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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaften in Nordrhein-Westfalen 6.1

6 Kulturlandschaften in Nordrhein- der Genese abgeleitet und fließt als ein Parameter in die Westfalen Markierungen ein.

Bei der Einteilung der gewachsenen Kulturlandschaften sind die Umgestaltungen und damit verbundenen Verän- 6.1 Markierungskriterien und Betrachtungsebenen derungen des Landschaftsbildes in den historischen Kon- der 32 Kulturlandschaften Nordrhein-Westfalens text eingeordnet worden. Diese Umgestaltungen wurden insbesondere durch die Veränderungen innerhalb der vor- Das Raumordnungsgesetz nennt gewachsene Kultur- handenen jeweiligen dominanten Funktion wie z.B. Forst- landschaften in der Pluralform. Damit wird deutlich, dass wirtschaft oder durch einen Funktionswandel etwa von der es sich je nach Planungsebene um differenzierbare räum- Landwirtschaft zur Industrie verursacht. Hierbei sind z.B. liche Einheiten handelt. Kulturlandschaften müssen flä- folgende Phänomene zu unterscheiden: chendeckend für die Raumordnung und Planung ausge- gliedert und in Teilbereichen besonders markiert werden G Dominanz einer historischen Epoche (vgl. Kap. 7). Hierbei ist die Beachtung der unterschiedli- (z.B. junge Kultivierungslandschaften, Bruchkultivierungen), chen Planungs- und Maßstabsebenen ebenso unabding- G Dominanz von persistenten Landnutzungsformen bar wie das Bewusstsein um die Notwendigkeit einer ver- (z.B. in den Börden), einfachenden Reduktion des dreidimensionalen und multi- temporalen Landschaftsraumes. G Vorhandensein von Flächen und Strukturen mit sehr unterschiedlichen Zeitstellungen, Die gesamte gewachsene Kulturlandschaft Nordrhein- G stark zeitgenössisch geprägte, überformte und dynami- Westfalens wurde im vorliegenden Fachbeitrag in 32 Kul- sche Räume mit einzelnen historischen Elementen so- turlandschaften gegliedert (s. Karte 9.A im Kap. 9). Dies sind wie lediglich Resten von überlieferten Strukturen und planungsrelevante Raumeinheiten, die durch zusammen- Flächen, gehörige Merkmale aufgrund ihrer kulturlandschaftsge- schichtlichen Entwicklung markiert sind. Diese Gliederung G ausgeräumte und umgeprägte Landschaften steht neben vorhandenen Gliederungen z.B. aus natur- (als Folge von Flurbereinigungen, Ressourcengewinnung schutzfachlicher Sicht. und Rekultivierungen).

Notwendig ist je nach Betrachtungsmaßstab die Hervor- Für die kulturlandschaftliche Gesamtgliederung Nord- hebung der jeweiligen Aussageebenen, die entscheidend rhein-Westfalens sind nachstehend erläuterte Parameter in- 131 sind für die zugrunde gelegten Kriterien zur Markierung nerhalb eines morphogenetischen Ansatzes angewandt von gewachsenen Kulturlandschaften. Daraus ergibt sich – worden. Die Morphogenese beinhaltet die äußere Form in um überhaupt eine aussagefähige Datengrundlage zu er- ihrer ablesbaren zeitlichen Entstehungsgeschichte. Pla- halten – eine Generalisierung der Abgrenzungs- und Mar- nungsrelevant ist das Überlieferte als Kulturelles Erbe und kierungskriterien. Dies muss mit dem Wissen der komple- nicht das Rekonstruierte der Kulturlandschaftsgeschichte. xen Verbindungen und Verknüpfungen innerhalb eines prozessualen Geschehens und einer weit zurückreichen- den Zeitachse erfolgen. Naturräumliche Grobgliederung

Auf der anderen Seite erfolgt die Abgrenzung der Kultur- Die Naturräume in Nordrhein-Westfalen variieren auf landschaften nach heutigen Kriterien der Kulturland- Landesebene und haben unterschiedliche Voraussetzun- schafts- und Denkmalpflege. Für die ur- und frühgeschicht- gen für die Herausbildung von charakteristischen, ge- lichen, aber auch für die meisten historischen Perioden vor wachsenen Kulturlandschaften geschaffen. Die naturräum- dem 18./19. Jh. wären jeweils für die unterschiedlichen lichen Gegebenheiten sind verantwortlich für die Heraus- Phasen andere Unterteilungen wissenschaftlich sinnvoll. bildung von Gunst- und Ungunsträumen, für die Verkehrs- Da die Inventarisation archäologischer Bodendenkmäler in erschließung und die Nutzungsarten. Die sich in der Glie- Nordrhein-Westfalen aus fachlicher Sicht nie abgeschlos- derung abbildenden Faktoren Relief, Böden, Hydrologie, sen sein wird, lässt sich für die älteren Zeiten besser von Klima und Vegetation sind für die jeweilige regionale Aus- Fundlandschaften sprechen. prägung maßgeblich. Darunter wird kein ausschließlicher Geodeterminismus verstanden, sondern die herausragen- Zu den gewachsenen Kulturlandschaften gehören kon- de Bedeutung der naturräumlichen Ausstattungsmerkmale stituierend die schriftlosen Geschichtsphasen hinzu, deren für die kulturlandschaftliche Entwicklung. Hinterlassenschaften im Boden als Kulturgut überliefert sind. Die Kenntnisse der archäologischen Landesfor- schung beziehen sich auf differenzierbare Fundregionen, Landschaftsbild z.B. die jungsteinzeitliche Kolonisation in den Börden, die Eisenzeit im Siegerland oder die römerzeitliche Kulturland- Nordrhein-Westfalen hat vielfältige Landschaftsbilder z.B. schaft westlich des Rheins mit Auswirkungen auch entlang von weitläufigen Lössbörden bis zu kleingekammerten Mit- der Lippe. Dieser Markierungsfaktor ist durch Kenntnisse telgebirgen, von ausschließlich ländlichen Regionen bis zu

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.1 Kulturlandschaften in Nordrhein-Westfalen

hochverdichteten urbanen Besiedlungslandschaften. Dies Grenzziehungen im 17. und 18. Jahrhundert. Territorial- schlägt sich als zweiter Parameter nach dem Naturraum grenzen waren besonders wirkungsmächtig, wenn sie sich unmittelbar optisch nieder und lässt sich markieren. Diese mit Grenzen unterschiedlicher Konfessionen paarten. Die Markierungen sind als Übergänge zu verstehen und nicht unterschiedlichen Glaubensvorstellungen sind an spezifi- als scharfe Grenzen, denn Landschaftsbilder sind oft weit schen Kulturlandschaftselementen sichtbar, wie etwa den raumwirksam. Entscheidend ist die jeweilige Landschafts- Wegekreuzen, Bildstöcken und Kreuzwegen in katholi- bilddominanz innerhalb der markierten Kulturlandschaft. schen oder spezifischen Formen der Bestattungskultur in reformierten Territorien.

Siedlungstypen und regionale Baukultur

Dieses Markierungskriterium ergibt sich aus der jeweili- gen regionalen Baukultur und den besonders häufigen re- gionalen Siedlungstypen. Während bis vor dem Zweiten Weltkrieg sowohl einzelne Siedlungstypen wie z.B. Hau- fen-, Straßen-, Hufen-, Angerdörfer, Weiler und Einzelhöfe als auch die Hauslandschaften deutliche regionale Verbrei- tungsmuster aufwiesen, ist dies durch die massiven Sied- lungserweiterungen ab ca. 1955 physiognomisch undeutli- cher. Auch die Baukultur ist erheblichen Nivellierungsten- denzen unterworfen. Trotzdem ist die Prägung durch be- stimmte Baumaterialien im Zusammenhang mit den örtlich anstehenden Gesteinen und den klimatischen Faktoren noch erkennbar oder auch die Bewahrung historischer Ortskerne innerhalb der Vorortbildung, die die Typisierung nicht grundsätzlich verändert. Die gewerblich-industrielle Entwicklung in Nordrhein-Westfalen hat auch spezifische Siedlungstypen wie Werkssiedlungen hervorgebracht, die in bestimmten Regionen häufiger auftreten und dort als Kriterium für eine Markierung dienen können. 132

Landnutzungsstrukturen

Dieses Markierungskriterium ist eng mit dem Land- schaftsbild verbunden. Die Landnutzungsstrukturen erge- ben sich aus dem funktionalen Verhältnis von Wald zu Of- fenland, das sich weiter differenziert in Grün- und Acker- land. Unterschiedliches Erbrecht führte zu unterschiedli- chen Parzellenmustern. Die aus dem Erbrecht und Marken- teilungen resultierende Landnutzung mit entsprechender Parzellierung und deren Markierungen durch Zäune oder Hecken ist dann in Flurbereinigungsverfahren verändert worden. Dadurch ist allmählich das heutige agrarische Landnutzungsgefüge in Nordrhein-Westfalen entstanden. Die Forsten und Wälder erhalten durch Großgrundbesitz bedingte Nutzungssysteme und ehemals bäuerliche Wald- nutzungen, wie z.B. Nieder- oder Hudewald, verschiedene Aussehen. Ablesbare historische Nutzungen sind ein wich- tiges Kriterium für die Markierung von Kulturlandschaften.

Territoriale und konfessionelle Grenzen

Auch die Territorialgeschichte mit ihrer kleinteiligen Zer- splitterung Nordrhein-Westfalens zwischen dem 13. Jh. und 1815 ist in landesspezifischen Differenzierungen ab- lesbar. Unterschiedliche Baubestimmungen der verschie- denen Obrigkeiten haben ebenso zur Regionalisierung der Baukultur beigetragen wie die Bemühungen um feste

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 1 // Tecklenburger Land 6.2

6.2 Kulturlandschaften geringen Reliefenergie sind die Niederungsbereiche und ihre charakteristischen Teile häufig großflächig vermoort, stellenweise kam es zur Hochmoorbildung (z.B. Recker Moor). Die nährstoffarmen Sandböden besitzen nur eine geringe bis sehr geringe Kulturlandschaft 1 // Tecklenburger Land Bodengüte. Anthropogen sind die Plaggeneschböden und die durch Tiefpflügen kultivierten Moorböden (z.B. im Mettinger Moor). Lage und Abgrenzung Der südöstliche Teil der Kulturlandschaft „Tecklenburger Die Kulturlandschaft „Tecklenburger Land“ umfasst den Land“, bestehend aus Teutoburger Wald (Dörenther Os- nördlichen Teil des Kreises Steinfurt. ning), Schafbergplatte und Osnabrücker Hügelland, ist der nordwestlichste Ausläufer der deutschen Mittelgebirge. In Die deutlich nach Norden auf Niedersachsen orientierte der herausgehobenen ca. 70 km² großen Ibbenbürener Kulturlandschaft „Tecklenburger Land“ ist zwar in sich Karbonscholle (Schafbergplatte mit Dickenberg) stehen die durchaus uneinheitlich, gegenüber den südlich benach- Steinkohlenflöze oberflächennah an. Mit Eisenerz, Sand- barten Landesteilen Westfalens allerdings kulturgeschicht- stein und Ton kommen im Bereich der Schafbergplatte lich ebenso deutlich abgegrenzt wie naturräumlich durch weitere Bodenschätze vor. Überwiegend ertragsreiche den steilen Kamm des Teutoburger Waldes (Osning). Braunerden bedecken die Schafbergplatte; an den nördli- chen und südlichen Hangfüßen kommen z.T. großflächige Plaggeneschböden vor. bei Ibbenbüren Foto: LWL/U. Woltering  Zwischen Schafbergplatte und dem Teutoburger Wald (Dörenther Osning) liegt die Ibbenbürener Senke, in der die Ibbenbürener Aa verläuft. Der Teutoburger Wald, ein steil aufragendes und kompliziert aus drei parallel verlaufenden Kämmen aufgebautes Schichtkammgebirge mit überwie- gend ertragsarmen Sand- und Kalkböden, erreicht hier Höhen von über 200 m ü. NN.

Geschichtliche Entwicklung 133

Im Münsterländer Teil des flachen Gebirgsrückens des Osning finden sich zahlreiche alt- und mittelsteinzeitliche Fundplätze. Sandsteinklippen bilden z.T. Felsdächer, die zu allen Zeiten der Urgeschichte als Rastplätze besucht worden sind. Hier, z.B. an den Herkensteinen und auf der Margarethenegge bei Tecklenburg, ist mit gut erhaltenen Fundschichten vor allem aus den ältesten geschichtlichen Epochen zu rechnen. Zudem sind die Felsüberhänge (sog. Abris) auch Sedimentfallen, an denen mit umfangrei- chen Abfolgen von Kulturschichtpaketen zu rechnen ist. Aus dem nördlichen Vorland des Teutoburger Waldes, das naturräumlich schon zur Norddeutschen Tiefebene zu rechnen ist, stammt eine Konzentration ähnlich alter Fund- plätze aus der Nähe von Westerkappeln. In der Düsterdie- ker Niederung trennt ein lang gestreckter Dünenzug zwei Naturräumliche Voraussetzungen ausgedehnte Moorgebiete. Auf dieser flachen und trocke- nen Anhöhe sind zahlreiche steinzeitliche Fundstellen be- In dieser Kulturlandschaft stoßen mit dem nordwestdeut- kannt, darunter eine Reihe von gut erhaltenen spätpaläoli- schen Tiefland und dem nordwestdeutschen Mittelgebirge thischen Rastplätzen der Federmessergruppen (11.800 bis zwei naturräumliche Großlandschaften aneinander. Die 10.750 v. Chr.). Schließlich bieten die direkt an die Fund- morphologisch markante Grenze, die von Südwesten nach stellen angrenzenden Niedermoorablagerungen ein wich- Nordosten verläuft, teilt diese Kulturlandschaft in zwei Be- tiges archäobotanisches Archiv zur Landschaftsgeschich- reiche mit völlig unterschiedlichen Naturräumen. te im nördlichen Münsterland.

Der flache nordwestliche Teil mit Höhenlagen von 35 Heute noch im Gelände erfahrbare Zeugnisse der ältes- bis 50 m ü. NN wird durch Sandablagerungen der letz- ten jungsteinzeitlichen Bauern in der Region stellen einige ten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit) geprägt. Aufgrund des ho- wenige Großsteingräber dar, so z.B. die Großen und Klei- hen Grundwasserstandes, des humiden Klimas und der nen Sloopstene bei Lotte-Wersen.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 1 // Tecklenburger Land

Große Grabhügel in Kammlage und Burganlagen bzw. Stadt Tecklenburg zentralörtliche Bedeutung. Tecklenburg Höhensiedlungen an Passsituationen weisen auf die Bil- entwickelte sich als Höhensiedlung unter räumlich begrenz- dung erster gesellschaftlicher Hierarchien, Handels- und ten Ausdehnungsmöglichkeiten, jedoch begünstigt an einen Verkehrsstrukturen seit der Bronzezeit hin. Von einer flä- Pass für den Nord-Süd-Verkehr über den Teutoburger Wald. chendeckenden Aufsiedlung der Region zeugen zahlrei- che jungbronze- bis eisenzeitliche Urnengräberfelder. Im Zuge der Territorialisierung Nordwestdeutschlands konnten sich in der Kulturlandschaft zwischen den großen Die für diese Region besonders charakteristischen Stein- Fürstbistümern Münster im Süden und Osnabrück im Nor- grabhügel hingegen erinnern an den heidnischen Wider- den in überaus komplexen Verwicklungen die Grafschaft stand gegen die fränkischen Christianisierungsbemühun- Tecklenburg, von der 1548 die Grafschaft Lingen abge- gen am Ende des Frühmittelalters. trennt wurde, mit Burg und Stadt Tecklenburg sowie Stift Steinbrüche und sonstige Aufschlüsse bieten zusätzlich Ein- Leeden als landesherrlichen Zentren eigenständig behaup- blicke in den stratigraphischen Aufbau und den Fossilbe- ten. Die regierenden Grafen von Bentheim-Tecklenburg- stand der geologischen Schichten des Teutoburger Waldes. Rheda führten 1588 das reformierte Bekenntnis ein. 1702 erwarb das Königreich Preußen die Grafschaft Lingen und Die um 1150 erstmals erwähnte Tecklenburg war Haupt- 1707 bzw. 1729 auch die Grafschaft Tecklenburg. Nach sitz des gleichnamigen Grafengeschlechts, das bis 1173 1815 wurde der Kreis Tecklenburg im Regierungsbezirk die Vogtei über das Bistum Münster innehatte. Ihr Territori- Münster der preußischen Provinz Westfalen geschaffen. um erwarben die Grafen in ständigen Auseinandersetzun- gen mit den Bischöfen von Münster und Osnabrück. Vor Von wirtschaftlicher Bedeutung war neben der Landwirt- der Burg entwickelt sich bis 1365 eine stadtähnliche Sied- schaft das Textilgewerbe als Heimgewerbe. Der Vertrieb lung, die als Pilotprojekt der „Archäologischen Bestands- wurde von den Tödden – reisenden Kaufleuten insbeson- erhebung in Nordrhein-Westfalen“ bearbeitet worden ist dere im Bezug auf die Niederlande, aber auch bis ins Balti- und beste Ergebnisse bei zukünftigen archäologischen kum – übernommen, von denen einige ihre Geschäfte zu Untersuchungen verspricht. international operierenden Textilwarenhäusern weiterentwi- ckeln konnten. Die Kulturlandschaft „Tecklenburger Land“ ist ein Streu- siedlungsgebiet, in dem Kirchdörfer mit der charakteristi- Ein weiteres Spezifikum dieser Kulturlandschaft ist der Ab- schen Kirchringbebauung (z.B. Westerkappeln) sowie einige bau der Bodenschätze in den hügeligen Teilen. Der schon für Dorfsiedlungen (Brochterbeck, Hopsten, Leeden, Ledde, Lotte, das Mittelalter bezeugte Abbau der Kalkvorkommen des Teu- 134 Mettingen, Recke, Riesenbeck, Schale) die Unterzentren bil- toburger Waldes mündete in die noch heute bedeutenden den. Eingestreut liegen die Klöster und Stifte (das Zisterzien- Zement- und Kalkindustrien in Lengerich und Tecklenburg- serinnenkloster in Leeden seit 1240, das Damenstift in Tecklen- Brochterbeck. Einen Aufschwung erbrachte die Verbesserung burg seit 1538; das Kloster Osterberg der „Brüder vom gemein- der Infrastruktur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (zuerst Ei- samen Leben“ bei Lotte seit 1410) und Herrensitze (Häuser senbahnlinie Rheine-Minden, später der die Kulturlandschaft que- Mark bei Tecklenburg und das Haus Cappeln sowie die Rit- rende Mittelland- und der südlich streifende Dortmund-Ems-Ka- tergüter Langenbrück und Velpe (alle Gemeinde Westerkap- nal). In deren Gefolge entwickelte sich auch der Steinkohlen- peln). Neben Ibbenbüren als Marktort hatte besonders die bergbau in Ibbenbüren zum bedeutenden Wirtschaftszweig.

bei Ibbenbüren Foto: LWL/W. D.Gessner-Krone  Kap_6_2_KL_01.qxp 23.10.2007 12:07 Seite 135

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 1 // Tecklenburger Land 6.2

Kulturlandschaftscharakter schaftsweise finden sich nur noch in Naturschutzgebie- ten (z.B. NSG Heiliges Meer). Das Landschaftsbild des nordwestlichen Teils des „Tecklenburger Landes“ wird heute durch die offene, Dem Verlauf der Grenze zwischen Tiefland und Mittel- sehr waldarme und überwiegend ackerbaulich genutzte gebirge folgt in etwa der Mittellandkanal, der als künst- Agrarlandschaft mit Streusiedlung und wenigen Dörfern lich angelegte Wasserstraße das Landschaftsbild tech- geprägt. Die vermoorten, grundwassernahen Niede- nisch überprägt. rungsbereiche (u.a. Recker Moor, Mettinger Moor, Düster- dieker Niederung) sind siedlungsfrei. Die hügeligen Strukturen im Bereich der Schafbergplat- te und der markant aufragende Kamm des Teutoburger Die wenigen und kleinflächigen Feldgehölze und Waldes sind die prägenden Landschaftsbildstrukturen im Waldparzellen sind durch Aufforstung ehemaliger Hei- Mittelgebirgsteil dieser Kulturlandschaft. Der heute fast den oder entwässerter und abgetorfter Moore entstan- vollständig bewaldete Gebirgszug war in diesem Ab- den. Noch um 1800 war diese Landschaft völlig waldfrei. schnitt um 1800 bis auf wenige devastierte Hudewaldreste weitgehend waldfrei und wurde als Heide genutzt. Gegliedert wird das Landschaftsbild heute durch Wall- hecken, Hecken und Baumreihen entlang von Flurstücks- Zahlreiche Feldgehölze und Wälder gliedern das Land- grenzen, Wirtschaftswegen und überwiegend begradig- schaftsbild im Bereich des Schafbergs und des Osnabrü- ten Bachläufen sowie durch die Hofbäume an den einzeln cker Hügellandes. Als landwirtschaftliche Nutzung domi- liegenden Höfen. Durch künstlichen Bodenauftrag (Plag- niert hier Ackerbau. gen) wurden seit dem Mittelalter die anthropogenen Plag- geneschböden geschaffen, die anhand ihrer charakteristi- Die mehrhundertjährige Geschichte des Bergbaus in schen Morphologie sich noch heute z.T. in der Landschaft dieser Region hat vielfältige obertägige Spuren hinterlas- gut abzeichnen. Sie liegen siedlungsnah, großflächig aus- sen, die das Landschaftsbild z.T. industriell mitprägen, gebildet z.B. im Bereich von Recke oder am nördlichen z.B. die Kalk- und Sandsteinbrüche im Verlauf des Teuto- Hangfuß des Schafberges. Neben den traditionell acker- burger Waldes, die ausgedehnten Karbonsandsteinbrü- baulich genutzten Plaggeneschen werden heute verstärkt che am Kälberberg und Dickenberg, der aufgelassene auch die Niederungsbereiche ackerbaulich genutzt. Dies Erzabbau am Rochusknapp sowie die des historischen wurde durch die systematische Regulierung der Vorflut (Bergbaupingen im Forst Buchholz) und die des neuzeitli- und Grundwasserabsenkung in den Niederungen durch chen Steinkohlenabbaus (u.a. Schachtanlagen, Bergehal- Anlage von Entwässerungsgräben ermöglicht. den, Entwässerungsstollen, Schmalspureisenbahntrasse). 135 Hinzu kommen die Einflüsse auf das Siedlungsbild durch Die um 1800 noch großflächig vorhandenen Hochmoo- die Bergmannskolonie Dickenberg-Pommeresch und die re (Recker Moor, Mettinger Moor) wurden seitdem syste- Bergarbeitersiedlung Hollenbergs Hügel. matisch entwässert (Anlage eines Moorkanals) und zur Brennstoffgewinnung abgetorft. Anschließend wurden die Mit Ausnahme der Bauten von Adel und Kirche wurde abgetorften Flächen als Feuchtgrünland oder Acker kulti- das Bauen über Jahrhunderte vom Fachwerkbau be- viert. Große Teile des Mettinger Moores wurden tiefge- stimmt. Im Baubestand dominiert das niederdeutsche pflügt, um die Standortverhältnisse für die ackerbauliche Hallen- bzw. städtische Dielenhaus als Wohn-Wirtschafts- Nutzung zu verbessern. Derzeit sind diese Bereiche weit- gebäude in Zwei-, seit dem ausgehenden 18. Jh. auch in gehend aufgeforstet. Die Reste der abgetorften Hoch- Vierständer-Bauweise mit Kammerfach hinter dem drei- moore sind heute als Naturschutzgebiet geschützt. Dort schiffigen Wirtschaftsteil mit Flett (Herdraum). In der Mo- finden sich z.T. noch Spuren des bäuerlichen Handstich- dernisierung der traditionellen Hausformen (Trennung von betriebs als Zeugnis einer gegenwärtig nicht mehr prakti- Wohnen und Wirtschaften und separate Erschließung des zierten Nutzungsform. Im Bereich des NSG Heiliges Wohnteiles) schritten die wohlhabenden Tödden seit dem Meer, einer Kette von Erdfällen und Heideweihern, ist das frühen 18. Jh. voran. Landschaftsbild der vorindustriellen Moor- und Heide- landschaft erhalten geblieben. In Tecklenburg ist mit der Stadtkirche (1588/1642) – aufgrund der Höhenlage des Ortes das südliche Vorland Die Niedermoore, großflächig z.B. in der Düsterdiecker überstrahlend – der einzige Kirchenneubau des gesam- Niederung verbreitet, wurden nach der Entwässerung als ten Kreises Steinfurt im Renaissance-Stil entstanden. An Feuchtwiesen und -weiden genutzt. älteren Sakralbauten sind die kurz nach 1250 unter Ein- fluss von Marienfeld und Osnabrück errichteten Kirchen Die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts do- von Westerkappeln, Recke und Schale sowie die nieder- minierende Nutzungsform der Heide, genutzt als rheinisch beeinflussten gotischen Kirchen in Lengerich Schafhude und Nährstofflieferant (Plaggen), hat mit der und Ibbenbüren zu nennen. Die Existenz jüdischer Ge- Markenteilung und der später folgenden Innovation meinden belegen mehrere Friedhöfe, darunter beson- des Kunstdüngers ihre Funktionen verloren und ist als ders bemerkenswert der in Westerkappeln. In Mettingen Nutzungsform aus der Landschaft verschwunden. ist der Kirchenneubau um 1900 in neuromanischer Ma- Kleinstflächige Zeugnisse dieser historischen Wirt- nier hervorzuheben.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 1 // Tecklenburger Land

Prägend für die Kulturlandschaft sind neben den Resten G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale des der frühindustriellen Produktionsstätten (Kalköfen, Steinbrü- agrarisch geprägten ländlichen Raumes wie die Streu- che) die industriellen Anlagen des Steinkohlenbergbaus und Dorfsiedlungsstrukturen, die Eschflächen, die Hoch- auf dem Schafberg. moorreste mit ihren Kultivierungszeugnissen und die grundwassergeprägten Niedermoore und Feuchtwiesen.

Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale des und -elemente Bergbaus im Bereich der Schafbergplatte wie Bergbau- pingen, Mundlöcher, Bergehalden, Steinbrüche u.a. G Die „Schafbergplatte“ nördlich Ibbenbürens (KLB 1.01) ist ein besonders anschauliches Beispiel der industriel- G Erschließung und Vermittlung der vielfältigen Zeugnis- len Nutzung des hügeligen Teils der Kulturlandschaft se des Bergbaus durch einen Kulturlandschaftspfad Tecklenburger Land. „Bergbaugeschichte Schafbergplatte“ als Beitrag zur regionalen Identitätsstiftung. G Wichtige archäologische Fundplätze sind die Düster- dieker Niederung mit spätaltsteinzeitlichen Rastplätzen G Wiederherstellung beeinträchtigter Räume, die z.B. ei- sowie die Herkensteinen und Margarethenegge mit nen besonders hohen Verlust an Kulturlandschaftsele- mittelsteinzeitlichen Rastplätzen. menten wie Wallhecken, Feldhecken, Baumreihen, Al- leen, Hofeingrünungen sowie Obstwiesen aufweisen. G In den Naturschutzgebieten Recker Moor und Mettinger Moor finden sich Zeugnisse der Moornutzungs- und G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz Moorkultivierungsgeschichte (Handtorfstiche, Tiefpflügen). der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne.

G Die Stadt Tecklenburg war ehemals Grafensitz mit einer G Berücksichtigung der im Tecklenburger Land vorhan- hochmittelalterlichen Höhenburg (heute Ruine). Sie hat denen baukulturellen Gestaltwerte bei der Weiterent- einen sehr bemerkenswerten, kulturlandschaftlich be- wicklung der Ortskerne und Siedlungsflächen. deutsamen Stadtkern sowie in der südlich angrenzen- den Aue das Haus Mark mit vielen historischen Relik- G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und ten. Zusammen mit dem historischen Übergang über Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- den Teutoburger Wald (alte Fernverbindung und Jakobs- staltwerterhaltender Umnutzung. 136 weg) sind sie gut erhaltene Beispiele für die Bauge- schichte und Querung des Höhenzuges. G Bewahrung der kulturgeschichtlich bedeutenden Feuchtböden und Plaggenesche. G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- sondere als Bodenarchiv, sind Ibbenbüren, Lengerich, Tecklenburg und Westerkappeln.

G Moore und Plaggenesche sind als Bodentypen auf- grund ihrer Archivfunktion von besonderer Bedeutung.

Leitbilder und Ziele

Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung der cha- rakteristischen Kulturlandschaftsbilder des Tecklenburger Landes unter Berücksichtigung der gewachsenen Struktu- ren und der spezifischen naturräumlichen Voraussetzun- gen mit folgenden Zielen:

G Erhalt der obertägig erkennbaren Bodendenkmäler wie Wallburgen, Grabhügel u.a.m.

G Stärkere Einbindung der Bodendenkmalpflege in forst- wirtschaftliche Abläufe. Eine Wiederaufforstung nach Rodung mit Hilfe von Maschinen kann steinzeitliche Fundstellen zerstören.

G Minimierung des Konfliktpotentials für Fossillagerstät- ten und Grabhügel beim Betrieb und der Ausweisung von Steinbrüchen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 2 // Minden-Lübbecker Land 6.2

Kulturlandschaft 2 // Minden-Lübbecker Land die Sandablagerungen z.B. im Raum Petershagen oder am Stemweder Berg. Großflächige Nieder- und Hochmoore sind in der Bastau-Niederung und in abflussschwachen Mul- Lage und Abgrenzung den (z.B. Oppenweher Moor) entstanden. Wegen der gerin- gen Höhenunterschiede besitzen die Fließgewässer nur ei- Die Kulturlandschaft „Minden-Lübbecker Land“ umfasst ne geringe Fließgeschwindigkeit und Vorflut. den größeren nördlichen Teil des Kreises Minden-Lübbe- cke (Städte Espelkamp, Lübbecke, Minden, Petershagen, Por- ta-Westfalica, Preußisch Oldendorf und Rahden sowie die Ge- Geschichtliche Entwicklung meinden Hille und Stemwede). Die südlich des Wesergebir- ges an der gelegenen Teile des Stadtgebietes von Im Westen der Kulturlandschaft „Minden-Lübbecker Porta Westfalica gehören eigentlich zu einer Kulturland- Land“ liegt ein archäologisch wenig erforschter Bereich, schaft der niedersächsischen Region um Hameln und Rin- der siedlungsgeschichtlich vom Moor (angeblich dort ein teln, werden aber dennoch hier mit behandelt. Bohlenweg), von einer breiten Durchgangsverkehrsfläche am Nordfuß des Wiehengebirges und vom schmalen Pass Die nördlichste Kulturlandschaft Westfalen-Lippes ist als von Holzhausen geprägt ist. Von besonderer Bedeutung Teil des norddeutschen Tieflandes gegen die südlichen sind steinzeitliche Fundplätze sowie vor allem die Wallburg Landesteile durch die Kämme von Weser- und Wiehenge- Babilonie aus der vorrömischen Eisenzeit und dem frühen birge naturräumlich und kulturhistorisch deutlich abge- Mittelalter (geplantes Archäologisches Reservat), der mittelal- grenzt. Nach Nordwesten, Norden und Nordosten bestehen terliche Stadtkern von Lübbecke, spätmittelalterlich/früh- zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den angrenzenden nieder- neuzeitliche Ackerrelikte und neuzeitliche Bergbauspuren sächsischen Regionen (Landkreise Osnabrück, Diepholz, (Steinkohle). Rivalisierende Ansprüche der Grafen von Ra- Nienburg, Schaumburg), die die Landesgrenze trotz ihrer ho- vensberg und der Fürstbischöfe von Minden trafen am hen historischen Kontinuität nur wenig gemindert hat. Durchlass des Wiehengebirges aufeinander und haben zur Errichtung der Mindener Landesburg Reineberg mit ihrem Kranz befestigter Burgmannshöfe und der Ravensbergi- Naturräumliche Voraussetzungen schen Landesburg geführt. Ebenfalls territoriale Ansprüche sollte die Stadt Lübbecke sichern, die von Bischof Volkwin Die in West-Ost Richtung verlaufenden steil aufragenden von Minden 1279 Stadtrecht erhielt und in der Folgezeit die Gebirgszüge von Wiehen- und , die aus Ge- Burg Reineberg in ihrer Funktion ablöste. Die im Laufe der steinen des Jura aufgebaut sind, markieren die Grenze zwi- Zeit sich verändernden Grenzzüge sind noch anhand vor- 137 schen dem nordwestdeutschen Mittelgebirge und der nord- handener oder zu rekonstruierender Landwehren ablesbar. deutschen Tiefebene und bilden eine scharfe naturräumli- che Zäsur. Nur der Durchbruch der Weser bei Porta Westfa- Im Osten dieser Kulturlandschaft liegt hingegen die We- lica, eine der markantesten Landmarken in Nordrhein-West- serachse und ihre Kreuzung mit einem Ost-West-Landweg falen, unterbricht die Mittelgebirgsschwelle, die am Heid- in Höhe von Minden und mit einem Fächer von Wegetras- brink (südl. von Lübbecke) 320 m ü. NN erreicht. Die sich sen aus dem Westen und Südwesten im Bereich Werre- nördlich der Mittelgebirgsschwelle erstreckende Kulturland- mündung-Porta Westfalica. Hier handelt es sich um eine schaft „Minden-Lübbecker Land“ erreicht nur Höhen von ausgesprochen reiche archäologische Region mit bedeu- 30 bis 80 m ü. NN. tenden Funden und Befunden aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte, die aber durch den Abbau von Im Osten bestimmt die Stromtallandschaft der Weser, be- Sand und Kies ständig bedroht wird. Südöstlich von Min- stehend aus Aue, Nieder- und Mittelterrassenkörper die na- den findet sich ein Inselvorkommen von Funden des Früh- turräumlichen Verhältnisse. Erst ab Petershagen verbreitert neolithikums (das nördlichste Vorkommen in NRW). Unweit sich die bis dahin sehr schmale Aue, und die Weser bildet davon liegt der mittelalterliche Stadtkern von Minden mit große Mäander aus. Zwischen Minden und Windheim er- frühem Dom und Befestigungsanlagen aus dem Mittelalter, streckt sich rechts der Weser eine mehrere Kilometer breite der Frühneuzeit und der preußischen Zeit (KLB 2.04). Sonst Niederterrasse mit zahlreichen alten Flussschlingen. bemerkenswert ist die Region als Ausreißer der Ems-Grup- pe der Jungbronzezeit und wegen ihrer reichen Bestände Die Grundmoränenablagerungen der vorletzten Kaltzeit der Nienburger Gruppe sowie Fernhandelbeziehungen in (Saale-Kaltzeit), z.T. von Löss- und Schmelzwassersandabla- der vorrömischen Eisenzeit. Dort finden sich Wallburgen gerungen der darauffolgenden Weichsel-Kaltzeit überdeckt, aus der Eisenzeit (Nammer Burg, Wittekindsburg, Dehmer prägen die Standortverhältnisse im übrigen Teil dieser Kul- Burg), des frühen und hohen Mittelalters (Wittekindsburg, turlandschaft. An den nördlichen Unterhangbereichen von Schalksburg, Seeburg, Ützenburg) sowie untertägige Spuren Wiehen- und Wesergebirge haben sich aus den mächtigen des mittelalterlichen Klosters Lahde und das sog. Arbeitser- Lössablagerungen besonders fruchtbare Lösslehmböden ziehungslager Lahde aus der NS-Zeit. gebildet. Die Bodengüte nimmt mit der nach Norden und Nordwesten zunehmenden Überdeckung der Grundmoräne Das Bergland beiderseits der Porta weist untertägige mit Schmelzwassersanden immer mehr ab. Nur an wenigen Steinbrüche und Spuren des historischen Bergbaues nach Stellen durchbrechen Kreideinseln die Grundmoräne und Eisenerz und Steinkohle auf. Die untertägigen Räume wur-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 2 // Minden-Lübbecker Land

den im Zweiten Weltkrieg zur sicheren Unterbringung und Tarnung der Rüstungsindustrie ausgebaut. Dies erfolgte durch den Einsatz zahlreicher Zwangsarbeiter. Archäologi- sche Spuren des Konzentrationslagers Hausberge für un- garische und holländische Jüdinnen (Außenlager Neuen- gamme) sind noch heute zu finden.

In der späteren Zeit deckt sich Kulturlandschaft „Minden- Lübbecker Land“ weitgehend mit den zwischen 1815 bzw. 1832 und 1973 bestehenden Altkreisen Minden und Lüb- becke, die zusammen ungefähr die Fläche des ehemali- gen Fürstbistums Minden einnahmen, das 1648 an Bran- denburg-Preußen gefallen war; größere Teile des Stadtge-  bietes von Preußisch Oldendorf dagegen gehörten einst- Die Weser bei Schlüsselburg mals zu der ebenfalls seit 1648 preußischen Grafschaft Ra- Foto: LWL/D. Djahanschah vensberg. Es dominiert seit der Reformation bis heute die evangelisch-lutherische Konfession.

Trotz der historisch gemeinsamen Entwicklung sind in Noch dichter ist die Kette alter dörflicher Siedlungskerne dieser Kulturlandschaft drei Teilräume unterscheidbar, die unter Einschluss von Lübbecke als vierter, 1279 mit Rech- deutlich auch die menschliche Kulturtätigkeit prägten. ten ausgestatteter Stadt in dem ost-westlich orientierten, relativ schmalen Streifen fruchtbaren Landes (Lössboden) Im Osten durchzieht in Nord-Süd-Richtung die Weser am nördlichen Auslauf des Wiehengebirges von Hahlen mit ihrer fruchtbaren Auenlandschaft die Kulturlandschaft (Minden) im Osten bis Oldendorf im Westen. Die Sied- „Minden-Lübbecker Land“. Sie durchschneidet kurz hin- lungsstruktur ist dadurch bestimmt, dass alle diese Dörfer ter dem großen Weserbogen den Gebirgszug von We- über in Süd-Nord-Richtung sehr lang gestreckte Gemar- ser- und Wiehengebirge an der Porta Westfalica. Sie wird kungen von den Höhen des Gebirgszuges im Süden bis in von deutlichen Geesträndern, vor allem auf westfälischer die Bastau-Niederung im Norden verfügen und so alle An- Seite, gesäumt. Hier reihen sich nicht nur drei der vier al- teil haben an den unterschiedlichsten Wirtschaftsformen ten Städte der Kulturlandschaft – neben Minden sind von der Waldwirtschaft im Süden über Ackerbau und Wei- 138 dies Hausberge (Porta Westfalica) und Petershagen, die den zu Füßen des Gebirges bis zur Heidewirtschaft und ebenso in Anlehnung an landesherrliche Burgen entstan- der Torfgewinnung im Norden. Seit Alters werden die am den wie der nördlich gelegene Flecken Schlüsselburg Fuß des Gebirges austretenden mineralischen Quellen zu (Petershagen) mit seinem Scheunenviertel des 17. Jahr- Heilzwecken („Bauernbäder“) genutzt. Auch Erze, Stein- hunderts – sondern auch zahlreiche wohlhabende Dörfer kohle und die Natursteine in Weser- und Wiehengebirge mit alten Pfarrkirchen. werden seit langer Zeit abgebaut.

Der nordwestliche Teil der Kulturlandschaft „Minden- Lübbecker Land“ – ursprünglich durch einen breiten Wald- streifen deutlich geschieden – wird dagegen einerseits von Sandböden, andererseits vom Niederungsgebiet der in Nord-Süd-Richtung der Weser zustrebenden Großen Aue und ihren Nebenläufen geprägt und geht ganz im Norden in die großen Moorgebiete über. Die dementsprechend dünne Streusiedlung verdichtet sich nur in wenigen Kirch- dörfern und dem Flecken Rahden als zentralem Ort.

Zahlreich sind die Herrensitze und Adelsgüter in allen Teilen der Kulturlandschaft, jedoch besonders konzentriert am Fuß des Wiehengebirges eingestreut, während sich die relativ wenigen geistlichen Niederlassungen – mit Ausnah- me des weithin sichtbar auf einem Hügel gelegenen Stiftes Levern (Stemwede) und der Johanniterkommende Wieters- heim (Petershagen) an der Weser – in den Städten Lübbe- cke und vor allem in Minden konzentrierten.

 Petershagen Foto: LWL/H. Gerbaulet

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Das Siedlungsbild bleibt in weiten Teilen des Kulturland- ner Heide und Hille), durch die Weserkanalisierung bis 1960 schaft bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konstant. Eine und die Anlage von den Großkraftwerken Lahde (Petersha- Ausnahme bildet – neben der Erhebung Preußisch Olden- gen, begonnen 1943) und Veltheim (Porta Westfalica) sowie dorfs zur Stadt im Jahr 1719 – die Entwicklung des Stadt- durch den verstärkten Abbau von Sand und Kies in den raumes Minden (s.u.). Eine Ausdehnung der Streusiedlung Weserauen. in das nördliche Ödland bis hin zu einer heute in vielen Tei- len zersiedelten Landschaft ist – gestützt von einem star- ken Bevölkerungswachstum seit dem frühen 19. Jh. – Fol- Der Stadtraum Minden ge der Gemeinheitsteilungen seit 1770 mit dem Höhe- punkt zwischen 1821 und 1848, der Meliorationsmaßnah- Nach den umfangreichen Kriegszerstörungen und oft men in den Niederungsgebieten insbesondere der Großen weitreichenden Flächensanierungen in den anderen grö- Aue (Rahden) beginnend um 1770 und vor allem in den ßeren Städten Westfalens ist Minden heute das einzige 1850er Jahren und der neuen Landwirtschaftstechniken Beispiel einer im Laufe von 1200 Jahren gewachsenen seit den 1870er Jahren. Die Anlage einer privaten Glasma- Stadtstruktur. Die Stadt Minden ist daher in ihrer Gesamt- nufaktur im Jahr 1812 an der Weser bei Ovenstädt (Peters- heit im besonderen Maße geeignet, das Phänomen einer hagen) bleibt Ausnahme. größeren gewachsenen Stadt als einen höchst komplexen, über Jahrhunderte gewachsenen Organismus zu doku- Mit Ausnahme wiederum der Städte Minden und (be- mentieren. Er setzt sich aus Wohnbebauung, Produktions- scheidener) Lübbecke und der Region um die Porta mit Ei- stätten, Verkehrswegen und öffentlichen Bauten zusam- senerzbergbau und -verhüttung (seit dem Mittelalter), Sand- men; diese Bereiche wurden im Laufe der Entwicklung im- stein- und Kalksteinabbau und -brennerei, Glasfabrikation mer wieder neu gruppiert und veränderten Wirtschafts- und der Anlage zahlreicher Ziegeleien in allen Teilen der strukturen und politischen Bedingungen angepasst. Kulturlandschaft, jedoch besonders entlang der Weser, hat auch die Industrialisierung in der Epoche des Kaiserrei- In der Altstadt haben sich noch wesentliche Teile der ge- ches das Kulturlandschaftsbild nur wenig verändert. Die wachsenen Strukturen in Grundstückszuschnitten, im Stra- seit der Mitte des 19. Jahrhunderts über 100 Kleinbetriebe ßensystem und in der aufgehenden Bausubstanz erhalten. umfassende, mit 47% aller Industriebetriebe (1874) domi- Bei den Kirchenbauten reicht sie bis ins 10. Jh., bei den nierende Tabakindustrie hinterließ ebenso nur kleinteilige Profanbauten bis ins 12. Jh. zurück. Die Altstadt gliedert Baudenkmäler wie die Nahrungsmittelgewerbe (Brauerei sich in die ältere Unterstadt mit dem geistlichen Zentrum Lübbecke, Brennerei Hartum in Hille), die kaum die vorindus- um dem Dom und das bürgerlich-kaufmännische Zentrum triellen Produktionsbedingungen veränderte, weshalb die- im Zuge von Bäckerstraße, Scharn, Markt mit Rathaus und 139 se Kulturlandschaft bis heute von den ursprünglich in vie- Kaufhaus und Obermarktstraße sowie die Oberstadt, die len Teilen Westfalen-Lippes in ähnlicher Zahl vorhandenen zwischen den beiden Stiftsbezirken von St. Marien und St. Windmühlen geprägt wird. Martini im Laufe des 12. bis 15. Jahrhunderts besiedelt und durch den Bezirk um St. Simeon erweitert wurde. Die Die sukzessive Anlage neuer Verkehrstrassen verursach- Stadtstruktur prägende Zäsur ist im Inneren die zwischen te keine sprunghaften Entwicklungen (Straßenbauten: Ko- beiden Bereichen seit dem 13. Jh. errichtete und in Teilen blenz-Minden 1792-1802, Minden-Osnabrück ab 1820, Pass- erhaltene Stützmauer der höher gelegenen Oberstadt. Im straße Bergkirchen 1857; Eisenbahnbauten: Köln-Minden-Han- Äußeren sind entsprechende Zäsuren der Lauf der Bastau nover 1847, Bünde-Lübbecke-Rahden 1899, Minden-Lübbecke mit dem älteren Weserhafen und der im Anschluss daran 1907, Minden-Nienburg 1921 sowie diverse Kleinbahnstrecken; entstandenen, in ihren mittelalterlichen Strukturen bis heu- Wasser: Mittellandkanal Eröffnung 1914, bis Hannover 1917, bis te in einzigartiger Weise erhaltenen Vorstadt „Fischer- zur Elbe 1938). Insbesondere die Köln-Mindener-Eisenbahn stadt“, der Weserübergang mit der älteren Furt östlich des führte jedoch durch verbesserte Transportbedingungen Domes und der im 13. Jh. nördlich davon entstandenen (Absatz ins Ruhrgebiet, Antransport von Dünger) 1850-1880 zu Strombrücke sowie vor allem der Ring der Stadtbefesti- einer Wohlstandsphase der Landwirtschaft nach der Ar- gung. Durch die Bürgerschaft angelegt und vielfach aus- mutsperiode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. gebaut, verändert und erneuert, ist er in der Neuzeit staat- lich als Festungsgürtel ausgebaut und erst 1871 aufgeben Wesentliche Veränderungen der Kulturlandschaft „Min- worden. Hierbei entstand im Süden der Stadt nach 1814 den-Lübbecker Land“ zeitigte die Epoche nach dem Zwei- um den Simeonsplatz eine in ihren Strukturen weitgehend ten Weltkrieg nicht nur wie in ganz Westfalen-Lippe durch erhaltene Militärvorstadt mit Kasernen, Verwaltungsgebäu- fast flächendeckende Flurbereinigungsverfahren im ländli- den und Lagerhäusern. chen Raum, durch weitere Straßenbaumaßnahmen und z.T. erhebliche Ausweitungen der älteren Siedlungskerne, son- Nach der Entfestung 1871 wurden die Festungswerke dern hier speziell durch eine der wenigen vollständigen geschleift und von der Stadtverwaltung zu einem weitläufi- Neugründungen von Städten, nämlich der Stadt Espelkamp gen Grüngürtel mit eingestreuten öffentlichen Bauten – auf dem Gelände eines Munitionsdepots von 1938 (1959 zur insbesondere Bauten für höhere Schulen – umgestaltet. Er Stadt erhoben), durch verschiedene flächenintensive Militär- trennt bis heute die Altstadt von dem erst nach 1871 besie- einrichtungen (Kasernen in Lübbecke und Minden; Pionierein- delten Vorland. In kurzer Zeit entstand hier ein breiter Gür- richtungen entlang der Weser, Truppenübungsgelände Minde- tel an Wohnbebauung, die von aufwändigen Villenbauten

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 2 // Minden-Lübbecker Land

an den Hauptstraßen und dem Glacis bis zum Mietwoh- Minden diente und Hausberge als kleinstädtische Freiheit nungsbau in geschlossener Bebauung reicht. Auch verein- im Schatten der Burg entstehen ließ. zelte Gewerbebetriebe wurden angesiedelt, zudem ent- standen bis 1940 noch weitere großflächige Kasernenanla- Obwohl gerade am Fuß der Berge Hüttenwerke und spä- gen und andere zentrale Einrichtungen der Militärverwal- ter auch Glasfabriken entstanden, entwickelte sich seit tung (Kasinos, Verwaltungen). Zwischen dem Dombezirk dem frühen 19. Jh. die Landschaft um die Porta Westfalica der Altstadt und dem Weserufer wurde zwischen 1900 und zum zentralen Ausflugsziel der Mindener Bürger, zumal seit 1914 ein neues Zentrum des öffentlichen Lebens mit Re- 1802 die Chaussee am linken Weserufer fertig gestellt wor- gierungsgebäude (heute Deutsche Bahn), Kreishaus, Thea- den war. 1829 wurde der später sog. Moltketurm auf dem ter, Reichsbank, Saalgebäude und Sparkasse angelegt Jacobs-Berg als Vermessungsturm errichtet, er wurde aber und im Norden der Stadt entstand mit dem 1904 eröffne- auch als Aussichtsturm schnell beliebt. Wohlhabende Bür- ten Nordfriedhof eine weitere aufwändig gestaltete öffentli- ger der Stadt errichteten sich nun am Hang Sommerhäu- che Grünanlage. ser. Leichter wurde die Porta seit Herbst 1847 mit der Köln- Mindener Eisenbahn erreichbar, und seit 1892 verband die Von wenigen Bauten entlang der Zufahrtsstraßen zum einzige Mindener Straßenbahnstrecke die Stadt mit dem Weserübergang abgesehen, setzte die Besiedlung am Ausflugsziel. Seinen Höhepunkt hatte die Entwicklung mit rechten, der Stadt gegenüberliegenden Weserufer mit dem Bau des Denkmals für Kaiser Wilhelm I durch die Pro- dem Bau der 1847 eröffneten Eisenbahn ein. Zunächst vinz Westfalen in den Jahren 1894 bis 1896. 1893 wurde Endpunkt mit Betriebseinrichtungen zweier Eisenbahnge- auf den Höhen der Saalbau Wittekindsburg errichtet und sellschaften, wurde der Bahnhof mit einer eigenen Festung 1895 der Komplex des Hotels Kaiserhof mit großem Saal umgeben, die auch einen neuen Weserhafen sowie eine unterhalb des Denkmals an der Endstation der Straßen- Wohnbebauung umfasste und bald als „Neustadt“ be- bahn fertiggestellt, dem etwa gleichzeitig der Neubau des zeichnet wurde. Insbesondere nach der Entfestung 1871 Hotels „Zur Westfälischen Pforte“ folgte. Auch am anderen siedelten sich in ihrem Umkreis entlang des Weserufers Weserufer entstanden zu dieser Zeit in Nachbarschaft des bald größere Industriebetriebe an, denen sich Wohnquar- Bahnhofes große Hotels und Gasthäuser. 1902 kam es tiere vorwiegend für die Arbeiterschaft anschlossen. zum Bau des Bismarckturmes und der daneben stehenden Gaststätte „Bismarckburg“ auf dem Jacobsberg. Der Bau des Mittelandkanals in den Jahren 1910-1914 führte zu einer weitreichenden Umgestaltung der gesam- Das schon durch verschiedene Erzbergwerke erschlos- ten nördlichen Stadtlandschaft. Im Zuge der Überbrü- sene Innere der Berge ließ ab 1936 dort weitläufige Hallen 140 ckung der Weser entstanden hier zentrale Einrichtungen für kriegswichtige Produktionen entstehen. Nach 1945 mit Pumpwerken, Schleusen, Schlepperbetriebshafen und wurde die Attraktivität der Porta Westfalica durch den Lärm Verwaltungseinrichtungen, denen zwei städtische Indus- des stetig wachsenden und weitere Flächen beanspru- triehäfen mit Gewerbegebieten folgten. chenden Autoverkehrs auf den beidseitig der Weser ge- führten Bundesstraßen immer weiter beeinträchtigt. Spezifisch ist die Industrialisierung des Raumes: Auf der Grundlage des Abbaus von Bodenschätzen (Kohle seit dem 17.,Jh., Erze seit dem 19. Jh.) siedelten sich die Pro- Kulturlandschaftscharakter duktionsstätten in den südlich der Stadt gelegenen Dör- fern und ihrem Umkreis an. Besonders das „Kohlenufer“ Landschaftsbildprägend sind die Gebirgszüge von Wie- nordöstlich von Minden sowie Lerbeck, Neesen und Mei- hen- und Wesergebirge und der Stemweder Berg, die alle ßen östlich sowie Bölhorst westlich der Weser wurden seit bewaldet sind. Die Bestände im Wiehengebirge wurden dem 19. Jh. zu Gewerbedörfern. früher großflächig als Niederwald bewirtschaftet. Dane- ben bestehen großflächige Waldbereiche im Heisterholz Schon seit der Frühzeit war die spätere Stadt Minden in bei Petershagen sowie die aus Aufforstung von Heideflä- vielfältiger Weise auf die etwa 3 km südlich gelegene Porta chen hervorgegangenen Kiefernforsten zwischen Levern Westfalica bezogen, dem Durchbruch der Weser durch und Espelkamp. das Wiehengebirge. Hier bestand seit alters eine wichtige Passage der Fernverbindungen aus Westfalen in den nie- Das Landschaftsbild der Weseraue wird geprägt von ei- dersächsischen Raum. Auf der Höhe der steil aufragenden ner offenen, großparzellierten Ackerlandschaft, die weit- Bergrücken lag westlich die bis heute in Teilen erhaltene gehend siedlungs-, wald- und gehölzfrei ist. Die hochwas- „Wittekindsburg“, eine im 9. oder 10. Jh. entstandene serfern liegende Aue wird überwiegend ackerbaulich ge- sächsische Wallburg. Spuren der mindestens bis ins 15. nutzt. Dies wird ermöglicht durch die mehrere Meter Jh. fortdauernden Besiedlung des Berges sind die Funda- mächtige Auenlehmdecke, die sich als Folge der anthro- mente eines kreuzförmigen Kirchengebäudes, die erhalte- pogenen Bodenerosion seit dem Neolithikum abgelagert ne und in der Zeit um 1200 errichtete Margarethenkapelle hat. Eine wesentliche Änderung hat das Landschaftsbild sowie ein nahegelegener Steinbruch. Auf einem Ausläufer in jüngerer Zeit durch die Anlage großflächiger Nassab- des östlichen Bergrückens entstand wohl ebenfalls schon grabungen erfahren. Die Weser ist als Schifffahrtsstraße vor 1000 die Schalksburg der Herren von Hausberge, die mit technisch gestalteter Uferbefestigung (u.a. Buhnen, seit 1398 als regionaler Verwaltungssitz der Bischöfe von Steinschüttung) und Linienführung (Schleusenkanal bei

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 2 // Minden-Lübbecker Land 6.2

Schlüsselburg) ausgebaut. In Minden bestehen zwei städti- Das Landschaftsbild der großflächigen Hochmoore (Op- sche Industriehäfen an der wichtigen Wasserstraßenkreu- penweher Moor, Großes Torfmoor), die weitgehend abgetorft zung mit dem Mittellandkanal. wurden, wird durch Siedlungs- und Waldfreiheit geprägt. Der große entwässerte Niedermoorkomplex im östlichen Teil der Die rechts der Weser zwischen Minden und Windheim Bastau-Niederung wird als Feuchtgrünland genutzt. gelegene breite Niederterrasse wird durch ein Mosaik aus Ackerflächen, Feldgehölzen und eingeschnittenen alten Mit Minden, Lübbecke, Petershagen und Espelkamp Weserschlingen, die heute von kleinen Bächen durchflos- weist diese Kulturlandschaft nur wenige städtisch geprägte sen werden, geprägt. Die charakteristische Siedlungs- Bereiche auf. struktur besteht im wesernahen Bereich aus Dörfern (z.B. Jössen, Windheim, Döhren, Ilviese, Heimsen), die in hoch- Für die bäuerlichen Bauten ist über Jahrhunderte die wassersicherer Lage entlang der Niederterrassenkante an- Fachwerkbauweise dominant. Die Haupthäuser wurden bis gelegt wurden sowie aus Streusiedlungen im weserferne- ins ausgehende 18. Jh. durchgängig als längs aufge- ren Bereich. schlossene, im Inneren dreischiffige niederdeutsche Hal- lenhäuser in Zweiständer-, im 19. Jh. dann in Vierständer- Die besondere Siedlungs- und Nutzungsstruktur entlang Bauweise errichtet. Nach 1780 sind die ersten Querdielen- des nördlichen Vorlandes des Wiehengebirges (s.o.) prägt häuser (etwa in Preußisch Oldendorf) und kurz vor der Mitte das Landschaftsbild dieses Raumes. des 19. Jahrhunderts die ersten Hallenhäuser mit Außen- wänden aus Backstein (z.B. in Gehlenbeck, Lübbecke) im Das Landschaftsbild der ehemaligen großflächigen Hei- Bestand nachweisbar. Nach etwa 1880 wird die Bauweise degebiete des nordwestlichen Teils der Kulturlandschaft aus den in den zahlreichen Ziegeleien der Region herge- „Minden-Lübbecker Land“ wird von einem Mosaik aus stellten Backsteinen, seit der Zeit um 1900 bisweilen in ver- Streusiedlungen und kleinen Dörfern, Feldgehölzen, putzter Gestalt, vor allem entlang der Weser vorherrschend, Ackerflächen (z.T. Plaggenesche) und Grünlandnutzung in wobei lange noch die Rund- und Kastenwalme als regiona- grundwasserbeeinflussten Niederungen und Bachtälern le Besonderheit beibehalten sind. Die Trennung von Wohn- bestimmt. Ein dichtes Netz von begradigten Fließgewäs- und Wirtschaftsteil wird erst im frühen 20. Jh. üblich und sern und Entwässerungsgräben und -kanälen durchzieht mündet in die landesweit gebräuchlichen Kopf-Hals-Rumpf- die Landschaft. Typen in der Aussiedlungswelle der 1950er und 60er Jahre.

Petershagen 141 Foto: LWL/H. Gerbaulet  kap_6_2_KL_02.qxp 23.10.2007 12:08 Seite 142

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 2 // Minden-Lübbecker Land

Die Bauten des Adels sind ganz überwiegend aus Natur- G Die Bastauniederung zeigt noch heute die durch ho- stein gebaut, seien sie als städtische Adelshöfe oder als hen Grundwasserstand beeinflusste traditionelle Land- Landsitze (als Güter, Rittergüter, Hof, Burg oder Schloss be- nutzung. zeichnet) errichtet. Teilweise noch mit überformten mittelalter- lichen Bauteilen sind Bauten aller Zeitstellungen von Beispie- G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- len der Renaissance als Zeugnisse der Wohlstandsphase dere als Bodenarchiv, sind Hausberge, Lübbecke, Min- des 16. Jahrhunderts und des Wiederaufbaus nach dem den, Petershagen und Preußisch Oldendorf. Dreißigjährigen Krieg bis in das ausgehende 19. Jh. erhalten.

Neben dem mittelalterlichen Dom und den Pfarr- bzw. Leitbilder und Ziele Klosterkirchen zu Minden sowie der Stiftskirche zu Lübbecke prägen bis heute zahlreiche mittelalterliche Pfarrkirchen das Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung der cha- Bild der Dörfer, in besonders eindrucksvoller Reihe entlang rakteristischen Kulturlandschaftsbilder des „Minden-Lüb- der Weser nördlich Petershagen (Buchholz, Heimsen, Oven- becker Landes“ unter Berücksichtigung der gewachsenen städt, Windheim). Aber auch Sakralbauten jüngerer, bereits Strukturen und der spezifischen naturräumlichen Voraus- protestantischer Zeit, strahlen weithin über das Land, von der setzungen mit folgenden Zielen: Stadtpfarrkirche aus dem Jahr 1615-1618 in Petershagen bis zu einigen bemerkenswerten Neubauten der Zeit um 1900. G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- Wesentliches Element der Kulturlandschaft sind auch ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. die Friedhöfe, darunter zahlreiche jüdische Begräbnisstät- ten z.T. weit außerhalb in den Feldmarken gelegen. G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale des agrarisch geprägten ländlichen Raumes wie die Streu- und Dorfsiedlungsstrukturen, die Eschflächen, die Hoch- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche moorreste mit ihren Kultivierungszeugnissen und die und -elemente grundwassergeprägten Niedermoore und Feuchtwiesen.

