auf unserem ne drei Schwestern [Maria , Paula und Elisa- Lastwagen mit, der unter Führung von Jupp beth] unbedingt wiedersehen. Er lebt nicht mehr lange. Am 6.8. könnt Ihr mit Pfarrer Neunzigs Neunzig eine Anzahl Kameraden und mich am 73 10. Juli von Nymphenburg der Heimat zuführte. „Treck“ von Wuppertal aus mitfahren.“ In Karlsruhe verließ ich den Lastkraftwagen, Das gesamte Unternehmen „Circus-Neunzig“ ist dessen Zielstation Wuppertal-Elberfeld war. 69 Caritasdirektor Hans Carls und seiner Sekretärin Karl Leisners Schwester Elisabeth Haas 70 erinnert Maria Husemann zu verdanken. Diese schrieb am sich: 5. Februar 1966 an Heinz Römer: Vater konnte sich nur einige Tage bei Karl am Ich war 1945 im Juni einige Tage nach meinem Krankenbett aufhalten, weil er seinem Beruf Todesmarsch aus der Tschechei vor H. C. [Hans nachgehen mußte. Er hatte die Möglichkeit, mit Carls] in Wuppertal angekommen. [...] Kurz nach dem „Treck“ (einem LKW und Anhänger), den meinem Eintreffen hier wurde ich von einer El- der ehemalige KZ-Priesterhäftling Pfarrer Neun- berfelder Autofirma gebeten, mich für die Be- zig von Nord nach Süd und umgekehrt für ent- schaffung von Benzin einzusetzen. Ich tats und lassene KZ-Häftlinge und deren Angehörige or- so war es möglich, mit H. C. auch Pfr. Neunzig ganisierte, von München bis Wuppertal mitzu- nach hier zu holen. Dann organisierten diese fahren. beiden Herren mit Hilfe von einigen Persönlich- keiten weitere Transporte von der Speditionsge- sellschaft. Sie holten die Geistlichen von Mün- chen ab, Eintreffen war im Marienheim Elberfeld, 67 Der Historiker Professor Heinrich Auer (1884-1951) war von 1911 bis zu seinem Tod 1951 Direktor der Bibliothek des Deutschen Caritasverbandes im 71 Maria Leisner, geboren am 23.11.1917 in Immen- Werthmannhaus in Freiburg. Er kam am 23.7.1943 stadt, gestorben am 19.6.1999 in Kalkar, war die letz- ins KZ Dachau und wurde am 29.4.1945 befreit. Er te der Familie, die das Elternhaus in Kleve in der nahm des öfteren am Gottesdienst in der Lagerkapelle Flandrischen Straße 11 bewohnt hat. Hier umsorgte teil, obwohl sie offiziell für Laien verboten war. sie ihre Eltern bis zu deren Tod, hier lebte auch ihre 68 Emil Thoma, geboren am 26.6.1889 in Freiburg, Schwester Paula. Durch den Tod ihres Bruders Karl Priesterweihe am 2.7.1913 in St. Peter/Freiburg, ge- erfüllte sich Maria Leisners eigene Lebens- und Be- storben am 1.8.1957 in Eppingen. Er kam am 12.9. rufsplanung als Seelsorgehelferin und Haushälterin 1941 ins KZ Dachau und wurde am 28.3.1945 entlas- nicht. Sie bildete sich mit 45 Jahren zur Hauswirt- sen. schaftsmeisterin und zur Büchereiassistentin fort. Für 69 Kopie im IKLK-Archiv. ihre langjährigen ehrenamtlichen Tätigkeiten erhielt 70 Elisabeth Haas, geborene Leisner, geboren am 14.8. sie am 5.7.1996 das Bundesverdienstkreuz. 1923 in Kleve. 1947 heiratete sie Wilhelm Haas. Sie 72 Paula Leisner, geboren am 25.12.1919 in Rees, ge- haben neun Kinder: Monika, Benedikt, Paul, Stephan, storben am 19.2.1990 in Kleve. Sie war Gewerbe- Maria, Elisabeth, Willibrord, Norbert und Hildegard. oberlehrerin in Kleve. Ihr schrieb Otto Pies zu Weih- Nach dem Tod ihres Mannes (1993) übernahm sie bis nachten 1958: „Du erinnerst mich am meisten an zum Jahre 2004 die Geschäftsführung des IKLK. Sie Karl. Es gibt Lücken, die sich nie mehr schließen.“ lebt heute in Kleve-Kellen. 73 Dokumentation vom 30.1.1991.

29 von wo weitere Fahrten möglich gemacht wur- Morgen schon früh in Richtung Frankfurt. Mutter den. So wurde dann auch die Leiche des ver- und Maria fuhren mit dem „Treck“. Wir beide er- storbenen Karl Leisner nach hier geholt. 74 reichten am Abend des 15. August Frankfurt und Heinz Römer berichtet: übernachteten bei Schwestern im Monikaheim, Wißt Ihr übrigens, daß es unserem unvergeßli- die wir von Praktika unserer Ausbildung her chen Hans Carls zu verdanken ist, daß Karl kannten. Am 16. August stellten wir uns wieder Leisners Leiche bald nach seinem Tod in die an die Straße und erreichten am späten Abend Heimat überführt werden konnte? Er und seine Vater in Kleve, dem wir Karls Tod und die Über- Sekretärin, die auch gerade aus dem KZ heim- führung seines Leichnams mitteilen konnten. Wir gekommen war, organisierten damals das Ben- erledigten mit ihm alle Vorbereitungen für die zin und die Autos, die nötig waren, um die über- Beerdigung. Die einzige in Kleve erhaltene Kir- lebenden Priester aus dem Süden nach dem che befand sich im Kapuzinerkloster [Spyckklo- Norden zu bringen und dann auch Leisners Lei- ster]. Dort vereinbarten wir das Requiem für den che. 75 20. August. Den Totenzettel setzten wir gemein- Elisabeth Haas erinnert sich: sam auf. Nach Aussage des Druckers der Fami- Das erste Seelenamt für Karl wurde am 14. Au- lie Lenders – Herrn Jansen – wurden zunächst – gust 1945 – meinem Geburtstag – in der Kapelle trotz Papiermangels – 5.000 Totenzettel ge- des Sanatoriums von Pater Otto Pies 76 gefeiert, druckt. Die Stadt Kleve stellte Vater ein Auto zur und am 15. August – dem Fest Mariä Himmel- Verfügung, um Freunden und Bekannten Karls fahrt – startete der von Pfarrer Neunzig organi- Tod und seine Beerdigung ankündigen zu kön- sierte „Treck“ – LKW und Anhänger – wie ge- nen. plant gen Wuppertal. Wie eine wunderbare Fü- Am 18. August 1945 trafen Mutter und meine gung der Gottesmutter sahen wir diese Fahrt, Schwester Maria mit dem Leichenwagen und dem Toten ein. Der Leichenwagen hatte sie ab bei der die Leiche im Anhänger mittransportiert 78 wurde, an. 77 Paula und ich „trampten“ an diesem Wuppertal nach Kleve gebracht. Notizen von Mutter Leisner über ihre Rückfahrt von München nach Wuppertal mit dem „Circus 74 Original im Archiv Bistum Speyer, Nachlaß Römer Neunzig“: Nr. 55. 75 Mittwoch, 15. August 1945 Stimmen von Dachau Nr. 5, 1966, S. 15. 79 76 Pater Dr. Johannes Otto Pies SJ, geboren am 26.4. Thea und Lilly [Friedrich ] bringen uns nach 1901 in Arenberg bei Koblenz, Eintritt bei den Jesui- Nymphenburg. Abfahrt 7.30 Uhr, abends gegen 19.30 Uhr in Esslingen vor Stuttgart. ten am 14.4.1920, Priesterweihe am 27.8.1930, ge- storben am 1.7.1960 in Mainz. Er kam am 2.8.1941 ins KZ Dachau und wurde am 27.3.1945 entlassen. Siehe Rundbrief des IKLK Nr. 43, S. 7-9. Einfache Profeß am 29.3.1924, Feierliche Profeß am 77 Heinz Römer in Stimmen von Dachau Nr. 7, 1966/67, 23.4.1927, Priesterweihe am 7.4.1929, gestorben am S. 24: 30.7.1978 in Ulm. Er kam am 12.8.1942 ins KZ Da- [Odilo Gerhard] war doch bei denen, die seinerzeit chau und wurde auf dem Evakuierungsmarsch vom den Sarg mit Karl Leisners Leiche auf den Wagen 26.4.1945 befreit. hoben zum Heimtransport nach Kleve. 78 Dokumentation vom 30.1.1991. Pater Odilo (Josef) Gerhard OFM, geboren am 2.12. 79 Franz Friedrich (2.12.1905-21.6.1974) und Leopol- 1900 in Rottinghausen, Einkleidung am 28.3.1923, dine (Lili), geborene Zahn (24.10.1913-14.5.1992),

30 Donnerstag, 16. August 1945 Die Beförderung der Leiche des „Martyrerprie- Kurz vor acht ab Esslingen über Karlsruhe, sters aus dem Klever Land“ durch drei Besat- Darmstadt, Worms, Frankfurt, Wiesbaden bis zungszonen an den Niederrhein in die Heimat- Oestrich/Rhein, übernachtet bei Familie Her- stadt Kleve verlief wie eine wunderbare Hilfe der mann Fuhrmann. 80 (5.30 bis 6.00 Uhr heilige Gottesmutter fast problemlos. Einer Beschlag- Messe.) nahme der Leiche in der französischen Besat- Freitag, 17. August 1945 zungszone – wegen nicht vorschriftsmäßiger 8.00 Uhr ab Oestrich, über Niederlahnstein, Einsargung – es fehlte der Zinksarg – konnte Kaub, bei Unkel französische Paßkontrolle (ge- entgangen werden. klappt), um 6.30 Uhr in Elberfeld-Vohwinkel. Die Ankunft der Leiche in Kleve sprach sich Herr Pfarrer Neunzig brachte Pater [Josef] Kla- in Windeseile herum. Es gab damals noch keine diwa SJ 81 , Maria und mich ins St. Marienheim, Tageszeitung und Postverbindung. Der größte wo wir lieb von den Schwestern aufgenommen Teil der Bevölkerung, der im Laufe des Jahres wurden. 82 1944 evakuiert worden war, lebte noch in der Karl Leisners Schwager Wilhelm Haas 83 notierte: Fremde. Im August zählte die Stadt Alt-Kleve erst wieder 9.283 [84] von ehemals 25.000 Ein- 85 damals wohnhaft in München-Laim, Stöberlstraße 49, wohnern. Paula Leisners beste Freundin Elfriede (Friedi) waren Freunde von Familie Leisner und verwandt mit 86 87 Vater Leisners Vetter Dr. Paul Henrich. Therese Mütter und deren Schwester Maria (Ike) waren 88 (Thea) Zahn (3.3.1904-17.4.1965) war eine Schwe- in Sorge um ihre Schwester Elisabeth Peusen und ster von Lili Zahn. deren Familie. Sie beschreiben ihre Erlebnisse: 80 Vermutlich auf der Römerstraße im Haus von Katha- Heute vor 58 Jahren – am 18. August 1945 – rina Fuhrmann, der Schwester des Franziskanerpaters wurde die Leiche Karl Leisners von einem pri- Eduard/Balthasar Fuhrmann. vaten Bestattungsunternehmen von Wuppertal 81 Pater Josef Kladiwa SJ, geboren am 11.3.1895 in nach Kleve überführt. Seine Mutter und seine Bielsko (Bielitz), Eintritt bei den Jesuiten am Schwester Maria hatten den Treck von Pfarrer 4.3.1913 in Stara Wies bei Brzozowo, Priesterweihe Neunzig mit Toten und Befreiten vom Lager Da- am 19.6.1927 in Lublin, gestorben am 24.7.1964 in chau nach Wuppertal begleitet und wurden an Thorn. Er kam am 20.6.1940 ins KZ Sachsenhausen diesem Tag mit dem Bestattungswagen in Kleve und am 14.12.1940 ins KZ Dachau. Er wurde am 29.4.1945 befreit und blieb bis 1947 in Deutschland als Militärseelsorger. 84 Siehe: Bernhard Baak, Zerstörung, Wiederaufbau und 82 Original im IKLK-Archiv. Verwaltung der Stadt Kleve 1944-1957, Kleve 1960, 83 Wilhelm (Willy) Haas, geboren am 17.11.1914 in S. 35. Kleve. Er heiratete am 28.5.1947 Elisabeth Leisner, 85 Wilhelm Haas in einer Dokumentation über Karl Karl Leisners jüngste Schwester. Neben vielen ande- Leisner am 16.7.1991. ren ehrenamtlichen Aufgaben wurde er 1975 Ge- 86 Elfriede Mütter, geboren am 10.1.1920 in Kleve, schäftsführer des IKLK. Schon früh sammelte er Do- wohnhaft in Kleve. kumente über Karl Leisner. Vor allem nach seiner 87 Maria Mütter, geboren am 11.10.1914 in Kleve, Pensionierung setzte er im IKLK seine ganze Kraft wohnhaft in Kleve. für die Seligsprechung seines Schwagers ein. Er starb 88 Elisabeth Peusen, geborene Mütter, geboren am 3.1. am 27.12.1993. 1906 in Kleve, gestorben am 7.11.1992.

31 erwartet. Karls Schwestern Paula und Elisabeth fertiggestellt werden. Dafür ist aber die genaue waren – nach Karls Tod am 12. August 1945 – und pünktliche Mitarbeit aller notwendig. 89 am 16. August wieder in Kleve angekommen. Maria Husemann schrieb am 5. Februar 1966 an Sie bereiteten mit dem Vater die Beisetzung für Heinz Römer, den letzten Herausgeber der Stim- den 20. August 1945 vor. men von Dachau: Familie Leisner wußte, daß meine Schwester Der 4. Rundbrief [Januar 1966] ist ein Prachtex- Maria und ich seit Wochen nach einer Möglich- emplar! Zu diesen ausführlichen Berichten kam keit suchten, die Familie unserer Schwester Eli- weder Carls noch Pfr. Neunzig. Sie hatten beide sabeth Peusen in Wuppertal-Ronsdorf zu besu- nicht die Unterstützung der Mitbrüder. Mehrere chen. Seit Februar – seit Beginn der Offensive Male bei Gesprächen mit Pfr. Neunzig drückte er am Niederrhein – hatten wir keinen Kontakt sein Bedauern darüber aus, was auch in den mehr miteinander gehabt. „Stimmen“ zum Ausdruck kam. 90 Paula und Elisabeth wiesen uns auf die Mög- Am 23. Januar 1948 wurde Josef Neunzig zum lichkeit hin, mit dem Bestattungswagen nach Pfarrer von Herdorf St. Aloysius ernannt und am Wuppertal zurückzufahren. Wir konnten Urlaub und Passierscheine (für die Rheinüberquerung) 30. März 1948 dort eingeführt. Am 27. April 1956 beantragen. Um die Mittagszeit am 18. August bekam er die Ernennung zum Pfarrer für Bad Ber- 1945 bekamen wir Bescheid, der Wagen sei an- trich, seine Einführung dort war am 3. Juni 1956. gekommen, der Fahrer wolle nach einer Stunde 1957 wurde ihm anläßlich seines Silbernen Prie- zurückfahren. [...] Elfriede Mütter sterjubiläums das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen. Am 25. Februar 1964 erfolgte „Herausgeber der Stimmen von Dachau“ seine Ernennung zum Geistlichen Rat h.c. Caritasdirektor Hans Carls begann am 1. Januar 1947 mit der Herausgabe der „Stimmen von Da- Josef Neunzigs Sterben chau“, einer Zeitschrift, in der er die Schicksale Am 1. Mai 1965 war Josef Neunzig auf der Fahrt seiner Mitbrüder im KZ Dachau schilderte. Sein nach Dachau zum Treffen der ehemaligen KZ-Prie- Nachfolger wurde Josef Neunzig, der ebenfalls ster in einen Verkehrsunfall verwickelt. Josef Akten über Leben und Sterben vieler Dachauprie- Augst 91 schrieb an Heinz Römer am 12. Januar ster gesammelt hatte. Im Dezember 1955 übernahm 1966: er die Federführung des in neuer Aufmachung er- Da ich am 29. April vorausfuhr nach Heilbronn, scheinenden „Nachrichtenblattes der Gemeinschaft wo mich Jupp am 30. mit seinem Auto abholte, ehemaliger KZ-Priester“, nachdem auf dem KZ- war er Freitag früh allein in Bad Bertrich und hat Priestertreffen am 10./11. September 1955 in Da- dort zum letzten Male zelebriert. – Wir über- chau aus Anlaß des 10. Jahrestages der Befreiung beschlossen worden war: 89 Stimmen von Dachau Nr. 1, 1955, S. 2. 90 daß von Zeit zu Zeit ein Mitteilungsblatt heraus- Original im Archiv Bistum Speyer, Nachlaß Römer gebracht werden soll. Auch soll ein genaues Nr. 55. 91 Verzeichnis der lebenden und ein Verzeichnis Josef Augst, geboren am 29.1.1909 in Bratrejovice der verstorbenen Mitbrüder in absehbarer Zeit (Maffersdorf), Priesterweihe 1935 in Leitmaritz, ge- storben am 18.10.1984. Er kam am 2.9.1942 ins KZ Dachau und wurde am 4.4.1945 entlassen.

32 nachteten am 30. in Haar bei München bei mei- stieß schräg gegen einen Baum, warf sich um ner Schwester. Am nächsten Morgen zelebrierte und stand auf dem Kopf in entgegengesetzter Jupp nicht, vielleicht fühlte er sich auch nicht Richtung. Daß wir überhaupt aus diesem Chaos ganz wohl, so empfing er, wie auch meine liebe noch herausgekommen sind, ist wie ein Wunder Schwester (diese freilich zum letzten Mal) aus zu bezeichnen. Nun bleibt uns nur, Gott zu dan- meinen Händen den Heiland. Nach seiner ken für seine Gnade und für die liebe Tote ein schweren Verwundung am gleichen Vormittag – inständiges Memento ins Gebet und ins heilige 1. Mai, kurz vor 11.00 Uhr kann es gewesen Meßopfer mit hineinzunehmen. sein – konnte er nie mehr aufstehen. 92 Meine Bertricher bitte ich, vor allem der ver- Vom Krankenbett in München aus verfaßte Josef storbenen Schwester von Pfarrer Augst instän- Neunzig einen Brief, der sein Abschiedsbrief wur- dig im Gebete und am Altare zu gedenken. de: Viele Briefe, ja sogar Telefonanrufe be- München, den 18.5.1965 komme ich, und ich bin ganz ergriffen von der Krankenhaus des Dritten Ordens, Menzinger- übergroßen Anteilnahme an meinem Geschick. straße 48 So danke ich denn zunächst all denen, die nach Meine lieben Anverwandten, meine priesterli- mir daheim und hier in München gefragt haben. chen Freunde! Ich danke all denen, die ihre Anteilnahme mit ins Meine lieben Bertricher und alle Lieben, die an Gebet und ins heilige Meßopfer mit hineinge- meinem Geschick Anteil nehmen! nommen haben. Was ich vielleicht nicht in der Inzwischen hat es sich nun rundgesprochen und Aktio für meine Gemeinde getan und habe tun rundgeschrieben, daß ich am 1. Mai auf der können, das wird nun, so hoffe ich, die Passio Fahrt nach Dachau zum Petersberg durch Auto- eher zur Erfüllung bringen können. Es ist ein al- unfall verunglückte. Höhere Umstände, nicht tes Wort, Priester müssen ihr Amt und ihre Ge- Fahrlässigkeit und persönliche Schuld haben walt, ihre Weihe und ihren Dienst im Leid um den Unfall ausgelöst. Mit mir beisammen waren Christi willen offenbar machen. Wir kennen alle im Wagen mein Freund Josef Augst, sein das Wort, wenn wir mit Christus leiden, werden Schwager Herbert Müller und dessen Frau (die wir auch mit ihm verherrlicht werden. Schwester von Josef Augst), mein Neffe und ich In diesen Tagen las ich in der Apostelge- selbst. Das Schlimmste an dem Unfall ist, daß er schichte, was dem Annas in Bezug auf Paulus einen Toten forderte. Die Schwester von Josef gesagt wird: „Ich will ihm zeigen, was er für mich Augst ist leider tödlich verunglückt und wir alle, leiden soll“, so will ich denn getrost das Leid die- die wir Zeugen dieses schrecklichen Gesche- ser Tage und Wochen auf mich nehmen, wie es hens waren, tragen noch schwer daran. Ich von mir verlangt wird und wie es nach Gottes selbst war nicht der Fahrer des Wagens. Willen getragen ganz gewiß ein Segen für alle Auf einer geraden Straße von Oberschleiß- wird, für die ich es aufopfere. heim nach Dachau-Ost platzte nach Feststellung Wenn ich meinen Bertrichern, die so sehr an des TÜV der linke runderneuerte hintere Wagen- meiner Drangsal Anteil nehmen, herzlich danke, reifen. Damit kam der Wagen ins Schleudern, so bitte ich sie, aber auch mit Geduld meine Ab- wesenheit anzunehmen und zu ertragen. In Pfarrer Augst haben Sie einen würdigen 92 Original im Archiv Bistum Speyer, Nachlaß Römer Priester, der mit bestem Willen und nach bestem Nr. 53. Gewissen die Vertretung in der Seelsorge durch-

33 führt. Dafür möchte ich ihm ganz besonders Lieber Mitbruder! herzlich danken. Eben habe ich unseren lieben Mitbruder und Einen besonderen Dank muß ich aber auch Leidensgenossen, H.H. Pfarrer Neunzig, ausge- meinen Mitbrüdern schenken, die in diesen Ta- segnet. Gestern, abends ½10 Uhr, hat ihn unser gen ihre Nähe mir bekundet haben. Da sind vor Herrgott heimgeholt. allem die 72 Mitbrüder, die mich persönlich in Nach dem tragischen Autounfall am 1. Mai der ersten Krankenwoche besuchten. Da sind unmittelbar vor Dachau war er in das 3. Ordens- die fast 50 Mitbrüder, die per Brief sich nach mir krankenhaus in München-Nymphenburg ge- erkundigten. Da sind die Mitbrüder des Deka- bracht worden. Mai-Juni ging es allmählich auf- nates, die mir schriftlich ihre Anteilnahme herz- wärts, und er war guter Hoffnung auf Wiederher- lich zum Ausdruck brachten. Gott Dank, daß stellung, konnte er doch schon die ersten Geh- man bei einer solchen Gelegenheit wie dieser versuche machen. Mitte Juli trat aber eine Blu- Krankheit noch verspüren darf, daß es eine ech- tung am meist beschädigten Bein auf. Von da ab te Konfraternitas der Priester gibt. mußte er wieder liegen. Am letzten Sonntag früh So weiß ich, daß viele für mich beten und ihr traf ihn ein Gehirnschlag, der auch die Zunge Memento zum Altare tragen. Und das macht vollständig lähmte. Noch ohne Kenntnis von der mich glücklich und froh. schlimmen Wendung seiner Krankheit kam ich Leider kann ich ja nun selbst nicht schreiben. ein paar Stunden hernach zu ihm. Sein inniger Darum gilt dieser Rundbrief allen, die mir ver- Blick und der geradezu beseelte Händedruck bunden sind und denen ich treu verbunden blei- lassen vermuten, daß er doch noch bei Bewußt- be. Alle dürfen versichert sein, daß diese Zeit sein war und mich auch noch erkannte. Das der aufgegebenen Ruhe mir auch viel Zeit läßt, Gleiche fand ich, freilich etwas schwächer, noch den Pflichten des fürbittenden Gebetes nachzu- am 3. August abends. Gestern entschlief er kommen. Ich bitte darum, auch Euch alle, mich dann ganz ruhig, ich glaube wirklich sagen zu in die Kraft des Gebetes hineinzunehmen, vor dürfen „im Herrn“. 95 allem in den Bittagen, in der Pfingstnovene in Heinz Römer, der die Herausgabe der Stimmen von der Pfingstoktav. „Komm, O Geist der Heiligkeit, Dachau von Josef Neunzig übernahm, berichtete: aus des Himmels Herrlichkeit! ... Aller Herzen Am 1. Mai feierte unser Josef Neunzig, ohne es Licht und Ruh’ ... Tröster Du in jedem Leid ... zu ahnen, seine letzte hl. Messe. Am Abend die- heile was verwundet ist“. ses Tages wurde er das Opfer eines schweren Meinen Priestersegen und meinen Gruß Autounfalls in nächster Nähe des Dachauer La- Euch allen Euer Pastor Neunzig 93 Er starb am 4. August 1965 in München im Nymphenburger Drittordenskrankenhaus an den 94 Weihbischof Dr. h. c. Johannes Neuhäusler, geboren Folgen des Autounfalls. Er liegt auf dem Friedhof am 27.1.1888, Priesterweihe am 29.6.1913, 1932 seiner Pfarrei in Bad Bertrich begraben. Domkapitular, Bischofsweihe am 20.4.1947 in Mün- Johannes Neuhäusler 94 schrieb am 5. August chen St. Ludwig, gestorben am 14.12.1973. Er kam 1965 an die ehemaligen KZ-Priester: am 24.5.1941 ins KZ Sachsenhausen und am 11.7. 1941 ins KZ Dachau und lebte dort im „Ehrenbun- ker“ bis zum Evakuierungstransport nach Südtirol am 24.4.1945, wo er am 4.5.1945 befreit wurde. 93 Neunzig S. 251f. 95 Kopie im IKLK-Archiv.

34 gers. Mit mehreren schweren Brüchen brachte strand waren sie herbeigekommen. Prälat Ott 99 man ihn bewußtlos ins Nymphenburger Kran- schilderte ihn in seiner Trauerpredigt als gütigen kenhaus in München. Die Maienkönigin ließ ihn Menschen, barmherzigen Priester und treuen nun eine harte via dolorosa [Schmerzensweg] Kameraden. Das Requiem in der überfüllten beginnen. Am 10. Mai besuchte ich ihn zusam- Pfarrkirche hielt der Dekan des Kapitels Zell/ men mit Msgr. Jost 96 , glaube aber nicht, daß er Mosel unter Assistenz zweier Trierer Diözesan- uns erkannte, obwohl ihm, als wir ihm den Kran- priester. Vorher war die Leiche vom Waldfried- kensegen gaben, die Tränen kamen. Sprechen hof durch den Kurort geleitet worden. Die Beer- konnte er nicht, In den folgenden Wochen ging digung hielt Josefs Kursgenosse Prälat es auf- und abwärts mit der Krankheit. Am 13. Heintz 100 , der Trierer Offizial. Am Grab sprachen Juli war ich wieder bei ihm; diesmal war er guter Vertreter der Kurdirektion, der kirchlichen und Dinge und voll Hoffnung, das Petersbergtreffen politischen Gemeinde, zwei Angehörige seiner mitmachen zu können, obwohl er seine Gehver- Studentenkorporation, P. Maurus Münch OSB 101 suche wieder hatte einstellen müssen wegen ei- im Namen der evangelischen Laien des KZ Da- ner Blutung im Bein. Da traf ihn am 1. August chau, die ihn hierzu beauftragt hatten, der Land- ein Gehirnschlag; am Feste der vincula Petri rat, Staatsminister a. D. Dr. Süsterhenn, der [Petri Kettenfeier 97 ] begann der Herr die Fes- evangelische Ortspfarrer, Dekan Jorek im Na- seln, die ihn noch an der Erde festhielten, lang- men von Kardinal Döpfner 102 und Exz. Neuhäus- sam zu lösen, und am Abend des Festes des hl. ler (der in München die Leiche ausgesegnet hat- 98 Dominikus [4. August], der sich im Dienste der Seelen keine Ruhe gegönnt hatte, entschlief er 99 Dekan Adam Ott, geboren am 23.8.1892, Priester- friedlich im Herrn. – Seine Beisetzung an der weihe am 24.12.1914 in Mainz, gestorben am 10.9. Mauer der Kirche in Bad Bertrich war eine große 1978. Er kam am 24.10.1941 ins KZ Dachau und Kundgebung der Liebe und Dankbarkeit. Obwohl wurde am 29.3.1945 entlassen. Er assistierte bei der bereits die Urlaubszeit begonnen hatte, gaben Priesterweihe Karl Leisners. neben einer großen Zahl von Laien etwa 150 100 Prälat Dr. Albert Heintz, geboren am 12.3.1908 in Priester ihm das letzte Geleit, darunter etwa 25 Schiffweiler/Saar, Priesterweihe am 26.7.1931, ge- bis 30 Mitbrüder aus dem KZ. Sogar aus Öster- storben am 30.1.1981 in Trier. Er war vom 1.5.1949 reich, aus dem Münsterland und vom Nordsee- bis 31.5.1979 Bischöflicher Offizial des Bistums Trier. 96 Prälat Jules Jost, geboren am 26.8.1914 in Rümelin- 101 Pater Maurus (Jakob) Münch OSB aus der Abtei gen, Priesterweihe am 7.7.1940 in Luxemburg, ge- St. Matthias in Trier, geboren am 19.11.1900 in An- storben am 21.2.1998 in Luxemburg (Sankt-There- dernach, 1922 Eintritt in Trier, Priesterweihe am sien-Krankenhaus). Er kam am 13.8.1943 ins KZ Da- 8.8.1926 in Trier, gestorben am 16.5.1974 in Trier. Er chau und wurde am 29.4.1945 befreit. kam am 10.10.1941 ins KZ Dachau und wurde am 97 Die Kettenfeier bezieht sich auf die in der Apostelge- 29.3.1945 entlassen. Er war später Subprior der Abtei schichte Kapitel 12 berichtete Befreiung des Petrus St. Matthias in Trier. aus dem Kerker in Jerusalem. Das Fest wurde 1960 102 Julius Kardinal Döpfner, geboren am 26.8.1913 in aus dem römischen Kalender gestrichen. Hausen, Priesterweihe am 29.10.1939 in Rom, 1948 98 Der heilige Dominikus (um 1170-1221) gründete den Bischof von Würzburg, 1957 Bischof von Berlin, Predigerorden der Dominikaner. Die Kirche feierte 1958 Kardinal, 1961 Erzbischof von München-Frei- früher sein Fest am 4.8., heute am 8.8. sing, gestorben am 24.7.1976 in München.