G In dem Kulturlandschaftsbereich „Oppenwehe - Op- G Erhalt der Stromtallandschaft der Weser mit ihrer cha- penweher Moor“ (KLB 2.01) ist in der heutigen Nutzung rakteristischen Siedlungsstruktur. das ehemalige Moor noch erkennbar. 142 G Wiederherstellung beeinträchtigter Räume, die z.B. ei- G Der Kulturlandschaftbereich „Wiehengebirgsvorland“ nen besonders hohen Verlust an Kulturlandschaftsele- (KLB 2.02) weist historisch abgeleitete Landnutzungs- menten wie Wallhecken, Feldhecken, Baumreihen, Al- formen und Siedlungsstrukturen sowie eine besondere leen, Hofeingrünungen sowie Obstwiesen aufweisen. archäologische Fundstelle auf. G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und G Der großflächige Kulturlandschaftsbereich „Wesertal zwi- Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- schen Porta Westfalica und Schlüsselburg“ (KLB 2.03) staltwerterhaltender Umnutzung. beinhaltet eine sehr reiche archäologische Fundland- schaft, den Flusslauf Weser als stark anthropogen über- G Berücksichtigung der im „Minden-Lübbecker Land“ prägtes, zentrales Landschaftselement sowie viele bau- vorhandenen baukulturellen Gestaltwerte bei der Wei- kulturelle Merkmale auf den Weserterrassen. Bei Peters- terentwicklung der Ortskerne und Siedlungsflächen. hagen befindet sich mit der Glashütte Gernheim ein Standort des LWL-Industriemuseums.

G Der „Stadtraum Minden“ (KLB 2.03) ermöglicht die Do- kumentation einer großen gewachsenen Stadt.

G Wichtige Blickbeziehungen weisen auf das Kaiserdenk- mal bei Porta, auf die Porta von Norden, Süden und Os- ten, auf Bergkirchen (alter Übergang über das Gebirge).

G Aus paläontologischer Sicht sind folgende Kulturland- schaftselemente sehr bedeutsam:

- eine am Linkenberg erschlossene seltene Schichten- folge vom Oberen Dogger bis in den Mittleren Malm - eine Schichtenfolge des Oberen Jura (Malm) im Wesergebirge - die sog. Knochenkiese in der Talaue.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land 6.2

Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land vensberger Hügelland zeichnet sich durch eine leicht welli- ge Morphologie aus. Ein sehr dichtes Gewässernetz zer- schneidet die Landschaft in eine Vielzahl von Riedeln und Lage und Abgrenzung schmalen, kastenförmig eingeschnittenen Bachtälchen (Sie- ken). Bedingt durch die geschützte Lage im Windschatten Die Kulturlandschaft „Ravensberger Land“ umfasst den der Gebirgszüge wurden zum Ende und nach der letzten gesamten Kreis Herford sowie das Gebiet der Stadt Bie- Kaltzeit Löss abgelagert, der die anstehenden Keuper- und lefeld nördlich des Teutoburger Waldes und aus dem Liasgesteine sowie die Grundmoränenablagerungen der Kreis Minden-Lübbecke die Kommunen Bad Oeynhausen vorletzten Eiszeit, soweit sie nicht der Erosion anheim gefal- und Hüllhorst sowie aus dem Kreis Gütersloh die Kom- len sind, überdecken. Großflächig sind in dieser Landschaft mune Werther und die nördlichen Teile von Borgholzhau- sehr fruchtbare und ertragreiche Lösslehmböden verbreitet. sen und Halle. In den schmalen Bachtälchen sind weniger ertragreiche, grundwasserbeeinflusste Gleyböden vorhanden. Das „Ravensberger Land“ ist durch die Gebirgszüge des Teutoburger Waldes nach Südwesten gegen die Kulturland- schaft „Ostmünsterland“ und des Wiehengebirges nach Geschichtliche Entwicklung Norden gegen die Kulturlandschaft „Minden-Lübbecker Land“ deutlich abgegrenzt. Es deckt sich hier die natur- Diese Kulturlandschaft „Ravensberger Land“ bietet Fun- räumliche Grenze mit der alten Territorialgrenze: Das Ge- de aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Infolge biet der Kulturlandschaft „Ravensberger Land“ entspricht der intensiven Landwirtschaft haben sich allerdings bron- weitgehend dem Territorium der ehemaligen Grafschaft Ra- zezeitliche Grabhügel nur am Südrand erhalten: auf dem vensberg und ist dadurch auch abgegrenzt gegenüber der Kamm des Teutoburger Waldes bzw. an dessen Südfuß. östlich anschließenden Kulturlandschaft „Lipper-Land“ so- Besonders hervorzuheben ist die Region als Einzelhofsied- wie dem westlich/nordwestlich angrenzenden niedersäch- lungs-Landschaft in der vorrömischen Eisenzeit und römi- sischen Gebiet (Kreis Osnabrück). Die Kulturlandschaft „Ra- schen Kaiserzeit aber auch wegen der eisenzeitlichen Wall- vensberger Land“ ist gekennzeichnet durch die schon his- burg Hünenburg, der Ruine der mittelalterlichen Ravens- torisch starke Zersiedelung des agrarisch geprägten Ra- burg (mit aufgegebener Clever Altstadt), den kirchlichen Kon- vensberger Hügellandes mit Bielefeld und Herford als früh zentrationspunkten Herford, Enger und Schildesche (KLB industrialisierter Region, die sich heute entlang der histori- 3.01) sowie dem Kern der Stadt Bielefeld, die sich erst seit schen west-östlichen Verkehrsachse als fast geschlosse- dem 19. Jh. allmählich zum heutigen Oberzentrum entwi- nes, verstädtertes Band von Bielefeld über Herford und ckelte. Zu nennen sind auch eine Fundstelle des Frühneoli- 143 Löhne bis Bad Oeynhausen erweitert und verdichtet hat. thikums westeuropäischer Prägung (La Hoguette-Typus), ein kurzzeitiger Stützpunkt der römischen Truppen (Sparrenber- ger Egge), die ländlichen Klosterruinen von Müdehorst Holsen, Blickrichtung Ahlsen (Frühmittelalter) und Jostberg (Spätmittelalter), Bodendenk- (Röte-Teiche, Flößwiesen, Wöl- Foto: LWL/D. Djahanschah  mäler der bäuerlichen Kultur bäcker, Speicherinseln) sowie Reste von spätmittelalterli- chen Landwehren und frühneuzeitlichen Schanzen und Wehranlagen.

Im Teutoburger Wald von Dornberg bis Borgholzhausen sind darüber hinaus frühneuzeitliche Spuren des bergmän- nischen Abbaues von Eisenerz und Steinkohle immer wie- der anzutreffen.

Seit 1141 sind die Grafen von Ravensberg auf ihrem gleichnamigen Stammsitz in Borgholzhausen bezeugt. Von der Ravensburg, entstanden in einem mehrphasigen Aus- bau im 12. und 13. Jh., liegen seit kurzem erste archäologi- sche Ergebnisse vor. Sie dient in der Kulturlandschaft der regionalen Identität. Eine wüst gefallene Burgsiedlung des Spätmittelalters lag nach Aussage von Flurnamen am Süd- hang des Burgbergs (sog. Clever Altstadt). Mittelpunkt einer der Ravensburg vorausgehenden Adelsherrschaft war Borgholzhausen mit einer Eigenkirche des 9./10. Jahrhun- derts, deren Träger in einem bislang noch ungeklärten Ver- Naturräumliche Voraussetzungen hältnis zum späteren Grafengeschlecht steht.

Das zwischen den steil emporragenden Gebirgszügen Nach dem Aussterben des Geschlechts gelangte die von Teutoburger Wald und Wiehengebirge liegende Ra- Grafschaft Ravensberg durch Erbgang an die Grafen von

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land

Jülich-Berg, womit die Grafschaft auf Dauer ihren herr- und Kötterstellen zu einer weiteren Vermehrung landwirt- schaftlichen Mittelpunkt verlor und nur noch durch Amts- schaftlicher Betriebe. Die Zahl der Höfe im Ravensberger männer auf den vier Landesburgen verwaltet wurde. 1609 Land wurde für die Mitte des 16. Jahrhunderts auf etwa fiel die Grafschaft an Brandenburg-Preußen und wurde 1.050 Betriebe berechnet. In der Mitte des 18. Jahrhunderts 1816 im Regierungsbezirk Minden Bestandteil der Provinz kamen noch einmal mehrere tausend in Abhängigkeit von Westfalen. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte die den Höfen stehende Heuerlingshäuser hinzu, zu deren Be- Reformation Fuß gefasst. Vorherrschend war das lutheri- wohnern in dieser Zeit etwa 2/3 der ländlichen Bevölkerung sche Bekenntnis, doch gab es nach Übergang an Bran- gehörten. Die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe mit über 1 denburg-Preußen vereinzelt auch reformierte Gemeinden ha Größe stieg bis um 1950 auf etwa 4.550 an und nimmt (z.B. Herford und Bielefeld ab 1682) und auch jüdische Ge- seitdem kontinuierlich wieder ab. meinden. Im 19. Jh. führte die Industrialisierung zum Zu- zug von Katholiken. Seit dem frühen 19. Jh. spielt die Er- Vor diesem Hintergrund wird der Charakter der Kulturland- weckungsbewegung eine bedeutende Rolle, die auch schaft „Ravensberger Land“ schon seit Jahrhunderten von baulich die Kulturlandschaft prägt – z.B. Anstalten Bethel einer Streusiedlung bestimmt bis zum heutigen Bild einer (Bielefeld) und Wittekindshof (Hüllhorst). weitgehenden Zersiedlung. Sie wurde eine der am dichtes- ten bevölkerten, von ländlichem Gewerbe geprägten Land- Die bäuerliche Besiedlung, die an die in Längsstreifen schaften Westfalens. aufteilten Esche gebunden ist, wird nicht durch geschlos- sene Dorflagen, sondern durch weit gestreute Drubbel- Bestandteile der Kulturlandschaft „Ravensberger Land“ siedlungen und zusätzliche Einzelhöfe bestimmt. Deren sind die Adelssitze, von denen im Ravensberger Land über Bewohner hatten oft eine herausgehobene Stellung und 60 nachweisbar sind. Dagegen war die Zahl geistlicher Kon- vertraten als Meier die Rechte der Grundherren. Im südli- vente auf dem Lande mit den Stiften Quernheim (Kirchlen- chen Teil wurden etwa 50 dieser besonders großen Höfe gern-) und Schildesche (Bielefeld-) ebenso gering wie die der funktional hervorgehoben und als Sattelmeier bezeichnet. städtischen Zentren. Die bäuerlichen Siedlungen waren zumeist als Bauerschaf- ten verfasst, von denen jeweils mehrere ein Kirchspiel bil- Neben den beiden alten Städten Bielefeld und Herford deten. Da die zwischen dem 9. und 12. Jh. gegründeten (s.u.) entwickelten sich erst allmählich einige Kirchspiel- Pfarrkirchen mit ihren nur langsam entstehenden Kirchdör- dörfer zu zentralen Orten: Enger und Werther erhielten fern oft in weiter Entfernung zu den Höfen lagen, entstan- 1356 bzw. 1488 Weichbildrecht, Vlotho und Bünde wur- den aber schon seit dem Spätmittelalter als Nebenzentren den 1719 zu Städten erhoben. Im Zuge der Industrialisie- 144 von den Bauerschaften unterhaltene Kapellen. rung jedoch werden nahezu alle Kirchorte und viele weite- re Ortskerne seit dem späten 19. Jh. zunehmend von Die Eschsiedlungen wurden später durch im Ödland an- städtischen Bauweisen bestimmt, was den seit dieser Zeit gelegte Kämpe erweitert, vielfach Siedlungsland der jünge- kontinuierlichen Rückgang agrarisch dominierter Lebens- ren, als Erbkötter bezeichneten landwirtschaftlichen Betrie- verhältnisse dokumentiert. be. Zum Landesausbau sind im späten Mittelalter Ro- dungshöfe, insbesondere an den Hängen der beiden Hö- Das Stadtbild von Bünde erhielt hierbei auf der Grundla- henzüge, entstanden. Sie wurden nach Hagenrecht als Ein- ge des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs infolge der zelhöfe oder in gereihten Hagenhufensiedlungen im An- Entwicklung zum Zentrum der deutschen Zigarrenherstel- schluss an ihr Ackerland angelegt und lassen sich an ihren lung zwischen 1850 und 1960 eigenständige Züge: Es Namensendungen mit „-hagen“ noch heute ausmachen. In wird von zahlreichen aufwändigen Villen der Zigarrenfabri- der frühen Neuzeit kamen die Markkötter und Brinksitzer kanten bestimmt, die zunächst innerhalb der alten dörfli- hinzu, sehr kleine Höfe, die sich auf kultivierten Kämpen in chen Strukturen und neben alten Fachwerkhäusern errich- der gemeinen Mark ansiedelten. Mit dieser Entwicklung der tet wurden, bald aber zu einem neu erschlossenen Villen- Besiedlung nahm die Bevölkerungszahl kontinuierlich zu, gebiet südöstlich des Ortskerns führte, durchsetzt von ein- wobei es sich durchweg um eine Vermehrung klein- und zelnen Handelshäusern und Lagerhäusern. unterbäuerlicher Schichten handelte, die auf Nebenerwerb angewiesen waren (um 1600 kamen auf einen Erbenhof Ein Ausnahmefall städtischer Entwicklung bildet die schon durchschnittlich zwei Kötter). Stadt Bad Oeynhausen, ab 1844 ohne ältere Wurzel als Kuranlage über einer neu erbohrten Solethermalquelle auf Der Anbau von Flachs und insbesondere dessen Weiter- staatlich-preußische Initiative im Anschluss an den 1751 verarbeitung mit Garnherstellung und Leinenweberei ist begründeten und mit seinen Produktionsanlagen weit in schon seit der frühen Neuzeit wesentliche wirtschaftliche die Landschaft ausgreifenden Salinenbetrieb Neusalzwerk Basis der auf dieser Grundlage stetig größer werdenden entstanden. Zunächst als nur während der Sommersaison ländlichen Unterschichten. Weitere Ansiedlungen in der belebte lockere Bebauung um das weite zentrale Parkge- Landschaft brachten die seit dem 16. Jh. nachweisbaren lände mit dem Badehaus und den zentral gelegenen, 1847 Häuser der Heuerleute, die von den großen Höfen zur Bin- eröffneten Bahnhof konzipiert, wuchs der Ort innerhalb dung von Arbeitskräften errichtet wurden. Die in der zwei- weniger Jahrzehnte über einem neu angelegten Straßen- ten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Markenteilun- raster und entlang der Staatschaussee zu einer stark gen führten mit der Neuansiedlung zahlreicher kleiner Hof- durchgrünten Villenstadt heran.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land 6.2

 Oeynhausen, Lohe Foto: LWL/D. Djahanschah

Die gewerbliche und industrielle Entwicklung der Regi- 1975 fertiggestellte Autobahn Bad Oeynhausen-Osnabrück; on wurde seit dem ausgehenden 18. Jh. wesentlich beför- bedeutsam sind heute auch die B 68 über Halle und Steinha- dert durch den Ausbau der Verkehrswege, die in zahlrei- gen sowie die A 33 von Osnabrück bis Borgholzhausen). Der chen Denkmälern erheblich zur Prägung der Kulturland- Bahnhof Löhne wurde 1875 auch zum Ausgangspunkt ei- 145 schaft beitragen (u.a. Eisenbahnviadukt bei Schildesche). ner dem Wesertal folgenden Bahnstrecke über Vlotho nach Noch die jüngsten Trassen orientieren sich in ihren haupt- Hameln und Hildesheim. Die 1901-1904 gebaute Bahnstre- sächlichen Erschließungsachsen an den naturräumlichen cke Herford-Bünde-Bremen dient ebenso der Erschließung Vorgaben: östlich wird die Landschaft vom Lauf der We- der Landschaft wie die zwischen 1901 und 1962 bestehen- ser, der bis in das frühe 20. Jh. entscheidenden Achse den umfangreichen Kleinbahnnetze der Herforder und der des Fernhandels, tangiert. Hauptsächlicher Umschlagsort Bielefelder Kreisbahnen. war der durch Preußen ab 1719 systematisch ausgebaute Hafen Vlotho, wo nicht nur Flöße angelandet, sondern große Mengen von importierten (etwa Dachsteine, Keramik) Stadt Herford und exportierten Handelsgütern (Getreide, Salz und Steine) umgeschlagen wurden. Herford als ältestes Zentrum durchlief bis in die Neuzeit eine politisch und rechtlich eigenständige Geschichte: Der Pass über den Teutoburger Wald zwischen Brackwe- Nach der Überlieferung wurde es wenig nach 800 durch de und Bielefeld und der Durchbruch der Weser durch das einen Edelen Waltger als hochadeliges Damenstift ge- Wiehengebirge bei Porta lenkten den Landverkehr und da- gründet, das über tausend Jahre bis zur Auflösung im mit die Handelsströme auf eine bis heute die Landschaft Jahre 1802 bestand und neben einem großen Güterbesitz prägende west-östliche Achse. Nachdem diese Trasse im auch über umfangreiche grundherrliche und andere weltli- frühen 19. Jh. zu einer Staatschaussee ausgebaut wurde che Rechte in einem weiten Umkreis verfügte. Schon bald (heute B 61), folgte ihr schon 1847 die Hauptstrecke der entwickelte sich neben diesem Stift eine kaufmännische Köln-Mindener Eisenbahn und mit einer Trassierung wenig Siedlung. In ihrer Nachbarschaft entstanden nach 1000 südlich davon 1936 auch die Autobahn Ruhrgebiet-Berlin weitere Siedlungen, Klöster und Stifte, so dass Herford (A 2). Eine weitere historische Trasse nutzte ebenfalls den schließlich zu einem rechtlich höchst komplexen Weich- Weserdurchbruch, führte dann aber, parallel zum Lauf der bild aus, durch mehrere Wasserläufe getrennten verschie- Else, über Bünde nordwestlich nach Osnabrück. Von ihr denen Siedlungen mit jeweils eigenen Stadtrechten, Pfarr- wurde 1855/56 die „Hannoversche Westbahn“ zur Erschlie- kirchen und klösterlichen Anlagen, zusammenwuchs. Das ßung des Nordseehafens Emden abgezweigt, womit bei Damenstift Herford wurde seit 1147 als reichsunmittelbar dem Dorf Löhne ein bis nach der Mitte des 20. Jahrhun- geführt. Die vereinigten Städte Herford galten seit 1631 derts entscheidender Knotenbahnhof mit weitläufigen Ran- als Reichsstadt, wurden aber bereits 1652 wieder Bran- gieranlagen entstand (dieser Trasse folgte wiederum die denburg-Preußen eingegliedert.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land

Herford erlebte, begünstigt durch den ebenfalls frühen hatte im Umland von Bielefeld ihren Schwerpunkt, die Eisenbahnanschluss schon im Jahre 1847, eine umfängli- Stadt war Zentrum des Umschlags; seit 1652 war die Leg- che Industrialisierung mit Schwerpunkten auf der Textilher- ge eine wichtige Einrichtung der Qualitätsprüfung. Nach stellung und -verarbeitung sowie der Süßwarenherstel- einer schweren Krise des Leinenhandwerks nach 1830 lung. Dies führte zu einem erheblichen städtischen Wachs- setzte, mit der Anbindung an die Köln-Mindener-Eisen- tum mit bedeutenden Zeugnissen aus allen Baugattungen bahn (1847 Errichtung des ersten Bahnhofes in der nördlichen des 19. und 20. Jahrhunderts. Besonders hervorgehoben Feldmark), früh die Industrialisierung ein. Die erste mecha- zu werden verdienen aufgrund ihrer Großflächigkeit die nische Spinnerei entstand 1851, 1854 dann die Ravens- Friedhofs- sowie die Militäranlagen. berger Spinnerei, die sich zur zeitweise größten Maschi- nenspinnerei auf dem europäischen Kontinent entwickelte. Die für die Region charakteristische Entwicklung der Seit der Gründung der ersten „Mechanischen Weberei“ im Friedhofskultur kann in Herford an Hand von vier hervorra- Jahre 1862 konnten die produzierten Garne hier zu Stoffen genden Anlagen besonders deutlich abgelesen werden: weiterverarbeitet werden. Anfangs wurden die benötigten Nachdem die Schließung der Totenhöfe im Umkreis der in- Maschinen importiert, im Laufe der Jahre wurden jedoch nerstädtischen Kirchen 1808 durch die Behörden durchge- immer mehr Maschinenbau-Fabriken zur Produktion so- setzt worden war, wurde westlich der Innenstadt an der wohl von Dampf- und Werkzeugmaschinen als auch Ar- Friedhofstraße ein öffentlicher Friedhof angelegt, wo schon beitsgeräten wie z.B. Nähmaschinen (Dürkopp, Adler) ge- seit 1680 ein jüdischer bis 1936 genutzter Friedhof be- gründet. Die Produktionspalette wurde bald erweitert um stand. Der kommunale Friedhof übernahm zahlreiche älte- Fahrräder, Motorräder, Autos, Lastkraftwagen und Auto- re Grabstätten. Er musste 1873 wegen Überfüllung durch busse. Noch heute ist Bielefeld fünftgrößter Maschinen- einen neuen Friedhof in unmittelbarer Nachbarschaft er- baustandort Deutschlands. Auch die Nahrungsmittelpro- setzt werden. Alle drei Anlagen an der Friedhofstraße sind duktion wurde für Bielefeld bedeutsam (Oetker). bis heute in ihren historischen Strukturen einschließlich zahlreicher Grabdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Der Wandel vom Leinenhandelszentrum zur Industrie- Teile der Einfriedungen und der Friedhofskapelle erhalten. stadt ist bis heute im Stadtbild ablesbar. Besonders ent- Nachdem auch der zweite städtische Friedhof im Jahre lang der Bahnlinie und östlich des Stadtzentrums entstan- 1923 geschlossen werden musste, wurde er durch den den Fabriken. Repräsentative Gebäude wie das Rathaus weitläufigen Parkfriedhof „Ewiger Frieden“ an der Ausfall- und das mit Barock- und Jugendstilelementen gestaltete straße nach Löhne ersetzt. Theater, das Landgericht und das Postamt mit Motiven der Weserrenaissance, der Bahnhof mit Jugendstilanklängen 146 Ab 1936 erhielt die Stadt umfangreiche Einrichtungen und die durch ihre hohe Kuppel weit sichtbare Synagoge der staatlichen Militärverwaltung: Drei Kasernen, ein Nah- wurden in den Jahren nach der Jahrhundertwende errich- rungsdepot und ein Offizierskasino, die seit 1945 alle von tet. 1900 fuhr erstmals eine Straßenbahn. Fast gleichzeitig britischen Streitkräften ge- eröffneten die Kleinbahnlinien, die Bielefeld mit den umlie- nutzt und durch weitere genden Orten verbanden und der Arbeiterschaft ein güns- Einrichtungen und Wohn- tiges Verkehrsmittel für den Weg in die Fabriken boten. Die siedlungen erweitert wor- Einwohnerzahl stieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- den sind. derts deutlich an.

Von hoher Bedeutung ist die 1867 nahe Bielefeld ge- Stadt Bielefeld gründete Anstalt Bethel, später von Bodelschwingh’sche Anstalten Bethel, als ein heute weltweit bekanntes Zentrum Das im frühen 11. Jh. für Menschen mit Behinderungen, für Kranke, Alte, Ju- erstmals genannte Biele- gendliche und Wohnungslose. Die Keimzelle der in die hü- feld liegt zu Füßen der um gelige Landschaft am Teutoburger Wald eingebetteten 1240 errichteten, den weitläufigen Anlage war ein Bauernhaus im Stadtbezirk Pass über den Osning Gadderbaum, zu dem weitere durch Stiftungen und An- (Teutoburger Wald) si- käufe hinzukamen. Durch neu errichtete Funktionsbauten chernden Sparrenburg entstand ein autonomes diakonisches Gemeinwesen (mit und bestand seit dem 13. Kirche, Friedhof, Kaufhaus, Währung u.a.). Jh. aus zwei bis 1520 selbstständigen Städten. Mit weiteren Eingemeindungen im Jahr 1930 überschritt

Bis zum Einsetzen der  Bielefeld, Sparrenburg Bielefeld deutlich die Grenze von 100.000 Einwohnern Blütezeit im 17. Jh. wurde Foto: LWL/B. Milde (1930 = 129.963 Einwohner). Der Großteil der historischen die Zahl von etwa 3.000 Gebäude in der Altstadt fiel den Bomben im September Einwohnern kaum über- 1944 zum Opfer. Beim Wiederaufbau entschied man sich schritten. Ende des 16. Jahrhunderts entwickelte sich die für eine moderne Neugestaltung unter Wahrung des mittel- ländliche Hausspinnerei und -weberei allmählich zu einem alterlichen Altstadtgrundrisses und Erhaltung weniger his- berufsmäßig betriebenen Leinengewerbe, dessen Aufstieg torischer Bauwerke. Seit 1969 hat Bielefeld eine Universi- im 17. Jh. begann. Die Produktion von Garn und Leinwand tät, die im Westen als moderner Baukomplex entstand. Ei-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land 6.2

ne geordnete Entwicklung zur Großstadt ermöglichten wei- Ravensberger Land bis ins späte 19. Jh. den überliefer- tere Eingemeindungen im Zuge der kommunalen Neuord- ten Bau- und Wohnformen verbunden. Während die älte- nung 1973; dazu gehörte die Sennestadt, die seit 1956 ren Bauten verbretterte und weit vorkragende Giebeldrei- südlich von Bielefeld auf dem Gebiet der Gemeinde Senne ecke erhielten, wurden die Giebel als Schauseiten seit II als modernes Wohngebiet entstanden und 1965 zur dem 18. Jh. zunehmend unter Verwendung großer Men- Stadt erhoben worden war. gen von Holz mit engmaschigem Fachwerk versehen und mit vielen Inschriften geschmückt, die Bauherren und Auch im Umland veränderte die Industrialisierung die Handwerker nennen und entsprechend der die Region überkommenen Strukturen. Die umliegenden Ortschaften prägenden evangelischen Religion oft lange Bibelzitate entwickelten sich teilweise mehr und mehr zu Arbeiter- bringen. Lehmausfachungen und Strohdächer als Bau- wohnorten (z.B. Sieker, Heepen). Zwischen den verschiede- materialien der Region wurden nach 1800 zunehmend nen Siedlungsschwerpunkten existieren aber bis heute durch Backsteine bzw. Pfanneneindeckungen ersetzt, landwirtschaftlich genutzte Grünzonen und bewaldete Hü- nicht zuletzt aufgrund staatlicher Maßnahmen zu Brand- gelgebiete. Charakteristisch für das Bielefelder Stadtgebiet schutz und Volksgesundheit. Größe, Reichtum des verar- ist bis heute das Nebeneinander einer großen Anzahl statt- beiteten Holzes und die Inschriften sind Ausdruck einer licher Meierhöfe mit ertragreichen Böden und bescheide- wohlhabenden bäuerlichen Oberschicht, die sich damit ner Kötter- oder Heuerlingshäuser in den eher kargen Re- auch deutlich von den erheblich kleineren, oft schlecht gionen des Teutoburger Waldes und der Senne. In einzel- gebauten Kötter- und Heuerlingshäusern abheben, die nen Stadtteilen haben sich die dörflichen Ortskerne und zudem ohne weitere Nebengebäude auskommen muss- Strukturen erhalten wie beispielsweise in Heepen, Kirch- ten. dornberg und Schildesche. Von den über 60 ehemals im Ravensberger Lande vor- handenen Adelssitzen haben sich – neben den landesherr- Kulturlandschaftscharakter lichen Höhenburgen Ravensburg (nach Verfall im 18. Jh. im späten 19. Jh. teilweise wieder aufgebaut) und Vlotho (Ruine) Das heutige Landschaftsbild des Ravensberger Lan- – nur bei knapp einem Viertel bauliche Anlagen mit umge- des wird durch die weitgehende Zersiedlung, hervorge- benden Gräften, Herrenhäusern und weitläufigen Wirt- gangen aus den Streusiedlungen und den städtischen schaftsbauten erhalten. Sie reichen teilweise bis ins Spät- Verdichtungen von Bielefeld und Herford, geprägt. Die mittelalter zurück, sind aber zumeist durch Um- und Neu- waldarme Landschaft – neben wenigen kleinflächigen bauten des 17. und 18. Jahrhunderts bestimmt. Zugehörig Feldgehölzen sind landschaftsbildprägende großflächige sind oft weitläufige und aufwändig gestaltete Parkanlagen 147 Wälder nur entlang der Gebirgszüge von Teutoburger des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Anlagen bilden nicht Wald und Wiehengebirge vorhanden – wird überwiegend selten bis heute zentrale Punkte örtlicher Entwicklungen: ackerbaulich genutzt. Gliedernde Landschaftselemente Dies gilt für die Wehrburg und die benachbarte Mühlen- wie Hecken und Ufergehölze sind selten. Die Grünland- burg in Spenge, Gut Bustedt und Haus Hiddenhausen in nutzung beschränkt sich auf die Sieke (Bachtälchen). Die Hiddenhausen, Haus Gohfeld, Haus Beck und die Ulen- häufig kastenförmige Gestalt der Sieke ist das Ergebnis burg in Löhne, die Güter Bustedt und Steinlake in Kirchlen- einer anthropogenen Überformung. Die Böschungen gern, Haus Kilver und Gut Böckel in Rödinghausen, Haus dieser Sieke wurden abgestochen, um den Talboden Werther bei Werther und das Haus Milspe und Gut Lübras- möglichst optimal als Wiese (Heugewinnung) und Weide sen bei Bielefeld. nutzen zu können. Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche Die von Eichenkämpen umgebenen Gehöfte der Bau- und -elemente ern bestehen vielfach aus großen Gruppen von Bauten, die neben dem Haupthaus auch ein Altenteilerhaus, ei- G In der Stadt Herford ist die typische Zusammensetzung nen Speicher, Scheunen sowie Ställe für Schweine oder eines Stadtgebildes aus mehreren Siedlungseinheiten Schafe und zusätzliche Nebengebäude umfassen kön- besonders anschaulich. Gleichzeitig ist Herford Teil der nen. Hofeigene Mühlen an den zahlreichen kleinen Bach- Stiftslandschaft „Stadt Herford und Stifte Herford-En- läufen sind Ausdruck bäuerlicher Tätigkeit im Getreidean- ger-Schildesche“ (KLB 3.01), die bereits im Mittelalter bau (Kornmühlen) und bei der Leinenherstellung (Boke- entstand. mühlen zur Flachsverarbeitung). Der Baubestand reicht in Einzelfällen bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück, G Paläontologisch bedeutsame Kulturlandschaftsele- wird aber insbesondere durch eine auf wirtschaftliche mente sind die vollständige oligozäne Schichtenfolge Blütezeiten zurückgehende Neubauwelle der Zeit zwi- am Doberg, eine Buntenwechselfolge in Hesseln, Ce- schen 1750 und 1850 bestimmt. Hierbei sind großformati- man-Schichten in Ascheloh und Schichten des Ceno- ge Bauernhäuser mit Längsdielen und Kammerfach in man, Turon und Coniac am Ostwestfalendamm. der Form von Zwei- und insbesondere von Vierständer- gerüsten errichtet worden, wobei Grundflächen von bis G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- zu 650 m² möglich sind. Trotz guter Erwerbsmöglichkei- dere als Bodenarchiv, sind Bielefeld, Borgholzhausen, ten blieben selbst die Haupthäuser der großen Höfe im Bünde, Enger, Hausberge, Herford und Werther.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 3 // Ravensberger Land

Leitbilder und Ziele

Eine Leitbildformulierung muss die dichte Besiedelung bzw. Zersiedelung des Ravensberger Landes berücksichti- gen. Die weitere Siedlungsentwicklung sollte sich deshalb auf die Siedlungsschwerpunkte konzentrieren, um eine weitere Zersiedelung der Kulturlandschaft zu vermeiden.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne.

G Erhalt der Siekenstrukturen (Bachtäler).

G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- staltwerterhaltender Umnutzung.

G Berücksichtigung der im Ravensberger Land vorhan- denen baukulturellen Gestaltwerte bei der Weiterent- wicklung der Ortskerne und Siedlungsflächen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland 6.2

Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland geschichtlichen Vergangenheit. Besondere Schwerpunkte, die aber in hohem Maße durch moderne Landschaftsinan- spruchnahme (durch Sandabbau oder Ausweisung von Lage und Abgrenzung Wohnbaugebieten) gekennzeichnet sind, bilden dabei einer- seits die Flussniederungen von Vechte, Dinkel, Berkel und Die Kulturlandschaft „Westmünsterland“ umfasst mit Bocholter Aa mit den angrenzenden Uferterrassen, ande- dem heutigen Kreis Borken, dem östlichen Teil des Kreises rerseits das westliche Lippetal. Älteste menschliche Spuren Wesel sowie mit Haltern und dem zu Dorsten gehörenden reichen bis in die Eem-Warmzeit (125.000 bis 115.000 v. Gebiet um Wulfen (Kreis Recklinghausen) den westlichen heute), d.h. bis in die Zeit des frühen Neandertalers, zu- und südwestlichen Teil des ehemaligen Fürstbistums rück. Entlang der ehemals ausgedehnten Feuchtgebiete, Münster; eingeschlossen sind die beiden ehemals reichs- aber auch im Bereich von Dünen und am Rande der Hü- unmittelbaren Herrschaften Anholt und Gemen (Ortsteile gelketten finden sich zahlreiche Rastplätze der Jäger der Gronau, Gemen, Isselburg und Werth). späten Alt- und Mittelsteinzeit. Früheste Anzeichen einer dauerhaften bäuerlichen Besiedlung der Region bilden ne- Die überwiegend flache Kulturlandschaft „Westmünster- ben wenigen Großsteingräbern Flachgräberfelder und land“ ist weitgehend identisch mit der naturräumlichen Wohnplätze der Trichterbecherkultur (3.400 bis 2.850 v. Chr.). Landschaft Westmünsterland und speziell hinsichtlich der Seit dieser Zeit weist das Westmünsterland enge kulturelle Bodenbeschaffenheit (arme Sandböden) deutlich abgesetzt Gemeinsamkeiten mit den östlichen Niederlanden auf, gegen die fruchtbaren Klei-(Lehm-)böden der östlich an- während der Lipperaum eher als Durchgangsraum vom grenzenden Kulturlandschaft „Kernmünsterland“. Während Rhein nach Osten zu sehen ist und größere Gemeinsam- die Grenze nach Westen zu den Niederlanden und zum keiten mit südlich anschließenden Kulturlandschaften zeigt. Niederrhein weniger naturräumlich als territorial- und religi- Wie im Emskorridor und in den östlichen Niederlanden onsgeschichtlich bedingt ist, bildet im Süden die Lippe eine sind auch in dieser Landschaft bronzezeitliche Schlüssel- gleichermaßen naturräumlich wie kulturgeschichtlich mar- lochgräberfelder kennzeichnend. Die Eisenzeit ist durch kante Grenze zur Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“, deren un- die Anlage von besonders raumgreifenden Siedlungen ge- mittelbar südlich der Lippe gelegener Teil historisch als prägt. Von dem letztlich vergeblichen Versuch Westfalen in Vest Recklinghausen zum Fürstbistum Köln gehörte. Die das römische Imperium einzugliedern, zeugen Militäranla- Kulturlandschaft „Westmünsterland“ ist durch deutliche gen in Dorsten-Holsterhausen und Haltern als Stationen an wirtschaftliche und kulturräumliche Bezügen zu den Nieder- der Lippe, dem Aufmarschgebiet der Römer um Christi Ge- landen charakterisiert (s.u.). burt. Während der mittleren und späten Römischen Kaiser- zeit (200 bis 400 n. Chr.) sind für den Raum germanische 149 Siedlungen mit Beziehungen zum westlich anschließenden Naturräumliche Voraussetzungen Gebiet des Römischen Reichs charakteristisch.

Zwei Streifen aus ehemals schwer begehbaren Nieder- Ebenfalls westlichen, in diesem Fall fränkischen Einfluss und Hochmooren von Gescher bis in die Merfelder Niede- zeigen die frühmittelalterlichen Gräberfelder in den ge- rung im Südwesten und entlang der niederländischen nannten Flussregionen und darüber hinaus (6. bis 9./10. Jh. Grenze im Westen umfassen die Kulturlandschaft „West- n. Chr.). Im 8. Jh. ist das Westmünsterland Grenzregion münsterland“. Die ursprünglich waldfreien Hochmoore ha- zwischen dem christlichen fränkischem Reich und dem ben heute als Relikte entlang der niederländischen Grenze heidnisch gebliebenen, als sächsisch bezeichneten östlich innerhalb Nordrhein-Westfalens ihren Verbreitungsschwer- anschließenden Bereich. Diese Grenzlinie behielt bis heute punkt. Sandige und sandig-lehmige, zum Teil stark ver- ihre Bedeutung als Grenze zwischen den Bistümern Ut- nässte Böden herrschen in der Kulturlandschaft vor. Im recht und Münster sowie als Landesgrenze zu den Nieder- Norden und Südosten sind feuchte Eichen-Birkenwälder landen. Von der Einbindung des Raumes in die Herr- verbreitet, während im mittleren Bereich und im Süden tro- schaftsstrukturen des frühen Hochmittelalters zeugen eini- ckene Buchen-Eichenwälder stockten. Neben naturnahen ge ottonische Burganlagen. Laubwäldern in den feuchten Niederungen sind auf den trockenen ehemaligen Dünenfeldern auch häufig Kiefern- Am altbesiedelten Ufer der Bocholter Aa entwickelte wälder anzutreffen. Die Bodenplastik ist leicht bewegt, sich im Mittelalter um eine karolingische Kirchengründung Sandplatten und flache Mulden wechseln mit Kalkrücken und einen Hof die Stadt Bocholt, auf deren Stadtgebiet und kuppigen, dünenreichen Hügeln (Die Berge, Rekener durch die Tätigkeit einer archäologischen Arbeitsgruppe Berge, Bockholter Berge, Hohe Mark) ab. Westlich von Bo- zahlreiche mittelalterliche Befunde und Funde aufgedeckt cholt beginnt die Niederterrassen- und Flussmarschen- wurden. Sie zeigen, dass gute Erhaltungsbedingungen im landschaft von Rhein und Issel. Bereich des mittelalterlichen Stadtkerns besonders für Holzfunde gegeben sind.

Geschichtliche Entwicklung Nach dem Sturz Heinrichs des Löwen 1180 bildeten sich im Grenzbereich zwischen den Bistümern Utrecht und Zahlreiche archäologische Fundstellen aus dem gesam- Münster mehrere kleine selbständige Territorien. Diese Aus- ten Westmünsterland zeugen von der reichen ur- und früh- einandersetzungen im 12. bis 15. Jh. spiegeln sich in Stadt-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland

gründungen und Burgenbauten wider. Die fürstbischöfliche tematischen Ausbau der Verkehrswege eher verzögert. Die Landesherrschaft konnte sich bis 1408 fast im ganzen südlich die Kulturlandschaft „Westmünsterland“ begren- Westmünsterland durchsetzen. Danach bewahrten die Herr- zende Lippe war eine wichtige West-Ost-Verbindung. Für schaften Anholt und Gemen mit – im Gegensatz zum Fürst- einige Jahrzehnte bis zum Bau der Eisenbahn belebte man bistum – überwiegend protestantischer Bevölkerung bis ab 1821 die Schifffahrt durch den Ausbau des Flusses mit 1803 ihre Reichsunmittelbarkeit. Unter den kriegerischen Schleusen und Buhnen. Über Jahrhunderte werden die Auseinandersetzungen, die das Gebiet in Mitleidenschaft schlechten Sandwege des westlichen Münsterlandes be- zogen, ist neben dem Niederländisch-Spanischen (1568- klagt. Während auf niederländischer Seite der Kunststra- 1648) und dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) auch der ßenbau spätestens in den 1820er Jahren einsetzt, wurden Siebenjährige Krieg (1756-1763) zu nennen: Die Wallfahrts- die Staatschaussee Münster-Burgsteinfurt-Gronau-Glaner- stätte auf dem Annaberg (Haltern) ist Ausdruck dieser Zei- brücke erst 1845, die Kreisstraße von Dorsten über Borken ten der Beschwernisse des Landes. 1815 wurde das ge- nach Winterswijk sogar erst 1870 durchgehend befahrbar. samte Gebiet der Kulturlandschaft Teil der preußischen Pro- Heute wird diese Kulturlandschaft „Westmünsterland“ von vinz Westfalen mit dem Regierungssitz in Münster. verschiedenen Autobahnen durchquert bzw. tangiert. Von dem ab 1874 (Süd-Nord-Verbindung Bismarck-Zweckel- Die Kulturlandschaft „Westmünsterland“ ist bis heute Dorsten-Hervest in Richtung Winterswijk der Niederlän- zum überwiegenden Teil landwirtschaftlich geprägt. Die disch-Westfälischen Eisenbahngesellschaft) und bis 1908 einzelnen Bauernhöfe sind weit über die Landschaft ver- ausgebauten Schienennetz sind heute nur noch die ein- streut. Breitgelagerte Einzelhöfe wechseln mit zahlreichen gleisigen Linien Bocholt-Wesel, Borken-Essen und Gronau- Siedler- und Kleinbauernstellen. Agrarisch-gewerbliche Ahaus-Coesfeld-Dortmund in Betrieb. Kirchdörfer und Kleinstädte bilden die Unterzentren. Bedeutsam wurde die Textilindustrie im Westteil dieser In hohem Maße wird die Kulturlandschaft „Westmünster- Kulturlandschaft, die aus Anfängen schon des 16. Jahr- land“ auch von geistlichen Niederlassungen und Adelssit- hunderts ihre Blüte durch niederländisches Kapital im 19. zen geprägt. Damenkonvente waren das schon in karolin- und 20. Jh. bis zum Niedergang in den 1970er Jahren er- gischer Zeit gegründete adlige Kanonissenstift in Vreden reichte. Die großen Ortserweiterungen fanden an den neu (839) und das später zum Stift umgewandelte Kloster As- entstandenen Verbindungsstraßen zu den Nachbarorten beck (1132/1173); eine Niederlassung der Wilhelmiten-Ere- statt. Industriebauten, Wohnhäuser für Industrielle und der miten (später Zisterzienser) entstand in der Bauerschaft Bur- Werksiedlungsbau veränderten die Ortsbilder. lo (Borken-) Mitte des 13. Jahrhunderts. 150 Ende des 18. Jahrhunderts war die auf Raseneisenerz Im Zuge der territorialen Auseinandersetzungen entstan- gegründete Minervahütte in Isselburg entstanden. Stadt- den zahlreiche, später zu Schlössern ausgebaute Burgen, lohn ist heute noch bekannt wegen seiner Töpferwaren; an die sich Siedlungen anlehnten; vielen von diesen wur- Reste frühindustrieller Kalkbrennerei südlich dieser Ortslage den die Rechte von Freiheiten oder Städten verliehen. Die zählen zu den bedeutenden Anlagen ihrer Art. 1198 als bischöfliche Landesburg gegründete Burg Nien- borg zeigt heute noch am besten ihre ursprüngliche Anla- Die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg haben sehr ge. Manche von diesen Herrschaften sind heute nur noch große Schäden angerichtet. Anholt, Bocholt, Borken, im Grundriss als ehemalige Burgstädtchen erkennbar Stadtlohn, Vreden und Ahaus wurden weitgehend zerstört. (Werth, Ottenstein, Wigbold Schöppingen). Von Seiten des Der Wiederaufbau geschah teilweise unter Beibehaltung Fürstbistums wurden Landesburgen errichtet bzw. ausge- der ursprünglichen Grundstücksstrukturen in zumeist eher baut (Vreden, Stadtlohn, Ramsdorf), die aber nur noch in der traditioneller Architektursprache. So ist entlang der Grenze Ortsstruktur oder einigen wenigen Resten zu erkennen zu den Niederlanden ein zeittypischer Wiederaufbau der sind. Weltliche Herren gründeten in Gegenwehr Ahaus zerstörten Städte entstanden. In der Stadt Ahaus wurde und Anholt und die kleineren Anlagen Isselburg, Otten- nur das Schloss wieder in der alten Form aufgebaut, die stein und Werth, außerdem die Burgen Raesfeld, Gronau Stadt erhielt eine neue Struktur. und Gemen mit den jeweiligen Freiheiten. Zu den ältesten und bedeutsamsten Dynastengeschlechtern im West- Schon seit den 1920er Jahren, verstärkt aber in der münsterland zählten die Herren von Gemen, die bereits Nachkriegszeit, wurde der südliche Teil der Kulturland- 1280 die erste Burganlage fertiggestellt hatten. Große, gut schaft „Westmünsterland“ eng mit dem Ruhrgebiet ver- überlieferte Schlossanlagen überwiegend barocker Prä- zahnt. Einerseits verstärkte sich die Erholungsfunktion etwa gung und mit angegliederten Orten sind Gemen, Anholt, im Waldgebiet der Haard und durch die Anlage des Halter- Raesfeld, Velen und Ahaus. Die vom Bischof gegründeten ner (Stau-) Sees, andererseits aber griffen sowohl Produkti- Städte Borken und Bocholt, auch das südliche Haltern ent- onsanlagen (Bergwerk Haard) und Wohnsiedlungen (Neue wickelten sich zu regionaler Bedeutung; in Haltern ist der Stadt Wulfen) über das rechte Lippeufer hinaus. Der süd- historische Ortsgrundriss ablesbar geblieben. lichste Teil der Kulturlandschaft bietet daher einen eigen- tümlichen Zusammenklang von natürlicher und künstlicher Die Industrialisierung erfasste – über die Veränderungen Landschaft (durch die scharf konturierten Bergehalden von oft der Landwirtschaft hinaus – die Kulturlandschaft „West- erheblicher Höhe verstärkt), der am sinnfälligsten von Nor- münsterland“ nur in einzelnen Teilen und durch den unsys- den kommend auf der Autobahn A 43 am Lippeübergang

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland 6.2

zu erleben ist, wobei Industrieanlagen durch Höhe und den Merfelder Bruch bei Dülmen. Drubbel als Gruppen- Ausdehnung die eigentlichen Orientierungspunkte und siedlungen mit drei bis zehn Hofstellen sind noch heute Bahn- und Straßendämme die oberflächenbildende Fein- den Eschflächen zuzuordnen. struktur abgeben. Hier etwa liegt auch die Grenze zur Kul- turlandschaft „Ruhrgebiet“ (siehe dort). Zwei Siedlungsmuster des Westmünsterlandes sind je- doch für die Hofstellen besonders typisch. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts lagen im Norden dieser Kulturland- Kulturlandschaftscharakter schaft die meisten Hofstellen entlang der Bäche und klei- nen Flüsse, wie der Dinkel, Vechte oder Berkel. Die feuch- In dem überwiegend ebenen Westmünsterland wird das ten Niederungen wurden als Grünland genutzt. Auf den Landschaftsbild im Wesentlichen durch die kleinen Wald- trockeneren Fluss- und Bachterrassen waren in einem ca. flächen, Hecken und Baumreihen gegliedert. Prägend für 500 bis 1.000 m breiten Streifen zunächst die Ackerflächen diese Kulturlandschaft sind auch die vielen Bauernhöfe mit (Eschflächen) und dann die Hofstellen, kleine Waldflächen ihren Hofbäumen, hofnahem Grünland und häufigen Obst- und kleinere Kämpe (Acker-, Weide- und Gartenkämpe) auf- wiesen. Charakteristisch ist die Verknüpfung von kleinteili- gereiht. Daran schlossen sich dann die großen Heide- und gen Landschaftsausschnitten geprägt von Bachläufen, He- Ödlandflächen an. In den Überschwemmungsbereichen cken, Baumreihen, kleinen Feldgehölzen mit Räumen, die der Niederungen wurden die nährstoffhaltigen ange- weite Blickfelder über größere Ackerschläge hinweg auf schwemmten Böden ebenfalls häufig geplaggt, so dass große eingegrünte Bauernhöfe, auf die Drubbel sowie die zwischen Bachaue und angrenzenden Ackerflächen teil- Kirchtürme der Dörfer und Kleinstädte ermöglichen. weise noch heute scharfe Kanten sichtbar sind.

Wie fast überall im Münsterland herrscht auch im West- Das zweite Siedlungsmuster findet sich entlang trocke- münsterland die Streusiedlungsform vor. Einige Bereiche ner Kreidehöhen. Besonders ausgeprägt erkennbar ist die- jedoch, wie die ehemaligen Markungen um Vreden und Al- se Siedlungsstruktur entlang der Linie von Ochtrup über stätte sowie die Hohe Mark weisen eine deutlich geringere Wessum, Wüllen, Stadtlohn, Weseke bis nach Borken so- Dichte von Hofstellen auf. Dies gilt u.a. auch für die ehe- wie etwas weniger deutlich sichtbar von Olfen über Dül- maligen Moore an der niederländischen Grenze oder für men nach Coesfeld, auf der Grenze zum Kernmünsterland.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland

Diese großen zusammenhängenden Eschflächen sind Die Bauernhöfe liegen als Einzelhöfe in der Landschaft bis heute fast baum- und strauchlos. Begleitet wurden die- weit gestreut. Der Gebäudebestand wird von der Bodenbe- se großen Ackerflächen von einen 500 bis 1.500 m breiten schaffenheit geprägt. So kommen in den Gebieten mit den Streifen, in dem die Hofstellen mit hofnahem Grünland, reichen Böden (Legden bis Schöppingen und nähere Umge- Obstweiden und kleinen Bauernwäldern lagen. Auch hier bung) zahlreiche Nebengebäude auf den Hofstellen vor. Ty- schlossen sich oft ausgedehnte Heide- und Ödlandflächen pisch sind hier die großen Speicher sowie die Mäusepfeiler- an. Zwischen diesen großen, oft zusammenhängenden scheunen als Besonderheit dieser Region. Bis zum frühen Eschflächen treten verstreut kleinere Eschflächen auf den 19. Jh. war die Fachwerkbauweise mit Backsteinausfachun- plateauförmigen Höhen im Gebiet Haltern, Groß-Reken gen üblich, wurde danach jedoch durch die massive Um- und Heiden auf. Die übrigen Flächen, insbesondere im mantelung aus rotem Klinker, manchmal mit blau gebrann- Norden, sind im 19. Jh. fast ausschließlich Markungen mit ten Steinen aufgelockert, ersetzt. Tür- und Fensterrahmun- Heide, Ödland und Mooren. Heute überwiegen deutlich gen sowie der Sockel sind nicht selten mit Sandstein bzw. die Ackerflächen, da gerade die Sandböden mit Hilfe mo- mit weiß getünchtem Holz oder einer weißen Stuckrahmung derner landwirtschaftlicher Methoden, wie gezielte Dün- versehen. Im Schöppinger Bereich kommen Bauten aus gung und Bewässerung und wegen guter Befahrbarkeit, dem dort abgebauten Sandstein vor. Das Wohnen und Wirt- erfolgreich bewirtschaftet werden können. schaften unter einem Dach im niederdeutschen Hallenhaus als Zweiständer-Bau wurde ab dem Ende des 19. Jahrhun- Agrarisch-gewerbliche Kirchdörfer und Kleinstädte bil- derts aufgegeben. Es entstanden damals neue Wohnhaus- den die Unterzentren. typen ähnlich der städtischen Villenbauweise: Wohnhaus und Wirtschaftsteil sind entweder ganz getrennt oder durch Das Westmünsterland kann als sehr waldarm bezeichnet einen kleinen Schleusenbau verbunden. werden. Gründe dafür waren die Übernutzung der Wälder durch Vieheintrieb, Waldstreunutzung und der große Holz- Aus der Phase der Siedlungserweiterungen seit dem 19. bedarf in den Niederlanden für Schiffbau und Festungsbau- Jh. sind Wohnbauten im Zusammenhang mit der Industrie ten. Erst nach der Markenteilung Anfang des 19. Jahrhun- überliefert. In Isselburg, wo ab 1795 die Minervahütte ar- derts begann man mit der Aufforstung der Heideflächen mit beitete und sich die Bevölkerung innerhalb von einigen Kiefern zur Gewinnung von Grubenholz für den Bergbau. Jahren verdoppelte, ist der einheitliche Charakter des Zum Ende des 19. Jahrhunderts hat der Waldanteil fast 1/3 Ortskerns aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts der Fläche betragen. Die Heideflächen wurden mit Kiefern noch fast ungestört vorhanden. Hier liegt auch die bedeu- und die etwas besseren Böden mit Eiche aufgeforstet. Um tende Werkssiedlung zur Hütte von 1898/99. In den ande- 152 die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jh. änderten sich ren Orten wurden um 1900 im Zusammenhang mit der die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In der Folge sank Blüte der Textilindustrie sowohl kleine Arbeiterwohnhäuser bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der Waldanteil wieder als auch Siedlungen (z.B. Morgensternsiedlung Gronau) so- auf ca. 15% ab. Die teilweise großen zusammenhängenden wie Fabrikantenvillen in historistischer Formgebung errich- Waldflächen können jedoch landschaftsprägend sein. tet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden einerseits in dem stark zerstörten Westmünsterland Neubauten, die die Ende des 19. Jahrhunderts waren Moore noch großflächig Tradition des Backsteinbaus mit weißen Gliederungsele- vorhanden. Im großen Umfang begannen erst Anfang des menten weiterentwickelten, andererseits in der Randzone 20. Jahrhunderts die Entwässerung und der intensive Torfab- zum Ruhrgebiet, besonders in der Neuen Stadt Wulfen, bau der Hochmoore. In den 1960er und 70er Jahren wurden aber auch modernste, in der Fachwelt breit diskutierte Ar- auch viele Niedermoore tiefgepflügt, kultiviert und besiedelt. chitekturen und Wohnformen („Habiflex“) einführten. Nach weiteren Entwässerungsmaßnahmen werden viele ehemalige Moorflächen als Acker genutzt. Typisch sind heu- Besonders kulturlandschaftsprägend sind die Zeugnisse te das oft regelmäßige Wegenetz und das ebene Relief. Als des Industriezeitalters in der Gemeinde Neuenkirchen. In Windschutz wurde entlang der Wege und Parzellengrenzen Ochtrup manifestiert sich baulich die soziale Staffelung der häufig ein enges Heckennetz angelegt, das die Landschaft Belegschaft, wo man die Bedeutung innerhalb des Betrie- gliedert. Die Hecken spielen für die Kulturlandschaften des bes an der städtebaulichen Situation, der Größe und der Münsterlandes eine wichtige Rolle, weil sie im großen Um- Gestaltung der Wohnungen ablesen kann. Arbeitersiedlun- fang das Landschaftsbild mit prägen. Bei der erheblichen gen kommen vereinzelt vor. Beeindruckend ist der Kom- Holzarmut im Münsterland waren Hecken ein wichtiger Holz- plex um die stadtbildprägende Fabrik Laurenz in Ochtrup. lieferant. Hecken trennten jedoch auch die Eschflächen und Hier findet man neben den verschiedenen Produktionsge- Kampflächen von den Markungen, in denen das Vieh weide- bäuden die Gebäude für die Angestellten sowie Wohnhei- te. Die ältesten Hecken wurden zur Abgrenzung der Kampf- me und ehemalige Ausbildungsstätten. luren angelegt. In einigen Bereichen des Westmünsterlandes ist jedoch festzustellen, dass viele Hecken erst mit der land- In überdurchschnittlicher Zahl sind in der Kulturlandschaft wirtschaftlichen Erschließung der Marken angelegt wurden. „Westmünsterland“ Adelssitze erhalten. In der Neuzeit wur- In den großen Flurbereinigungsgebieten der 60er und 70er den die wasserumwehrten Niederungsburgen zu Schlös- Jahre des letzten Jahrhunderts wurden Hecken allerdings im sern, viele davon wurden barock oder klassizistisch über- großen Umfang beseitigt. Im Rahmen der Landschaftspla- formt und weiterentwickelt. Von den großen Burgen des nung werden heute wieder Hecken angepflanzt. Mittelalters sind größere Teile nur noch in den Residenz-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland 6.2

schlössern der kleinen Territorien zu Anholt und Gemen (mit der dazugehörigen Freiheit) überliefert. Kleine Adelsitze sind noch recht zahlreich; Nienborg und Ahaus blieben als die landesherrlichen Bauten des Fürstbischofs von Münster er- halten. Die zu der großen Anlage von Schloss Raesfeld ge- hörige Freiheit ist hervorragend überliefert. Welbergen bei Ochtrup ist ein eindrucksvolles barockes Schloss.

Die Kirchen reichen mit erhaltenen Beispielen bis in die Zeit der Christianisierung zurück. Besonders reich ist der Bestand niederrheinisch beeinflusster Hallenkirchen der Spätromanik und der Gotik. Eine Besonderheit sind die mittelalterlichen Wehrtürme mit Satteldach und Stu- fengiebel (Alstätte, Eggerode, Schöppingen, Wessum, Wül- len). Prägend ist auch eine Bauwelle nach der Mitte des 19. Jahrhunderts: Viele Dorfkirchen wurden in zumeist neugotischer Formensprache erweitert (Borken, Schöp-

pingen) oder ganz durch beträchtlich größere Neubauten  Ammerter Mark ersetzt (Gescher, Gronau, Gronau-Epe, Ochtrup, Raesfeld, Foto: LWL/M. Höhn Rhede, Velen, Wettringen).

1951 setzt Dominikus Böhm mit seiner Marienkirche in G Die Brechte, ehemals Ödland und Heidefläche, wurde Ochtrup Maßstäbe für die zahlreichen Kirchenneubauten, flächig aufgeforstet und weist heute noch große Wald- die in den 50er Jahren durch den Zuzug der Kriegsflücht- flächen auf. Markant ist das regelmäßige Wegenetz linge und durch den Bevölkerungszuwachs notwendig ge- und die Parzellenstruktur (KLB 4.02). worden waren. G Im Raum Vreden entlang der Berkel befinden sich Die vorwiegend katholisch geprägte Kulturlandschaft Zeugnisse zu früher Herrschaft und Mission, aber auch „Westmünsterland“ besitzt einen besonders reichen Be- bronzezeitliche und eisenzeitliche Gräberfelder und stand an Bildstöcken des 18. und an Wege- und Hofkreu- Siedlungen. Der Eschlohner Esch umfasst ausgedehn- zen des 19. Jahrhunderts. Unter ihnen bilden Hagelkreuze te Ackerflächen auf einem Kalkhöhenrücken zwischen 153 eine Besonderheit des Altkreises Borken. Stadtlohn und Südlohn (KLB 4.03).

Unter den Bauten der Produktion sind die Windmühle G Die drei benachbarten Orte Anholt, Isselburg und Werth in Werth, die im Kern bis auf das 17. Jh. zurückgeht und mit drei Burgen dienten im Mittelalter drei verschiedenen zugleich als Befestigungsturm diente, und die Wasser- Landesherren und hatten ein gemeinsames, bis heute mühle in Alstätte von 1619 die ältesten Anlagen. Ein Son- erhaltenes Be- und Entwässerungssystem (KLB 4.04). derstellung nehmen die Wassermühlen des 17. Jahrhun- derts in Borken-Marbeck bei Haus Döring sowie ein frü- G Die Dingender Heide ist eine alte Kulturlandschaft mit hes Windrad (1904) in Bocholt-Suderwick ein. Die Was- dem Projekt „Dingender Heide – Geschichte einer Kul- sertürme in Gronau, Stadtlohn und Bocholt und die turlandschaft“ (KLB 10.05). Schornsteine der Industriebauten prägen die Landschaft. Viele große Fabrikgebäude erinnern an die ab 1860 be- G Die Berge bei Ramsdorf mit einer intakten archäologi- ginnende Blütezeit der Textilindustrie so z.B. in Gronau schen Fundlandschaft, vor allem aus steinzeitlichen Rast- mit den Textilfabriken van Delden im Bahnhofsumfeld und plätzen und bronzezeitlichen Grabhügeln (KLB 4.05). mit der Spinnerei Deutschland sowie in Gronau-Epe mit der Spinnerei Germania I/II, aber auch in Stadtlohn, Bor- G Der Merfelder Bruch als großes Feuchtgebiet im Müns- ken, Bocholt und Gescher. terland stellt das aussagekräftigste archäobotanische Archiv zur Vegetations- und Landschaftsgeschichte und zum Klima dar. Archäologische Fundstellen aus Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche der mittleren und jüngeren Steinzeit sind hier erhalten und -elemente geblieben (KLB 4.06).