35 te). Prälat Heintz sprach ihm ein Lob „von einer ruhe in Frieden]. „Er gehört für mich zu denen, ganz andern Seite her“ aus, indem er Sätze aus derer ich gern gedenke und die ich nie verges- seiner Gestapoakte zitierte, in die er hatte Ein- sen werde!“ – Wie mir sein Bruder Willi schrieb, blick nehmen können: „Wegen seiner Aktivität in war er von den Geschwistern das älteste, „aber der Aufklärung der kath. Laien, vor allem der Ju- auch stellvertretender Vater und Ratgeber in vie- gend, hat er als einer der gefährlichsten Gegner len familiären und geschäftlichen Dingen“. – Ich des nationalsozialistischen Staates zu gelten.“ habe mir vom Fotohaus Britz in Bad Bertrich ei- Schließlich kamen noch die politische und kirch- ne Reihe Bilder von der Beisetzung schicken liche Gemeinde Herdorf zu Wort, wo Josef lassen; wer mich besucht, erinnere mich daran, Neunzig vor Bad Bertrich Pfarrer gewesen war. daß ich sie ihm zeige. Auch Sterbebildchen mit – Ich bringe vielleicht in den folgenden Rund- seinem Foto habe ich noch eine ganze Reihe briefen noch manches Wort, das mir im Zusam- vorrätig. Wer noch keines hat, schreibe mir! menhang mit Josefs Tod geschrieben wurde. Desgleichen liegt die letzte von Josef redigierte Heute sei nur der Brief eines evangelischen Nummer der „Stimmen“ noch in einer Reihe von Bruders von „drüben“ zitiert: „... Wenn man, so Exemplaren bei mir; wer wünscht noch eine? – wie ich, in meinem Alter, selber ständig damit Josef war ein allzeit humorgeladener Mensch. rechnet, heimgerufen zu werden, nimmt man ja Seine guten Beziehungen zur Polizei brachten im allgemeinen jede Todesnachricht mit Gelas- es mit sich, daß man ihm immer die Autonum- senheit hin. Aber unser guter Jupp hätte doch mer J 90 zuteilte – und auch seine Angehörigen noch, genau wie Franz Doppelfeld 103 und Lud- haben jetzt wieder die gleiche Nummer. Wem wig Hiller 104 , zu unser aller Freude einige Jahre also einmal das Auto COC - J 90 begegnet, der unter uns weilen können! Aber wir Christen ge- weiß, wem’s gehört ... Josef war Bischöflicher trösten uns ja des göttlichen Wortes: ‚Der Ge- Geistlicher Rat und Inhaber des Bundesver- rechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine dienstkreuzes. In Dachau war er vom 17.10.41 Qual rühret sie an.’ Und dahinter steht die freu- bis 9.4.45 mit der Nummer 27881. Schon 1935 dige Gewißheit vom Wiedersehen am Throne aber war er zweimal verhaftet gewesen. Have, des Lammes. Nun ist das Betrübliche, daß der pia anima [Sei gegrüßt, fromme Seele]! 105 liebe Jupp gerade auf solche Weise scheiden Hans-Karl Seeger mußte, und uns bleibt nur der Seufzer: R.i.p. [Er

103 Franz Doppelfeld, geboren am 19.7.1905 in Essen- Borbeck, kam am 22.8.1941 ins KZ Dachau und von dort am 8.11.1944 zur Wehrmacht (SS-Sturmbrigade „Dirlewanger“). Er kam in Kriegsgefangenschaft, aus der er 1950 entlassen wurde. Er starb er am 24.11. 1964. 104 Pater Ludwig (Paul) Hiller SDS, geboren am 8.1. 1909 in Berlin-Dahlem, Eintritt am 1931, Erste Pro- feß am 28.8.1932, Priesterweihe am 29.6.1937 in Passau, gestorben am 18.5.1963 in Münster. Er kam am 25.8.1941 ins KZ Dachau und wurde am 27.3. 1945 entlassen. 105 Stimmen von Dachau Nr. 3, 1965, S. 10f.

36 Einer der letzten Zeitzeugen aus dem KZ Dachau und Weggefährten Karl Leisners ist gestorben: Pfarrer Johannes Sonnenschein

Fenster des Zugangblocks verklebt und un- durchsichtig gemacht. Als sie jedoch, durch Put- zen bedingt, im Waschraum offen standen, lie- ßen in einem unbeobachteten Augenblick mich die schon längere Zeit inhaftierten Mitbrüder un- serer Diözese Heinrich Kötters und Karl Leisner dorthin rufen. Seit 1936 waren wir uns nicht mehr begegnet. Um so eindrucksvoller war das Wiedersehen: alle kahlgeschoren, in Zebrauni- form, mit Nummern versehen. Ich noch gesund- heitlich gut bei Kräften. Jene beiden dagegen abgemagert, ausgezehrt in scharfen Gesichts- zügen. Ich nach den Erlebnissen der letzten Ta- ge verschüchtert, schockiert, verängstigt, jene nur bemüht, mich zu ermutigen, zu beruhigen, mir den Einstieg ins Lagerleben zu erleichtern. Über einen 2 bis 3 m breiten Rasenstreifen, der nicht betreten werden durfte, riefen wir uns die Begrüßung zu: Wie ist es draußen? Was weißt du von daheim? Wie lange bist du schon einge- sperrt? Weshalb hat man dich eingesperrt? Auf Obwohl Johannes Sonnenschein, Jahrgang 1912, diese letzte Frage gab ich zur Antwort: Weil ich etwas älter war als Karl Leisner, kannten sie sich laut Schutzhaftbefehl versucht habe, „mit allen gut aus der Jugendarbeit. Ihr großes Engagement Mitteln die Katholische Jugend dem nationalso- war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge, zialistischen Geiste fernzuhalten und dadurch machten diese jungen Männer doch der Hitlerju- den Bestand und die Sicherheit des deutschen Staates gefährdet" haben soll. Darauf Karl Leis- gend ernsthafte Konkurrenz. Beide wurden von der ners Antwort: „Also genau dasselbe Verbrechen Gestapo verhaftet und trafen sich im KZ Dachau wie meins. Hans, da sind wir uns einig. Wir wis- wieder. Am 8. August 1977 schilderte Johannes sen beide, wofür wir hier sind und deshalb op- Sonnenschein diese Begegnung für den IKLK: fern wir beide eben alles für unsere Jugend Es war in den ersten Tagen meiner Einlieferung draußen auf.“ in das KZ Dachau (Ende Mai-Anfang Juni 1942). Johannes Sonnenschein war stets bereit, von seiner Ich war wie jeder neue Häftling in den so ge- Zeit im KZ Dachau zu berichten. Dabei hat er sich nannten „Zugangsblock“ (damals Block 24) ein- vor allem zahlreichen Jugendlichen ins Gedächtnis gewiesen. Er lag der Priesterbaracke Block 26 eingeprägt, indem er ihnen die jüngste Vergangen- benachbart. Damit möglichst jede Verbindung zu den dort untergebrachten „Pfaffen“ unterbunden heit nahebrachte und verständlich machte. Die wurde, hatte man die zu Block 26 hin liegenden jungen Menschen bewunderten stets seine gelas-

37 sene Art, mit den oft grausamen Erfahrungen um- Am 19. April 1996 schrieb er einen vierseitigen zugehen. Besonders beeindruckend ist seine Defi- Bericht über sein bisheriges Leben. Besonders nition von KZ-Haft bei einem Gespräch mit Schü- beeindruckend sind seine Auseinandersetzung mit lern aus Ahlen: dem Nationalsozialismus und seine Zeit im KZ KZ-Haft, das bedeutet kurz zusammengefaßt: Dachau. Ausgeschlossen werden vom Elternhaus, von 1936 wurde ich vom vorgenannten Bischof Heimat, von Kameraden, vom Beruf, dafür ein- [Clemens August Graf von Galen] zum Priester geschlossen werden hinter Mauern, hinter Sta- geweiht und anschließend zum Kaplan in Broch- cheldraht – elektrisch geladen – , bedeutet, von terbeck, Krs. Tecklenburg, ernannt. Meine be- allem privaten Eigentum beraubt sein, von Klei- rufsbedingte Tätigkeit unter der dortigen Ka- dung und Wäsche, sogar von Haaren auf dem tholischen Jugend brachte mich schon bald in Kopf und am Körper, bedeutet – und das ist be- Konflikte mit der NS-Partei: In Religions- und sonders schlimm – , keinen Augenblick mehr tun Glaubensstunden, die sehr gut besucht wurden, und lassen können, was man will, nicht einmal stellte ich den jungen Christen die Wahrheiten Austreten zur Toilette, keinen Augenblick für unseres Glaubens den Irrlehren und Verleum- sich alleine sein, nirgendwo, das ist unheimlich dungen seitens der HJ und der NS-Weltan- schwer. KZ-Haft, das bedeutet, total ehrlos, schauung gegenüber. Das erregte Anstoß bei wehrlos, rechtlos, machtlos, hilflos einer solchen den NS-Gegnern. Ich wurde verhört, erlebte unmenschlichen Willkür und Bosheit ausgesetzt Zimmerdurchsuchungen, das Verbot des Katho- sein, auf engstem Raum unter unvorstellbaren lischen Jungmännervereins. Mangels Beweisen Ernährungs- und Arbeitsbedingungen. Das ist wurden die Ermittlungen eingestellt, einmal fiel KZ. In diese Höhle des Satans, und das ist jetzt eine Anklage unter „Amnestie anläßlich eines das große Wunder, dahin kommt auch Christus Führergeburtstages“ u.ä. mehr. 1940 berief mich als Mitgefangener seiner Gläubigen, seiner Prie- der Bischof auf die Kaplansstelle in der Pfarr- ster. gemeinde St. Joseph in Ahlen/Westfalen. Ich Immer wieder hob Johannes Sonnenschein hervor, bekam den Auftrag, mich dort in der Berg- wieviel Gutes ihm auch von Gefängnis- und KZ- mannskolonie besonders um die katholische Ju- Aufsehern widerfahren sei, wenn diese sich nicht gend zu kümmern. Dabei blieb ich unbehelligt von ihren Kollegen beobachtet fühlten. und unbelästigt, bis man mich am 8.3.1942 spät- Bei der Kommentierung der Tagebücher und abends an einem Sonntag im Pfarrhaus verhaf- Briefe Karl Leisners war er, der schon früh Mit- tete, und die zwei Gestapobeamten mich per Auto ins Polizeigewahrsam Ahlen brachten. Dort glied im IKLK war, neben anderen eine sehr große wurde ich sehr lieb, freundlich und entgegen- Hilfe. Immer wieder war er gerne bereit, alle Fra- kommend behandelt. Am 19.3.1942 holte mich gen zu beantworten. Noch kurz vor seinem Tod hat die Gestapo nach Münster in das Polizeigefäng- er das Manuskript des anläßlich des 60. Jahrestages nis am Syndikatsplatz. So primitiv dort auch die der Priesterweihe und Primiz Karl Leisners erschei- überfüllten Kellerzellen waren, der zuständige nenden Buches gegengelesen und wertvolle Hin- Polizeiwachtmeister H. B. war außerordentlich weise gegeben, schließlich war er ja bei der Prie- wohlwollend besorgt um mich und gestattete sterweihe in der Lagerkapelle Zeremoniar. gegen alle Vorschriften manche Vergünstigun- gen. Doch schon nach einigen Tagen wurde

38 wegen ausgebrochener Gesichts- oder Gürtel- Gefangenen-Waggons, in dem sich schon drei rose und der damit verbundenen Ansteckungs- „Schwere Jungen“ befanden. Diese drei Zucht- gefahr die Zelle geräumt. Man brachte mich zum häusler, die solche Fahrten besser kannten als Gerichtsgefängnis am Neuplatz, wo ein Stock- ich, haben „ihre Pfarrer“ in den folgenden Tagen werk für Polizeigefangene eingerichtet wurde. bestens „betreut“! Die Reise ging am ersten Tag Auch dort haben der Polizeiwachtmeister bis Kassel, am zweiten bis Frankfurt, dann nach Schwarz wie auch der Gerichtsinspektor Wies- Nürnberg, wo die Unterkunft verheerend war, bis ner, sowie fast alle Gefängniswärter, mich sehr wir am 30.5.1942 in Dachau ausgeladen und ins hilfsbereit und rücksichtsvoll behandelt. Aus dem KZ eingeliefert wurden. Bei dem bekannten Be- „Schutzhaftbefehl“, der mir dort zur Einsicht- grüßungs-Zeremoniell hatte ich insofern Glück, nahme vorgelegt wurde, ersah ich, daß meine als sich bei unserer Gruppe auch ein jüdischer Verhaftung auf Grund der „Verbreitung eines ge- Arzt befand. Er wurde dann bevorzugt das Opfer fälschten Möldersbriefes“ 106 erfolgt war. Ich bin brutaler SS-Willkür. Auf dem Zugangsblock nie und nirgendwo verhört oder gar verurteilt herrschte als Block- und zugleich auch Stuben- worden. – In der Nacht zum 25.5.1942 brachte ältester Hugo G. Er führte die Neuzugänge ein Polizeibeamter mir heimlich die hl. Hostie freundlich und hilfsbereit in die Lagersituation zum Kommunizieren und außerdem eine Tüte ein. Um so schikanöser behandelte der zustän- voller Butterbrote, Obst und Rauchwaren, die er dige Blockführer die neuen Häftlinge jeden Mor- sich selbst abgespart oder mit eigenen Marken gen beim „Sport“ auf der Blockstraße. Sehr gekauft hatte. Am andern Morgen wurde ich mit schwer fiel es mir, die Eßkübel von der Küche der „Grünen Minna“ zum Bahnhof gebracht zum aus zu den Baracken zu tragen. Dankbar bin ich Weitertransport nach Dachau. Man steckte mich heute noch dem polnischen Priesterhäftling Mi- mit einem zweiten Geistlichen in das Abteil eines chael Kozal, der mir oft dabei zu Hilfe kam. Er starb im Jahre 1942 und ist inzwischen von der 106 Es handelt sich um einen Brief, in dem sich scheinbar Kirche seliggesprochen. Bereits am ersten der berühmte Jagdflieger Werner Mölders (1913- Abend meiner Einlieferung begrüßte mich von einer gegenüberliegenden Blockstraße der Mün- 1941) kritisch zu dem NS-Regime äußerte. Der Luft- steraner Häftling Karl Leisner, den ich schon als waffenoberst war ab August 1941 General der Jagd- flieger. Kurze Zeit später verunglückte er tödlich. Student kennengelernt hatte. Der Brief war zwar eine Fälschung des britischen Nach einigen Wochen kam ich auf den Prie- sterblock 26. Dort „regierte“ als Blockältester ein Geheimdienstes, der Inhalt jedoch nichtsdestoweniger sehr unangenehmer kommunistischer „alter Ha- begründet. Er wurde auch für wahr gehalten. In Eng- land wurde eine kleine Menge Flugblätter hergestellt. se.“ Glücklicherweise wurde ich auf die Stube 4 Diese Fälschungen waren mit einer deutschen verwiesen, die von einem im Grunde gutmüti- gen, menschenfreundlichen Kommunisten J. St. Schreibmaschine geschrieben und auf ebenfalls ge- geführt wurde. Zudem lebten dort anfangs nur fälschte Meldeformulare der Luftwaffen-Nachrich- tentruppe gedruckt. Sie wurden von zwei schnellen 25 bis 30 Geistliche aus verschiedenen Ländern, niedrig fliegenden Mosquitos in der Nähe der deut- dennoch in guter Gemeinschaft zwar ehrlos, wehrlos, machtlos und heimatlosgemachter, schen Nachtjägerbasen Münster-Handorf und Rheine aber überzeugt gläubig lebender Christen. To- abgeworfen, als die dort stationierten deutschen Ma- schinen im Einsatz gegen eingeflogene britische desdrohungen und Todesgefahren umgaben Bomberverbände gestartet waren. uns täglich, besonders in den Hungermonaten

39 Mai bis November 1942, in denen viele gestor- korsett an. Vier Monate lag ich im Revier als ben sind. Die Überlebenden sind nur gerettet, einziger Deutscher und einziger Geistlicher unter nachdem erlaubt wurde, Lebensmittelpakete zu vielen Ausländern der verschiedensten Natio- empfangen. nen. Bei bester Kameradschaft hat es nie Span- Mein erstes Arbeitskommando war Arbeit auf nungen oder Streit gegeben. Mir kam es zugute, einer Baustelle, wo ich als Handlanger die daß ich aus den mir zugesandten Paketen reich- Speisvögel auf Leitern hinauftragen mußte, an- lich an alle Stubenkameraden austeilen konnte. getrieben von einem sadistischen Kapo R., bis Noch heute korrespondiere ich mit den Angehö- ich bei einem Abendappell ohnmächtig zusam- rigen eines inzwischen verstorbenen Russen menbrach und ins Revier gebracht worden bin. aus der Ukraine. der damals im Nachbarbett lag. Nach einigen Tagen bekam ich eine leichtere – Im letzten Halbjahr war ich „Hilfskantinier“. Arbeit auf der Plantage. Zum Herbst kam ich in Man mußte ja einem Arbeitskommando angehö- ein Lager-Innen-Kommando (Barackeneinräu- ren, wenn da auch nichts zu tun war! mung, Straßenreinigung u.ä.). Dann wurde ich Am 9.4.1945 wurde auch ich im Zuge der dem Kommando SS-Besoldungsstelle zugeteilt. von Berlin verordneten Entlassungsaktion von Ich hatte ein- und ausgehende Korrespondenz Geistlichen aus dem Lager entlassen. zu erledigen. Die dortigen SS-Männer behan- delten mich ordentlich, manche sogar entgegen- Auch im hohen Alter bewahrte sich Johannes Son- kommend freundlich; jedenfalls verhielten sich nenschein ein offenes Herz für die Jugend. Ihm fast alle uns Häftlingen gegenüber ganz anders schien das „Pulloverbild“ von Karl Leisner, das als ihre Kameraden im Lager. Als dort der Fleck- unmittelbar vor der Priesterweihe 1944 in der La- typhus grassierte, wurde unser ganzes Kom- gerkapelle des KZ Dachau aufgenommen worden mando für einige Wochen außerhalb des Lagers in einem leerstehenden Pferdestall un- war, zu traurig. Daher suchte er im Archiv des tergebracht. Das war eine ideale Zeit! Zwar vor IKLK nach einem anderen Foto. und nach den Dienststunden eingeschlossen, Er wählte ein Foto des jungen Karl Leisner von aber ohne alle Kontrolle und Aufsicht. Nach ei- 1935 aus und gestaltete damit 1998 einen vor allem nem entdeckten Briefschmuggel mußten alle junge Menschen ansprechenden Gebetszettel. Nach Geistlichen aus dem Kommando abgezogen einer kurzen Lebensbeschreibung folgen Auszüge werden. Ich arbeitete dann bei Fa. Messer- aus Karl Leisners Tagebüchern: schmid, solange diese im Lager Flugzeugbau- Komm zu Christus! Glaube und du kommst; lie- teile erstellen ließ (besser: unbemerkt erstellen be und du wirst gezogen. lassen konnte). – Infolge der mehr und mehr an- steigenden Überfüllung des Lagers mußten wir Mit Christus kann man leben im Glauben an ihn; in den einzelnen Stuben auf engstem Raum das macht glücklich, das erfüllt das Leben. wohnen und schlafen. Dabei bin ich eines Zur Freiheit hat Christus euch befreit; werdet Nachts schlafend aus dem 2. Stock des Betten- nicht Knechte des Menschen. traktes gefallen und mit Oberarmbruch und Rip- penquetschungen ins Revier eingeliefert wor- Dicker Schlußstrich unter alle Halbheiten und den. Ein ideal eingestellter polnischer Arzt, „Ali“ Komplexe! Mit Mut und Freude und Demut und aus dem St. Hedwigskrankenhaus in Posen, leg- Vertrauen auf die Kraft von oben; einen fröhli- chen Geber hat Gott lieb! te mir einen Streckverband und später ein Gips-

40 Kein Weg ist leicht; aber mit Gott sind alle Wege schön.

Diene - und du wirst Meister!

Liebe - und du wirst groß!

Hoffe - und du siegst!

Glaube - und du bist in Gott!

Ich sage Ja zum Leben, trotz allem, in der Kraft des Glaubens.

Vertraue, bete und sei mutig! Fürchte Gott und sonst niemand!

Du hast eine große, heilige, einmalige Sendung. Gerade für unsere schlappe, feige, irrende Zeit.

Werde, der du bist: ganzer Mensch, ganzer Christ!

Christus kann sich zum Werkzeug machen, wen er will, auch Schwache und Kleine, ja selbst

Sünder und Böse.

Gott dienen und sein Reich bauen, dazu hat er Wie Karl Leisner besaß auch Johannes Sonnen- mich berufen. schein selbst in schwersten Zeiten absolutes Gott-

Christus! Ohne dich kann ich nichts, mit dir alles. vertrauen. Vermutlich war es genau das, was die jungen Menschen bei ihren Gesprächen mit ihm so Christus, meine Leidenschaft. Dir gehöre ich ganz und ungeteilt. faszinierte. Der IKLK wird sich seiner stets dankbar erinnern. Gabriele Latzel, Hans-Karl Seeger

41 WAS MIR KARL LEISNER BEDEUTET

Es gibt Worte, die fallen einem irgendwann ins selber mit einer großen Ehrlichkeit zu betrachten. Herz und lassen den entsprechenden Menschen Die Begeisterung für Jesus hat ihn so erfüllt, dass er nicht mehr los. Mir ging es während meiner Ka- sich mit seinem ganzen Leben dem Herrn und sei- planszeit so, als ich nach der Seligsprechung Karl ner Kirche zum Geschenk gemacht hat. Schließlich Leisners eine Biographie über ihn las und dort seine wurde die Leidenschaft für Christus zum ganz per- Tagebucheintragung entdeckte „Christus – du bist sönlichen Ernstfall. Im KZ Dachau hat er aus der meine Leidenschaft“. „Genau das ist es – darauf Verbundenheit mit seinem Herrn Kraft geschöpft, kommt es heute an“, so sagte ich zu mir. Ich kann die Leiden zu ertragen und trotz allem eine innere nur ein glaubwürdiger Christ und ein guter Priester Freude auszustrahlen. Sicher war es auch seine sein, wenn ich leidenschaftlich in Jesus verliebt bin! große Christusliebe, die ihn zu seinen letzten Zeilen Als Christ und Priester bin ich dem seligen Karl im Tagebuch bewegt hat: „Segne auch, Höchster, Leisner für seine Worte sehr dankbar. Dadurch meine Feinde!“ bekam auch mein Primizspruch wieder einen neuen Es gibt Worte, die fallen einem irgendwann ins Klang: „Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich Herz... Worte, die kurz zusammenfassen, worauf es dich lieb habe“ (Joh 21,17). Ich selber möchte als ankommt! Manchmal frage ich mich, wie es mit Priester mithelfen, dass Menschen Jesus lieben und dem Glauben in unserem Land weitergehen wird... die Freude am Glauben entdecken. Ich erlebe mich als einen Priester, der auch nicht Es gibt Worte, die fallen einem irgendwann ins auf alles eine Antwort weiß. Aber - in einem bin ich Herz... Worte, die an Tiefe gewinnen, wenn sie mir ganz sicher: Die Leidenschaft für Christus ist durch das Leben gedeckt und geerdet sind. Das ist eine riesige Quelle der Freude, der Kraft und der beim seligen Karl Leisner der Fall! Die Leiden- Erneuerung. Kirche hat dort Zukunft, wo möglichst schaft für Christus hat sein Leben durch und durch viele Christen – in den unterschiedlichsten Lebens- geprägt: Die Freude am Herrn hat ihn angetrieben, bereichen – mit dem seligen Karl Leisner sagen: sein Leben mit jungen Menschen zu teilen und sie „Christus – du bist meine Leidenschaft“! dadurch für den Glauben zu begeistern. Im Licht Ralf Gössl Christi hat er gelernt, sein Leben zu deuten und sich Pfarrer von St. Canisius in Augsburg

42 Camino-Er-geh-ungs-bericht

In der Satzung des Internationalen Karl-Leisner- ropäischen Land begegnet, sondern auch Menschen Kreises (IKLK) ist als dritte allerorts zu erfüllende aus Kanada, USA, Südamerika, Australien und Aufgabe angegeben: Afrika. Das zumindest war meine Erfahrung. Noch Die Förderung der Völkerverständigung, des zu vielen Camino-Freunden habe ich heute Kon- Friedens und der Europäischen Einigung. takt, Fotos werden ausgetauscht, Briefe und Weiterhin heißt es: E-Mails verschickt. Der Verein [...] weiß sich der europäischen Zu- Inzwischen ist der Jahrhunderte alte Pilgerweg sammenarbeit verpflichtet. zu einer internationalen Begegnungsstätte gewor- Während ich im vergangenen Jahr auf dem Jako- den. Und so waren es auch die vielen einzelnen Be- busweg nach Santiago de Compostela pilgerte, gegnungen mit den Menschen, die den tiefsten erinnerte ich mich an dieses Ziel des IKLK. Mir Eindruck in mir hinterlassen haben. Gemeinsam mit scheint, dass der Camino, wie er liebevoll genannt anderen Pilgern unterwegs zu sein, mit ihnen das wird, ein begnadeter Ort für eine friedliche Begeg- Essen zu teilen und die einfache Unterkunft, mit nung der Völker darstellt. Dabei werden selbst die ihnen über ihre Beweggründe zu sprechen und mit europäischen Grenzen übersprungen: Internationale ihnen zu lachen, auf dem Camino war das ganz Völkerverständigung. Diese beiden Worte werden einfach und ganz echt. Wer allein sein wollte, war auf dem Camino mit Leben erfüllt. es, wer Gemeinschaft suchte, fand sie, wer weiter- Karl Leisner hatte auf seinen Fahrten und nicht gehen wollte, ging weiter, wer bleiben wollte, blieb. zuletzt auch während seiner KZ-Haft immer wieder So einfach ist das Zusammensein auf dem Camino. europäische Begegnungen. So wurde seine Prie- sterweihe im Dezember 1944, gemeinsam mit Men- schen aus den verschiedensten Ländern, zu einem europäischen Ereignis. Während seiner Zeit im KZ Dachau wurde er zum Feind im eigenen Land de- gradiert. Da war die Verständigung mit Mithäft- lingen der verschiedensten Nationen brüderlicher als mit eigenen Landsleuten, die das NS-Regime vertraten. So wie ich Karl Leisner durch die Rundbriefe des IKLK kennen lerne, kann ich mir leicht eine Gruppe junger Menschen unter seiner Führung vorstellen, die den Camino unter ihre Füße nähme. Mit seiner frühen Begeisterung für den europäi- schen Gedanken hätte sich Karl Leisner sicherlich Dagegen verblassten die wunderschönen Land- auf den Weg gemacht zum Grab des Hl. Jakobus. striche förmlich. Dabei habe ich die Natur, vor Und er wäre nicht nur Menschen aus jedem eu- allem in Galicien, als malerisch empfunden. Die

43 grünen Hügel sind sanft geschwungen. Kilometer- möchten. Wir versuchten ein Gespräch, und ich lange Steinmauern begrenzen die zahlreichen klei- erfuhr, dass sie Deutsche nur aus dem Zweiten nen Wiesen und sind überzogen mit Moosen, Flech- Weltkrieg kannte und jetzt vom Camino. Welche ten und kleinen Blumen. Überall entlassen Quellen Gegensätze ... unaufhaltsam Wasser, das sich zu kleinen und grö- Eine Frau machte mich an einem Morgen auf ßeren Bächen zusammenschließt. Knorrige alte einen besseren Brunnen aufmerksam, als ich dort Eichen laden dazu ein, sich in ihren aufge- meine Wasserflasche füllen wollte, wo das Vieh sprungenen, ausgehöhlten Stämmen zu verstecken. getränkt und Wäsche gewaschen wurde. Es ist eine Welt, in der Elfen, Feen und Zwerge zu Und ein Priester stellte sein Kochgeschirr leih- Hause sind, um sich ihre Märchen zu erzählen und weise zur Verfügung, weil die Herberge nicht ent- um neue zu erleben. sprechend ausgerüstet war. Doch es sind die Menschen, die mich noch tie- In Astorga nahm sich ein Mann zwei Stunden fer gehend beeindruckt haben. Zum einen waren es Zeit, um mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu die Erfahrungen mit den Pilgern und zum anderen zeigen. Er kam zufällig vorbei und ich fragte ihn die Erfahrungen mit den Einheimischen. Gerade bei nach den Öffnungszeiten der Kathedrale. Spontan diesen wurde deutlich, dass wir viel mehr vonein- ließ er seine Pläne fallen und nahm sich Zeit für die ander verstanden, als wir in Worte fassen mussten. Pilgerin. So sah ich sämtliche Ausgrabungsstätten So viele, die uns ansprachen, uns ihre Hand reich- römischer Baukunst (Stadtmauer, Stadttore, Amphi- ten, aus dem Auto oder vom Trecker her zuwinkten theater, Therme, Justiz- und andere Verwaltungs- oder uns ein „buen camino“ („Guten Weg!“) zurie- gebäude etc.), die Kathedrale, Klöster, das Priester- fen. Und ein alter Mann, mit dem ich mich über- seminar (auch in Spanien gibt es kaum noch junge haupt nicht verständlich machen konnte, ging nicht Männer, die den Beruf des Priesters ergreifen; in einfach weg, sondern schenkte mir zwei Bonbons. dem riesigen Gebäude werden zur Zeit 11 Kandi- In dem Moment waren keine Worte mehr notwen- daten auf die Weihen vorbereitet), den Bischofspa- dig. Es sprach das Lachen in unseren Gesichtern, last (Architekt Antonio Gaudí) mit seinem Garten und das verstanden die Herzen. So wird Verständi- und die verlassenen Häuser einer Adeligen und gung möglich, ganz einfach. eines Schriftstellers. Mit Amador hatte mir der Als wir an einem Tag frierend und durchnässt Himmel einen wirklich ganz bemerkenswerten, von Regen und Schnee in einer Bar Rast machten, netten Mann geschickt. Als ich nach zwei Stunden zündete die Wirtin schnell den offenen Kamin an, so müde und erschöpft war, dass ich unsere Stadt- damit wir uns wärmen und etwas trocknen konnten. besichtigung beendete, fragte mich Amador, ob ich In dem ansonsten so tristen Bergdörfchen El am Abend mit ihm zum Tanzen gehen wolle. Im Acebo lud mich ein Einheimischer auf eine Tasse Priesterseminar wurde ein Fest gefeiert. Dazu war Tee zu sich ein. ich jedoch viel zu müde und außerdem hatte ich es An einem grauen Morgen kam eine alte Frau versäumt, meine Tanzschuhe einzupacken... aus ihrem Haus und bot den vorbeikommenden Ich frage mich, was die Spanier am Weg noch Pilgern selbstgebackene Crêpes an. Sie fragte sogar immer motiviert, die vielen Pilger derart herzlich zu nach, ob wir ihn lieber noch mit Zucker bestreuen begleiten, und möchte glauben, dass eine tiefe

44 Frömmigkeit dem zu Grunde liegt. Einige baten Bett zu bekommen, sondern aufgenommen zu wer- mich, für sie bei meiner Ankunft in Santiago zu den. beten. Ein Mann deutete an, dass ich wegen dieser In der Herberge in Hospital de Órbigo wurden Pilgerreise in den Himmel käme. wir gleich zweifach begrüßt. Zum einen durch den Die Herzlichkeit der spanischen Bevölkerung Hospitalero und zum anderen durch Karl Leisner. spiegelte sich auch in vielen Herbergen wider. Die Gleich am Eingang ist das Portal der Versöhnung in Arbeit dort war nicht leicht. Jeden Tag kamen neue ein buntes Glasfenster eingearbeitet und neben dem Pilger. Alle waren schmutzig, alle wollten duschen goldenen Schriftzug ist eine Bronzemedaille ein- (möglichst mit warmem Wasser), alle wollten ein gelassen, die die Abbildung des Primizbildes von Bett und alle brachten Staub und auch manches Mal Karl Leisner zeigt. In das Oratorium konnten wir an regennasse Erde mit in die Herberge. So mussten dem Tag leider nicht, aber es lagen reichlich Falt- die Hospitaleros jeden Tag wieder die Toiletten, blätter des IKLK aus und auch Literatur, z. B. die Duschen und Waschbecken säubern, den Müll Karl-Leisner-Biografie von René Lejeune „Wie beseitigen und die Räume ausfegen. Einige Herber- Gold im Feuer geläutert“. Auf diesem Weg der gen boten morgens ein Frühstück an, für das ent- internationalen Begegnung mitten in Spanien so sprechend eingekauft werden musste. Dann war es konkret auf den deutschen Karl Leisner zu treffen schon bald wieder Zeit, die Herberge zu öffnen, um war durchaus beeindruckend, und es weckte ein die neuen Pilger aufzunehmen. Dazu wurden die besonderes Gefühl der Verbundenheit. Für „die Daten des Pilgerpasses, vor allem der Name und die Förderung der Völkerverständigung, des Friedens Nummer des Personalausweises, in ein Herbergs- und der Europäischen Einigung“ ist vielleicht kaum buch übernommen, und der Pilgerpass erhielt den ein Ort besser geeignet als eine Herberge auf dem Stempel des Hauses. In Galicien waren die Herber- Camino. gen von der Provinz aus organisiert. Das brachte Vorteile, doch blieben die Herzlichkeit und die Individualität dabei manches Mal auf der Strecke. So mussten wir in einigen Herbergen unsere Daten selbst in das Buch eintragen und uns als Pilger „abstempeln“, weil dort niemand war, der uns be- grüßte. In manchen privaten Herbergen jedoch stand sogar Kuchen für die Pilger bereit oder eine Schale mit Süßigkeiten. Einmal erlebten wir es, dass für uns ein Abendessen gekocht wurde. Das war fast mehr, als wir als Pilger annehmen mochten. Ein anderes Mal nahm sich der Hospitalero die Zeit, In meiner eigenen Freude dachte ich, dass auch jeden Pilger einzeln mit Handschlag willkommen Karl Leisner sicherlich gerne die Muschel (das zu heißen, dazu stand er jedes Mal von seinem Zeichen des Pilgers) getragen hätte und bewusst Stuhl auf. Das vermittelte das Gefühl, nicht nur ein

45 den Rhythmus gelebt hätte: immer wieder neu an- fließendes Wasser. Immer wieder blieb ich stehen kommen, um immer wieder neu aufzubrechen. und hörte die Stille. Diese äußere Stille ließ mich In der Herberge von Hospital de Órbigo war für auch innerlich still werden. Zum anderen wurde der uns Pilger ein Frühstück bereitet. So saßen wir Camino-Rhythmus dadurch verstärkt, dass wir morgens gemeinsam am Tisch, bedienten uns aus Pilger ihn gemeinsam lebten. Jeden Morgen spürte den Töpfen mit Kaffee und mit Milch und aßen ich, dass unser gemeinsames Aufbrechen mir Kraft Brot mit Marmelade. Diese Gemeinschaft war ein und frohen Schwung schenkte. Die Gemeinschaft guter Tagesbeginn. Dann machten wir uns mit dem trug. Immer wieder hatte ich große Lust, loszuge- gegenseitigen Wunsch „Buen Camino“ froh auf den hen. Weg. Es war immer wieder erstaunlich, mit wie viel Wer sich ganz in diesen Rhythmus hineingeben Freude wir uns jeden Morgen neu aufmachten. Das konnte, der erfuhr auch die Bedeutung des oft zi- Gehen machte den größten Teil des Tages aus. tierten Satzes: Der Weg ist das Ziel! Pilgern be- So individuell auch jeder Rhythmus im Einzel- deutet vielmehr „Unterwegssein“ als ankommen. nen war, so allgemein war doch der stetige Wechsel Und dieses Unterwegssein führte über den Camino von Gehen und Ruhen. Dieser Rhythmus ist die hinaus. Grundlage der Jahrhunderte alten Pilgerbewegung Sicherlich war der Weg auch beschwerlich, es und trug dazu bei, dass wir zu uns selbst fanden, gab auch Schwierigkeiten, Schmerzen, Verletzun- uns auf uns selbst einschwangen. gen und auch Traurigkeit, aber wer von den Pilgern Viele Religionen kennen ein wiederkehrendes hat es in Santiago noch bereut, den Camino gegan- Gebet, bei dem häufig Gebetsschnüre zur Hilfe gen zu sein? Für den Beobachter von außen mag es genommen werden. Die Katholiken beten so in so erscheinen, als machten die Menschen Wander- langer Wiederholung das „Gegrüßet seist du, Ma- urlaub, aber diese Vorstellung trifft nicht annähernd ria“ mit dem Rosenkranz. Das Gebet dient dazu, unser Unterwegssein. Wir hatten den Eindruck, sich ganz dem stetigen Rhythmus zu überlassen, um etwas Sinnvolles zu tun, etwas, das uns näher zu in ihm aufzugehen. Dadurch werden die umher den Menschen, näher zur Schöpfung und näher zu schwirrenden Gedanken beruhigt und zentriert, bis uns selbst brachte. sie gänzlich verschwinden und eine Leere frei wird. Ich sprach niemanden, der mir erzählte, er sei Diese Leere schafft Raum für das Wirken des Gei- grundlos unterwegs oder suche eine sportliche Her- stes Gottes, damit Transzendentes eindringen kann ausforderung. Die Menschen auf diesem Weg su- und damit unser eigentliches Wesen durchdringen chen etwas ganz anderes, und der Camino bietet die kann. Möglichkeit, es zu finden. Das macht ihn allerdings Den Camino-Rhythmus erfuhr ich als Hilfe, in auch gefährlich. Er fordert unter Umständen Kon- dieser Weise einzuschwingen, um zur eigenen Mit- sequenzen, für die ein hoher Preis zu zahlen ist. Im te zu finden. Er wurde noch durch zwei Dinge be- Vorfeld hörte ich Sätze wie: „der Camino verändert sonders verstärkt. Zum einen durch die Stille des die Menschen“, „du kommst nicht als die zurück, Weges und zum anderen durch die Gemeinschaft. als die du hinfährst“. Welche Tragweite diese Sätze Oft war es über weite Strecken so, dass ich nur haben können, das kann niemand voraussagen. mein Gehen hörte, das Zwitschern von Vögeln oder

46 Goron erzählte mir von einem Schweizer Laufet, Brüder, eure Bahn, Landsmann, dem er begegnet war und der die Ent- Freudig, wie ein Held zum Siegen. scheidung getroffen hatte, eine Herberge am Ca- Seid umschlungen, Millionen, mino zu eröffnen. Er arbeitete als Selbständiger, Diesen Kuss der ganzen Welt! hatte gutes Geld verdient und war auf dem Camino, Brüder, über’m Sternenzelt weil er eine Antwort suchte auf seine Frage, wie es Muss ein lieber Vater wohnen. für ihn weitergehen solle. Dabei kam ihm die Melo- Ihr stürzt nieder, Millionen? die von Beethovens 9. Sinfonie ins Ohr. Wichtiger Ahnest du den Schöpfer, Welt? aber noch war Schillers Ode „An die Freude“ 107 : Such’ ihn überm Sternenzelt! Über Sternen muss er wohnen. Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium Wir betreten feuertrunken Der Schweizer fühlte, dass eine neue Aufgabe auf Himmlische, dein Heiligtum! ihn wartete. Es wuchs in ihm der Gedanke, ein Refugio zu eröffnen. Als er dann in ein Lokal kam, Deine Zauber binden wieder, wo ein Spanier an einem Tisch saß und die 9. von Was die Mode streng geteilt; Alle Menschen werden Brüder, Beethoven pfiff, hat er seine Entscheidung getrof- Wo dein sanfter Flügel weilt. fen. Ja, der Camino konfrontiert uns mit dem, was Wem der große Wurf gelungen, uns angeht. Er spiegelt dir das Leben, meist so Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, drastisch, wie du es gerade brauchst. Justus sagte Mische seinen Jubel ein! mir: „Der Camino bringt jeden an persönliche Grenzen.“ Diese Grenzen können sowohl physi- Ja, wer auch nur eine Seele scher als auch psychischer Natur sein. Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer’s nie gekonnt, der stehle Der Camino brachte uns Menschen in Bewe- Weinend sich aus diesem Bund. gung. Dabei wurden Verhärtungen gelockert, ge- löst, Verhärtungen sowohl körperlicher als auch Freude trinken alle Wesen seelischer Art. Wir erhielten ein Gefühl dafür, dass An den Brüsten der Natur; Alle Guten, alle Bösen alles was ist, fließt. So wie schon Heraklit es wuss- Folgen ihrer Rosenspur. te: Panta rhei – alles fließt. Der Camino vermochte Prozesse in Gang zu setzen, und das ging viel mehr Küsse gab sie uns und Reben, von ihm aus als von den Menschen selbst. Der Einen Freund, geprüft im Tod; Wolllust ward dem Wurm gegeben, Camino machte bereit und offen. Das habe ich Und der Cherub steht vor Gott! deutlich an mir und an allen Menschen gespürt, die sich auf den Weg gemacht haben. Froh, wie seine Sonnen fliegen Pilger, die „neu“ auf dem Camino waren, er- Durch des Himmels prächt’gen Plan, lebte ich häufig als zurückhaltend. Hatten sie aber einmal andere Pilger und deren Offenheit erfahren, 107 Hier zitiert nach der in der Sinfonie verwendeten dann steckte es sie an und auch sie öffneten sich. Version.

47 Was ich damit sagen will: Ich denke nicht, dass die kannte vermutlich jeder Pilger. Da wurde jeder Menschen, die sich auf den Weg machten, so „be- Schritt zur Last, die innere Müdigkeit musste jedes sondere“ Menschen waren, sondern ich machte die Mal neu überwunden werden. Häufig waren kör- Erfahrung, dass der Camino die Menschen öffnete. perliche Schwierigkeiten die Ursache – die Blasen, Auf dem Camino war es ganz einfach, Mensch die wunden Zehen und Füße, die geschwollenen zu sein, ganz einfach da zu sein. Weder Alter, Ge- Gelenke, die schmerzenden Knie. Auch persönliche schlecht oder Nationalität noch Beruf oder Kapital Sorgen, seelische Lasten oder aber auch die Witte- waren von Interesse. Wir waren Pilger – Menschen rung oder die Beschaffenheit des Weges konnten auf dem Weg, nicht mehr, nicht weniger. Und die- wie ein unüberwindbares Hindernis erscheinen. Ein ses gemeinsame Unterwegssein ließ den anderen so steiler Anstieg oder Abstieg oder kilometerlange gelten, wie er war, und – vielleicht noch eindrucks- schnurgerade Straßen oder die vielen großzügigen voller – es erlaubte uns selbst, uns so gelten zu Wegwindungen, die zum Beispiel das Erreichen lassen, wie wir sind. Auf dem Camino versuchte Ponferradas noch einen ganzen Tagesmarsch hang- niemand, dich in eine Rolle zu zwängen. Wir muss- abwärts hinauszögerten, nachdem die Stadt zum ten uns nicht verkaufen, nicht versuchen, mehr aus ersten Mal von den Bergen aus sichtbar wurde. Und uns zu machen, als wir waren – Befreiung machte oft gerade dann, wenn das Ziel so weit entfernt sich breit! Gott sei Dank! schien, lag es bei der nächsten Wegbiegung unmit- Der Camino hat seinen eigenen Geist; es ist ein telbar vor uns. eigener, besonderer Geist, der seit Jahrhunderten Der gesamte Camino ließe sich als ein Weg im dort weht und der durch jeden wieder neu entsteht, Labyrinth sehen, dessen Mitte, dessen Ziel Santiago der mit guten Gedanken unterwegs ist. Oft, beson- de Compostela oder Finisterre heißt. Mir erscheint ders vor den großen Städten, erinnerte mich der es allerdings so, dass es viele kleine Labyrinthe zu Camino an das Gehen in einem Labyrinth. Die begehen und zu bestehen galt, mit vielen kleinen unzähligen gelben Pfeile wiesen den Weg, so dass Zielen. Immer wieder gab es schwierige Situatio- wir uns nicht, wie in einem Irrgarten, verlaufen nen, in denen ich erfahren durfte, dass bei scheinba- konnten. Es gab keine Sackgassen und keine Irr- rer Ausweglosigkeit die Lösung hinter der nächsten pfeile. Der Camino ging nur in eine Richtung, so Wegbiegung schon bereitstand. wie auch das Labyrinth die Mitte als festes Ziel hat. So schien es mir, dass ich mich weit vom Ziel Es hat keinen Sinn zurückzugehen. entfernt hatte, als sich bei mir Probleme mit einem Wer sich schon einmal in einem Labyrinth auf Knie einstellten. Auch nach einem Ruhetag war den Weg gemacht hat, weiß, dass gerade dann, klar, dass ich nicht hoch zum Cebreiro-Pass laufen wenn man sich endlich am Ziel wähnt, der Weg uns konnte. So entschied ich, eine Strecke mit dem Bus noch einmal ganz an den äußeren Rand bringt. Da zu fahren. Er fuhr bis nach Pedrafita. Von dort ging erscheint das Ziel so unerreichbar in die Ferne ge- es noch vier Kilometer zu Fuß hoch nach O Ce- rückt zu sein, dass die Versuchung liegen zu blei- breiro. In Spanien gibt es zwar Bushaltestellen, aber ben wach wird. Alles scheint mit einem Mal so nur selten Hinweisschilder oder aushängende Fahr- beschwerlich und aussichtslos, dass der Mut und pläne. Im Touristenbüro von Villafranca del Bierzo damit die Kraft verloren gehen. Solche Situationen erfuhr ich, wann ich wo den Bus erreichen könnte.

48 Es war der einzige Bus an diesem Tag. So ging ich ist, weiterzugehen und nicht liegenzubleiben. Im- also zu der beschriebenen Stelle und fand mich an mer wieder müssen wir aufstehen und weitergehen. einer großen Kreuzung wieder, die in einer Kurve Es ist das eine, diesen Satz hier zu formulieren lag. Zu allem Überfluss befand sich unmittelbar an und ein anderes, ihn zu leben. Das ist auf unserem der Kreuzung ein Schlachthof, auf dem gearbeitet Lebensweg nicht immer einfach. Damit wir Pilger wurde. Absolut nichts deutete darauf hin, dass hier die Richtung nicht verfehlen, ist der Camino mit ein Bus anhalten würde. unzähligen Wegweisern bestückt – Kilometersteine, Meine Situation war trostlos. Mein Knie Schilder, Muscheln, kleine Betonpfeiler etc.. In schmerzte, die gewonnenen Freunde waren alle erster Linie aber sind es die gelben Pfeile, die jede weitergezogen, ich hatte keine Ahnung, wie ich von Wanderkarte überflüssig werden lassen. Solche O Cebreiro aus weiterkäme, und konnte nicht ein- deutlichen, unübersehbaren Zeichen wünschen wir mal daran glauben, dass ich überhaupt bis dort uns auch für unseren Lebensweg. Sind die Zeichen käme, geschweige denn nach Santiago. wirklich nicht da, oder übersehen wir sie vielleicht? Es blieb die Hoffnung auf Gebetserhörung, und Sicherlich bedarf es einiger Achtsamkeit, derartige diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Am Hori- Wegweiser in unserem Leben zu erkennen, richtig zont erschienen mit einem Mal zwei Gestalten. Es zu deuten und dann auch den Lebensweg entspre- handelte sich tatsächlich um Pilger, aber nicht nur chend einzuschlagen. Weisen sie durch den eintö- das. Sie sprachen deutsch, waren schon häufiger in nig scheinenden Alltag oder stehen die Zeichen auf Spanien mit dem Bus gefahren und wussten auch, Kurswechsel? Kann ich meine Wegweiser ausma- dass Pedrafita die Endstation war, so dass wir gar chen und ihnen folgen, auch wenn ich damit mögli- nicht an der falschen Stelle aussteigen konnten. Als cherweise von der breiten, ausgetretenen Straße auf der Bus dann tatsächlich kam, war ich noch einmal schmale Pfade geführt werde, die vor mir noch aufs Neue für die Hilfe dankbar. Es hielt ein voll- niemand gegangen ist? Erscheint der neue Pfad besetzter Kleinbus, ohne ein Schild, eine Nummer meiner Umgebung vielleicht als Irrweg oder Ab- oder ein anderes Zeichen, das einen Hinweis darauf weg? Kann ich ihn gegen die Meinung anderer hätte geben können, dass es sich hier um ein öf- gehen? fentliches Verkehrsmittel handelte. Der Busfahrer Diese und weitere Fragen beschäftigten mich sprang schnell heraus, nahm mir meinen Rucksack sowohl vor dem Beginn meiner Pilgerreise als auch und meine Stöcke ab und verfrachtete alles im Kof- während meines Unterwegsseins auf dem Camino. ferraum zu den anderen Gepäckstücken. Oft habe ich mir eine so klare Wegweisung für So wurde mein Tagesziel, O Cebreiro, meine mein Leben gewünscht, wie sie der Camino zeigt. Labyrinthmitte, wieder sichtbar. Auf ähnlichem Es hat eine Reihe von Wegkreuzungen gedauert, Wege lösten sich auch alle anderen Sorgen auf. Ich bis mir mein folgendes Verhalten bewusst wurde: traf neue, freundliche Menschen, meinem Knie ging Sobald sich eine Weggabelung in der Ferne ab- es besser, und ich konnte wieder weiter auf dem zeichnete, hielt ich Ausschau nach dem nächsten Camino in Richtung Santiago gehen. gelben Pfeil. Viele Male reckte ich ungeduldig den Das Wesentliche, das nicht nur auf dem Ca- Hals, um so früh wie möglich zu sehen, wann und mino, sondern auch auf unserem Lebensweg gilt, wo mir die neue Richtung angezeigt würde. Erst

49 relativ spät fiel mir die Parallele zu meinem Leben meinsam mit vielen Freunden, die ich auf dem Weg auf. Auch da werde ich oft ungeduldig, möchte kennen gelernt hatte. Chris aus Südafrika, Helen wissen, wie es weitergehen soll. Auf dem Camino und Christine aus Kanada, Chantal aus England, hielt sich die entstehende Unruhe noch in Grenzen, Klaus und Petra aus Hamburg, Jerry aus Miami. Da auf mein Leben übertragen kostet mich diese Un- waren Goron, Isabella und Marit aus der Schweiz, geduld oft viel Energie. Die Lösung hielt, wie Karl aus Südtirol, Dieter aus Holland, Irene aus schon so manches Mal, der Camino bereit. Es nütz- Barcelona, Lou und Chasey aus Australien, Erika te gar nichts, ungeduldig das Zeichen zu suchen. aus Österreich, Karl aus Berlin, Maria aus Mexiko, Wenn der Weg bis zum Ende gegangen war, lag der Pablo aus Brasilien ... Pfeil deutlich sichtbar vor meinen Füßen. Diese Unsere festliche Freude an diesem Abend war Erkenntnis will ich wach halten: Geh den Weg bis ein Höhepunkt, in dem all die vielen kleinen und zum Ende, dann ergibt sich die neue Richtung von großen Camino-Freuden noch einmal gipfelten und ganz allein! der alle Schwierigkeiten und Schmerzen des Weges Durch den eigenen Rhythmus kam es dazu, dass vergessen ließ. man sowohl stets neue Menschen kennen lernte, als Als ich am zweiten Abend in Santiago gegen auch bereits bekannte Menschen wiedertraf. „Spä- 23.00 Uhr noch einmal zur Kathedrale ging, erhob testens aber in Santiago treffen wir uns wieder“. sie sich heller als taghell vor einem wolkenlosen, Das riefen wir uns oft zum Abschied zu. Es ist gute tiefblauen Himmel. Wir hatten Vollmond, ein Kla- Tradition, dass sich um 13.00 Uhr nach der tägli- rinettist spielte in die milde Abendluft den Wiener chen Pilgermesse die Pilger vor der Kathedrale Walzer, Jerry war da, und wir tanzten diesen Wal- einfinden, um nach bekannten Gesichtern Ausschau zer. zu halten. Den Neuankömmlingen wird gratuliert Die Empfindungen dieses Abends gingen tiefer, und für den Abend werden Verabredungen getrof- als ich sie beschreiben kann und überwältigten fen. Noch deutlich spüre ich den festen Händedruck mich. Mein ganzer Körper strahlte mit jeder einzel- des Mannes, der mich in Santiago als Erster be- nen Zelle Dankbarkeit und Lob aus für so viel grüßte: „Herzlichen Glückwunsch! Du bist in Sant- Schönheit und so viel Seeligkeit. Es drängte mich, iago angekommen.“ Ein unwahrscheinliches Erleb- die Welt zu umarmen, laut zu jubeln, zu loben, zu nis, das mir noch immer Gänsehaut bereitet, wenn singen, zu danken. Doch ich spürte, dass das, was ich es mir in Erinnerung rufe. mich bewegte, noch weit darüber hinausging, und Es ist ein Paradox: wir kamen in die uns fremde so wurde ich ganz still, spürte meinen Atem und Stadt Santiago und begegneten lauter bekannten wartete, bis mein Herz frei wurde. Dabei saß ich Menschen. Nach der Pilgermesse traf ich Chris und noch lange vor der Kathedrale und meditierte das Christine. Sie waren bereits seit drei Tagen in Sant- Hauptportal, bevor ich schlafen konnte. iago. Sie umarmten mich: „Congratulations – Herz- Hier lassen sich zahllose Begebenheiten mit an- lichen Glückwunsch!“ und nahmen mich mit in ihr deren Pilgern aufführen, die alle von Freude, Hotel. Am Abend feierten wir (be-gingen wir) bei Freundlichkeit, Menschlichkeit, Einfachheit, Tole- Bier, Rotwein und gutem Essen meine Ankunft in ranz und Offenheit erzählen: Santiago. Es war ein herrliches, echtes Fest, ge-