G Das Amtsvenn und das Epe-Graeser Venn sind mit 1.476 G Der Lippeübergang und das Lippetal bilden den Über- ha einer der größten und bedeutendsten Hochmoor- und gang vom Münsterland zum Ruhrgebiet, während das Feuchtwiesenkomplexe in NRW. Um Heek-Wichum kon- römische Haltern gleichzeitig Kristallisationspunkt früh- zentrieren sich archäologische Fundplätze der Römi- mittelalterlicher Besiedlung ist (KLB 14.01). schen Kaiserzeit. Herausragend ist die Heckenlandschaft der Wexter Mark. In der Ammerter Mark bei Heek liegt ei- G In Ochtrup und seinen Ortsteilen sind charakteristische ne neolithische Siedlungskammer (KLB 4.01). Elemente der siedlungs- und wirtschaftsgeschichtli-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 4 // Westmünsterland

chen Entwicklung von den mittelalterlichen Siedlungs- die eine wichtige archäobotanische Archivfunktion aufwei- kernen über bäuerliche und adelige Baukultur des 18. sen und zudem optimale Erhaltungsbedingungen für Hin- Jahrhunderts bis hin zur Textilindustrie seit dem 19. Jh. terlassenschaften aus organischen Materialien bieten. Des besonders deutlich ablesbar. Weiteren sind aufgrund der hier anzutreffenden Überde- ckung und Bewahrung von alten Geländeoberflächen Hei- G Die Siedlungsstruktur und Verteilung der landwirt- de, Dünen- und Eschgebiete als archäologisch bedeutend schaftlichen Nutzungen entlang der Dinkelniederung anzuführen. Außerdem ist in diesen Arealen besonders auf zwischen Legden und Oeldermoelle zeigen exempla- den Erhalt bzw. die Wiederherstellung von natürlichen risch den Übergang von den Markungsflächen, Esch- Grundwasserständen zu dringen. flächen, Hofstandorten zu den Grünlandflächen in der Dinkelniederung. Große Konfliktpotentiale zeichnen sich vor allem im Be- reich der Flussterrassen ab, wo in den nächsten Jahrzehn- G Das ehemalige Hochmoor Weißes Venn mit dem Orts- ten u.a. durch Sandabbau die Zerstörung ganzer, z.T. teil „Hochmoor“ verdeutlicht die Urbarmachung und denkmalgeschützter Fundlandschaften droht (z.B. Die Ber- Besiedlung ehemaliger Moore. ge). Weitere massive Eingriffe in archäologisch sensible Bereiche drohen durch die Umsetzung der EU-Wasserrah- G Das Zwillbrocker Venn ist ein typisches Hoch-/Nieder- menrichtlinie in den Flussniederungen. Siedlungen und moor an der deutsch-niederländischen Grenze. Gräberfelder besonders der Eisenzeit und des Frühmittel- alters sind durch die Ausweisung neuer Wohn- und Ge- G Typisch ist der Nordvelener Esch auf einer Sandinsel werbegebiete bedroht. mit Eschkranzsiedlung bei Velen. Heute trifft für das Westmünsterland in weiten Teilen die G Die historischen Tierparke in Raesfeld und Velen ver- Bezeichnung der „Münsterländer Parklandschaft“ zu. Ty- deutlichen noch heute die ehemalige Nutzung der pisch ist das Miteinander von intensiver Landwirtschaft Waldgebiete an Herrensitzen. und naturnahen vielfältigen Landschaftsteilräumen. Diese Balance der Landschaft gilt es zu erhalten. Dabei geben G Das Haus Diepenbrock prägt die umgebene Landschaft. die großen Eschflächen, die ehemaligen Moore und die heute noch erkennbaren Markungen dem Westmünster- G Bocholt und Rhede an der Bocholter Aa sind bevorzugte land ein ganz besonderes Gepräge. Ziele sind deshalb: Siedlungsregion seit der Jungsteinzeit bis ins Mittelalter. 154 Mit dem Textilmuseum in Bocholt besteht hier ein Stand- G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale im ort des LWL-Industriemuseums. ländlichen Raum wie die oben beschriebenen Sied- lungsstrukturen, die vielen erkennbaren Eschflächen, G Die Borkenberge sind eine intakte archäologische Fund- die ehemaligen Markungsflächen, die überkommenen landschaft mit vor allem steinzeitlichen Rastplätzen und Landschaftsbilder der Feuchtwiesen und Hochmoore. bronzezeitlichen Grabhügeln. Auch der Hünxer Wald hat eine hohe Dichte archäologischer Fundplätze. G Wiederherstellung beeinträchtigter Räume, die z.B. einen besonders hohen Verlust an Kulturlandschaftselementen G Der Zusammenhang von Schloss und Freiheit sind in wie Wallhecken, Feldhecken, Baumreihen, Alleen, Hof- Gemen und Raesfeld ablesbar. eingrünungen sowie Obstwiesen aufweisen. Eine we- sentliche Erweiterung größerer zusammenhängender G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- Waldflächen sollte nur nachrangig betrieben werden, um dere als Bodenarchiv, sind Ahaus, Anholt, Bocholt, die Kleinteiligkeit der Landschaft nicht zu gefährden. Borken, Coesfeld, Gronau, Haltern, Isselburg, Metelen, Ochtrup, Ramsdorf, Schermbeck, Stadtlohn, Südlohn, G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler. Vreden und Werth. G Sicherung der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen G Kloster Marienthal und Gebäude im Außenbereich durch Förderung der gestaltwerterhaltenden Umnutzung.

Leitbilder und Ziele G Berücksichtigung der im Westmünsterland vorhande- nen baukulturellen Gestaltwerte (z.B. roter Ziegel, rotes Aus archäologischer Sicht bleibt festzuhalten, dass auf- Dach, u.a.) als Leitidee in der Weiterentwicklung der grund der nur ansatzweise durchgeführten Inventarisation Ortskerne und Siedlungsflächen. von Fundstellen kein Teil des Westmünsterlandes als ar- chäologisch unbedeutend auszugliedern ist. Wichtiges Ziel der Bodendenkmalpflege stellt u.a. die Bewahrung von Bereichen mit guter Erhaltung der archäologischen Substanz dar. Hierzu sind z.B. die wenigen noch vorhan- denen Moorgebiete des Westmünsterlandes zu rechnen,

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland 6.2

Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland Der Kernbereich der Münsterländer Tieflandbucht ist durch ein Mosaik von Sand- und Kleiböden geprägt. Die Ackernutzung herrscht auf diesen „schweren Böden“ vor. Lage und Abgrenzung Typisch sind auf dem Kreidemergel und Geschiebelehm die artenreichen Hecken und Eichen-Hainbuchen-Wälder Die Kulturlandschaft „Kernmünsterland“ umfasst haupt- bzw. Buchenwälder in den höheren Lagen. sächlich Gebiete des ehemaligen Fürstbistums Münster. Dazu gehören neben der Stadt Münster als Oberzentrum Der Münsterländer Kiessandrücken, auf dem Münster (bis auf deren nordöstliche Ortsteile) fast der gesamte heu- liegt, ist verantwortlich für ein sehr bedeutsames Grund- tige Kreis Coesfeld und der größere Teil des Kreises Wa- wasserreservoir. rendorf (außer Ostbevern, Sassenberg, den nördlichen Tei- len von Telgte, Warendorf und Beelen, Teile der Stadt Ahlen In den Baumbergen wurde der für die Architektur und sowie Teilen von Wadersloh) sowie Teile des Kreises Stein- Steinskulptur der Kulturlandschaft prägende Kalksandstein furt (Kommunen Altenberge, Horstmar, Laer, Nordwalde, Teile gewonnen. Hier entspringen auch die beiden Gewässer Ber- von Burgsteinfurt). Als ehemals zum Fürstbistum Münster kel und Stever. Die Stever ist die natürliche Voraussetzung gehörend, umfasst diese Kulturlandschaft auch die nörd- für etliche Mühlen und einige Gräften von Wasserburgen. lichen Teile der Gemeinden Lippetal und Welver (heute Hervorzuheben ist die Niederung des Flusses Werse. Kreis Soest), die Städte Werne außer dem Ortsteil Stock- um und Selm (heute Kreis Unna) sowie aus dem heutigen Kreis Gütersloh und damit aus teilweise anderen histori- Geschichtliche Entwicklung schen Territorien jeweils Teile von Herzebrock-Clarholz, Langenberg und Rheda-Wiedenbrück. Aufgrund der überwiegend schweren Lehmböden war während der Ur- und Frühgeschichte vor der Einführung des Die Abgrenzung der Kulturlandschaft „Kermünsterland“ Wendepflugs eine Besiedlung der Region stark vom Unter- erfolgte überwiegend aufgrund der naturräumlichen Struk- grund abhängig. Beispielhaft hervorzuheben ist die Baum- tur des Münsterlandes. Diese Kulturlandschaft ist durch das berger Lössinsel zwischen Coesfeld und Nottuln, auf der sich Vorherrschen von schweren und lehmigen bzw. tonigen eine frühe isolierte Kolonisation durch jungsteinzeitliche bäu- Böden, die hier als „Klei“ bezeichnet werden, definiert. Sie erliche Gruppen der Bischheimer und Michelsberger Kultur ist dadurch sowohl nach Westen als auch nach Norden (4.500 bis 3.800 v. Chr.) aufzeigen lässt. Eine ähnliche Anzie- deutlich abgegrenzt von den weitaus weniger fruchtbaren hungskraft dürfte während des Neolithikums und in besonde- Teilen des Münsterlandes, deren Böden von großen Sand- rer Weise in der Bronzezeit der Münsterländer Kiessandrü- 155 ablagerung bestimmt sind, und die als Sandmünsterland cken ausgeübt haben. Letztlich allein mit den Bodenverhält- (Kulturlandschaften „Westmünsterland“ und „Ostmünsterland“) nissen ist das weitgehende Fehlen von bronze- und eisen- bezeichnet werden. Nach Süden bildet die Lippe eine glei- zeitlichen Grabhügeln im Kernmünsterland nicht zu erklären. chermaßen naturräumliche wie auch, aufgrund der Territori- algeschichte, eine kulturhistorische Grenze, die seit der Re- Nach den wenigen zur Verfügung stehenden archäobo- formation zugleich eine Konfessionsgrenze darstellt. Diese tanischen Daten erfolgte eine flächendeckende und bis südliche Grenze ist allerdings, insbesondere südlich Werne heute andauernde Aufsiedlung dieser Region erst im und bei Ahlen (das Stadtgebiet selbst ist der Kulturlandschaft Früh-, z.T. wohl auch erst während des beginnenden „Ruhrgebiet“ zuzurechnen), im Zuge der Industrialisierung Hochmittelalters. Von frühen hochadeligen Herrschaftszen- verwischt. Auch die Entwicklung Münsters zur Großstadt tren zeugen große Burganlagen und Stifte im Raum Laer- hat gerade in den letzten Jahrzehnten zur Ausprägung ei- Steinfurt. Eine weitere starke Veränderung der Kulturland- nes eigenen Kulturlandschaftsraumes unter Einschluss der schaft „Kermünsterland“ fand durch die Stadtgründungen ehemals selbständigen Nachbargemeinden und -städte ge- und durch die Rodungstätigkeiten im Spätmittelalter statt. führt. Die Kulturlandschaft „Kernmünsterland“ ist außerhalb Immer noch landschaftsprägend sind die vielen Landweh- des Oberzentrums Münster immer noch als primär agra- ren aus dieser Zeit, die die Herrschafts- und Verwaltungs- risch strukturiertes Streusiedlungsgebiet erlebbar. strukturen des Hochmittelalters erfahrbar machen.

Die territorialen Grenzen des 805 gegründeten Bistums Naturräumliche Voraussetzungen Münster waren im 14. Jh. gefestigt. Bis zum Reichsdeputati- onshauptschluss im Jahr 1803 war der Fürstbischof von Zum Kernmünsterland gehören durchaus unterschiedli- Münster nicht nur geistliches, sondern auch weltliches Ober- che Teillandschaften wie die Baumberge, die Beckumer Ber- haupt der nach dem Zeitalter der Reformation fast ausschließ- ge, der Schöppinger Berg mit Erhebungen bis 186 m Höhe. lich katholischen Bevölkerung im größten Teil des Gebietes Der weit größere Teil dagegen ist eben oder flachwellig. der Kulturlandschaft „Kernmünsterland“. Im äußersten Nord- westen lag die Reichsgrafschaft Steinfurt, deren Herren sich Aus saalezeitlichen Grundmoränenablagerungen haben zur reformierten Konfession bekannten. Beide Territorien wur- sich lehmige Kleiböden entwickelt. Diese führten zu einer den 1815 Preußen zugesprochen. Die Stadt Münster wurde spezifischen Ausbildung der Landnutzung, des Land- Hauptstadt der Provinz Westfalen mit der Konsequenz, dass schaftsbildes und zu der Bezeichnung „Kleimünsterland“. die Stadt Sitz zahlreicher staatlicher Einrichtungen wurde.

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Alverskirchen  Foto: LWL/U. Woltering

In der Kulturlandschaft „Kermünsterland“ überwiegt die Erweiterung erfolgte erst – nach Niederlegung der Befesti- Streusiedlung. Die Bewirtschaftung durch einzeln gelege- gungen im frühen 19. Jh. – im Zuge der Industrialisierung. ne, nicht in Dörfer zusammengefasste Höfe hat sich im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts herausgebildet. Um Die wirtschaftliche Entwicklung im Gebiet der Kulturland- die in der Regel auf einem Haupthof gegründeten, einsam schaft „Kernmünsterland“ wird bis heute wesentlich von in der Feldflur gelegenen und zudem zumeist als Rück- der Landwirtschaft bestimmt, die im 19. Jh. tief greifende 156 zugsort in unruhigen Zeiten gesicherten Kirchen mit einem Veränderungen erfuhr. Die nicht zuletzt wegen nur allmäh- daneben liegenden Pfarrhof entstanden erst im Laufe der licher Verbesserung der Verkehrswege eher schleppende letzten Jahrhunderte dichtere Siedlungen. Sie wurden be- Industrialisierung des ländlichen Raumes schloss sich an stimmt durch Speichergebäude, kleine Handwerkerhäuser traditionelle Erwerbsfelder und Produktionsformen an und und eine Schule am Kirchhof sowie Gasthäuser und weite- ließ Webereien, Maschinenfabriken (insbesondere für Land- re Gewerbe an den Hauptstraßen. maschinen), Wurst- oder Federbettenfabriken entstehen. Sie führten in den Städten zu einem mäßigen Bevölke- Zwischen dem 9. und dem 13. Jh. entstanden die Klös- rungswachstum (Drensteinfurt, Sendenhorst), konnten aber ter und Stifte Freckenhorst, Hohenholte, Karthaus, Lies- auf dem Lande die örtlichen Strukturen der zuvor nur klei- born, St. Mauritz, Nottuln, Varlar sowie die in jedem Kirch- nen Dörfer durch den Zuzug zahlreicher Arbeitskräfte mit spiel vorhandenen gesicherten Sitze der Adeligen, die zu- ihren Familien auch weitgehend überformen. nächst als Burgen und in der Neuzeit als Schlösser gestal- tet wurden. Zu den Wirtschaftsbauten der mehr als 30 er- Neben den Handwerken des täglichen Bedarfs hatte haltenen Adelssitze gehören auch Mühlen und Forsthäu- sich im westlichen Teil dieser Kulturlandschaft schon im ser. Um manche der geistlichen Niederlassungen entstan- 18. Jh. die Textilmanufaktur (Leinwand) etablieren können, den in späterer Zeit Siedlungen. So sind z.B. Freckenhorst die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Heimarbeit im (Warendorf), Hohenholte (Havixbeck) und Nottuln „Stiftsdör- Verlagswesen betrieben und nach der Verkehrserschlie- fer“, deren städtebauliche Anlage nur noch teilweise durch ßung durch Chausseen und Eisenbahn sowie der Einfüh- die Stiftsgebäude bestimmt wird. rung der Dampfmaschine und des mechanischen Web- stuhls zur fabrikmäßigen Produktion ausgebaut wurde. Sie Zentrale Orte in der Kulturlandschaft „Kernmünsterland“ bildete von ca. 1870 bis 1980 das Hauptgewerbe, ist heute wurden die insbesondere im Laufe des 12. und 13. Jahrhun- aber gänzlich aufgegeben. derts entstandenen Städte. In Beckum, Coesfeld, Drenstein- furt, Dülmen, Horstmar, Lüdinghausen, Münster, Oelde, Sen- Im Bereich der Baumberge sind vereinzelt noch die denhorst, Steinfurt, Telgte, und Werne sind die mittelalterli- Steinbrüche und Gebäude der meist untergegangenen chen Grundrissstrukturen in den Grundzügen noch erkenn- Steinmetzbetriebe erhalten. Im Raum zwischen Beckum bar und von deren Befestigungen Teile erhalten. Die Ent- und Ennigerloh entstanden Zementfabriken als spezielle wicklung der Städte beruht seit dem Mittelalter hauptsäch- Verarbeitungsbetriebe anstehender Bodenschätze, die die lich auf ihrer Bedeutung als Handelsplätze und zentrale Orte Landschaft durch großräumige Abbauflächen in Tagebau- ihrer durch die Landwirtschaft geprägten Umgebung. Eine en, weitläufige Produktionsanlagen, Verkehrswege und

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland 6.2

den folgenden Wohnungsbau eingreifend veränderten. Hingegen hinterließ der Strontianitabbau in der Zone zwi- schen Ascheberg, Drensteinfurt und Ahlen während seiner kurzen Episode von 1870 bis 1910 kaum größere Spuren. Unternehmungen wie die Croysche Eisenhütte in Dülmen zur Verhüttung von anstehendem Raseneisenerz waren nur von kurzer Dauer.

Vorrangig in den Randzonen (von Werne im Westen bis Ahlen im Osten) griffen allerdings Zechen und Produktions- anlagen nebst Arbeitersiedlungen des Ruhrgebietes auch in die Kulturlandschaft „Kernmünsterland“ aus.

Umgekehrt erfuhren seit dem ausgehenden 19. Jh. Teile der Kulturlandschaft „Kernmünsterland“ eine zusätzliche Nut- zung im Dienste der Erholung. Um Münster und besonders im Bereich der Baumberge, als beliebtem Naherholungsge- biet, gibt es mehrere Landgasthäuser, die in jüngerer Zeit je- doch stark modernisiert worden sind. Ein in der Landschaft besonders prägnantes Objekt ist der 1897-1901 als Aus- sichtsturm errichtete Longinusturm auf dem Baumberg.

In jüngster Zeit haben nach den Kriegszerstörungen, ins- besondere im westlichen Teil der Kulturlandschaft „Kern-

münsterland“ (Coesfeld, Dülmen und Münster wurden 1943-  Münster, Domplatz 1945 zu 80 bis 90 % zerstört), alle Städte durch neue Wohn- Foto: LWL/H. Kalle und Gewerbegebiete weit ins Umland ausgegriffen. Die meisten Kerne der größeren alten Dörfer sind in jüngerer Zeit stark verdichtet worden. In allen Ortschaften ist die Ten- denz zur „Verstädterung“ zu verzeichnen, so dass die Dorf- Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts griff die durch die Zu- struktur nur noch rudimentär besteht. Das große Einzugs- nahme der Bevölkerung bedingte Bebauung auf das Gar- 157 gebiet Münsters wird bestimmt durch die die Landwirtschaft tenland vor dem Promenadenring (davon noch zwei baro- verdrängenden Neubaugebiete und den Ausbau einer auf cke Gartenhäuser erhalten) und in die freie Landschaft aus, Münster ausgerichteten Verkehrsinfrastruktur. so dass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu systema- tischen, teilweise sehr qualitätvollen Stadterweiterungen (Kreuzviertel) in alle Richtungen kam. Stadt Münster Zwischen 1875 und 1975 wurden die umliegenden ur- Unmittelbar gegenüber einer von den Sachsen im 7. Jh. sprünglich selbständigen Ämter und Gemeinden einge- an der Furt der Aa angelegten und von den Franken im 8. Jh. meindet und zuletzt der Landkreis Münster aufgelöst, so zerstörten Siedlung entstand auf einem Hügel eine fränki- dass die Stadtplanung mit einer großflächigeren Planung sche Missionssiedlung mit einem Monasterium und dem verbunden werden konnte. späteren Dom, die die Keimzelle des 805 gegründeten Bis- tums und der späteren Stadt bildete. Der Grundriss der In- Mit dem Anschluss an das Bahnnetz 1848, dem Bau des nenstadt lässt noch die wesentlichen Züge der mittelalterli- Dortmund-Ems-Kanals (eröffnet 1899) und seines Hafens chen Stadtanlage erkennen. Im Zentrum war der auf einer wurde die Rolle Münsters als Umschlagplatz gestärkt. Da- kleinen Anhöhe liegende Dombezirk (Dom um 800, an der durch wurden auch die Voraussetzungen für Industriean- heutigen Stelle seit 1090) ursprünglich eine stark befestigte siedlungen geschaffen; doch wurde die Stadt nie zu einer Anlage mit einem Domkloster und einer kleinen Siedlung. Industriestadt. Die Verkehrsanbindung begünstigte ferner Am Nordostrand wurde ab dem 10. Jh. eine Marktsiedlung den Ausbau Münsters zum Militärstandort (begonnen be- angelegt, die später erweitert und ab dem 12. Jh. mit der An- reits mit der Übernahme Westfalens durch Preußen 1816), ins- lage des Prinzipalmarkts und weiteren bogenförmig um den besondere in den 1930er Jahren, der in mehreren großen, Dombezirk angelegten Straßen eine Umorientierung erfuhr. rund um die Stadt angelegten Kasernenanlagen fassbar Gegenüber dem Zugang zum Dombezirk wurde das Rat- wird. Im Westen wurde mit dem Bau der Universitätsklini- haus, an der Stelle zwischen alter und neuer Siedlung die ken und weiterer Krankenhäuser in städtebaulich engem Stadtpfarrkirche St. Lamberti errichtet. Die Stadt war seit Bezug zum Schloss ein neuer Schwerpunkt gesetzt. Für dem 12. Jh. von einer starken Befestigung umgeben, die im die technische Infrastruktur wurden teilweise noch heute 17. Jh. auf der Westseite zugunsten einer Zitadelle aufgebro- prägende Einrichtungen der Ver- und Entsorgung geschaf- chen und nach der Entfestigung 1764 ff. zu einer Promenade fen (Wassergewinnung in der Hohen Ward; Wasserturm auf umgestaltet wurde. Diese bildete bis 1875 die Stadtgrenze. der Geist; Hauptpumpwerk an der Gartenstraße; Entsorgung

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Münster, Aasee  Foto: LWL/H. Kalle

auf den Rieselfeldern; Gaswerk). Mit der Anlage des Aasees großen Kaufhäusern, dem neuen Stadthaus, Schulen und Ende der 1920er Jahre (Erweiterung in den 1980er Jahren) insbesondere den Universitätsbauten für die Rechts- und entstand zur Klimaverbesserung der Innenstadt eine un- Geisteswissenschaften fortgesetzt. Es gibt auch bedeuten- mittelbar an sie heranreichende Naherholungszone, die de Beispiele einer konsequent modernen Architektur (Thea- dem schon Ende des 19. Jahrhunderts angelegten Zen- ter, Iduna-Hochhaus, Stadtbücherei). Der Wiederaufbau, lan- tralfriedhof benachbart ist und welche die auffälligste, aber ge Zeit eher kritisch gewertet, gilt heute als eine der großen nicht die einzige Verbindung von innerstädtischer Bebau- Leistungen des Städtebaus der Nachkriegszeit. 158 ung zur freien Landschaft bildet. Eine einzigartige Bebau- ung liegt an den Ufern der Werse: die ursprünglichen Wo- Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche vorhan- chenendhäuser dienten nach 1945 teilweise als Notunter- dene Wohnviertel verdichtet, erweitert und neue angelegt. künfte und sind heute vielfach ständige Wohnsitze. Diese sind meist nach dem Prinzip der aufgelockerten und durchgrünten Stadt geplant und teilweise von großer Um den Durchgangsverkehr von der Innenstadt fernzu- städtebaulicher Qualität (Schmittingheide, Pötterhoek, Aa- halten, wurde ab 1903 eine breite, aber bis heute nicht seestadt). Die Wohnbebauung griff auch auf weiter vom ganz geschlossene Ringstraße angelegt, an der insbeson- Stadtkern entfernte Dörfer und Bauerschaften aus, deren dere im östlichen Abschnitt aufwändige öffentliche und pri- jüngere Erweiterungen immer näher an die Kernstadt he- vate Bauten entstanden. ranrücken (Gievenbeck). Mit Coerde, Berg Fidel und Kin- derhaus entstanden neu angelegte Stadtteile vor der Vor der ca. 90-prozentigen Zerstörung im Zweiten Welt- Stadt, von denen die beiden letzten eine stark verdichtete krieg war das Stadtbild geprägt vom Dom, den mittelalterli- Bebauung mit gestaffelten, bis zu 20 Stockwerke hohen chen und barocken Stadtpfarrkirchen, Stiftskirchen, den Geschossbauten aufweisen. Fast alle neuen Wohngebiete zahlreichen Klöstern mit ihren Kirchen und Kapellen, die erhielten eigene, teilweise bemerkenswerte Kirchen und sämtlich 1803 aufgehoben worden waren, dem Rathaus, Schulen. Im Westen wurde in der Nachbarschaft der be- den großen Kaufmannshäusern, zahlreichen barocken stehenden, später um die Bettentürme erweiterten Univer- Adelshöfen sowie einem Gemenge von kleineren Bürger- sitätskliniken das naturwissenschaftliche Zentrum angelegt häusern, Gademen und Werkstätten. Im 19. und frühen und mit Studentenheimen, einem vielfach von Universitäts- 20. Jh. waren etliche, meist stadtbildprägende Großbau- angehörigen bewohnten Viertel und einem Technologiehof ten entstanden, darunter das Stadthaus, Kasernen, Wohn- die „Universitätsstadt“ erweitert. Für die ehemals innerhalb und Geschäftshäuser, Schulen sowie die öffentlichen Bau- der Ringstraßen befindlichen zentralen Verwaltungen und ten am Domplatz. Die ausnahmslos im Zweiten Weltkrieg Versicherungen wurden ab den 1970er Jahren mit dem beschädigten Kirchen, der Dom sowie das Rat- und das Zentrum Nord und dem Gewerbe- und Verwaltungsstand- Stadtweinhaus sowie einige Adelshöfe wurden nach 1945 ort Mecklenbeck neue Standorte mit z.T. bemerkenswerten rekonstruierend wiederaufgebaut, die Kaufmannshäuser Bauten geschaffen. der Bogenstraßen auf alten Parzellen in Anlehnung an die alte Fassadengestaltung unter Beibehaltung der Bogen- Die seit 1816 zum Landkreis Münster und anderen um- gänge neu errichtet. Die schon vor 1945 festzustellende liegenden Landkreisen gehörenden, 1975 eingemeinde- Entwicklung zu großflächigeren Bauten wurde danach mit ten Vororte rund um die Kernstadt hatten bis um 1950

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland 6.2

noch weitgehend ihre dörfliche oder bauerschaftliche, im Ackerflächen erheblich zurückgegangen. Auch die früheren Fall des alten Wigbolds Wolbeck, ihre kleinstädtische Parzellenstrukturen sind dabei häufig verändert worden. Struktur bewahrt, gerieten aber zunehmend in den Ein- flussbereich der Großstadt und wurden zu „Trabanten“, Seit Mitte des letzten Jahrhunderts ist zur Beschrei- deren Bebauung aufgrund der Wohnungsbaupolitik (Ein- bung des Kernmünsterlandes der Begriff der „Münster- familienhaus) und der Gewerbeansiedlung einen Großteil länder Parklandschaft“ stark verbreitet. In den letzten der ursprünglich freien Fläche bedeckt. Die ursprünglich Jahren wurde er häufig auch auf das gesamte Münster- weniger dicht bebauten Zentren um die Kirchen wurden land angewandt. Die Kombination der einzelnen Ele- durch zusätzliche Bauten „verstädtert“. Sie bilden heute mente und ihre Anordnung in der Landschaft lassen einen stark heterogenen Mittelpunkt, in dem die teils mit- diesen parkartigen Eindruck entstehen, der besonders telalterlichen Kirchen sowie einige, teils noch in Fachwerk typisch für diesen Landschaftsraum ist. Heute wird das gebaute Häuser erkennen lassen, dass die Orte alte Dör- Landschaftsbild geprägt durch die landwirtschaftliche fer gewesen sein müssen. Wolbeck hat als einziger die- Nutzung, einen geringen Waldanteil und eine, im Ver- ser Stadtteile noch einen größeren Teil seiner ursprüngli- gleich zu den beiden benachbarten Kulturlandschaften che Struktur bewahrt. des Münsterlandes, deutlich reduzierte Heckendichte. Die relativ kleinen Waldflächen sind in der Landschaft eingestreut. Zusammen mit den Hecken bilden sie die Kulturlandschaftscharakter Kulisse für immer wieder neue, relativ weite Blickbezie- hungen auf große, einzeln stehende Hofstellen mit Hof- In den Karten der preußischen Uraufnahme um 1840 ist bäumen, hofnahem Grünland oder Obstweiden, auf schon deutlich die Landschaftsstruktur zu erkennen, die Fluss- und Bachniederungen mit Ufergehölzen, Wiesen auch heute noch weitgehend das Erscheinungsbild prägt. und Weiden. Auf den Sandinseln befanden sich vereinzelt auch im Kern- münsterland kleinere Heideflächen, die der Plaggennut- Größere Waldflächen prägen die hügeligen Bereiche wie zung dienten. Sie sind jedoch heute in der Landschaft die Baumberge, die Beckumer Berge oder den Schöppin- nicht wiederzufinden. ger Berg. Die mächtigen Buchenwälder auf dem kalkhalti- gen Untergrund sind von den landwirtschaftlich genutzten Die Waldflächen waren bereits deutlich auf unter 20 % An- Hochebenen auf die Hänge verdrängt worden. Bevorzugte teil reduziert. Die Niederungen wurden als Grünland bewirt- Siedlungsstandorte in den hügeligen Landschaftsteilen schaftet. Die relativ fruchtbaren Böden wurden traditionell wie den Baumbergen sind besonders Taleinschnitte und ackerbaulich genutzt, wenn auch die Bearbeitung in den Hangfußlagen mit Quellen. 159 feuchten Jahreszeiten beschwerlich war. Die Ackerflächen waren als unregelmäßig geformte Kampfluren mit Wallhe- In der Kulturlandschaft überwiegt heute noch die Streusied- cken voneinander abgegrenzt. Insgesamt ist jedoch die He- lung. Randlich zum Westmünsterland und im Raum Senden- ckendichte, insbesondere der Wallhecken, durch Flurbereini- horst und Warendorf sind häufig sog. Drubbel anzutreffen, gungsmaßnahmen und durch private Zusammenlegung von wo fünf bis zehn Hofstellen in enger Nachbarschaft zusam-

Haus Rüschhaus mit Gräfte  Foto: LWL/H. Kalle kap_6_2_kl_05.qxp 18.10.2007 13:54 Seite 160

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland

menstehen. Ein typisches Element des Kernmünsterlandes Haus Vorhelm bei Ahlen, Haus Vornholz in Ennigerloh-Osten- sind die Gräftenhöfe, die hier besonders häufig vorkommen. felde) oder der Landschaft (Haus Brückhausen in Everswin- kel-Alverskirchen) wurden. Sie reichen von großformatigen Mittelpunkt der Bauernhöfe wie auch der meisten adeli- Anlagen der frühen Neuzeit (z.B. Haus Borg bei Drenstein- gen/grundherrlichen Betriebe waren Längsdielenhäuser furt-Rinkerode, ehem. Haus Geist bei Oelde, Haus Assen und aus Fachwerk. Die ältesten erhaltenen Beispiele reichen in Haus Crassenstein bei Wadersloh) und barocken Schlössern Resten bis in das 16. Jh. zurück, doch stammt die erste (Haus Diek in Ennigerloh-Ostenfelde) bis zu kleineren Anla- große „Welle der überlieferten Substanz“ aus einer land- gen (etwa Haus Pustekrey bei Ahlen), die gelegentlich eher wirtschaftlichen Blüte zwischen 1750 und 1820. Unter dem großen Bauernhöfen glichen (z.B. Haus Langen in Telgte, Einfluss der Baubüros des Bauernvereins und des westfäli- Haus Hoetmar bei Warendorf). Im Unterschied zu den bäuer- schen Heimatbundes wurde nach 1900 unter bewusster lichen Betrieben sind allerdings zumindest die Hauptge- Aufnahme der münsterländer Barockarchitektur eine neue bäude in der Regel massiv aufgeführt, während die regel- Bauernhofarchitektur (etwa Bauerschaft Berdel bei Telgte) mäßig vorhandenen und auf getrennt umgräfteteten Vor- entwickelt, die hinsichtlich Hof- und Hausform sowie Kon- burgen platzierten Wirtschaftsgebäude (Scheunen und struktion (Betonbau seit 1905) zu völlig neuen Hoftypen Stallbauten sowie Speicher, Mühlen) oft Fachwerkwände ha- führte, die dennoch als typisch münsterländisch-westfä- ben. Parkanlagen sind vermehrt seit dem 18. Jh. geschaf- lisch verstanden werden. Insbesondere im Raum Dülmen fen worden und prägen ebenso wie die zumeist vorhande- und in den Baumbergen sind zahlreiche beeindruckende nen Zufahrtswege mit ihrem alten Baumbestand das Land- Beispiele vorhanden. schaftsbild. Für die Architekturgeschichte von besonde- rem Interesse sind außer den bereits genannten u.a. Während alle ländlichen Bauten bis ins 18. Jh. in der Re- Schloss Westerwinkel (Ascheberg-Herbern) als symme- gel Strohdächer aufwiesen, kam danach die Eindeckung trisch angelegte frühbarocke Anlage sowie das nach nie- mit roten, später im südöstlichen Teil der Kulturlandschaft derländisch-französischen Schema im frühen 18. Jh. be- auch mit schwarzen Pfannen auf. Die Umfassungswände gonnene Schloss Nordkirchen, das durch Ergänzungs- waren bis ins 18. Jh. zumeist mit Lehmflechtwerk ver- bauten des frühen 20. Jahrhunderts zum „Westfälischen schlossen, danach mit Backstein ausgemauert und wur- Versailles“ wurde. den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend mas- siv aus Backstein aufgeführt, der aus den vielen zu dieser In Oelde-Stromberg sind mit dem großen Torturm, den Zeit entstehenden örtlichen Ziegeleien stammte. Hierbei teilweise erhaltenen Festungsmauern und der der Wallfahrt können die Farben je nach den zur Verfügung stehenden dienenden, architektonisch bedeutenden Burgkapelle des 160 Tonen, Brennstoffen und -weisen zwischen tiefroten und 14. Jahrhunderts noch weit in die Geschichte zurückrei- gelben Steinen variieren, seit 1899 ergänzt durch die wei- chende Zeugen der dem Bischof von Münster als Land- ßen Kalksandsteine. Im Bereich der Baumberge sind zahl- herren gehörenden Burg erhalten, die bis 1803 Sitz einer reiche ältere Hofgebäude nach 1850 im Baumberger Amtsverwaltung blieb. Werkstein erneuert worden. Die Bausubstanz der mittelalterlichen Klöster und Stifte Die auf den Hofstellen vorhandenen landwirtschaftlichen ist in unterschiedlichem Maß kulturlandschaftsprägend er- Nebengebäude und verschiedenen Zweckbauten sind von halten. Das Stift Freckenhorst (Warendorf-), dessen Stiftskir- den regional und in den Zeiten wechselnden Schwerpunk- che in der Kernsubstanz noch bis in das 11. Jh. zurück- ten der landwirtschaftlichen Produktion bestimmt: Vom geht, gehört zu den bedeutenden Großbauten Westfalens. Getreideanbau, der im größeren Umfang auf die wenigen Von den Klöstern und Stiften des ländlichen Raumes ist Regionen mit reicheren Böden beschränkt blieb, zeugen neben Freckenhorst, Hohenholte, Varlar und Vinnenberg die oft großformatigen Speicherbauten, die zu einem der auch Nottuln mit barocken Natursteinbauten nach einem zentralen Statussymbole der Bauern wurden (siehe etwa Großbrand von 1748 Kern einer gewachsener Siedlung. den reichen, bis in das 16. Jh. zurückreichenden Bestand in Als Neugründung entstand 1899 das Benediktinerkloster den Gemeinden Altenberge und Nottuln). Der Aufschwung Gerleve (Billerbeck), das in den 1930er Jahren auf bedeu- des Getreideanbaus aufgrund guter Absatzmöglichkeiten tende Weise verändert wurde; Kloster Annenthal in Coes- und verbesserter Anbaumethoden im späten 19. Jh. doku- feld ist die einzige neu entstandene Klosteranlage der Kul- mentiert sich in der großen Zahl an Neubauten von Wirt- turlandschaft „Kernmünsterland“ nach 1945. Erwähnens- schaftsgebäuden, insbesondere der großformatigen Ernte- wert sind auch die häufig auf bäuerliche Stiftungen des bzw. Kornscheunen. späten 19. Jahrhunderts zurückgehenden sozialen Einrich- tungen für schwer erziehbare Jugendliche oder Behinderte Von der bis ins 19. Jh. bedeutenden Schafhaltung zeu- (Haus Hall/Coesfeld; Tilbeck/Havixbeck), zu denen zum Teil gen noch vereinzelt erhaltene, in ihrer Form charakteristi- charakteristische, landschaftsprägende Bauten gehören. sche Schafscheunen. Sie sind oft abgerückt von den ei- gentlichen Hofstätten und blieben lange reine Holzbauten. In der überwiegend ebenen Kulturlandschaft „Kern- münsterland“ sind die Türme der (Pfarr)kirchen weithin Vielfältig und zahlreich sind die überlieferten Formen der sichtbare Zeichen. In den Städten sind die Kirchen zu- durchgängig umgräfteten Sitze des Adels, die teilweise meist mehrschiffige und in der Regel im Spätmittelalter prägende Elemente der Ortsbilder (Haus Drensteinfurt oder erneuerte Großbauten, während die Pfarrkirchen der

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland 6.2

Münster, Luftbild  Foto: Lothar Kürten © LWL-Medienzentrum für Westfalen

161 Dörfer in der Regel einschiffige Bauten blieben. Ihre Tür- Mit Ausnahme des Hohlwegs bei Darup sind keine We- me sind oft noch aus romanischer Zeit und gehören da- ge oder Straßen mit historischen Erscheinungsbild erhal- mit zu den ältesten erhaltenen Bauten der Region. Die ten. Von den nach 1870 angelegten Eisenbahnanlagen überwiegende Zahl der vormodernen Kirchen sind Hal- sind vor allem Bahnhofsgebäude in kleineren Gemeinden lenkirchen des Mittelalters. Ein frühes Beispiel ist die Jo- denkmalwert, vom 1899 eröffneten Dortmund-Ems-Kanal hanniskirche in Billerbeck (1234 ff.), ein spätes die Pfarr- Teile der Alten Fahrt mit den Überführungs-, Brückenbau- kirche in Ascheberg (frühes 16. Jh.). werken und Dammlagen im Gebiet der Städte Olfen, Lü- dinghausen, Münster (Überführung über die Ems in Gelmer) Nach dem Kulturkampf und infolge der Prosperität auf und Senden. Die Bedeutung des Hafens von Münster als dem Land entstand seit den 1870er Jahren in den Kirch- Umschlagplatz für Getreide wird heute durch zwei Spei- dörfern und teilweise auch in den Bauerschaften eine chergebäude dokumentiert. große Anzahl historistischer Kirchen mit politisch-de- monstrativ besonders hohen Türmen, durch die in vielen Fällen ältere Kirchen ersetzt wurden. Erst durch die An- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche siedlung von Ostflüchtlingen nach 1945 kamen in nen- und -elemente nenswerter Zahl evangelische Christen in die Region. Unter den neuen evangelischen Kirchen ist die in Asche- G Die Region Laer-Borghorst-Steinfurt mit dem Schloss berg (Architekt O. Bartning), unter den katholischen, die in Steinfurt dokumentiert die Geschichte einer kleinen Herr- Ennigerloh von besonderer Bedeutung. schaft vom beginnenden Hochmittelalter (KLB 5.01).

An Bauten der Produktion sind in der gesamten Kultur- G Die Baumberger Lössinsel mit den Orten Coesfeld-Bil- landschaft „Kernmünsterland“ zahlreiche vor 1850 erbaute lerbeck-Nottuln ist ein Beispiel für eine frühe Siedlungs- Wasser- und Windmühlen (z.B. bei Steinfurt-Hollich) erhal- kammer des beginnenden Neolithikums. Der hier ge- ten. Von den ehemals zahlreichen Fabriken der im Westen wonnene Sandstein findet sich in vielen herausragen- der Kulturlandschaft ansässigen Textilindustrie aus der Zeit den Gebäuden des Münsterlandes (KLB 5.02). zwischen 1890 und 1920 zeugen dagegen nur noch Bau- ten der Firma Bendix in Dülmen. Wenige Kleinobjekte auf G Entstehung und Entwicklung der Stadt Münster von dem Gebiet von Ascheberg dokumentieren den ehemali- der sächsischen Siedlung bis in die 1960er Jahre sind gen Strontianitabbau. sowohl an den Grundzügen der aus dem Mittelalter

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 5 // Kernmünsterland

überkommenen, in der Neuzeit überformten Struktur der steinzeitliche Großsteingräber in Beckum-Dalmer, frühmit- Kernstadt, der städtebaulichen Anlage von Stadterweite- telalterliches „Fürstengrab von Beckum“) anzutreffen. Ei- rungsgebieten als auch an einem dichten Denkmälerbe- ne gut erforschte Stadtentwicklung seit dem Hochmit- stand anschaulich. Die Beziehungen von zentralem Ort telalter ist ablesbar. und Umfeld in Mittelalter und in der Neuzeit werden be- sonders deutlich. In Wolbeck mit dem Wolbecker Tiergar- G Wichtige Blickbeziehungen weisen von Nordwesten ten als historischem Jagdgebiet sind Entstehung und auf die Stadt Münster, von Süden auf Stromberg und Entwicklung von der bischöflichen Landesburg über eine von Südosten auf Warendorf-Freckenhorst. stadtähnliche Siedlung minderen Rechts (Wigbold) mit Adelssitz bis zur Vorstadt Münsters erkennbar (KLB 5.03). G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- dere als Bodenarchiv, sind Ahlen, Beckum, Billerbeck, G Der Dülmener Flachrücken weist Relikte der hochmittelal- Burgsteinfurt, Drensteinfurt, Dülmen, Freckenhorst, Ge- terlichen Ackerformen, insbesondere verschiedene For- men, Horstmar, Lüdinghausen, Münster, Oelde, Olfen, men der Eschnutzung und -besiedlung auf (KLB 5.04). Schöppingen, Sendenhorst und Wolbeck.

G Durch den fortschreitenden Sandabbau in der Region ist mit der weiteren Vernichtung von archäologischer Leitbilder und Ziele Substanz zu rechnen. Daher ist bei Planungsverfahren für Rohmaterialgewinnungsprojekte ein möglichst G Mit dem Begriff „Münsterländer Parklandschaft“ wird schonender Umgang mit archäologischen Bodendenk- allgemein ein parkähnliches, bewusst gestaltetes Land- mälern und anderen kulturellen Hinterlassenschaften in schaftsbild verbunden. Obwohl die Kulturlandschaft ihrer Landschaft einzufordern. des Kernmünsterlandes sich in der Vergangenheit eher aus den Rahmenbedingungen Landwirtschaft ergeben G Die Bulderner Platte des Kernmünsterlandes und Lü- hat, sollte bei weiteren Entwicklungen das Idealbild der dinghausen mit seinen drei Burgen als politisch er- Parklandschaft als Leitbild dienen. Dies bedeutet, dass zwungene Minderstadt sind Zeugnisse für die mittelal- eine Balance gewahrt bleiben muss zwischen den wei- terliche Kulturlandschaftsentwicklung (KLB 5.05). ten, offenen Blickbeziehungen und der Vielfalt und Na- turnähe der Landschaft. Das Idealbild, das an die Ge- G Im Raum Nordkirchen/Herbern ist die Entstehung und staltwerte der englischen Landschaftsgärten angelehnt Entwicklung der Siedlung unter dem Aspekt feudaler ist, eröffnet einer intensiven Landwirtschaft gute Entfal- 162 Herrschaft mit den unterschiedlichen Land- und Land- tungsmöglichkeiten auch größere Flächen zu bewirt- nutzungsformen durch Adel, Bauern und Bürger be- schaften, wenn gleichzeitig ausreichend viele naturna- sonders anschaulich. Schloss Nordkirchen ist als größ- he Elemente vorhanden sind, die den Raum strukturie- tes Wasserschloss des Münsterlandes eingebettet in ren und gliedern. weit in die Landschaft strahlende Garten- und Parkflä- chen (KLB 5.06). G Weil das Münsterland insgesamt eher flachwellig ist, entwickeln die hügeligen Bereiche eine besondere G Die ehemalige bedeutende landesherrliche Burg in Fernwirkung. So können technische Maßnahmen, z.B. Oelde-Stromberg war bis ins 19. Jh. ein regionaler Ver- Windkraftnutzung oder Richtfunkmasten auf den Baum- waltungsmittelpunkt. Eine vielfältige archäologische bergen, den Beckumer Bergen und dem Schöppinger Fundlandschaft von der mittleren Steinzeit bis ins Früh- Berg, weit über das Kernmünsterland hinaus wirken. mittelalter sowie Spuren der mittelalterlichen Grenzsi- cherung des Fürstbistums Münster nach Osten sind G Wichtiges Ziel der Bodendenkmalpflege ist der Erhalt hier belegt (KLB 5.07). von landschaftsprägenden obertägigen Bodendenkmä- lern wie Wallburgen, Landwehren oder Kanälen. Kon- G Der Max-Clemens-Kanal zwischen Münster und Maxha- fliktpotentiale sind im Zusammenhang mit der intensi- fen ist ein Zeugnis des größten Wasserbauprojekts ven Landwirtschaft auf besseren Böden wie Löss zu se- Westfalens im Zeitalter des Absolutismus. hen. Weiterhin führt die Bodennutzung zur Erosion, die u.a. die wenigen Spuren der ersten Bauernkulturen in G Drensteinfurt und Sendenhorst haben noch heute Re- hohem Maße gefährdet. Außerdem drohen durch die likte eines gut erhaltenen Landwehrsystems mit er- Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie massive kennbarer überörtlicher Planung. Eingriffe in archäologisch sensible Bereiche in den Nie- derungen der kleineren Flüsse wie Stever oder Werse. G Der Raum Lünen-Hamm-Lippetal weist Fundstellen der jüngeren Eisenzeit und der frühen Kaiserzeit im Lippe- G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, bereich sowie die Lippe als Grenzfluss zwischen Müns- Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ter und Mark auf. ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Eine reiche vor- und frühgeschichtliche Fundlandschaft ist in Beckum und den Beckumer Bergen (u.a. jung-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 6 // Ostmünsterland 6.2

Kulturlandschaft 6 // Ostmünsterland turlandschaften „Tecklenburger Land“ und „Ravensberger Land“, die durch den zu Niedersachsen gehörenden Land- kreis Osnabrück getrennt sind. Territorial- und religionsge- Lage und Abgrenzung schichtlich ist Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ dagegen recht uneinheitlich strukturiert. Die Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ umfasst die östli- chen Ortsteile der Stadt Münster als Oberzentrum, Teile Naturräumliche Voraussetzungen der Kreise Steinfurt und Warendorf sowie den größeren Teil des Kreises Gütersloh. Längs der Vechte, der Steinfurter Aa, der Ems und entlang der aus dem Teutoburger Wald zufließenden Bäche wird die Für die Abgrenzung der Kulturlandschaft „Ostmünster- Landschaft geprägt von einem Mosaik sandiger, feuchter land“ sind primär naturräumliche Voraussetzungen und in Böden in den Niederungen und Senken und trockenen Bö- deren Folge ähnliche wirtschaftliche Entwicklungen ent- den in den höheren Lagen. Diese unterschiedlichen Stand- scheidend. ortbedingungen lassen sich noch heute in der Landschaft deutlich anhand der Vegetation ablesen. Der Kamm des Das östliche Sandmünsterland umfasst die Niederungen Teutoburger Waldes ist fast durchgängig bewaldet. der Ems und den Landsschaftraum bis zum Teutoburger Wald und endet im Südosten mit der Gütersloher Sand- Die Ems, die in der Senne entspringt, windet sich in einer ebene. Die nördliche bzw. östliche Grenze bildet der Hö- bis 1.000 m breiten Aue durch die Kulturlandschaft. Sie wird henkamm des Teutoburger Waldes. in der Niederung begleitet von umfangreichen Flussdünen, die heute die letzten Standorte der früher weit verbreiteten Die Landschaften beiderseits der Ems und ihrer Zuflüsse Heideflächen sind. Überwiegend sind diese Binnendünen werden zum so genannten Sandmünsterland gezählt, da mit Kiefern und trockenen Eichenwäldern bewaldet. sie von großen Sandablagerungen bestimmt und wenig fruchtbar sind. Diese Kulturlandschaft ist damit nach Sü- Die Niedermoore werden häufig als Grünland genutzt, den und Südwesten naturräumlich ebenso deutlich gegen während die eher kleinflächigen Hochmoore im Ostmüns- das fruchtbare Kern- oder Kleimünsterland (Kulturlandschaft terland vollkommen verschwunden sind. „Kernmünsterland“) abgegrenzt wie durch den Höhenzug des Teutoburger Waldes von den nördlich anschließenden Der tiefste Punkt liegt nördlich von Kloster Bentlage bei Kulturlandschaften. Im westfälischen Teil sind dies die Kul- Rheine (32 m ü. NN), der höchste Punkt auf dem Westerb- 163

Bei Telgte Foto: LWL/U. Woltering 

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ecker Berg als Teil des Teutoburger Waldes in der Gemein- Südhanges des Teutoburger Waldes wurden als Eschflä- de Lienen (234 m ü. NN). che bewirtschaftet.

Geschichtliche Entwicklung Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Heideflächen im Rahmen der Markenteilung aufgeteilt und waren zum Ende Die archäologische Fundlandschaft Ostmünsterland/Ems des Jahrhunderts überwiegend mit Kiefern aufgeforstet. Die umfasst die Flussaue und die beiderseits begleitenden feuchteren Heidestandorte und Moore wurden in der Regel hochwasserfreien Uferterrassen der Ems und ihrer Neben- erst im 20. Jh. zu Grünland umgewandelt. Mit den verbes- flüsse. Die Besiedlung der Emsniederung seit dem Mittelpa- serten Möglichkeiten der Landbewirtschaftung wurden in läolithikum belegen archäologische Funde aus Baggerseen den 60er bis 80er Jahren des 20. Jahrhunderts große Flä- und Sandgruben. Zusätzlich bieten die Torfablagerungen chen entwässert und von Grünland zu Ackerflächen umge- der heute verlandeten Flussaltarme ein wichtiges Archiv zur wandelt. Auch die Kiefernwälder auf den trockenen Stand- Landschaftsgeschichte. Die Emsterrassen sind zu allen Zei- orten gingen im 20. Jh. bis auf einige Relikte zurück. ten der Ur- und Frühgeschichte ein dicht besiedelter Raum gewesen. So treten hier Fundstellen in einem Abstand von Mit der Markenteilung waren die neuen Eigentümer der 100 bis 300 m entlang des Flusses auf. Kennzeichnend Flächen auch gezwungen, ihre Flächen zu teilen und zu sind zum einen ausgedehnte Schlüssellochgräberfelder aus schützen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich deshalb der Jüngeren Bronzezeit (sog. Ems-Gruppe der Jungbronze- ein dichtes Netz von Hecken über das Ostmünsterland ge- zeit). Zum anderen finden sich entlang der Ems sehr große legt. Heckenarm bzw. heckenfrei blieben nur die rein acker- eisenzeitliche und frühmittelalterliche Siedlungen. baulich genutzten Eschlagen wie z.B. die offenen Flächen des Südhanges des Teutoburger Waldes oder zunächst Die Altarmlandschaft der Ems und ein ausgeprägtes Dü- von der Markenteilung wegen ihrer Unfruchtbarkeit ausge- nengebiet stellen im Nordwesten der Kulturlandschaft sparten Heide- oder Moorflächen. Viele Hecken wurden im „Ostmünsterland“ ein für Naturschutz und Bodendenkmal- Rahmen von Flurbereinigungen in den 1960er bis 80er Jah- pflege gleichermaßen wichtiges Areal dar. Hier besteht ein ren wieder beseitigt. Ingesamt hat die Heckendichte in den Bodenarchiv, das Antworten auf vielfältige Fragestellungen letzten Jahrzehnten erheblich abgenommen. zum Themenbereich „prähistorischer Mensch und Um- welt“ bereit hält und in Zusammenarbeit von Archäologen, Die Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ ist durch Streu- Archäobotanikern, Geologen etc. erschlossen werden und Drubbelsiedlung geprägt. Die Bewirtschaftung durch kann. Die bisher bekannten Fundstellen füllen einen Zeit- einzeln gelegene, nicht in Dörfern zusammengefasste Hö- 164 rahmen von der mittleren Steinzeit bis in die Römische fe hat sich im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts heraus- Kaiserzeit. Besonders hervorzuheben sind obertägig erhal- gebildet und löste ältere Siedlungsformen auf den trocke- tene Grabhügel und ein ausgedehnter Urnenfriedhof der nen Sandböden und in der Nähe von Wasserläufen ab. Bronze- und Eisenzeit. Mehrere Eschsiedlungen und/oder eine Vielzahl von Hö- In der Südosthälfte dieser Kulturlandschaft schuf eine ka- fen bildeten gemeinsam ein Kirchspiel, das eine oft bis zu rolingische Pfarrkirche auf einem bischöflichen Haupthof die 10 km entfernt liegende Pfarrkirche unterhielt. Um die in Voraussetzung für die Entstehung der Stadt Warendorf, die der Regel auf einem Haupthof gegründeten, einsam in der im ausgehenden Mittelalter die politisch und wirtschaftlich Feldflur gelegenen und zudem zumeist als Rückzugsort in bedeutendste Stadt des östlichen Münsterlandes gewesen unruhigen Zeiten gesicherten Kirchen mit einem daneben ist. Ihre Umlandbildung wurde bereits in archäologischen liegenden Pfarrhof entstanden erst im Laufe der letzten Studien untersucht, insbesondere auch die Abgrenzung Jahrhunderte dichtere Siedlungen. Sie wurden bestimmt zum ebenso alten Stiftsort Freckenhorst. Von alters her durch Speichergebäude, kleine Handwerkerhäuser und ei- durch eine wichtige Straße verbunden, bestanden zwischen ne Schule am Kirchhof sowie Gasthäuser und weitere Ge- beiden Orten von ihrer Gründung an vielfältige Beziehungen. werbe an den Hauptstraßen (z.B. Greffen, Gütersloh, Halle, Langenhorst, Lengerich). Nach umfangreichen mittelalterlichen Rodungen herrschte spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg ein Eingestreut lagen – ebenfalls vom Betrieb der Landwirt- deutlicher Holzmangel im Münsterland. Durch die Über- schaft abhängend – die geistlichen und adeligen Nieder- nutzung der Wälder in den Markungen durch Streurechen, lassungen. Die Damenkonvente Borghorst und Langen- Viehweide und Plaggennutzung entwickelten sich große horst im Westen waren mit Gründung im 9. oder 10. Jh. Ödlandflächen mit Sandverwehungen und Heide. Auch die ältesten. Im 12. Jh. kamen Frauen- und Männerklöster Teile des Teutoburger Waldes wie z.B. zwischen Bevergern der Augustiner, Benediktiner, Prämonstratenser und – oft- und Lengerich waren weitgehend entwaldet. mals erst im 17. Jh. – Klöster der Franziskaner und Kapuzi- ner in den Städten hinzu. Bis ins 19. Jh. waren weite Teile des Ostmünsterlandes Ödland oder mit genossenschaftlich genutzten Heideflä- Die Städte als zentrale Orte hatten sich zum größeren chen bedeckt, die einerseits der Schafhaltung dienten und Teil bis zum Ende des 13. Jahrhunderts herausgebildet. Ih- andererseits zur Gewinnung von Heideplaggen für die re Hauptfunktion bestand in der bis in die Mitte des 20. Düngung der Eschflächen benötigt wurden. Auch Teile des Jahrhunderts weitgehend durch die Landwirtschaft ge-

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prägten Kulturlandschaft im Verkauf der Produkte des Lan- Im Westen finanzierte hauptsächlich niederländisches Ka- des (Wolltuch und Leinen, Getreide, Bier, Käse) und der Ver- pital den Sprung vom Heimgewerbe zur Textilindustrie: sorgung der ländlichen Bevölkerung. Seit 1850 wurden z.B. Emsdetten, Greven und Rheine zu bedeutenden Textilstandorten entwickelt. Wegen der guten und vielfältigen Überlieferung ist heute im östlichen Teil die Kreisstadt Warendorf von exemplari- Im mittleren Teil der Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ scher Bedeutung für eine größere Stadt des Mittelalters, da schloss sich die schleppende Industrialisierung traditionel- sich hier nicht nur für alle Bauformen und alle Zeiten vielfäl- len Erwerbsfeldern und Produktionsformen an und ließ We- tige Beispiele erhalten haben, sondern die Stadt auch noch bereien, Landmaschinen-, Wurst- oder Federbettenfabriken ihre vorindustrielle Struktur mit Straßenraster, Verteilung der entstehen. Sie führten in den Städten zu einem mäßigen Grundstücke, Umwallung und Landwehr erhalten hat. Bevölkerungswachstum (Warendorf, Telgte), konnten aber auf dem Lande die örtlichen Strukturen der zuvor nur klei- Die Stadt Telgte verkörpert in ihrer überlieferten Bausub- nen Dörfer durch den Zuzug zahlreicher Arbeitskräfte mit stanz und ihrem Grundriss exemplarisch eine westfälische ihren Familien auch weitgehend überformen (Sassenberg). Kleinstadt. In Rheine zeigen sich die älteren und oft stei- Im Osten gab der Ausbau der überregionalen Ost-West-Ver- nernen Häuser heute – beispielhaft am Markt und an der bindungen (Chaussee und Eisenbahnlinie Köln-Minden) ent- Marktstraße – nach Beschädigungen in den verschiedenen scheidende Impulse, insbesondere für Gütersloh. Hier sind Kriegen größtenteils in Überformungen des 17. bis 20. einige Betriebe aus gewerblichen Anfängen (Landmaschi- Jahrhunderts. In Lengerich dominieren die von Selbstver- nen, Haushaltsgeräte, Werkzeugmaschinen, Holzverarbeitung sorgungslandwirtschaft geprägten Längsdielenhäuser des und Möbelanfertigung, Fleischwaren, Spirituosen) zu multina- 17. und 18. Jahrhunderts, in Lienen dagegen die zumeist tional agierenden Unternehmen aufgestiegen. massiven, traufenständigen Wohnhäuser der Textilhändler seit dem ausgehenden 18. Jh. bis hin zu dem monumenta- Mit dem Einsetzen der Industrialisierung griff die Bebau- len Bau der „Legge“. Im Osten zeigen Wiedenbrück und ung der Textilorte Rheine, Emsdetten und Greven mit auf- Rheda eine überdurchschnittlich gut erhaltene Substanz wändigen Fabrikantenvillen in das Umland aus. Gleichzei- an Fachwerkbauten seit dem 16. Jh., wobei der Schmuck tig entstanden Wohnungen für die Belegschaft. der Dielentorgestelle in den straßenseitigen Giebelwänden im reformierten Rheda etwas bescheidener ausfällt als im Im übrigen Gebiet der Kulturlandschaft „Ostmünster- wenig entfernten katholischen Wiedenbrück. land“ sind planmäßige, durch den industriellen Auf- schwung und den Bevölkerungszuwachs erforderliche Um 1400 hatten sich in langen Auseinandersetzungen Stadterweiterungen hauptsächlich in Gütersloh (Thesings 165 die Territorien, an denen die Kulturlandschaft „Ostmünster- Allee, Hohenzollernstraße und angrenzende Straßenzüge) er- land“ Anteil hat, herausgebildet und, von kleineren Grenz- folgt; meist schob sich die Bebauung in wilhelminischer streitigkeiten abgesehen, bis in die Zeit um 1800 Bestand. Zeit entlang der Hauptstraßen stadtauswärts. Es waren dies die geistlichen Fürstbistümer Münster mit dem größten Anteil sowie Osnabrück als Landesherrschaft Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand zur Entlastung über das Amt Reckenberg. Die Grafschaft Ravensberg ge- des nördlich des Teutoburger Waldes gelegenen Biele- langte 1609 an Brandenburg-Preußen. Die Herrschaft Rhe- felds 1956 auf dem Gebiet der damaligen Gemeinde Sen- da gehörte seit dem späten 14. Jh. zu Tecklenburg. Die ne II die 1965 zur Stadt erhobene „Sennestadt” als (neben Grafen von Bentheim-Tecklenburg-Rheda als Landesher- Espelkamp und der Neuen Stadt Wulfen) eine der drei Neu- ren verkauften die Grafschaft Tecklenburg 1707 an Preu- gründungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ßen, hielten jedoch die Herrschaft Rheda in Besitz. Im Zu- Westfalen. Ebenfalls seit den „Wirtschaftswunderjahren“ ge der Reformation wurden in Ravensberg die lutherische, geriet eine breite, ringförmige Zone zunehmend in den in Rheda und Tecklenburg die reformierte Kirchenordnung Einflussbereich des Oberzentrums Münster. Die die Land- eingeführt. Alle Territorien wurden 1815 dem Königreich wirtschaft verdrängende Zuwanderung ist inzwischen etwa Preußen zugesprochen. für Greven, Ostbevern und Telgte durch weitreichende Neubaugebiete und den Ausbau einer auf Münster ausge- Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erfasste die richteten Verkehrsinfrastruktur prägend geworden. Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ durch den zögerlichen Ausbau der Infrastruktur (z.B. erst ab 1870 Eisenbahnnetz mit den Linien Rheine-Minden, Münster-Osnabrück, Münster-Gro- Kulturlandschaftscharakter nau, Münster-Rheine, Coesfeld-Rheine und die Teutoburger Wald-Eisenbahn von Sennelager bis Rheine, erst 1887 bzw. Eingerahmt wird die Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ 1899 die Nebenbahnen Münster-Warendorf-Rheda bzw. Lipp- von dem durchgehenden Waldzug auf dem Höhenkamm stadt-Beckum-Warendorf) uneinheitlich. des Teutoburger Waldes, der teilweise bis 25 km weit ins Münsterland sichtbar ist. Auffällig sind die oft sehr schma- In Rheine-Bentlage wurde vom 11. bis zur Mitte des 20. len Parzellen und die früher als Niederwald genutzten Flä- Jahrhunderts in der Saline Gottesgabe Salz gewonnen. chen. Markant ist die deutliche Zäsur im Übergang zu den Anfang des 19. Jahrhunderts entstand eine Gießerei in offenen Ackerflächen am unteren Hang. Der Eschstreifen Gravenhorst. Als Ausgangsprodukt diente Raseneisenerz. ist ca. 1.000 m breit und geht dann in eine stark geglie-