50 - als Goron mir vor der Herberge schon entgegen - als Dieter mich in der Kirche in Rabanal foto- kam, um mir zu sagen, dass er eine hervorra- grafierte und mir das Bild zuschickte, gende Salbe für mein überlastetes Knie habe, - als ich dem norwegischen Ehepaar meine Leu- - als Anja 20 km zu Fuß zurück nach Astorga lief, koplastrolle schenken konnte, da Sven seinen weil ihre Freundin dort krank in der Herberge Knieverband bisher nur mit einer Sicher- lag, heitsnadel befestigte, - als Dieter mich schon auf dem Flughafen in - als Jochen meinen Pulli mit in den Trockner Madrid ansprach, da er mich an der Muschel als steckte, Pilgerin erkannte, - als ich zuhörte, wie Marlies von ihrem Krebs - als Chris mit mir sein Frühstück teilte, erzählte, - als wir uns gegenseitig motivierten, weil uns - als Martina für Helen ein Taxi bestellte, weil sie klar wurde, dass wir weitere acht Kilometer lau- am Ende ihrer Kräfte war, fen mussten, da die Herberge in Cacabelos ge- - als wir gemeinsam überlegten, wo Helen nun schlossen hatte, die 10 Steine ihrer Enkel würdig ablegen könn- - als ich schon nur drei Stunden nach meiner te, da sie sich vor dem Cruz de Ferro verlaufen Ankunft in Spanien gemeinsam mit drei weite- hatte (es ist Brauch, einen Stein aus der Heimat ren Pilgern das erste Glas Rotwein zu Brot und dort oben abzulegen), Käse trank, - als wir uns gegenseitig fotografierten, - als Steve für Susan den Rucksack trug, weil sie - als ich gemeinsam mit den deutschen Buspil- kaum noch gehen konnte, gern in der romanischen Kirche in Portomarín - als Karl mir seine Hand entgegenstreckte: „Großer Gott, wir loben dich“ sang, „Schläfst du schon? Ich wollte mich nur kurz - als Jerry zum Pulpo-Essen einlud, vorstellen, weil ich doch heute Nacht über dir - als ich die drei Kanadierinnen an ihrem ersten schlafe. Ich bin der Karl aus Südtirol“, Tag zur Herberge begleitete und bei ihrer An- kunft in Santiago zum Pilgerbüro, - als wir wieder kaltes Wasser zum Duschen ertragen mussten, - als wir uns umarmten, wenn wir uns nach eini- gen Tagen wieder trafen, - als Christine uns ihre gepeinigten Füße zeigte, - als ein Radpilger umkehrte, um mich zu fragen, ob es mir gut gehe, er hatte sich Sorgen um mich gemacht, - als wir lachten, wenn wir abends gemeinsam aßen, - als ich mit Homöopathika helfen konnte, - als keiner der mindestens 50 Pilger murrte, wenn morgens in aller Frühe ein Wecker klin-

51 gelte (immer wieder habe ich mich gefragt, wie schon gebetet? Diese schlichten kleinen Kirchen man in einem Schlafsaal mit 50 oder mehr Men- schienen unserem Tun eine besondere Echtheit zu schen in Sorge sein kann, nicht wach zu werden ermöglichen. Gott machte sich erfahrbar. Hier in ...), dieser Einfachheit wurde mir bewusst, dass er seine - als wir uns bemühten, dem anderen möglichst Größe im Kleinen, im Einfachen lebt. Und auch wir noch Platz im Schlafsaal zu lassen, trotz Ruck- Pilger fühlten uns auf wunderbare Art und Weise säcken, Schuhen, Stöcken, Wäscheständern ..., lebendiger, hier auf dem Camino, wo wir nur das - als wir uns immer wieder freundlich zulachten Not-wendigste bei uns trugen. Auch wir machten und uns den alten Pilgerruf „Ultreia“ („auf, uns in gewisser Weise klein und wurden mit der vorwärts, weiter geht`s“) oder „buen camino“ Fülle des Lebens beschenkt. Da wurde das Wort zuriefen. Jesu greifbar: „Ich bin gekommen, dass ihr das Le- Wir Menschen verstecken uns im Alltag immer ben habt, und ihr sollt es in Fülle haben“ (Joh wieder hinter Fassaden und schlüpfen in Rollen. 10,10). Der Camino bot die notwendige Atmosphäre, so Es galt der Grundsatz: Je leichter der Rucksack, dass Fassaden durchscheinend wurden und Rollen desto voller das Herz, oder: Nicht „alles haben“, überflüssig. Und was ich dann entdeckte, war lie- sondern „ganz sein“. Hier konnten wir das Nicht- benswert, ja, wert, geliebt zu werden. Das, was uns haben einüben und dabei die Erfahrung machen, – natürlich schließe ich mich ein – von den Men- dass es eine Leichtigkeit verschaffte, die dem Her- schen abhält, ist Angst – Angst, nicht anerkannt zu zen Auftrieb schenkte. Es war wieder ein Paradox: werden, Angst, nicht angenommen zu werden, je weniger wir besaßen, desto leichter konnten wir Angst, verletzt zu werden. Gott sei Dank, für all die unser Weniges teilen. Wir mussten unsere Habe Menschen auf dem Camino, die mich spüren ließen: nicht versichern, nicht bewachen, statt dessen wa- - komm auf mich zu, sprich mich doch an, du bist ren wir offener für die Bedürfnisse des Anderen. in Ordnung... Unsere Gedanken mussten nicht dauernd um Besitz Die tiefe Einfachheit und den Geist des Camino kreisen und darum, ihn zu vermehren. Wir schaff- durfte ich in besonderer Form in den Kirchen am ten mehr Raum für Freundlichkeit und Mitmensch- Weg erleben. Nicht alle Kirchen waren geöffnet, lichkeit. Der Camino lehrte uns, mit sehr wenig aber vielfach bot sich die Gelegenheit zu einer auszukommen. Er half, materiellen Besitz neu zu Heiligen Messe, einer Andacht oder einer stillen überdenken. Dabei kam es weniger darauf an, Be- Gebetszeit. In verschiedenster Art und Weise wur- sitz abzuschaffen, sondern mehr darauf, bewusst den wir Pilger besonders gesegnet. Wir wurden mit diesem Besitz umzugehen. Das Erworbene eigens nach vorne zum Altar gebeten, wurden mit sollte uns in keine Abhängigkeit verstricken. Nicht Weihwasser besprengt oder gaben unser voraus- was wir haben ist von Bedeutung, sondern vielmehr sichtliches Ankunftsdatum in Santiago an, damit bis wie wir es haben: haben, als hätten wir nicht. Ganz zu dem Termin in jeder Hl. Messe für uns gebetet schlecht ist es, wenn nicht wir den Besitz haben, wurde. sondern der Besitz uns hat. Besonders die alten romanischen Kirchen be- Der Camino kann sehr unterschiedlich gegangen eindruckten mich. Wie viele Pilger hatten hier werden. Die einen bereisen ihn, um kulturelle Se-

52 henswürdigkeiten zu studieren oder zu bestaunen, Darüber hinaus habe ich das Laufen auf eine andere gehen ihn als Kreuzweg, wieder andere als erweiterte Art neu schätzen gelernt. Heute genieße Bittweg oder als Spiegel ihres eigenen Lebenswe- ich es, neben einem lieben Menschen so lange ges. Möglicherweise sehen ihn einige Menschen schweigend zu gehen, bis unsere Gedanken sich auch als sportliche Herausforderung oder als aktu- begegnen. Über das Gehen kommen wir in Schwin- elles Erlebnis. Aber wie abstrakt und vielfältig die gung und langsam in einen gemeinsamen Einklang. Beweggründe auch sein mögen, der Camino ist in Worte sind dabei nicht notwendig. jedem Fall sowohl ein Ort der internationalen Be- Nachdem ich vom Camino zurückgekehrt bin, gegnung als auch ein Ort, an dem wir uns selbst kommen zahlreiche Menschen auf mich zu, denen begegnen können. Und er ist beides gleichzeitig – ich von meinen Erfahrungen (lieber sage ich Er- wir begegnen uns selbst, wenn wir dem anderen geh-ungen) erzählen soll. Jedes Mal ist es eine begegnen – sowohl als auch. große Freude für mich zu berichten. Die Stunden Die Pilger, die nicht zum ersten Mal den Ca- verfliegen und ich weiß nicht, wo die Zeit geblie- mino gingen, sagten: „Der Camino endet nicht in ben ist. Dennoch habe ich auch nach Stunden des Santiago, und er endet nicht in Finisterre. Der Ca- Erzählens stets den Eindruck, das Wesentliche nur mino beginnt vielmehr dort.“ Denn es gilt, den angedeutet zu haben. Doch die Menschen sehen die Geist des Camino mit in den Alltag zu nehmen und Begeisterung in meinen Augen und können dadurch ihn dort zu leben. Diese Aussage füllt sich mit Le- auch besser verstehen, was meine Worte auszu- ben, seit ich vom Camino zurückgekehrt bin. drücken versuchen. Beim Erzählen wird der Ca- In vielen Situationen mit Mitmenschen erlebe mino lebendig und mit ihm sein besonderer Geist. ich, dass mich der Camino verändert hat. Er hat Wenn ich die Erlebnisse in Worte fasse, gewinnen mich offener gemacht. Den Menschen begegne ich sie Gestalt, und die Seelen der Pilger und Einheimi- als Pilger. Gerade dann, wenn äußerliche Dinge, schen sind auf eigentümliche Weise anwesend. wie zum Beispiel ein Geschäftsanzug, den Men- Das Formulieren hier kann nur ein unvollstän- schen auf eine Rolle festlegen wollen, stelle ich mir diger Versuch bleiben, etwas von der Fülle und vor, diesem Menschen auf dem Camino zu begeg- Tiefe meiner Camino-Zeit zu vermitteln und ebenso nen. Das nehme ich mir nicht vor, es passiert ganz von meiner Begeisterung. Wirklich lebendig wird einfach. Er würde dort unterwegs sein in durchge- sie erst beim Gehen. schwitzter Wanderkleidung wie auch alle anderen. So möchte ich jeden, der eine Suchbewegung in Der Camino würde ihn ebenso in seinen Bann zie- sich spürt, nur ermutigen, diesem Gespür zu trauen. hen wie jeden Pilger. Auch dieser Mensch würde Jedem, in dem der Wunsch wach wird, diesen alten spüren, dass er mehr ist als die Summe seiner Lei- Pilgerweg zu gehen, möchte ich zurufen: „Lass dich stungen, dass das Wertvollste an ihm einfach da ist, auf das Wagnis ein! Auf dem Camino ist alles ganz ohne dass er etwas „machen“ muss. Wenn ich mit einfach! E Ultreia!“ dieser Einstellung auf Menschen zugehe, werden Kordi Altgassen aus gemeinsamen Terminen plötzlich fruchtbare Begegnungen. Das beeindruckt mich nachhaltig.

53 Camino-Er-fahr-ungs-bericht

Samstag, 6. September 2003 rial versehen. Bei der Auswahl der Farben und Nach einer guten Stunde Autofahrt zum Flughafen Stoffe stand Dolores, die „gute Seele“ der Her- Düsseldorf, zweieinhalb Stunden Flug nach Madrid berge, beratend zur Seite. Sie ist es auch, die jeden und weiteren vier Stunden Autofahrt parke ich Tag mit zum leiblichen Wohl der Pilger und zu der meinen Mietwagen vor dem „Refugio Karl Leisner“ so angenehmen Atmosphäre im Refugio beiträgt, in Hospital de Órbigo. Ein wenig kritisch beäugen indem sie Krüge mit kühlem Wasser, frisches Obst, mich die Pilger, als ich mit Boardcase statt Ruck- Gebäck und vieles mehr zum Empfang im Innenhof sack, Sandaletten statt Wanderschuhen und „Flie- bereitstellt, und natürlich fehlt es inmitten all dieser gerdress“ statt Wanderkleidung den Innenhof be- Köstlichkeiten auch nicht an bunten Blumen. Hier trete. Doch als mich Ida, die holländische Hospita- fühlt sich der Pilger wirklich aufgenommen. lera durch die Tür mit der Aufschrift „Privado“ in Nach dem Abendgottesdienst lädt mich Don das Zimmer, das ich in dieser Nacht mit ihr teile, Manuel zum Essen ein und bis spät in die Nacht führt, wissen alle, daß ich nicht zu „diesen Autopil- sind wir ins Gespräch vertieft; für mich ein äußerst gern“ gehöre, die womöglich noch ihren Wagen am interessantes aber auch sehr anstrengendes Unter- Ortseingang stehen lassen und ein Nachtlager im fangen, da ich immer wieder das Lexikon zu Rate Refugio beanspruchen. Auf diese Weise soll es ziehen muß. So sinke ich nach einem 21-Stunden- noch immer einigen Autopilgern gelingen, „Billig- tag müde in mein Pilgerbett. urlaub“ auf dem Camino zu machen. Eigentlich wollte ich Ida am Morgen helfen, das Nachdem ich mein „Outfit“ geändert habe und Frühstück für die Pilger zu bereiten und gemeinsam nun in kurzer Hose, T-Shirt mit Santiagoemblem mit ihnen frühstücken; aber als ich erwache, steht und Sandalen Hüttendienst leiste, ist alle Skepsis die Sonne schon hoch am Himmel, und die Pilger verflogen. Deutsche und Franzosen freuen sich, in sind bereits über alle Berge. ihrer Muttersprache angesprochen zu werden, und auch mit Englisch und Spanisch kann ich hier und Sonntag, 7. September 2003 da ein wenig weiterhelfen. Gegen 18.30 Uhr kommt Den Vormittag verbringe ich damit, die Bibliothek Don Manuel, der Pfarrer und „Hüttenwirt“, von ein wenig zu ordnen und durch mitgebrachtes Ma- einer Hochzeit aus Leon zurück. Welch herzliches terial zu ergänzen. Dann vertiefe ich mich in die Wiedersehen nach mehr als einem Jahr! Vor dem Gästebücher der letzten drei Jahre. Immer wieder Abendgottesdienst haben wir noch eine knappe loben die Pilger die außerordentliche Atmosphäre, Stunde Zeit, in seinem Büro einiges Finanzielles zu die dieses Refugio ausstrahlt, getragen von dem erledigen. Ich übergebe ihm ca. 700,00 Euro vom unermüdlichen Einsatz der Hospitaleros und dem „Refugiokonto“ des IKLK, die er überglücklich und überaus großen Engagement Don Manuels für die dankbar entgegennimmt. Im Austausch überreicht Pilger. Besondere Erwähnung finden auch die all- er mir die Rechnungen für die Verwendung des abendliche Andacht, die Don Manuel den Pilgern Geldes. Über 100 Matratzen und Keilkissen wurden im „Oratorio Beato Carlos Leisner“ anbietet, und im Frühjahr mit Bezügen aus pflegeleichtem Mate-

54 nicht zuletzt Karl Leisner selbst. Hier einige Aus- 1.9.2002 züge in deutscher Sprache: Danke für die freundliche Aufnahme und die völ- 16.10.2000 lig unerwartete Überraschung der Internationa- Vielen Dank für Ihre herzliche Aufnahme und vor len Karl Leisner-Vereinigung, die diesen Mann allem Betreuung der „Blasen“. Die Andacht auch hier auf dem Camino bekannt macht. Her- abends ist etwas ganz Besonderes. Susanne. mann Mohry. 25.11.2000 24.5.2003 Herzlichen Dank für den warmen Empfang und Das Tagebuch über die letzten Tage Karl Leis- die schöne, saubere und warme Unterkunft. Ich ners hat mich tief beeindruckt und bewegt. war besonders von der Abendandacht beein- Wenn menschliches Verständnis und Zuneigung druckt. Das „Salve Regina“ ist immer eine Berei- am Camino entsteht, ist die Verbindung seines cherung für die Seele! Vergelt’s Gott für alles. Lebens und Sterbens hergestellt. Danke dafür. Armand Wyssen, CH. Nach einem köstlichen und ausgiebigen spanischen Mittagsmahl, zu dem Dolores und ihr Bruder San- tos eingeladen haben, heißt es für mich: „Ultreia! Adios, hasta el año proximo!-Vorwärts, weiter! Auf Wiedersehen, bis nächstes Jahr!“ Über Astorga, den Rabanalpaß – kurzer Besuch in der von unserem Mitglied Padre Angel und dem Christophorus-Jugendwerk restaurierten Herberge in Foncebadon – gelange ich nach Ponferrada und stelle mein Auto hinter der ebenfalls von Padre Angel und „seinem Team“ großartig errichteten Pilgerherberge San Nicolás de Flüe ab; über 100 Pilgern bietet sie Platz. In der Lesezone darf ich Informationen über Karl Leisner auslegen und Pa- dre Angels Mitbruder, Padre Miguel Angel Pérez, der sich um die Herberge kümmert, schenke ich ein großes Bild vom Portal der Versöhnung. Padre Angel holt mich ab. Ein freudiges Wie- dersehen nach langer Zeit! Seit gut einem Jahr lebt er mit zwei weiteren Mitbrüdern in Ponferrada. Während ich mich bei den Padres im Gästezimmer 24.5.2002 häuslich niederlasse, findet in der Kirche direkt Ich danke Euch für die freundliche Aufnahme nebenan der Gottesdienst zum Fest der „Encina“ und Krankenbehandlung und hoffe auf weiteres statt. „Nuestra Señora de la Encina – Unsere Liebe gutes Gelingen des Ausbaus des Hauses (Ter- Frau von der Eiche“ ist die Schutzpatronin der Stadt rasse). Auch möchte der Geist von Karl Leisner und der Gegend des Bierzo. Aus den entlegensten aufrecht erhalten bleiben. Mit freundlichen Grü- ßen und Gottes Segen. Peter Brinker.

55 Orten strömen die Menschen herbei, um sie zu mengestellt habe, an die verantwortlichen Personen verehren. weiterzuleiten, andererseits aber errege ich durch Nach dem Gottesdienst, gegen 21.30 Uhr, treffe mein Nachfragen hier und da auch das Interesse der ich mich mit Padre Angel und seinen Mitbrüdern Einheimischen für Karl Leisner, vor allem dann, wieder. Wir sitzen in froher Runde bei einem Glas wenn ich die Unterlagen in der direkt bei der Kir- Rotwein auf der Plaza. Heute fällt die Unterhaltung che gelegenen Bar abgebe. leicht; denn alle sprechen Deutsch, auch die jungen Neben diesem recht stressigen Unternehmen Priesteramtskandidaten, die sich zu uns gesellen; gibt es aber auch viele schöne Begegnungen und wie die anderen haben sie als Pallottinerpatres eine Wiedersehen mit Menschen, die ich im Laufe mei- Zeit lang in Deutschland studiert. Um Mitternacht ner fast 20-jährigen Er-fahr-ungen auf dem Ja- strömen alle zur Festung, wo ein grandioses Feuer- kobsweg kennengelernt habe. werk zu Ehren der Encina stattfindet. Anschließend Mit Mari Carmen in Villafranca erinnere ich ist der Paseo, der Abendspaziergang, angesagt. Se- mich an: hen und gesehen werden ist hier die Devise. Alle 1984, als mir ihre Tochter die Santiagokirche auf- haben sich besonders festlich gekleidet. Eine Ka- schloß, pelle spielt bis zum frühen Morgen direkt unter 1990, als mir ihr Mann Jesus, in Pilgerkreisen be- meinem Fenster spanische Volksweisen, doch ich kannter als Jato, Sardinen briet, ein wunderschönes schlafe wie ein Murmeltier und erwache erst gegen Gedicht in mein Pilgerbuch schrieb und den wun- 8.30 Uhr. Jetzt heißt es aber sich sputen; denn noch derbaren von ihm gekennzeichneten Weg abseits gut 200 Kilometer liegen vor mir, und heute be- der damals noch stark befahrenen, für Fußpilger ginnt mein „Arbeitstag“ am Camino in Galicien. äußerst gefährlichen Nationalstraße VI zeigte, 1997, als er meinen Mitpilgern mit seinen heilenden Montag, 8. September 2003 Händen half, Anhand einer Liste, die mir Paula Achermann, 1999, als wir uns beim Karlsfest in Aachen wieder- unsere Sprecherin der spanischen Sektion des IKLK trafen. und der Archicofradia del Apostol Santiago (Erz- bruderschaft des Apostels Santiago), erstellt hat, fahre ich nun auf dem Weg nach Santiago in 15 Orten die Kirchen an, in denen Vertreter der Archi- cofradia die Pilgerausweise stempeln, gegebenen- falls einen noch fehlenden ausstellen oder den Pil- gern Informationen geben. Bei meiner – wie ich meinte – so exakt durchgeplanten „5-Tagetour“ hatte ich jedoch einen wichtigen Faktor nicht be- dacht. Montags haben die freiwilligen Helfer der Archicofradia ihren freien Tag. So kostet es zwar einerseits teilweise viel Zeit, die kleinen Dossiers über Karl Leisner, die ich in fünf Sprachen zusam-

56 Auf dem Cebreiro erfreue ich mich mit Pilli und Dienstag, 9. September 2003 Luis an unserem alljährlichen Wiedersehen und Ich gebe den Mietwagen am Flughafen ab und fahre lasse mich von Tia (Tante) Amelia mit ihrem im- mit dem Linienbus bis zum Monte del Gozo zu- mer wieder köstlichen Essen verwöhnen. rück. Die Kapelle San Lorenzo auf dem unteren In Ligonde trinke ich traditionsgemäß bei Fami- Teil des Hügels wird für das Heilige Jahr 2004 lie Otero Kaffee. Dort haben sich die Jugendlichen, restauriert. Einige Radpilger erfrischen sich am die 1996 Karl Leisner auf dem Camino bekannt davor aufgestellten Coca-Cola-Stand, zwei, drei gemacht haben, fest ins Gedächtnis eingeprägt. weitere fotografieren das „Papstdenkmal“ auf dem Immer wieder freut sich Familie Otero über weitere Hügel, ansonsten bin ich allein. So bleibt es auch, Informationen über Karl Leisner. Auch ein Bild während ich meinen Weg abseits der stark befahre- vom Portal der Versöhnung hat bereits in ihrem nen Hauptstraße fortsetze, im Herzen die mir an- Wohnzimmer einen ehrenvollen Platz gefunden. vertrauten Anliegen, vor Augen die Türme der Ka- Zur Zeit ist die Familie mit großen Umbaumaß- thedrale, neben mir zur Rechten bunt blühende nahmen beschäftigt; denn sie möchte zum Heiligen Blumen und Brombeerhecken und zu meinen Füßen Jahr 2004 eine Bar eröffnen. Schnecken und Käfer. Ab und zu fährt einmal ein 19.00 Uhr endlich in Santiago angekommen!!! Fahrschulwagen vorbei, ansonsten ist es still und Paula Achermann erwartet mich bereits in der einsam; denn die meisten Pilger nehmen den kürze- Eingangshalle des Seminario Mayor (Priester- ren Weg direkt entlang der Hauptstraße. Gegen seminar), wo ich nun, wie sie zu sagen pflegt, in Ende der Pilgermesse betrete ich die Kathedrale, meiner „zweiten Heimat“ wie die mittelalterlichen der Botafumeiro, das berühmte große Weihrauch- Pilger drei Tage lang Unterkunft finde. Ich mache faß, schwingt; offensichtlich ist ein auswärtiger mich kurz frisch und treffe mich dann mit Paula Bischof mit einer Pilgergruppe zu Gast. Nach dem und Antonio und deren Freunden im Café Literarios Gottesdienst darf jeder Pilger nun streng reglemen- wieder. Diese möchten wissen, was es mit der Per- tiert dem Heiligen Jakobus seine Aufwartung ma- son Karl Leisner auf sich hat. Ich erzähle, und Pau- chen. Von entsprechenden Absperrbändern geleitet, la übersetzt, ein Angebot, das ich nach diesem doch gelangt er in circa eineinhalb Stunden an die Säule recht anstrengenden Tag gern annehme. An- im Portico de la Gloria, in die er gemäß dem schließend essen wir noch gemeinsam in einer der Brauch der mittelalterlichen Pilger seine Hand legt, typischen kleinen Bars in der Calle de Franco. Als zur Apostelstatue hinter dem Hochaltar, die er um- ich kurz vor Mitternacht auf der Plaza del Obra- armt, und letztendlich zum Grab des Heiligen un- doiro stehe, die Fassade der Kathedrale mich mit terhalb des Hochaltares, um dort zu beten. Wie mag ihrem ganz eigenen geheimnisvollen Licht wie man in der Kathedrale mit den im Heiligen Jahr immer in ihren Bann zieht und von hinten die 2004 erwarteten Pilgermassen umgehen? wohlvertrauten Melodien der Tuna (Studentenka- pelle) in mein Ohr dringen, spüre ich, ich bin wie- Mittwoch, 10. September 2003 der da!!! Der heutige Tag ist unter anderem gefüllt von Ge- Ich freue mich auf den kommenden Tag: Morgen sprächen mit Domkapitular Don Jaime, dem gehe ich meinen Weg!!! Hauptverantwortlichen im Pilgerbüro und der Se-

57 kretärin der Archicofradia – unser Mitglied Prä- Nachtrag: sident Agustin Dosil ist zur Zeit in Südamerika – Während meines „127-Stunden-Trips“ nach Sant- bezüglich der gemeinsamen Arbeit der Archicofra- iago und noch einige Zeit danach, dachte ich: „Das dia del Apostol Santiago und des IKLK. Dabei steht tust Du Dir im nächsten Jahr nicht wieder an, es ist mir Paula hilfreich zur Seite. Der Besuch der euro- einfach zu stressig.“ Aber auf Grund der so zahlrei- päischen Bischofskonferenz, während derer Erzbi- chen positiven Rückmeldungen sehe ich, daß es schof Simon von Clermont Karl Leisner weiter auf sich gelohnt hat, und so sind Flüge und Unterkunft dem Camino bekannt machen will, gilt als ein we- fürs nächste Jahr bereits gebucht. sentliches Ereignis im Heiligen Jahr 2004 und wur- Im Dezember schrieb uns Don Manuel von im de bereits im Mai 2003 in der „Revista“ der Archi- Oktober und November erfolgten Renovierungsar- cofradia in einem Artikel angekündigt. beiten im Refugio Karl Leisner. Ein neues Bild von Bereits seit Anfang des Jahres bemüht Paula Karl Leisner wurde für die Kapelle gerahmt. Im sich, für den IKLK beziehungsweise das Refugio in Refugio wurden neue Waschbecken für die Pilger Hospital de Órbigo einige Bücher über Karl Leisner installiert und der Garten, in der warmen Jahreszeit in spanischer Sprache zu erwerben. Nach ver- der Wohn- und Eßbereich der Pilger, saniert. geblicher Suche im Buchhandel und Internet ist es ihr schließlich gelungen, vom Autor Jorge López Teulón persönlich das Buch „Los mártires de Hitler – Martyrer unter Hitler“ zu bekommen. Sie hat es auf dem Weg zu einem Kongreß ins Refugio nach Hospital de Órbigo gebracht. Weiterhin versucht sie, im Antiquariat an eine spanische Ausgabe von Otto Pies’ „Stephanus heute“ zu kommen. Die verbleibende Zeit dieses Tages verbringe ich mit Erinnerungsgängen und Treffen mit lang- jährigen Freunden.

Donnerstag, 11. September 2003

Zwei Jahre liegen die Terroranschläge von New York zurück. Im letzten Jahr gab es auch in Europa Nach Überprüfung unseres „Refugiokontos“ konn- noch Gedenkminuten anläßlich dieses Angriffs auf ten wir die Kosten von insgesamt 2.990,39 € über- die westliche Welt. Heute scheinen lediglich die nehmen. Nun ist für das Heilige Jahr 2004 alles in Titelseiten der Zeitungen daran zu erinnern. Wäh- gutem Zustand, aber kein Geld mehr auf unserem rend ich in Barcelona auf meinen Weiterflug nach „Refugiokonto“. Allen Spendern ein herzliches Düsseldorf warte, wird mir erneut klar, wie not- „Vergelt’s Gott“. wendig Völkerverständigung in unserer Zeit ist. Gabriele Latzel Auf dem Camino lebt sie und wird sie gelebt!!!

58 Karl Leisner hörte Peter Wust

In Karl Leisners Nachlaß finden sich Mitschriften Karl Leisners Kurskollege Antonius Wissing 109 der Vorlesungen, die er in Münster bei Professor schrieb am 11. Mai 1934 in sein Tagebuch: Peter Wust 108 gehört hat. Dieser hatte die Ange- Die Kollegs über Philosophie bei Professor Wust wohnheit, den Studenten eine Zusammenfassung sind am interessantesten. seiner Vorlesung zu diktieren. Für die Wust- Karl Leisner: Forschung sind das interessante Zeugnisse, da die Münster, Mittwoch, 9. Mai 1934 Vorlagen zu diesen Diktaten zum Teil nicht mehr 7.15 Uhr Professor Wust: „Der vitaluninteres- existieren. Aus dem Sommersemester 1934, es war sierte Philosoph der lebensnahste“. – Der be- Karl Leisners erstes Studiensemester, existieren die tende Philosoph, der staunend-demütige. Hefte zu den Vorlesungen „Noetik [Erkenntnis- Die Gläubigkeit des Philosophen Peter Wust hat lehre] und Logik“ und „Der Mensch und die Philo- Karl Leisner fasziniert, hatte er doch vor allem aus sophie“. Interesse am Glauben das Studium der Theologie Karl Leisner begann im Sommersemester 1934 gewählt. Das zeigt später auch seine Wahl des The- sein Theologiestudium in Münster. Vorlesungsbe- mas für die Wissenschaftliche Arbeit: „Vom Sinn ginn war Montag, der 7. Mai 1934. Laut Vorle- und Geheimnis des Wachsens im Leben von Natur sungsverzeichnis hielt Professor Peter Wust jeweils und Gnade.“ montags um 7.15 Uhr seine Vorlesung „Logik“. Aus dem Wintersemester 1934/35 existieren die Aber an diesem Tag begannen die Vorlesungen erst Mitschriften der Vorlesungen „Geschichte der Phi- um 10.15 Uhr. Nachmittags war ein Wust-Kolleg. losophie von Schelling bis Husserl“ (Geschichte Karl Leisner schrieb in sein Tagebuch: der Philosophie der Neuzeit) sowie „Psychologie I“ Drittes Kolleg bei Professor Peter Wust: (15.15 und „Psychologie II“. Uhr) „Geschichte der Philosophie der Neuzeit“. Unser Mitglied Marc Röbel promoviert zur Zeit Sehr interessant! – Index! – Hervorragende gei- über Peter Wust und zeigt uns im folgenden Artikel stige Schau über die Philosophie seit der Re- dieses Rundbriefes den Einfluß dieses Mannes auf naissance bis zur Jetztzeit. Vom übertriebenen Karl Leisner auf. Peter Wust war für die Studenten Optimismus wandelt sich die Anschauung seit seiner Zeit einer der bedeutendsten Professoren. 110 [Jean-Jacques] Rousseau [1712-1778] zum Professor Dr. Josef Pieper , der für mich als Stu- krassesten Pessimismus, zur Verzweiflung am dent ein wichtiger Lehrer war, erinnert sich: Menschen. 109 Antonius (Tonius) Wissing, geboren am 23.6.1913 in Leer/Burgsteinfurt, Priesterweihe am 6.8.1939 in Münster, gestorben am 29.12.1941. 108 Prof. Dr. phil. Peter Wust, geboren am 28.8.1884, 110 Prof. Dr. phil. Josef Pieper wurde am 4.5.1904 in gestorben am 3.4.1940 in Münster, war ab 1930 Phi- dem münsterländischen Dorf Elte geboren, studierte losophieprofessor in Münster; er vertrat eine christli- an den Universitäten Berlin und Münster Philosophie, che Philosophie unter Einbeziehung augustinisch- Rechtswissenschaft und Soziologie. Nach Tätigkeiten franziskanischer Gedanken. als Soziologe und freier Schriftsteller wurde er or-

59 „Ich befinde mich in absoluter Sicherheit“ nervöse Mensch, dessen Vitalität wie wegge- Eine Erinnerung an Peter Wust (1950) sengt war durch die unhemmbare Flamme der Es muß sich in der Hinterlassenschaft von Peter denkerischen Leidenschaft, vermochte natürli- Wust auch jenes kleine Notizbuch befinden, in cherweise die Gefährdungen des Daseins mit das er während der letzten Wochen seiner so der Empfindlichkeit eines Seismographen wahr- bestürzend qualvollen Krankheit seinen Beitrag zunehmen, so daß auch bereits Bedrohungen, zum Gespräch – Fragen, Antworten, Zustim- die der Durchschnittsmensch kaum zu beachten mung, Bedenken – niederzuschreiben pflegte, pflegt, mit Erschütterungen beantwortet wurden, als das Sprechen ihm schon unmöglich gewor- die oft nahe daran schienen, das Gefüge zu den, das Bedürfnis nach Mitteilung aber noch sprengen. Ein Nichts genügte, den allzu sehr nichts von seiner Vehemenz verloren hatte. Aus Verwundbaren völlig zu verstören und aufzu- der Erinnerung der verschiedenen Partner müß- wühlen; nicht selten deutete er eine harmlose ten sich mit Hilfe dieser Eintragungen die letzten Robustheit als gezielte, mit Bedacht ausge- Gespräche des Philosophen wieder herstellen heckte Kränkung; die leisesten gesundheitlichen lassen. Störungen wurden mit fast hypochondrischer Auch die Zeile, welche dieser kleinen Notiz Übertreibung wichtig genommen; wenn es hieß, vorangestellt ist, wurde einmal in jenes Büchlein Peter Wust sei nicht dazu zu bringen, jemanden eingetragen – in der noch immer energischen, zu besuchen, der den Schnupfen habe, so war druckstarken Handschrift dieses impulsiv aus das zwar sicher eine Legende, aber sie hat doch dem innersten Personkern philosophierenden die Richtigkeit einer gelungenen Karikatur. Mannes. Der Satz ist sein einziger Beitrag zu je- Das alles ist hier nun selbstverständlich nicht nem Gespräch geblieben, welches übrigens das gesagt um des unnützen Vergnügens willen, die letzte zwischen uns war. Daß wir beide dies Erinnerung an das Menschlich-Allzumenschliche ahnten, gibt der Äußerung ein besonderes Ge- wach zu halten. Aber erst von diesem Erschei- wicht, fast den Charakter eines Vermächtnisses. nungsbild aus wird man es begreiflich finden, Ich wüßte wohl, wie sie, in der unerwartet vollen daß jene Äußerung bei der letzten Begegnung und kräftigen Sprechweise Peter Wusts, geklun- mir wie etwas nahezu Wunderbares erscheinen gen haben würde. mußte. Auch mag so deutlicher geworden sein, Zu dem engeren Kreise um Peter Wust habe wieso gerade der Aspekt der Gefährdung der ich nicht gehört. Es bedurfte aber wohl auch kei- Ungesichertheit, des Risikos Peter Wust sozu- ner intimeren Kenntnis, um zu wissen, wie sehr sagen von Natur vertraut sein konnte. Ich erin- der Gegenstand seines geschlossensten und nere mich gut einer zufälligen Begegnung auf bleibendsten Buches „Ungewißheit und Wagnis“ dem Domplatz zu Münster: Wust begann ohne zugleich sein höchst persönliches Thema gewe- jede Einleitung, fast ohne Begrüßung, von der sen sein muß. Dieser von Gestalt kleine, zart- dreistufigen Ungesichertheit des Menschen zu gliedrige, fast körperlose, äußerst sensible und sprechen – und dies in solcher Hingenommen- heit und Versponnenheit, mit solch unbeirrter dentlicher Professor für philosophische Anthropolo- Ausschließlichkeit des Interesses, daß er dar- über die Gepflogenheiten des bürgerlichen Um- gie an der Universität Münster. Mehrfach wurde er gangs einfach vergaß. durch Ehrenpromotionen und durch internationale Preise von hohem Rang ausgezeichnet. Er starb am Während der langen Wochen der letzten 6.11.1997 in seinem Haus in Münster. Krankheit war ich Peter Wust ein wenig näher

60 gekommen; nie zuvor haben wir uns so regel- sterben werde“ – las ich die Worte: „Ich befinde mäßig gesehen. Im Vorfrühling 1940, es mag mich in absoluter Sicherheit“. 111 Anfang März gewesen sein, besuchte ich ihn Wilhelm Wissing 112 , ein Freund und Weggefährte zum letzten Mal, und zwar um ihm eine, wie ich Karl Leisners, erinnert sich: meinte, recht tröstliche Nachricht zu überbrin- Von den Professoren waren einige den national- gen. sozialistischen Ideen gewogen wie z. B. der Kir- Damals war in unserer Stadt ein Flieger- chengeschichtler Professor Lortz [113] und, in ge- alarm noch etwas sehr Seltenes und folglich et- ringerem Maße, auch Professor Schmaus [114] als was sehr Aufregendes. Eines Morgens, zu einer Dogmatiker. Auf der Gegenseite stand eindeutig überdies durchaus unüblichen Zeit also, hatte der Professor für Philosophie, Peter Wust. Seine man die Sirenen versehentlich ertönen lassen. Vorlesungen, die er bereits um 7.00 Uhr mor- Auf meiner militärischen Dienststelle erfuhr ich gens hielt, füllten immer den größten Lehrsaal sehr bald, daß weit und breit kein feindliches der Universität. Manche meinen, seine Vorle- Flugzeug festgestellt worden war. Ich dachte sungen seien mehr Bekenntnisse als philosophi- sogleich an Peter Wust und stellte mir vor, wie sehr dieser Ängstliche und zudem Hilflose, der sein Bett nicht mehr verlassen konnte, sich 111 Josef Pieper, Wirken – Dichtung – Sakrament, Auf- mochte beunruhigt haben. So fuhr ich, in einer sätze und Notizen, München 1954, S. 156-159. kurzen Dienstpause, rasch zu ihm hinaus, in der 112 Dr. theol. h. c. Wilhelm Wissing, geboren am 31.1. etwas überlegenen Gehobenheit dessen, der ei- 1916 in Vreden, Priesterweihe am 21.12.1946 in ne nur erst ihm selbst bekannte glückhafte Kun- Münster, gestorben am 12.11.1996. 1936 war er de zu übermitteln hat. Ich fand den Kranken auf Jungscharführer des Gaues Münsterland-West und eine fast heitere Weise ruhig. Und es war mir übernahm im selben Jahr das Amt des Diözesanjung- sogleich klar, daß er meiner Nachrichten nicht scharführers im Bistum Münster von Karl Leisner. sonderlich bedurfte. In einer Art Unbeholfenheit Zuletzt war er Leiter des Päpstlichen Werkes der teilte ich sie immerhin mit, schon um meinen ha- Glaubensverbreitung (Missio) in Aachen und Leiter stigen Besuch zu ungewohnter Stunde ein we- des Priestermissionsbundes. nig zu rechtfertigen. Darauf machte er mit der 113 Prof. Dr. theol. Joseph Adam Lortz, geboren am Hand eine fröhlich verneinende Gebärde, auf 13.12.1887 in Grevenmacher/Luxemburg, Priester- seinem entstellten Gesicht deutete sich ein Lä- weihe am 25.7.1913, gestorben am 21.2.1975 in Lu- cheln an, er langte nach dem Notizbuch und xemburg. Er war ab 1935 Professor für allgemeine schrieb seine Antwort nieder. Beschämt und voll Kirchengeschichte in Münster, später in Mainz. Sein bewundernder Verwunderung, plötzlich einen Hauptwerk: „Die Reformation in Deutschland.“ neuen, den eigentlichen Peter Wust erblickend, 114 Prof. Dr. theol. Michael Schmaus, geboren am wie Phaidon am Lager des todgeweihten Sokra- 17.7.1897 in Oberbaar/Bayern, Priesterweihe am tes „in einem wunderbaren Zustand und in einer 29.6.1922, gestorben am 8.12.1993 in Gauting. Als ungewohnten Doppelung, in Freude zugleich Professor für Dogmatik folgte er 1929 einem Ruf und Betrübnis, bedenkend, daß er nun bald nach Prag an die Deutsche Universität. Von 1933 bis 1945 lehrte er in Münster und ging dann nach Mün- chen. 1965 wurde er emeritiert. Er verstand die Dog- matik als Verkündigung und verfaßte ein achtbändi- ges leicht lesbares Lehrbuch der Dogmatik.

61 scher Lehrstoff gewesen. Sicher waren sie exi- stentielle Philosophie, und was zwischen den Sätzen einfloß, war eindeutig gegen die Ideolo- gie Hitlers gerichtet. Der größte Teil der Profes- soren bezog keine Stellung zum NS-Regime und beschränkte sich auf den reinen Wissens- stoff. 115 Hans-Karl Seeger

Professor René Lejeune, der die Karl Leisner-Bio- graphie „Wie Gold im Feuer geläutert – Karl Leis- ner 1915-1945“ Hauteville 1991, schrieb, hat 1995 den Peter-Wust-Preis der Katholischen Akademie Trier erhalten.

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Marc Röbel, 1970 in Bocholt geboren, wurde am 31. Mai 1998 in Münster zum Priester geweiht. Nach einer Kaplansstelle in Emsdetten ist er zur Zeit Subsidiar in Eggerode.

115 Wilhelm Wissing, Gott tut nichts als fügen, Erinne- rungen an ein Leben in bewegter Zeit. Karl R. Höller (Hrsg.) Mainz 2001 (zit.: Wissing), S. 48.

62 „Wust fabelhaft“ Karl Leisner und der „Philosoph von Münster“

Bis zum heutigen Tag gehört das von manchen Auch heute werden wohl die meisten Studenten Studenten ungeliebte „Philosophicum“ zu den er- derartige Schreibtisch-Aversionen und Lektüre- sten akademischen Hürden an der Theologischen Widerstände nachvollziehen können und in Karl Fakultät. Das Philosophicum umfaßt in der Regel Leisner vielleicht sogar einen „seligen“ Verbünde- die ersten vier Semester und ist gewissermaßen die ten und Leidensgenossen sehen. Was aber zog Karl einleitende Ouvertüre in die Sinfonie der theologi- Leisner und seine Kommilitonen zu Hunderten in schen Disziplinen. Und in eben dieser Phase sollen das Auditorium Maximum der Universität, das die die Theologen auch mit der Ancilla Theologiae große Zahl der Zuhörer aus allen Fakultäten gar [Magd der Theologie] Bekanntschaft schließen, mit nicht immer fassen konnte? Peter Wust las noch der Philosophie. Auch für den Theologiestudenten dazu zu einer Tageszeit, die in Studentenkreisen Karl Leisner gehörten diese philosophischen Stu- eher als menschenunfreundlich gilt: frühmorgens dien zum Pflichtpensum der ersten Semester. Daß um 8.00 Uhr, im Sommer sogar um 7.00 Uhr. Was er speziell die Philosophievorlesungen bei Profes- bewog Karl Leisner dazu, die Wust-Vorlesungen sor Peter Wust nicht als notwendiges Übel, sondern auch dann noch zu hören, als diese für ihn gar nicht als innere Bereicherung empfunden hat, sollen im mehr verpflichtend waren, nämlich im Sommerse- Folgenden Auszüge aus seinen Tagebüchern doku- mester 1938? mentieren. Diese Eintragungen sind um so bemer- Die Tagebuchaufzeichnungen Karl Leisners kenswerter, als Peter Wust zu den wenigen Univer- vermitteln einen lebendigen Eindruck von der gro- sitätslehrern überhaupt gehört, die von Karl Leisner ßen Wirkung, die Peter Wust auf seine studenti- erwähnt werden. Karl Leisner hatte zweifellos eine schen Zuhörer ausgeübt haben muß. Doch bis auf hohe Auffassung vom Studium der Theologie als die mündliche Prüfung scheint es zwischen den heiliger Wissenschaft und notwendiger Vorberei- beiden nicht zu einer persönlichen Begegnung ge- tung auf die Priesterweihe. Für das konsequente kommen zu sein. Dennoch könnte der folgende und ausdauernde Studieren dagegen fehlte ihm Beitrag nachträglich den Lehrer und seinen Schüler häufig das nötige Sitzfleisch. Am 22. Januar 1935 miteinander ins Gespräch bringen. Dazu sollen schreibt er im Zugehen auf die Examina in sein Tagebucheintragungen Karl Leisners und Auszüge Tagebuch: aus Briefen, die Peter Wust an Persönlichkeiten des – so manchmal, dann packt’s einen mit Urge- kirchlichen und kulturellen Lebens seiner Zeit ge- walt – ei, dann möcht’ man so los: trampen, auf richtet hat, wie eine Textcollage montiert werden. Fahrt, heijo! Aber – ich kann und will warten So könnte es anhand dieser Textbasis doch noch zu bis zu den Ferien, und jetzt heißt’s für Christi einer Art Dialog zwischen dem Studenten Karl Aufgabe und Beruf sich bereiten in stiller, ste- Leisner und seinem Professor kommen, der ihn ter, straffer rechter Arbeit für’s Examen. Es soll mehr gelehrt haben dürfte als die theoretischen mich nicht schrecken – ach nein, trotzdem ich ja Grundlagen der Philosophie. Denn Peter Wust war viel mehr bisher hätte „oxen“ können. Existenzdenker, ein Philosoph, der vor allem nach

63 dem Menschen im Ganzen und nach dem ganzen sophie des Mittelalters einführen läßt. Peter Wust Menschen gefragt hat. Dabei gibt in seiner Philoso- wird in den Schuldienst übernommen. Stationen phie nicht die Reflexion den Grundton des Denkens seines schulischen Wirkens sind Neuss, Trier und an, sondern die Devotion , die ehrfürchtige Hingabe. Köln. Von Köln aus promoviert Peter Wust als Entsprechend sollte im Leben und im Sterben Peter Philosoph „im Nebenamt“ 118 bei Professor Oswald Wusts nicht die Philosophie das erste und letzte Külpe (1862-1915) in Bonn über den englischen Wort haben, sondern das Gebet. Philosophen John Stuart Mill (1806-1873). 119 Peter Wust, der sich von der kirchlichen Prägung des El- Peter Wust, der „Philosoph von Münster“ ternhauses sehr entfremdet hatte, erlebt zunächst Nicht jeder Philosophieprofessor ist auch ein Philo- eine philosophische Bekehrung, bevor er als „verlo- soph. Mit einiger Süffisanz beschreibt der Exi- rener Sohn“ wieder in der katholischen Glaubens- stenzphilosoph Karl Jaspers (1883-1969) seine welt heimisch wird. Es war vor allem eine Begeg- Erfahrungen mit Inhabern philosophischer Lehr- nung mit dem Religionsphilosophen Ernst stühle: Troeltsch (1865-1923), die ihn zu seiner „Auferste- Philosophieprofessuren sind Institutionen frei hung der Metaphysik“ 120 inspirierte, einem Buch, lehrender Vermittlung, die nicht ausschließen, das bei seinem Erscheinen 1920 einiges Aufsehen daß sie von Philosophen eingenommen wer- 121 116 erregte und sogar den „Haß der Neukantianer“ den. auf sich zog. 1921 wird Peter Wust nach Köln ver- Der vierzigjährige Studienrat Dr. Peter Wust war setzt, wo er für einige Jahre zu einem engen Weg- als Professor ein Spätberufener. Und doch war die gefährten des Phänomenologen 122 Max Scheler Philosophie seine Berufung. Von seinen Eltern für die geistliche Laufbahn vorgesehen, nahm der Sohn aus kleinen Verhältnissen nach dem Abitur ein 118 117 Ebd., S. 247. Lehramtsstudium auf, ein „Brotstudium“ , wie er 119 Der Titel der philosophischen Dissertation lautet: selbst bekennt. Denn für den Seminarkandidaten „Die Logik der Geisteswissenschaft in der Philoso- mit den Lehrfächern Deutsch und Englisch wird die phie John Stuart Mills.“ Philosophie zur eigentlichen Passion. Diese Ent- 120 Metaphysik ist philosophische Grundlagenwissen- deckung macht er zunächst in Berlin bei Friedrich schaft, insofern sie auf die Gründe des Seins, des Sei- enden zielt. Paulsen (1846-1908), dann in Straßburg, wo er sich 121 von Clemens Baeumker (1853-1924) in die Philo- GW V, S. 250. – Kantianismus ist die philosophische Richtung, die sich an Immanuel Kant (1724-1804) anschloß, den Königsberger Philosophen und Be- 116 K. Jaspers, Über meine Philosophie (1941), in: ders., gründer des Deutschen Idealismus. Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Der Neukantianismus brach als philosophische Philosophie, hrsg. von Hans Saner, München 1996, S. Bewegung um 1860 auf und hatte die Wiederanknüp- 35. fung an Kant und die Wiederaufnahme seiner kriti- 117 Peter Wust, Gestalten und Gedanken, in: ders., Ge- schen Methode zum Ziel. sammelte Werke, hrsg. von W. Vernekohl u.a., 10 122 Die moderne Phänomenologie wurde im Anschluß an Bde., Münster 1963-1969, Bd. V, S. 242. – Im Fol- den Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) ent- genden abgekürzt: GW mit Band und Seitenangabe. wickelt. Ihr Anliegen, von den Gegebenheiten des

64 (1874-1928) werden sollte. Von ihm empfängt er folge des 1929 verstorbenen Professors Max Ettlin- entscheidende Impulse für seine eigene Philoso- ger 127 an. phie. Mit Max Scheler fragt auch Peter Wust nach der „Stellung des Menschen im Kosmos“ 123 und „Kolleg bei Wust ein großes Erlebnis!“ macht diese anthropologische Grundfrage zum Gelegentlich findet man in den Tagebüchern Karl Ausgangspunkt seines eigenen philosophischen Leisners studentische Bekenntnisse wie folgende: Entwurfs: „Man wähle [...] den Menschen als Aus- Münster, Freitag, 15. Juni 1934 (Oktav des gangspunkt der Philosophie“. 124 Auch in seinen Herz-Jesu-Festes): Werken „Naivität und Pietät“ (1925) und „Dialektik In Wust’s Kolleg „Der Mensch und die Philoso- des Geistes“ (1928) sollte sich diese anthropologi- phie“ bin ich hundsmüde. sche Grundlinie fortsetzen, vor allem aber in sei- oder Münster, Montag, 2. Juli 1934 (Oktav des nem Buch „Ungewißheit und Wagnis“ 125 (1937), Herz-Jesu-Festes): seinem philosophischen Hauptwerk. Wust’s Diktat gepennt. Es war also kein Unbekannter, der im Septem- Dieses Bekenntnis erklärt sich aber wohl eher aus ber 1930 vom preußischen Kultusminister Adolf den vielfältigen Aktivitäten Karl Leisners, die sich Grimme 126 an die Westfälische Wilhelms-Universi- so gar nicht auf das Studium beschränken wollten. tät in Münster berufen wurde. Dort tritt er auf dem Denn die „Langeweile“ als philosophische Grund- Lehrstuhl für „Christliche Philosophie“ die Nach- stimmung ist in den Veranstaltungen Peter Wusts sicher nicht aufgekommen. So belegen auch die Aufzeichnungen Karl Leisners immer wieder, wel- che Faszination Peter Wust auf seine Zuhörer aus- geübt hat: Bewußtseins „zurück zu den Sachen“ zu gehen, wur- Münster, Freitag, 11. Mai 1934 de von vielen jungen Phänomenologen als pro- Dann ins Kolleg von Wust: „Mensch und Philo- grammatischer Aufbruch verstanden: Aus der Be- sophie“. Schwer, aber gut! wußtseinsphilosophie der Neuzeit sollte eine moderne Daß auch Karl Leisner in den frühmorgendlichen Seinsphilosophie werden. Vorlesungen des „Philosophen von Münster“ zu 123 So der Titel eines zentralen Werkes (1928), in dem einem ausgeschlafenen Studenten wurde, belegt Scheler seine philosophische Anthropologie entfaltet. 124 folgende Notiz: GW VI, S. 21. Münster, Dienstag, 15. Mai 1934 125 Spätere Auflage in: GW IV. – Neu herausgegeben im Um 5.10 Uhr raus. Schöner Morgenbeginn! Re- Auftrag der Peter-Wust-Gesellschaft von Werner Schüßler und F. Werner Veauthier. Einleitungen und ligiöser Schwung! Gestaute Ruhe! – Wust 7.15 Anmerkungen von Werner Schüßler, Münster 2002. Uhr: „Über den Gegenstand der Philosophie“. 126 Wust wurde am 14.10.1930 durch den Preußi- schen Kultusminister, Dr. h. c. Adolf Grimme, 127 Max Ettlinger (1877-1929); bis zur Berufung zum zum ordentlichen Professor für Philosophie an Ordinarius in Münster war Ettlinger philosophischer der Westfälischen Wilhelms-Universität in Lektor des Kösel-Verlages, von 1903 bis 1917 Münster ernannt. Schriftleiter der Zeitschrift „Hochland“.

65 – Lebendig, stark! ... Der rechte Philosoph Münster, Mittwoch, 27. November 1935 fragt: Woher, wozu, warum ich Fragender? – Eine große Freude am Leben ist mir heute wie- Lebensnähe, nicht Vitalegoismus. der so ganz ursprünglich neu aufgebrochen. Diese „Lebensnähe“ vermittelten die Vorlesungen Heute morgen war ich müde und nicht recht bei Peter Wusts. Hier betrieb ein Universitätslehrer der Sache in den Kollegs. Heut nachmittag nicht Philosophie als abstrakte Begriffsakrobatik wurde ich „wach“ bis in die Fingerspitzen hin- oder als Philosophiewissenschaft. Offenbar spürten ein im Augustin-Kolleg bei Wust. seine Hörer die eigene, existentielle Frageunruhe Doch mehr als die moderne Verpackung traditio- des Philosophen heraus: neller philosophischer Begriffe zieht die Modernität Münster, Dienstag, 5. Juni 1934 der Fragestellung die Hörer in den Bann: Die Exi- Kolleg bei Wust ein großes Erlebnis! – Er- stenz des Menschen, der Mensch, der sich selbst zur schütternd zeigt er seinen Weg durch die Feu- Frage wird; der Mensch „als „Ausgangspunkt der erlohe des Kantianismus zum kindlich-gläubi- Philosophie“ – das ist das „moderne“ Element im gen Katholizismus: Er erhebt furchtbare Ankla- Denken Peter Wusts; die Frage nach dem ganzen gen gegen die „modernen“ Universitäten, die Menschen und nach dem Menschen im Ganzen . ihm den Glauben raubten! Nicht zuletzt die Evolutionslehre Charles Darwins Hinzu kam, daß der ehemalige Studienrat bei keiner (1809-1882) und die zunehmende Bedeutung der etablierten Universitätsphilosophie in die Schule „exakten“ Naturwissenschaften hatten diese Frage- gegangen war. Als Autodidakt mußte er sich den stellungen in verschärfter Form auf die philosophi- Ideenkosmos der Philosophiegeschichte weitgehend sche Tagesordnung des 20. Jahrhunderts gebracht. selbständig aneignen, ihn in eigene Gedanken über- Die uralte Grundfrage nach dem Menschen wurde setzen und vor allem die Begriffe aus der antiken (und wird) mehr und mehr aufgespalten in eine und mittelalterlichen Tradition in eigener Sprache Vielzahl von Spezialfragen und Wissensbereichen, ausdrücken. Peter Wust mag dieses Ausbildungsde- die den ganzen Menschen dabei leicht aus dem fizit als persönliches Manko empfunden haben (wie Blick verlieren. Die anthropologische Ausgangsba- er etwa Edith Stein 128 gegenüber bekannt hat). Sei- sis seines Existenzdenkens teilt Peter Wust mit nen Studenten hat die Neuheit und Lebendigkeit wichtigen philosophischen Strömungen des 20. seiner sprachgewaltigen Wortschöpfungen einen Jahrhunderts, mit Vertretern der Philosophischen enormen Hör- und Lesegenuß bereitet. Im Winter- Anthropologie 129 wie Helmut Plessner (1892-1985) semester 1935/36 notiert Karl Leisner seinen star- und Max Scheler und mit der Existenzphiloso- ken inneren Eindruck: phie 130 eines Karl Jaspers.