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derte Heckenlandschaft über. In diesem Übergangsbe- ausgeführt. Während alle ländlichen Bauten bis ins 18. Jh. reich sind zahlreiche Höfe angesiedelt. Die Heckenland- in der Regel Strohdächer aufwiesen, kam danach die Einde- schaft umfasst eine Vielzahl kleiner Eschflächen und teil- ckung mit roten, später bisweilen auch mit schwarzen Pfan- weise große zusammenhängende Feuchtwiesenbereiche. nen auf. Die Längsdielenhäuser mit ihren großen giebelseiti- gen Toreinfahrten und verbretterten Giebeldreiecken wur- Die Niederungen der Bäche und Flüsse werden wegen den in den überlieferten Formen oft bis ins frühe 20. Jh. mit ihres hohen Grundwasserstandes als Grünland genutzt. ihren traditionellen Innenstrukturen errichtet und erst allmäh- Die Hofstellen liegen an den Niederungskanten der Ge- lich durch getrennt errichtete Wirtschafts- und Wohnhäuser wässer aufgereiht, und die höher gelegenen Flächen wer- abgelöst. Für die Wohnhäuser dominierte bis in die Zeit den als Ackerflächen genutzt. Auffallend ist im Ostmüns- nach dem Zweiten Weltkrieg der Backsteinbau mit formalen terland, dass sich die sog. Drubbel, also Gruppensiedlun- Anklängen an münsterländische Barockarchitekturen. gen von drei bis zehn Hofstellen, besonders entlang der obengenannten Niederungen belegen lassen. Die großen Höfe umfassen inmitten alten Baumbestandes neben dem Haupthaus – je nach überwiegender Wirt- In Bereich der Heideflächen und Ödländereien war bis schaftsform – oftmals weitere Gebäude: Altenteilerhaus, weit in das 19. Jh. die Schafhaltung über Jahrhunderte von Speicher, Scheune und Schweinestall, manchmal auch hof- zentraler Bedeutung. Mit der Erschließung des Ödlandes eigene Mühlen und Backhäuser sowie Heuerlingshäuser. seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Auf- Diese sind besonders anschaulich erhalten auf einigen gro- hebung der Grundherrschaften wandelte sich das Land- ßen Meier- bzw. Schultenhöfen und Gutsanlagen, wie z.B. schaftsbild entscheidend. Charakteristisch für die Kultur- Gut Schledebrück in Rheda-Wiedenbrück (Herrenhaus, Tor- landschaft „Ostmünsterland“ sind die überwiegend kleine- haus, Kapelle, Pferdestall, Getreidemühle, Brauhaus), Meier Ra- ren Häuser von Köttern und Heuerlingen, die so genann- esfeld in Gütersloh-Blankenhagen (Bauernhaus, Speicher, ten Kotten, die nach und nach die Markenflächen besiedel- Schafstall und Remise), Johannliemke in Verl-Kaunitz (Bauern- ten. Besonders deutlich ablesbar ist dies etwa in der Regi- haus, Backspeicher, Schafstall, Schweinestall, Scheune und on Saerbeck, Lengerich, Hörstel-Riesenbeck. Viele dieser Hühnerstall). Von der bis ins 19. Jh. bedeutenden Schafhal- Kötterstellen werden heute zu Wohnzwecken genutzt. tung zeugen noch vereinzelt erhaltene, in ihrer Form charak- teristische Schafscheunen. Sie sind oft abgerückt von den Neben den Einzelhöfen und Hecken sind noch heute die eigentlichen Hofstätten gestellt und blieben lange reine verstreut liegenden vielen kleinen Waldflächen für das viel- Holzbauten. Der erhaltene Bestand besteht vor allem aus fältige Erscheinungsbild der Kulturlandschaft „Ostmünster- Beispielen des 18. Jahrhunderts, aus dem nur wenige ältere 166 land“ verantwortlich. Die früheren Heide- und Ödlandflä- Großbauten (wie etwa Schulze Dernebockholt bei Albersloh) chen sind anhand von regelmäßigen, geradlinigen Wege- herausragen. Bis zur Melioration und Aufteilung der Heiden beziehungen häufig noch gut nachvollziehbar. Auch ein- existierten Bienenweiden und damit gehörten Bienenhäus- zelne Kiefernwälder sind noch Relikte dieser Zeit. Die in chen ebenso zum Bauprogramm der Höfe wie Bleichhäuser den letzten Jahren wieder vernässten Feuchtwiesen zei- in den Textilgebieten. gen die ursprünglichen Moorstandorte an. Im nordöstlichen Teil der Kulturlandschaft „Ostmünster- Mittelpunkt der Bauernhöfe waren Längsdielenhäuser aus land“ spezialisierten sich die Höfe seit der Mitte des 19. Fachwerk. Die ältesten erhaltenen Beispiele reichen in Res- Jahrhunderts zur Verwertung der Feldfrüchte auf Viehmast ten bis in das 16. Jh. zurück (z.B. Meier to Berends in Güters- und in deren Folge auf Fleischveredelung. Hierfür waren loh-Spexard 1536/72; Hof Hapke in Werther-Theenhausen 1584), nicht nur Stallungen und Scheunen, sondern auch Räucher- doch stammt der größte Teil der überlieferten Substanz aus türme auf den Höfen erforderlich, wie beispielsweise aus einer landwirtschaftlichen Blüte zwischen 1750 und 1820. dem ausgehenden 19. Jh. erhalten in Steinhagen-Brockha- Während im westlichen Teil der Kulturlandschaft „Ostmüns- gen (Kölkebecker Str. 13) oder Versmold-Oesterweg (Oester- terland“ die Zweiständer-Bauweise dominiert, hat sich im weger Str. 38). Ein weiterer im Kreis Gütersloh weit verbreite- östlichen Teil die Vierständer-Bauweise deutlich früher ter Produktionszweig direkt auf den Bauernhöfen war die durchgesetzt; bemerkenswert ist der Bereich um Lienen, Kornveredelung durch Brennereien, wie z.B. in Gütersloh die Lengerich und Kattenvenne, wo am Ende des 18. Jahrhun- Brennereien Altewischer in Avenwedde oder die Brennerei derts bei größeren Bauernhäuser beide Bauformen parallel auf dem Hof Meier zu Spexard (1898). zur Anwendung kamen. Die Umfassungswände waren bis ins 18. Jh. zumeist mit Lehmflechtwerk verschlossen, da- Seit dem frühen 19. Jh. bildete die Pferdezucht ein prä- nach mit Backstein ausgemauert und wurden seit der Mitte gendes Element der Landwirtschaft. Mittelpunkt wurde das des 19. Jahrhunderts zunehmend massiv aus Backstein 1828 gegründete und bis heute bestehende Landgestüt in aufgeführt, der aus den vielen zu dieser Zeit entstehenden Warendorf, das den Zweck hatte, die Zucht von gesunden örtlichen Ziegeleien stammte. Falls Naturstein gewonnen und für den Arbeitseinsatz geeigneten Pferden – insbeson- werden konnte (vorrangig am und im Teutoburger Wald von dere für das Militär – zu befördern. Es wurde zur Zentrale Borgholzhausen, Halle und Werther im Osten bis ins Tecklen- von Deckstationen, die man auf verschiedenen Höfen und burger Gebiet im Westen), wurde dieser um die Mitte des Gütern einrichtete. Auch im Raum Gütersloh/Bielefeld be- 19. Jahrhunderts auch für Ausfachungen benutzt. Häufig ist gannen wohlhabende Landwirte und großstädtische Pfer- an der Wetterseite (nachträglich) eine massive Steinwand deliebhaber im ausgehenden 19. Jh. mit der Reitpferde-

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zucht, beispielsweise im Gestüt Ebbesloh (nördliches Gü- gen sowie Turmneubauten, von der katholischen Bevölke- tersloher Stadtgebiet, 1928) und im Gestüt Ravensberg (süd- rung auch als Zeichen gegen den preußischen Staat errich- liches Gütersloher Stadtgebiet, 1921). tet (etwa in Sassenberg, Warendorf, Telgte). Erwähnt seien auch die neugotische, evangelische Martin-Luther-Kirche in Vielfältig und zahlreich sind die überlieferten Formen der Gütersloh (1857-1861) als große Stadtkirche sowie die in durchgängig umgräfteten Sitze des Adels, die teilweise der Stadtsilhouette ebenfalls besonders wirksame Doppel- prägende Elemente der Ortsbilder oder der Landschaft turmanlage der neuromanischen kath. Pfarrkirche St. Cle- (Haus Langen in Telgte-Westbevern, Burg Vortlage bei Lenge- mens in Rheda (1910). Auch im westlichen Teil der Kultur- rich) sind. Das bauliche Spektrum reicht von barocken landschaft „Ostmünsterland“ entstanden – dank des stei- Schlössern (Harkotten bei Sassenberg-Füchtorf, Surenburg in genden Wohlstandes ab 1840 durch die Textilindustrie – Kir- Hörstel-Riesenbeck) bis zu Anlagen, bei denen die landwirt- chenneubauten zuerst in neugotischen Formen als (westfäli- schaftliche Funktion im Vordergrund stand. Architekturge- sche) Hallenkirchen (Borghorst, Emsdetten, Saerbeck), um schichtlich bedeutend ist u.a. das Wasserschloss Taten- 1900 dann in neuromanischer Manier (Mettingen, Rheine). hausen, das ursprünglich auf zwei Inseln lag und dessen heutiger Baubestand von der Architektur der Weserrenais- Eine in Westfalen einzigartige Anlage der Religionsaus- sance (1540 ff) geprägt ist. Bemerkenswert sind neben übung entstand nach dem Dreißigjährigen Krieg in Stock- dem Park, der übergeht in den Tatenhauser Wald mit Al- kämpen (Halle-Hörste), als in der evangelischen Grafschaft leen und Dreistrahl, besonders die Orangerie von Johann Ravensberg die katholischen Besitzer der Schlösser Taten- Conrad Schlaun (1738), die Bockemühle (1701) und die hausen und Holtfeld einen eigenen kirchlichen Mittelpunkt Badehäuser der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. für Versmold, Halle, Werther und Borgholzhausen schufen, der von den Bielefelder Franziskanern betreut wurde. Die Die landesherrliche Burg des Bischofs von Münster in kleine barocke Kirche wurde 1691 gebaut, die übrigen Ge- Sassenberg wurde im 17. Jh. durch eine weitläufige bäude nach 1840 erneuert. Zunächst errichteten die Gra- Schloss- und Gartenanlage ersetzt sowie durch eine neu fen von Korff-Schmising (Tatenhausen) 1842 ein Mauso- angelegte Siedlung mit Pfarrkirche erweitert. Besonders leum auf dem kleinen Friedhof, 1845 entstand gegenüber bedeutend ist das Residenzschloss Rheda mit seinen viel- der Kirche ein Pfarrhaus, 1848 ein Schulgebäude und ein fältigen und teilweise weit in die Geschichte zurückreichen- Wirtschaftsgebäude als Fachwerkbauten. So bildete die den Bestandteilen. Die Wasserburg wurde im 12. Jh. auf ausgedehnte Anlage samt einem Prozessionswäldchen einem künstlich aufgeworfenen Hügel errichtet und in For- das geistige und geistliche Zentrum der Katholiken im heu- men der Weserrenaissance und des Barock zum Schloss tigen nördlichen Teil des Kreises Gütersloh. erweitert. Vorgelagert sind die Mühleninsel an der Ems mit 167 der Doppelmühle von 1772, daran anschließend die Vor- Die Existenz jüdischer Gemeinden belegen Synagogen burg mit dem Torhaus von 1719, der Kanzlei von 1780 so- sowie die an den damaligen Stadträndern angelegten jüdi- wie einem kleinen Komödienhaus von 1790. Der Marstall schen Friedhöfe (jeweils erhalten z.B. in Rheda, Telgte und (1760) und Ökonomiegebäude (18. Jh.) schließen sich an. Warendorf). Außerhalb der Burginsel befinden sich eine Orangerie und ein weitläufiger Park mit dem fürstlichen Friedhof. Histo- Die katholischen Teile der Kulturlandschaft „Ostmünster- risch ebenfalls bedeutend ist das Amtsgebäude auf dem land“ sind reich mit Zeichen des Glaubens bestückt. Seit Reckenberg in Wiedenbrück, das 1726 an der Stelle einer dem 18. Jh. wurden vermehrt Bildstöcke aufgestellt. Bei- ehemaligen fürstbischöflich-osnabrückischen Stiftsburg er- spielhaft seien die Gemeinde Nordwalde mit einem sehr gu- baut worden ist. ten Bestand an barocken Bildstöcken sowie Riesenbeck mit dem großformatigen Kreuzweg genannt. Im 19. Jh. überwie- Zahlreiche Klöster sind mit z.T. weit zurückreichenden, gen die Wege- und Hofkreuze. Von besonderer Bedeutung bedeutenden Baulichkeiten gut überliefert (Bentlage, Clar- sind die Prozessionswege, die zu der seit dem 17. Jh. für holz, Gravenhorst, Herzebrock, Marienfeld). Prägend für die das Münsterland zentralen Wallfahrtskirche in Telgte führen später zugewachsenen Ortschaften sind bis heute auch die (an den Straßen Münster-Telgte und Milte-Telgte). Kleinere Bezirke der Damenstifte Borghorst und Langenhorst mit Wallfahrtsziele sind die Gnadenbilder in der Laurentiuskir- Wohnhäusern, Abteien und den ehemaligen Stifts- und che zu Warendorf, in der Klosterkirche zu Vinnenberg oder heutigen Pfarrkirchen. Die Kuriengebäude in Traufenstel- in der Kapelle zu Buddenbaum (beide Stadt Warendorf). lung wurden richtungsgebend für die bürgerlichen Wohn- bauten, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in der Technische Monumente der vorindustriellen Zeit sind Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ zahlreicher werden. die in der ganzen Kulturlandschaft „Ostmünsterland“ überlieferten Mühlen, von denen die Wassermühle des Die kulturlandschaftsprägenden Pfarrkirchen der Dörfer 16. Jahrhunderts in Sassenberg bzw. die Windmühle in und Städte sind seit dem 12. Jh. aus allen Zeiten und damit Saerbeck-Sinnigen genannt seien. Von den Zeugnissen Stilepochen überliefert. Beispielhaft seien genannt aus der des Industriezeitalters sind in hohem Maße kulturland- Zeit der Hochgotik in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun- schaftprägend die Hinterlassenschaften der Textilindustrie derts Gravenhorst und Leer. Ausdruck der in der Mitte des in den Städten Emsdetten, Greven und Rheine. Brennerei- 19. Jahrhunderts einsetzenden Agrarkonjunktur sind die en zur Getreideveredelung, teils auf Hofanlagen (s.o.), großformatigen Kirchenneubauten und Kirchenerweiterun- teils als Gewerbebetriebe finden sich gehäuft im Osten

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Kulturlandschaft „Ostmünsterland“. Als Beispiel hierfür sei Leitbilder und Ziele die ausgedehnte Anlage der Brennerei Elmenhorst in Gü- tersloh-Isselhorst genannt, die mit den Fabrikationsge- Auch für das Ostmünsterland kann als Grundmatrix für bäuden und Villen des ausgehenden 19. Jahrhunderts die weitere Entwicklung das Bild von der „Münsterländer den Ortsteil prägt. Parklandschaft“ zu Grunde gelegt werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass innerhalb der Kulturlandschaft unter- schiedliche Charaktere, wie der Niederungsbereich der Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche Ems, das Mosaik von Heckenlandschaft, Feuchtwiesenbe- und -elemente reiche, Eschlandschaften vorhanden sind. Insbesondere der Teutoburger Wald mit seinem markanten Übergang in G In Rheine und Umgebung werden durch erhaltene das Flachland hat sein eigenes Erscheinungsbild. Baudenkmäler charakteristische Elemente der sied- lungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen G Erhalt und ortsbezogene Weiterentwicklung der Vielge- vom späten Mittelalter bis in die Zeit nach dem Zweiten staltigkeit wie z.B. gekammerte Heckenlandschaften, Weltkrieg anschaulich (KLB 6.01). offene Eschflächen, durch kleine Feldgehölze struktu- rierte Bereiche, Feuchtwiesen. G Die Glaneregion stellt in ihrem unteren Abschnitt bis zu ihrer Einmündung in die Ems eine in historischer und G Erhaltende Nutzung von Relikten der Kulturlandschaft, prähistorischer Zeit außerordentlich dicht besiedelte wie die Niederwaldnutzung. Gewässerniederung dar (KLB 6.02). G Förderung typischer Elemente durch die Anlage von G Der Teutoburger Wald, die Lienener Heckenlandschaft Kopfbäumen in den Feuchtwiesen oder Obstwiesen an mit dem Ladberger Mühlenbach und vielen ehemali- den Hofstellen. gen Mühlenstandorten und die Feuchtwiesen am Bul- lerbach sind ein besonders typischer und gut erhalte- G Freihalten kulturlandschaftsprägender Räume, wie die ner Ausschnitt der Kulturlandschaft (KLB 6.03). offenen Eschflächen am Hang des Teutoburger Wal- des, von baulichen oder ähnlichen die Kulturlandschaft G Die Emstalung westlich von Warendorf gehört zu den verändernden Nutzungen. in vor- und frühgeschichtlicher Zeit am dichtesten be- siedelten und besterforschten Regionen Westfalens. G Erarbeitung ganzheitlicher Konzepte bei der Renaturie- 168 Erste Spuren der Anwesenheit des Menschen sind der rung der Emsaue, um die kulturhistorischen Elemente Schädel eines Neandertalers sowie zugehörige Stein- in der Emsniederung und auf den Terrassenkanten mit geräte (KLB 6.04). einzubeziehen.

G Die Rieselfelder der Stadt Münster sind ein herausra- G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz gendes Beispiel für ein kulturhistorisches Element mit der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne. besonders bedeutender landschaftsökologischer Nachnutzung. G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- G Die Klatenberge in Telgte und die Elter Sande sind be- staltwerterhaltender Umnutzung. sonders repräsentativ für die Flussdünen der Ems.

G Die Bauerschaft Wechte in Lengerich zeigt exemplarisch den Wandel der Landschaft im Übergang vom Hangfuß des Teutoburger Waldes in das Sandmünsterland.

G Die 1956 begonnene Sennestadt ist eine der wenigen städtischen Neugründungen der letzten 50 Jahre in NRW. Mit den verschiedenen Typen des Wohnungsbaus und der Gestalt der zentralen Baulichkeiten (Rathaus, Kirchen) gibt die Sennestadt ein gutes Beispiel zeittypi- scher Vorstellungen über Architektur und Städtebau.

G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- dere als Bodenarchiv, sind Bevergern, Halle, Harsewin- kel, Rheda, Rheine, Sassenberg, Telgte, Versmold, Wa- rendorf und Wiedenbrück.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 7 // Paderborn – Delbrücker Land 6.2

Kulturlandschaft 7 // dorf, Haustenbeck, Hasendorf, Hövelhof und Stukenbrock. Paderborn – Delbrücker Land Im Osten begrenzt der steil bis auf über 400 m ü. NN an- steigende Gebirgskamm des Teutoburger Waldes und im Süden der Anstieg zur Paderborner Hochfläche diesen Lage und Abgrenzung Raum. Der Quellreichtum von Paderborn und Bad Lipp- springe als ein wichtiger Standortfaktor für die Siedlungs- Die Kulturlandschaft „Paderborn – Delbrücker Land“ hat gründung hat seinen Ursprung in der besonderen geologi- Anteil an fünf heutigen Landkreisen. Es sind dies der Kreis schen Situation (s. Kulturlandschaft „Paderborner Hochfläche Paderborn (Kommunen Lippspringe, Delbrück und Hövelhof – Mittleres Diemeltal“). sowie das Zentrum der Stadt Paderborn mit Ausnahme der südlichen Ortsteile), der Kreis Gütersloh mit den Kommu- nen Rietberg, Schloss Holte-Stukenbrock und Verl, der Geschichtliche Entwicklung Kreis Lippe mit den Kommunen Augustdorf und Schlan- gen sowie (mit jeweils nur geringer Fläche) der Kreis Waren- Archäologisch wird die Kulturlandschaft „Paderborn – dorf (Gemeinde Wadersloh östlich der Ems) und der Kreis Delbrücker Land“ vor allem von Paderborn (KLB 7.03) und Soest (nördliche Ortsteile von Lippstadt). dem Delbrücker Raum (KLB 7.02) geprägt. Bekannt sind aber darüber hinaus endpaläolithische (Thüle, Westerloh) Diese Kulturlandschaft ist als überwiegend flache und bis und mesolithische Fundplätze (oberflächlich zwischen Hö- heute überwiegend landwirtschaftlich geprägte Region – velhof und Bad Lippspringe, im Lippekies zwischen Bentfeld trotz gemeinsamer historischer Wurzeln – nach Osten zum und Sande), die von besonderer Bedeutung sind. Für das Weser-Bergland (Kulturlandschaft „Lipper Land“) und gegen- Neolithikum sind vornehmlich die linienbandkeramischen über der Kulturlandschaft „Paderborner Hochfläche – Mittle- Funde von der Dreckburg bei Salzkotten und die untertägi- res Diemeltal“ naturräumlich deutlich abgegrenzt. Nicht so gen Reste des Großsteingrabes von Schloss Neuhaus zu deutlich sind die naturräumlichen Grenzen zu den südwest- nennen. Bronzezeitliche Grabhügel sind locker verstreut. In lich (Kulturlandschaft „Hellwegbörden“) bzw. nordwestlich ge- größerer Zahl liegen oder lagen sie auf dem östlichen Del- legenen Kulturlandschaften („Kern-“ bzw. „Ostmünsterland“). brücker Rücken, in Schloss Neuhaus und in Bad Lippsprin- Hier sind vielmehr die auch im Baubestand deutlich erkenn- ge. In Delbrück-Steinhorst wurde am „Mondscheinknapp“ baren kulturgeschichtlichen Unterschiede ausschlaggebend. im 19. Jh. ein frühbronzezeitliches Grab mit auffällig rei- chem Inventar geborgen. Urnenfriedhöfe der Jungbronze- zeit und der Eisenzeit sind in Westenholz und Mantinghau- Naturräumliche Voraussetzungen sen erhalten, während die kaiserzeitlichen Siedlungen von 1 6 9 Salzkotten, Thüle, Paderborn und Wewer zumindest weit- Die im Südosten der Westfälischen Bucht gelegene Kul- gehend ausgegraben worden sind. turlandschaft „Paderborn – Delbrücker Land“ wird durch Ablagerungen der beiden letzten Kaltzeiten geprägt. Wäh- Die mittelalterlichen Stadtkerne von Paderborn, Bad Lipp- rend der Saale-Kaltzeit (Drenthe Vorstoß) wurde der Raum springe, Salzkotten und Rietberg, die Wüstungen im Umfeld komplett vom Eis überfahren. Zeugnis dieses Ereignisses von Salzkotten und die Turmhügelburgen Vielsen (Salzkot- sind die Grundmoränenablagerungen, z.B. entlang des ten) und Imbsenburg (Wewer) sind für die jüngeren Perioden Delbrücker Rückens zwischen Westenholz und Delbrück hervorzuheben ebenso wie die aufgegebene Saline von oder im Raum Schloss Holte-Stukenbrock – Verl, die heute Sültsoid (Salzkotten) und die frühneuzeitlichen Erdfestungen Standorte nährstoffreicherer Böden sind. Die Gletscher der von Rietberg (Schloss Eden) und Delbrück (Ringboke). letzten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit) erreichten diesen Raum nicht mehr. Die Landschaft wurde jedoch durch die groß- Voranschreitende stadtnahe Bebauungen und Erschlie- flächigen Sand- und Kiesablagerungen der Schmelzwäs- ßungen von Industriegebieten dürften in absehbarer Zeit ser entscheidend gestaltet. Besonders markant ist der Rettungsgrabungen in dem ehemaligen Kirchdorf Vilsen mächtige Sander, der in der Senne aufgeschüttet wurde. mit seiner 1256 auf Befehl des Erzbischofs geschleiften bi- Im gesamten Raum kommen Binnendünen vor, die z.T. schöflichen Landesburg sowie in dem ebenfalls seit der erst nach den massiven Waldrodungen im Mittelalter auf- Merowingerzeit bestehenden ehemaligen Dorf Stalpe not- geweht wurden. wendig werden lassen.

Die Niederungen und flach eingeschnittenen Täler werden Im Niederungsgebiet der Kulturlandschaft „Paderborn – häufig von ausgedehnten Niedermooren eingenommen, Delbrücker Land“ vollzog sich die Besiedlung in Form ver- z.B. im Emstal zwischen Rietberg und Hövelhof. Im östlichen streut liegender Einzelhöfe oder Drubbel mit gemeinschaft- Teil dieser Kulturlandschaft dominieren nährstoffärmste und lich bewirtschafteten Flächen, während am Hellweg vonei- sehr ertragsarme Sandböden (Podsole), im westlichen Teil nander entfernt liegende Siedlungsinseln entstanden. nährstoffarme Gleyböden mit hohem Grundwasserstand. Nach Einrichtung der Pfarrsprengel bildeten mehrere Sied- Nur im südlichen Stadtgebiet von Paderborn und im Almetal lungseinheiten jeweils ein Kirchspiel, das eine entfernter bei Elsen kommen von Natur aus ertragreiche Böden vor. liegende, auf grundherrlichem Haupthof von Bischof, Klos- Großflächige Vorkommen anthropogener Plaggeneschbö- ter oder Adel gegründete Pfarrkirche unterhielt. Das Niede- den beschränken sich auf die Gemarkungen von August- rungsgebiet erlebte in der Folgezeit eine Aufsiedlung be-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 7 // Paderborn – Delbrücker Land

stehender Standorte. In der Zeit von ca. 1200 bis 1400 sie- Paderborner Fürstbischofs auch besiedelt. Seit dem aus- delten sogenannte Erbkötter zwischen den Altbauernhöfen gehenden 18. Jh. entstanden mit Augustdorf, Kaunitz und des Delbrücker Landes, was zu einer Verdichtung der Friedrichsdorf Kolonistensiedlungen im Zuge von Meliora- Drubbel führte. In einer weiteren Siedlungswelle zwischen tionsmaßnahmen, als deren bedeutendste in ganz Westfa- 1400 und 1650 wurden Einzelhöfe in den Marken neu ge- len-Lippe das Boker-Heide-Kanalsystem im Delbrücker gründet (Markkötter), denen im 17. und 18. Jh. die Brinksit- Land aus den Jahren nach 1850 gelten kann. zer – ebenfalls vereinzelt und weitgehend planlos in der Gemeinheit siedelnd – folgten. Bis zum Zweiten Weltkrieg bildete die Landwirtschaft die wichtigste wirtschaftliche Lebensgrundlage für einen gro- Zu den bäuerlichen Siedlungsplätzen traten in der hoch- ßen Teil der Bevölkerung und in den Städten Handwerk mittelalterlichen Ausbauphase der Kulturlandschaft mit Del- und (Lokal-) Handel. Industriebetriebe siedelten sich eher brück, Neuhaus, Rietberg (mit planmäßigem Stadtgrundriss) zögerlich an und blieben lange zumeist von lokaler Bedeu- und Salzkotten (mit der Saline als Kern) Stadtgründungen tung. Neben der Saline von Salzkotten ist die besonders des ortsansässigen Adels bzw. des Paderborner Bischofs durch Öfen überregional bekannt gewordene, 1839/40 auf hinzu. Herausragende Bedeutung als zentraler Ort behielt dem Vorwerk des Holter Schlosses eingerichtete Holter jedoch bis heute die weit ältere Stadt Paderborn als Sitz Hütte zu nennen, die anstehendes Raseneisenerz verarbei- des Bischofs sowie als Handels- und Universitätsstadt. tete. Im 19. Jh. wurde zudem der anstehende Lehm in zahl- reichen im Raum Delbrück-Neuhaus-Paderborn-Salzkotten Im Zuge der Territorialisierung bildeten sich in der Kultur- gegründeten Ziegeleien zu einem massenhaften Baumate- landschaft „Paderborn – Delbrücker Land“ verschiedene rial verarbeitet. Hoheitsgrenzen aus, die sich nach der Reformation durch unterschiedliche Konfessionen vertieften. Die heute zum Das auf die Bischofs- und Handelsstadt ausgerichtete Kreis Paderborn gehörenden Teile waren Bestandteil des Wegenetz (der Hellweg als Ost-West-, die Frankfurter Straße ehemaligen katholischen Fürstbistums Paderborn, der als Nord-Süd-Verbindung sowie die Kasseler oder Holländi- Kreis Gütersloh war Teil der ehemaligen katholischen Graf- sche Straße, über die der Handel nach Amsterdam bzw. Leip- schaft Rietberg. Mit Ausnahme Lippes wurden alle Teile zig verlief) war zwar dicht, wurde jedoch im 19. Jh. nur zö- dieser Kulturlandschaft 1815 dem Königreich Preußen mit gerlich modernen Standards angepasst. Auch die Eisen- Sitz der Regierung in Minden unter dem Oberpräsidium in bahn stellte eine Verbindung mit dem stärker industriell ge- Münster zugesprochen. prägten Bielefeld (nach der älteren Streckenverbindung Ruhr- gebiet-Kassel) erst 1902 her. 170 Die einzelnen Landesherrschaften trieben seit dem 17. Jh. in unterschiedlichem Umfang den inneren Landesausbau Das Bild der Städte und Dörfer hat sich erst nach dem voran. In der bis dahin wenig besiedelten Senne entstan- Zweiten Weltkrieg in größerem Umfang verändert, da der den Jagdschlösser der verschiedenen Herrschaften; je- wirtschaftliche Aufschwung der 1950er Jahre zu einer Bau- doch wurden zumindest die Randlagen durch Initiative des tätigkeit über die Ortsgrenzen hinaus, d.h. zu Neubausied- lungen in der Feldmark führte. Zudem brachten die 1960er Jahre mit ihrer Planungseuphorie Massen an Bauleitpla- nungen, die zu intensiver Erneuerung der Orts- und Stadt- kerne führten. Die Planungen veränderten die Gestalt der Ortskerne nachhaltig, was nicht selten auch den Verlust historischer Bausubstanz bedeutete. Die Stadt Paderborn nimmt in dieser Entwicklung eine besondere Stellung ein, da sie zum einen seit dem ausgehenden 19. Jh. bedeuten- de Stadterweiterungen, zum anderen aber wesentliche Verluste durch Kriegszerstörung und durch die Umgestal- tung der frühen 1950er Jahre nach modernen städtebauli- chen und verkehrstechnischen Gesichtspunkten erlebte. Diese galt schon bald als besonders vorbildhaft und wurde in Ausstellungen und Publikationen verbreitet.

Kulturlandschaftscharakter

Das Landschaftsbild im Bereich der Senne, die den östli- chen Teil dieser Kulturlandschaft einnimmt, wird heute durch das Mosaik aus großflächigen Wäldern, Heideflä- chen (im Bereich des Truppenübungsplatzes), Äckern und

 Boker Kanal Foto: LWL/B. Milde

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen// 2007 Kapitel Kulturlandschaft 7 // Paderborn – Delbrücker Land 6.2

den insbesondere reich beschnitzten Torbögen der großfor- matigen Häuser dokumentierte sich die wohlhabende Schicht der Bauern, während die ebenfalls zahlreich über- lieferten Kötterhäuser, die insbesondere auf den nach und nach kolonisierten Heide- und Moorflächen entstanden, er- heblich schlichter blieben. Exemplarisch in der Dichte der überlieferten Substanz sind insbesondere die Bauerschaf- ten im Bereich von Delbrück, Hövelhof, Rietberg und Verl. Während alle ländlichen Bauten bis ins frühe 19. Jh. in der  Delbrücker Land Regel Strohdächer aufwiesen, kam danach die Eindeckung Foto: LWL/B. Milde mit roten Tonpfannen auf. Die Umfassungswände waren bis ins 18. Jh. zumeist mit Lehmflechtwerk verschlossen, da- nach mit Backstein ausgemauert und wurden seit der Mitte schmalen Grünlandstreifen in den eingeschnittenen Bach- des 19. Jahrhunderts zunehmend massiv aus Bruchstein, tälern bestimmt. Die Wälder sind zum großen Teil aus Auf- später auch Ziegelstein aufgeführt, der aus den zu dieser forstungen der Heiden mit Kiefern hervorgegangen. Noch Zeit entstehenden vielen örtlichen Ziegeleien stammte. um 1800 war der Raum mit Ausnahme des Waldes bei Schloss Holte, des Hövelhofer Waldes und dem bewalde- Das Hallenhaus wurde erst um 1900 durch getrennt er- ten Delbrücker Rücken fast vollständig waldfrei. Im Bereich richtete Wirtschafts- und Wohnhäuser in Ziegelsteinarchi- des Teutoburger Waldes wuchsen stark devastierte und tekturen abgelöst. Die Konjunktur, die der Getreideanbau sehr licht stehende Hudewälder. aufgrund guter Absatzmöglichkeiten und verbesserter An- baumethoden im späten 19. Jh. erlebte, dokumentiert sich Durch zahlreiche und großflächige Nassabgrabungen im auch in der großen Zahl von Neubauten von Wirtschafts- Verlauf der Lippeniederung zwischen Bad Lippspringe und gebäuden, insbesondere der großformatigen Ernte- bzw. Mantinghausen, die erst in den letzten Jahrzehnten ent- Kornscheunen. Zudem wurden zu dieser Zeit die Wirt- standen sind, wurde das Kulturelle Erbe der gewachsenen schaftsteile der bestehenden Bauernhäuser zumeist ver- Kulturlandschaft dort komplett zerstört und das Land- größert und/oder durch seitliche Stallanbauten erweitert. schaftsbild völlig verändert. In der Kulturlandschaft „Paderborn – Delbrücker Land“ Der westliche Teil dieser Kulturlandschaft, das Delbrü- ist ein reicher Bestand an herrschaftlichen Burgen und cker Land, gehört noch heute zu den waldärmsten Regio- Schlossanlagen unterschiedlichster Größe und Gestalt be- 1 7 1 nen in Westfalen. Das Landschaftsbild wird durch die klein- wahrt, der die Entwicklung seit dem Spätmittelalter bis parzellierte Nutzungsstruktur und das Mosaik aus Streu- heute dokumentiert. Zumeist handelt es sich um Anlagen siedlungen mit wenigen Dörfern und Kleinstädten be- mit vielen unterschiedlichen Bauten und umgebenden stimmt. Ein dichtes Netz aus Hecken, Wallhecken, Baum- Garten- und Parkanlagen. Zwar sind die meisten der älte- reihen und Ufergehölzen täuscht wie eine Kulisse den Ein- ren Burgen in der Neuzeit durch wohnlichere Schlösser er- druck einer waldreichen Landschaft vor. Die grünlanddomi- setzt worden, doch dokumentieren mehrere Turmhäuser nierten Niederungsbereiche werden durch die großen Vor- des 14. Jahrhunderts die zunächst noch sehr der Wehrhaf- kommen von Kopfbäumen geprägt. Eine regionaltypische tigkeit unterworfene Wohn- und Lebensweise (Dreckburg Besonderheit ist die verstärkte Verwendung von Eschen, bei Salzkotten, Burgruine Bad Lippspringe). Insbesondere in neben den verschiedenen Weidenarten, als Kopfbaum. den Niederungen können die Schlösser und Herrenhäuser auch von weitläufigen Gräftenanlagen umgeben und gesi- Die Großstadt Paderborn, die sich als Oberzentrum in chert sein (Vernaburg, Salzkotten-Verne). den letzten Jahren sehr ausgedehnt hat, bildet als solitärer Verdichtungsraum mit ihrer dichten Bebauung eine eigen- Neben der Schlossanlage in Paderborn-Wever ragt das ständige Landschaftsbildeinheit. vierflügelige Residenzschloss in Formen der Renaissance der Fürstbischöfe von Paderborn in Neuhaus heraus. Eine Mittelpunkt der Bauernhöfe waren über Jahrhunderte Besonderheit stellt die große Zahl an herrschaftlichen Jagd- Längsdielenhäuser aus Fachwerk. Darüber hinaus waren je schlössern dar: das lippische Jagdschloss in Schlangen nach Wirtschaftsart Nebengebäude notwendig: vom Getrei- (1597-1599) mit der Fürstenallee von 1725/30 als ein beson- debau etwa zeugen – in der Regel mehrgeschossige – ders repräsentativ gestaltetes Teilstück der zwischen dem Speicherbauten, die zu einem der zentralen Statussymbole Jagdschloss und dem Residenzschloss Detmold ausge- der Bauern wurden. Der Bestand an Haupthäusern – bauten Chaussee, das Schloss Holte der Rietberger Grafen durchgängig Vierständerhallenhäuser – reicht bis ins 16. aus dem 17. Jh. mit Pavillons, Wirtschaftsgebäuden und Jh. zurück, doch stammt der größte Teil aus einer Blütezeit Park, das fürstbischöfliche Schloss in Hövelhof um 1660. der landwirtschaftlichen Produktion zwischen 1750 und 1820. Der ungewöhnlich reiche Bestand dokumentiert die Neue gutsähnliche Großbetriebe landwirtschaftlicher ganze Bandbreite der sozial breit gefächerten ländlichen Funktion wurden seit dem späteren 18. und im Laufe des Bevölkerung: In den verwendeten Holzquerschnitten des 19. Jahrhunderts gegründet, wobei sie zumeist nicht mehr Hausgerüstes, der engmaschigen Verzimmerung sowie adelige Besitzer hatten, sondern durch Bürgerliche finan-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 7 // Paderborn – Delbrücker Land

ziert wurden. Vielfach sind diese „Güter“ im Gefolge der G Die Stadt Paderborn mit Kaiserpfalz (heute LWL-Archäo- Gemeinheitsteilungen angelegt, andere Neugründungen logiemuseum) und Bistumssitz ist archäologisch von gehen auf die Schaffung von Vorwerken bei bestehenden besonderer Bedeutung (KLB 7.03). Schlossanlagen zurück. Die auf den Gütern errichteten Her- renhäuser sind ebenso wie die zumeist riesigen und nach G Besondere Sichtbezüge richten sich auf die Silhouette modernsten landtechnischen Gesichtspunkten eingerichte- von Paderborn und Delbrück. ten Wirtschaftsgebäude geschmacksbildend und Vorbild gebend für diese Kulturlandschaft geworden. Charakteristi- G Das heutige Naturschutzgebiet „Rietberger Fischtei- sches Beispiele sind für ein neu angelegtes bürgerliches che“ war Teil der ehemaligen Schlossanlage Rietberg. Gut das Gut Ringelsbruch von 1862 bei Paderborn-Elsen, für neue adelige Vorwerke die Güter Bosenholz von 1849 G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- bei Salzkotten und Warthe von 1878 bei Paderborn-Elsen. sondere als Bodenarchiv sind Lippspringe, Paderborn, Rietberg und Salzkotten. Als prägende Besonderheit in dieser Kulturlandschaft sind neben den nach 1832 in schneller Entwicklung ausgebau- ten Kuranlagen von Bad Lippspringe (zunächst im Umkreis Leitbilder und Ziele der Burg, nach 1922 in einem weiteren Bezirk westlich der Stadt am Rand der Senne), die zahlreichen militärischen Einrichtun- Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung der cha- gen um Paderborn hervorzuheben. rakteristischen Kulturlandschaftsbilder von Senne und Delbrücker Land unter Berücksichtigung der gewachse- Besonders aber die Senne schien aufgrund ihrer geringen nen Strukturen und naturräumlichen Voraussetzungen Besiedlung für umfangreiche Militäranlagen geeignet. Das mit folgenden Zielen: 1851 bei Schloss Neuhaus angelegte Kavallerie-Übungsge- lände wurde ab 1891 als allgemeiner Militärübungsplatz G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, mehrmals erweitert und umfasst heute bei einer Größe von Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- insgesamt 11.600 ha auch Bereiche der anschließenden ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. Kreise Gütersloh und Lippe. Für ihn mussten ganze Dörfer aufgegeben werden (etwa Taubenteich bei Lippspringe sowie G Erhalt des Kulturlandschaftsmosaiks in der nährstoffar- Haustenbeck und Lippereihe bei Schlangen/Kreis Lippe). Am men Sandlandschaft der Senne. Rande des Geländes entstanden verschiedene Lager mit Ka- 172 sernen, Ställen, Reithallen und Kasinos (ab 1891 Sennelager G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale des und Staumühle), Soldatenerholungsheim (von 1908 in Sennela- agrarisch geprägten Delbrücker Landes, mit den Streu- ger), zu denen auch nachgeordnete Einrichtungen wie etwa und Dorfsiedlungsstrukturen, dem kleinparzellierten ein Kriegsgefangenenlager (ab 1915 in Staumühle in Hövelhof) Nutzungsmosaik aus Ackerflächen, Heckenstrukturen oder Hotels für die zu Manövern anreisenden Offiziere (Sen- und grünlandgeprägten Niederungsbereichen mit nelager, Paderborn-Schloss Neuhof) gehören. Kopfbaumbeständen.

In der Senne (Schloss Holte-Stukenbrock) liegt das ehe- G Wiederherstellung beeinträchtigter Räume, die z.B. ei- malige Stalag 326, das zwischen 1941 bis 1945 das größte nen besonders hohen Verlust an Kulturlandschaftsele- Durchgangslager für sowjetische Kriegsgefangene und menten wie Wallhecken, Feldhecken, Baumreihen, Al- Verschleppte im Gebiet des „Dritten Reiches“ war und von leen, Hofeingrünungen sowie Obstwiesen aufweisen. ca. 300.000 sowjetischen Gefangenen durchlaufen wurde. Erhalten sind ein Arrestgebäude, das Entlausungsgebäude G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und sowie die Lagerkirche, die an der ehemaligen Lagerstraße Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- liegen. Die ca. 60.000 Opfer wurden in 36 Massengräbern staltwerterhaltender Umnutzung. auf dem 1,5 km entfernten Soldatenfriedhof verscharrt. G Berücksichtigung der im Delbrücker Land vorhande- nen baukulturellen Gestaltwerte bei der Weiterentwick- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche lung der Ortskerne und Siedlungsflächen. und -elemente G Erhaltung historischer Strukturen und Kleinelemente in der G Die Senne mit angrenzendem Teutoburger Wald (KLB Feldflur (u.a. Wegebeziehungen, Wallhecken, Kopfbäume). 7.01), die größte nährstoffarme Sandlandschaft in NRW, wird bis heute mit teilweise historischen Nebengebäu- G Berücksichtigung kulturhistorischer Belange bei dem den als Truppenübungsplatz genutzt. weiteren Sand- und Kiesabbau in der Senne und in der Lippeniederung. G Das ehemaligen Römerlager „Anreppen“ in der Delbrü- cker Lippeaue und der Boker-Heide-Kanal in der Boker Heide charakterisieren den Kulturlandschaftsbereich „Lippe – Anreppen – Boker Heide” (KLB 7.02).

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 8 // Lipper Land 6.2

Kulturlandschaft 8 // Lipper Land Schmelzwassersanden oder Lössablagerungen aus der letzten Kaltzeit überlagert worden. Speziell im Blomberger Becken und im Raum zwischen Lemgo und Bad Salzuflen Lage und Abgrenzung bildeten sich sehr ertragreiche Lösslehmböden. In den Au- en der großen Fließgewässer (Bega, Werre, Emmer) und der Die Kulturlandschaft „Lipper Land“ umfasst mit Ausnah- zahlreichen kleinen Bäche finden sich Auen- und Gleybö- me der Kommunen Augustdorf und Schlangen das ge- den mit hohem Grundwasserstand. samte Gebiet des heutigen Kreises und des ehemaligen Fürstentums Lippe ohne die Exklaven „Amt Lipperode“, „Stift Cappel“ und „Grevenhagen“. Die Stadt Lügde wurde Geschichtliche Entwicklung erst mit der Gebietsreform am 1. Januar 1970 lippisch. Im stark bewaldeten Bergland finden sich vor allem Die bis heute stark agrarisch geprägte, hügelige bis bronzezeitliche Grabhügel und darüber hinaus eisenzeitli- bergige Kulturlandschaft „Lipper Land“ ist naturräumlich che Burgen (Tönsberg, Rodenstatt, Piepenkopf, Herlingsburg), nur nach Südwesten von der flachen Senne als Teil der frühmittelalterliche Wallburgen (Tönsberg, Herlingsburg, Alt- münsterländischen Bucht deutlich abgegrenzt. Schieder, Siekholz, Alt-Sternberg, Hünenburg bei Vlotho), mit- telalterliche Burgen (Rischenau, Sternberg mit Polacken- Ansonsten ist sie vielmehr primär definiert durch die in schanze, Amtshausberg mit Schwedenschanze), Hohlwege der Territorial- und Wirtschaftsgeschichte wurzelnde kultu- (etwa im Zuge der B 1 bei Blomberg) und Wölbackerfluren relle und damit auch im Baubestand ablesbare Eigenstän- (Schieder). Archäologisch zu nennen sind auch das ehe- digkeit gegenüber den Kulturlandschaften „Ravensberger malige Kloster Falkenhagen (Lilienthal) mit der Wüster Kir- Land“ im Norden bzw. „Weserbergland-Höxter“ im Süden. che im Schwalenberger Wald und die mittelalterlichen Stadt- und Ortskerne von Barntrup, Blomberg und Lügde, Naturräumliche Voraussetzungen Schieder und Schwalenberg.

Der Teutoburger Wald, ein steil aufragendes und kom- Die Wallburg Tönsberg mit näherer Umgebung bildet ein pliziert aus drei parallel verlaufenden Kämmen aufgebau- großflächiges archäologisches Reservat, dessen Waldbe- tes Schichtkammgebirge mit überwiegend ertragsarmen stand renaturiert werden soll. Sand- und Kalkböden, erreicht hier Höhen von 300 bis 468 m ü. NN. (Preußische Velmerstot). Im Verlauf des 13. Jahrhunderts gelang den erstmals 1123 urkundlich erwähnten Grafen von Lippe die Festi- 173 gung ihres Territoriums, das sie in der Reformation nach 1538 dem reformierten Bekenntnis zuführten. In der Folge von Erbteilungen nach 1614 und Erwerb der benachbarten Grafschaft Schaumburg entstand 1640 das spätere Fürs- tentum Schaumburg-Lippe (heute zu Niedersachsen). Die Grafen von Lippe, mit Residenz in Detmold, konnten 1720 den Reichsfürstenstand erwerben und über die Napoleoni- sche Zeit hinweg die Selbstständigkeit des Landes wah- ren. Nachdem Lippe 1866 dem Norddeutschen Bund bei- getreten war, wurde nach 1918 aus dem Fürstentum ein selbständiger Freistaat im Verband des Deutschen Rei- ches. Nach der Neuordnung der Länder durch die briti- sche Militärregierung entschied sich das Land Lippe 1947 für den Beitritt zum Bundesland Nordrhein-Westfalen.

Die Siedlungsstruktur der Kulturlandschaft wird im weiträumigen, flachhügeligen Westen von lockeren Wei- lersiedlungen und Einzelhöfen, im bergig-hügeligen Os-  Lippische Velmerstot ten dagegen von geschlossenerer Siedlungsweise be- Foto: LWL/B. Milde stimmt. Kirchdörfer bilden die Siedlungszentren. Die wirt- schaftliche Grundlage gaben neben Waldreichtum, Ackerbau und Viehzucht auch die schon um die Mitte Die Standortverhältnisse in großen Teilen des Lipper des 11. Jahrhunderts erwähnten Salzvorkommen bei der Landes werden durch die anstehenden Keupergesteine Siedlung Uflon (heute Bad Salzuflen). bestimmt. Die Eismassen des Drenthe-Vorstoßes während der Saale-Kaltzeit haben nur die westlichen und nördli- Zum Ausbau ihrer Territorialherrschaft errichteten die chen Teilbereiche von Lippe überfahren; am östlichen Edelherren zur Lippe nicht nur Burgen (Blomberg, Horn, Fal- Stadtrand von Detmold endete der Eisvorstoß. Die abgela- kenburg bei Detmold), sondern gründeten auch in dichter gerten Grundmoränen sind größtenteils erodiert oder von Folge die Städte Lippstadt (1185; heute nicht mehr lippisch),

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_kl_08.qxp 23.10.2007 12:40 Seite 174

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 8 // Lipper Land  Bellenberg, südlich von Bad Meinberg Foto: LWL/B. Milde

Lemgo (1190), Horn (vor 1248), Blomberg (vor 1255) und der Land- und Forstwirtschaft verbundenen Zweige (z.B. 174 Detmold (1263). Dort konzentrierten sich – mit Ausnahme Möbelindustrie, Landmaschinen) und Baustoffindustrien des ländlichen ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Fal- wie besonders Ziegeleien, deren Arbeitskräfte sich zuvor kenhagen – auch die Klöster. über Jahrzehnte als Wanderarbeiter in nordwestlichen Ländern verdingten. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft und den Fol- gegewerben (Sägewerke, Papierfabriken) stieg zwischen Die nur verhaltene Industrialisierung führte zur Attrakti- 1600 und 1800 die Bevölkerungszahl, was eine erhebli- vität von Teilen der Kulturlandschaft „Lipper Land“ als Er- che Siedlungsverdichtung zur Folge hatte. holungslandschaft, von der besonders die älteren Bade- bzw. Kureinrichtungen (Salzuflen, Meinberg) profitierten. Besondere Bedeutung gewann der Flachsanbau mit Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die nachgeordnetem Hausgewerbe. So hatte Lippe Anteil am naturräumliche Attraktivität des Teutoburger Waldes um Aufschwung des ländlichen Leinengewerbes und der touristische Einrichtungen, wie Denkmäler (Hermanns- Wohlstandsphase des nördlichen Weserberglandes im denkmal bei Detmold) und Aussichtstürme, z.B. Kahlen- 16. Jh., während die Folgezeit – nicht zuletzt aufgrund bergturm (Schieder-Schwalenberg), Bismarckturm (Bad der abseitigen Lage – eher von Stagnation und Rück- Salzuflen), ergänzt. gang geprägt war. Von Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges blieb Lip- Die Weser mit dem Hafen in Erder (Kalletal), seit ca. pe weitgehend verschont. In den Jahren nach 1945 wur- 1700 lippische Zollstation im äußersten Norden, bot gute den Neubaugebiete im Rahmen von Wohnungsbauför- Transportmöglichkeiten, war aber vom übrigen Gebiet derungsprogrammen auch im ländlichen Raum er- aus nur mühsam erreichbar. Das überlieferte Straßennetz schlossen. Alle Orte haben besonders seit der Mitte des mit den nördlich und südlich des Teutoburger Waldes 20. Jahrhunderts größere Erweiterungen in neu ausge- verlaufenden, durch Pässe verbundenen Wegen sowie wiesenen Siedlungen erfahren. den Fernhandelswegen mit dem Kreuzungspunkt im Raum Lemgo erfuhr zögerliche Modernisierungen erst Der allmähliche Anstieg des Individualverkehrs führte seit im 19. Jahrhundert. Da auch der Eisenbahnbau spät den 1960er und 70er Jahren zu einem Pendlerverkehr im (1872 Linie Altenbeken-Hannover mit dem Staatsbahnhof gesamten Raum Ostwestfalen-Lippe/Weserbergland, wäh- Schieder) und mit nur wenigen Strecken einsetzte, blie- rend parallel durch gezielte Wirtschaftsförderungsmaßnah- ben die Industrialisierung und damit auch das Sied- men (Ostwestfalenplan) auch kleinere Gemeinden zu Indus- lungswachstum begrenzt. Im Vordergrund standen die triestandorten (z.B. Kalletal, Extertal) ausgebaut wurden.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 8 // Lipper Land 6.2

Kulturlandschaftscharakter ten ist. Der Haustyp des Längsdielenhauses entwickelte sich vom frühen Zweiständerbau zum Drei- und Vierstän- Die heutige Landnutzung wird einerseits von großflächi- derhaus. Große Hofhäuser haben ihren Wohnteil im Kam- gen Waldbereichen (z.B. Teutoburger Wald, Schwalenberger merfach hinter der Diele und dem Flettbereich, während Wald, Lemgoer Mark), andererseits von dominierender bei mittleren und kleineren Bauernhäusern die Dielen bis Ackerbaunutzung geprägt. Der Grünlandanteil ist sehr ge- zum rückwärtigen Giebel, vor dem die Feuerstelle liegt, ring, größere Vorkommen sind in der Strotheniederung durchgehen und sich die Stubeneinbauten in einem der (Schlangen) und im Emmertal bei Lügde vorhanden. Be- Seitenschiffe befinden. merkenswert ist der vergleichsweise hohe Anteil an histori- schen Landnutzungsformen wie Bergheiden (Velmerstot, Als Baumaterial wurden Holz (Fachwerkständer, Riegel- Bärenstein, Vogeltaufe, Hohe Warte) im Raum Horn-Bad werk, Dachkonstruktion) und Lehm (Gefachfüllungen, Putz) Meinberg-Detmold, Halbtrockenrasen auf Kalk im Bereich verwendet. Die Hauptschauseite der Fachwerkbauten, in von Lügde und Schlangen, Sandtrockenrasen und Heiden der Regel die Giebelfassade mit dem Torgestell, wurde in der Senne sowie von Hudewäldern mit charakteristi- aufwändig mit Inschriften und Schnitzwerk dekoriert. Im schen Mast- und Schneitelbäumen (u.a. in den NSG „Don- 19. Jh. setzten sich Bruchsteine und Ziegel als Gefach- oper Teich-Hiddeser Bent“ und „Externsteine-Bärensteine“). füllungen durch. Die verhältnismäßig steilen Satteldä- cher wurden bis ins 19. Jh. mit Stroh, dann zur Vermin- Durch Lippe verläuft die Grenze zwischen Streusied- derung der Brandgefahr mit gebrannten Tonpfannen ge- lungsgebiet mit Einzelhöfen und Weilern im Westen und deckt, im Südosten kamen auch Dächer mit Sollingsand- geschlossener Dorfbebauung im Osten. Das Landschafts- steinplatten vor. bild wird durch die genannten Siedlungsstrukturen und großräumig prägenden Landnutzungen bestimmt. Nebengebäude wie Scheunen, Speicher und Schafstäl- le als Fachwerkbauten ergänzen die Wohn-Wirtschaftsge- In jüngerer Zeit verdichtet sich in Westlippe die städtische bäude auf den Höfen. Bedingt durch den vermehrten Ein- und gewerbliche Bebauung entlang der Achsen Detmold- satz von Landmaschinen und die Verwendung von Kunst- Lage-Leopoldshöhe-Bielefeld und Lage-Bad Salzuflen-Her- dünger wurden mehr und mehr nach Funktionen ge- ford, so dass die Städte immer mehr ineinander fließen. trennte Gebäude auf den Hofstellen errichtet, z.B. Scheu- nen für die Erntebergung und Viehställe neben reinen Die ländliche Bebauung dieser Kulturlandschaft ist cha- Wohnbauten. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- rakterisiert durch Fachwerkbauten, von denen in Lippe ein derts wurden auch im ländlichen Bereich immer mehr ungewöhnlich hoher Bestand aus der Zeit vor 1600 erhal- Gebäude massiv aus Bruchstein und Ziegel errichtet. 175

Schwalenberg Foto: LWL/B. Milde 

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 8 // Lipper Land

berg) und des Dienstadels in Schötmar (Bad Salzuflen), Wendlinghausen (Dörentrup), Barntrup, Wöbbel (Schieder- Schwalenberg) die Kulturlandschaft. Mit ihren oftmals auf- wändigen Dekorationsformen belegen sie die Blütezeit der Region im Zeitalter der Renaissance.

Bemerkenswert ist auf den zahlreichen Rittergütern der reiche Bestand an Baulichkeiten aus dem Mittelal- ter: massive Speicher, z.B. Niederbarkhausen (Oerling- hausen), Röhrentrup (Detmold), Schwaghof (Bad Salzuf- len) bis ins 19. Jh. (Braunenbruch, Herberhausen (beide Detmold), Steinbeck (Bad Salzuflen), Lüdershof (Blom- berg), Iggenhausen (Lage), Eckendorf, Hovedissen (bei- de Leopoldshöhe), Mönchshof, Wierborn, Ullenhausen (alle Barntrup).

Eine besondere Gattung großer Hofanlagen in Lippe sind die Domänen zur Verwaltung und Bewirtschaftung  Schloss Barntrup des umfangreichen landesherrlichen Besitzes, deren Bau- Foto: LWL/B. Milde lichkeiten (Verwalter-, Landarbeiter- und Viehhäuser, Scheu- nen) oft besonders sorgfältig gestaltet sind, z.B. Domäne Oelentrup (Dörentrup). Von der adeligen Architektur auf dem Lande prägen nicht nur die in Teilen erhaltenen, weithin sichtbaren Hö- Aus dem in Stadt und Land reichen Bestand an Kirchen henburgen Blomberg, Horn, Schwalenberg, Falkenburg ragt neben den zahlreichen romanischen mit ihren oft (Detmold), Sternberg (Extertal), Varenholz (Kalletal), son- wehrhaft ausgebildeten Türmen, z.B. in Lüdenhausen, dern auch die mit Gräften umwehrten Schlösser der ver- Talle, Hohenhausen (alle Kalletal), Wöbbel (Schieder- schiedenen Linien des Grafenhauses in Alverdissen Schwalenberg), besonders die klassizistische Bestands- (Barntrup), Brake (Lemgo), Schieder (Schieder-Schwalen- schicht der Jahre nach 1840 heraus: Alverdissen (Barntrup),

176 Bergheide “Hohe Warte” in Berlebeck, Detmold Foto: LWL/B. Milde 

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 8 // Lipper Land 6.2  Fürstenallee, Schlangen Foto: LWL/B. Milde

177 Leopoldshöhe, Bega (Dörentrup), Cappel (Blomberg). Der che von Militäranlagen (Standort des 55. Regiments (1901- Historismus brachte einige bemerkenswerte Kirchenneu- 1904), gefolgt von dem ausgedehnten Areal der ehemaligen bauten hervor, z.B. 1876 in Lüdenhausen (Kalletal) und in Luftwaffenkaserne (1935-1937)) über Bildungs- bzw. Freizeit- Lügde (1894). einrichtungen (Sommertheater (1898), Landestheater (1914- 1917) bis zum Hermannsdenkmal (1838-1875) als Monu- Mit Bad Salzuflen, Blomberg, Detmold, Horn-Bad ment von ehemals nationaler Bedeutung. Meinberg, Lemgo, Lügde, Schieder-Schwalenberg wur- den sieben Städte der Kulturlandschaft „Lipper Land“ Lemgo verkörpert mit seinem regelhaften, leiterförmigen wegen ihrer besonders gut überlieferten historischen Straßensystem (um 1190) den Typ der Gründungstadt und Stadtgestalt und dem Bestand historischer Bauwerke, mit seiner vielfältigen, reichen Bausubstanz die große Be- mit u.a. überwiegend fachwerkenen Bürgerhäusern seit deutung des städtischen Handels in der frühen Neuzeit. dem 16. Jh., in die Arbeitsgemeinschaft Historischer Stadtkerne aufgenommen. Sie verkörpern verschiedene Blomberg, um die Mitte des 13. Jahrhunderts auf ei- Aspekte und historische Phasen der Kulturlandschafts- nem dreiseitig abfallenden Bergsporn unterhalb der entwicklung. Burg gegründet und damit – ähnlich Schwalenberg – mit der spätgotischen Kirche von weither sichtbar, hat Teile Detmold als Residenzstadt, dessen Schloss aus der seiner Stadtbefestigung mit dem einzigen in Lippe erhal- zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit Resten der Gräf- tenen Stadttor und Fachwerkhäusern seiner handwerk- te, Nebengebäuden und Schlossplatz ungefähr ein Vier- lich und landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung seit dem tel der Grundfläche des historischen Stadtkerns ein- 17. Jh. bewahren können. nimmt, erfuhr in mehreren Phasen planmäßige Erweite- rungen (1707-1721 mit Kanal, 1833/34, nach 1880) mit je- Das durch Salzerzeugung und -handel reich geworde- weils zeittypischer Straßenanlage und repräsentativer Be- ne und 1488 durch städtische Rechte privilegierte Salz- bauung nicht nur durch Wohnhäuser, sondern auch uflen hat sich nach 1818 und verstärkt nach 1895 zu ei- durch Bauten der Regierung und anderer zentraler Insti- nem bedeutenden Kurbad (seit 1918 Lippisches Staats- tutionen (höhere Bildungsanstalten, lippische bad) entwickelt. Um die Gesundbrunnen und die bis Landeskirche). 1767 zurückreichenden Gradierwerke entstanden vor der Stadt in mehreren Bauphasen (zuletzt in den 1960er Prägend sind Einrichtungen der wilhelminischen Epo- Jahren) weitläufige Kur- und Parkanlagen, Wandel- und

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 8 // Lipper Land

Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche G Erhalt von ausreichend dimensioniertem Freiraum zwi- und -elemente schen den Städten im westlichen Teil von Lippe.

G Der Kulturlandschaftsbereich „Lemgo – Detmold – Teu- G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale des toburger Wald“ (KLB 8.01) dokumentiert mit zentralen agrarisch geprägten ländlichen Raumes wie die Streu- Monumenten die über 2000-jährige Geschichte der Lip- und Dorfsiedlungsstrukturen. per Kulturlandschaft. G Erhalt der Strukturen der besonders gut ausgebildeten G Der Kulturlandschaftsbereich „Lügde und Emmertal“ Hagenhufensiedlungen. (KLB 8.02) umfasst die historische Altstadt und die kul- turhistorisch bedeutsame Umgebung. G Wiederherstellung beeinträchtigter Räume, die z.B. ei- nen besonders hohen Verlust an Kulturlandschaftsele- G Wichtige Blickbeziehungen weisen auf Varenholz und menten wie Hecken, Baumreihen, Alleen, Hofeingrü- von Detmold aus auf das Hermannsdenkmal. nungen sowie Obstwiesen aufweisen.

G Historische Wirtschaftsformen sind die Waldnutzungs- G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und form Niederwald am Rinnenberg, Gemeinde Extertal und Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- der Norderteich als Zeugnis historischer Teichwirtschaft. staltwerterhaltender Umnutzung.

G Aus paläontologischer Sicht sind folgende Kulturland- G Berücksichtigung der in der Kulturlandschaft „Lipper schaftselemente sehr bedeutsam: Meeresablagerun- Land“ vorhandenen baukulturellen Gestaltwerte bei der gen aus der Tertiär-Zeit, Braunkohle-Flöze aus dem Weiterentwicklung der Ortskerne und Siedlungsflächen. Miozän.

G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- sondere als Bodenarchiv, sind Alverdissen, Bad Salz- uflen, Barntrup, Blomberg, Bösingfeld, Brake (Lemgo-) Detmold, Horn, Lage, Lemgo, Lügde und Schieder- Schwalenberg.

178 G Ziegeleimuseum in Lage, ein Standort des LWL-Indus- triemuseums, dokumentiert in einer historischen Ziege- lei aus dem frühen 20. Jh. die Arbeits- und Lebensver- hältnisse der Ziegler.

G Das LWL-Freilichtmuseum Detmold/Westfälisches Lan- desmuseum für Volkskunde; auf über 90 ha Museums- fläche und mit über 100 historischen Gebäuden sowie mit Gärten und Nutzflächen dokumentiert das größte deutsche Freilichtmuseum ländliche Haus- und Hoffor- men mit der dazugehörigen Alltags- und Arbeitskultur aus ganz Westfalen-Lippe.

Leitbilder und Ziele

Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung der cha- rakteristischen Kulturlandschaftsbilder der Kulturlandschaft „Lipper Land“ unter Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen und der spezifischen naturräumlichen Voraus- setzungen mit folgenden Zielen:

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Erhalt der Bodendenkmäler wie Wallburgen, Grabhü- gel u.a.m.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter 6.2

Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter tot (468 m). Auf dem Schichtkamm liegt die Rhein-Weser- Wasserscheide. Der schmale Gebirgskamm, aus den sehr harten Sandsteinen der Unteren Kreide aufgebaut, bildet Lage und Abgrenzung zur westfälischen Tieflandsbucht eine deutliche naturräum- liche Grenze und ist ein schwierig zu überwindendes Ver- Die Kulturlandschaft „Weserbergland – Höxter” ist weit- kehrshindernis, da eine Querung nur an wenigen Pässen gehend identisch mit dem heutigen Kreis Höxter. möglich ist. Die Böden im Bereich der Egge sind z.T. ex- trem nährstoffarm und wenig ertragreich (Podsolböden). Sie ist naturräumlich nach Nordosten und Osten durch Zudem ist das Klima im Kammbereich sehr niederschlags- die Weser (gleichzeitig Landesgrenze zu den niedersächsi- reich und rauh. schen Kreisen Hameln-Bad Pyrmont, Holzminden und Nort- heim) sowie nach Westen zur Kulturlandschaft „Paderbor- Das tief eingeschnittene Tal der Oberweser mit seinen ner Hochfläche – Mittleres Diemeltal” deutlich abgegrenzt. sehr steilen Talhängen, z.T. senkrechte Felsklippen, bildet Nach Süden zu den hessischen Kreisen Waldeck-Fran- im Osten die Grenze zum angrenzenden Sollinggebirge. kenberg und Kassel-Land sowie nach Norden zum „Lip- per Land” erklärt sich – bei ähnlichen naturräumlichen Vo- Geschichtliche Entwicklung raussetzungen – die Kulturlandschaftsgrenze kulturge- schichtlich aus den alten territorialen bzw. den bis heute Im stark bewaldeten Bergland dieser Kulturlandschaft wirksamen und ablesbaren konfessionellen Grenzen. finden sich von Willebadessen bis Steinheim und Höxter unzählige Grabhügel und Grabhügelgruppen der Bronze- zeit, eisenzeitliche und/oder frühmittelalterliche Wallbur- gen (Iburg, Brunsburg, Gaulskopf, Karlschanze usw.), früh- mittelalterliche Friedhöfe (Daseburg, Frohnhausen, Natzun- gen, Ossendorf), mittelalterliche Wüstungen (besonders im Raum Brakel-Höxter, aber auch in der Warburger Börde), zwei im Frühmittelalter konkurrierende Siedlungsschwerpunk- te, aus denen sich die Stadt Höxter und das Kloster Cor- vey (KLB 9.4) entwickelten, mittelalterliche Stadtkerne (Borgentreich, Borgholz, Brakel, Driburg, Dringenberg, Nie- heim, Peckelsheim, Warburg), die Stadtwüstung Stoppel- berg (Gründung der Grafen von Schwalenberg im letzten Drit- 179 tel des 13. Jahrhunderts, die bald wieder aufgegeben wurde), zahlreiche Klöster (u.a. Corvey, Brenkhausen, Gehrden, Har- dehausen, Neuenheerse und Willebadessen) und eine Berg- bau- und Glasherstellungslandschaft (seit dem 12. Jh. mehr als 120 Glashüttenstandorte) im Eggegebirge und im  Eggegebirge und Sandebecker Hügelland Brakeler Land. Alle diese Elemente haben die Genese der Foto: LWL/B. Milde Kulturlandschaft geprägt.

Das 1140 gegründete Kloster Hardehausen hat z.B. Naturräumliche Voraussetzungen durch seine Grangienwirtschaft den umliegenden Sied- lungsraum weitgehend umgestaltet. Durch Schenkung In dieser Kulturlandschaft sind vier große naturräumli- und Besitzaufkäufe war es in der Ortschaft Rozedehusen che Einheiten vorhanden: Die beiden Bördenlandschaften bei Bonenburg zum bedeutendsten Grundherren avan- der Warburger und Steinheimer Börde besitzen tiefgründi- ciert und errichtete dort 1181/82 einen Grangienhof als ge und sehr ertragreiche Lösslehmböden. In der Warbur- Großgutbetrieb, in dem nicht nur für die Versorgung des ger Börde kommen die fruchtbarsten Lössböden in ganz Klosters mit landwirtschaftlichen Produkten gesorgt, son- Westfalen vor; in der Feldflur von Lütgeneder befinden dern auch Buntmetall verarbeitet wurde, bis der Standort sich sogar die besten Böden der alten Bundesländer. In in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu Gunsten des Senken kam es zur Niedermoorbildung (z.B. Körbecker neu gegründeten Dorfes Bonenburg aufgegeben wurde. Bruch). In der Steinheimer Börde haben Emmer und Heu- Im 14. und 15. Jh. übernahm das Kloster Hardehausen für bach breite Auen ausgebildet. die Bischöfe von Paderborn die Landesverteidigung ge- gen die Grafen von Waldeck. Hierfür organisierte es seine Die Brakeler Muschelkalkschwelle trennt die beiden Bör- vier Klosterdörfer (Scherfede, Rimbeck, Nörde und Bonen- den voneinander. In diesem Bereich sind vor allem flach- burg) mit Hilfe von Dorfordnungen wirtschaftlich neu und gründige Kalkböden mit geringer Ertragsstärke vorhanden. ließ sie befestigen.

Der in Nord-Süd-Richtung verlaufende, steil aufragende Die Siedlungsstruktur war ursprünglich von Streusiedlung Schichtkamm des Eggegebirges erreicht Höhen von über geprägt, die sich im frühen Mittelalter zu kleinen Haufendör- 400 m ü. NN; der höchste Berg ist die Preußische Velmers- fern verdichtete. Sie liegen häufig im Dunstkreis von Kloster-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter

anlagen oder von Adelssitzen. Zahlreiche Adelssitze wurden landschaft primär durch Land- und Forstwirtschaft geprägt. als wehrhafte Höhenburgen (Hinnenburg, Brakel; Desenberg, Nennenswert sind daneben die Glasmacherei, die in der Warburg; Oldenburg, Marienmünster) oder an anderen expo- waldreichen Region des Oberwälder Landes entstand nierten Stellen und besonders an der Weser (Landesburg (Glashütte Emde (1732-1879), Stadt Brakel; Bad Driburg) und und Blankenau, Beverungen; Tonenburg, Höxter) ausgebaut. besonders im 18. und 19. Jh. überregionale Bedeutung er- langte sowie die 1593 entdeckten Heilquellen, aus denen sich in Driburg das bis heute bestehende Gräfliche Kurbad der Familie von Oeynhausen-Sierstorpff entwickelte.

Nach 1815 wurden die geistlichen Landesherrschaften Paderborn und Corvey mit ihrer überwiegend sich zur ka- tholischen Konfession bekennenden Bevölkerung Teil der preußischen Provinz Westfalen (Regierungssitz Minden un- ter dem Oberpräsidium Münster).

Mit der Eröffnung der Strecke Paderborn-Warburg wur- de die Kulturlandschaft „Weserbergland – Höxter“ 1850 an das überregionale Eisenbahnnetz (Hamm-Soest-Pader- born-Kassel) angeschlossen. Auch die Impulse durch die Verdichtung des Netzes (1864 Altenbeken-Höxter-Hannover; 1872 Hagen-Warburg; 1878 Ottbergen-Northeim) zeitigte nur wenige (Bahnbetriebswerk am Eisenbahnknotenpunkt Ottber-  Diemeltal, Desenberg mit Desenburg gen) industrielle Folgeentwicklungen. Foto: LWL/B. Milde

Stadt Brakel Die meisten gegen die territorialen Expansionsbestrebun- gen der Kölner Erzbischöfe gerichteten Stadtgründungen Die um 1220 durch die Edelherren von Brakel gegründe- des 12. und 13. Jahrhunderts (Beverungen, Borgentreich, te und 1383 nach Osten um eine Neustadt erweiterte Stadt Borgholz, Bredenborn, Driburg, Nieheim, Steinheim, Vörden, lässt bis heute in ihrem Grundriss außer der einstigen Stadt- 180 Warburg, Willebadessen) erfolgten in Bezug auf eine der lan- befestigung auch die beiden sich hier kreuzenden mittelal- desherrlichen Burgen. Von der Oldenburg (Graf terlichen Handelswege erkennen. Seit dem 14. Jh. erlebte von Schwalenberg) und von der Hinnenburg aus (Ritter von Brakel seine Blütezeit und war innerhalb des Bistums Pa- Brakel) wurden Klöster gegründet (Marienmünster 1128, derborn gleichrangig mit den Städten Paderborn und War- Brede (Brakel-) 13. Jh.). Die Bischöfe von Paderborn stifteten burg. Das Stadtbild wird heute vom hochgotischen Rathaus 868 das hochadlig-freiweltliche Damenstift Neuenheerse und der Waage, von Fachwerkbauten des 18. und 19. Jahr- und 1149 das Benediktinerinnenkloster Willebadessen. Bis hunderts sowie von historistischen Wohn- und Geschäfts- zum 13. Jh. hatten sich die geistlichen Landesherrschaften häusern, der Silhouette von der gotischen Pfarrkirche St. des Fürstbischofs von Paderborn (Hochstift Paderborn) und Michael und dem barocken Kapuzinerkloster geprägt. um Höxter die des Fürstabtes von Corvey ausgebildet.

Führend und weit ausstrahlend in der Kulturlandschaft Stadt Höxter „Weserbergland – Höxter“ blieben über Jahrhunderte die ältesten Anlagen: die Reichsabtei Corvey unter den Klös- Höxter zählt mit einer Missionskirche aus der Zeit um 800 tern sowie Höxter und im Süden Warburg unter den Städ- und der schon 1115 erwähnten festen Brücke über die We- ten. Dazu trugen die über Jahrhunderte konstanten Ver- ser zu den ältesten Städten Westfalens. Der historische kehrswege bei. Zentrale Bedeutung hatten die Weser (u.a. Stadtkern, der sich halbkreisförmig an die Weser schmiegt, mit Beverungen als Hafenstadt des Hochstifts Paderborn) und hat sein mittelalterliches Straßensystem bis heute weitge- die Landverbindungen in Ost-West- (Hellweg vom Rhein- hend bewahrt. Die Kilianikirche mit ihren beiden Türmen Maas-Gebiet nach Goslar und Magdeburg mit dem Weser- prägt mit weiteren markanten Kirchenbauten bis heute die übergang bei Höxter) und Nord-Süd-Richtung (Fernhandels- Stadtsilhouette. 1533 schlossen sich die Bürger der Refor- weg von der Nordsee nach Nordhessen). Nach einer wirt- mation an, während der Corveyer Abt und die umliegenden schaftlichen Blüte im 16. Jh. aufgrund verbesserter Anbau- Orte katholisch blieben. In dieser Epoche geistiger Neuori- methoden und damit höherer Getreideerträge, die Stadt entierung und weitreichender städtischer Autonomie ent- und Land gleichermaßen zugute kamen, führte der Drei- standen zahlreiche prächtige Adelshöfe und Fachwerkbau- ßigjährige Krieg zu großen Verlusten an Menschen sowie ten, die das Bild Höxters bis heute prägen. Nach dem Drei- Hab und Gut. Die Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs ßigjährigen Krieg verarmte die Stadt. In preußischer Zeit traf auch die Handelsstädte der Region (Brakel, Höxter, Nie- (1816) wurde Höxter Verwaltungsmittelpunkt des Landkrei- heim, Warburg) bis hin zum völligen Bedeutungsverlust ses Höxter, auch der Anschluss an das Eisenbahnnetz im (Marienmünster, Vörden). Seitdem erscheint diese Kultur- Jahre 1865 und die Stationierung einer Militärgarnison

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter 6.2  Warburg, Teile der Stadtbefestigung Warburg Fotos: LWL/B. Milde   Höxter Foto: LWL/D. Djahanschah

brachten einen leichten Aufschwung, und die Bebauung durchbrach die Grenzen der Stadtmauern. Mit der ersten 181 Preußischen Baugewerkschule wurde 1864 eine überregio- nal bedeutende Ausbildungsstätte geschaffen, aus der die heutige Fachhochschule Lippe und Höxter hervorging. Der Zuzug von Neubürgern nach den Zweiten Weltkrieg mach- te die Erschließung neuer Siedlungen erforderlich.

Stadt Warburg

Zu Füßen einer Höhenburg entstand eine Handels- und Gewerbesiedlung mit städtischem Charakter. Neben dieser Altstadt ist auf einem gegenüberliegenden Bergkamm be- reits 1239 eine Neustadt belegt. Die beiden selbständigen Städte, die beide seit 1364 Mitglieder der Hanse waren, ver- einten sich erst 1436 und umgaben sich mit einer kräftigen Stadtbefestigung. Diese ist bis heute einschließlich sechs von ursprünglich 13 Türmen erhalten.

Auch wurde auf der Grenze 1568 ein gemeinsames Rat- haus errichtet. Zahlreiche Steinbauten dokumentieren in beiden Stadthälften die Blütezeit vor dem Dreißigjährigen Stadt Nieheim Krieg. Nach dem Anschluss an das überregionale Eisen- bahnnetz 1851 entwickelte sich Warburg zum Verkehrskno- Im Grundriss der vom Paderborner Bischof Bernhard tenpunkt (Bahnhofsempfangsgebäude von 1852/53), die Ein- III. (1228-47) zur Stadt erhobenen Siedlung ist die Tren- wohnerzahl stieg und die Stadt wuchs über die Grenzen der nung von Ober- und Unterstadt bis heute ablesbar. Das Stadtbefestigung hinaus. Neben einigen Historismusbauten Stadtbild wird u.a. geprägt von stattlichen Bauten der entstand auch das neue Dominikanerkloster (frühes 20. Jh.) einstigen Blütezeit (Rathaus 1610, sog. Richterhaus 1701, nördlich der historischen Doppelstadt. Die Stadtsilhouette Ratskrug 1712), den Silhouette von den Pfarrkirchen St. von Süden über die hinweg mit der Stadtmauer und Nikolaus (13. Jh.) und der Kreuzkirche (1868/69) sowie der gestaffelten Bebauung ist in Westfalen-Lippe einzigartig. die evangelische Grenzkirche 1863.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter

Kulturlandschaftscharakter waldet und wurden als Heide oder sehr lichter Hudewald genutzt. Die devastierten Standorte wurden systematisch Die Landnutzung und das Landschaftsbild sind in den aufgeforstet, z.T. wurden sehr großflächige Reinbestände vier skizzierten Teilräumen sehr unterschiedlich. aus Fichte angepflanzt.

Die seit Jahrtausenden besiedelten Lössbörden mit ih- Die Steilhänge des Oberwesertales werden von z.T. sehr ren groß parzellierten Feldfluren werden intensiv ackerbau- naturnahen Buchenwäldern bedeckt. Daneben sind noch lich genutzt. Die offene Agrarlandschaft der Warburger große Halbtrockenrasenkomplexe vorhanden, die extensiv Börde ist waldfrei und weitgehend frei von gliedernden beweidet werden. Im Talgrund überwiegt auf den fruchtba- Landschaftselementen. Grünland kommt nur an Sonder- ren Böden die ackerbauliche Nutzung. Teilbereiche der standorten wie z.B. auf Niedermoor im Körbecker Bruch Niederterrasse und Aue sind durch den großflächigen vor. Die Steinheimer Börde wird durch die kleinen Flüsse Nassabbau von Kiesen und Sanden vollständig abgegra- Emmer und Heubach mit ihren zahlreichen Nebengewäs- ben worden (z.B. bei Godelheim). In der Siedlungsstruktur sern zertalt und in langgestreckte Riedel aufgelöst. Durch spiegeln sich die naturräumlichen Gegebenheiten wider. diese morphologischen Strukturen und die von Ufergehöl- Die steilen Talhänge und die hochwassergefährdete Aue zen gesäumten Fließgewässer ist das Landschaftsbild blieben frei von Siedlungen, diese beschränken sich auf stärker strukturiert und gegliedert. Die Siedlungsstruktur die ebenen und hochwassersicheren Standorte auf der außerhalb der Städte wird durch die geschlossene Dorfbe- Niederterrasse.

182  Blick vom Desenberg über die Warburger Börde Foto: LWL/B. Milde

bauung und nur wenigen Vorwerken, Rittergütern oder Die ländliche Bebauung der Kulturlandschaft „Weser- Aussiedlerhöfen im Außenbereich geprägt. bergland – Höxter“ ist charakterisiert durch Fachwerkbau- ten. Der Haustyp des Längsdielenhaus entwickelte sich Das Landschaftsbild im Bereich der Brakeler Muschel- vom frühen Zweiständerbau zum Drei- und Vierständer. kalkschwelle wird durch ein Nutzungsmosaik aus großen Große Hofhäuser haben ihren Wohnteil im Kammerfach Waldparzellen, Ackerschlägen, Grünland und extensiv be- hinter der Diele und dem Flettbereich, während bei mittle- weideten Halbtrockenrasen bestimmt. Der siedlungsfreie ren und kleineren Bauernhäusern die Dielen bis zum rück- Gebirgszug der Egge ist heute fast vollständig bewaldet. wärtigen Giebel, vor dem die Feuerstelle lag, durchgehen Noch um 1800 waren hier große Bereiche weitgehend ent- und sich die Stubeneinbauten in einem der Seitenschiffe

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter 6.2

befanden. Als Baumaterial wurden Holz (Fachwerkständer, Zu den herrschaftlichen Wohnhäusern, die häufig mit ei- Riegelwerk, Dachkonstruktion) und Lehm (Gefachfüllungen, genen Kapellen ausgestattet waren, gehörten neben Park- Putz) verwendet. Die Hauptschauseite der Fachwerkbauten, anlagen immer auch Wirtschaftshöfe und Mühlen, wie dies in der Regel die Giebelfassade mit dem Torgestell, wurde beispielhaft auch in den funktionalen Zusammenhängen bei aufwändig mit Inschriften und Schnitzwerk dekoriert. Im 19. der Hinnenburg anschaulich überliefert ist: Die Höhenburg Jh. setzten sich Bruchsteine und Ziegel als Gefachfüllun- der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit einer Kapelle von gen durch. Die verhältnismäßig steilen Satteldächer wurden 1658 wurde zwischen 1736 und 1746 zum repräsentativen zunächst mit Stroh gedeckt, etwa seit dem 17. Jh. fanden Schloss mit Gartenterrassen und Tiergarten umgestaltet. zur Verminderung der Brandgefahr Solling-Sandsteinplat- Südwestlich unterhalb liegen an der Brucht die großzügi- ten Verwendung; hier im Wesergebiet waren sie gegenüber gen Ökonomiegebäude der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- Tonpfannen vorherrschend. Nebengebäude wie Scheunen, derts – Schäferhof genannt – sowie nordwestlich des Burg- Speicher und Schafställe als Fachwerkbauten ergänzten berges, ebenfalls an der Brucht, die sog. Kunstmühle. Ab- die Wohn-Wirtschaftsgebäude auf den Höfen. seits liegende Ackerflächen wurden von dem westlich gele- genen Vorwerk Albrock (1830) aus bewirtschaftet. Nach Os- Charakteristisch ist neben den bäuerlichen Gehöften die ten, zum zugehörigen Ort Bökendorf, führt von der Schloss- Vielzahl an ehemaligen Rittergütern und an Gutsanlagen der anlage eine Kastanienallee, an der 1844 eine neugotische Klöster und Stifte mit den ältesten massiven ländlichen Bau- Kapelle, die Schneekapelle, errichtet wurde. ten (Gut Altenheerse (Kornspeicher, Mitte des 15. Jahrhunderts), Willebadessen; Vordereichholz, 17. Jh., Steinheim; Engar, 17. Unter den Sakralbauten ragt das karolingische West- Jh., Willebadessen). Seit dem 16. Jh. vermehrte sich die werk der ehemaligen Reichsabtei Corvey (geweiht 873; Zahl adeliger Güter; so verließen beispielsweise einige Fa- Höxter) als der älteste Sakralbau und zugleich Ursprung milienzweige der Spiegel zum Desenberg ihre gleichnami- der Missionierung der Weserregion heraus. Zahlreiche ge Burg und gründeten am Fuße des Vulkankegels die Klosteranlagen bezeugen bis heute das rege geistliche Adelssitze Übelngönne, Klingenburg und Rotenburg sowie Wirken verschiedener Orden (Marienmünster (Benedikti- die zugehörigen Gutshöfe Klingenburgerhof, Winterhof, ner) 1128; Brenkhausen (Zisterzienserinnen) 1246, Höxter; Rothehaus, Dinkelburg auf heutigem Borgentreicher Stadt- Gehrden (Benediktiner) 1142, Brakel; Herstelle (Franziska- gebiet, und die so genannte Burg in Bühne. ner) 1657, Beverungen). Neben den romanischen und go- tischen Kloster-, Stadt- und Dorfkirchen tragen auch jün- Die repräsentativen Herrenhäuser (Hembsen, Brakel; Rie- gere Kirchenbauten (evangelische Pfarrkirche Peckelsheim pen, Warburg; Helmern, Willebadessen; Maygadessen, Höx- (Willebadessen) 1840/41; Missionshaus St. Xaverius der ter; Rothehaus, Bad Driburg) sind bis heute oft von weitläu- Steyler Missionare (Bad Driburg) 1924/25) und Sakralbau- 183 figen Parks umgeben. Aus den Gütern haben sich seit ten anderer Glaubensgemeinschaften (jüdische Synago- dem ausgehenden 18. Jh. landwirtschaftliche Großbetrie- gen, z.B. Borgholz (Borgentreich) 1838) zur Prägung der be entwickelt, deren Baustruktur mit den um eine Hofflä- Kulturlandschaft bei. che gruppierten Wirtschaftsgebäuden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf den größeren Bauernhöfen über- 31 jüdische Friedhöfe sind vorhanden; an christlichen nommen wurde. Bedingt durch den vermehrten Einsatz Dorffriedhöfen seien die von Vinsebeck (Steinheim) und von Landmaschinen und die Verwendung von Kunstdün- Bühne (Borgentreich), an städtischen die auf dem Burg- ger wurden etwa gleichzeitig mehr und mehr nach Funk- berg in Warburg und der Friedhof am Bollerbach in Höx- tionen getrennte Gebäude auf den Hofstellen errichtet, ter hervorgehoben. Seit der verstärkten Konfessionalisie- z.B. Scheunen für die Erntebergung und Viehställe neben rung im 17. Jh. bereichern auch die äußerst zahlreichen reinen Wohnbauten. Vermehrt kamen industrielle Bauma- Stätten der Volksfrömmigkeit (Wegekreuze, Bildstöcke und terialien und -teile zum Einsatz. Kapellen) das Bild der Kulturlandschaft.

Als die zahlreichen Adelssitze seit dem 15. Jh. ihre Von den Bauten im Dienste von Gesundheit und Frei- Funktion als militärische Anlagen aufgrund der politi- zeit sind neben den weitläufigen Parks, Kurhäusern und schen und kriegstechnischen Entwicklungen verloren, Kuranlagen in den Kurorten (Bad Driburg ab 1777; Bad fielen die Höhenburgen überwiegend wüst (Calenberg, Hermannsborn 1925) mit der zunehmenden Mobilität seit Warburg; Dringenberg, Bad Driburg; Iburg, Bad Driburg; der Mitte des 19. Jahrhunderts die Bauten des Touris- Oldenburg, Marienmünster; Tonenburg, Höxter) oder wur- mus (z.B. „Bergrestauration Felsenkeller“ 1897 (Höxter); den – wie die Niederungsburgen – entsprechend den Turm „Bierbaums Nagel“ auf dem Eggekamm nordwestlich Ansprüchen nach bequemerem Wohnen und den modi- von Willebadessen-Borlinghausen 1847, Rodeneckturm auf schen Baustilen um- bzw. neugebaut (Renaissance: dem Ziegenberg oberhalb von Höxter 1883) besonders Amelunxen 1554; Beverungen; Grevenburg 1566-1579, Nie- prägend geworden. heim; Schweckhausen 1581-1584; Neuenheerse 1599- 1603, Bad Driburg; Thienhausen 1609, Steinheim; Barock: Von den kulturlandschaftsprägenden Bauten des Verkehrs Wehrden 1695 ff., Beverungen; Rheder 1750, Brakel; Klas- und der Kommunikation sind vom historischen Landverkehr sizismus: Bökerhof 1769-1771, Brakel; Vinsebeck, 1717- Gaststätten mit (Pferde-)Ausspannmöglichkeiten (Brakel, Am 1720; Welda 1733; bis hin zur romantisierend erweiterten Thy, Ende des 18. Jahrhunderts; Höxter-Stahle, um 1820) und Anlage der Calenburg 1874-1884, Warburg). die historischen Fährstellen über die Weser in Beverungen

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 9 // Weserbergland – Höxter

und Höxter, vom Eisenbahnverkehr Bahnhofsempfangsge- Leitbilder und Ziele bäude (Warburg 1852/53; Höxter) hervorgehoben. Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung der charak- Als Relikt einer fast vergessenen Nachrichtentechnik teristischen Kulturlandschaftsbilder in der Kulturlandschaft thront hoch oben auf der Finnstätte bei Oeynhausen (Nie- „Weserbergland – Höxter“ unter Berücksichtigung der ge- heim) eine optische Telegraphenstation zur Übermittlung wachsenen Strukturen und der spezifischen naturräumli- von Nachrichten (auf historischen Fundamenten Anfang der chen Voraussetzungen mit folgenden Zielen: 1980er Jahre als Kopie aufgebaut). G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz Unter den Bauten der Versorgung verdient die in das der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne. 9. Jh. zurückgehende Wasserversorgung der Stadt Höx- ter mit der ungefähr 5 km langen, künstlich angelegten G Erhalt der besonders charakteristischen Merkmale des „Grube“ zwischen Höxter und Corvey besondere Auf- agrarisch geprägten ländlichen Raumes (u.a. die dörfli- merksamkeit. In anderen Städten sichern sog. Kümpe, che Siedlungsstruktur). die über Rohrleitungen gespeist werden, auf öffentli- chen Plätzen die Wasserversorgung z.B. in Nieheim und G Erhalt des spezifischen Landschaftsbildes der Börden. Steinheim. G Erhalt der Tallandschaft der Weser mit ihrer charakteris- tischen Siedlungsstruktur. Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche und -elemente G Erhalt der Talräume und Schutz vor weiterer Zerstörung durch Abgrabungen. G Die Nieheimer Flechtheckenlandschaft ist geprägt von einer besonderen Art der Heckenpflege (KLB 9.01). G Wiederherstellung beeinträchtigter Räume, die z.B. ei- nen besonders hohen Verlust an Kulturlandschaftsele- G Das in eine bewaldete Hügellandschaft eingebettete menten wie Feldhecken, Baumreihen, Alleen, Hofein- Kurgebiet Bad Driburg dokumentiert mit seinem um- grünungen sowie Obstwiesen aufweisen. fangreichen historischen Gebäudebestand das kultur- historisch bedeutsame Phänomen des Kurbades seit G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und dem 18. Jh. (KLB 9.02). Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- 184 staltwerterhaltender Umnutzung. G Das Siedlungsgefüge mit Stadtkern, Adelssitzen und Klosteranlagen ist in der Stadt Brakel besonders an- G Berücksichtigung der im Oberweserraum vorhandenen schaulich erhalten (KLB 9.03). baukulturellen Gestaltwerte bei der Weiterentwicklung der Ortskerne und Siedlungsflächen. G Im Wesertal zwischen Höxter-Stahle und Beverungen- Herstelle ist die historische Siedlungsstruktur entlang G Bei nachgewiesenem Bedarf Weiterentwicklung der eines Flusses im Mittelgebirge mit Städten, Klöstern ländlichen Siedlungsstruktur durch behutsame Erwei- (Kloster Corvey), Burgen und ländlichen Siedlungen be- terung der vorhandenen Dörfer und Weiler. sonders deutlich ablesbar geblieben. Ferner sind zahl- reiche historische Landnutzungsformen (Halbtrockenra- G Erhaltung historischer Strukturen und Kleinelemente in sen, Niederwald- und Hudewaldrelikte) sowie wichtige der Feldflur (u.a. Wegebeziehungen, Wegekreuze, Feld- Zeugnisse der Wasserbau- und Transportgeschichte scheunen, kleine Steinbrüche). vorhanden (KLB 9.04). G Freihaltung der Täler, Bach- und Flussauen als prägen- G Die Warburger Börde gehört zu den Altsiedelland- de Landschaftsteile der offenen Agrarlandschaft. schaften in Nordrhein-Westfalen und weist bedeuten- de archäologische Funde seit der Altsteinzeit auf. Der G Minimierung der Bodenerosion zum besseren Schutz Raum um die weithin sichtbare Burg(ruine) auf dem des Bodens als archäologisches Archiv und zur Erhal- Vulkankegel des Desenberges wird seit Jahrhunder- tung der Bodenfunktionen im Naturhaushalt durch bo- ten entscheidend von der Bewirtschaftung durch denschonende Bearbeitungsweisen. adelige Güter geprägt (KLB 9.05). G Erhalt der extensiven Weidenutzung auf Magerstandorten G Hudewald bei Gehrden. (Kuppen, Steilhänge) als historische Landnutzungsform.

G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- G Vermeidung der technisch-industriellen Überprägung dere als Bodenarchiv, sind Beverungen, Borgentreich, des Landschaftsbildes der offenen, ländlichen Kultur- Borgholz, Brakel, Bredenborn, Gehrden, Driburg, Drin- landschaft durch übermäßige Ausweisung von Vor- genberg, Höxter, Nieheim, Peckelsheim, Steinheim, ranggebieten für Windenergienutzung. Vörden, Warburg und Willebadessen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein 6.2

Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein Aus- und umgestaltet wurde die Aue, die zwischen Kleve und Emmerich eine Breite von ca. 10 km einnimmt, in Fol- ge der natürlichen Mäandrierung des Rheins. Seine Bögen Lage und Abgrenzung wanderten flussabwärts und bei einem bestimmten Reife- grad brachen die Schlingen an der engsten Stelle durch; Die Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“ wird beson- zurück blieben die charakteristischen Altarme. ders vom Rhein, den historischen Stromlaufveränderun- gen, dem Umgang der Menschen mit dem Wasser und Beschränkt auf ein vergleichsweise schmales Flussbett dem Schutz vor dem Wasser gekennzeichnet. Die charak- konnte sich der Rhein in den Niederterrassenkörper ein- teristische Besiedlungsgeschichte der unteren holozänen schneiden und schuf so am Unteren Niederrhein das ca. Niederrheinaue ist ein weiteres Charakteristikum. 2 m tiefere Niveau der Aue. Parallel zum Fluss fällt die Oberfläche der Rheinaue von ca. 19 m ü. NN bei Wesel Im Norden und Nordwesten wird der Untere Niederrhein auf ca. 13 m ü. NN bei Rindern ab. durch die Staatsgrenze künstlich begrenzt, obwohl der angrenzende niederländische Raum faktisch identisch ist. Die Abgrenzung zum Westmünsterland im Osten wird vor Geschichtliche Entwicklung allem durch die abnehmenden unmittelbaren Auswirkun- gen des Rheins und seiner Bedeutung für die Geschichte Der Rhein hat die Entwicklung dieser Kulturlandschaft und die gewachsene Baukultur begründet. Im Westen entscheidend mit geprägt. Durch die Mäandrierung und bzw. Südwesten folgt die Grenze der Endmoräne der Saa- Rheinstromverlagerungen wurden einerseits Siedlungsflä- le-Eiszeit. Im Süden wird das Moerser Land wegen der chen durch Erosion aufgegeben und vom Fluss wegero- engen wirtschaftlichen und siedlungstopographischen diert, andererseits entstanden durch Sedimentation neue Bindungen zum Ruhrgebiet bereits zur Kulturlandschaft Siedlungsflächen. Hiervon zeugen heute noch zahlreiche „Ruhrgebiet” gerechnet. Altrheinstromrinnen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts beendeten die Begradigung und Befestigung des Damit umfasst die Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“ Rheins durch die preußische Rheinstromverwaltung die- den nördlichen Kreis Kleve und den zentralen Kreis Wesel. se natürliche Umlagerungsdynamik mit Uferverstärkun- gen und Buhnen. So konnte der Rheinlauf endgültig fi- xiert werden. Naturräumliche Voraussetzungen Bereits in der vor- und frühgeschichtlichen Phase war 185 Bestimmend für die Naturlandschaft ist die ausgeprägte die Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“ dauerhaft besie- Niederung des Rheins mit den ehemaligen, heute teilwei- delt. Nachweise aus den Stein- und Metallzeiten in Form se verlandeten Rheinmäandern. In den Rhein münden von Häuserresten oder Gräbern existieren auf den weitge- zahlreiche kleinere und größere Gewässer, wie die Lippe hend hochwasserfreien Donken und Sandern. mit ihrem breiten Mündungsgebiet. Die metallzeitlichen Siedlungen liegen konzentriert nahe Gegenüber den Erhebungen der Stauchmoräne mit von Wasserläufen und Niederungen. Dabei nutzte man die eher sandigen Böden erscheint die Rheinniederung wenig hochwasserfreien Zonen, wie z.B. die Donken in den Niede- gegliedert, denn Niederterrasse und Aue lassen sich mor- rungen oder die Terrassenkanten entlang der Bäche und phologisch nur schwer unterscheiden; die überwiegend Flüsse (z.B. Moers-Hülsdonk in der Kulturlandschaft „Ruhrge- schluffig-lehmigen Böden sind häufig zumindest zeitweise biet“, Hünxe-Bruckhausen in der Kulturlandschaft „Westmüns- vom Grundwasser beeinflusst. Die etwas höher gelegene terland“ ). In Einzelfällen kann von wurtenartigen Aufsiedlun- Niederterrasse mit ca. 16-17 m ü. NN findet sich lediglich gen gesprochen werden wie in Emmerich-Praest. Durch in Erosionsresten bei Emmerich und am Rand der San- Waldrodungen entstanden die charakteristischen Sied- derablagerungen zwischen Qualburg und Kalkar. Zwi- lungskammern, in denen eine oder wenige Familien wirt- schen Alpen und Rheinberg gibt es über Strecken auch schafteten. Am Niederrhein war als Form der landwirtschaft- noch eine erkennbare Terrassenkante. lichen Nutzung die Viehhaltung bedeutend, da die Böden eine intensive agrarische Nutzung nicht zuließen. Im Laufe des Holozäns kam es zu Perioden verstärkter Umlagerungsaktivitäten. So sind auch die Auen aus klei- In der Rheinniederung ist von einer intensiven Ausnut- nen, flächigen Terrassenkörpern aufgebaut, die die erhal- zung und Verarbeitung von Raseneisenerzen auszuge- tenen erdgeschichtlichen Relikte solcher Umlagerungs- hen, beispielsweise im Raum südöstlich von Wesel. Durch phasen während der letzten 10.000 Jahre sind. In der Fol- den intensiven Gebrauch von Holz u.a. für die Metallver- ge veränderte sich der Rhein allmählich von einem verwil- hüttung ist eine weitgehende Entwaldung des Unteren derten Fluss mit vielen Nebenarmen in einen mehr oder Niederrheins zumindest in der älteren Eisenzeit anzuneh- minder einbettigen und mäandrierenden Fluss, dessen men; ausgedehnte Heideflächen prägten die Landschaft. Ufer durch den Bewuchs stabilisiert wurden. In der Rö- merzeit zeigte sich der Rhein als Strom mit vielen Seiten- Der Niederrhein wurde von Wegen erschlossen, die sich armen und entsprechenden Inseln dazwischen. hauptsächlich an die flussnahen Terrassenkanten hielten

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein

(z.B. Rhein, Lippe, Issel). Darüber hinaus verbanden lokale richtet worden ist. Das letzte, zur Zeit der Herrschaft von Wege über Land die größeren Verkehrstrassen und er- Kaiser Nero bestehende Lager besaß ein umwalltes Areal schlossen die einzelnen Siedlungskammern (z.B. die Ver- von 902 x 621 m und stellt somit das größte bekannte Mi- bindung westlich von Xanten). Der Rhein konnte auf Furten litärlager des römischen Reiches überhaupt dar. In sei- gequert werden, solch ein Übergang ist im Raum nem Umfeld entstand später eine Lagervorsiedlung, ein Wesel/Xanten durch zahlreiche Metallfunde der Bronze- dichtes Wegesystem, Töpferöfen, Friedhöfe, Übungslager zeit (2. Jahrtausend v. Chr.) gesichert. Die Gräberfelder la- und ein heute noch obertägig vollständig erhaltenes Am- gen in der Nähe der Siedlungen, aber auf landwirtschaft- phitheater von fast 100 m Durchmesser. Das dicht besie- lich weniger nutzbaren Höhen, wie z.B. den Dünen oder delte römische Areal umfasste über 60 ha, ebenso ist mit Sanderzonen. Typisch sind Hügelgräber in denen die einem hohen Kultivierungsgrad in der Umgebung bereits Brandbestattungen niedergelegt werden. Im Laufe von in römischer Zeit zu rechnen. Der Nachfolger des Lagers mehrhundertjähriger Belegung entstanden große Gräber- Vetera I wurde unterhalb des Fürstenberges näher am felder wie in Wesel-Diersfordt u.v.a. Rhein angelegt (Vetera II).

186  Zyfflich Foto: LVR/K.H. Flinspach

Während der Römerzeit gab es ebenfalls eine dichte Am Standort einer Vorgängersiedlung erfolgte um 100 n. Besiedlung, die durch zahlreiche archäologische Funde Chr. der Bau der Römerstadt Colonia Ulpia Traiana auf 73 ha belegt ist. Grundfläche mit 3,4 km langer Stadtmauer, die heute im Ar- chäologischen Park Xanten ausgegraben und teilweise ober- Innerhalb der Hees, einem Ausläufer der Sanderrücken tägig rekonstruiert wird. Auch wenn die römische Stadt im südlich von Xanten, fand eine herausragende kulturland- 5. Jh. n. Chr. nach vorherigen Zerstörungen endgültig aufge- schaftsgeschichtliche Entwicklung seit der Römerzeit geben wurde, und ein Gräberfeld im Bereich der späteren statt. Nördlich vom heutigen Birten lag auf dem Südhang Stiftsimmunität Keimzelle des im Standort verlagerten Kerns des Fürstenbergs das Xantener Legionslager Vetera I, der mittelalterlichen Stadt Xanten wurde, so wirkte die Rö- das erstmals 12 v. Chr. angelegt, aber frühestens nach merzeit landschaftsgeschichtlich weiter: Neben der Zivilstadt 9 n. Chr. in Holzbauweise, später in Steinbauweise er- Colonia Ulpia Traiana hat es in der Nähe auf der Bislicher Insel

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein 6.2

südöstlich von Xanten das Legionslager Vetera II gegeben, Agrarwirtschaft gab. Die Wälder begannen sich bereits im dessen Vorgängeranlage bis zur Zerstörung 70 n. Chr. auf 3. Jh. wieder auszudehnen. dem Fürstenberg lag. Die Landschaft war zu römischer Zeit mit einem dichten System von Gutshöfen, Straßen, Größere Bereiche der Niederrheinaue sind seit der me- Straßenstationen sowie Gräberfeldern und straßenbeglei- rowingischen und karolingischen Periode durch Auen- tenden Grablegen ausgestattet. waldrodungen kultiviert worden, wie linksrheinisch die Düffel bei Kranenburg, (Donsbrüggen, Bimmen und Niel), Die Landschaft war insgesamt sehr intensiv genutzt der Hammsche Polder bei Rees (Bienen, Brienen, Kellen, bzw. kultiviert. Einige heutige Verkehrsachsen, wie die Riswick, Schmithausen) und die Umgebung von Altkalkar, B 57, entsprechen römischen Straßenverläufen. Appeldorn, Hönnepel, Huisberden. Rechtsrheinisch sind für diese Epoche Niederelten, Hüthum, Klein Netterden, Bergswick bei Rees, Esserden sowie Lippeham und Flü- ren bei Wesel zu erwähnen. Die Siedlungen und Höfe befanden sich auf den höheren Uferwällen, auf denen Ackerbau gut möglich war. In den Mulden und Auen ver- blieb zunächst der Auenwald, der sich durch die Bewei- dung allmählich in Grünland umwandelte. Die späteren Städte Wesel, Xanten und Rees hatten fränkische Vor- gängersiedlungen.

Auch im Hoch- und Spätmittelalter entstanden zahlreiche Siedlungen: Dornick, Hasselt, Praest, Speelberg, Vrasselt, Geslaer. Im Bruchland entstanden im 14. Jh. um Qualburg und Appeldorn holländisch geprägte Bruchkultivierungen mit Streifenparzellierung: Arselaer, Qualburger Bruch, die Hetter bei Emmerich, Millinger Bruch und Radebruch.

Bereits im 13. Jh. erhielten Rees und Xanten (1228), Em- merich (1233), Kalkar (1242) als Neustadt, Xanten, Wesel (1241), Grieth (1250) und Orsoy (zwischen 1263 und 1270) Stadtrechte, Grieth und Griethausen im Jahr 1367. Beson- 187 ders Emmerich, Rees und Wesel entwickelten sich zu be- deutenden Handelsstädten. Einige Städte, z.B. Wesel und Rees, waren in den folgenden Jahrhunderten eng mit dem Rheinzollwesen und der Hanse verbunden.

Einzigartig in der Region ist Marienbaum: Die wachsen- de Bedeutung der Ortschaft beruht auf der Auffindung ei-  Zyfflich, Via romana nes Gnadenbildes der Hl. Maria 1430 in einem Baum, so Foto: LVR/K.H. Flinspach dass hier ein Kloster errichtet wurde. In der Folgezeit ent- wickelte sich Marienbaum zu einem überregional bekann- ten Wallfahrtsort, der insbesondere in den Pestjahren des Der Untere Niederrhein war in der Antike außerdem mit 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Aber das weiteren militärischen Befestigungen in Rheinberg, Wesel- Kloster trat auch als Grundherr in Erscheinung, insbeson- Büderich und -Bislich, Xanten-Lüttingen, Kalkar-Altkalkar dere im Bereich der umgebenden Wald- und Heideareale. und -Wissel, Bedburg-Hau-Qualburg und Kleve-Rindern Mit der Säkularisation 1802 ließ die Bedeutung als Wall- als Bestandteilen des niedergermanischen Limes ausge- fahrtsort nach, im 19. Jh. dehnte sich die Siedlung Marien- stattet. Dazu gab es ein dichtes System von kleineren Ge- baum entlang der Hauptstraße aus. werbesiedlungen und Gutshöfen, Heiligtümern und Stra- ßenstationen sowie von Gräberfeldern entlang der römi- Auf dem Standort einer vermutlich fränkischen Vorgän- schen Straßen und Wege. Einige der heutigen Verkehrs- gersiedlung wurde Wesel 1241 zur Stadt erhoben, um- achsen entsprechen partiell römischen Straßenverläufen. mauert und befestigt. Dank seiner Lage am Rhein und seit 1270 auch an der Lippemündung wurde der Ort zu einer Mit Aufgabe der Stadt und der Gutshöfe sowie in Ver- blühenden Handelsstadt und Haupthafen des Herzogtums bindung mit einer veränderten Wirtschaftsweise verlager- Kleve mit Ausbau des Lippehafens. Im 17. Jh. wurde We- ten sich die Standorte der Siedlungen bzw. die Nutzun- sel nach vorausgegangenen militärischen Zerstörungen zu gen bereits in spätantiker Zeit; so breiteten sich auf ehe- einer Festung ausgebaut. Da die Festungswerke durch maligen Kulturlandflächen wieder Wälder aus. Neuere Rheinhochwasser gefährdet waren, wurde nach 1784 der Studien der Archäobotanik belegen, dass es keine gro- Rhein durch den Büdericher Kanal abgelenkt, wodurch die ßen Brüche zwischen der antiken und frühmittelalterlichen Büdericher Insel entstand. Hier ließ Napoleon eine zweite

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein

Zitadelle errichten, auf der linken Rheinseite entstand der Warden, die besiedelt wurden. Dies sind das Emmericher dritte Brückenkopf, das spätere Fort Blücher. Eyland, Bylerward und das Gebiet nördlich von Wissel, Salmorth, Reeser Eyland, Grietherbusch, Grietherort. Au- Seit der frühen Neuzeit war der Niederrhein ständiger ßerdem entstand durch die Stromverlagerungen ein Mikro- Schauplatz verschiedener Erbfolgestreitigkeiten, Kriege relief mit Uferwällen, Prall- und Gleithängen, Mulden und und Glaubensauseinandersetzungen (Geldrischer Erbfolge- Trockenrinnen. Die höheren Lagen wurden hauptsächlich krieg 1543, Achtzigjähriger Krieg 1568-1648, Truchsessischer als Ackerland und die sog. „Niederungen“ (Mulden und Krieg 1583-1589, Erbfolgestreit um Jülich-Kleve-Berg 1609- Rinnen) als Grünland genutzt. 1614, Dreißigjähriger Krieg 1618-1648, Pfälzer Krieg 1688- 1697, Spanischer Erbfolgekrieg 1701-1714, Siebenjähriger Der Umgang mit dem Wasser und der Schutz gegen Krieg 1756-1763, französischer Koalitionskrieg 1792-1797). das Wasser prägten die Entwicklung der Kulturlandschaft Spanische, niederländische, französische, schwedische, „Unterer Niederrhein“. Die Höfe der Dörfer und Bauer- bayerische und hessische Besatzer meldeten wechselwei- schaften sowie Einzelhöfe wurden wegen der Hochwas- se ihre Besitzansprüche auf einzelne Territorien an. Im Zu- sergefahr auf Wurten an den Rändern der Uferwälle ge- ge der Belagerungen wurden vielerorts die mittelalterli- baut. Im 8. und 9. Jh. wurden die ersten Deiche als Quer- chen Stadtmauern durch mächtige Festungswerke ersetzt. deiche angelegt. Beispiele stellen die Städte Wesel, Rees, Rheinberg und Orsoy dar. Die Siedlung Schenkenschanz ist 1586 von Die zweite Stufe des Deichwesens wurden durch die so Martin Schenk von Nideggen als Festungsanlage errichtet genannten Ringdeiche im 10. Jh. geprägt. Kalkar-Wissel ist worden. Gegenüber von Emmerich und Rees wurden um heute das einzige erhaltene Dorf mit einem Ringdeich und 1600 Verstärkungen angelegt: die heute nicht mehr erhal- hat damit eine herausragende, landesweite Bedeutung. tene Oranienschanze südlich von Emmerich und die Ree- ser Schanze südlich von Rees. Im frühen 17. Jh. wurde die In der dritten Phase wurden um die von Altrheinläufen rechtsrheinischen Städte Emmerich, Rees und Wesel von umgebenen „Inseln“ Sommerdeiche für den Sommer- den Holländern bis 1672 besetzt und befestigt. hochwasserschutz errichtet. Die Banndeiche (Winterhoch- wasserschutz) entstanden in der vierten Phase auf beiden Das Städtewesen war ebenfalls eng mit dem Rheinzoll- Ufern erst nach 1350 durch die Verbindung der Polderdei- wesen verbunden. Andernorts, wie in Xanten, wurden die che, die in diesem Zusammenhang erhöht worden sind. mittelalterlichen Stadtmauern nach der Besetzung durch Trotz der Deichbaumaßnahmen traten viele Hochwasser- die Hessen im Dreißigjährigen Krieg geschleift und nicht katastrophen mit verheerenden Auswirkungen auf, deren 188 wieder aufgebaut. Spuren heute noch in den Landschaften zu erkennen sind. Durch Deichbrüche entstanden Kolke, neue Deichstücke Die Festigung der klevischen Herrschaft wird durch wurden um diese herum geführt, so dass die Deichanla- zahlreiche strategisch postierte mittelalterliche Wasserbur- gen einen kurvenreicheren Verlauf annahmen. gen dokumentiert: Boetzelaer, Empel, Eyl, Grieth, Groin, Grondstein, Hueth, Moyland, Offenberg, Rosendahl, Till- Die heute vorhandenen Höfe sind fast alle bereits 1800 haus, Schmithausen, Wardenstein, Balken, Winnenthal, kartiert, so dass diese unabhängig von der heutigen Bau- Voerde, Ossenberg, Gelinde, Wolfskuhlen, Bloemersheim, substanz auf historischen Standorten stehen und ein Lauersfort u.v.a. Siedlungsmuster repräsentieren, das mindestens 200 Jahre ungestört und unverändert bis heute überliefert ist. Zu territorialen und wirtschaftlichen Schutzmaßnahmen Die häufige Bezeichnung von „Kampen“ zusammen mit können funktional die seit dem Spätmittelalter ausgebau- Feldbegrenzungen durch Baum- und Heckenreihen mar- ten Landwehren bei Wesel und Landwehrgräben des frü- kiert historische Nutzflächen der bäuerlichen Kulturland- hen 15. Jahrhunderts in der Hetter und am Fuße der End- schaft. Die heutigen Agrarflächen sind nach Altkartenver- moräne gerechnet werden. So markieren diese Wasser gleich bereits im 19. Jh. bewirtschaftet worden. führenden Gräben, die meist von Wallanlagen begleitet waren, südöstlich von Emmerich die Grenze zwischen Bestimmend für die verkehrliche Erschließung des Un- den Herzogtümern Kleve und Geldern. teren Niederrheins war der Rhein. Da dadurch die interna- tionalen Verkehrsströme vorgegeben waren, eröffnete Die Wasserburg Haus Balken in Xanten-Marienbaum man 1856 die rheinparallele Bahnstrecke von Oberhausen wurde um 1417 als Kontrollpunkt an einem stark befahre- nach Emmerich mit Anschluss an die niederländischen Ei- nen Durchlass an einer Landwehr errichtet. Die ebenfalls senbahnen. Diese Verbindung übernahm den internatio- im 15. Jh. errichtete Wasserburg Rosendahl nordöstlich nalen Güter- und Personenverkehr, beispielsweise den von Bedburg-Hau erbaute man an einer alten Straße, die berühmten Rheingold von den Niederlanden in die von Goch zum Rhein führte und eine Landwehr kreuzte. Schweiz. Mittelpunkt des Eisenbahnverkehrs war Wesel; von hier aus konnte man ab 1874 Venlo und ab 1878 Box- Durch die Rheinstromverlagerungen wurden einerseits tel in den Niederlanden erreichen. Nach Osten kamen besiedeltes Land (Borstade, Schmithausen, Sulen und Rhe- 1874 die Bahn nach Haltern und 1878 die Bahn nach Bo- nen bei Rees) zerstört und es entstanden andererseits cholt, 1912 noch die Verbindung von Wesel über Voerde durch Ablagerungen neue Flächen bzw. Rheininseln oder nach Oberhausen hinzu, mit einer großen, im Zweiten

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein 6.2

Weltkrieg zerstörten Brücke über die Lippe. In Wesel gab Weltkrieg bis 1966 auf den Abschnitt Wesel-Rees be- es ein Bahnbetriebswerk. schränkt. Abschnitte der Trasse sind noch in der weiten Landschaft erhalten und werden touristisch genutzt. Heute fahren auf zwei Strecken Museumseisenbahnen: In Kleve kreuzten die Eisenbahnen von Rheinhausen, auf der Weseler Hafenbahn und auf der Strecke nach von Krefeld, von Nijmegen und von Arnhem/Elten. Be- Schermbeck-Damm (s. Kulturlandschaft „Westmünster- sondere Bedeutung hatte die Strecke nach Arnhem. Die- land“). In den 1870er Jahren wurde eine Verbindung von se führte zunächst nach Spyck, wobei ein Rhein-Altarm Paris nach Hamburg geplant, dazu sollte ein Abschnitt von auf einer Gitterbrücke gequert wird, eines der herausra- Venlo nach Wesel mit Rheinquerung eingerichtet werden. genden eisenbahnhistorischen Denkmäler am Nieder- Hierzu errichtete man die Rheinbrücke bei Wesel, eine der rhein. Es folgte ein Schiffs-Trajekt und die Fortsetzung längsten Rheinbrücken überhaupt. Die Strecke wurde von auf einem Damm nach Elten, der noch gut erhalten ist. der Köln-Mindener-Eisenbahn bis 1874 fertig gestellt, inter- Von Elten führte die Strecke parallel zur Strecke der nationale Züge fuhren hier jedoch nur sehr wenige. Köln-Mindener-Eisenbahn nach Arnhem.

189  Wesel, Rheinbrücke Foto: LVR/J. Gregori

Da Wesel weiterhin preußische Festung war, wurden Ei- Das in den letzten Jahrhunderten durchgängig bewalde- senbahnforts zum Schutz der Brücke errichtet. Im Zwei- te Areal im engeren Bereich der „Hees“ ist heute mit einer ten Weltkrieg errichtete man zusätzliche Bunkeranlagen Vielzahl von Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg zum Schutz der Brücke, diese wurde jedoch durch Luft- aber auch jüngeren Raketenabschussrampen bedeckt. angriffe zerstört und nicht wieder aufgebaut. Die Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“ ist insge- Als Privatbahn wurde 1878 die Boxteler Bahn errichtet. samt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Kulturland- Sie führte von Wesel über Xanten und Goch in die Nie- schaftselemente ausgestattet, wie historische Höfe (vor derlande. Sie bediente zeitweise den internationalen Ver- 1800 z.B. Haus Roesgen, Kaninenberg, Heeshof), Bau- kehr zwischen England und Russland. Von dieser Stre- erngärten, Bildstöcken, Altwegen, Hohlwegen, Nieder- cke sind noch zahlreiche Bahndämme und Streckenteile waldresten, Wegekreuzen, Wallstrukturen, Heiligen- zu erkennen. häuschen unterschiedlicher Zeitstellung.