128 Vgl. E. Lammers, Als die Zukunft noch offen war, 129 Die Anthropologie fragt nach dem Wesen und der Münster 2003, S. 199. – Die Jüdin und Husserl- Bestimmung des Menschen. Schülerin Edith Stein (1891-1942) lehrte vor ihrem 130 Die Existenzphilosophie ist eine philosophische Eintritt in den Karmel in Münster. Sie wurde in Richtung des 20. Jahrhunderts, zu der so unter- Auschwitz vergast. 1987 wurde sie selig- und 1998 schiedliche Vertreter wie Karl Jaspers (1883-1969), heiliggesprochen. Gabriel Marcel (1889-1973) oder Jean-Paul Sartre

66 Zu Recht hat man Peter Wust immer auch als „Niemand durchgefallen. Deo gratias!“ christlichen Existenzphilosophen betrachtet, ja Menschliches über den Philosophen Peter Wust sogar als „augustinisch-franziskanischen Denker“ In den Tagebüchern Karl Leisners begegnet uns (Leenhouwers) 131 . Peter Wust ist kein Existenzialist Peter Wust vor allem als der von seinen Studenten im Sinne Jean-Paul Sartres (1905-1980). Er steht hochverehrte Dozent und christliche Existenzden- mit seiner Philosophie in der Linie christlicher Exi- ker. Doch bei aller Popularität galt Peter Wust als stenzdenker wie Blaise Pascal (1623-1662), Sören anspruchsvoller und unnachgiebiger Universitäts- Kierkegaard (1813-1855) und vor allem Augustinus lehrer. Daher tritt ihm der Examenskandidat Karl (334-430), den Karl Leisner in verschiedenen Zu- Leisner auch nicht ganz unbefangen gegenüber: sammenhängen zitiert: Münster, Dienstag, 29. Oktober 1935 Münster, Mittwoch, 27. November 1935 Die „große Stunde“ naht, wo wir unserm Pro- Augustinus – der ganz große Mensch mit urge- fessor Peter Wust Aug’ in Aug’ Antwort und waltigen Elementarkräften in sich, mit der hei- Rede stehen sollen! Das Herzchen klopft ein ßen Leidenschaft im Blut, heißer Leidenschaft wenig, auch das in den Ferien „abgestumpfte“ zum Weib, unermeßlicher Wissensgier, und böse Gewissen – und dann kommt die Frage: doch das „ewige Kind“ dabei, das immer wie- „Was meinen wir Menschen, wenn wir von der der den rechten Weg findet. In all seiner heißen Wahrheit sprechen?“ Professor Wust meint die Leidenschaft und Glut brannte aber am heiße- subjektive Wahrheit und – ich Schaf! antworte sten und unstillbarsten die große Sehnsucht ruhig, aber innerlich doch noch nicht frei und nach Gott. So geht uns oft im Lichte dieses ganz psychoselos, die moralische! – Wenig oder zu großen Menschen Augustin sein Spruch vom viel hab’ ich mir dabei gedacht! – Heiliger „Cor inquietum [unruhiges Herz]“ auf. Geist, sei mit mir! – Und doch hab’ ich Augustinus hat in seinen Bekenntnissen geschrie- „Schwein“ – ich finde, daß ich drei „Dreier“ ben: als Noten hab’ [in Logik, Geschichte der Philo- Denn du hast uns auf dich hin geschaffen, und sophie und Religionsphilosophie.]! Na ja, ich 132 unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir. könnt’s ja besser und hab’ sicher nicht mehr verdient! Deo gratias – es ist gut abgelaufen.“ Doch ebenso große Erleichterung wie seine Stu- denten empfand auch der Professor selbst über einen guten Verlauf der Examina. Ein Brief an seinen Freund und geistigen Mitstreiter Karl Pfle- ger 133 unmittelbar nach einem solchen Prüfungstag (1905-1980) mit ihrem je eigenen Verständnis von „Existenz“ gehören. 131 Vgl. A. Leenhouwers, Ungesichertheit und Wagnis. Die christliche Weisheitslehre Peter Wusts in ihrer 133 Karl Pfleger (1883-1975); Priester, philosophisch- philosophischen und existentiellen Deutung, Essen theologischer Schriftsteller. Sein Briefwechsel mit 1964, S. 201ff. Peter Wust ist veröffentlicht: K. Pfleger, Dialog mit 132 Confessiones I,1. Peter Wust, Briefe und Aufsätze, Heidelberg 1949.

67 zeigt Peter Wust von einer menschlich überaus Nun, wenn ich in etwa drei Wochen dieses „er- mitfühlenden Seite: ste Semester“ beschließe, dann darf ich doch Ferienstimmung – seit heute abend 8 Uhr. Es wohl sagen: mit Gottes Hilfe habe ich mich nun war noch ein harter Schlußtag. Von 8-9 Vorle- auch in diesen neuen Beruf eingelebt. Ich bin sung... Dann von 3-4 Examina: niemand durch- darin, ja. Na also, so rasch konnte sich also gefallen. Deo gratias! 134 auch ein „Studienrat“ in dieses Amt eines Ordi- Peters Wusts Anfänge in Münster waren keines- narius hineinfinden. Und schon sehe ich auch wegs leicht. Es dauerte eine Weile, bis er in der eine gewisse Freiheit wieder winken für eigene westfälischen Bischofsstadt heimisch werden sollte. Arbeiten, obwohl ja doch auch die Arbeit an den jungen Menschen selbst nicht wenig zu bedeu- Zudem galt er den philosophischen Fachkollegen ten hat. Denn schon manche Seele glaube ich in als Außenseiter, als „Studienrat“, der ohne Habili- die christliche Unruhe hineingestoßen zu haben, 135 tation zum Professor ernannt worden war. die Vorbedingung ist für die spezifisch christliche Menschliche Unterstützung fand er in dieser für ihn Ruhe in Gott. Wenn Sie wüßten, wie schwer schwierigen Anfangszeit vor allem bei Dompropst man es mir hier im Anfang gemacht hat, dann Donders 136 , der ihn gegen allzu eifrige Kritiker würden Sie sagen: eine gute Bilanz für ein so 139 innerhalb und außerhalb der theologischen Fakultät junges Füchslein im „ersten Semester. in Schutz nahm. 137 Kurz nach Beendigung des er- Peter Wust nahm auch über den Lehrbetrieb an der sten Semesters als Ordinarius für Philosophie Universität hinaus Anteil am Leben der Studenten. schreibt Peter Wust an seinen Freund Franz Xaver So kehrt er begeistert von einem Nikolausabend im Münch 138 : Collegium Borromaeum zurück, der von den Prie- steramtskandidaten üblicherweise selbst ausgerich- tet wurde (und wird): 134 Ebd., S. 100. Einen schönen Witz vom hl. Nikolaus muß ich 135 Die Ernennung Peter Wusts ist wohl auf seine um- Ihnen doch noch erzählen. Hier im Theologen- fangreiche publizistische Tätigkeit zurückzuführen. konvikt hat der hl. Nikolaus unter anderem auch Mit seinen philosophischen Werken, zahlreichen dem berühmten Dogmatiker Professor Michael Veröffentlichungen (etwa im „Hochland“) und einer Schmaus eine feine Liebenswürdigkeit gesagt. regen Vortragstätigkeit hatte es der promovierte Phi- Er hat ihm nämlich gesagt: „Lieber Michael losoph und Studienrat zu einiger Prominenz gebracht. Schmaus, Gott Vater läßt Dir sagen, daß Du 136 Adolf Donders (1877-1944); Professor der Theologie über die Trinität ganz tiefe Dinge gesagt hast. und Domprediger in Münster. Einige davon seien Ihm selbst, Gott Vater, noch 137 W. Vernekohl, Biographische Notizen, in: GW VIII, nicht bekannt gewesen.“ Diese Botschaft des hl. S. 79. Nikolaus hat mir sehr viel Freude bereitet. Und 138 Franz Xaver Münch (1883-1940); Prälat, grün- unser guter Michael Schmaus, der selbst heiter dete nach dem 1. Weltkrieg den Katholischen Akademikerverband und wurde dessen erster auch die auf hohem geistigen Niveau stehenden Generalsekretär (1916-1938). Seiner Initiative Jahrbücher des Akademikerverbandes heraus. verdanken die Salzburger Hochschulwochen ih- 139 Peter Wust, Briefe und Aufsätze, Mit einer biographi- re Entstehung. Er war der Begründer der Zeit- schen Einleitung herausgegeben von Wilhelm Verne- schrift „Der Katholische Gedanke“ und gab kohl, Münster 1958, S. 226.

68 ist, wie ein Kind, hat auch viel Freude dabei er- Zwar konnte sich Peter Wust in Begegnungen so 140 lebt. sehr ins Philosophieren verlieren, „daß er darüber Eine solche Nikolausfeier beschreiben auch Karl die Gepflogenheiten des bürgerlichen Umgangs Leisner und Wilhelm Wissing: einfach vergaß“, wie Josef Pieper bei einem zufälli- Am Mittwoch, 11.12.[1935] war die Nikolaus- gen Treffen auf dem Domplatz erleben mußte (vgl. feier in der Aula [des Collegium Borromaeum]: S. 60). Doch Peter Wust war nicht der Typus des Freudig stelle ich fest, wie beschränkt ich bin verschrobenen Gelehrten oder des unnahbaren und wenig Können mir eigen ist! Katheder-Fürsten. Nach gut sokratischer Gewohn- Die Nikolaus- und (Direktor)- Namenstagsfeier heit hat auch der „Philosoph von Münster“ das war glänzend. Witz und Geist. [Heinrich] Krey- Gespräch gesucht, sei es im Café Schucan am Prin- enberg kam als Nikolaus im Flugzeug angefah- zipalmarkt oder sei es im Hause des von ihm hoch- ren. Fein in allem! Einleitung „Die drei Ver- verehrten Philosophen Bernhard Rosenmöller bindungsmänner“: Oberordner Kasmer, Erich (1883-1974). „Das gastliche Haus von Bernhard Büscher und noch einer. Nikolaus kommt vom und Hedwig Rosenmöller war ein Treffpunkt für Himmel hoch. Stimmung toll! Kreyenberg Ia: zahlreiche Gelehrte.“142 Dort wird er auch Edith ein vollendeter und geistreicher Humorist. Die Stein getroffen haben, die zu jener Zeit ebenfalls in Professoren ([Heinrich] Kaupel:– Tridentinum Münster dozierte. Auch die Franziskaner am Hör- – Vulgata etc. – ) Geist, Geist! – Operntexte sterplatz waren für seine Beziehungspflege eine ausgelegt – tönende Wochenschau. Der Abend wichtige Adresse. Einige Franziskaner kamen als war eine Glanznummer. – Wir sind alle stolz auf Studenten in sein Seminar, andere verkehrten unsere Mitbrüder. Man wird mal ganz klein! freundschaftlich im Hause Wust am Straßburger Wilhelm Wissing: Weg Nr. 99. Zu den wichtigen philosophischen Zu den angenehmen Unterbrechungen im Stu- Gesprächspartnern dieser Jahre gehörte P. Phi- dienjahr zählte die Nikolausfeier. Sie war für uns lotheus Böhner OFM, der bis 1937 immer wieder eine willkommene Gelegenheit, geistreiche Kritik als Gastdozent und Scholastik-Spezialist 143 an Peter an den Professoren und an der Leitung des Bor- romaeums zu üben. So ließ einmal der Nikolaus Wusts Seminaren teilnahm. P. Wunibald Grewe den Dogmatiker Michael Schmaus, der gerade OFM, ein weiterer Franziskaner aus dem „Klöster- sein Buch über die Trinität beendet hatte, nach chen“ am Hörsterplatz, leistete dem sterbenskran- vorne kommen und sagte: „Herr Professor, ich ken Peter Wust am Krankenbett geistlichen Bei- soll Ihnen einen schönen Gruß vom lieben Gott stand und stand ihm in der Sterbestunde bei. 144 bestellen und Ihnen ausrichten, er habe Ihr Buch mit großem Interesse gelesen und darin man- ches gefunden, was er von sich noch gar nicht 142 141 E. Lammers, Als die Zukunft, S. 193. wußte.“ 143 Die „Scholastik“ bezeichnet eine Vielzahl philoso- phisch-theologischer Schultraditionen des Mittelal- ters, die eine Verbindung der christlichen Offenba- rungslehre mit Fragestellungen und Begriffen der an- 140 K. Pfleger, Dialog mit Peter Wust, S. 174. tiken Philosophie anzielten. 141 Wissing S. 50. 144 W. Vernekohl, GW VIII, S. 103.

69 Mit der Zeit war der Philosoph von Münster Die Krönung des Ganzen aber war, daß ich ge- doch noch heimisch geworden in der Stadt, über die rade hier in Münster mit der Zeit einen Freun- er anfänglich lamentierte: deskreis gewann, der mir in jeder Hinsicht Hei- Hier in Münster ist man so allein, so grenzenlos mat wurde. Vor den Toren der Stadt, in der Rich- allein. Ich brauche Menschen um mich, die mich tung auf Wesel zu, liegt das Dörfchen Mecklen- flottmachen, wenn ich vor Anker liege. Und die beck. Ich richtete vom ersten Semester 1930/31 finde ich hier nicht. 145 ab Samstagsgänge ein, zu denen jeder frei nach Diesem Temperament ließ er mitunter auch in sei- Belieben Zutritt hatte. Das Schöne war nun, daß nen Vorlesungen freien Lauf. Ein Student hat einen mit der Zeit der Pfarrer von Mecklenbeck, Dr. Ferdinand Vorholt [1878-1954], sich zu uns an solchen Ausbruch Peter Wusts später dokumentiert: unseren Tisch setzte, für den ein eigenes Zim- Es ist mir aus einer Vorlesung sehr gut erinner- mer uns zur Verfügung gestellt wurde. Man rück- lich, wie er die jungen Theologen mahnte, im te sich hier persönlich näher, ein inniger Konnex Hinblick auf die soeben erschienene Geschichte zwischen Lehrer und Schüler entstand. 148 der Reformation von Joseph Lortz, daß es an Auch in religiöser Hinsicht sollte ihm Münster zur der Zeit sei, der Person Luthers mehr Achtung Heimat werden. Peter Wust nahm täglich an einer entgegenzubringen. Als dies auf der Theologen- seite ein vernehmliches Scharren hervorrief, ge- Eucharistiefeier teil, entweder frühmorgens in der riet Professor Wust in Zorn und rief ins Audito- Heilig-Geist-Kirche oder an der „stillen“ Zehn-Uhr- rium: „Versuchen Sie doch, mit Ihrer Wald- und Messe im Dom. In Köln war er regelmäßig in die Wiesentheologie die gestrandete Intelligenz Eu- Stolkgasse gegangen, um in der Kapelle der Lazari- ropas, etwa einen Max Scheler, zu überzeu- sten vor dem Bild der kleinen hl. Theresia für sei- 146 gen.“ nen verehrten Freund Max Scheler zu beten, der Dieses für die damalige Zeit gewiß unübliche Plä- sich vom katholischen Glauben abgewandt hatte. doyer zeigt, wie sehr Peter Wust in seiner philoso- „Gerne verweilte er auch zu stillem Gebet in der phischen Fragehaltung auch über konfessionelle kleinen St.-Servatii-Anbetungskirche.“ 149 Grenzen hinaus dachte. Somit zählten auch evange- 147 lische Studenten zu seinen Hörern. „Weder Ungewißheit noch Wagnis“ Dankbar blickt er Jahre später in „Gestalten und Der „Löwe von Münster“ und Gedanken“ auf seine Münsteraner Jahre zurück: der „Philosoph von Münster“ Peter Wust hatte als Professor für „Christliche Phi- losophie“ nicht zuletzt für die philosophische Aus- 145 So der schwermütige Philosoph in einem Brief an bildung der Theologiestudenten und Priesteramts- seinen Priesterfreund Karl Pfleger, in: K. Pfleger, Dialog mit Peter Wust, S. 27. kandidaten Sorge zu tragen. Insofern hatte er seine 146 Mündliche Mitteilung von Paul Breitholz. W. Verne- kohl, GW VIII, S. 75. 147 Ebd., S. 75. – Einige dieser evangelischen Studenten 148 GW V, S. 256. sollten sich auch an der Verteilung des berühmten 149 W. Vernekohl, GW VIII, S. 79. – Die Rektoratskirche „Abschiedswortes“ beteiligen, das der Philosoph im St. Servatii wurde vermutlich 1197 von St. Lamberti Zugehen auf seinen Tod an seine Hörer gerichtet hat- abgepfarrt, 1935 aber wieder inkorporiert. Seit 1933 te (vgl. S. 77 des vorliegenden Aufsatzes). ist sie Kirche der Ewigen Anbetung.

70 Lehrtätigkeit nicht nur vor den staatlichen Behör- Lob noch Tadel“ gestellt hat, ein solches Werk den, sondern auch gegenüber dem damaligen Bi- suspekt ist, mag zum einen in dessen Persönlichkeit schof von Münster, Clemens August Graf von Ga- begründet sein. Darüber hinaus war die existentielle len (1878-1946), zu verantworten. Wilhelm Verne- Frageunruhe Wusts untypisch für eine Zeit, in der kohl, der Herausgeber der „Gesammelten Werke“ die Philosophie an vielen katholischen Fakultäten Peter Wusts, urteilt rückblickend: von einer tiefgründigen Frage- und Denkkunst zum Zwei große Persönlichkeiten, sehr verschieden Waffenarsenal neuscholastischer Schulbuch-Theo- in ihrem Wesen, der charakterstarke und mutige logie 151 mutiert war. Gottesbeweise nach einem Bischof, der „Löwe von Münster“, und der ver- beinahe mathematischen Beweisschema und die grübelte, aber glaubensinnige „Philosoph von 150 Abwehr häretischer Auffassungen sollten die Theo- Münster“ hatten zueinander gefunden. logen in den Stand einer zumindest vorletzten Si- Beinahe legendär ist die Begegnung zwischen dem cherheit des Denkens und Glaubens versetzen. Das katholischen Philosophen und seinem Bischof, die aber widersprach gerade dem Philosophiever- Karl Leisner ausführlich festgehalten hat: ständnis Peter Wusts. Denn für die Existenz Gottes, Münster, 16. November 1937 so Peter Wust, gibt es evidente Argumente, aber [...] Etwas echtes noch: Peter Wust dedizierte keine sicheren und exakten Beweise: „Es darf für unserm Hochwürdigen Herrn Bischof sein Buch Gottes Dasein keine Beweise von exakt-mathemati- „Ungewißheit und Wagnis“. Dessen Antwort scher Evidenz geben“. 152 Ebenso wenig gibt es war: „Ich freue mich ja über Ihre Bücher, Herr letzte Sicherheiten im Raum der Wissenschaften Professor. Aber ich weiß nichts damit anzufan- und der Philosophie. Ja nicht einmal auf der unter- gen. Für mich ist die christliche Religion weder sten Ebene der „vitalen“ Lebensbewältigung Ungewißheit noch Wagnis.“ – Welch eine Si- kommt der Mensch zu einer letzten Ruhe und Gesi- cherheit, Klarheit, Ruhe und Heiligkeit, welch chertheit. Der Mensch ist und bleibt zeit seines ein bergeversetzender Glaube der Zuversicht Lebens das animal insecurum , das ungesicherte liegt in dem Wort. Da schweigt der Philosoph Lebewesen. Doch genau diese Ungesichertheit vor der Weisheit des Heiligen, der im Glauben macht das Menschsein des Menschen aus: seine fest steht! Existenznot, seine Wissensnot und seine Heilsnot. Ob Karl Leisner das „Schweigen“ des Philosophen Peter Wust sieht in dieser dreifachen Ungesichert- richtig interpretiert hat? Der äußerst empfindsame heit zugleich die Sonderstellung des Menschen Peter Wust wird sich im Gegenteil von seinem gegenüber den Tieren; seine geistige Aufgebro- Oberhirten völlig unverstanden gefühlt haben. Ist es chenheit, die den Menschen immer wieder in die doch vor allem dieses Werk, das bis heute als sein Hauptwerk gilt, und das er selbst zuletzt als einzige philosophische Lebensleistung noch gelten lassen wollte. Daß einem Bischof, der sein Wirken unter 151 Die unterschiedlichen Strömungen der „Neuschola- den Wahlspruch „Nec laudibus, nec timore – Weder stik“ unternahmen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Versuch einer Wiederbelebung der antik-schola- stischen Denktraditionen. 150 Ebd., S. 82. 152 GW X, S. 484.

71 personale Stellungnahme, in das Wagnis der Ent- einfacher Mann, ein kleiner Bauer, aber in seiner scheidung drängt. restlosen Hingabe an Gott durch sein ganzes Doch trotz dieser Differenzen im philosophisch- Leben und Arbeiten, bei Tag und Nacht, steht er theologischen Bereich war das Verhältnis der bei- turmhoch über mir. – Es gab eine Zeit meines den von gegenseitiger Wertschätzung geprägt, zu- Lebens, da war ich ein Ungläubiger. Aber seit vielen Jahren habe ich es wieder erkannt und mal an der kirchlich-loyalen Haltung und inneren weiß ich, daß Christus und sein Evangelium die Frömmigkeit des Philosophen kein Zweifel bestand. absolute Wahrheit ist... Kurz vor seinem Tod hat Peter Wust bei Bischof Wenn ich als Lehrer der Philosophie noch von Galen einen Abschiedsbesuch gemacht. Den ein letztes Wort aussprechen darf, so sei es die- Verlauf dieser Begegnung hat der Bischof in einem ses: Forschen ohne Beten führt ins Verderben; Hirtenwort an die Jugend, kurz nach dem Tod Peter jede Reflexion, jede Spekulation muß geregelt Wusts, festgehalten: und erhöht werden durch die Hingabe an Gott, Wenige Tage nach Ostern, am 3. April dieses durch das Gebet. Wertmäßig steht Beten un- Jahres [1940], starb hier in Münster ein weltbe- endlich hoch über dem Forschen; und darum er- kannter Gelehrter von höchstem Ansehen in der reichen auch ganz schlichte Leute, wie mein se- wissenschaftlichen Welt, der Universitätsprofes- liger Vater einer war, eine Höhe und innere Würde, die mit gelehrtem Forschen allein nie- sor Dr. Peter Wust, im Alter von 56 Jahren. Prof. 153 Wust war nicht Theologe und Priester, sondern mals erreicht werden kann.“ Laie und Familienvater. Und doch hat er als Von der inneren Glaubenshaltung des Philosophen Mensch und Gelehrter priesterlich, ja apostolisch konnte sich Bischof von Galen bei einem Gegenbe- gewirkt, durch sein offenes Bekenntnis zu Chri- such in der Raphaelsklinik überzeugen. Ergriffen stus und für die Wahrheit des katholischen von Peter Wusts religiöser Ergebenheit und Ge- Glaubens. Einige Zeit vor seinem Tode kam faßtheit schenkte er ihm ein Sterbekreuz. 154 Herr Prof. Wust zu mir. Er wußte, daß die Krankheit, die ihn befallen hatte, unheilbar war „Ich habe meine Kniee nicht vor Baal gebeugt“ und daß er einem baldigen Tode entgegenging. Peter Wust und der Nationalsozialismus Ich habe mir damals gleich nach seinem Weg- gang aufgeschrieben, was Prof. Dr. Wust zu mir Peter Wust war 1938 an Oberkieferknochenkrebs gesprochen hatte. Er sagte mir: „Im Bewußtsein, erkrankt. Die Krankheit zog sich bis 1940 hin. daß ich unheilbar krank bin und einem baldigen Mehrere Operationen waren erforderlich. Schließ- Tode entgegengehe, möchte ich Abschied neh- lich mußte der von Krebs befallene Oberkiefer men. Ich möchte es aussprechen, daß ich trotz entfernt werden. Der Eingriff wurde von Professor vorkommender Augenblicke tiefster Angst vor Ramstedt in der Raphaelsklinik vorgenommen. dem bevorstehenden Tode im innersten Herzen Offenbar wollte der sterbenskranke Philosoph die glücklich bin und voll Dank gegen Gott das ‚Te Deum‘ singe. Ich habe solches Glück nicht ver- dient; ich verdanke es wohl vor allem dem Gebet 153 Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster, Nr. meines seligen Vaters, daß ich zur Wahrheit zu- 12 vom 15.5.1940. rückgefunden und jetzt das Glück habe, durch 154 Ein meist silberfarbenes mit schwarzem Holz einge- diese Leidenszeit mich für den Eintritt in die legtes Kreuz, das der Priester beim Sterbesegen dem Ewigkeit zu läutern. Mein Vater war nur ein ganz Sterbenden zeigt oder in die Hände gibt.

72 Gelegenheit zu einem letzten mündlichen Ver- schiedenes Nein auch zwischen den Zeilen heraus- mächtnis nutzen (er konnte sich zuletzt seinen Be- zuhören. suchern nur noch mit Hilfe eines Schreibtäfelchens Reinhold Pabel, ein früherer Student, erinnert verständlich machen). Vor der Narkose richtet sich sich: also der schon auf dem Operationstisch liegende Da war vor allem unser Professor Wust, der Un- Peter Wust auf und gibt folgende Erklärung ab: vergeßliche. Seine dynamische Persönlichkeit „Ich weiß nicht, ob ich wiederkehre, darum möchte zog viele Hörer, auch außerhalb der philosophi- ich vorher noch einmal sagen: Ich habe meine schen Fakultät, in ihren Bann. Bisweilen schob Kniee nicht vor Baal gebeugt.“ 155 In dieser mit Peter Wust seine Notizen beiseite und brach spontan in bittere Anklagen wider die Verskla- biblischen Worten leicht verschlüsselten Botschaft vung des Geistes in Deutschland aus; und das hat Peter Wust eines vor dem Verlust seines überfüllte Auditorium brauste auf in donnerndem Sprechvermögens noch klar zur Sprache gebracht: Beifall. Manche hielten Wusts dramatische Pro- seine Absage an den Nationalsozialismus. klamationen für seine stärkste Seite. Und es ge- Anders als viele andere Intellektuelle seiner Zeit hörte wahrlich Mut dazu, in den Jahren 1937 hat sich Peter Wust nicht vom Virus der NS-Ideo- und 1938 für die Freiheit des Geistes die Trom- 157 logie infizieren lassen, nicht von den antisemiti- mel zu rühren. schen Ressentiments, nicht vom Rassenwahn der Auch Karl Leisner erlebt seinen Philosophieprofes- Blut- und Boden-Ideologie und auch nicht (im sor als engagierten Gegner der nationalsozialisti- Unterschied zu seinem noch berühmteren Fachkol- schen Ideen. In Peter Wusts philosophischem Ge- legen Martin Heidegger, 1889-1976) vom Führer- dankenhorizont sind nicht Rasse, Blut und die deut- prinzip. Zwar war er wie viele andere Intellektuelle sche Nation die Leitsterne, sondern eine Philoso- in der Weimarer Republik ein „verärgerter Demo- phie des Geistes und eine Metaphysik der Person, krat“ 156 , der kurzfristig sogar mit dem Modell des die weder Über- noch Untermenschen kennt. Die italienischen Faschismus geliebäugelt hatte. Doch Unvereinbarkeit einer solchen Philosophie mit der je mehr er wieder vom Boden der abendländisch- NS-Propaganda hat Peter Wust schon recht früh christlichen Denktradition aus philosophierte, um erkannt, wie Karl Leisner mit einem Tagebuchein- so deutlicher zeichnete sich seine Ablehnung des trag vom 19. Dezember 1934 bezeugt: NS-Regimes ab. Das konnte auch von den Macht- Dann im Trapp zu Peter Wust: Über [Johann habern nicht lange unbemerkt bleiben, zumal seine Gottlieb] Fichtes [1762-1814] Leben – ein Ge- Kollegs und Vorlesungen auch bespitzelt wurden. dicht. Wust fand feine Worte über Volksverbun- Dabei hat Peter Wust es – obwohl er Roß und Rei- denheit. ter nicht direkt beim Namen nannte – seinen brau- Dann eine deutliche Anspielung auf die Ideologie nen Schwarzhörern nicht schwer gemacht, sein ent- der Machthaber:

155 Die Darstellung dieser Ereignisse geht auf Josef Pie- 157 Reinhold Pabel, Feinde sind auch Menschen, 1957 per zurück. Vgl. W. Vernekohl, GW VIII, S. 93. Stalling-Oldenburg, S. 25. Zitiert nach: Vernekohl, 156 W. Vernekohl, GW VIII, S. 86. GW VIII, S. 92.