Den rechtsrheinischen Raum erschloss ab 1914 die Durch den Deichneubau zwischen Grieth und Griethau- Kleinbahn Wesel-Rees-Emmerich, nach dem Zweiten sen von 1966 wurde die breite Überschwemmungsfläche

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein

erheblich verkleinert. Außerdem wurde die neue Auenflä- der römischen Stadt Colonia Ulpia Traiana und die römische che entsiedelt und planiert. Heute befinden sich die Rhein- Ausfallstraße, entlang dieser ist mit einer Vielzahl untertägi- insel Salmorth, Grietherbusch, Grietherort und der Reeser ger Befunde im Gelände zu rechnen. Weiterhin ist das Ward außerhalb des Banndeiches. Nach 1850 setzte, ver- Siedlungsmuster der Höfe unabhängig von der Bausub- bunden mit dem Eisenbahnbau und der preußischen stanz seit über 200 Jahren konserviert worden und weit- Zoll- und Wirtschaftspolitik, ein Urbanisierungsprozess gehend ungestört. ein. Diese Entwicklung, die nach 1945 rasch zunahm, führte zu einer flächigen Erweiterung der Siedlungsflä- Marienbaum als Wallfahrtsort mit einer Vielzahl von his- chen mit neuen Industrie- und Wohngebieten bei den torischen Kulturlandschaftelementen, wie z.B. Kampbe- Städten und seit den 1960er-Jahren bei den Dörfern. Die grenzungen führen zu einem besonderen Kulturland- nach 1880 errichteten Ziegeleien mit hohen Schornstei- schaftscharakter mit herausragender Stellung. nen um Kleve, Emmerich und Rees sind in den letzten Jahrzehnten mit Ausnahme der Ziegeleien zwischen Em- Das später nicht überbaute römische Stadtareal Xan- merich und Vrasselt stillgelegt worden. tens ist ein Kulturlandschaftsbereich von europäischem Rang. Es handelt sich um eine intakte historische Kultur- Durch infrastrukturelle Maßnahmen wie Flurbereinigun- landschaft, ergänzt durch ein wüstgefallenes Verkehrsre- gen und Deichneubau wurden das Siedlungs-, Wege- und likt des 19. Jahrhunderts. Hinzu kommt die einzige Stadt- Parzellengefüge erheblich verändert. wüstung einer mittelalterlichen Stadt im Rheinland, Wesel- Büderich, die Napoleon wegen ihrer strategisch Bedeu- In den letzten Jahrzehnten wird zunehmend Kies gewon- tung vis-à-vis Wesel hatte sprengen lassen. nen. Im Zuge der Kiesgewinnung sind an beiden Rhein- ufern bei Wissel, Xanten, Rees, und Wesel und Rheinberg Die Persistenz des heutigen Gefüges der Höfe und deren große Baggerseen entstanden. Hierdurch wurde das histo- Nutzflächen, das Siedlungsmuster in Streulage, der archäo- rische Erbe in der Kulturlandschaft vielerorts beseitigt. logisch herausragenden Bereich der Millinger Heide, die Viel- zahl der Kulturdenkmale der Landwehren sind einzigartig.

Kulturlandschaftscharakter Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche Es dominiert Ackerbau- und Grünlandnutzung. Der Rhein und -elemente beherrscht und prägt das Landschaftsbild. Diese Prägung 190 durch die häufigen Rheinstromverlagerungen, die durch G Der Untere Niederrhein bei Emmerich (KLB 10.01) stellt den Mäandrierungsprozess entstanden sind, hat eine Kul- einen komplexen Kulturlandschaftsbereich dar mit vor- turlandschaft geschaffen, die von zahlreichen Altrheinläu- geschichtlichen, kaiserzeitlich-germanischen, fränkisch- fen, Altmäandern und Stromrinnen durchschnitten wird. Er- karolingischen Siedlungs- und Bestattungsplätzen, lebbar sind eine regionaltypische niederrheinische Auen- Wurten, der mittelalterlichen Stadt und Befestigung Em- landschaft mit Rheinmäandern und die Siedlungsreihung merich, mit hochmittelalterlichen Bruchkolonisationen, entlang der hochwassersicheren Niederterrassenkanten. mittelalterlichen Landwehren (z.B. Löwenberger Land- wehr) und Deichen wie dem Ringdeich Wissel. Der „Kampf“ gegen das Flusshochwasser ist ebenfalls gut erlebbar: Hofwurten, Polder- und Banndeiche, Deichdurch- G Wissel (KLB 10.01) ist frühmittelalterlichen Ursprungs bruchstellen mit den zugehörigen Kolken prägen die Aue. (850-886). Es war Sitz eines Stiftes mit Stiftskirche (1167). Im 9. Jh. wurde der heute noch vorhandene Die Siedlungsstrukturen der unterschiedlichen Koloni- Ringdeich angelegt, innerhalb dessen kleine Höfe mit sationsphasen sind ebenfalls erhalten geblieben. Dies gilt kleinen Acker- und Gartenparzellen errichtet worden vor allem auch für die sog. Holländersiedlungen wie die sind. Die Wisseler Dünen sind das alte Allmendegebiet. Hetter und Kranenburger Bruch. Einzelhöfe auf erhöhten Im südlichen Bereich ist das Dorf durch Kiesabgrabun- Standorten (Wurten) sind landschaftsprägend. Gut er- gen, eine Feriensiedlung und Ortserweiterungen verän- kennbar ist die anthropogene Veränderung dieses Land- dert worden. Die historische Siedlungsstruktur ist ins- schaftsraumes in Abhängigkeit vom Fluss und verschie- besondere innerhalb des Ringdeiches im südwestli- denen Deichschutzmaßnahmen. Typisch sind vor allem chen Teil noch gut erkennbar. Wissel ist das einzige auch die Pappelreihen auf den Rheininseln Salmorth, Dorf am Niederrhein, welches einen vollständig erhalte- Grietherort und Grietherbusch. nen, mittelalterlichen Ringdeich aufweist und damit ei- ne landesweite Bedeutung hat. Außerdem ist noch auf die landschaftliche Wirkung der Eltener Stiftskirche hinzuweisen, die eine wichtige Land- G Die Düffel/Kranenburg (KLB 10.02) ist seit der mero- marke darstellt und für die Identität der Niederrheinaue wingischen Zeit mittels Rodungen kultiviert und besie- bedeutsam ist. delt worden. Donsbrüggen wird bereits 720/727, Bim- men 891 und Niel im 8. Jh. erwähnt. Zyfflich war der Kulturlandschaftsgeschichtlich ist der Raum herausra- Standort eines bedeutenden Stifts (um 1000); die Kir- gend. Noch erkennbar sind der z.T. rekonstruierte Standort che zeigt noch romanische Bauteile. Die Niederungen

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein 6.2

wurden im Hochmittelalter kultiviert. Hiervon zeugt ein G Im Stadtbild bildet sich in Wesel die neuzeitliche Fes- dichtes Graben- und Streifenparzellierungsgefüge. tungsanlage sehr deutlich ab (Fortanlagen, Zitadelle; Ein gut erhaltenes Beispiel für ein Kolonisationsgebiet KLB 10.07) mit mittelalterlichen Stadtstrukturen im mit einer späteren Stadtgründung ist Kranenburg mit Kern. Neben der Festungsgeschichte hatte Wesel wich- Bruchgebiet und darin dem Standort einer ehemaligen tige zentralörtliche Funktionen. Innerhalb des wertvol- Motte. Die meisten Einzelhöfe stammen aus dem Spät- len Kulturlandschaftsbereiches (KLB 10.07) liegt auch mittelalter. Außerdem gibt es an den Parzellenrändern die mittelalterliche Siedlungswüstung Alt-Büderich. zahlreiche Hecken- und Baumreihen. Dieser Bereich ist in seiner Ausprägung einzigartig. G Die Klever Residenzanlagen (KLB 11.01) auf den Hö- hen und in der Aue mit dem Moritzkanal, Spoy-Kanal, G Kleve-Rindern (KLB 10.03) weist römische und frühmit- dem Amphitheater, dem Prinz-Moritz-Grab und den telalterliche Siedlungsspuren auf. Sternbergen sind einmalig am Niederrhein und daher besonders wertvoll. Das Schloss Gnadenthal und die G Bedburg-Hau-Qualburg (KLB 10.04) ist Standort eines Wasserburg von Rindern sowie die historischen Gär- römischen Lagers an der Limesstraße. ten und Alleen werden ebenfalls zur klevischen Resi- denzlandschaft gerechnet. Wesentlicher Bestandteil G Der Kulturlandschaftsbereich Rhein – Issel – Dingdener dieses Kulturlandschaftsbereiches sind die Sichtbezü- Heide (KLB 10.05) mit seinen altholozänen Böden, ur- ge von Kleve u.a. nach Hoch-Elten, Emmerich, Rees, und frühgeschichtlichen sowie kaiserzeitlich-germani- Kalkar sowie in die Niederlande. schen Siedlungsplätzen, mit Wurten und Bestattungs- plätzen, mittelalterlichen Plaggeneschen, Landwehren G Prägendes Merkmal des Eltener Berges ist die ehema- und Bruchkolonisationen ist insbesondere für das ar- lige St. Vitus-Stiftskirche (970), die zum ehemaligen chäologische kulturelle Erbe von hoher Bedeutung. Damenstift gehörte, das von Graf Wichmann 976 an- stelle einer Burg errichtet wurde. Die Abtei wurde 1802 G Der Diersfordter Raum war bereits in vorgeschichtli- säkularisiert. Die Stiftgebäude wurden nach 1832 ab- cher und mittelalterlicher Zeit intensiv besiedelt. Hal- gerissen. In direkter Nähe befindet sich die frühmittel- dern hatte eine Schöffenbank und das Recht, sich alterliche Drususquelle. Beim Stift entwickelte sich mit Wall und Graben zu befestigen. Landschaftswirk- nach 1880 eine Siedlung. Die Siedlung Elten wurde sam war das an der Grenze des Gebietes gelegene bereits 944 erwähnt, im Jahr 1142 wird sie als wichtige Haus Sonsfeld, 1259 im Besitz der Herren von Sunt- und für die Zeit große Handelssiedlung genannt. Trotz- felde. Östlich von Haldern lag das Zisterzienserklos- dem hat Elten nie Stadtrechte erhalten. Von 1949 bis 191 ter Schledenhorst, das 1241 von Empel verlagert 1963 stand die ehemalige Gemeinde Elten unter nie- worden ist. Im Diersfordter Forst befinden sich eine derländischer Verwaltung, wovon Teile der Bausub- Vielzahl von Kulturdenkmalen wie der Galgenberg stanz und des Straßenbelages zeugen. Außerdem und mehrere Grabhügel. Das Kattenbruchgebiet hat wurde der Eltener Berg touristisch von den Niederlän- eine charakteristische mittelalterliche Kolonisie- dern erschlossen (KLB 11.01). rungsstruktur, der Christiana-Busch hat ein sternför- miges Gestaltungsprinzip. Diese Vielzahl von Merk- G Im Zusammenhang mit dem spanisch-holländischen malen ist in ihrer Vergesellschaftung herausragend Erbfolgekrieg im 16./17. Jh. wurde 1586 durch Martin (KLB 10.05). Schenk von Nideggen die Schenkenschanz errichtet, 1589 ausgebaut und 1635 durch spanische Truppen G Der wertvolle Kulturlandschaftsbereich Xanten (KLB erobert. 1636 wurde die verstärkte und ausgebaute An- 10.06) umfasst das Gelände der Römerstadt Colonia lage von den Holländern zurückerobert. 1711/19 wurde Ulpia Traiana (heute Archäologischer Park mit herausra- ein Großteil der Festung durch Rheinhochwasser zer- gender touristischer und kultureller Bedeutung), das stört. Nördlich von Düffelward auf der anderen Rhein- mittelalterlich Stadtareal von Xanten mit kirchlicher Im- seite befindet sich das Dorf Schenkenschanz. Wall und munität und landschaftsbilddominanter Stiftskirche so- Graben der ehemaligen Festungsanlage sind beson- wie einer archäologisch außerordentlich fundreichen ders an der Südseite im Gelände erhalten und ein ein- Zone aus einer zivilen und militärischen römerzeitli- zigartiges historisches Zeugnis (KLB 11.01). chen Nutzungsgeschichte. Der Kulturlandschaftsbe- reich ist für die europäische Kulturgeschichte von G Die Rheininseln Salmorth, Grietherbusch und Griethe- höchster Bedeutung. rorth, die seit dem 15. bzw. 19. Jh. besiedelt worden sind und heute noch immer außerhalb des Banndei- G Das Legionslager Xanten Vetera II befand sich nördlich ches in der Überschwemmungsfläche des Rheins lie- des Maasmannswardt. Das Lager wurde 70 n. Chr. er- gen, sind mit ihren Merkmalen von identitätsprägender richtet und 276 n. Chr. aufgegeben (KLB 10.06). Wirkung (KLB 11.01).

G Prägende Elemente und von europäischer Bedeutung G Der Bereich der Lippemündung und die Untere Lippe sind der Fürstenberg (römisches Legionslager Vetera I) sind als archäologische Archivräume für die Zeit von und die Hees bei Xanten (KLB 10.06). der Vorgeschichte bis zum Mittelalter bedeutend. Das

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 10 // Unterer Niederrhein

Gewässer als Leitlinie der Landschaftserschließung, von z.B. Industrie sollten in den bereits expandierten die Feuchtböden und Plaggenesche sowie Landweh- Bereichen um die Städte konzentriert werden. ren sind die äußeren sichtbaren Elemente und Struk- turen, die mehrere Jahrtausende Kulturgeschichte re- G Begrünte Einzelhöfe auf Wurten inmitten der durch das präsentieren und konservieren (KLB 05.08). Relief bedingten Nutzungsmuster von Acker- und Grünland, Hecken, Weiden- und Pappelreihen sowie G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- Baumgruppen, die durch Sommerdeiche gegen den dere als Bodenarchiv sind Alt-Büderich, Bislich, Büde- Rhein geschützt werden, prägen diese trotz der Kam- rich, Emmerich, Elten, Grieth, Griethausen, Kalkar, Kra- merung offene Landschaft. In den oben genannten Be- nenburg, Kleve, Kleve-Materborn, Orsoy, Rees, Rees- reichen sollte die Kiesgewinnung vermieden werden Bienen, Wesel, Wissel und Xanten. und vor allem das abwechslungsreiche Landschafts- bild sowie die Wurten erhalten bleiben. In den übrigen G Der Wertherbruch bei Hamminkeln. Bereichen sollten gezielte Anpflanzungsmaßnahmen mit standorttypischen Gehölzen um die Baggerseen G Eisenbahnbrücke Büderich; erste deutsche Brücke aus durchgeführt werden, um dem von größeren Bagger- Richtung Holland und lange Zeit die längste der Strom- seen geprägten Landschaftsbild wieder einen Auen- brücken; Landmarke. charakter zu geben.

G Rheinbrücke Wesel; 1952 als einzige nach dem Zweiten G Die deutliche Persistenz des heutigen Gefüges der Hö- Weltkrieg völlig neu erbaute Stahlbrücke; Landmarke. fe und deren Nutzflächen führt zu einem Leitbild der Beibehaltung des Siedlungsgefüges in Streulage und G Eisenbahnstrecke Wesel-Drevenack-Hünxe. der Landschaftssilhouette als Ergebnis der Land- schaftsgeschichte. Die archäologisch sensiblen Berei- G Rheinbrücke Kleve-Emmerich; Landmarke. che müssen aus der intensiven Bewirtschaftung ge- nommen werden und diese Flächen in Grünland um- G Rheinbrücke Kalkar-Rees; Landmarke. gewandelt werden. Das Leitbild ist somit Erhalt der Struktur und der momentanen Bewirtschaftung. Die Er- G Schloss Moyland. lebniswirkung der höher gelegenen Höfe und des Nut- zungsgefüges ist gegeben und historisch begründet. G Hönnepel/Mörmpter. 192 G Die kolonisatorische Leistung des Zisterzienserklosters Kamp-Linfort in der Alpener Rheinebene ist durch mo- Leitbilder und Ziele derne Entwicklungen überlagert und nur noch sehr in- direkt ablesbar, während weiter nördlich die histori- G Innerhalb der Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“ schen Strukturen im Großen und Ganzen bewahrt sind, liegen mehrere bedeutsame Kulturlandschaftsberei- allerdings verbunden mit einer modernen Agrarintensi- che, die Siedlungskammern mit erhaltenem Kulturel- vierung und Wohnvorortbildung bei den Ortschaften. len Erbe repräsentieren. Dieses ist mit Bau- und Bo- Der Landschaftsraum erhält als Entwicklungsziele die dendenkmälern, archäologischen Befunden und als Freihaltung der Heidebereiche von weiterer Bebauung, landschaftskulturelles Erbe überliefert. Demzufolge die Erhaltung der Freiflächen und Konzentrierung der ist das denkmalpflegerische Ziel ausgerichtet auf weiteren Bebauung an bestehenden Ortschaften und den Substanzerhalt der Siedlungsspuren und aus Verhinderung weiterer Höfe- bzw. Bebauungsverdich- kulturlandschaftlicher Sicht auf die Bewahrung des tung im Offenland. Landschaftsbildes z.B. im Bereich Xanten, Wesel und Kleve als visuell eindeutig erkennbaren Domi- G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, nanten. Das Nebeneinander der historischen Struk- Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamenStadtker- turen ist kennzeichnend und damit ist die Bewah- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. rung der multitemporalen Dimension ein Leitbild der Kulturlandschaft. G Schutz der archäologisch bedeutsamen Bereiche vor Bodeneingriffen und Bodensubstanzverlusten. G Einzelhöfe, Bauerschaften und Kirchdörfer, Burgen und Schlösser, Mühlen bzw. Mühlenstümpfe, Ziegeleien mit G Erhalt der Siedlungszusammenhänge und der räumli- hohen Schornsteinen inmitten der durch das Relief be- chen Bezüge. dingten Nutzungsmuster – Ackerflächen auf den Ufer- wällen und Grünland mit Hecken, Weiden- und Baum- G Die Blick- und Bezugsachsen als Landmarken dürfen reihen bzw. -gruppen in den Mulden – geben dieser nicht durch sichtversperrende Maßnahmen einge- von Offenheit geprägten Landschaft mit eindrucksvol- schränkt werden. len Panoramen (z.B. in Richtung Altstadt von Kleve) ei- nen parkähnlichen Charakter. Die weitere Entwicklung G Erhalt der Trassenrelikte historischer Verkehrswege. sollte hieran angepasst werden. Neuansiedlungen

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen 6.2

Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen wird der Wald als sacrum nemus (Heiliger Wald oder Heili- ger Hain) bezeichnet. Der heutige Reichswald ist nur ein Teil eines ehemals größeren frühmittelalterlichen Waldes. Lage und Abgrenzung Im Mittelalter trug er die Bezeichnung Ketelwald und diente als Lieferant für Hausbrand und Bauholz sowie Die Abgrenzung der Kulturlandschaft „Niederrheinische für die Waldweide. Höhen“ ist hauptsächlich durch die Höhenlage und Geo- morphologie begründet; die Rheinaue im Norden und Eine intensive Nutzung des Raumes ist seit der Jung- Osten und die Niersaue sowie ehemalige Bruchgebiete steinzeit zu konstatieren. Die Niederrheinischen Höhen im Westen und Süden begrenzen die Kulturlandschaft. waren durch Siedlungen und Gräberfelder entlang der Im Nordwesten bildet die Staatsgrenze die Begrenzung. Terrassenkanten zu den Niederungen gekennzeichnet. Es liegen darin der Reichswald, Goch, Pfalzdorf, Uedem, Charakteristisch für die metallzeitlichen Siedlungen wa- Sonsbeck und die Bönninghard. ren Mehrhausgehöfte; in den durch Waldrodungen ent- standenen Siedlungskammern wirtschafteten eine oder Diese Kulturlandschaft ist naturräumlich hauptsächlich wenige Familien. Die sandigen Höhen wurden in der Re- im Quartär geprägt worden und wird außer im Westen von gel nicht besiedelt, hier wurden vermehrt die Gräberfel- holozän geprägten Landschaften umgeben. der mit Grabhügeln und Flachbestattungen angelegt. Im nahen Umfeld der Siedlungsplätze lagen innerhalb der Die Kulturlandschaft „Niederrheinische Höhen“ umfasst Siedlungskammern die Nutzungsareale. den Kreis Kleve und den westlichen Teil des Kreises Wesel. Durch den intensiven Gebrauch von Holz bei der Her- stellung und Verarbeitung der Metalle, beim Hausbau Naturräumliche Voraussetzungen und bei der Herstellung von Werkzeugen und Geräten sowie der Viehhaltung ist von einer weitgehenden Ent- Die Niederrheinischen Höhen sind charakterisiert durch waldung des Niederrheins zumindest in der älteren Ei- eine relativ steile Nordost- und eine sanfter abfallende senzeit auszugehen; ausgedehnte Heideflächen prägten Südwestflanke. Die von eiszeitlichen Gletschern vor die Landschaft. Hiervon waren die Niederrheinischen Hö- 250.000 Jahren aufgeschobenen Stauchwälle der End- hen wahrscheinlich weniger betroffen, denn die bewalde- moränen bestehen hauptsächlich aus Kiesen und San- ten Sanderflächen waren ja als Bestattungsorte genutzt. den der unteren Mittelterrasse mit eingelagerten Resten pleistozäner Schichten, tertiärer Sedimente und Geschie- Von der intensiven Besiedlung von den Steinzeiten bis 193 bemergelresten. In den Höhen der Stauchwälle, deren zur Römerzeit zeugen heute noch Grabhügel. So reihten Rand vielfach von periglazialer Fließerde gebildet wird, sich mehrere tausende Hügelgräber entlang den Höhen befinden sich Trockentäler. zwischen Kranenburg und Keppeln.

Die südwestliche Seite wird von leicht hügeligen San- Die wenigen Wege hielten sich hauptsächlich an die der-Flächen geformt. Die Niederrheinischen Höhen bil- flussnahen Terrassenkanten. Bei den Landverbindungen den einen geschlossenen Höhenzug, der nur durch das handelte es sich in der Regel um Feldwege; solch eine Uedemer Bruch in zwei Teile geteilt wird. Der größere Querverbindung ist zwischen Goch/Weeze und Kalkar nordwestliche Teil umfasst die Reichswald-Höhen, den anzunehmen. Kranenburger Höhenrand und die Pfalzdorfer Höhen, während der südöstliche Teil vom Balberger Höhenrü- Die Gräberfelder lagen in der Nähe der Siedlungen, cken gebildet wird. aber auf landwirtschaftlich weniger nutzbaren Höhen, wie z.B. den Dünen oder Sanderzonen entlang der Terrassen- Im Südosten befinden sich noch die Bönninghardt kanten bei Asperden, Kleve, Kranenburg, Weeze, Goch und die Hees bei Xanten, die bereits nicht mehr zu die- und Issum. Typisch sind Hügelgräber in denen die Brand- ser Kulturlandschaft, sondern zum „Unteren Nieder- bestattungen niedergelegt wurden. Im Laufe von mehrhun- rhein“ gerechnet wird. dertjähriger Belegung der Grabfelder wachsen ursprüng- lich getrennte Bestattungszonen zusammen, wie dies an Die Niederrheinischen Höhen erreichen vielfach Höhen- den großen Gräberfeldern im Klever/Kranenburger Reichs- lagen von 40 bis 55 m ü. NN, stellenweise auch 90 m ü. wald, in Weeze-Kalbeck u.v.a. noch heute erkennbar ist. NN und mehr. Der Klever Berg mit 106 m ü. NN und der Stoppelberg mit 91 m ü. NN bilden die höchsten Punkte. Innerhalb der Hees östlich von Sonsbeck (Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“) fand eine herausragende kulturland- schaftsgeschichtliche Entwicklung seit der Römerzeit statt, Geschichtliche Entwicklung die bis in den Bereich der Niederrheinischen Höhen wirk- sam war. Die Auswirkungen der römerzeitlichen Besiedlung Die Vielzahl von Grabhügeln im Reichswald lässt auf reichten bis in den Raum um Uedem, Sonsbeck und Alpen. eine Waldnutzung durch den Menschen in prähistorischer Der römische Burgus bei Asperden lässt erkennen, wie Zeit schließen. Bei dem römischen Schriftsteller Tacitus weit der landschaftsgestaltende Einfluss Xantens reichte.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_11.qxp 17.10.2007 22:17 Seite 194

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen

Die Areale abseits der städtischen Ansiedlungen wur- forstwirtschaftliche Nutzung brachte neben der Köhlerei den zu römischer Zeit intensiv landwirtschaftlich genutzt weitere Nutzungen im Reichswald hervor, wie die Lohger- und waren mehr oder weniger planmäßig mit einem Netz berei, bei der in Eichenhainen aus der Rinde Tannin ge- von Wirtschaftshöfen (villae rusticae) erschlossen. Es ist al- wonnen wurde und eine wichtige Voraussetzung für die lerdings anzunehmen, dass die sandigen Bereiche auch Entwicklung Kleves als Zentrum der Schuhherstellung von den Römern nicht so intensiv genutzt wurden, und bildete. In den ehemaligen Heideflächen im südlichen vielfach ihre Waldbedeckung behielten. Ab der Spätanti- und südwestlichen Bereich des Reichswaldes wuchs ke ist mit einer Zunahme der Waldflächen zu rechnen. Wacholder für die Schnapsbrennerei.

194  Auenlandschaft der Niers bei Goch Foto: LVR/K.H. Flinspach

Die ersten mittelalterlichen Rodungen setzten dann bei Der Balberger Wald entspricht in seinem Umfang dem Kleve und Uedem ein. Um Uedem entwickelte sich das „Hoegewald“ des Amtes Monterberg im frühen 14. Jh. bedeutendste mittelalterliche Getreideanbaugebiet des Neben dem naturräumlichen Faktor ist die Kontinuität der Herzogtums Kleve. In der merowingischen und karolingi- Waldgrenze des Balberger Hochwaldes durch adminis- schen Periode entstanden durch Rodungen die Vorgän- trative Grenzziehungen erklärbar. gersiedlungen von Kleve und Uedem sowie im 12. Jh. ei- nige bis heute ihren Standort wahrende Gehöftgruppen Waldgeschichtlich gehört er zu einem südlich von Kal- als erste Rodungsinseln. kar verlaufenden Waldgürtel, dessen Nutzung durch ver- schiedene klevische Waldordnungen erkennbar wird mit Systematisch getragene Kultivierungen setzten im spä- Triftrechten im westlich gelegenen Kalkarwald und Nut- ten 12. Jh. zuerst südlich von Kleve bei Materborn ein. zung als Gemeinheitsweide. Vermutlich diente auch der Östlich von Uedem entstand 1236 die Waldhufensiedlung Hochwald u.a. den Zwecken der Waldweide mit den da- Uedemerfeld. Steinbergen, südlich von Uedem am Pla- zugehörigen Auftriebwegen, auch wenn dies in der Lite- teaurand gelegen, wo Ackerland und Naturweiden anei- ratur nicht dezidiert ausgesagt wird. Seit 1828 verringerte nander grenzen, wurde 1319 erstmals erwähnt. Westlich sich die Fläche des Reichswaldes von 11.600 ha bis ca. von Uedem entstand die Waldhufensiedlung Bucholt. 7.600 ha 1950 und 6.100 ha heute. Um 1830 wurde der Wald mit einem rechtwinkligen Netz von Schneisen in Im Reichswald war die Nutzung von Niederwald wichtig, Jagen eingeteilt, wodurch das alte mittelalterliche Wege- hiervon haben sich noch Relikte erhalten. Diese sind aller- gefüge fast verschwunden ist. Während des Ersten Welt- dings alle jünger und hängen mit der dort betrieben Köh- krieges wurden Schanzen und Stellungen als Verteidi- lerei zusammen. Die seit 1729 eingeführte preußische gungslinie zu den Niederlanden hin ausgebaut.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen 6.2

Im nördlichen Bereich des Reichwaldes wurde der Kle- 1828 erlaubte die preußische Regierung die Parzellie- ver Stadtwald in die 1655 und 1660 errichteten Residenz- rung und Kultivierung des an Louisendorf angrenzenden anlagen von Johann Moritz von Nassau integriert. Die An- Waldgebietes Frischelott, Tusschen- und Buchenwalde. lagen umfassen einen Sternberg, Sichtachsen, die auf die 1832 wurde das insgesamt 634 ha umfassende Areal der Kirchen in den benachbarten Städten und Dörfern orien- Kolonie Neulouisendorf an 65 Erbpächter aus Pfalzdorf, tiert sind (Kulturlandschaft „Unterer Niederrhein“), Alleen, Altkalkar, Keppeln und Louisendorf verlost und danach kul- Gärten, einen Tiergarten mit Amphitheater, Cerestempel tiviert. Neulouisendorf ähnelt in seiner Struktur Louisendorf. und Terrassengärten sowie Parks. Kleve war am Ende des 17. Jh. eine der bedeutendsten Residenzen von Preußen Im späten 19. Jh. setzte die Erweiterung der Städte Kle- und stand Modell für die Berliner Residenzanlagen. ve und Uedem ein, die heute besonders südlich von Kleve zu einer starken Siedlungsverdichtung geführt und das al- Etwa zur gleichen Zeit entstanden seit 1650 nördlich von te städtische Umland völlig überformt hat. Goch die rechtwinklig strukturierten Uleushöfe, die stark auf die in der Periode 1650-1680 errichteten Residenzanla- Die Provinziale Heil- und Pflegeanstalt in Bedburg-Hau gen mit Gärten, Parks, Bauten, Alleen u.a. in und um Kleve von 1908-1912 ist ein großer und gut erhaltener landschafts- orientiert waren. Östlich der Uleushöfe entstand 1620-1648 prägender Komplex. der älteste niederrheinische Nadelwald Tannenbusch. Die letzten Rodungen und Kultivierungen in diesem Die nachfolgenden Jahrhunderte wurden von großflä- Raum führten 1949-1950 zu der Errichtung der landwirt- chigen Kultivierungen und Rodungen geprägt. Die Ent- schaftlich geprägten Flüchtlingssiedlungen Nierswalde stehung von Pfalzdorf lässt sich mit einer Gruppe von und Reichswalde mit unterschiedlich großen Höfen, Gar- Auswanderern aus der Pfalz verbinden, die wegen des ten- und Nebenerwerbsstellen auf einer Fläche von ca. österreichischen Erbfolgekriegs 1740-1748 bei Schen- 1.500 ha im Reichswald. kenschanz nicht die Grenze überqueren konnten. 19 Fa- milien erhielten auf ihre Bitte hin von der preußischen Die niederrheinischen Höhen wurden ab 1863 von der Verwaltung ein Niederlassungsrecht auf der Stadtallmen- Bahnverbindung Krefeld-Kleve erschlossen. Die Fortset- de Gocher Heide. Die Größe der einzelnen Kolonate be- zung von Kleve nach Nijmegen folgte 1865. Die Trasse trug 10 ha. Aufgrund der ungünstigen Ausgangssituation dieser stillgelegten Bahn ist noch im Gelände gut erkenn- wie z.B. unzureichender Wegeerschließung sowie nicht bar. Im Nordosten verlief die Bahnstrecke von Xanten vorhandener Wohnhäuser, und dem Interesse des preu- nach Kleve 1904 entlang der Kante zur Niederterrasse, die ßischen Staates an Kolonisation und Bevölkerungszu- ebenfalls noch gut im Gelände zu verfolgen ist. In Kleve 195 nahme erhielten die Familien Privilegien wie verbilligte fuhr zwischen 1911 und 1962 eine Straßenbahn, die u.a Baumaterialen und zeitlich befristete Steuerbefreiungen. die Verbindung zur Fähre nach Emmerich herstellte; Schienen der Klever Straßenbahn wurden von Joseph Dies führte nach 1742 zu einer raschen Entwicklung. Beuys zu einem Kunstwerk verarbeitet. 1780 war die gesamte Gocher Heide kolonisiert und es gab keine weiteren Erweiterungsmöglichkeiten, so dass Als Privatbahn wurde 1878 die Boxteler Bahn errichtet. die Randgebiete der Pfalzdorfer Gemarkung wie Heid- Sie führte von Wesel über Xanten, Goch mit Kreuzung der kamp und weitere Flächen im Raum Asperheide seit ca. Rheinischen Eisenbahn in die Niederlande. Sie bediente 1780 erschlossen wurden. Der Dorfkern im Südwesten zeitweise den internationalen Verkehr zwischen England hat sich erst nach 1850 entwickelt. und Russland. Von dieser Strecke sind noch zahlreiche Bahndämme und Streckenteile zu erkennen. Bei Uedem Die Siedlung Bönninghardt wurde ab 1770 unter wurde der ehemaligen Bahndamm für den Neubau der schwierigen Umständen von Pfälzer Siedlern besiedelt. Straße nach Goch genutzt. Die trockenen, nährstoffarmen Böden boten zunächst keine Grundlage für die Landwirtschaft. Lediglich einige Schließlich haben die meisten Landschaftsveränderun- kleine Ackerareale konnten durch Plaggendüngung dau- gen den Raum nach 1945 erfasst. Durch die Folgen des erhaft genutzt werden, eine großflächige Erschließung Zweiten Weltkrieges ist die Bausubstanz durch den Wie- als Ackerland war erst seit 1860 mit Kunstdünger mög- deraufbau und die Modernisierung erheblich verändert. lich. Die Bewohner mussten zusätzlich auf die Ressour- Städte und Dörfer haben sich erweitert. Das Parzellie- cen des Waldes wie Beeren, Nüsse und Pilze zurück- rungs- und Wirtschaftswegegefüge ist auch im Bereich greifen sowie Zweige für die Besenbinderei sammeln. von Uedem durch Flurbereinigungen umgestaltet worden. Bis 1900 war die Bönninghardt ein Notstandsgebiet mit kleinen Katen und Hütten. Kulturlandschaftscharakter Louisendorf und Neulouisendorf bildeten die nordöst- liche Erweiterung von Pfalzdorf. Im heruntergekomme- Die ackerwirtschaftliche Landnutzung hat sich trotz der nen Kalkarer Wald entstand die Kolonie Louisendorf Modernisierung der Landwirtschaft kaum verändert. Das 1820-1827 nach einem detaillierten Siedlungsplan mit Landschaftsbild wird vor allem von den lockeren Siedlungs- 873 ha neuem Kulturland. formen mit Einzelhöfen, Gehöftgruppen und Hofreihen,

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen

Ackerbau, rechtwinkligen Parzellen und Wegestrukturen, Louisenplatz mit der Elisabethkirche (1860). Die Ge- Waldhufen und systematischen Kolonien, weg- und parzel- staltung des Dorfplatzes zeichnet sich durch 34 säu- lenbegleitenden Anpflanzungen und Restwäldchen geprägt. mende Linden aus, die 1860 anstelle von 34 Eichen gepflanzt wurden (heute Denkmalbereich). Das Gesamtgefüge charakterisiert noch immer die syste- matische Gründung mit heute noch wahrnehmbaren Be- G Der erste Teil des Tannenbuschs südlich von Bedburg- zugsachsen, die das Landschaftsbild in einer regionalspezi- Hau (KLB 11.02) wurde bereits 1620 auf Initiative des fischen Weise prägen. Im Bereich der Pfalzdorfer Platte liegt Kurfürsten von Brandenburg mit Kiefern aufgeforstet. ein gut erhaltenes Beispiel preußischer Kolonisationspolitik Die heutige Form mit den Jagen bekam der Tannen- vor, das sich in dieser Ausprägung und Ursprünglichkeit nur busch 1648 mit der Anlage eines Sternbuschs. Hier- an wenigen Flächen in der Umgebung ablesen lässt. durch war dieser Tannenbusch der erste Nadelwald im Rheinland. Er wurde in die Klever Residenzlandschaft Kulturgeschichtlich ist der Reichswald von landesweiter und das Gebiet der Uleushöfe eingebettet. Das Land- Bedeutung. Dort befindet sich eine Vielzahl verschieden- schaftsbild wird aktuell vor allem durch Laubgehölze artiger Relikte aus unterschiedlichsten Zeitstellungen. geprägt, wodurch die vorherige Vegetation und die Hierbei handelt es sich um prähistorische Grabhügel, zahlreichen Relikte in den Hintergrund geraten sind. Reste historischer Waldbewirtschaftung und Stellungen des Ersten Weltkrieges. G Die Systematik der heute noch erkennbaren Kolonisa- tion Uedemer Bruch (KLB 11.03) wurde 1295 durch Das heutige Landschaftsbild der Balberger Sandlössrü- Graf Dietrich VIII. den vier Kolonisten vorgegeben. cken und Hochwald ist dominiert von Ackerflächen und 1411 existierten dort bereits 22 Höfe und 11 Katen. einer Reihung von Gehöften. Lediglich im südlichen Teil Erst nach 1850 entstand ein kleines Dorfzentrum mit liegen einige Höfe in Streulage. In dem Landschaftsraum Kirche. Das historische Gefügemuster mit Bruchkolo- sind nur wenige historische Kleinelemente obertägig er- nistenhöfen, längsrechteckigen Bruchparzellen, die halten geblieben, die Landschaft ist stark ausgeräumt und seit 1730 nachweislich als Grünland genutzt wurden, eine typische Agrarlandschaft mit großen Nutzflächen. mit Baumreihen, Hecken und Waldstreifen, ist heute noch sehr gut erlebbar. Durchschnitten wird der Raum durch die stillgelegte Bahnlinie nach Xanten, deren Relikte als verkehrstechni- G Bruchlandschaft Uedemerfeld (KLB 11.03). sche Landschaftsdokumente mit Trasse und Begleitvege- 196 tation erhaltenswürdig sind. Vereinzelt finden sich Hohl- G Ein Teilstück der römischen Limesstraße (KLB 19.05) wege, die als Relikte der Verkehrserschließung der Land- verläuft entlang des nördlichen Randes der Nieder- schaft seit dem Mittelalter auch heute noch das Erschei- rheinischen Höhen. nungsbild der Kulturlandschaft mit bestimmen. G Burganlagen, wie Haus Gensward und Haus Eyll in Bedburg-Hau. Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche und -elemente G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- sondere als Bodenarchiv sind Alpen, Goch, Sonsbeck G Teile der Residenz Kleve (KLB 11.01) liegen im nördli- und Uedem. chen Bereich der „Niederrheinischen Höhen“. G Landwehrteilstücke etwa bei Goch, Sonsbeck oder G Der Reichswald (KLB 11.01) mit seinen steinzeitlichen Alpen sind Relikte der Territorialgeschichte am linken Rast- und Werkplätzen, den vorgeschichtlichen Hügel- Niederrhein. gräbern und Siedlungsplätzen und mit dem römischen Burgus Asperden ist ein landesweit bedeutsamer Kul- G Provinziale Heil- und Pflegeanstalt in Bedburg-Hau, die turlandschaftsbereich; darüber hinaus ist er für die heutige Rheinische Landesklinik. Forstgeschichte des Landes ein bedeutendes Zeugnis. G Der besiedelte Teil dieser Kulturlandschaft ist ein he- G Pfalzdorf ist eine pfälzische Heidekolonisation und da- rausragendes und erlebbares Beispiel für aufeinander mit ein bedeutender Kulturlandschaftsbereich (KLB folgende Waldrodungs- und Kolonisationsphasen seit 11.02) als Beispiel eines historischen Vorganges, des- der merowingischen Zeit. Von allen nachfolgenden sen Strukturen und kulturelle Überlieferung bis heute Epochen sind trotz Veränderungen Siedlungs- und Par- erhalten geblieben sind. zellierungsformen erkennbar erhalten geblieben. Dieses Nebeneinander historischer Phasen in der heutigen Kul- G Louisendorf (KLB 11.02) hat ein Straßennetz, das aus turlandschaft ist selten in dieser Dynamik strukturell ab- einer Nordwest-Südost verlaufenden Hauptachse be- lesbar und kulturlandschaftlich bewahrenswert. steht, die von sechs geraden Querstraßen im rechten Winkel gekreuzt wird. Das Zentrum des Angerdorfes G urgeschichtliche Besiedlung des Bereiches Goch- bildet der quadratische, auf einer Erhöhung angelegte Pfalzdorf

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen 6.2

G römische Besiedlung Xanten-Birten, Monreberg, Kal- Leitbilder und Ziele karberg und Goch-Asperden G Zukünftige landschaftliche Veränderungen müssen auf G mittelalterliche Besiedlung im Raum Kalkar mit Motte das zugrunde liegende Ordnungsprinzip eingehen, das auf dem Monreberg und Altkalkar eine bestimmte zeitgenössische Geisteshaltung mit dem Umgang von Kulturlandschaft repräsentiert. Im Zu- G früh- und hochmittelalterliche Rodungen und Kultivie- ge eines dynamischen Kulturlandschaftsverständnisses rungen bedeutet dies nicht die Unterbrechung der Landschafts- entwicklung, sondern die Erhaltung der Ablesbarkeit. G hoch- und spätmittelalterliche Hofreihungen und Landerschließung von den Höhen in Richtung der G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Niederungen Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. G Uleushöfe, Residenzanlagen bei Kleve Tannenbusch, Köttersiedlungen, Landwehr, erkennbare Siedlungs- G Die Blick- und Bezugsachsen als Landmarken dürfen und Flurformen aus dem 17. Jh. nicht durch sichtversperrende Maßnahmen einge- schränkt werden. G Bönninghardt aus dem 18. Jh. G Das Parzellengefüge sollte die größeren Strukturen bei- G nach 1945 Flüchtlingssiedlungen Niers und Reichs- behalten. Ebenso ist die Maßstäblichkeit zu wahren. walde Dieser Raum war in der Silhouette geprägt durch eine

Niers Foto: LVR/K.H. Flinspach 

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 11 // Niederrheinische Höhen

flache Backsteinbauweise in einer gering reliefierten Landschaft und weit sichtbaren Kirchtürmen. Diese historische Bedingtheit ist ein wichtiges Charakteristi- kum für die Weiterentwicklung.

G Spuren ehemaliger Waldnutzung haben sich im Mikro- relief erhalten, die durch maschinelle Waldarbeiten im Laufe der Zeit zerstört werden. Somit ist das Leitbild die Erhaltung dieser Kleinelemente innerhalb einer kul- turgutverträglichen Waldnutzung.

G Insbesondere ist auf die alten Waldstandorte ein be- sonderes Augenmerk zu richten. Diese sollten nicht nur erhalten, sondern einer boden- und bestandsschonen- den Bewirtschaftung unterworfen werden, damit nicht nur die vielen historischen Elemente und Strukturen er- halten bleiben, sondern auch der Charakter eines alten und reifen Waldes erlebbar bleibt.

G Das bestehende Mosaik verschiedener Nutzungen soll in der Grundstruktur erhalten bleiben.

G Die Erlebbarkeit des Balberger Waldes und des Hochwaldes in seiner kontinuierlichen Begrenzung als strukturelle Raumeinheit ist zu bewahren. Als Ent- wicklungsziel des geschlossenen Waldareals sollte die Beibehaltung der vorhandenen Waldgrenze ange- strebt werden, um den Übergang z.B. zum Uedemer Bruch beizubehalten.

198 G Ein kulturhistorisches Leitbild für eine alte Agrarland- schaft der Balberger Sandlössrücken ist die Beibehal- tung einer landwirtschaftlichen Nutzung, allerdings verbunden mit Einschränkungen bei Flurbereinigun- gen und Zusammenlegungen, um keine ausgeräumte „Agrarwüste“ entstehen zu lassen. Kulturhistorisch war auch für intensiv genutzte Landwirtschaftsflächen die landeskundliche Vielfalt mit vielen Einzelelementen charakteristisch.

G Schutz der archäologisch bedeutsamen Bereiche vor Bodeneingriffen und Bodensubstanzverlusten.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 12 // Niersniederung 6.2

Kulturlandschaft 12 // Niersniederung ist von einer weitgehenden Entwaldung des Niederrheins zumindest in der älteren Eisenzeit auszugehen; ausge- dehnte Heideflächen prägten die Landschaft. Lage und Abgrenzung Der Niederrhein wurde bereits in vorrömischer Zeit von Die Abgrenzung wird vor allem von der Niers und weite- Wegen erschlossen, die sich hauptsächlich an die fluss- ren Kleingewässern wie Fleuth, Kendel und Niep als linear nahen Terrassenkanten hielten. Die Gräberfelder mit korridorbildende Determinanten für die kulturlandschaftli- Brandbestattungen lagen in der Nähe der Siedlungen auf chen Strukturen bestimmt. Die Abgrenzung zur Kulturland- landwirtschaftlich weniger nutzbaren Höhen wie z.B. den schaft „Niederrheinische Höhen“ wird insbesondere durch Dünen oder Sanderzonen. den Anstieg zu den Sanderflächen markiert. Der Übergang zur sehr dichten Besiedlung prägt die Grenze mit der Kul- Auch in der Römerzeit (12 v. Chr. bis 400 n. Chr.) war turlandschaft „Ruhrgebiet“. Im Süden wird die Begrenzung dieser Raum mehr oder weniger dicht mit einem Netz durch den Übergang zu den relativ flachen Rhein-Ackerter- von Wirtschaftshöfen (villae rusticae) überzogen. Eine in- rassen (Kulturlandschaft „Krefeld – Grevenbroicher Ackerter- tensive landwirtschaftliche Nutzung und eine planmäßige rassen“) begründet. Im Westen ist die Grenze vor allem na- Erschließung der Kulturlandschaft „Niersniederung“ wa- turräumlich durch das Relief und die hydrologischen Ver- ren kennzeichnend. Mit den Agrarprodukten dieser Anla- hältnisse erklärt (Kulturlandschaft „Maasterrassen“). gen wurden die Städte und Militärs der weiteren Umge- bung versorgt. Ferner errichteten die Römer ein Straßen- Die Kulturlandschaft „Niersniederung“ umfasst den süd- und Wegenetz, welches nicht nur die Wirtschaftshöfe un- lichen Kreis Kleve sowie den zentralen Kreis Viersen. tereinander verband, sondern auch diese mit den größe- ren Siedlungen innerhalb des linken Niederrheins (z.B. Geldern und Straelen) und mit Städten und Militäreinrich- Naturräumliche Voraussetzungen tungen entlang der Reichsgrenze im Osten (z.B. Xanten) und in benachbarten Regionen (z.B. Maastricht). Die Niersniederung als Teil der Niederterrasse fällt von Süden nach Nordwesten zur niederländischen Grenze von Nach der römischen Periode traten Wüstungserscheinun- ca. 50 auf 15 m ü. NN ab. Im oberen Teil hat die mäandrie- gen auf. In dieser Phase konnten die Wälder sich wieder rende Niers die angrenzenden Terrassenflächen zu insel- ausbreiten. Bis zu den Begradigungs- und Entwässerungs- ähnlichen Teilflächen aufgelöst (Aldekerk und Neukerk). Die maßnahmen der Brüche hatte die Niers eine große Bedeu- relativ breite Ebene, die nach Nordwesten ausläuft, ist von tung für das seit dem 13. Jh. aufkommende Mühlengewer- 199 vielen Gewässerläufen mit ihren Niederungen durchzogen. be. Zahlreiche Wassermühlen mit Mühlenteichen, Stauweh- Die Schaephuysener Höhen sind Teile der Endmoränenzü- ren und Mühlengräben, die für einen kontinuierlichen Be- ge der Saale-Eiszeit. Über den kiesigen Sanden in den trieb erforderlich waren, wurden errichtet. Durch die Niers- Niederungen befinden sich teilweise sandig-lehmige, ver- begradigung ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts, im Be- einzelt tonige Böden. Stellenweise treten auch ehemalige reich südlich von Grefrath z.B. in den 1920er Jahren, sind Niedermoorstandorte auf, die nach der Torfgewinnung zahlreiche Wassermühlen außer Betrieb genommen oder heute Stillgewässer aufweisen. teilweise anderen Funktionen zugeführt worden.

Die Ränder der Niersterrassen waren ideale frühmittelal- Geschichtliche Entwicklung terliche Siedlungsstandorte. Die Siedlungsstruktur mit Ein- zelhöfen datiert aus dem Früh- und Hochmittelalter. Die Siedlungsgeschichte reicht bis ins Neolithikum (5.500 - 2.000 v. Chr.) zurück, wie zahlreiche Funde vor Ebenfalls war die Niers aufgrund der relativ unzugängli- allem im Niers-Kendel-Gebiet belegen. chen feuchten Auen und Brüche ein idealer Standort für Burgen, feste Häuser und Herrensitze, die sich in großer Wegen der naturräumlichen Voraussetzungen ist von ei- Zahl wie Glieder einer Kette von Mönchengladbach bis ner eher lockeren metallzeitlichen Besiedlung auszuge- Goch aneinanderreihen; markante Beispiele hierfür sind hen. Im nahen Umfeld der Siedlungsplätze, die an den die Burg Wachtendonk oder Burg Uda bei Oedt, die als fruchtbaren Niederungen auf hochwasserfreien Flächen Burgwüstungen erhalten sind. Viele Burgen sind aufgrund angelegt wurden, lagen die Nutzungsareale. Dabei lagen der veränderten Waffentechnik und der Residenzfunktion die Felder auf den hochwasserfreien Arealen, in den Auen im 17. und 18. Jh. in Schlösser mit Park-, Gartenanlagen die Wiesen für die Tiere und zur Heuernte; die Wälder und Alleensystemen umgewandelt worden. Dies gilt auch nutzte man auf vielfältige Weise (Holz, Früchte und Beeren für die Klostergärten wie Graefenthal bei Goch. aber auch Tierhaltung). Im nördlichen Bereich war die Vieh- haltung bedeutender, da die Böden eine intensive agrari- In den Ortschaften entstand im Hochmittelalter eine Art sche Nutzung nicht zuließen. Durch den intensiven Ge- genossenschaftliche Organisationsform, im hiesigen Raum brauch von Holz bei der Herstellung und Verarbeitung von als „Vrogen“ und „Honschaften“ (vgl. auch Kulturlandschaft Metallen, beim Hausbau und bei der Herstellung von „Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen“ ) bezeichnet. Eine Werkzeugen und Geräten sowie aufgrund der Viehhaltung Honschaft oder Vroge war ein Verbund, der einen Hofver-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 12 // Niersniederung

band oder mehrere Orts- bzw. Bauerschaften mit der da- Die Fossa Eugeniana ist eines der bedeutenderen Kul- zugehörigen Gemarkungen enthalten konnte. Sie blieben turlandschaftselemente der Region, erreicht aber nicht bis 1800 bestehen. Innerhalb dieser Organisation wurde den Status landesbedeutsam. Ohne die komplexen militä- das Ackerland individuell genutzt. Der Wald und die nicht rischen und wirtschaftlichen Hintergründe hier auszufüh- ackerbaulich genutzten Offenlandflächen wurden ge- ren, erfolgte der Baubeginn des ungefähr 40 km langen meinschaftlich unter Aufsicht eines Grundherrn bewirt- Grabens zwischen Rhein und Maas 1626. Der Kanal wur- schaftet. Die mehr oder weniger feuchten und sumpfigen de nach der spanischen Statthalterin in den Niederlan- Auen, die kleineren Auenwälder und Bruchgebiete wur- den, Isabella Clara Eugenia, benannt. den von den in Honschaften oder Vrogen organisierten Bauern als gemeinschaftliche Weideflächen (Benden) ge- Die Endpunkte des Kanals mit einer vorgesehenen Brei- nutzt. Erst nach 1860 wurden diese Flächen allmählich te von 24,75 m und einer Tiefe von etwa 1,4 m bildeten melioriert und parzelliert. die Festungen Venlo und Rheinberg. Es wurden 24 Erd- schanzen angelegt. Sie begleiten auf der feindabwärts ge- Ab ca. 1250 entstand eine Reihe von Städten wie Gre- legenen Kanalseite das Wasserbauprojekt. frath, Wachtendonk, Geldern und Goch an der Niers, die in der Folge auch befestigt wurden. Von besonderer Be- Bereits 1630 wurden die Bauarbeiten wegen fortlaufen- deutung hierfür ist die Ausbildung der Herrschaft Gel- der militärischer Aktionen der Niederländer wieder einge- dern bis ins 15. Jh. Kevelaer ist erst im 19. Jh. zur Stadt stellt. Mit der Eroberung von Straelen, Venlo, Roermond erhoben worden. Hier hat sich bereits seit der Mitte des und Rheinberg durch niederländische Truppen wurde der 17. Jahrhunderts der wichtigste Marienwallfahrtsort am Bau endgültig eingestellt. Zurückgeblieben ist eine Bau- Niederrhein entwickelt. ruine, die niemals ihrer Funktion übergeben werden konnte,

200  Niersniederung bei Viersen Foto: LVR/J. Gregori

Die durch die Niersregulierung und -begradigung aber im Gelände als kulturlandschaftgeschichtliches Re- stark zugenommene Stromgeschwindigkeit führte zu ei- likt noch vorhanden ist. Während im Stadtgebiet von ner Tiefenerosion und zu einer gewissen Austrocknung Straelen das Kanalbett Ende des 17. Jahrhunderts zu- der Aue. Durch die Meliorationen der Brüche wurden geschüttet wurde, verläuft er heute noch als erkennba- auch Ackerbau und intensive Viehzucht mit Fettweiden rer wasserführender Graben östlich von Geldern durch in den ehemaligen Auen- und Bruchgebieten möglich. das Gemeindegebiet von Issum in Richtung Rhein.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 12 // Niersniederung 6.2

Im südlichen Teil dieses Landschaftsraumes kreuzt der vor allem seit den 1960er Jahren – ähnlich wie im Venlo- Nordkanal, der als Rhein-Maas-Schifffahrtsverbindung er Raum – Gewächshäuser errichtet, in denen Blumen zwischen Neuss und Venlo (1808-1810) gebaut, aber nie und Gemüse angebaut werden. Diese Gewächshäuser, vollendet wurde, die Niers südwestlich von Neersen. laufend dem neuesten Stand angepasst, werden ständig größer und höher. Im Norden erschließt die Bahnverbindung von Krefeld nach Kleve den Raum, sie wurde 1863 eröffnet. Betriebli- cher Mittelpunkt war Geldern, hier kreuzte ab 1874 die Kulturlandschaftscharakter Bahnverbindung von Venlo über Straelen nach Wesel. Insbesondere südlich von Geldern sind noch große Ab- Die Niers hat zwischen Wachtendonk und Grefrath noch schnitte des Bahndammes und der Einschnitte erhalten ein erkennbares naturnahes gewundenes Erscheinungsbild und landschaftsprägend. In Goch kreuzte die Boxteler mit feuchten und nassen Auenflächen, obwohl sie auch Bahn zwischen Wesel und den Niederlanden. dort zwischen 1927 und 1941 melioriert wurde. Weiter süd- lich ist die Niers zwischen Grefrath und Neersen weitge- Der lokalen Erschließung des Raumes zwischen Straelen hend ein gerader Kanal, und ihr Verlauf hat hiermit seinen und Kevelaer diente die Geldernsche Kleinbahn, die ab ursprünglichen mäandrierenden Charakter verloren. 1901/02 die Region erschloss und hauptsächlich der Ab- fuhr landwirtschaftlicher Güter diente. Die mittelalterliche gereihte Einzelhofstruktur am Rand der Niersterrasse, das dominante Grünland mit vereinzelten Zwischen Oberhausen und Geldern sollte vor dem Ersten Auenwäldchen und dem nach 1930 eingestreuten Acker- Weltkrieg eine strategische Verbindungsbahn angelegt land der Niersniederung vermitteln nur noch teilweise das werden. Der Bahndamm ist weitgehend fertig gestellt, da- offene Landschaftsbild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. zu zahlreiche Brückenbauwerke; nach dem Versailler Ver- Eine gliedernde Wirkung haben heute die Pappelreihen. trag von 1919 durfte diese Strecke nicht in Betrieb ge- Diese Auenlandschaft wird von Feuchtwiesen, Auen- und nommen werden. Insbesondere die Bahndämme sind bis Bruchwäldchen, Einzelbäumen, Baumgruppen (Kopfwei- heute landschaftsprägend und stellen ein besonderes den) geprägt. Beispiel der Eisenbahngeschichte dar.

Im Süden des Raumes wickelte ab 1868 die Verbindung von Kaldenkirchen nach Kempen den überwiegend lokalen Verkehr ab. Hinzu kamen Strecken der Krefelder Eisenbah- 201 nen im Raum zwischen Kempen und Viersen, deren Tras- sen heute noch teilweise im Gelände gut erkennbar sind.

Seit den 1950er Jahren nahm die Besiedlung auf dem Terrassenrand aufgrund der Siedlungserweiterungen (Wohnbau- und Gewerbegebiete) zwischen Grefrath und Mönchengladbach erheblich zu. Die Siedlungsflächen haben im Rahmen der industriellen und städtischen Entwicklung so zugenommen, dass die Niers mittlerweile abschnittsweise als Rinne durch ein urban geprägtes Ge- biet fließt.  Die Freiräume beschränken sich auf das Elscher Bruch, Kopfeichen-Allee bei Straelen Neersbroich und einen schmalen Auenstreifen. Feuchtwie- Foto: LVR/A. Heusch-Altenstein sen sind relativ selten geworden. Im südlichen Abschnitt dominieren urbane Funktionen und Aktivitäten. Im heutigen Landnutzungsgefüge des nördlichen Be- Die sich zunehmend intensivierende Agrarnutzung und reichs bis Neersen dominiert intensive Landwirtschaft (Fett- Bautätigkeit, insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- weiden und Ackerland). Trotzdem hat die Niers eine große hunderts bei Grefrath, Oedt, Viersen und Mönchenglad- Erholungsbedeutung. Vor allem Fahrradfahren und Wan- bach, führte zu einem erheblichen und nachhaltigen Rück- dern sind wichtige Erholungsaktivitäten. Daneben nimmt gang der Strukturvielfalt und negativen Einflüssen auf das das Kanufahren auf der Niers stark an Bedeutung zu. Landschaftsbild der Niersniederung. In den nicht besiedelten Gebieten dominieren der Das Gebiet westlich und nördlich von Straelen ist seit Garten- und Ackerbau sowie Gewächshäuser. Dort ist dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein agrarisch inten- das alte Wege- und Parzellengefüge im Rahmen von siv genutzter Raum mit Spezialkulturen wie Spargelan- Flurbereinigungen stark verändert worden. Lediglich bau und Gartenbau. Nach 1945 hat sich dort der Gar- die Siedlungsstruktur mit tradierten Einzelhofstandor- tenbau stark intensiviert und modernisiert. Hier wurden ten ist erhalten geblieben.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_12.qxp 17.10.2007 22:18 Seite 202

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 12 // Niersniederung

Die alten Kerne der sog. Vrogen um Viersen sind mit dem G Vorgeschichtliche Siedlungsplätze bei Weeze und Stadtgebiet Viersen zusammengewachsen. Auffallend ist Kervenheim sind Zeugnisse der frühen Besiedlung die Reihung von Burgen und Schlössern entlang der Niers. der Niersniederung.

Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche G Landwehrteilstücke etwa bei Kevelaer, Kerken oder und -elemente Geldern sind Relikte der Territorialgeschichte am linken Niederrhein. G Die Niersaue (KLB 12.01) zwischen Asperden mit dem römischen Burgus an der Niers und dem ehemaligen G Geldern als verkehrlicher und zentralörtlicher Mittel- Zisterzienserinnenkloster Graefenthal (1250) mit Bau- punkt, Herrschaftssitz der Grafschaft Geldern, ehe- substanz des 15.-18. Jahrhunderts und der Staatsgren- malige Burg. ze ist eine historische Kulturlandschaft von hoher ge- schichtlicher und touristischer Bedeutung. G Die Dorenburg bei Grefrath, ein Ensemble aus ehe- maligen wasserumwehrtem Rittersitz und angrenzen- G Der Bereich der unteren Kendel (KLB 12.01) mit zahlrei- den gestalteten Freiflächen (u.a. Freilichtmuseum und chen vorgeschichtlichen und römerzeitlichen Siedlungs- Landesgartenschaugelände). plätzen belegt die frühe Besiedlung des Raumes. G Bockwindmühle und Schacht Niederberg 4 in Kem- G Die Mittlere Niers mit ihren steinzeitlichen Siedlungs- pen; Landmarke. und Rastplätzen, ihren römischen Siedlungen und Gräberfeldern bei Pont und Straelen, den zahlreichen mittelalterlichen Mühlen, Wasserburgen, Schlössern Leitbilder und Ziele und Herrenhäusern, den Städten Geldern und Strae- len mit mittelalterlicher Burg und Befestigung sowie G Die seit der Niersregulierung entstandenen Nutzungs- einem Abschnitt der Napoleonischen Straße Venlo- konflikte werden durch die weitere Intensivierung der Geldern (KLB 12.02). Landwirtschaft verstärkt. Bedingt auch durch die Sied- lungsflächenerweiterungen und besonders die ge- G Schaephuysener Höhen (KLB 12.03) mit frühneuzeit- werblichen Ansiedlungen in der Aue gibt es Substanz- lichen Töpfereien. und Strukturverluste. Daraus ergibt sich als Leitbild die Bewahrung der Freiflächen. 202 G Der westliche Randbereich der Kempener Lehmplatte (KLB 18.01) mit ihren zahlreichen römischen Siedlungs- G Auskiesungen sind in der Niersaue in der Regel auf- plätzen (Landgüter) und Gräberfeldern. grund des reichhaltigen Kulturellen Erbes nicht kul- turgüterverträglich und sind auf Bereichen außerhalb G Abschnitt der Eisenbahntrassen Venlo-Geldern und der Aue zu begrenzen. Geldern-Baerl. G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, G Als kulturgeschichtliches lineares Einzelelement des Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- 17. Jahrhunderts ist die Fossa Eugeniana von sehr ho- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. her Bedeutung (KLB 13.01). G Erhalt der Sichtbezüge um Kevelaer. G Ein Teilstück des Nordkanals (KLB 18.04) berührt die Kulturlandschaft „Niersniederung“. G Erhalt der Erlebbarkeit der Landmarken.

G Geasdonk bei Goch, ein ehemaliges Augustiner Chor- G Die weitgehend noch von feuchtem Grünland, Auen- herrenstift mit weitläufigen Stiftsbezirk (1406-1437). wäldchen, Gehölzreihen und Mooren geprägte Nier- saue zwischen Grefrath und der Staatsgrenze sollte G Kevelaer als Wallfahrtsort hat mit den verbundenen allenfalls behutsam (= kulturlandschaftsverträglich) Pilgerwegen eine hohe spirituelle Bedeutung und weiterentwickelt werden. Ausstrahlung; die Wallfahrtskirchen ist weithin sicht- bar im Raum. G Die kulturlandschaftlich prägende Wirkung der zahlrei- chen Wassermühlen mit zugehöriger Technik, der vie- G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- len kleinen und großen Wasserburgen und Schlösser sondere als Bodenarchiv, sind Aldekerk, Geldern, Is- mit ihren Gräben und der Klöster ist im Rahmen der sum, Kervenheim, Nieukerk, Oedt, Straelen, Wachten- Renaturierungsmaßnahmen zu bewahren. donk, Willich-Anrath, und Willich-Neersen.

G Die Siedlungen Aldekerk, Nieukerk und Sevelen, eine früh- und hochmittelalterliche Siedlungskammer mit tra- dierter Ackernutzung, bilden einen gut erhaltenen Bereich.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_13.qxp 17.10.2007 22:19 Seite 203

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 13 // Maasterrassen 6.2

Kulturlandschaft 13 // Maasterrassen einer eher lockeren Nutzung der Maas-Terrassen auszuge- hen. Im nahen Umfeld der Siedlungsplätze liegen inner- halb der Siedlungskammern die Nutzungsareale. Durch Lage und Abgrenzung den intensiven Gebrauch von Holz ist von einer weitgehen- den Entwaldung der ehemals baumbestandenen sandigen Die Abgrenzung der Kulturlandschaft „Maasterrassen“ Hochflächen zumindest in der älteren Eisenzeit auszuge- wird vor allem durch die Höhenlage und Geomorphologie hen; ausgedehnte Heideflächen prägten die Landschaft. sowie die geologische Entstehung mit Mooren und feuch- ten Bruchgebieten geprägt. Aus kulturlandschaftlicher Von einer Besiedlung des Areals in römischer Zeit zeu- Sicht handelt es sich hier vornehmlich um ein Gebiet mit gen Keramikfunde vornehmlich aus den Gebieten der vielen ehemaligen Heiden und Mooren, die im Vergleich Twistedener Sandplatten. Neben römischen Gräbern wur- zu Nachbarräumen relativ spät kultiviert und besiedelt den hier auch mehrere Hinweise auf römische Straßen- worden sind. Im Norden bildet der Hülmer Deich die verläufe vorgefunden. Grenze zum Altsiedland im Kendelgebiet. Im Osten und Süden bildet die Reihung der Orte bzw. Städte Weeze, Die erste Erwähnung Walbecks erfolgte 1250. Für Twis- Kevelaer, Geldern, Pont und Straelen die Grenze und im teden und Wemb gilt das Gleiche. Die hochmittelalterliche Westen die Staatsgrenze. Siedlung Baal befindet sich auf der Randlage zwischen den feuchten Bruchgebieten und der Terrasseninsel Hees. Die Maasterrassen liegen komplett im Kreis Kleve. Mit Ausnahme des Laarbruchs und des Baaler Bruchs, die im 14. Jh. kultiviert worden sind, sind die Feucht- und Naturräumliche Voraussetzungen Heidegebiete sowie Moore erst um 1900 kultiviert worden. Das Laarbruch, das heute als Flugplatz genutzt wird, wur- Die Kulturlandschaft „Maasterrassen“ als Teil der Fluss- de im Spätmittelalter unter der Leitung von holländischen terrasse fällt von Süden nach Nordwesten zur niederlän- Lokatoren (Unternehmer) kultiviert. dischen Grenze von 35 auf 15 m ü. NN ab. Die breite Ebene, in der die Landschaft nach Nordwesten ausläuft, Der östliche Teil des Laarbruchs ist heute weitgehend ist von vielen ehemaligen bzw. rezenten Gewässernie- bewaldet. Dort sind die bei der spätmittelalterlichen Kulti- derungen durchzogen. Die kiesigen Sande tragen insbe- vierung entstandenen Hufenstreifen teilweise erhalten ge- sondere in diesen Niederungen teilweise sandig-lehmi- blieben. Außerdem sind der Leitgraben und Ottersgraben ge, vereinzelt tonige Überlagerungen. Stellenweise treten als Entwässerungsgräben Relikte dieser Epoche. 203 auch Niedermoortorfe wie das Gocher Veen auf, die größtenteils abgebaut wurden und heute vereinzelt Still- 1954 wurde im westlichen Teil des Laarbruchs nördlich gewässer sind. Entlang der zahlreichen Gewässer befin- von Wemb von den Briten ein militärischer Flughafen an- den sich hauptsächlich Wiesen, Weiden und einige gelegt, der am 30. November 1999 von der britischen Roy- Bruchwälder. Die übrigen Flächen sind vorwiegend als al Air Force aufgegeben wurde. Seit 1999 wird er als ziviler Ackerland genutzt mit eingestreuten Waldflächen, oft mit Flughafen genutzt und ausgebaut. Nadelholzbestockung. Das Baaler Bruch wurde aufgrund von Entwässerungs- Entlang der niederländischen Grenze heben sich die problemen bis ca. 1900 als sumpfige Allmende genutzt. durch Niederungen isolierten Hauptterrassenplatten der Ab ca. 1900 wurde dieses Bruchgebiet mit der Hülmer Twistedener Sandplatten um etwa 15 m über die Umge- Heide, dem Schwarzen Bruch sowie dem Gocher Veen er- bung heraus. neut melioriert und kultiviert. Das Erschließungsmuster des Baaler Bruchs baute auf die misslungene spätmittelal- Die forstwirtschaftlichen Flächen sind über alle Gebie- terliche Kultivierung mit dem damals angelegten Leitgra- te verteilt. Neben der Grünlandnutzung entlang der Täler ben auf. Diese kultivierten Gebiete kennzeichnen sich und der sonst ackerbaulichen Nutzung liegen stellen- durch rechtwinklige Wegen- und Grabennetze und Parzel- weise auch gartenbauliche Flächen. len, die heute eine gemischte Landnutzung mit Acker- und Grünland aufweisen. Im Gocher Veen wurde vor der Kultivierung Torf gewonnen. Geschichtliche Entwicklung Das Baaler Bruch hat die deutlichste Kultivierungsstruk- Die Anfänge der Besiedlung reichen in der Umgebung tur, während das Parzellengefüge des Schwarzen und von Baal, Wemb, Twisteden und Walbeck bis ins Neolithi- des Wembscher Bruchs nicht so lang gestreckt und re- kum zurück. Die Hochflächen zwischen Niers- und der gelmäßig ist. Das St. Petrusheim westlich von Baal ist von Maas-Niederung sind geprägt durch sandige Böden, die der Franziskaner Bruderschaft 1920 als Arbeiterkolonie als wenig siedlungsgünstig anzusehen sind. Entlang der errichtet worden. Terrassenkanten erstreckten sich die Siedlungsflächen, während die Gräber sich auf den landwirtschaftlich wenig Aufgrund der Kultivierung und Entnahme von Heideplag- nutzbaren Höhen erstreckten. Für die Metallzeiten ist von gen seit dem Hochmittelalter sind durch Verwehungen

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 13 // Maasterrassen

Sanddünen entstanden. Diese Sanddünengebiete und Festungen Venlo und Rheinberg (Kulturlandschaft „Ruhrge- Heiden sind am Ende des 19. Jahrhunderts mit Kiefern biet“). Es wurden 24 Erdschanzen angelegt. Von den 13 aufgeforstet worden und haben heute eine wichtige Nah- Schanzen, die sich im Bereich der Kulturlandschaft „Maas- erholungsfunktion. terrassen“ befanden, ist heute noch westlich von Holt eine erhalten geblieben. Bei Damm befindet sich noch ein Wall. Die Fossa Eugeniana ist eine historisch bedeutende künstliche etwa 40 km lange Wasserstraße im südli- Bereits 1630 wurden die Bauarbeiten wegen fortlau- chen Kreisgebiet von Kleve. Sie wurde durch die Gene- fender militärischer Aktionen der Niederländer wieder ralstatthalterin der spanischen Niederlande, Erzherzo- eingestellt. Mit der Eroberung von Straelen, Venlo, Ro- gin Isabelle Clara Eugenia, in Auftrag gegeben und ermond und Rheinberg durch niederländische Truppen zwischen 1626 und 1633 zwischen dem Rhein bei wurde der Bau endgültig eingestellt. Zurückgeblieben Rheinberg und der Maas bei Venlo (NL) errichtet. Mit ihr ist eine Bauruine, die niemals ihrer Funktion übergeben sollte der wichtige niederländische Rheinhandel abge- werden konnte, aber im Gelände als kulturlandschaftge- schnitten werden und zum Vorteil durch spanisch-nieder- schichtliches Relikt noch vorhanden ist.

204  Geldern, Herrenhaus Steprath Foto: LVR/K.H. Flinspach

ländisches Gebiet umgeleitet werden. Die Fossa Eugenia- Während im Stadtgebiet von Straelen das Kanalbett na tangiert die Gemeindegebiete von Geldern, Straelen, Ende des 17. Jahrhunderts zugeschüttet wurde, ver- Issum, Kamp-Lintfort und Rheinberg. läuft der Kanal heute noch als erkennbarer wasserfüh- render Graben von Geldern durch die Siedlung Kasta- Die Endpunkte des Kanals mit einer vorgesehenen Brei- nienburg Richtung Venlo. Er dient der Entwässerung te von 24,75 m und einer Tiefe von etwa 1,4 m bildeten die des ehemaligen Straelener Veens.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 13 // Maasterrassen 6.2

In unmittelbarer Nähe wurde unter Napoleon 1809 wie- bar. Diese Kultivierungsflächen sind strukturell gut nach- der ein Kanal – der Nordkanal – zwischen Maas und Rhein vollziehbar. Auffällig sind die geraden, linienhaften Struk- angelegt, der ebenfalls nicht vollendet wurde. Der Nordka- turen der jung besiedelten Heide- und Moorgebiete mit nal streift nordwestlich von Herongen den Süden der Kul- Wegen, Straßen, Gräben sowie die wege- und gewässer- turlandschaft „Maasterrassen“. begleitende Hecken- und Baumreihen, die für die Bruch- gebiete wichtige Landschaftselemente darstellen. Die Das Gebiet des ehemaligen Straelener Veens ist in den Gliederung dieser Kulturlandschaft wird von den Gewäs- 1930er Jahren als landwirtschaftliche Nutzfläche erschlos- sern und Gräben und den vielfach begleitenden Baum- sen worden. 1937 entstand die Plansiedlung Kastanien- reihen und Hecken verstärkt. burg mit dem länglichen Siedlungsmuster. Der Bereich um Walbeck und westlich von Straelen (in Das Gebiet um Walbeck, Twisteden und die Gebiete Kulturlandschaft „Niersniederung“ gelegen) wird seit ca. westlich und nördlich von Straelen sind seit dem Anfang 1900 durch intensiven Gartenbau und Spargelkulturen des 20. Jahrhunderts ein agrarisch intensiv genutzter charakterisiert. Bis ca. 1940 wurde die landwirtschaftliche Raum mit Spezialkulturen wie Spargel- und Gartenbau. Struktur gezielt verbessert. Mit den seit den 1960er Jah- Nach 1945 hat sich dort der Gartenbau stark intensiviert ren errichteten Gewächshäusern, ist der intensive Garten- und modernisiert. Hier wurden vor allem seit den 1960er bau stark im Landschaftsbild vertreten. Jahren – ähnlich wie im Venloer Raum – Gewächshäuser errichtet, in denen Blumen und Gemüse angebaut werden. Diese Gewächshäuser, laufend dem neuesten Stand ange- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche passt, werden ständig größer und höher. und -elemente

G Als kulturgeschichtliches lineares Einzelelement des 17. Jahrhunderts ist die Fossa Eugeniana von sehr hoher Bedeutung (KLB 13.01).

G Nordkanal (KLB 18.04) mit Schleusenanlage in Strae- len-Louisenburg (1808-1811).

G St. Petrusheim als Beispiel für eine caritative Gründung für Heimatlose. 205

G Haus Steprath (Ende 16.Jh. bis 18. Jh.).

G Haus Walbeck (Mitte 14. Jh. bis 17. Jh.).

G Ortskern Walbeck mit Luciakapelle (16. Jh.), Pfarrkirche St. Nikolaus (1432) und altes Pastorat (1625).  Straelen G Steprather Mühle in Walbeck (um 1500). Die Mühle ist Foto: LVR/D. Schäfer seit 1995 wieder in Betrieb. Es handelt sich um die äl- teste noch voll funktionierende Mühle Deutschlands.

Kulturlandschaftscharakter G Kokerwindmühle in Walbeck (seit 1823 bis 1952 in Be- trieb). Bei dieser Mühle kann das obere Drittel in den Die Kulturlandschaft „Maasterrassen“ wird geprägt von Wind gedreht werden. Sie ist als Weiterentwicklung den höher gelegenen Terrasseninseln als Altsiedelgebie- der Bockwindmühle zu betrachten und ist die einzige ten mit den mittelalterlichen Siedlungen Walbeck, Twiste- dieser Art am Niederrhein. den, Baal auf der Hees sowie die Ortschaften Auwel, Holt und Vorst und den feuchten Niederungsflächen, die aus Bruchgebieten und Moorgebieten bestehen und seit ca. Leitbilder und Ziele 1900 kultiviert wurden. G Beibehaltung der Heideaufforstungen; die Aufforstun- Die Siedlungsstruktur des alten Siedellandes ist außer gen, die durchgeführt worden sind, um die Sandböden Walbeck und Twisteden mit mehr oder weniger lockeren gegen Erosion zu schützen, markieren eine wichtige Reihungen von Einzelhöfen und Straßendörfern linear ge- Phase der Forstwirtschaft. prägt. Vereinzelte Windmühlen prägen das Landschaftsbild. G Erhalt des erlebbaren Nebeneinanders mittelalterlicher Die Kultivierung des Bruchgebiets mit vor allem linear und neuzeitlicher Siedlungsstrukturen auf den Terras- geprägten Strukturen um 1900 ist heute noch gut ables- seninseln bzw. in den tiefer gelegenen Feuchtgebieten,

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 13 // Maasterrassen

die trotz Veränderungen Siedlungs- und Parzellie- rungsformen erkennbar geblieben sind.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Beibehaltung der Ablesbarkeit kultivierender menschli- cher Tätigkeit der unterschiedlichen Epochen in dem Wegesystem, Pflanzreihungen, Gewässerregulierun- gen, Landnutzungsarten und Bewirtschaftungsformen. Das „Rechtwinklige“ und „Regelmäßige“ ist für die um 1900 kultivierten Gebiete geradezu charakteristisch.

G Die aufgelisteten wertvollen Kulturlandschaftsbestand- teile haben einen hohen historischen Zeugniswert und sind landschaftsbildwirksam, woraus sich das Erforder- nis für einen Umgebungsschutz ableitet.

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Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:25 Seite 207

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet 6.2

Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet Die einzelnen Zuordnungsmerkmale sind zwar nicht im- mer eindeutig ausgeprägt, jedoch ist immer mindestens ein Aspekt erfüllt. Lage und Abgrenzung Insgesamt umfasst die Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ Die Abgrenzung der Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ ergibt demnach den linksrheinischen Bereich mit Neukirchen-Vlu- sich aus Merkmalen der vor allem neuzeitlichen Bergbau- yn, Kamp-Lintfort, Rheinberg und reicht im Osten bis Ah- tätigkeit bzw. Industriegeschichte sowie der Siedlungsent- len, Hamm und Unna. Diese Abgrenzung ist nicht identisch wicklung verbunden mit der Bevölkerungsballung und der mit dem Gebietszuschnitt des Regionalverbandes Ruhrge- Dichte des Verkehrswegenetzes. Die räumlich-wirtschaftli- biet. Ein Einbeziehen aller mit dem Ruhrgebiet in Bezie- che Entwicklung, die besonders starke Impulse durch die hung stehender Kreise im Sinne von Verwaltungseinheiten Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Großindustrie er- würde dem Gegenstand des Gutachtens nicht gerecht. hielt, hat eine eigenständige Kulturlandschaft geformt, die Kennzeichen älterer Entwicklungsstufen bzw. vormals un- terschiedlicher Landschaften des Niederrheins, des Müns- Binnenzonierung des Ruhrgebiets terlands und der Hellwegzone zwar nicht verschwinden, aber doch in den Hintergrund treten lassen. Das Ruhrgebiet ist ein gut untersuchter, heterogener Raum. Seit langem beschäftigt sich in wissenschaftlichen Bedeutende Anlagen der Großeisenindustrie, in zweiter Kreisen vor allem die Geographie mit der Frage der Ab- Linie auch der anderen Industrien, sind in der Kombination grenzung und Binnenzonierung des Ruhrgebiets. Eine mit den produktiven Tiefbauzechen des Steinkohlenberg- Vielzahl von diesen Beiträgen stellen die kulturlandschaftli- baus charakteristische Merkmale des montanindustriellen chen Besonderheiten und Unterschiede im Gebiet dar. Es Ruhrgebiets. würde im vorliegenden Gutachten – vor allem in Bezug auf die planungsunterstützende Aufgabenstellung – zu weit Das Ruhrgebiet erstreckt sich nördlich des niederber- führen, diese wissenschaftliche Diskussion in aller Breite gisch-niedermärkischen Gebietes und schließt hier weite zu verfolgen. Gerade aber für das Verständnis der Entwick- Abschnitte des Ruhrtals als Ursprung des Ruhrgebiets ein. lungsfaktoren des Ruhrgebiets ist es notwendig, auf die Der Übergang in das Münsterland im Norden bzw. zum Binnenstruktur des Gebietes abzustellen. Niederrhein im Westen ist unschärfer: Die Zuordnung er- folgt hinsichtlich der Bergbautätigkeit und der eisenschaf- Es ist heute eine gefestigte wissenschaftliche Sichtweise, fenden Primärindustrie sowohl durch Schachtanlagen und von wenigstens fünf Zonen des Ruhrgebietes zu sprechen. 207 Hüttenwerke als auch durch zugeordnete Arbeitersiedlun- gen und Arbeiterwohnquartiere. So ist z.B. die Zuordnung So gliedert beispielsweise Wehling (1998: 175) sog. Ent- der Bergbausiedlungen und der Zechenstandorte Grund wicklung- und Strukturzonen aus. In die gleiche Richtung für die Grenzfindung im Osten von Unna, in Altenbögge- geht die Darstellung von so bezeichneten Industrialisie- Bönen und in Braam-Ostwennemar/Hamm. Auch die ehe- rungszonen etwa bei Herget und Ergler (2006). malige Zeche und Kolonie Hermann etwa rechtfertigen die Einbeziehung von Bork und Selm, die auf den ersten Blick Stellvertretend für viele andere wird hier der Ansatz der auch dem Münsterland zugeordnet werden könnten. Arbeitsgruppe Geographisches Institut der Ruhr-Universi- tät Bochum (2007) wiedergegeben. Danach gliedert sich Weitere Gründe für einzelne Zuordnungsentscheidungen das Ruhrgebiet von Nord nach Süd: sind die landschaftsbildwirksamen Folgen der montanindus- G Lippezone, triellen Entwicklung. Ganze Gewässerabschnitte gelangen G in Folge von Bergsenkungen und durch anschließende was- Emscherzone(bei anderen Autoren wird hierin noch die Vestische Zone ausgegliedert), serbauliche Maßnahmen von der Tieflage in eine durch G Dämme gesicherte exponierte Position. In diesem Sinne ha- Hellwegzone, ben beispielsweise die Gewässerläufe von Lippe und We- G Ruhrzone und sel-Datteln-Kanal nördlich von Marl einen erheblichen Anteil G als westliche gesonderte Achse die Rheinzone. an der technisierten Eigenart des Landschaftscharakters.

nach: Regionalkundliches Informationssystem Ruhrgebiet – Arbeitsgruppe Geographisches Institut der Ruhr-Universität Bochum, Leitung Prof. Butzin und Prof. Müller, im Auftrag des RVR, www.ruhrgebiet-regionalkunde.de, (Stand: Februar 2007)

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

Naturräumliche Voraussetzungen die Verkürzung der Mäander gipfelte in den Rheinbegradi- gungen großen Stils im 19. Jh., die zur Fixierung und Kana- Das Ruhrgebiet bildet keine naturräumliche Einheit. Viel- lisierung des Stromes führten. mehr wird das Gebiet durch eine der wichtigsten deut- schen naturräumlichen Grenzen geteilt, nämlich durch die Die Lippe diente seit der Urgeschichte in besonderem Trennlinie zwischen dem Tiefland des nördlichen Mitteleu- Maße als eine Art kulturlandschaftliche Erschließungsstra- ropas und dem Mittelgebirge. ße vom Rhein in Richtung Osten bzw. Nordosten. Die we- sentlich kleinere Emscher hingegen bildete mit geringem Im Süden reicht der Vorsprung des Bergisch-Sauerländi- Gefälle in der Niederung eine Sumpf- und Bruchlandschaft schen Gebirges von Mülheim über Witten bis Dortmund- aus, die eher als Barriere nach Norden hin wirkte. Aplerbeck. Das Tiefland wird gegliedert in das Niederrhei- nische Tiefland als Bestandteil der Rheinischen Bucht ein- Die naturräumlichen Voraussetzungen der Ruhr unter- schließlich der Städte Oberhausen und Duisburg sowie in scheiden sich von denen der anderen Ruhrgebietsflüsse. Ein die Westfälische Tieflandbucht ab Essen über Gelsenkir- stärkeres Gefälle und die Lage im ausstreichenden Mittelge- chen bis nach Unna. birge geben dem Flusslauf sein Gepräge. Die Nutzung der Wasserkraft ist unter diesen Bedingungen sehr attraktiv und Entsprechend der naturräumlichen Struktur zeigt sich führte zur Anlage von Mühlenwehren bereits seit Mitte des auch die Topographie vielfältig. Von der Terrassenland- 15. Jahrhunderts. Einen sprunghaften Bedeutungszuwachs schaft des Rheins über Hügelgebiete wie den vestischen erhielt die Ruhr im Zusammenhang mit dem expandierenden Höhenrücken und die Höhen um Cappenberg bis zu dem Kohlenhandel im Mülheimer Raum um 1700. Der Auf- deutlichen Geländeanstieg noch nördlich der Ruhr in die schwung des Ruhrorter Hafenbetriebs beflügelte den Aus- Lagen der Mittelgebirge werden verschiedene Höhenstufen bau der Ruhr als Schifffahrtsweg und die Kohlenschifffahrt. sichtbar, unterbrochen durch die Taleinschnitte der Flüsse. Die fruchtbaren Böden des Ruhrgebiets konzentrieren Das Stromtal des Rheins im Westen und die von Osten sich auf den Süden und Osten. Die basenreichen Brauner- nach Westen verlaufenden Zuflüsse Lippe, Emscher und den und Parabraunerden der Lössbörde waren wertvollste Ruhr gliedern die Landschaft. Der Rhein hat spätestens seit Ackerstandorte und in der vorindustriellen Zeit der Grund der Stationierung der Römerflotte seine überragende Be- für eine frühe Besiedelung bzw. eine stärkere Bewirtschaf- deutung als Verkehrsträger. Von kulturgeschichtlicher Be- tung und damit eine Wohlstandsquelle in diesem Gebiet. deutung sind die natürlichen und anthropogenen Rheinlauf- Als Lössstreifen ziehen sich die guten Böden von Ost nach 208 veränderungen. Die Landschaftsgeschichte des Rheins mit West über Dortmund bis nach Oberhausen. seinen Bettverlagerungen, Nebenströmen, Mäandern und Überschwemmungen ist detailliert untersucht worden. Wa- In der geschichtlichen Entwicklung wurde die Lössbörde ren die Hochwasserschutzmaßnahmen zunächst kleinteilig, als Hellwegregion zusammen mit den östlich anschließen- in dem z.B. Ringdeiche und Wurten errichtet wurden, kam den Gebieten um Soest, Erwitte und Geseke (s. Kulturland- es in der Neuzeit mehr und mehr zu aktiven und weit rei- schaft „Hellwegbörden“) eine florierende wirtschaftliche und chenden Eingriffen. Der Bau von Buhnen, Deichlinien und kulturelle Einheit mit bedeutenden Siedlungen bzw. Städten.

Oberhausen Foto: LWL/M. Philipps

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:25 Seite 209

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet 6.2

Eine große Lössinsel liegt im Bereich des vestischen Hö- Geschichtliche Entwicklung henrückens auf dem Stadtgebiet von Recklinghausen. An- sonsten ist der Bereich zwischen Emscher und Lippe mit Frühgeschichtliche Besiedlungsphase und archäolo- Bottrop, Gelsenkirchen und Marl und in nordwestlicher Fort- gische Besonderheiten setzung über Dorsten bis in das Westmünsterland durch san- dige und damit nährstoffarme Böden gekennzeichnet. Die für Die Wurzeln der Kulturlandschaft reichen auch im Ruhr- die Landwirtschaft ungünstigen Bodenverhältnisse haben in gebiet zurück in die Steinzeit. Viele Zeugnisse der dieser Zone die Entstehung ausgedehnter Heidegebiete be- menschlichen Tätigkeiten sind im Zuge der Industrialisie- günstigt. Lehmige Böden schließen sich in nordöstlicher rung verloren gegangen. Beispielhaft für die ur- und früh- Richtung im Übergang zum zentralen Münsterland an. geschichtliche Siedlungstätigkeit steht die Haard als gro- ßes zusammenhängendes Waldgebiet zwischen Haltern und Marl. In diesem einzigartigen archäologischen Fund- Westruper Heide bei Haltern gebiet sind Besiedlungsspuren aus der Mittel- und Jung- Foto: LWL/M. Höhn steinzeit, aber auch aus der nachfolgenden Bronze- und Eisenzeit belegt.

Auch die Ruhrzone wurde bereits in der Altsteinzeit sporadisch aufgesucht; belegt durch Funde von Stein- geräten (besonderer Fundplatz der Kaiserberg in Duisburg, eine Freilandstation vom Ende der letzten Eiszeit – ca. 10.000 vor heute). Dauerhafte Besiedlung findet sich je- doch erst ab der Älteren Jungsteinzeit (Bandkeramische Siedlungen; 6. Jahrtausend v. Chr., belegt u.a. Siedlungen in Bochum). Siedlungen der Mittleren und Jüngeren Stein- zeiten (5. – 3. Jahrtausend v. Chr.) sind aus mehreren Or- ten bekannt. Siedlungsschwerpunkte finden sich in den Jungsteinzeiten in der Emscher- und Lippezone, hier gibt es fruchtbare Böden, gewässernahe siedlungsgüns- tige und topographisch leicht nutzbare Lagen. Im Ge- gensatz dazu ist das eigentliche Ruhrtal bis auf wenige Stellen eher siedlungsungünstig. 209

Die charakteristische metallzeitliche Siedlung (2. bis 1. Jahrtausend v. Chr.) in der Ruhrzone besteht aus Einzelge- höften oder kleinen Weilern, nahe an Flüssen oder Bächen gelegen (in der südlichen Ruhrzone wegen der ungünstigen naturräumlichen Voraussetzungen mit deutlich geringeren Be- siedlungsdichte). Nördlich der Ruhr und im Emscherein- Eine geologische Besonderheit stellen in weiten Teilen zugsgebiet nutzte man die hochwasserfreien Lagen, wie des Ruhrgebiets die sog. Emschermergel dar. Diese zur Donken oder die Terrassenkanten entlang der Wasserläufe, Kreide gehörende Gesteinsschicht wirkt als Wasserstau- um Siedlungen und Nutzungsareale anzulegen. Ab der Ei- schicht, und war als dichte Abdeckung in Verbindung mit senzeit steht mit dem Raseneisenerz ein wichtiger Rohstoff den Grundwasserstockwerken lange Zeit ein Hindernis für für die Herstellung von Waffen, Geräten und Schmuck lokal den Bergbau, um die darunter liegende Kohle zu erreichen. zur Verfügung. Der dadurch bedingte intensive Verbrauch von Holz hat eine weitgehende Entwaldung der Ruhrzone Geologisch ausgedrückt bildet die Grundlage der Kohle- zumindest in der älteren Eisenzeit zur Folge; mit einer Wie- gewinnung das produktive Oberkarbon. Vor rund 300 Mil- derbewaldung kann erst in der Jüngeren und Späten Eisen- lionen Jahren begann in einer Waldsumpf- und Moorland- zeit parallel zum Rückgang der Besiedlungsdichte und der schaft der Inkohlungsprozess. In großer Tiefe und mit un- Bevölkerungszahlen gerechnet werden, die erst in der römi- terschiedlichen Deckschichten lagert die Steinkohle heute schen Kaiserzeit endet. beiderseits des Rheins sowie im Münsterland. An der Oberfläche streicht sie jedoch nur am Rande des bergisch- Die Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ wird hauptsächlich märkischen Mittelgebirges bis zu einer Linie Essen-Bo- von Ost-West verlaufenden Wegen erschlossen, die sich chum-Dortmund aus. Bereits in der vorindustriellen Zeit in der Regel an die flussnahen Terrassenkanten halten waren die Vorkommen bekannt und wurden mit den Me- (Emscher, Lippe, Unterlauf der Ruhr). Eine der wichtigen thoden ihrer jeweiligen Zeit ausgebeutet. Die räumliche Landverbindungen stellt die Achse des späteren Hellwe- Verteilung der qualitativ verschiedenen Kohlearten sowie ges dar, die die Verbindung von der Rheinzone in die der technische Entwicklungsprozess sollten später die mitteldeutsch-osteuropäischen Märkte herstellt und die Entwicklung der räumlichen Strukturen im Ruhrgebiet man bereits in den Metallzeiten intensiv nutzte (Handels- maßgeblich beeinflussen. güter Metalle, Salz usw.).

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:25 Seite 210

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

Diese Formen der Besiedlung und Landnutzung setzten Jahrhunderten. Von Bedeutung war anfänglich auch das sich in der Römischen Kaiserzeit (1. bis 5. Jh.) fort. Aller- Handelszentrum Duisburg, am Ausgangspunkt der überre- dings kommt es zu veränderten Warenströmen, da im gional bedeutenden Ost-Westverbindung, des Hellweges Westen das Römische Reich mit seinem überragenden gelegen. Zur Sicherung des Ruhrüberganges bei Mülheim wirtschaftlichen Einfluss lag. Die römische Eroberung des entstand im 9. Jh. die Burg Broich (als Verteidigungsanlage rechtsrheinischen Gebietes zwischen 19 v. Chr. und 16 n. Chr. gegen die Wikinger um 888 errichtet). Große Grundherrschaf- hatte einen nachhaltigen Einfluss auf das Ruhrgebiet. Bis ten entwickelten sich in karolingischer Zeit um die Königs- heute haben sich die römischen Lager als Bodendenkmä- höfe Duisburg und Steele sowie den Kirchorten Hamborn ler erhalten, sie können – wie in Haltern – einen touristi- oder Lirich, die wiederum in einzelne Bauerschaften unter- schen Mittelpunkt der Region bieten. Nachhaltiger waren teilt waren. In den Jahren 1217 und 1254 kamen die vom jedoch die wirtschaftlichen Verbindungen der rechtsrheini- Kloster Kamp (1123) aus gegründeten Zisterzienserinnenk- schen einheimischen Bevölkerung zu den Römern, was löster Saarn und Sterkrade hinzu. Die zahlreichen Höhen- durch Ziegeleien („Transrhenana“), Abbau von Raseneisen- burgen, die zur territorialen Verteidigung und zum Schutz erzen, wenigen römischen Siedlungsplätzen (Rees-Hal- der Bevölkerung angelegt wurden, weisen auf die Ausei- dern, Duisburg), Herstellung und Export von Nahrungsmit- nandersetzungen zwischen Karolingern im Westen und teln, Tieren, Tierprodukten und Roheisen belegt wird. Sachsen im Osten hin (die Isenburg oder der Alteberg in Essen oder Burg Broich in Mülheim). Im Land verteilten Im Norden sind insbesondere die Emscher und die Lip- sich die zahlreichen Adelsburgen, die die Sicherung der pe anzusprechen. Hier befanden sich auf der linken, römi- ländlichen Territorien übernahmen, aus denen sich z.T. schen Rheinseite jeweils Lager bzw. Orte (Emscher mit die späteren Schlösser entwickelt haben (z.B. Holten, Sty- Calo/Halen bzw. Lippe mit Büderich/Vetera Castra). Die Lippe rum, Borbeck, Horst u.a.). stellt im nördlichen Teil der Kulturlandschaft Ruhrgebiet ei- ne Art Schlagader der Kulturlandschaftsentwicklung dar. Bereits nach 1136 entstand aus der Prämonstratenser Der Fluss als Wasserstraße vom Rhein nach Osten machte Propstei Hamborn das gleichnamige Stift. Als nennens- das Gebiet zu einem Kontakt- und Verbindungsraum. An wertes kleineres, selbständiges Territorium etablierten sich vorderster Stelle sind hier die schon früh archäologisch aus einem fränkischem Königsgut seit dem 14. Jh. die untersuchten Römerlager entlang der Lippe zu nennen, Herrschaft Styrum. Linksrheinisch entwickelte sich Moers, die von dem Versuch zeugen, das rechtsrheinische Ger- im 9. Jh. im Heberegister von Werden verzeichnet, seit manien in das römische Imperium einzubeziehen. Spätkai- dem 13. Jh. als eigenständige Grafschaft. Größere Stadt- serzeitliche germanische Siedlungen, an deren Standorten rechtsorte entstanden in der Hellwegzone im rheinischen 210 häufig in ungewöhnlich großer Anzahl Metallobjekte gefun- Bereich nur in Essen und Duisburg, wobei deren Bedeu- den wurden, belegen die westliche Orientierung des Lip- tung auch nur als gering zu bewerten ist. Im südlichen Teil peraums auch nach dem Abzug der Römer. Mit ihrer nicht des Herzogtums Kleve entwickelten sich bei den Territori- agrarischen Struktur stellen sie eine absolute Besonderheit alburgen die Burgsiedlungen Holten und Dinslaken. Nörd- in der Besiedlungsgeschichte Westfalens dar. Auch früh- lich der Hellwegzone entstanden, vergleichbar dem West- mittelalterliche Gräberfelder mit fränkischem Einfluss be- fälischen, einzelne Kirchdörfer (u.a. Borbeck, Altenessen, zeugen die Fortsetzung dieser räumlichen Ausrichtung. Katernberg) und Wasserburgen (Schloss Oberhausen und Bedeutende archäologische Interessensgebiete sind ne- Borbeck, Haus Vondern, Hagen und Hörl). Über die Emscher ben den Römerlagern eisen- und kaiserzeitliche Sied- hinaus bis nach Dinslaken existierten große feuchte und lungsplätze entlang der Lippe von Lünen bis Hamm und in moorige Flächen, die nur wenig besiedelt waren. der Fortsetzung auch bis Lippetal. In geringen Abständen von wenigen hundert Metern zum Fluss und untereinander Die territorialen Herrschaften trennten auf großen Stre- werden auch in jüngster Zeit immer wieder Funde ge- cken Landwehren, von denen sich noch heute längere Ab- macht und sind hier auch in Zukunft zu erwarten. schnitte im Gelände erhalten haben. Die ländliche Bevöl- kerung lebte und arbeitete in kleinen Weilern und Einzel- Linksrheinisch wird die Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ von höfen. Die meisten der heutigen Großstädte entwickelten der den Rhein begleitenden Limesstraße durchquert. In den sich im 19. Jh. aus diesen kleinen ländlichen Ansiedlun- 1970er Jahren wurde das Kastell Asciburgium im heutigen gen. Wirtschaftliche Grundlage war die Landwirtschaft mit Moerser Stadtteil Asberg ausgegraben und dokumentiert. Ackerbau und Viehzucht, je nach geographischen Voraus- setzungen. Handwerkliche Produkte wurden zumeist in den Städten und Orten hergestellt, wie u.a. die umfangrei- Mittelalterliche Entwicklungsprozesse chen Untersuchungen in Duisburg belegt haben. Darüber hinaus sind als vorindustrielle Betriebe Töpfereien wie in Bestimmend für die Frühgeschichte dieser Landschaft, Duisburg und Eisenverarbeitung wie in Dorsten belegt. nach einem kleinen Intermezzo einer versuchten römi- schen Okkupation, war die frühmittelalterliche Kolonisation Die Lippe, die seit der karolingischen Missionszeit die unter den Karolingern. Klostergründungen und Kaiserpfal- Bistümer Köln und Münster scheidet, entwickelte sich im zen wie Kaiserswerth (in der Kulturlandschaft „Rheinschie- späteren Mittelalter auch zur Territorialgrenze. Seit der Ka- ne“, um 700) und Werden (796) bestimmten mit ihren Ober- rolingerzeit entstanden an den Übergängen wichtiger Stra- höfen wie z.B. Beeck, die Entwicklung in den folgenden ßen Stützpunkte weltlicher und geistlicher Herren: zu Städ-

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ten entwickelten sich Lünen, Werne, Hamm, zu den Bur- zahlreiche neue Mühlen errichtet und für die Ölherstellung, gen am Fluss zählen Hovestadt, Werries, Heesen, Mark aber auch als Hämmer für die Verarbeitung von Roheisen und andere, heute nicht mehr erhaltene Anlagen. und als Schmieden für die Eisenverarbeitung genutzt. Wei- tere Mühlen dienten der Holzverarbeitung und der Tuch- Zwischen Lippe und Emscher erstreckte sich das Vest herstellung. Insbesondere an der Ruhr gab es zahlreiche Recklinghausen, dessen Mittelpunkt der kölnische Hofver- Mühlen, die Wasserkraft wurde durch die Anlage von Weh- band Recklinghausen mit der dazugehörigen Peterskirche ren („Schlachten“) verstärkt, wodurch zugleich ein durchge- bildete. hender Schiffsverkehr auf der Ruhr unmöglich war.

In langen Zeiten geringer Präsenz der Kölner Erzbischö- Die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen fe bildeten sich rechtlich nahezu unabhängige, jeweils um des fortgeschrittenen Mittelalters und der frühen Neuzeit Burg und Burgfreiheit zentrierte Adelsherrschaften heraus, fanden ihren zum Teil heute noch sichtbaren Niederschlag von denen Horst und Westerholt am bekanntesten sind. in der Befestigung der Städte wie z.B. Duisburg oder Insbesondere Horst wurde und wird umfangreich archäo- Rheinberg. In der Zeit zwischen 1290 und 1359 wurde die logisch untersucht und bildet mit seiner erhaltenen Bau- Stadt Rheinberg (damals hieß der seit 1233 über Stadtrechte substanz ein Relikt der älteren Adelskultur im Ruhrgebiet. verfügende Ort noch Berka) mit einem Wallgraben umge- ben, der heute noch zu über 90 % erhalten ist. Der Graben Das Königsgut im Ruhrtal geht bis auf die fränkische Er- war Teil eines Befestigungsrings mit Stadtmauer, der kurk- oberung Sachsens zurück: die ursprüngliche sächsische ölnischen Landesburg und dem „Pulverturm“ genannten Hohensyburg mit dem Reichsgutkomplex Westhofen, dazu Zollturm. Der trockengelegte Wallgraben ist in seinem heu- die Oberhöfe Herbede und Stiepel, vielleicht auch Witten. tigen Aussehen die einzige erhaltene Anlage dieser Art in Im 14. Jh. kamen die königlichen Güter an die Grafschaft Nordrhein-Westfalen. Die um 1580 und 1636 mit zwei weite- Mark. Der Sicherung der märkischen Herrschaft diente auch ren Ringen verstärkten Festungsanlagen wurden nach die Anlage der Burgfreiheiten Wetter und Blankenstein, die 1704 geschleift. Reste der als Erdwerk errichteten Anlagen Gründung der Stadt Hattingen und der Erwerb der Herr- sind im Norden und Osten der Stadt noch heute erkennbar. schaft Volmarstein, eines ursprünglich kölnischen Lehens.

Größere archäologische Untersuchungen haben bisher Herrschaftsgebiete auf der Hohensyburg, in Herdecke, Witten und Herbede stattgefunden. Traditionell ist das Ruhrgebiet ein territorialer Grenz- raum. Es hat hier nicht einen einzigen politischen Kern- 211 Die Ruhr sowie die Wasser der Siefen im sich südlich und Aktivraum von höherem Rang gegeben. Vielmehr ha- anschließenden Bergland nutzte man bereits seit dem Ho- ben von außen Territorialmächte auf den Raum zugegrif- hen Mittelalter. Zunächst waren es überwiegend Getreide- fen. Im Norden waren es die Bischöfe von Münster, die ei- mühlen. Später wurden viele dieser Mühlen umgebaut, ne politische Machtstellung erringen konnten. Im übrigen

Ruhr bei Witten Foto: LWL/M. Höhn kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:25 Seite 212

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Ruhrgebiet waren es die Erzbischöfe von Köln, die später Syburg auf dem Gelände der sächsischen Wallburg über auch die Herzogwürde von Westfalen erlangten. Teil des der Ruhr. Auffallend ist auch der im Zuge der territorialen Fürstbistums Köln war ebenfalls seit Ende des 15. Jahr- Auseinandersetzungen entstandene enge Ring von mär- hunderts das Vest Recklinghausen. Historisch zählte der kischen Adelssitzen um das Territorium der Reichstadt Raum in weiten Teilen zu der ehemaligen, 1609 an Preu- Dortmund, die ihrerseits alle älteren festen Häuser hatte ßen gefallenen Grafschaft Mark und die Menschen gehör- schleifen lassen. ten hier sowie in der eingesprengten Reichsstadt Dort- mund meist der lutherischen Konfession an. Eine nennenswerte Siedlungsverdichtungen wird erst seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts erkennbar, als – Der Raum der Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ war bis ins überwiegend im Süden dieser Kulturlandschaft – die Auf- 19. Jh. geprägt als Agrar- und Kleingewerbelandschaft und teilung der Gemeinheiten den zahlreicher werdenden beherrscht von kleineren Territorien wie dem Reichsstift Bergarbeitern die Gründung kleiner Kötterstellen möglich Essen und Werden und begrenzt durch die Herrschaftsge- machte. In den 1840er Jahren entstanden durch Meliora- biete der Herzogtümer Kleve und Berg sowie durch das tionen in der Emscherzone zahlreiche neue Hofstellen. In Erzstift Köln bzw. dem Vest Recklinghausen. Eine wesentli- diesen Jahren setzt auch – nach wenigen Vorläufen wie che Grundlage für die weitere Entwicklung war die territo- den Eisenwerken in Lünen-Weitmar 1826 und in (Dort- riale Vereinheitlichung der Gebiete durch die Herrschafts- mund-) Hombruch 1830 sowie dem Ausbau der für die erweiterung von Preußen im Jahr 1815. Lagerstättenkunde und das bergmännische Arbeiten im- mens wichtigen Saline Königsborn – mit dem erstmaligen Gleichwohl lag das Ruhrgebiet bis zum Beginn des Durchstoßen der Mergeldecke im Steinkohlebergbau 19. Jahrhunderts quasi in einem Dornröschenschlaf und 1841 die Industrialisierung mit ihren tiefgreifenden Folgen wurde abrupt geweckt durch die Industrialisierung. für das Siedlungsbild ein. Nicht nur die Produktionsanla- gen und Infrastruktureinrichtungen (primär Eisenbahnlini- Übergang zur Neuzeit en, aber auch Kanäle und später Straßen), sondern auch die ausgreifenden Siedlungen widmeten immense Flä- Unter den Städten, die sich wie verschiedene Kirchdör- chen um. Einerseits erfuhren die alten Städte und Frei- fer am Hellweg reihen (Bochum, Unna), ragt das schon in heiten der Hellwegzone ein sprunghaftes Wachstum karolingischer Zeit bedeutende Dortmund heraus, das als nicht zuletzt durch das rapide Anwachsen einer nunmehr Freie Reichsstadt in der Fehde gegen das Kölner Erzstift konfessionell ganz gemischten Bevölkerung, während auch die Hoheit über die ehemalige Grafschaft Dortmund andererseits in der Emscherzone große Siedlungszusam- 212 erringen konnte. Die Städte profitierten außer von der Nah- menhänge meist als ausgeprägte Arbeitersiedlungen ent- versorgung des Umlandes vor allem vom Austausch zwi- standen, die sich oft in Richtung der Nachbarstädte aus- schen den agrarischen Regionen des Nordens (Hellweg dehnten, so dass aus unbedeutenden Dörfern (etwa Buer, und Münsterland) mit den eisengewerblichen Regionen des Gelsenkirchen, Herne, Witten) Großstädte wurden, die ih- südlichen Berglandes, wobei insbesondere Dortmund bis rerseits baulich mit den Nachbargroßstädten zusammen- in die frühe Neuzeit eine bedeutende Rolle im Fernhandel wuchsen. Die Stadt- und Ortskerne erfuhren tiefgreifende mit diesen Produkten spielte. An der Lippe hatten die erst Veränderungen durch die Übernahme von Dienstleis- 1336-1341 vom Nord- auf das Südufer verlegte Stadt Lü- tung- und Verwaltungsfunktionen. nen und die 1227 planmäßig angelegte Stadt Hamm Be- deutung sowohl wegen der Flussübergänge als auch als Exempla- Grenzorte der Grafschaft Mark gegen das Fürstbistum risch für die Münster. Hamm mit der nahe gelegenen Burg Mark war Entwicklung zusätzlich „erste Stadt“ der Grafschaft und später in preu- des Ruhrge- ßischer Zeit bis 1815 Sitz der Regionalbehörden. Die Städ- biets mit den te Castrop und Kamen blieben von untergeordneter Be- Wechselwir- deutung. Im Vest Recklinghausen waren die Städte Reck- kungen von linghausen und Dorsten Verwaltungsmittelpunkte für die Bevölkerungs- Landesteile Nieder- und Obervest. wachstum und Infrastruk- Im Streusiedlungsgebiet der Emscherzone bildeten ei- tur, Bergbau nige Kirchdörfer (Buer, Gelsenkirchen) und verschiedene und Schwerin- Freiheiten die Zentralorte unterster Stufe, die zumeist in dustrie, Indus- Anlehnung an Adelssitze entstanden wie z.B. Mengede trialisierung Recklinghausen, Zechensiedlung und Hörde (heute Stadt Dortmund), Horneburg, Lembeck, der Nahrungs- Foto: LWL/B. Milde Westerholt und Wittringen (heute Kreis Recklinghausen) gewerbe u.a. sowie Horst (Gelsenkirchen). Die Adelssitze wiederum in den Jahren sind als umgräftete Niederungsburgen an den Wasser- und Jahrzehnten nach 1830 sollen im Folgenden Einzel- läufen von Emscher und Lippe, aber auch an der bei heiten aus der Emscher- und Lippezone, speziell aus dem Hamm in die Lippe mündenden Ahse gereiht. Eine Aus- heutigen Kreis Recklinghausen, mit den wichtigsten Daten nahme macht südlich von Dortmund die mittelalterliche insbesondere des Bergbaus dargestellt werden.

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Hier sind die Zeche Recklinghausen 1 (Clerget)/2 (belgi- tensiviert. Für den Kreis Recklinghausen sind u.a. die Rütt- sche Gründung ab 1864), mit den nach 1900 hinzugekom- gerswerke auf der Zeche Victor zu nennen. Vor allem aber menen ausgedehnten Bergarbeitersiedlungen Reitwinkel- beginnt im Zusammenhang mit der Gewerkschaft Auguste kolonie und Dreiecksiedlung und dem Schacht 4 (Konrad- Victoria, die ab 1905 die ersten Schächte niederbrachte, Ende-Schacht) in Recklinghausen sowie Zeche Erin in Cas- ab 1938 die Bunaproduktion der Chemischen Werke Hüls. trop-Rauxel (irisches Kapital ab 1866) die ersten Großanla- Ihr Chemiepark ist noch heute ein gewaltiger Raum im gen. Die Reparationsleistungen Frankreichs ließen mit ih- Landschaftsbild, in der Fläche arrondiert um die Werks- ren Kapitalströmen eine Vielzahl von Bergwerken entste- siedlungen und in der Höhe durch die Kraftwerksblöcke hen. 1872 wurde die Zeche Graf Schwerin eingerichtet und von enormer Fernwirkung, ein Raum für die sich darin be- bildete die Keimzelle eines großen gleichnamigen Stadt- findlichen eher kleinen Denkmäler, die Fördergerüste und teils in Castrop-Rauxel. Der dortige Stadtteil Ickern wurde Hallen. Der Nationalsozialismus brachte im Zweiten Welt- wie der Stadtteil Habinghorst bis weit nach Waltrop hinein krieg aber auch die Zwangsarbeiter- und Konzentrationsla- durch die Zeche Victor ab 1872 bestimmt. Aus demselben ger hervor, von denen sich nur spärliche Hinweise erhalten Jahr rührt auch die Zeche Ewald 1/2/7 in Herten. Ab 1873 haben. Beim Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg stark entstanden die Zeche Schlägel und Eisen in Scherlebeck, zerstörten Ruhrgebietes hatten Bergwerke und Schwerin- die Zeche Graf Moltke in Gladbeck-Butendorf und in Reck- dustrie Vorrang. Entgegen dem allgemeinen Trend des linghausen wiederum nahe dem Altstadtkern die Zeche „Zechensterbens“ seit den späten 1960er Jahren wurden General Blumenthal. Alle diese Unternehmungen brachten weiter im Norden die Großzechen Emscher-Lippe und die Fortsetzungsbergwerke hervor. Ab 1899 erreicht der Berg- Anlagen An der Haard errichtet. bau z.B. mit der Zeche Baldur in Dorsten-Holsterhausen bereits die Lippezone. Mit zunehmendem technischen Auch der Flächenverbrauch, d.h. die Umprägung der Fortschritt unter Tage wurde die obertägige Entwicklung Kulturlandschaft, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch rasanter. Oer und Erkenschwick erhielten nach den und dem notwendigen Wiederaufbau der meisten Stadt- Ausbauten von Graf Waldersee und Bergwerk Haard ab kerne – oftmals in einer vom Kommunalverband Ruhrge- 1899 nicht einmal mehr eine richtiggehende Innenstadt. biet kaum zu bremsenden Konkurrenz der Kommunen – in Waltrop „explodiert” binnen 15 Jahren vom 1.500-Seelen- Schüben fort, sei es durch das Ausgreifen von Wohnsiedlun- Dorf zur 20.000 Einwohner zählenden Mittelstadt, als 1903- gen oder sei es – verstärkt seit dem ausgehenden 20. Jh. – 1906 zur Bekohlung der kaiserlichen Flotte die Zeche Wal- durch die Ausweisung von Einfamilienhausgebieten und trop an die Hamm-Osterfelder Bahn und die Kanäle ge- Dienstleistungs- und Gewerbe‚parks’. Bis heute aber sind setzt wurde. In Gladbeck verursachten die Möllerschächte „vergessene“ Bauernhäuser und Adelssitze (oftmals zur in Ellinghorst, wie die Zeche Mathias Stinnes 3/4 in Vermeidung von Bergschadensregulierungen von den Berg- 213 Brauck, die Zeche Zweckel in Zweckel, ferner die Gewerk- werken aufgekauft) Zeugnis nicht nur älterer Entwicklungs- schaft Brassert in Marl mit ihrer ausgedehnten Kolonie stufen der Kulturlandschaft, sondern auch der Rasanz in oder die Zeche Fürst Leopold 1/2 in Dorsten-Hervest ähnli- der Umprägung der Kulturlandschaft innerhalb nur weni- che Phänomene. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in ger Jahrzehnte. Recklinghausen die Großzeche König Ludwig ausgebaut; nochmals entstand ein eigener großer Stadtteil mit ausge- dehnten Siedlungen immer noch unter Ausnutzung der Städte Hamm-Osterfelder Eisenbahn. In der Nationalsozialisti- schen Zeit wurde der Industriezweig der Petrochemie in- Über diese allgemeinen Entwicklungen hinaus seien in ih- ren charakteristischen Etappen Geschichte und Siedlungs- geschichte von Dortmund und Herne skizziert, die als kreis- Recklinghausen, Zechensiedlung König-Ludwig freie Städte heute beträchtliche Flächenanteile an der Kultur- Foto: LWL/B. Milde landschaft „Ruhrgebiet“ haben. In ihrer ganz unterschiedli- chen Genese stehen sie exemplarisch einerseits für die alten Städte und andererseits für die erst im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts entstandenen Städte des Ruhrgebiets.

Dortmund

Seit karolingischer Zeit belegter Handelsort, wird Dort- mund bereits im 13. Jh. als freie Reichsstadt erwähnt. Zu ihr gehörte als Reichslehen, später als Besitz, die Graf- schaft Dortmund. Die bedeutende Stellung in der Hanse ging als Folge der Dortmunder Fehde 1388-1390 mit dem Kölner Erzbischof, den Grafen von der Mark u.a. verloren; durch die Soester Fehde (1446-1449) kam es zu einer wei- teren Schwächung. 1570 erfolgte eine deutliche Zuwen- dung der Bevölkerung zum lutherischen Bekenntnis. Im

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Dreißigjährigen Krieg erlitt die Stadt starke Beeinträchti- und Ansiedlungen, vor allem die Kirchdörfer, häufig mit mit- gungen. Seit 1609 war Dortmund allseitig von Branden- telalterlichen Kirchen, noch deutlich ausmachen. Den geo- burg-Preußen eingeschlossen, ab 1816 preußisch und nur logischen Bedingungen entsprechend lagen die Tiefbauze- „Landstadt“ ohne besonderen Rang. Seit den 1830er Jah- chen vorwiegend im westlichen, östlichen und nördlichen ren etwa beginnt die Industrialisierung des näheren Um- Stadtgebiet; Siedlungsschwerpunkte entstanden u.a. in landes in dem erst dadurch entstandenen Stadtteil Hom- Mengede, Bodelschwingh, Eving und Derne. Im Westen bruch, vorwiegend durch Eisen- und Stahlwerke, Hütten- heben sich die Hellwegdörfer Lütgendortmund und Dorst- betriebe und Bergbau. Außerdem entstehen mehrere feld ab, im Osten Brackel, Asseln und Wickede. Der ver- Großbrauereien. Die Eingemeindungen setzten 1905 ein gleichsweise weniger besiedelte Nord- und Südrand des und erreichten 1928/1929 mit der Stadt Hörde und großen Stadtgebietes lässt noch ländliche Strukturen zu, die sich Teilen des Landkreises Hörde einen Höhepunkt und Ab- den geologischen Bedingungen entsprechend (Flach- bzw. schluss. Die eingemeindeten Freiheiten (Bodelschwingh, Bergland) deutlich voneinander unterscheiden (z.B. Brech- Mengede und Hörde) und Dörfer blicken ihrerseits auf Sied- ten im Norden, Sölde und Schüren im Südosten, Eichlinghofen lungskontinuität z.T. bis ins 9./10. Jh. zurück; von der Be- und Barop im Südwesten). Bedeutend ist der von Bauten deutung z.B. Brackels als Königsgut zeugen Reste der aus Ruhrsandstein geprägte Ortsteil Syburg im Süden über ehemaligen Deutschordenskommende. dem Zusammenfluss von Ruhr und Lenne mit sächsischer Wallburg, Peterskirche mit Friedhof und Kaiserdenkmal, Das Siedlungsbild spiegelt trotz scheinbar großer Diskon- aber auch Spuren frühen Steinkohlebergbaus. tinuitäten den geschichtlichen Werdegang der Stadt und ih- rer Unterzentren bildenden Eingemeindungen wider. Die frü- here Reichsstadt setzt sich mit ihrer als Ringstraße befahr- Herne baren ehemaligen Stadtbefestigung, der Ringbahn und der Ringgasleitung von den angrenzenden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wachsenden industriebedingten Stadter- weiterungen ab. Das alte Straßennetz wurde nach Aufwei- tung und Umlegungsverfahren nach dem Zweiten Weltkrieg nur teilweise übernommen, die Altstadt war innerhalb der Ringstraßen zu 95 %, das engere Stadtgebiet zu 75 % zer- stört worden. Der Wiederaufbau erfolgte als typische City- Bebauung mit Banken, Kaufhäusern, Verwaltungen u.a. im 214 Stil der 1950er und nachfolgender Jahre mit Restbeständen an Gebäuden aus dem späten 19. Jahrhundert.