73 Die davon (tagaus, tagein) immer reden, wissen Menschen erst wiederzugewinnen ist in der „se- (vielleicht) gar nicht um ihr Wesen! Sie muß ei- kundären Naivität“. Einfacher gesagt: Der Mensch nem in die Wiege gelegt sein!“ Er [Fichte] des 20. Jahrhunderts muß das Staunen wieder ler- wurde der große Apostel der Freiheit, des Gei- nen. An die Stelle der neuzeitlichen Skepsis – Peter stes, und so – durch den Geist! – brachte er dem Wust denkt vor allem an René Descartes (1596- deutschen Volk Kraft, Schwung, Zucht, Rettung 1650) – muß die Haltung der staunenden, ehrfürch- gegen den Feind. – Nur die Waffen des Geistes tigen Offenheit für die Größe des Seins treten. führen unser Volk wieder zu Aufstieg und Sieg!! Ein größerer Kontrast zu der damals propagier- Das lehrt uns der große Fichte. ten Idee des Herrenmenschentums läßt sich wohl Daß die Worte Peter Wusts für den jungen Theolo- kaum denken, wie auch folgende Episode belegt: giestudenten weitaus mehr waren als „Vorlesungs- Im Juli 1933, einen Tag nach der Unterzeichnung stoff“, belegen auch die persönlichen Nutzanwen- der Konkordatsvereinbarungen zwischen der deut- dungen, die er aus dem Vortrag für sich ableitet : schen Reichsregierung und dem Vatikan, findet die Eins noch lehrte mich diese Vorlesung: Man „Dritte soziologische Sondertagung“ des katholi- soll aufgeschlossen sein für alles Gute und schen Akademikerverbandes statt, die Vizekanzler Schöne bei allen anderen Menschen – auch Franz von Papen (1879-1969) 158 dazu nutzen will, wenn sie daneben noch so viel Dunkles und Fal- die katholische Kirche für die Idee des „Dritten sches an sich haben! Reiches“ zu gewinnen. Peter Wust macht in dieser Der philosophische Funken, den Peter Wust mit Debatte die „Weltfremdheit des deutschen Katholi- seiner Metaphysik des Geistes in den Vorlesungen zismus zum Thema“ und streicht die Notwendigkeit entzünden will, entfacht auch im jungen Karl Leis- der Demut heraus. Ein Teilnehmer in Parteiuniform ner das Feuer jugendlicher, fast schwärmerischer erwidert schroff: „Wir Nationalsozialisten brauchen Begeisterung: Stolz, aber keine Demut.“ 159 Münster, Dienstag, 22. Januar 1935 (Heilige Daß der Philosophieprofessor Peter Wust über- martyres Vincentius et Anastasius). haupt seine Lehrtätigkeit ungestört fortsetzen konn- Ja, und dann, „mein Studium“: Wenn der liebe te und nicht etwa abgesetzt wurde, liegt vermutlich Peter Wust so herrlich spricht vom Kindsein, im Sonderstatus seiner Professur begründet. Als von wahrer Kultur, von letzter großer Heiterkeit Dozent für die Münsteraner Priesteramtskandidaten des Geistes trotz alles Elends, aller Not, allem stand Peter Wust gewiß „im schützenden Schatten Fallen und Zerschellen an den abgrundstürzen- den Felsen der Unendlichkeit des Geistes. Mit wenigen Worten hat Karl Leisner hier zentrale Aspekte der Geist- und Kulturphilosophie Peter 158 Der katholische Gedanke, 1933, 4. Heft, darin Franz Wusts wiedergegeben. Dabei ist das „Kindsein“ so von Papen: Zum Reichskonkordat. Zitiert nach: Ver- etwas wie eine Leitmelodie dieser Philosophie, die nekohl, GW VIII, S. 87. 159 Else Peine-Wust in dem Aufsatz: Metanoiete – Den- in den Hauptwerken immer wieder intoniert wird, ket um, in: Kirche und Leben Nr. 51 vom 16. De- besonders in „Naivität und Pietät“: die Haltung des zember 1956, Münster. Zitiert nach: Vernekohl, GW Kindes, die vom erwachsenen und geistig tätigen VIII, S. 89.

74 des von den Nazis gefürchteten Bischofs von Ga- Münster ist ja freilich katholische Welt, auf so len“. 160 schöner, alter Tradition. Aber es ist doch recht Peter Wust selbst rechnete jedenfalls „jeden Tag spießig hier, und das hemmt etwas mein Tem- mit der Möglichkeit einer Absetzung oder gar Ver- perament. Übrigens dürfte diese Spießigkeit, die haftung“ 161 . Schon seine Vorlesungen ließen in ja überhaupt ein Signum des deutschen Katholi- zismus ist (und die Idiotie wächst proportional ihrer für Wust sicher riskanten Offenheit der Spra- mit den Stufen der Berufsleiter nach oben), die- che kaum einen Zweifel an seiner klaren Haltung. se Spießigkeit dürfte über kurz oder lang sehr Noch deutlicher aber zeichnet sich seine Einstel- unsanft beseitigt werden. Denn ich fühle sehr lung in einigen Gesprächen und privaten Notizen fein heraus, daß große Entscheidungen nahen... ab. Es ist erstaunlich, mit welchem seismographi- Das Barometer der Zeit steht auf Sturm... Mit der schen Gespür für die Bewegungen und Erschütte- Kompromißlerei wird es wohl von selber sehr rungen der Zeit der hochsensible Philosoph das bald ein Ende haben. Und dann werden nur drohende Unheil so früh kommen sah. Franz Ro- noch die großen Jas und die harten Neins ein- ander gegenübertreten: die Herren mit den glatt- dens berichtet: rasierten Bonhommie-Gesichtern, hinter denen Unvergessen bleibt mir die Stunde, da Wust mir sich ja doch nur Ignoranz oder Indolenz sehr von seinem letzten Pariser Aufenthalt und seiner sauber maskiert, diese Herren werden dann kei- Unterhaltung mit Jacques Maritain [1882-1973] ne Zeit mehr zum Rasieren haben. Dann aber erzählte: „Er ist einer von den wenigen, die wis- wird man auch sehen, daß das Rasieren allein sen, um welche Entscheidung es für Europa 163 noch gar nicht den Menschen macht. geht“, sagte er langsam. „Welche Entscheidung Im Januar 1935, bei der Abstimmung über die Zu- meinen Sie?“ fragte ich. Wust sah mich an, sei- ne Augen weiteten sich zu übernormaler Größe. kunft seiner saarländischen Heimat, sieht sich Peter Dann nahm er den Kneifer ab, verbarg sein Ge- Wust in einem tiefen Zwiespalt. Hatte er der Wie- sicht in den Händen und sagte, während strö- dereingliederung des Saarlandes in das Deutsche mende Tränen zwischen seinen Fingern hervor- Reichsgebiet noch mit tiefen Skrupeln zugestimmt, quollen und sein Körper von Schluchzen er- so erfüllt ihn drei Jahre später der „Anschluß“ schüttert wurde: „Schreckliche Dämonen schlei- Österreichs mit Entsetzen. In sein Exemplar der chen über die Welt und niemand sieht sie. Alles „Nachfolge Christi“ notiert er: dies wird in einem furchtbaren Untergang 162 O mein Gott, wo sind wir? O Wien, o Wien! zugrunde gehen.“ Es war im April 1928. Quousque tandem [Wie lange noch 164 ]? In der 1931, zwei Jahre nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, schreibt Peter Wust an seinen Freund Franz Xaver Münch:

163 Peter Wust, Briefe und Aufsätze, S. 227. 160 Ebd., S. 95. 164 Quousque tandem (abutere, Catilina, patienta nostra?) 161 Ebd., S. 95. – Wie lange eigentlich, Catilina, wirst du unsere Ge- 162 Franz Rodens, Erinnerung an Peter Wust, in: Rheini- duld mißbrauchen? Das Zitat stammt aus dem Beginn scher Merkur, April 1950. Zitiert nach: W. Verne- der Ersten katilinarischen Rede des römischen kohl, GW VIII, S. 86. Staatsmannes und Philosophen Cicero.

75 Freude ist tiefste Not! Ist der Antichrist da, der reira 169 gibt Zeugnis davon, daß Karl Leisner in der 165 ‚Herr der Welt‘? Beurteilung des Nationalsozialismus eine ganz Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges läßt sich ähnliche Auffassung vertrat. Johann Krein schrieb Wust nicht vom Freudentaumel der ersten Blitz- unter anderem: siege betäuben, wie einige vereinzelte, private No- Dort [in St. Blasien] kam ich in ein sehr enges, tizen aus dieser Zeit dokumentieren: sehr freundschaftliches Verhältnis mit Herrn Soll denn England wirklich so schwach sein wie Leisner und dem Herrn Kaplan Stein aus der Di- wir es immer darstellen? Mussolini ist mir durch- özese Limburg. Beide kannte ich schon länger aus undurchsichtig. vom gemeinsamen Mittagstisch her. Wir hatten Überdeutlich fällt auch seine Bewertung des Nicht- dann schöne Wochen und Monate, getrennt vom angriffspaktes mit Rußland aus: Gros, miteinander verlebt und waren richtige Aber hinter uns nur Mord, Lüge, Verrat, Verrat Leidensgenossen geworden. Unser Leiden ver- an Christus, Paktieren sogar mit dem Teufel in gaßen wir oft beim Schachspiel, beim Foto- Moskau. – Und hinter all dem soll noch der Se- grafieren, beim Lesen, bei gemeinsamen Spa- gen Gottes stehen? ziergängen, bei gemeinsamen Gottesdiensten Für mich wäre ein Sieg unsererseits ein Sieg der und nicht zuletzt bei religiösen und politischen Barbarei. Aussprachen. Die beiden Herren hatten sehr Wenn diese Leute siegen, dann kennen sie kei- schnell erkannt, daß ich, was die großen Fragen ne Grenzen mehr. des Lebens anbelangt, mit ihnen vollkommen Und die Freiheit des Geistes? Ist es noch erträg- einig ging, daß ich die Kirche bei jeder sich bie- lich, wenn ich keine Zeitung der ganzen Welt tenden Gelegenheit auch Andersgläubigen und mehr lesen darf? 166 Parteigenossen gegenüber mit Nachdruck ver- Ein Brief vom 12. März 1946 von Johann Krein 167 trat und daß ich mir über die Zukunft des natio- an die Jesuitenpatres Otto Pies 168 und Clemens Pe- nalsozialistischen Staates in Bezug auf Glau-

165 Eintragung in Handexemplar der „Nachfolge Chri- Mitpatienten denunziert. Johann Krein wurde Weih- sti“, mit Datum vom 13.3.1938. Zitiert nach: Verne- nachten 1939 entlassen. Erst 1946 erfuhr er vom kohl, GW VIII, S. 90. Schicksal Karl Leisners. Er starb am 29.6.1947 in 166 W. Vernekohl, GW VIII, S. 92 f. Heidelberg. 167 Johann Krein wurde am 21.1.1911 in Karthaus bei 168 Pater Dr. Johannes Otto Pies SJ, geboren am 26.4. Trier als Sohn katholischer Eltern geboren, katholisch 1901 in Arenberg bei Koblenz, Eintritt bei den Je- getauft und erzogen. 1946 wohnte er in Trier, Klo- suiten am 14.4.1920, Priesterweihe am 27.8.1930, ge- sterstraße 22. Er war im Juni 1939 von Saarbrücken storben am 1.7.1960 in Mainz. Er kam am 2.8.1941 aus in die Lungenheilstätte Fürstabt-Gerbert-Haus in ins KZ Dachau und wurde am 27.3.1945 entlassen. St. Blasien gekommen und war ein Mitpatient von Siehe: Rundbrief des IKLK Nr. 43, S. 7-9. Karl Leisner und Kaplan Alexander Stein, mit denen 169 Pater Clemens Pereira SJ, geboren am 23.3.1911 in ein reger und vertrauter Austausch stattfand. Johann Hamburg, 14.9.1933 Noviziat SJ, Priesterweihe am Krein gegenüber äußerte Karl Leisner nach dem At- 26.10.1940 in Valkenburg, gestorben am 30.1.1990 in tentat auf Hitler am 8.11.1939: „Schade, daß er nicht Münster. Er kam am 19.5.1944 ins KZ Dachau und dabei gewesen ist“, was dieser nicht für sich behalten wurde auf dem Evakuierungsmarsch am 26.4.1945 konnte. So wurde Karl Leisner von einem anderen befreit.

76 bensfragen meine Gedanken machte. Doch muß Wahrheit auch in aller Öffentlichkeit zu beken- auch erwähnt werden, daß in Sachen Hitler je- nen. Dieses Bekenntnis war, ich weiß es, oft der von uns dreien die Zukunft sich anders vor- sehr schwer, weil es gefahrvoll war. Aber: Ich stellte. Ich war damals ehrlich noch von der habe auf die Gnade hin alles gewagt. Und ich „Größe“ Hitlers überzeugt (1939!), ich verwarf weiß jetzt: Non confundar in aeternum [Nicht zwar offen die Auswüchse, soweit man solche werde ich zu Schanden in Ewigkeit]. 172 damals überhaupt schon kannte, aber ich glaub- Peter Wust und Karl Leisner, der Professor und sein te fest daran, daß es einen Waffensieg und eine Student, haben sich im Angesicht des Todes als Glaubensfreiheit geben müßte. Herr Kaplan Zeugen einer Wahrheit bewährt, die mehr ist als Stein wich in seiner Auffassung schon etwas ab; bloße mathematische „Richtigkeit.“ Karl Jaspers immerhin fiel es ihm schwer, eine Niederlage beschreibt den Unterschied so: „Es wäre ungemäß, herbeizuwünschen, um die Nazis loszuwerden. für eine Richtigkeit, die beweisbar ist, sterben zu Herr Leisner (der selige hochw. Herr Leisner) 173 lehnte Hitler radikal ab, ließ sich durch keine wollen.“ Vielleicht trifft auch auf den „Bekennt- Sondermeldungen irre machen und sah das Heil nisphilosophen“ Peter Wust und den seligen Beken- der Kirche nur in einer Niederlage, die er herbei- ner Karl Leisner die Bemerkung des Existenzphilo- sehnte und an die er glaubte. Er sagte schon sophen Karl Jaspers zu: damals, daß der furchtbare Feind Nazismus nur Wenn Sokrates, Boethius und Bruno gleichsam um den Preis des Sieges (also durch die Nie- die Heiligen der Philosophiegeschichte sind, so derlage) vernichtet werden könnte. Wie recht hat sind sie darum keineswegs die größten Philoso- er behalten! phen. Sie sind aber die mit Ehrfurcht gesehenen Gestalten der Bewährung eines philosophischen Peter Wust sollte den Untergang des „Dritten Rei- Glaubens in der Weise der Märtyrer. 174 ches“ und die katastrophalen Folgen des Weltkrie- Marc Röbel ges nicht mehr erleben. Aber schon am 18. Dezem- ber 1939 schreibt er an seine Studenten in seinem berühmt gewordenen Abschiedswort 170 : Und auch der Gedanke ist trostvoll, daß wir zu- gleich die schärfste Etappe der großen abend- ländischen Adventszeit erleben.“ 171 – „Ich bin dem lieben Gott in meiner jetzigen Leidenszeit für zwei Dinge besonders dankbar: 1. Dafür, daß er mir immer deutlicher in meinem Leben die Wahrheit dessen, was es um Christus ist, hat sichtbar werden lassen. 2. Daß er mir auf dem Katheder in den neun Jahren meiner Münsteraner Lehrtätigkeit die Kraft und die große Gnade verliehen hat, diese 172 Ebd., S. 356 f. 173 K. Jaspers, Der philosophische Glaube, München 170 P. Wust, Briefe und Aufsätze, S. 353-358. 21951, S. 11. 171 Ebd., S. 354. 174 Ebd., S. 11.

77 Der Heilige Arnold Janssen aus Goch

Am 5. Oktober 2003 hat Papst Johannes Paul II. Magdalena, wo Arnold Janssen getauft wurde. Das Arnold Janssen zusammen mit Josef Freinademez Originaltaufbecken steht heute in der von Steyler und Daniele Comboni vor mehreren zehntausend Missionaren betreuten Arnold-Janssen-Pfarrei in Menschen auf dem Petersplatz in Rom heilig ge- Goch. sprochen. Mitgefeiert haben über 1.000 Pilger aus In der Person des Ordensgründers verbanden Goch und Umgebung, der Heimat des neuen Heili- sich typisch niederrheinische Charaktereigenschaf- gen. Nach über 850 Jahren – damals war es Gott- ten wie Tatkraft und Zielstrebigkeit mit einer tiefen fried von Kappenberg – wurde damit erstmals wie- Frömmigkeit. Nach dem Besuch der Volksschule der ein Angehöriger des Bistums Münster und nach und des Collegium Augustinianum Gaesdonck in dem II. Vatikanischen Konzil erstmals wieder ein Goch empfing er 1861 im Alter von gerade 23 Deutscher heilig gesprochen. Jahren in Münster die Priesterweihe. Zuvor hatte er „Entweder ist er ein Narr oder ein Heiliger“ in nur vier Semestern das Theologiestudium abge- staunte der Bischof von Roermond, Johann August schlossen, nachdem er bereits Philosophie, Mathe- Paredis, als ihm 1874 ein mittelloser Priester be- matik und Naturwissenschaften studiert und die richtete, er beabsichtige ein Haus für die Ausbil- Lehramtsbefähigung in Englisch, Hebräisch und dung von Missionaren zu bauen. Im Jahr darauf Chemie erworben hatte. setzte der Geistliche, da er darin den Willen Gottes Als Arnold Janssen 1865 das Gebetsapostolat erkannte, das Vorhaben in die Tat um und legte so kennen lernte, eine in Frankreich gegründete Verei- den Grundstein für eine der bedeutendsten Ordens- nigung, der besonders das Gebet für die Einheit der gründungen der Neuzeit: Die „Societas Verbi Di- getrennten Christenheit am Herzen lag, förderte er vini“ (SVD), vielen besser bekannt als die Steyler erfolgreich dessen Ausbreitung. Bald darauf machte Missionare. Heute gilt Arnold Janssen, der am 5. er sich auch die Anliegen der Weltkirche zu eigen November 1837 als Sohn eines Fuhrunternehmers und gründete vierzig Kilometer von Goch entfernt in Goch geboren wurde, als Wegbereiter des mo- das erste deutsche Missionshaus im niederländi- dernen Missionsgedankens und Vorläufer des II. schen Steyl, da eine Gründung auf deutschem Bo- Vatikanischen Konzils. den wegen des Kulturkampfes nicht möglich war. Arnold Janssen war das zweite von elf Kindern. Bereits 1879 schickte er die ersten Missionare Sein Geburtshaus befindet sich unweit vom Rathaus nach , später nach Togo, Papua-Neuguinea, in der Frauenstraße. Daran schließt heute die Ar- , die Philippinen und Lateinamerika. Als Ar- nold-Janssen-Straße an. Auch das Grab seiner El- nold Janssen 1909 in Steyl starb, wirkten die Stey- tern, Gerhard und Katharina Janssen, die durch ihre ler Missionare bereits in zehn Ländern; immer religiöse Erziehung den Grundstock seines starken getreu dem Motto ihres Gründers: „Zunächst hei- Glaubens legten und unter großen Opfern sein Stu- len, dann belehren und erst dann taufen.“ dium finanzierten, befindet sich in Goch. Heute zählt die Steyler Ordensfamilie – Arnold Vom Geburtshaus Arnold Janssens führt der Janssen gründete noch zwei Schwesternkongrega- Weg quer über den Marktplatz zur Kirche St. Maria tionen – mehr als 10.200 Frauen und Männer aus 65

78 Nationen: rund 6.000 Missionare, fast 4.000 Missi- zum Urheber als Jenen, der im Himmel wohnt und onsschwestern und nahezu 500 Anbetungsschwe- alle Dinge auf Erden lenkt und leitet 176 .“ stern. Sie leben und arbeiten in 62 Ländern der Nachdem 1935 Bischof Lemmens von Roer- Welt. mond den Diözesanprozeß für die Seligsprechung Im deutschsprachigen Raum sind die Steyler Arnold Janssens eröffnete, wurde er am 19. Okto- Missionare insbesondere durch ihre Pressepublika- ber 1975 durch Papst Paul VI. selig gesprochen. tionen weithin bekannt. Deren verbreitetste ist wohl Goch am Niederrhein ist mehr als der bloße Ge- die Monatszeitschrift „Stadt Gottes“. Der selige burtsort des Heiligen Arnold, hier kann man heute Karl Leisner las den Steyler „Jesusknaben“ 175 . noch auf seinen Spuren wandeln. Schwester Agada Arnold Janssen sah sich selbst und sein Werk Brand, die Generaloberin der Steyler Missions- folgendermaßen: „Dieser Weinberg, geliebte Mit- schwestern, formulierte dies in ihrer Ansprache brüder, ist unsere Gesellschaft mit allen ihr überge- während einer Eucharistiefeier zum Dank für den benen Arbeitsfeldern. Die Hand des Herrn hat die- Heiligen Arnold am 26. Oktober 2003 in Goch wie sen Weinberg angelegt und ihn gepflegt; vom Herrn folgt: „Wir sehen Steyl als Ort unserer Ordensgrün- ist ihm Sonnenlicht, Regen und Gedeihen gekom- dung an, aber wir wissen, unsere Wurzeln liegen men. Nicht aber kann ich selbst mir darin etwas noch tiefer, sie reichen hinein in das katholische zuschreiben, als bloß eine schwache Mitwirkung, Leben am Niederrhein, in die Pfarrei Maria Mag- und auch das nicht in eigener Kraft. Aber der Ge- dalena in Goch, in die tief gläubige Familie Jans- danke, er ist nicht von mir gekommen, nicht von sen. mir die beharrliche Festhaltung desselben inmitten Deshalb genügt es nicht, dass Mitbrüder und großer Schwierigkeiten, nicht von mir die mächtige Mitschwestern auf der Suche nach den Wurzeln Hilfe bei der Ausführung, der Unterstützung inmit- unserer Kongregationen nach Steyl kommen – sie ten allgemeinen Misstrauens. Nicht ich, sondern der wollen auch nach Goch, wollen etwas erspüren, Herr war es, der die Berufungen weckte und den erahnen von dem Geist, den Arnold Janssen vor Einzelnen half, dass sie treu an dem gefassten Vor- mehr als 150 Jahren hier eingeatmet hat, der ihn satze festhielten. Und wenn der Herr es nicht gewe- begleitet hat, der in ihm lebte. sen wäre, wer hätte wohl die nötige Geldunterstüt- Und es ist wahr, wenn wir im Haus in der Frau- zung gesandt, und das inmitten von Bedürfnissen, enstraße stehen oder in der Kirche, fangen die die von Tag zu Tag mehr ins Große gewachsen Mauern an zu sprechen. Sie erzählen vom harten sind! – Fürwahr, das muss unser aller feste Über- Leben der Menschen damals, von ihren Freuden, zeugung sein: die Gründung, Erhaltung und Wei- ihren Hoffnungen und besonders von ihrem tiefen terbildung unserer Gesellschaft hat keinen anderen Glauben, ihrem Vertrauen auf Gott und von ihrer selbstverständlichen Hilfe für die Notleidenden.

176 Arnold Janssen im Bericht an „seine“ Steyler Missio- nare in China im Jahr 1886, zitiert in Arnold Janssen: 175 Karl Leisner erwähnt den Jesusknaben in seinem Ein Leben im Dienste der Weltkirche, Stefan Tagebuch am 29.12.1929. Üblackner, 2003, S. 5.

79 Hier liegt wohl der eigentliche Anfang der Spiri- ler oder sozialer Natur zur nachhaltigen Entwick- tualität unserer Ordensgemeinschaft.“ lung und Lösung existenzieller Armutsfragen, der Wer mit offenen Augen durch Goch wandelt, Einsatz für das Leben, für Grundrechte und den kann vieles entdecken, was auf den herausragenden Frieden sowie für den ökumenischen und interreli- Sohn der Stadt verweist. An erster Stelle zu nennen giösen Dialog. ist hier natürlich das Geburtshaus in der Frauen- Zur ersten Preisträgerin bestimmte das mit un- straße. Im Erdgeschoss des Arnold-Janssen-Hauses abhängigen Persönlichkeiten aus Wissenschaft, gibt es ein kleines Museum, wo das Leben und das Politik und Gesellschaft besetzte neunköpfige Werk des Heiligen Arnold dargestellt werden. Ei- Preisgericht die Gemeinschaft Sant' Egidio, die nige Räume sind wie zu seinen Lebzeiten einge- 1968 im Anschluss an das II. Vatikanische Konzil richtet, außerdem stellen sich die Steyler Missio- in Rom entstand. Nach Auffassung des Preisge- nare hier mit ihrem Werk vor. Interessenten können richtes lässt sich der weltweite Einsatz Sant' Egi- sich unter der Telefon-Nr. 02823/320-202 jederzeit dios mit dem Wirken des Heiligen Arnold Janssen für Führungen anmelden. Eine Büste von Arnold in hervorragender Weise in Einklang bringen. Das Janssen befindet sich in der Adolf-Kolping-Straße gilt insbesondere für die von der Gemeinschaft in Goch (an der Ecke Mühlenstraße). Am 26. Okto- vorbildlich gelebte Solidarität mit den Armen, aus ber 1980 wurde außerdem im Hauptschiff der der sich das konsequente und erfolgreiche Engage- St. Maria Magdalena-Kirche eine Bronzebüste ment Sant' Egidios für den Frieden entwickelte. In eingeweiht. Reliquien des Heiligen werden in Goch zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Arnold-Janssen-Pfarre, in der Taufkirche und vermittelte die Gemeinschaft Sant' Egidio zwischen im Collegium Augustinianum Gaesdonck bewahrt. verfeindeten Parteien. Unübertroffen ist bislang die In der Kapelle des nur 14 Kilometer von Goch ent- Rolle, die die Gemeinschaft 1992 in Mosambik fernten Marienwallfahrtsortes Kevelaer zeugen eine spielte. In 27 Monaten mit elf Verhandlungsrunden Medaille und in der Kirche St. Adelgundis in Em- erreichte sie unter der Leitung von Professor Ric- merich ein Glasfenster von der Bedeutung, die cardi den Abschluss eines Friedensvertrages und Arnold Janssen für die Region besitzt. In Kempen, sorgte so für die Beendigung des über ein Jahrzehnt wo Arnold Janssen einige Jahre als Rektor wirkte, tobenden Bürgerkrieges, in dessen Verlauf eine befindet sich eine nach ihm benannte Kapelle. Million Menschen ihr Leben gelassen hatten. Zu Ehren des Heiligen Arnold zeichnet die Stadt Die feierliche Preisübergabe erfolgte im Rah- Goch künftig alle zwei Jahre laut dem einstimmi- men der „1. Internationalen Gocher Gespräche“ am gen Beschluss des Rates Persönlichkeiten oder 15. und 16. Januar 2004 – anlässlich des Namensta- Initiativen aus, die sich im Geiste Arnold Janssens ges Arnold Janssens am 15. Januar – unter dem besondere Verdienste erworben haben. Der mit Titel „Frieden – Utopie in einer globalen Gesell- 15.000,00 € dotierte Arnold-Janssen-Preis wurde schaft?“ in Goch. erstmals in diesem Jahre verliehen. Preiswürdig Weitere Informationen zu Arnold Janssen fin- sind – getreu der Aufforderung zu einer „neuen den sich im Internet unter www.pater-arnold- Phantasie der Liebe“ – hervorragende Leistungen janssen.de. technischer, wirtschaftlicher, erzieherisch-kulturel- Dr. Georg Kaster

80 STRASSEN UND GEBÄUDE BENANNT ZU EHREN KARL LEISNERS

Wertschätzung und Verehrung für einen Menschen drücken sich auch darin aus, daß Straßen und Gebäude nach ihm benannt werden. So ist es schon früh bei Karl Leisner geschehen und geschieht, wie bereits in den letzten Rundbriefen berichtet, weiterhin:

Karl Leisner als Patron einer Seelsorgeeinheit in Cambrai in Frankreich

Abbé Fleury schrieb dazu am 10. Juli 2003: weiß, daß Karl Leisner ein eifriges Mitglied der Am Pfingstmontag dieses Jahres hat Mgr Gar- Schönstattbewegung war. nier, Erzbischof von Cambrai, offiziell 51 neue 2. Abbé Bernard Duhamel, Pfarrer der neuen Pfarreien anerkannt. Eine jede hatte einen Heili- Pfarrei, hat im vergangenen Jahr an der franzö- gen als Patron gewählt. Dieses Ereignis wurde sischen Wallfahrt nach Schönstatt teilgenommen in Valenciennes mit einem großen Fest began- und war angetan von der Gestalt Karl Leisners, gen. Man konnte dabei die 51 Banner be- die im Priesterhaus auf „Berg Moriah“ vorgestellt wundern. Eines trug den Namen „Seliger Karl im wurde. Dort kam ihm der Gedanke, seine Pfarrei Cambraier Land“ und zeigte einen Kelch zur Er- dem seligen Karl Leisner zu weihen. innerung an die Priesterweihe Carls im Konzen- Es ist nötig, den Martyrerpriester Karl in Frank- trationslager Dachau. reich noch mehr bekannt zu machen, damit sein Warum fiel die Wahl auf diesen Seligen als Pa- Vorbild vor allem für die Jugend Ansporn wird tron? Dafür gibt es zwei Gründe: und tiefere Bande zwischen Frankreich und 1. Das Schönstattheiligtum der Einheit befindet Deutschland entstehen, zwischen unseren bei- sich auf dem Gebiet der neuen Pfarrei, die sich den Ländern und Kirchen. Hat Karl nicht die dafür interessiert. Z. B. feiert jeden Freitag ein Priesterweihe durch einen französischen Bischof Priester der Pfarrei dort eine heilige Messe. Man empfangen?

Karl-Leisner-Haus in Gescher

„Wenn das Land für uns eine Bleibe hat, Am 12. August 2003 haben acht Männer im Alter dann bleiben wir hier, von 40 bis 50 Jahren ein Fest gefeiert, im Gedenken weil sich das Land gewandelt hat. an Karl Leisner und in der Freude, seinen Namen Wenn der Stacheldraht rote Rosen trägt, für ihre Außenwohnung gewählt zu haben. Die dann bleiben wir hier, 177 Wohnung gehört zur bischöflichen Stiftung Haus weil sich das Land gewandelt hat.“ Hall. Als es nun darum ging, für diese Wohnge- meinschaft einen Namen zu suchen, entschieden sich die Männer und das Betreuerteam für den Na- 177 Text: W. Willms Melodie: P. Janssens aus: „Ehre sei men „Karl-Leisner-Haus“. Die Menschen haben Gott auf Erden“, 1974.

81 sich ein wenig vertraut gemacht mit dem Leben, der Haus der Seele ist und er einen Namen hat z. B. Biographie Karl Leisners anhand des Buches: „Rote Rosi oder Heidi, Lothar, die sind alle Häuser. Und Rosen und Stacheldraht“ (Josef Heckens, Kevelaer so finde ich schön, dass unser Haus jetzt auch einen 1996). Den Bezug zu Karl Leisners Lebensge- Namen hat, nämlich Karl Leisner, der auch ein schichte wollen sie gemeinsam erarbeiten. Sein besonderer Mensch war, ein Mensch wie wir alle, Durchsetzungsvermögen, das Leben in Gemein- der aber für die Menschheit etwas getan hat und das schaft, die Freude an der Natur, aber auch seine finde ich so beeindruckend und super.“ Charakterprägung sprach die Männer an. Hier sind „Wir alle haben einen Namen, feiern unseren Na- einige Aussagen der Bewohner, warum sie ihr Haus menstag, aber alle gemeinsam können wir uns Karl-Leisner-Haus genannt haben: freuen auf den Namen Karl Leisner und unser Fest „Ich freue mich, dass wir den Namen Karl Leisner feiern in der Wohngemeinschaft.“ für unsere Außenwohnung gefunden haben und Heidi Hinzmann erfahren können, was er gemacht hat und wie er sterben mußte.“ „Wenn wir Kerzen anhaben, ist er mitten unter uns und wir denken an Karl Leisner.“ „Wir haben den Namen ausgewählt, um seinen Namen zu feiern und wollen ihn als Vorbild anse- hen und oft an ihn denken.“ „Ich interessiere mich für Karl Leisner, weil er sich für andere, für manche Schwachen eingesetzt hat und besonders auch an Gott geglaubt hat.“ „Ich finde gut, dass wir uns für Karl Leisner ent- schieden haben und jedes Jahr am 12. August im Gedenken an ihn sein Fest feiern.“

„Wir sind eine Wohngemeinschaft und unser Haus soll einen Namen haben, wie unser Körper, das Hände der Bewohner mit einem Bild von Karl Leisner

Karl Leisner Sterbezimmer in Planegg

Karl Leisner starb am 12. August 1945 im Waldsa- anerkanntes Altenheim. Seit Beendigung der Gene- natorium in Planegg bei München im Zimmer 76, ralsanierung im Frühjahr 2003 genügt das Heim in das er am 4. Mai 1945 aus dem Krankenrevier modernsten Ansprüchen und bietet alle Annehm- des befreiten KZ Dachau gebracht worden war. lichkeiten, die die Beschwernisse des Alters er- Heute ist dieses Haus ein Altersheim für die Barm- leichtern. Das Heim, in dem sich Ordensschwestern herzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von und weltliche Mitarbeiter die Arbeit teilen, bietet Paul, die es von 1898 bis zum 30. September 1984 Unterkunft für insgesamt 86 Personen. als Sanatorium führten, und ein seit 1997 öffentlich

82 Während der Generalsanierung, bei der jedes Großen Zuspruch fand der Gedenkgottesdienst Zimmer mit einer Naßzelle ausgestattet wurde, mit Weihbischof Engelbert Siebler für den seligen drängte die Ordensleitung darauf, im Gedenken an Karl Leisner, der am 12. August anläßlich seines den seligen Karl Leisner Zimmer 76 im ursprüngli- 58. Todestages in Planegg gefeiert wurde. Etliche chen Zustand zu erhalten. Im Internet ist das Zim- Verehrer Karl Leisners nahmen daran teil, unter mer unter der Adresse http://www.barmherzige- anderem auch eine französische Pilgergruppe, die schwestern-muenchen.de/d5312.html zu besichti- im Rahmen einer zweiwöchigen Tour durch gen. Deutschland auf den Spuren Karl Leisners unter- wegs waren.

Karl Leisner-Haus in Wesel

Bereits 1955 gab es in Wesel ein Karl Leisner- ter Kindergarten. Die Gedenktafel bekam zwar am Heim. Es war das am 16. November 1955 in Anwe- neuen Jugendheim einen Ehrenplatz, aber der Name senheit von Karl Leisners Eltern eingeweihte Ju- Karl Leisner-Heim bürgerte sich nicht ein. gendheim der St. Martinipfarre an der Isselstraße. 1987 übernahm die Caritas das Haus, das später Man brachte dort eine entsprechende Gedenktafel in den Caritasverband Dinslaken überging. Bei der an. Suche nach einem Namen verwies Karl-Heinz Ort- Als die Gemeinde 1966 das Haus Meier-Magis, linghaus auf den ursprünglichen Namen Karl Leis- Herzogenring 6, erwarb, wurde dieses Haus Ju- ner. Im Frühjahr 2004 wird die Einweihung des gendheim und das Haus an der Isselstraße ein zwei- „neuen“ Karl Leisner-Haus sein.

Karl Leisner-Straße in Goch

In seiner Sitzung vom 22. Juni 2003 beschloss der die Gerd-Horseling-Straße und die bereits vorhan- Hauptausschuss der Stadt Goch, die Haupterschlie- denen Straßen Am Nuthgraben und Viktoriastraße ßungsstraße in einem neuen Baugebiet im süd- sein. Bei allen neuen Namensgebungen für das westlichen Bereich von Goch zu Ehren des seligen geplante Bebauungsgebiet, bei dem mit der Er- Karl Leisner nach diesem zu benennen. Das Bauge- schließung und Veräußerung der Grundstücke in biet befindet sich zwischen der Hassumer Straße absehbarer Zeit gerechnet wird, handelt es sich um und der Gaesdoncker Straße. Die künftige Karl- Namen von Personen, die während der nationalso- Leisner-Straße wird über neu anzulegende Kreis- zialistischen Diktatur im Widerstand lebten, re- verkehre diese beiden Straßen verbinden. Ihre Ne- spektive der Verfolgung ausgesetzt waren. benstraßen in diesem Baugebiet werden die Franz- Dr. Georg Kaster Schneider-Straße, die Kardinal-von-Galen-Straße,

83 Karl Leisners Eltern stammten aus Goch

Krügten. Nach dem Besuch der Volksschule lebte Amalia in Roepaan im Pensionat und besuchte den Haushaltsunterricht. Deutsche Vorsehungsschwe- stern (Genossenschaft der Schwestern von der Gött- lichen Vorsehung) hatten „Maria Roepaan – Maria ruf an“ 1882 kurz hinter der deutsch-nieder- ländischen Grenze zwischen Grunewald und Otter- sum gegründet. Ab 1910/11 lebte Amalia mit ihrer Familie in Neuss in der Josefstraße 25, denn Vater Falkenstein konnte dort beruflich mit einer Faß- und Kistenfa- brik mehr verdienen als in Goch bei den Margarine- werken Jurgens & Prinzen. 178 Das Haus der Familie Falkenstein, das damals gegenüber der heutigen Tankstelle Röder vor dem heutigen Penny-Markt lag, bekam bei einer neuen Numerierung der Klever Straße die Nummer 47, im Zweiten Weltkrieg (1939-1945) wurde es zerstört.

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Vater Leisner, Wilhelm Johann Josef Leisner wurde am 26. September 1886 um 11.00 Uhr in Goch geboren und am 3. Oktober 1886 in der Kirche St. Maria Magdalena katholisch getauft. Seine Tauf- paten waren Wilhelm Töne und Johanna Thöneßen. Er besuchte zunächst die Rektoratsschule in Goch und kam am 16. April 1902 in die Untertertia, heute Haus Falkenstein Jahrgangsstufe 8, des Gymnasiums in Kleve, wo er Ostern 1905 die Mittlere Reife machte. Anschlie- Mutter Leisner, Amalia Everhardine Maria Ma- ßend ging er zum Gericht. 1914 war er Amtsge- thilde Falkenstein, wurde am 26. Oktober 1892 um richtssekretär in Neuss und wohnte in der Canal- 2.00 Uhr in Goch, Cleverstraße 36, geboren und am straße 17. 27. Oktober 1892 in der Kirche St. Maria Magda- lena katholisch getauft. Taufpaten waren Mathias Vaegs und Everhardine Hartjes, geborene van 178 Aussage von Willi Leisner am 26.4.2000.

84 Tochter Lucia mit dem Tierarzt Dr. Paul Köster verheiratet war, der nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) in diesem Haus seine Praxis eröffnete. Als Vater Leisner sich im Ersten Weltkrieg fern der Heimat aufhielt, zog Mutter Leisner kurz nach der Geburt ihres Sohnes Karl nach Goch in das Haus ihrer Schwiegereltern, wo am 9.5.1916 ihr Sohn Willi geboren wurde. Während Karl Leisners Jugendzeit lebten dort noch die beiden ledigen Schwestern von Vater Leisner: Maria und Julchen. Aus Urkunden der Familie Leisner ist ersicht- lich, daß sie 1915 in der Cleverstraße 182 und 1936 im Haus Nummer 167 gewohnt hat. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus zerstört, und Familie Haus Leisner Werner Terpoorten erwarb Grundstück und Haus In Neuss lernten sich Amalia Falkenstein und Wil- von den noch lebenden Geschwistern von Vater helm Leisner, die sich bereits von Goch her kann- Leisner, den Erben Hans Leisner in Wesel und ten, näher kennen. Am 24. April 1914 heirateten sie Paula Väth, geborene Leisner, in Dortmund. Heute standesamtlich in Neuss, und am 25. April 1914 hat das Haus die Nr. 121, nachdem die Klever Stra- wurden sie in Köln am Grab des heiligen Albertus ße 1953 durch die Umgestaltung des Bahnhof- Magnus in der Kirche St. Andreas kirchlich getraut. vorplatzes verändert wurde und eine neue Numerie- Da Vater Leisner in Rees eine Anstellung am rung erfolgte. Gericht bekommen hatte, zog das Ehepaar Leisner Hans-Karl Seeger nach Rees in die Bahnhofstraße 179 5, die heutige Florastraße; in der Zeit des Nationalsozialismus hieß sie Adolf-Hitlerstraße. Eigentümer dieses Hauses war Obergerichtssekretär Halsband, dessen

179 Am 20.10.1856 war die Eisenbahnlinie Köln- Amsterdam in einem Abstand von sechs Kilometern von der Stadt Rees entfernt mit einem Haltepunkt in Empel in Betrieb genommen worden. Diese Strecke wurde anfangs mit einem Postwagen überbrückt. Ab 1897 verbesserten sich die Verhältnisse durch die An- lage einer schmalspurigen Dampfbahn. Diese führte an Karl Leisners Geburtshaus vorbei. Siehe: Altfrid Brey, Rees am Rhein 1900-2000, Viersen 1999, S. 106 und 48.

85 VERÖFFENTLICHUNGEN ÜBER KARL LEISNER

In Südafrika erschien eine Schrift über Karl Leisner Karl Leisner – ein Seliger heutiger Zeit. in einer Eingeborenensprache: Anwendungsmöglichkeiten seiner Lebens- und U-KARL LEISNER OSIKELELWEYO Glaubenserfahrung in der Seelsorge vor Ort Ngenxa kaKristu nangenxa yolutsha Mit diesem Thema hat Kaplan Josef Huber aus Bad IBALI LOBOMI BOM-SCHOENSTATT Reichenhall eine Arbeit im Zuge der sogenannten Fr. Joseph Maria Klein Zweiten Dienstprüfung geschrieben. Kuguqulelwe esiXhoseni ngu G. M. Kolisi Pallotti Press Queenstown, Stutterheim 1998 *************** Es handelt sich um die Übersetzung der Schrift von Pater Joseph Klein: Hans-Karl Seeger, Gabriele Latzel (Hg) GELEBTES SCHÖNSTATT Karl Leisner Franz Reinisch, Karl Leisner Priesterweihe und Primiz im KZ Dachau Sonderheft des Werkbriefes für die männliche Zum 60. Jahrestag der Priesterweihe und Primiz Schönstattjugend, als Manuskript gedruckt und dem Karl Leisners erscheint im August 2004 im LIT engeren Schönstatt-Familienkreis dargeboten vom Verlag in Münster ein Buch über dieses kirchenge- Sekretariat der Jungmännerbewegung in Schönstatt schichtlich einmalige Ereignis. Im Buchhandel wird bei Vallendar am Rhein, Neuwied 1955. Texte von es unter der ISBN 3-8258-7277-7 zum Preis von Pater Josef Klein SAC. 180 14,90 € erhältlich sein.

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René Lejeune Le prisonnier du Bloc 26 Bienheureux Carl Leisner du nazisme Pierre TEQUI éditeur [Der Gefangene von Block 26 Seliger Karl Leisner Martyrer des Nazismus]

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180 Siehe Rundbrief des IKLK Nr. 48, S. 100.

86 NACHRICHTEN AUS ALLER WELT

Deutschland

Mitgliederversammlung 2003

Vor der Mitgliederversammlung am Gaudetesonn- brink und der Propst von St. Viktor in Xanten Al- tag (14. Dezember) 2003 feierten die Mitglieder mit fred Manthey. Hans-Karl Seeger, der auch die Predigt hielt, im Die nationalen Sprecher: Xantener Dom die Eucharistie. Bei diesem Gottes- Frankreich: Ehepaar Rimlinger – Großbritannien: dienst und in der anschließenden Mitgliederver- Margarete-Anne Armstrong – Niederlande: Louise sammlung gedachten alle der Toten des letzten C.D. Brugmans – Polen: Alina Skurska – Spanien: Jahres. In der Krypta brennt seit diesem Sonntag Paula Achermann. wieder eine mit dem Santiagokreuz verzierte Kerze Die langjährige Geschäftsführerin Elisabeth am Grab Karl Leisners mit dem Anliegen für ein Haas hat die Aufgabe einer stellvertretenden Se- christliches Europa. kretärin übernommen. In diesem Jahr war ein wesentlicher Tagesord- Als Beisitzer ernannte das Präsidium folgende nungspunkt der Mitgliederversammlung die Wahl Personen mit besonderen Aufgaben: Kordi Altgas- des Präsidiums. Es waren 39 Personen anwesend. sen (Protokollführerin), Benedikt Elshoff (Jugend- Die Mitglieder wählten: arbeit), Wilhelm Elshoff (Archiv), Monika Kaiser- Präsident: Hans-Karl Seeger Haas (Familie Leisner), Gabriele Latzel (Auslands- Vizepräsident: Dr. Georg Kaster kontakte), Klaus Riße (besondere Aufgaben), Wer- Schatzmeister: Ferdinand Peusen ner Stalder (Pressesprecher). Sekretärin: Monika Peusen Protokollführer Diakon Berthold Steeger schei- Geborene Präsidiumsmitglieder sind der Propst von det auf eigenen Wunsch aus dem erweiterten Präsi- St. Mariä Himmelfahrt in Kleve Theodor Michel- dium aus. Wir danken ihm sehr für seinen langjäh- rigen Einsatz.

87 Register der Rundbriefe

Schon seit langer Zeit besteht der Wunsch nach öffentlichung des Registers bitte ich um schriftliche einem Register zu den bisher erschienenen Rund- Rückmeldung an meine Adresse; erst dann läßt sich briefen des IKLK. Unser Mitglied Frau Christa die Höhe des Kostenbeitrages kalkulieren. Bockholt hat dieses dankenswerterweise in auf- Meine Adresse: Hans-Karl Seeger, Postfach 1304, wendiger Arbeit erstellt. Interessenten an einer Ver- 48723 Billerbeck

Aus den Berichten der Kontaktpersonen in Europa

Frankreich

Liebe Freunde des IKLK! Die kontemplativen Schwestern von St. Jean de Im Februar 2003 erschien ein Bischof Gabriel Cenves erstellen mit Blick auf die Weltjugendtage Piguet gewidmeter Rundbrief in französischer Spra- 2005 in Köln einen Kalender. Der Monat August ist che unter anderem mit Übersetzungen von Teilen Karl Leisner gewidmet. des Piguet-Rundbriefes. Am 19. Oktober 2003 ist Pater Joseph Haller, Dank der von Bischof Simon initiierten Pilger- Mithäftling und Zeitgenosse von Karl Leisner ge- fahrt nach Kevelaer und Xanten wurden gute Kon- storben. Er hat die Priesterweihe von einem Ne- takte zur Diözese Clermont geknüpft, insbesondere benraum aus verfolgt. 181 Frieden und Versöhnung mit dem Co-Autor des Buches „Monseigneur Pi- unter „den Feinden von gestern“ lagen Pater Haller guet, ein umstrittener Bischof“ Père Martin Ran- nach seiner Befreiung aus dem KZ besonders am danne und der Diözesanbibliothek in Chamalières Herzen. Er wurde mit dem Kreuz der Ehrenlegion (Clermont). ausgezeichnet. Er erfüllte zahlreiche pastorale Auf- In der Abbaye Ste Madelaine du Barroux/Pro- gaben und lebte nach seiner Emeritierung im Klo- vence und der Neugründung Ste Marie de la Garde ster Bischenberg (Elsaß). Dort leistete er noch lange sorgt Pater Martin mit großem Engagement für die Dienst in der Pilgerkapelle. Er war ein begeisterter „Präsenz“ Karl Leisners. Er bezeichnet ihn als „ei- nen großen Bruder, dem man nacheifern muß“. 181 Siehe Rundbrief des IKLK Nr. 43, S. 91ff.

88 Anhänger des IKLK, vielleicht sogar das erste fran- scher Sprache mit der Fortsetzung des Themas zösische Mitglied. Eine besondere Freude bereitete „Monseigneur Piguet“. Außerdem wurde Kontakt ihm stets die Lektüre der Rundbriefe, deren Sprache mit Mgr Pierre Raffin, dem Bischof von Metz auf- er perfekt beherrschte. genommen. Er ermutigte dazu, die Novene neu Zur Zeit arbeitet ein Übersetzerteam an der Her- herauszugeben. ausgabe eines weiteren Rundbriefes in französi- Ehepaar Rimlinger

Großbritannien

Liebe Freunde des seligen Karl Leisner! immer wieder Karls Fürbitte um eine friedliche Obwohl mich Gesundheitsprobleme hindern, an der Kooperation unter den Ländern, vor allem in Eu- Mitgliederversammlung teilzunehmen, bin ich mit ropa. Wir beten heute besonders für Sie in der Ihnen im Gebet vereint. Vor allem um Frieden Hoffnung auf eine fruchtbare Versammlung. zwischen den Ländern, der Karl Leisner so sehr am Margaret Anne Armstrong Herzen lag. Wir hier in Großbritannien erbitten

Niederlande

Auf Grund gesundheitlicher Probleme von Frau Louise C.D. Brugmans liegt in diesem Jahr leider kein Bericht vor.

Polen

Liebe Freunde des IKLK! 26 und in der Todesangst-Christi-Kapelle. Weiter- Alle Mitglieder und Freunde (gibt es immer mehr) hin gibt es durch die Novene um die Fürsprache des des IKLK in Polen senden allen in der Jahreshaupt- seligen Karl Leisner große Hilfe beim Leiden. versammlung herzliche Grüße. Die sehr interessanten Rundbriefe des IKLK Wir bleiben im Gebet zu Karl Leisner verbun- sind in Teilen übersetzt worden. Wir bleiben stets den – besonders während des Rosenkranzes um die im Gebet verbunden um die Heiligsprechung Karl Barmherzigkeit Gottes; wir beten auch zu allen Leisners. Märtyrern aus dem KZ Dachau. Beim letzten Be- Alina Skurska such in Dachau entzündeten wir Lichter am Block

Spanien

Siehe Bericht Seite 54ff.

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Einladungen

Gaudetesonntag – Mitgliederversammlung Sonntag, 12. Dezember 2004 10.00 Uhr Hochamt im St. Viktordom in Xanten mit Gang zur Krypta und Gebet an den Gräbern der Martyrer. Zelebrant und Prediger ist der emeritierte Erzbischof von Hamburg, Dr. Ludwig Averkamp, der frühere Regio- nalbischof für den Niederrhein und Weihbischof von Münster. Anschließend ist Zusammenkunft für alle Interessenten im Haus Michael. Einige Ehefrauen der Schützenbrüder bewirten uns dankenswerterweise wieder mit Kaffee und Plätzchen. Daran schließt sich die Mitgliederversammlung des IKLK an. Es ist folgende Tagesordnung vorgesehen: ■ Protokoll der Mitgliederversammlung 2003 ■ Jahres- und Rechenschaftsbericht des Präsidiums, des Schatzmeisters und der Kassenprüfer ■ Entlastung des Präsidiums ■ Wahl der Kassenprüfer ■ Verschiedenes Es wird zu dieser Mitgliederversammlung keine weitere Einladung mehr verschickt.

4. Adventssonntag – Gedenkgottesdienst in Dachau Sonntag, 19. Dezember 2004 Auf Initiative des dritten Nachfolgers von Mgr Gabriel Piguet, dem derzeitigen Erzbischof von Clermont, Mgr Hippolyte Simon, findet anläßlich des 60. Jahrestages der Priesterweihe Karl Leisners durch Bischof Gabriel Piguet am 4. Adventssonntag, dem 19. Dezember 2004, um 10.00 Uhr ein Gedenkgottesdienst im ehemali- gen KZ Dachau statt. Es konzelebrieren Kardinal Wetter (München und Freising) und Bischof Lettmann (Mün- ster), deren Vorgänger die Zustimmung zur Weihe gegeben haben, sowie Erzbischof Simon (Clermont). Dazu laden wir besonders herzlich ein. Siehe nächste Seite.

Donnerstag, 30. Dezember 2004 Auch in diesem Jahr laden wir wieder zur traditionellen Pilgerwanderung zum Jahresabschluß am Donnerstag, dem 30. Dezember 2004, auf dem Jakobus-Karl-Leisner-Weg von Ahlen nach Ennigerloh ein. Neue Mitpilger sind herzlich willkommen. Senden Sie bitte einen frankierten Rückumschlag mit dem Vermerk „Pilgerweg 2004“ an Gabriele Latzel, Am Brockhoff 2, 48167 Münster. Die Einladung mit ausführlichem Programm erfolgt dann im Advent.

90 Pilgerreise aus Anlaß des 60. Jahrestages der Priesterweihe von Karl Leisner im KZ Dachau Freitag, 17. bis Montag, 20. Dezember 2004

Rahmenprogramm Münchner Altstadt auf dem Programm. Anschlie- Freitag, 17. Dezember 2004 ßend Freizeit mit Gelegenheit zum Besuch des 1. Tag: Anreise über Würzburg und Nürnberg nach berühmten Münchner „Christkindlmarktes“. München Abendessen und Übernachtung. Frühmorgens Abfahrt von verschiedenen Aus- Montag, 20. Dezember 2004 gangspunkten (werden nach Eingang der Anmel- 4. Tag: München - Münster dungen festgelegt) nach München. Eröffnungs- Nach dem Frühstück Beginn der Heimreise nach eucharistiefeier in Würzburg. Abendessen und Münster. Übernachtung. Reisepreis: 314,00 € Samstag, 18. Dezember 2004 Einzelzimmerzuschlag: 80,00 € 2. Tag: München Einzelzimmer sind nur begrenzt verfügbar! Am Vormittag Fahrt nach Dachau. Besuch des Im Reisepreis enthalten: ehemaligen Konzentrationslagers. Weiterfahrt nach Fahrt im komfortablen Fern-Reisebus mit Klima- Planegg. Besuch des Sterbezimmers im Waldsana- anlage, Bordküche, WC etc. torium, wo Karl Leisner am 12. August 1945 ver- eine Übernachtung in Würzburg und zwei Über- storben ist. Rückkehr nach München. Am Nach- nachtungen in München im zentral gelegenen mittag Stadtrundfahrt mit Besuch der wichtigsten Hotel der gehobenen Mittelklasse im Doppel- Sehenswürdigkeiten. Abendessen und Übernach- zimmer mit Bad oder Dusche/WC. tung. Halbpension, beginnend mit dem Abendessen am Sonntag, 19. Dezember 2004 ersten Tag und endend mit dem Frühstück am 3. Tag: Dachau letzten Tag der Reise 60. Jahrestag der Priesterweihe von Karl Leis- Rundgang durch das ehemalige Konzentrationsla- ner ger Dachau Nach dem Frühstück Fahrt nach Dachau. Teil- Stadtrundfahrt in München nahme am Festgottesdienst in der Heilig-Kreuz- Sicherungsschein über den Reisepreis Kirche in Dachau-Ost. Zelebranten der Eucharistie- geistliche Begleitung feier sind: Bischof Dr. Reinhard Lettmann, Fried- technische Reiseleitung rich Kardinal Wetter, Erzbischof von München und Reiseveranstalter: Freising und Erzbischof Simon von Clermont-Fer- Emmaus-Reisen-Diözesanpilgerstelle Münster rand/Frankreich. Rückkehr nach München. Am GmbH. Nachmittag steht ein geführter Rundgang durch die

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