Die stadtnahen Erweiterungen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts bilden ein dichtes Gefüge einer vorwiegend von Blockrandbebauung geprägten Besied- lung, im Westen, Norden und Osten deutlich von Bahn-, ehemaligen Zechen- und Industrieanlagen durchsetzt bzw. tangiert. Angesichts des Fehlens bzw. späten Einsetzens übergreifender Stadtplanung sind nur wenige markante Herne städtebauliche Situationen (Nordmarkt und Borsigplatz, um Foto: LWL/M. Höhn 1900, beide Innenstadt-Nord) entstanden. Die kernstadtartige Verdichtung ist stark mit öffentlichen Gebäuden, Schulen und Kirchen ausgestattet. In den unscharfen Randzonen Um 770 werden Eickel, um 880 Herne erstmals urkund- liegen Friedhöfe, im baulich privilegierten Süden Stadt-Er- lich erwähnt. Bis dahin ein Kirchdorf von 1.000 Seelen, be- holungsgrün sowie die zur Allee ausgebaute Ost-West- gann 1847 mit dem Bau der Köln-Mindener-Eisenbahn und Fernstraße (B 1), im Norden der Freizeitpark Westerholz, im dem 1849 über Berlin vollzogenen Bahnanschluss an das Nordosten eingekeilt zwischen Industrieanlagen der Ho- oberschlesische Bergrevier der Aufstieg Hernes zur Indus- esch-Sportpark. Eine zweite hohe Verdichtung stellen der triestadt. Ab 1856 wurden die Zechen Shamrock, Hibernia Bereich Hörde (einst eine Freiheit mit einer Konzentration von und Königsgrube als erste Zechen in Herne errichtet. Es Nagelschmieden, bis 1928 selbständige, hochindustrialisierte folgten eine Vielzahl weiterer Zechen, die wegen der hohen Stadt mit raumgreifender Eisenhütte), Schüren und Aplerbeck Investitionen in den Tiefbau immer als Großschachtanla- dar, mit starker Konzentration von Bergbau und Schwerin- gen geführt wurden. Die Anfänge des Bergbaus waren zu- dustrie, dazu Hombruch als ehemaliger, früh erschlossener nächst Unternehmungen mit irischem, belgischem und Bergbau- und Industriestandort. französischem Kapital. Erst 1874 wurde parallel zu den Re- parationsleistungen nach dem deutsch-französischen Trotz starker Wachstumsschübe und Zersiedlungsten- Krieg 1870/71 mit „Unser Fritz“ die erste deutsche Zeche in denzen durch die Industrie und durch sie – sowie die Aus- Betrieb genommen. Herne wuchs bis 1890 zu einer Stadt wirkungen des Zweiten Weltkrieges – bedingten Zuzugsra- mit 20.000 Einwohnern an. Die Aussicht auf einen festen ten lässt sich in der Agglomeration ein Großteil der Dörfer Arbeitsplatz und eine Wohnung lockte Arbeiter aus Hes-

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sen, Thüringen, Anhalt und vor allem aus Polen nach Her- erfolgte zwischen 1774 und 1780 ein Ausbau der Ruhr als ne. Neue Stadtteile entstanden insbesondere durch ausge- Wasserstraße, von Herdecke bis nach Ruhrort, das sich in dehnte Arbeitsersiedlungen. 1897 bekam Herne die Stadt- der Folgzeit zum bedeutenden Kohlenhafen entwickelte. En- rechte und wurde 1906 kreisfreie Stadt; 1926 ebenso Wan- de des 18. Jahrhunderts begannen die ersten Ansätze der ne-Eickel. Herne, „die goldene Stadt”, gibt als Bezeich- Industrialisierung: Auf den 1758 von Wenge bei Osterfeld er- nung den Eindruck amerikanischer Truppen wieder, die richteten ersten Hochofen, der Antonyhütte, folgte wenige Herne 1945 besetzten, denn die Innenstadt war nahezu in- Jahre später der Bau der Sterkrader Hütte (1782) und takt geblieben. Auf der Bahnhofstraße konnte man in unbe- 1791/92 der Hütte Neu Essen. 1808 wurden die drei Hütten- schädigten Geschäften und Lokalen mit langen Schaufens- werke vereinigt und unter dem Namen Gute Hoffnungshütte terfronten einkaufen und bummeln. Das weitgehend unzer- weiter geführt. Zuvor hatte Franz Dinnendahl 1799 die erste störte Stadtgefüge erschien in den ersten Jahren nach Dampfmaschine konstruiert, und 1806 arbeitete solch eine 1945, in denen auch ein Neubauverbot bestand, so unauf- Maschine zur Wasserhaltung auf der Essener Grube Rött- löslich, dass die Stadt Herne das Stadtplanungsamt auflös- gersbank, womit die Abteufung im Tiefschachtverfahren ge- te und erst im Sommer 1947 wieder einrichtete. Die allge- glückt und der Wendepunkt zur modernen Steinkohleförde- meine politische, soziale und wirtschaftliche Nachkriegs- rung vorbereitet wurde, nämlich das Durchstoßen des Mer- entwicklung Hernes vollzog sich im Trend der „Wirtschafts- geldeckengebirges und der Abbau der ergiebigen Fettkoh- wunderzeit”, bis Ende der fünfziger Jahre die Bergbaukrise levorkommen. Als Folge etablierten sich erste Unterneh- zu starken wirtschaftlichen Einbrüchen führte. Heute ist nur men: 1808 die Firma Stinnes, Thyssen erbaute wenige Jah- noch Blumenthal 9 als Seilfahrtschacht der Zeche in Be- re später ein Walzwerk in Styrum. Auch an der Infrastruktur trieb. 1975 erfolgte der Zusammenschluss der Städte Her- wurde zunehmend gearbeitet. 1839 entstand auf Privatinitia- ne und Wanne-Eickel zur „neuen Stadt” Herne. tive die erste Kunststraße, die Essen-Mülheimer-Aktienstra- ße, 1847 die Eisenbahn entlang der Emscherzone. Siedlungsentwicklung und Industrialisierung Die Industrialisierung des Ruhrgebiets hing somit u.a. mit Bis 1840 war das Ruhrgebiet in weiten Teilen eine Agrar- dem modernen Kohlenbergbau zusammen. Diese Energie- landschaft. Bedeutende Siedlungen konzentrierten sich quelle ermöglichte ein neues Verhüttungsverfahren mit am Hellweg. Beispielhaft können hier die kleinen klösterli- dem Eisen und Stahl in Hochöfen hergestellt wurden. Hier- chen Herrschaften Essen und Werden als Reichsstifte so- mit wurde die Grundlage der für das Ruhrgebiet typischen wie die, bereits seit der Karolingerzeit herausragende Verbindung zwischen Kohlenbergbau und Schwerindustrie Reichsstadt Dortmund, genannt werden. gelegt. Es kam nach 1840 allerdings nicht zu einer allmähli- chen Ausweitung und einem kontinuierlichen Übergang 215 Wirtschaftliche Verknüpfungen bestanden unter ande- von der gewerblichen Landschaft zur Industrielandschaft, rem zum gewerblich erschlossenen Bergischen Land bzw. sondern zu einem qualitativen und quantitativen Sprung. zu den Talräumen von Sauer- und Siegerland. Die sumpfi- ge und daher schwer passierbare Emscherniederung hatte Die Hellwegzone mit den Städten Duisburg, Mülheim, Es- sowohl eine natürliche als auch eine territoriale Grenzfunk- sen, Wattenscheid, Bochum und Dortmund wurde sehr früh tion. Im Norden des heutigen Ruhrgebiets musste auf we- von der Großindustrialisierung erfasst. Die Anfänge des niger ertragreicheren Böden gewirtschaftet werden als ent- Bergbaus konzentrierten sich um 1840 auf die Teilabschnit- lang des Hellwegs. Eine wichtige Position als vestisches te der Ruhr bei Witten, Hattingen und zwischen Steele und Gerichts- und Verwaltungszentrum nahm hier die Acker- bürgerstadt Recklinghausen ein. Hochofen im Landschaftspark Duisburg-Nord Die Vorläufer der technologischen Entwicklungen zeich- Foto: LVR/M. Köhmstedt neten sich in der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung be- reits früh ab. Zum Beispiel waren am Standort der Saline Unna-Königsborn die Salzgewinnung, der Einsatz von Kohlefeuerung und Dampfmaschine, aber auch die Kon- zentration von Fachleuten für Bergbau und Hüttenwesen bereits im 18. Jh. wichtige Impulsgeber für die Wirtschaft.

Auch im Tal der Ruhr wurde in bescheidenem Umfange in Stollen und primitiven Schächten (schon seit dem 14. Jh.) Steinkohle abgebaut; außerdem gab es dort einige Eisen- hämmer und frühindustrielles Gewerbe. Die ländlichen und kleinstädtischen Siedlungsstrukturen prägten noch fast das gesamte Bild des Ruhrgebiets, mit Ausnahme der sog. Bergmannskotten, den kleinen Anwesen von Nebener- werbslandwirten. Die Kohlen wurden bis ins 18. Jh. weitge- hend über die Kohlenstraßen nach Süden in Bergische Land exportiert. Auf Initiative des Preußenkönigs Friedrich II.

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Werden. Die ergiebigen Fettkohlevorkommen, die sich be- starke Verstädterung und eine intensive Industrialisierung sonders zur Verkokung und damit zur Eisenverhüttung eig- der Hellwegzone festzuhalten, die mit einer bemerkenswer- neten, mussten in rentabler Menge gefördert werden, wofür ten Zersiedlung und ersten großflächigen Umweltschäden, Großbetriebe aufgebaut wurden. Ein enormer Arbeitskräfte- vor allem in Form von Bergsenkungen, verbunden waren. bedarf, der Bau von Großzechen und die ersten Arbeiter- siedlungen kennzeichnen diese Periode vor allem in der Die Ruhrzone verlor erheblich an Bedeutung; besonders Hellwegzone, in Ansätzen aber auch schon weiter nördlich. bemerkbar machte sich dies beim Verkehr auf der Ruhr, der nach einem vorübergehenden Anstieg ab etwa 1860 Ein weiterer Motor der Industrialisierung war die Eisen- fast ganz zum Erliegen kam. Die Stadtbevölkerung vergrö- und Stahlerzeugung. Bis 1855 wurden die Hütten weitge- ßerte sich von 1800 bis 1870 um mehr als das Zehnfache. hend mit Koks beschickt. Nachdem die regionalen Eisen- In der Periode von 1840 bis 1870 wurden wesentliche vorkommen rasch erschöpft waren, bildete die Perfektio- Grundstrukturen des Ruhrgebiets geschaffen. nierung der Stahlerzeugung die Triebfeder der Ruhrwirt- schaft. Die Geschichte des Stahls im Ruhrgebiet ist mit Unternehmen wie dem Hörder Verein in Dortmund, des historische Lastkähne auf der Ruhr, 1840 Rheinischen Stahlwerken in Duisburg, mit Krupp, Thyssen, Stahlstich von H. Winkles nach einem Gemälde von C. Schlickum Haniel und Klöckner verbunden. Die Ansiedlung der Eisen- industrie erfolgte oft nahe der alten Stadtzentren und da- mit arbeitskräftenah. Neue Zechenstandorte entstanden hingegen weitgehend unabhängig von bestehenden Strukturen. Auf freiem Feld schossen Großzechen und Bergmannssiedlungen wie Pilze aus dem Boden. Gleich- zeitig wuchsen die alten Zentren der Hellwegstädte und er- hebliche Siedlungserweiterungen waren notwendig, um den Zustrom von Arbeitern aufzunehmen.

Wichtige Impulse gingen vom Eisenbahnbau aus, deren älteste Trasse weitgehend dem Hellweg folgt. Als Beispiel sei die Zeche Zollverein im Essener Nordosten genannt: Direkt an der Köln-Mindener-Eisenbahn gelegen, entstan- 216 den seit 1848 die erste Doppelschachtanlage und bis 1895 drei weitere Zechen. Sie war eine der großen Bergwerke des Ruhrgebietes. Neben den Betriebs- und Verwaltungs- gebäuden entstanden umfangreiche Bahnanlagen, Koh- lenhalden und Bergarbeitersiedlungen.

Steinkohlenzechen und Hüttenwerke suchten die Nähe der vorhandenen Städte, oder führten wie in Oberhausen zu einer eigenständigen Gründung (1929) aus den Gemeinden Sterkrade, Osterfeld und Holten. Zwischen 1840 und 1870 entstanden die ersten Zechensiedlungen und führten zu ei- Mit dem Beginn der Hochindustrialisierungsphase et- ner starken Ausdehnung der Städte wie Essen, Mülheim, wa um 1870 stieg die Beanspruchung der Landschaft Duisburg, Osterfeld, Ruhrort, Hamborn und Rheinhausen. sprunghaft. Die Städte dehnten sich weiter aus, die Indus- trie- und Verkehrsflächen wuchsen und schließlich begann In der ersten Industrialisierungsphase von etwa 1840 zu Beginn dieser Phase in großem Stil der Bau von Werks- bis etwa 1870 war die Nachfrage nach Boden zunächst siedlungen für Berg- und Hüttenarbeiter. In den Hellweg- noch relativ gering. Eine Ausnahme bildete nur die Eisen- städten wurde nunmehr die Infrastruktur ausgebaut und bahn, deren neue Anlagen erheblichen Platz vor allem im moderne Geschäfts- und Verwaltungszentren geschaffen. Ödland der Emscherzone beanspruchten. Neben den Diesen Maßnahmen fiel ein Großteil der überkommenen his- Bergbau- und Industrieanlagen entwickelten sich in der un- torischen Substanz zum Opfer. In den Erweiterungszonen mittelbaren Nähe der Hellwegstädte auch erste Vorstädte der Hellwegstädte verstärkte sich noch das Gewirr von den für die städtische Bevölkerung und Viertel für die Arbeiter. verschiedenen Funktionen dienenden Bauten und Anlagen, da es nur in seltenen Fällen zur Aufgabe von Standorten Gegen Ende dieses Zeitraums, ab etwa 1860 entstanden kam. Meist wurde das Vorhandene umgebaut und erneuert, die ersten Bergarbeitersiedlungen, die von den Betrieben was oft mit einer weiteren Verdichtung Hand in Hand ging. eigens für ihre Belegschaft erbaut worden waren. Dadurch Hinzu kam die Standortgebundenheit der Schachtanlagen, wurden der Kern und die Erweiterungszone der Hellweg- die sich nach dem Verlauf der Kohlenflöze zu richten hatten. städte etwas entlastet, die sich aber ungeachtet dessen rasch zu den zentralen Orten des sich neu formierenden In großem Stil wurde in dieser Phase die Emscherzone Ruhrreviers entwickelten. Als Ergebnis dieser Phase ist eine umgestaltet. Hier entstanden die neuen Emscherstädte teils

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aus wilder Wurzel, teils in Anlehnung an ältere Siedlungsker- Die Ruhr verlor weiter an Bedeutung; im Gegensatz dazu ne. Wegen der fehlenden Raumplanung kam es zu einer Ver- stieg der Rhein zum wichtigsten Schifffahrtsweg des Ruhr- mischung von Industriebetrieben, Verkehrsanlagen, öffentli- gebiets auf. Die intensive Erschließung weitgehend unbesie- chen Gebäuden und Wohnhäusern. Außerhalb der neuen delten Geländes vor allem in der Emscherniederung führte städtischen Gebilde wurden die Bauten vollends planlos bzw. zu einer ernsten Schädigung des landschaftlichen Gefüges an den Förderpunkten orientiert im Gelände verteilt. Die alten durch Versumpfungserscheinungen infolge von Bergsen- Dorfkerne blieben nur vereinzelt erhalten; meist wurden sie in kungen, Abwasserüberschwemmungen und gravierenden einschneidender Weise umgestaltet. Entscheidend für den Eingriffen in die landwirtschaftliche Bodennutzung. Hausbau waren die Nähe zur Arbeitsstätte und die Grundbe- sitzverhältnisse. Auch die Arbeitersiedlungen wurden nach Die dritte große Ausbauphase begann etwa 1895 und en- Standortsgesichtspunkten angelegt. Es handelte sich dabei dete mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Es verblieben meist um Reihensiedlungen mit Ein- oder Zweifamilienhäu- aber noch agrarische Elemente in der Kulturlandschaft. Die sern mit Vor- und Hausgarten sowie Stallgebäuden. Voraussetzung für die Erschließung und Besiedlung der Em- scherniederung war die Regulierung und Kanalisierung die- Der Bergbau rückte 1870-1874 weiter nach Norden und ses Flusses, der nunmehr zum Abwasserkanal für das ganze Westen vor und erreichte damals eine Abbaufläche von Ruhrgebiet wurde. Einen besonders starken Aufschwung er- insgesamt rund 1.000 km². Die Eisenindustrie konzentrier- lebten die rheinnahen Gebiete, vor allem das Duisburger te sich stärker als der Bergbau auf wenige Standorte. Ab Rheinufer und der Raum Ruhrort-Hamborn. Die Eisen- und 1870 setzte sich die Verlagerung u.a. in den Rhein-Ruhr- Stahlindustrie als großstadtbildende Industrie trugen mehr Mündungsraum fort. Die Konzentration der eisenschaffen- zur zentralisierenden Siedlungsentwicklung bei als der Berg- den Industrie förderte die Entwicklung zu Industriegroß- bau. Von 1895 bis 1913 verdoppelte sich die bebaute Flä- städten ganz wesentlich. Die Verkehrsanlagen wurden wei- che, die Verkehrsfläche nahm um etwa die Hälfte zu. ter verdichtet, wodurch zahlreiche neue Elemente in die Kulturlandschaft kamen, die die weitere Entwicklung nicht In dieser Zeit wuchs auch das industrielle Ödland in Ge- selten auch negativ beeinflussten. Es handelt sich dabei stalt von Halden und durch Bergschäden versumpftes Ge- um Dämme, Brücken, Bahnhöfe der öffentlichen Bahnen biet erheblich an. Geradezu explosionsartig vergrößerte sowie in zunehmendem Umfang auch um Werksbahnen, sich die Zahl der zecheneigenen Wohnungen von ca. die die Stadtgebiete kreuzten, um die einzelnen Werke 10.000 im Jahre 1893 auf ca. 95.000 im Jahre 1914. Als und Zechen eines Konzerns miteinander zu verbinden. Haupttyp kristallisierte sich eine vierräumige Wohnung in einem Haus heraus, zu dem noch etwa 400-600 m² Gar- tenland gehörten. 217 Emscher Foto: LWL/B. Milde Gleichzeitig favorisierte man seit Beginn des 20. Jahr- hunderts neue gestalterische Auffassungen. Nun gingen die Planungen mehr daran, eine städtebauliche Gesamtlö- sung für die ganze Kolonie zu suchen. In den letzten Vor- kriegsjahren bezog man darüber hinaus auch das „Werk“, die Arbeitsstätte der in der Kolonie Wohnenden, in die Pla- nung mit ein und legte Wert auf eine harmonische Verbin- dung von Fabrik und Werkssiedlung. Als baulicher und planerischer Höhepunkt dieser Vorkriegsentwicklung gilt die 1906 gegründete Siedlung der Margarethe-Krupp-Stif- tung, die als Gartenstadt für 16.000 Einwohner mit allen notwendigen Versorgungseinrichtungen konzipiert wurde.

Der Bergbau erreichte bei seiner Nordwanderung vor dem Ersten Weltkrieg seine vierte Zone. Gleichzeitig be- gann der Rückzug von Bergbau und Industrie aus dem Sü- den, der die Neunutzung der Ruhrzone für gehobenes Wohnen und Naherholung ermöglichte. Die Ruhr und ihre Nebenflüsse wurden konsequent für die Trinkwasserversor- gung des Ruhrgebiets herangezogen, wozu einerseits das Fernhalten von Abwässern und andererseits die Anlage von Talsperren nötig waren. Das Wasser der Lippe konnte da- gegen wegen seines Salzgehaltes nur für Industriezwecke verwendet werden, während die kanalisierte Emscher zu ei- ner Hauptabflussrinne des industriellen Brauchwassers wurde. Dadurch entwickelten sich die einzelnen Stadtteile der Hellwegstädte immer mehr auseinander, der Norden orientierte sich zur hoch industrialisierten Emscherzone,

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

der Süden dagegen zur Ruhrzone, die ihre bergbaulich-in- bebauung wurden die noch vorhandenen freien Über- dustrielle Prägung schon weitgehend beseitigt hatte. gangszonen nun erheblich belastet. Es gelang nur selten, das erklärte Ziel zu erreichen, schon vorhandene isolierte Das Ruhrgebiet erweiterte sich in die angrenzenden Re- Siedlungsteile und Kolonien in bereits bebaute Gebiete gionen einschließlich linksrheinischer Gebiete. Der Ausbau einzubinden und damit auf die Stadtkerne hin zu zentrie- und die Anpassung des Verkehrssystems mit bereits früh ren. Die neu errichteten Werks- bzw. Genossenschafts- angelegten Autobahnen, Ausbau der Versorgungs-, Erho- siedlungen setzten sich meist aus größeren Reihenhäu- lungs- und Infrastruktur hingen wiederum sehr eng mit der sern zusammen, die nicht mehr von Gärten, sondern von Erweiterung und Intensivierung der industriellen Produkti- Rasenflächen umgeben waren. Insgesamt wurden insbe- on zusammen. sondere in den 1950er Jahren umfangreiche vorher land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen erstmals bebaut. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten sich die schon seit der Jahrhundertwende zu konstatierenden Ansätze zur Am Ende der 1950er Jahre zeigten sich erste Anzeichen Raumplanung erheblich. Der Emscherzone stand die Ruhr- einer schwerwiegenden Strukturkrise. Es kam zu den ers- zone als bevorzugtes Wohngebiet besserverdienender Be- ten Zechenstilllegungen, denen bis zur Gegenwart die völkerungsschichten mit Villenvierteln und gehobenen meisten der um 1950 bestehenden Zechen folgten: 1958 Wohnvororten sowie ausgedehnten landschaftlich reizvol- gab es 128 fördernde Zechen, 1988 nur noch 22, im Jahr len Erholungsgebieten gegenüber. So gesehen wurde da- 2007 sind es noch acht. Insbesondere seit den späten mals die Segregation innerhalb des Ruhrgebiets größer. 1970er Jahren, nach kohlekrisenbedingter Gründung der Ruhrkohle AG 1968, erfolgte ein massiver Strukturwandel, Die Entwicklung der Südzone zum bevorzugten Wohn- der auch die industrielle Kulturlandschaft betrifft. Die Anla- gebiet der Industriegroßstädte der Hellwegzone hatte ver- gen der stillgelegten Zechen wurden in den 1960er und stärkt um 1920 eingesetzt. Diese Bewegung ist im Zusam- 1970er Jahren in der Regel restlos oder zumindest größ- menhang mit der zunehmenden Zentrenbildung sowie der tenteils beseitigt. Auf den freigewordenen Flächen siedel- Ausgestaltung des Raumes mit Bildungs-, Freizeit- und Er- ten sich neue Industriebetriebe unterschiedlicher Ausrich- holungseinrichtungen zu sehen. Die Zentren des polyzen- tung an, die häufig die vorhandene Infrastruktur, vor allem trischen Ballungsraumes Ruhrgebiet wuchsen mehr und die Verkehrsanlagen weiter nutzten. Teilweise kam es auch mehr zusammen, wodurch ein immer stärkerer Druck auf zu ungeplanten wilden Neunutzungen unter Verwendung die dazwischen liegenden Grünzonen entstand. Für die von Teilen des Gebäudebestandes. Koordinierung der planerischen Aktivitäten war deshalb 218 die Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk Für einige der stillgelegten Bergwerke sind allerdings mit Sitz in Essen 1920 besonders wichtig (1979 in Kommu- andere Nutzungen gefunden worden. Beispielhaft ist die nalverband Ruhrgebiet umgewandelt, seit 2005 Regionalver- ehemalige Gute Hoffnungshütte in Oberhausen zu nen- band Ruhr). Dieser konzentrierte sich nicht nur auf die Er- nen. Nach der Stilllegung errichtete man hier ein neues haltung und Ausweitung der Grünzonen, sondern ebenso Einkaufs- und Stadtzentrum, Oberhausen Centro. auf die Erschließung von Naherholungsräumen, wozu auch der Ausbau des Nahverkehrsnetzes gehörte. Um die Duisburg, Hüttenbetrieb Meiderich Städte entstanden für Erholungszwecke und Freizeitgestal- Foto: LVR/M. Köhmstedt tung Schrebergartengürtel und Sporteinrichtungen.

In diesem Zeitraum wanderten der Steinkohlenbergbau und die ihm angeschlossenen Industrien von Süden be- ginnend der Kohle nach in Süd-Nord-Richtung durch das Revier, bis in die Lippezone hinein und bewirkten dadurch eine ständige Veränderung der Siedlungs- und Industrie- standorte, ja kämmten geradezu die verbliebenen Freiflä- chen aus und hinterließen oft Werksgelände und Halden als tote Flächen. Die übergreifende Grünflächenpolitik galt deshalb von Anfang an auch als Umweltplanung; das Hauptergebnis war die Ausweitung des regionalen Grün- flächensystems mit Grünzügen, die in Nord-Süd-Richtung die Städtereihen queren und sowohl der Frischluftzufuhr als auch der Naherholung dienen.

Durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und dem nachfolgenden Wiederaufbau wurde das Land- schaftsbild nicht grundlegend verändert. Ein Großteil der Wohnungen entstand auf ehemals landwirtschaftlich ge- nutztem Gelände, abseits der industriellen Anlagen am Rande der städtischen Ballungskerne. Durch diese Streu-

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Vor allem auf Initiative der „Internationale Bauausstel- tende Industrie (Lokomotiv- und Wagenbau, Schienen) und lung Emscher Park (IBA)“ entstanden hier zwischen 1989 den Kohlenbergbau aus. Die Eisenbahn ermöglichte erst und 1999 Industrie- und Gewerbeparks, kulturelle Einrich- den kostengünstigen Massentransport und letztendlich die tungen und Industriemuseen. Auf den Industrie- und Berg- Entwicklung des Industriestandortes Ruhrgebiet in seiner baubrachen haben sich Sekundärbiotope entwickelt. heutigen Form.

Nach den Zechenstilllegungen wurden (und werden) Die 1837 gegründete Rheinische Eisenbahngesellschaft noch viele Siedlungen privatisiert, was häufig erhebliche und die 1843 gegründete Bergisch-Märkische Eisenbahn negative Konsequenzen auf das meistens einheitlich ge- sowie andere private Bahngesellschaften wollten an den staltete Siedlungsbild hat. Die vorhandenen Grünflächen wirtschaftlichen Ressourcen des Ruhrgebietes teilhaben gerieten von verschiedenen Seiten unter Druck: Ansprü- und eröffneten zahlreiche Eisenbahnverbindungen; bis che stellten neben der Wohnbebauung auch noch die 1880 waren die wichtigsten Strecken eröffnet. Verkehrsplanung, vor allem der Straßenbau sowie ganz allgemein die Stadtplanung, die neue Infrastrukturen Einschnitte in der Entwicklung des Eisenbahnnetzes im schaffen sollte. Ruhrgebiet kamen mit der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Niedergang des Kohle- bergbaues und der eisenverarbeitenden Industrie sowie Verkehr dem Anwachsen des Autoverkehrs. Zwar wurden zahlrei- che Strecken im Ruhrgebiet ab 1954 elektrifiziert, aber vie- Die Entwicklung des Ruhrgebietes als Industriestandort le Güterbahnhöfe, Betriebswerke, Bahnhöfe und Strecken ist maßgeblich durch die Verkehrsbedingungen bestimmt. wurden stillgelegt und aufgegeben, erkennbar an den rie- Die Wasserwege waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts sigen leeren Flächen ehemaliger Güterbahnhöfe, heute weitgehend ausgebaut und erschlossen, konnten aber begehrte Baugebiete nahe der Stadtzentren. den ständig steigenden Warenverkehr nicht ausreichend sicherstellen. Es kam zum Bau von zahlreichen Bahnver- Dem Personenverkehr im Ruhrgebiet und darüber hi- bindungen, die vornehmlich dem Güterverkehr dienten. naus dienten Straßenbahnverbindungen, ab etwa 1880 als Pferdebahn, ab 1892 als elektrische Straßenbahnen. Die Im Ruhrgebiet wurden die ersten Eisenbahnen in Nord- weitere Entwicklung führte zu einem der dichtesten zusam- rhein-Westfalen errichtet. Hierzu gehören der Rauendahler menhängenden Straßenbahnnetz in Europa. Große Stre- Kohlenweg und die Muttentalbahn. Ersterer wurde bereits cken- und Betriebsteile sind aufgegeben und abgebaut, 1787 von vier Zechen als Kohlenbahn auf Privatgelände dennoch sind zahlreiche Anlagen, wie Dämme, Einschnit- 219 bei Hattingen errichtet. 1827 entstand die Verbindung von te, Bahnhöfe, Gebäude u.a. noch immer erhalten und prä- der Schachtanlage Carl-Friedrich Erbstollen in Bochum- gen das Gesicht der Städte und des Landes. Weitmar zur Ruhr. Vergleichbar ist die Muttentalbahn, die 1828 von den Wittener Gewerken errichtet wurde. 1829 Einige Eisenbahneinrichtungen werden heute im Muse- folgte die Schlebusch-Harkorter Kohlenbahn, errichtet von umsbetrieb erhalten, wie das Eisenbahnmuseum Bochum- Friedrich Harkort als Verbindung von der Schlebuscher Ze- Dahlhausen, die Hespertalbahn, die Hammer Museums- che zur Ennepestraße. 1831 eröffnete man – zunächst als bahn. Pferdebahn auf Schmalspurgleisen – die Deilbachtalbahn, die Verbindung von Essen-Überruhr nach Nierenfeld, 1844 Im südlichen linksrheinischen Niederrhein war die ver- auf Normalspur umgebaut und mit Dampflokomotiven be- kehrliche Erschließung durch die industrielle Entwicklung trieben, 1846 bis Vohwinkel verlängert. vorbestimmt. Dazu gehört eine der ältesten Eisenbahnen im Rheinland, die Verbindung von (Duisburg-)Homberg Die Köln-Mindener Eisenbahn war das erste große Ei- nach Viersen von 1849. Noch heute ist diese Strecke im senbahnprojekt dieser Region und sollte die Verbindung Stadtgefüge von Homberg erkennbar. Ab 1852 war die zwischen dem Rhein, dem aufstrebenden Industriegebiet Verbindung über den Rhein mittels eines Schiffstrajektes nördlich der Ruhr und der Weser herstellen, auch um die nach (Duisburg-)Ruhrort sichergestellt. Der Hebeturm und niederländischen Zölle auf dem Rhein zu umgehen. Die der Eisenbahnhafen auf der Homberger Seite sowie der Strecke wurde in Abschnitten eröffnet: 1845 Deutz-Düssel- Hafen auf der Ruhrorter Seite sind noch intakt und touris- dorf, 1846 bis Duisburg, 1847 bis Hamm, am 15. Oktober tisch erschlossen. Der Trajekt wurde 1874 durch die Rhein- 1847 das Reststück bis Minden. Dadurch bestand erstma- hausener Brücke ersetzt. lig eine durchgehende Eisenbahnverbindung zwischen Antwerpen und Berlin. Die Köln-Mindener Eisenbahn war Von Rheinhausen aus kamen Verbindungen nach Neuss einer der bedeutendsten Faktoren zur Entwicklung des 1856/66, nach Krefeld und Viersen 1849 und weiter nach Ruhrgebietes in seiner heutigen Form. Damit waren die Venlo hinzu. Der linksrheinische Niederrhein wurde durch Ost-West Ausrichtung der Verkehrslinien vorgegeben, dies die Verbindung von Rheinhausen nach Kleve 1904 er- spiegelt sich noch in den aktuellen Hauptstrecken der schlossen. Die Stadt Moers wurde ab 1908 durch mehrere Deutschen Bahn wieder. Von dieser Linie, zusammen mit Straßen- und Kleinbahnen erschlossen, wie die Verbindun- denen der Bergisch-Märkischen und der Rheinischen Ei- gen nach Krefeld, nach Ruhrort, nach Kempen, nach senbahn, gingen wichtige Impulse für die eisenverarbei- Rheinberg und Hoerstgen-Sevelen belegen.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

Die Flüsse im Ruhrgebiet als geschichtliche Entwick- In die angrenzenden Bereiche erstreckte sich eine ge- lungskorridore werblich-industrielle Nutzungsstruktur, von der zahlreiche Relikte bis heute erhalten sind: Pingenreihen, verfallene Stol- Die Darstellung der Kulturlandschaftsentwicklung wird lenmundlöcher, Schachteingänge, Trassenreste der Kohlen- erst anhand der geschichtlich bedingten Entwicklung der bahnen, Kohlenmagazine, Ruhrschleusen, Kohlenhäfen und Rolle bzw. der Funktionen der wichtigsten Flüsse des Rau- Leinpfade. Ebenso entwickelten sich die alten Zugangswege mes verständlich. Nicht umsonst wird bei der Binnenzonie- zu den Bergwerken in ihrer Verbindung zur Ruhr, die heute rung des Ruhrgebiets auf die Flüsse Rhein, Ruhr, Emscher noch als dichtes Waldwegesystem erhalten sind. Reihungen und Lippe Bezug genommen. von Wirtshäusern, insbesondere in südlicher Richtung, wei- sen auf ihre Errichtung für Kohlentreiber und Fuhrleute hin. Die überragende Funktion als Verkehrsträger setzte Somit wandelte sich das Landschaftsbild entlang der Ruhr beim Rhein seit der Römerzeit mit der Stationierung einer seit dem 18./19. Jh. erheblich. Infolge des Eisenbahnaus- eigenen Flotte ein. Landbewirtschaftung, Verkehr, Besied- baus und der Nordausdehnung des Kohlenreviers ging die lung und Hochwasserschutz sind anthropogene Hand- Ruhrschifffahrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lungsfelder, die von der Römerzeit bis heute entlang des stark zurück und wurde oberhalb von Mülheim aufgegeben. Rheins ihre Spuren hinterlassen haben. Seinen Auf- schwung als wichtigste Großschifffahrtsstraße erfuhr der In der Emscherzone war in der ersten Industrialisie- Rhein nach den Flussregulierungen, insbesondere den rungsphase von 1840 bis 1870 die Nachfrage nach Boden Mäanderdurchstichen im 19. Jahrhundert. zunächst relativ gering. Nur die neuen Anlagen der Eisen- bahn beanspruchten erheblichen Platz. Mit dem Beginn Die Flussgeschichte der Ruhr als Verkehrsträger ist der Hochindustrialisierungsphase etwa um 1870 wurde die nach mittelalterlichen Anfängen insbesondere mit dem Emscherzone in großem Stil umgestaltet, es begann der Aufschwung des Steinkohlenbergbaus seit dem 18. Jh. Bau von Werkssiedlungen für Berg- und Hüttenarbeiter. Die mit dementsprechenden Baumaßnahmen verbunden. neuen Emscherstädte entstanden teils aus wilder Wurzel, Der Ausbau der Ruhr als Schifffahrtsweg erfolgte in der teils in Anlehnung an ältere Siedlungskerne, wobei außer- preußischen Zeit mit Schleusenbauten zwischen 1774- halb die Bauten vollends planlos bzw. an den Förderpunk- 1780, die z.B. im Bereich Werden noch heute gut erhal- ten orientiert im Gelände verteilt waren. Charakteristisch ist ten sind. Danach war eine durchgehende Verbindung die Vermischung von Industriebetrieben, Verkehrsanlagen, zwischen Ruhrort und Langschede geschaffen. Dies öffentlichen Gebäuden und Wohnhäusern. Die dritte große führte u.a. dazu, dass sich bis 1830/40 das „Alte Revier“ Ausbauphase begann etwa 1895 und endete mit dem Be- 220 beiderseits der Ruhr herausbildete; das Ruhrtal blieb zu- ginn des Ersten Weltkriegs. Die Voraussetzung für die Er- nächst die Hauptachse. Die Steinkohlenförderung war schließung und Besiedlung der Emscherniederung war die im Jahre 1830 im gesamten Ruhrgebiet auf etwa Regulierung und Kanalisierung dieses Flusses, der nun- 700.000 t gestiegen, nachdem sie sich in den ersten mehr zum Abwasserkanal für das ganze Ruhrgebiet wurde. Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts um etwa 500.000 t Weiterhin wurden neue Verkehrswege geschaffen, unter bewegt hatte. 1840 wurden rund 1.250.000 t erreicht; da- denen der 1914 eröffnete Rhein-Herne-Kanal als überra- von gingen 44 % zur Ruhr. gende West-Ost-Verbindung besonders zu nennen ist.

Zeche Waltrop Foto: LWL/M. Höhn kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:26 Seite 221

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Die Lippe schließlich stellt im nördlichen Teil der Kultur- prägender Bedeutung ist. Die Auswertung von Satelliten- landschaft „Ruhrgebiet“ eine Art Schlagader der Kultur- bildern bestätigte zuletzt im Jahr 2001 diese Tatsache mit landschaftsentwicklung dar. Der Fluss als Wasserstraße beeindruckenden Zahlen. Fasst man die Flächen mit Sied- vom Rhein nach Osten machte das Gebiet schon früh zu lungen, Verkehr, Halden, Bodenabbau, Industrie- und Ge- einem Kontakt- und Verbindungsraum, wie die archäolo- werbeanlagen zusammen, ergibt sich für Nordrhein-West- gisch untersuchten Römerlager entlang der Lippe bele- falen ein Flächenanteil von rund 12 % Versiegelung unter- gen. Sie zeugen von dem Versuch, das rechtsrheinische schiedlicher Stärke. Germanien in das römische Imperium einzubeziehen. Seit der karolingischen Missionszeit die Bistümer Köln und Die Spitzenwerte des mittleren Ruhrgebiets werden we- Münster scheidend, entwickelte sich die Lippe im späteren der im hügeligen Süden noch im aufgelockerten Norden Mittelalter auch zur Territorialgrenze. erreicht. Selbst die großen, kreisfreien Industriestädte lie- gen bei einem Anteil von rund 40 % versiegelter Fläche.

Kulturlandschaftscharakter Flächenversiegelungsgrade ausgewählter Städte im Relikte der vorindustriellen Agrar- und Waldlandschaften Ruhrgebiet des Ruhrgebiets finden sich bis heute in kleinräumiger Ver- mengung mit dem zeitgenössischen Erscheinungsbild. Dies gilt selbst für die Kernbereiche der Besiedlung, erst recht aber für die Übergangs- und Randzonen der Kultur- landschaft.

Im ehemals dünn besiedelten Norden und Nordwesten des Ruhrgebiets geht die Besiedlung auf Einzelhöfe, lo- ckere Hofgruppen, später auch Drubbel zurück. Auch heu- te noch finden sich solche Zeugnisse wie in Hünxe-Buch- olt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Industrieanlagen. Das Bild der Kulturlandschaft heute ist Ergebnis eines Siedlungsspuren entlang von Grenzen zwischen trocke- umfassenden Strukturwandels im Ruhrgebiet. Handel und nen und feuchten Landwirtschaftsstandorten finden sich Dienstleistungen haben die Wirtschaftszweige Bergbau z.B. noch entlang der Rinnen und am Rand der Rhein-Nie- und Schwerindustrie inzwischen längst überholt. Der Pro- 221 derterrasse. Im Übergang zum Niederrhein ist die beson- zess der Deindustrialisierung hat zusammen mit der Rück- dere Hofform des T-Hauses ein interessantes Relikt aus gewinnung verbrauchter Flächen zu ablesbaren räumli- der agrarisch geprägten Zeit. chen Veränderungen geführt.

Die stärker besiedelten Lössgebiete und der vestische In diesem staatlich gelenkten und mit Fördermitteln an- Höhenrücken haben ihren Siedlungsursprung in stärker geschobenen Wandlungsprozess wurden Ansätze der konzentrierten Typen wie Gruppensiedlungen und Dörfern. städtischen Freiraumplanung auf die regionale Ebene des Ruhrgebiets übertragen. Hieraus entstanden neuartige, Weite Verbreitung hatte im Bereich der Emscherniede- begleitende Instrumente des Strukturwandels. rung der Typ der Gräftensiedlung. Die wasserumwehrten Höfe und Häuser in Einödlage waren zumeist Adelssitze. Der räumliche Funktionswandel hat neue Freiraumtypen hervorgebracht, die mit den Mitteln der Landschaftsarchi- Der umfassende Industrialisierungsprozess hatte auch tektur dem Landschaftscharakter der Kulturlandschaft tiefgreifende strukturelle Auswirkungen im Landschaftsbild „Ruhrgebiet“ einen neuen Ausdruck verliehen hat. zur Folge. Die Waldflächenentwicklung und die Waldbe- wirtschaftung waren eng verbunden mit dem Bedarf des Freiraumsicherung und Durchgrünung waren die Ziele Bergbaus an Grubenholz. Angrenzende Waldgebiete wie bei der Ausweisung der regionalen Grünzüge. Der Ansatz etwa bei Sprockhövel oder Fröndenberg wurden dafür ge- geht zurück auf die Gründungszeit des Siedlungsverban- rodet. Den umfangreichen Abholzungen standen großflä- des Ruhrkohlenbezirk um 1920. Die in Süd-Nord-Ausrich- chige und systematische Aufforstungen gegenüber. So tung verlaufenden Korridore sollten eine raumgliedernde wurden zwischen 1840 und 1900 in einer Linie vom Staats- Funktion übernehmen. Verbliebene landwirtschaftliche forst Wesel nach Osten bis zur Haard eine Fläche von Flächen, Waldabschnitte und viele kleine, nicht bebaute 2.000 ha vorzugsweise mit Kiefern wieder aufgeforstet. Flächen gehören zu diesem Freiraumverbund. Das Kon- zept der Revierparks stammt ebenfalls aus den 20er Jah- Das Ruhrgebiet ist ein großer städtischer Verdichtungs- ren und wurde in den 1970er Jahren umgesetzt, um den raum. Im Umfeld der Emscher werden mit über 1.200 Ein- Freizeitwert der Industrieregion zu erhöhen. Heute gibt es wohnern je km² die höchsten Einwohnerdichten Deutsch- fünf solcher Anlagen, die neben ausgedehnten Grünanla- lands erreicht. Die logische Folge ist der große Anteil be- gen auch Veranstaltungsbereiche sowie Bade- oder bauter bzw. versiegelter Fläche, der für das Gebiet von Sportangebote bereit halten.

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Waldgebiet der Haard, Blick auf Scholven Foto: LWL/M. Höhn

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Mit der Internationalen Bauausstellung war im Arbeits- desgartenschaugelände Gelsenkirchen Nordstern (1997) zeitraum von 1989-1999 die Emscherregion als besonders oder der Landschaftspark Duisburg Nord. problematischer Zentralbereich des Ruhrgebiets Gegen- stand einer umfassenden Erneuerung mit dem hohen An- In der Gesamtschau sind trotz des momentanen hohen spruch, einen sozialen und umweltverträglichen Struktur- Veränderungsgrades die Entwicklungsstufen des Kohlen- wandel zu betreiben. Das Vorhaben zielte auf die Beseiti- bergbaus und der Industrialisierung mit der damit zusam- gung städtebaulicher und ökologischer Defizite als Grund- menhängenden erforderlichen Infrastruktur im Land- lage einer neuen ökonomischen Entwicklung und ist viel- schaftsbild wahrnehmbar, verlieren aber zunehmend die fach beschrieben worden. An dieser Stelle ist erwähnens- funktionellen Verflechtungen. Die ursprünglich agrare wert, dass mit dem Emscher Landschaftspark in der West- Siedlungsstruktur einer städtearmen Region hat nun eine Ost-Ausdehnung an die Vernetzung von Freiräumen in der der höchsten Städte-, Siedlungs-, Bevölkerungs- und In- Tradition der Grünzüge angeknüpft wurde. Der Umbau der dustrie- sowie Verkehrsdichten in Europa. Das Autobahn- von Bergbau und Industrie überformten Flächen in eine netz ist entsprechend engmaschig. postindustrielle Parklandschaft ist zu einem Markenzeichen der heutigen Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ geworden. Das Ballungsgebiet scheint auf den ersten Blick aus- schließlich zeitgenössisch gestaltet zu sein. Bei näherem Herausragend sind in diesem Zusammenhang die in- Hinsehen ist das kulturlandschaftlich Besondere und im dustriell geprägten Landschaftsparks, die auf ehemaligen Landschaftsbild Erlebbare jedoch das Nebeneinander von Zechen- oder Werksgeländen neue Nutzungen möglich verschiedenartigen Elementen, Strukturen und Kulturland- werden ließen. Unter der Voraussetzung, dass die indus- schaftsbereichen aus allen Epochen des industriellen Zeit- triegeschichtlichen Bezüge bewahrt bzw. sichtbar gemacht alters, aber auch aus älteren historischen Epochen. Die werden, können Erholungs- oder Freizeitnutzungen eine Dynamik dieses schnellen, technisch bedingten Umwand- Form der Folgenutzung sein, die auch großflächig kultur- lungsprozesses ist in der Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ landschaftliche Entwicklungsprozesse aufgreift und unter deutlich ablesbar, wobei die Industrialisierung ebenfalls ei- Erhaltung der historischen Substanz weiterführt. ne wichtige raumprägende Phase der Kulturlandschafts- entwicklung darstellt, die diesem Raum seine regionale Beispiele sind ehemalige Landesgartenschaugelände Identität verleiht und in seiner Ablesbarkeit auch im struk- wie etwa in Oberhausen oder Lünen-Horstmar, das Bun- turellen Wandel erhalten werden muss.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet 6.2

Das Ruhrgebiet ist nur als Wirtschaftsraum mit Kernge- irischen Zuwanderer für die Zeche Shamrock in Herne; Ge- bieten und Randgebieten definierbar. Entscheidend ist meinschaftsgräber großer Grubenunglücke). nicht ein einzelnes Element wie die Schachtanlage, son- dern es sind die spezifischen Verdichtungen und Vermi- Wichtige Bezugspunkte der Kulturlandschaft „Ruhrge- schungen von Siedlung, Industrie und Verkehr. Geschaffen biet“ sind die Zentren der Städte, die – mit wenigen Aus- wurde das heutige Gefüge auf der Basis der naturräumli- nahmen – bereits seit dem ausgehenden 19. Jh. ihre vorin- chen Gegebenheiten und der vorindustriellen Kulturland- dustrielle Kleinteiligkeit zugunsten großvolumiger Bebau- schaftsstrukturen, vor allem durch die Industrialisierung ung des tertiären Sektors verloren haben. Oftmals nach und die Verstädterung im 19. und 20. Jahrhundert. dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden die In- Aus der knappen geschichtlichen Einführung ist ersichtlich, nenstadtquartiere und Stadtsilhouetten mit geprägt von dass in der gesamten Ruhrregion wichtige Zeugnisse der den Bauten öffentlicher und privater Verwaltung, Polizei- gebauten Vergangenheit erhalten und ablesbar sind. Neben präsidien und Gerichten, Banken und Hauptpostämtern, den archäologisch dokumentierten Zeugnissen seit der Gymnasien und Theatern, Verlagen und Krankenhäusern. Frühgeschichte, der Römerzeit oder dem frühen und hohen Erholungsanlagen von Stadtparks über Volksparks mit Mittelalter sind die frühen Höhenburgen, die Klöster und Stif- Sportstätten und die relativ jungen ‚Revierparks’ bis zu den te, die Königshöfe, die erhaltenen Adelssitze, die histori- zahlreichen Schrebergartenanlagen sind – zunehmend schen Stadtzentren mit den teils erhaltenen Stadtbefestigun- durch Grünbänder und Wegenetze untereinander verbun- gen oder die frühen Kirchdörfer ebenso wichtige Bestandtei- den sowie um aufgearbeitete Industriebrachen ergänzt – le der Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ wie die Zeugnisse von wichtige Elemente der Kulturlandschaft. Kohlebergbau und Stahlerzeugung. Anhand der erhaltenen ländlichen Bebauung lässt sich die Entwicklung des Haus- Sämtliche für die Geschichte des Ruhrgebiets wesentli- baus von der traditionellen Fachwerkbauweise über den chen Industriezweige (vom Bergbau über die eisen- und stahl- Bruchsteinbau bis zum Backsteinbau verfolgen, danach die schaffende und -verarbeitende Industrie, über Kraft- und Um- gesamte Entwicklung der städtischen Architektur in ihrer spannwerke bis hin zu Nahrungsmittelbetrieben (insbesondere Ausprägung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Mühlen, Brennereien und Brauereien) sowie den dafür und all den Entwicklungsphasen insbesondere der Zeit nach für die im Zuge der Urbanisierung notwendig gewordenen dem Zweiten Weltkrieg. Besonders reich ist die Ruhrregion öffentlichen Ver- und Entsorgungseinrichtungen (Wasser- an Arbeitersiedlungen seit der ersten Phase der Industriali- werke u.a.) sind so zahlreich als Baudenkmale überliefert, sierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts und bis zu den Ge- dass sich eine Einzelnennung verbietet. Für besonders nossenschaftssiedlungen nach dem Ersten und der Sied- aussagekräftige Beispiele sei auf die Benennung in den be- lungstätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. deutsamen Kulturlandschaftsbereichen verwiesen. Unter 223 den Verkehrsbauten sind neben den Kanalbauten seit dem Die Zentren der alten Städte, Freiheiten und Kirchdörfer ausgehenden 19. Jh. im nördlichen Teil der Kulturland- werden bis heute ganz wesentlich von den zumeist noch schaft „Ruhrgebiet“ mit dem Schiffshebewerk Henrichen- spätmittelalterlichen – teilweise nach Kriegszerstörung wie- burg als Inkunabel der Verkehrsgeschichte sowie zahlrei- der aufgebauten – Sakralbauten und in der Fernsicht ihrer chen Brücken und Empfangsgebäuden der Eisenbahnen Türme bestimmt. Aber auch die neuen Städte und die vor allem die vorindustriellen Monumente wie die Schleu- Stadterweiterungsgebiete sind entscheidend von den his- sen der 1820er Jahre an Lippe und Ruhr hervorzuheben. toristischen Kirchenbauten des 19. und frühen 20. Jahr- hunderts geprägt, da die hohen, weithin sichtbaren Sakral- bauten zumeist an städtebaulich exponierter Lage errichtet umgestaltetes Emschertal, Müllhalde in Herten worden sind. Sie weisen das den nun gewachsenen und Foto: LWL/M. Höhn konfessionell durchmischten Ruhrgebietsstädten eigene Charakteristikum auf, dass evangelische und katholische Kirchen in Sichtweise zueinander errichtet worden sind und in den Ortssilhouetten mit den Fördergerüsten konkur- rieren. Der Prozess der Abpfarrung im Zuge der Entste- hung immer neuer, großer Siedlungskomplexe setzt sich bis zum Ende der Kirchenbautätigkeit in den 1960/70er Jahren fort, so dass alle Städte über eine dichte Überliefe- rung dieser Gattung in ganzer architektur- und liturgiege- schichtlicher wie auch städtebaulicher Breite verfügen.

Entsprechend der Bevölkerungsdichte machen Friedhö- fe unterschiedlicher Zeitstellung einen wichtigen Teil der städtischen Freiflächen aus. Insbesondere in den Groß- städten haben sich vielfach bemerkenswerte Anlagen er- halten, von denen viele nicht nur die Existenz größerer jü- discher Gemeinden, sondern auch Ereignisse der Berg- baugeschichte veranschaulichen (z.B. Grabmäler der ersten

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche und -elemente

G Der Bereich Dorsten-Holsterhausen war Standpunkt römischer Marschlager und weist seit der Karolinger- zeit kontinuierliche Siedlungsspuren auf. Der Bereich setzt sich fort im KLB Untere Lippe (unter der gemein- samen Nummer KLB 4.07).

G Im Abschnitt Haltern-Lippe-Haard (KLB 14.01) sind ebenfalls römische Militärsiedlungen von besonde- rer Bedeutung. Am wichtigsten Römerstandort in Westfalen, in Haltern am See, besteht heute das LWL-Römermuseum Haltern. Darüber hinaus ist die Waldlandschaft der Haard ein traditionsreiches Ge- biet der Holzwirtschaft, aber auch des Bergbaus. Eingeschlossen sind die historische Altstadt von Haltern und die in erster Linie anthropogenen Bioto- pe der Westruper Heide.

G Das Alte Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop, ein Standort des LWL-Industriemuseums, und Ab- schnitte des Wesel-Datteln-Kanals (KLB 14.02).

G Die offene Agrarlandschaft geht auf die Nutzung als Dortmunder Rieselfelder zurück (KLB 14.03). Landmarke Gasometer in Oberhausen Foto: LVR/M. Köhmstedt G Der Bereich zwischen Lünen und Bergkamen ist ein bedeutendes Zeugnis vor allem römischer Besied- lungsgeschichte (KLB 14.04). G Der größte Binnenhafen in Europa Duisburg-Ruhrort 224 (KLB 14.14). G Die Bergbaufolgelandschaft mit Halde Großes Holz und dem Beversee nördlich von Bergkamen (KLB 14.05). G Die Parkstadt Oberhausen sowie die Zinkhütte Alten- berg (KLB 14.15). G Die Zeche Ahlen (KLB 14.06). G Verschiedene Siedlungen, Sport und Erholungsstätten G Die Auenlandschaft des Lippetals mit Adelssitzen und sowie das Bahnbetriebswerk in Duisburg-Wedau (KLB Parkanlagen unterschiedlicher Zeitstellung im Stadtge- 14.16). biet von Hamm (KLB 14.07). G Die Kruppsche Gartenstadt Margarethenhöhe in Essen G Die ehemalige Zeche sowie die Zechensiedlung Loh- (KLB 14.17). berg (KLB 14.08). G Das Weltkulturerbe der Zeche Zollverein als montanin- G Das Zisterzienserkloster Kamp und die Zeche Friedrich dustrielle Kulturlandschaft des 19./20. Jahrhunderts mit Heinrich (KLB 14.09). einer Pufferzone sowie der angrenzenden Bergbau- landschaft von Zeche Nordstern am Rhein-Herne-Kanal G Der römische Siedlungsbereich Moers-Asberg (KLB (KLB 14.18). 14.10). G Die mosaikartig mit Sekundärstandorten und Industrie- G Mittelalterliches Kloster und Industriestadt Duisburg- natur durchsetzte Haldenlandschaft des Emscher- Hamborn (KLB 14.11). bruchs im Abschnitt Gelsenkirchen-Herten (KLB 14.19).

G Das Hochofenwerk Meidericher Hütte (KLB 14.12). G Die umgestaltete Stadt- und Zechenlandschaft des Em- scherbruchs im Abschnitt Recklinghausen vor allem G In Oberhausen die Gute Hoffnungs Hütte sowie mehre- auch auf dem Stadtgebiet von Castrop-Rauxel (KLB re Hüttenstandorte, die Landmarke Gasometer, die äl- 14.20). teste Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets Eisenheim so- wie viele weitere Elemente (KLB 14.13). G Die Haldenlandschaft Schwerin in Castrop Rauxel als Beispiel für die Entwicklung der Industrienatur und als Ort der Kunst; die Zeche Erin, die Wahrzeichen wie ein

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet 6.2

Fördergerüst und einen Hammerkopfturm hinterlassen G Die anthropogene Bergsenkungslandschaft Hallerey in hat, auf deren Gelände aber auch ein bedeutender ger- Dortmund ist heute ein wertvolles Feuchtgebiet und mit manischer Siedlungsplatz liegt (KLB 14.21). angrenzenden Naherholungsflächen ein Beispiel für Landschaftswandel und Landschaftsinwertsetzung G Der Bereich Mengede und Bodelschwingh in Dort- (KLB 14.28). mund mit ihren ehemaligen Freiheiten, historischen, vorindustriellen Bauten und der exemplarisch wirken- G Dortmund ist als ehemalige Reichs- und Hansestadt in den Überformung durch Tiefbauzechen und Folgebe- weiten Teilen ein besonderes archäologisches Interes- bauung (KLB 14.22). sengebiet, und wird als charakteristischer Ausschnitt der Kulturlandschaft in verschiedenen Stadtteilen durch G Die Innenstadt von Herne als Beispiel für die Groß- bedeutende Zeugnisse der Gartenkunst und bedeuten- stadtwerdung in der Emscherzone mit dem typischen de Denkmäler wie Süd- und Hauptfriedhof, Trabrenn- Freizeitpark Gysenberg sowie umgebender Erholungs- bahn und ehemaliges Hochofenwerk Phoenix-West ge- landschaft im hochverdichteten Raum (KLB 14.23). prägt (KLB 14.29).

G In Gelsenkirchen-Ückendorf die Rheinelbe-Halde mit G Durch die Salzgewinnung ist das Bild des Bereiches Un- Park und Mechtenberg (KLB 14.24). na-Königsborn mit Kurpark gekennzeichnet. Zeugnisse der Technik- und Industriegeschichte verbinden sich hier mit einer historischen Freiraumsituation (KLB 14.30). Gelsenkirchen, Rhein-Elbe Halde G Foto: LWL/M. Höhn Die Wiege des Ruhrgebiets liegt im Ruhrtal und mit den industriegeschichtlichen Vorläufern auch im süd- lich angrenzenden niedermärkischen Bereich. Zusam- men mit dem Muttental bei Witten ist das Gebiet nicht nur die Keimzelle des historischen Bergbaus, sondern auch eine bedeutende Talsperrenlandschaft mit ein- drucksvollen Sichtachsen (KLB 14.31).

G Als breiter Korridor durchzieht der Hellweg das Ruhr- gebiet. Dieser Verkehrsweg hat von der vorge- schichtlichen, kaiserzeitlich-germanischen Zeit bis 225 über das Mittelalter hinaus mit seiner begleitenden Infrastruktur und Besiedlung eine besondere Bedeu- tung (KLB 14.32).

G Die historisch wichtigste Eisenbahnverbindung in Nordrhein-Westfalen ist die Köln-Mindener Eisen- bahn. Die Trasse verläuft durch das Ruhrgebiet und hatte erheblich räumlich-strukturelle Auswirkungen (KLB 14.33).

G Städte von besonderer historischer Bedeutung, insbe- sondere als Bodenarchiv sind: Castrop, Dortmund, Dinslaken, Duisburg, Duisburg-Ruhrort, Essen, Essen- Steele, Essen-Werden, Hattingen-Blankenstein, Herten- Westerholt, Moers, Mülheim, Oberhausen-Holten, G In Bochum steht mit der Zeche Hannover, Standort des Oberhausen-Sterkrade, Rheinberg, Unna und Werne. LWL-Industriemuseums, und angrenzenden Bereichen eines der herausragenden Zeugnisse der Lebens- und G Wichtige Blickbeziehungen sind am Lippeübergang Arbeitswelt im Industriezeitalter des Ruhrgebiets (KLB der Autobahn A 43 auf die Schachtanlage An der 14.25). Haard von Marl sowie von Henrichenburg auf Reckling- hausen-Suderwich gerichtet. G Der Bereich des Bochumer Vereins mit Stahlwerk, Jahrhunderthalle und Westpark (KLB 14.26). Leitbilder und Ziele G Die Zeche Zollern 2/4 mit benachbarter Halde in Dort- mund-Bövinghausen ist heute Zentrale des LWL-Indus- Leitbilder für die Entwicklung des Ruhrgebiets müssen triemuseums, Westfälisches Landesmuseum für Indus- der multitemporalen Dimension dieses Raumes Rechnung triekultur (an acht Standorten) und besitzt eine herausra- tragen. Die historischen Überlieferungsphasen sind als gende Qualität der Industriearchitektur (KLB 14.27). gleichwertig anzusehen.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

Haldenlandschaft Herten (Panoramabild Seite 226 und 227) Foto: LWL/M. Höhn

Einer Nivellierung bzw. einer Aufhebung des historischen chitektur und Freiraumplanung und erzählt damit die Land- Nebeneinanders ist entgegenzuwirken, um die Eigenart und schaftsgeschichte des Ruhrgebietes weiter. Damit gewinnen 226 Vielfalt des Ruhrgebietes zu bewahren und die Landschafts- die Überreste eine Funktion als Ankerpunkte in weiteren dy- geschichte weiter zu erzählen. Hierfür sind wiederum klein- namischen Prozessen und sind zugleich Potentiale für de- regionale Leitbilder entscheidend – ein einziges diesbezügli- ren Unverwechselbarkeit. Der weiteren Ausräumung der In- ches Leitbild für das Ruhrgebiet insgesamt ist nicht ausrei- dustrialisierungsgeschichte ist entgegenzutreten. Ein dies- chend. Ein kulturlandschaftliches Leitbild für das Ruhrgebiet bezügliches Konzept sind die Routen der Industriekultur. insgesamt ist stärker verbunden mit einem gestalterischen Appell, einem Qualitätsanspruch und der Bereitschaft zur Aus einer ehemaligen Industrielandschaft ist eine neue Selbstbindung an bestimmte Gestaltungskriterien. Kulturlandschaft zu entwickeln, die die Erinnerung an die Vergangenheit wach hält und zugleich Entwicklungspoten- Hierbei muss die räumliche Planung den Rahmen set- tiale für die Zukunft in einem Kulturlandschaftsmanage- zen. Gerade im suburbanen Raum des Ruhrgebietes geht ment zulässt. Für die Abgrenzungen von erhaltenswerten es darum, eine völlige Zersiedelung zu verhindern. Durch kulturlandschaftlichen Umgebungen ist der historische gliedernde Freiräume entsteht der Eindruck einer gepfleg- Kontext der Entstehung und die räumliche Perspektive für ten Kulturlandschaft im Gegensatz zu einer ungeglieder- die künftige Entwicklung maßgeblich. Für die Entwick- ten, zersiedelten Landschaft (urban sprawl). lungsperspektive stellen dies Zonen nachhaltiger erhalten- der Kulturlandschaftsentwicklung dar. Damit ist eine Herlei- Da das Ruhrgebiet innerhalb der Hochindustrialisierung tung aus kulturellen Normen und einer Abwägung mit poli- höchst komplexe Strukturen hervorgebracht hat, muss ein tischen Entwicklungszielen gegeben. entsprechendes Leitbild auf die Strukturen und der Verbun- denheit der Merkmale beruhen. Diese sind wiederum häu- Die Erlebbarkeit sämtlicher historischer Entwicklungspha- fig nicht kleinräumig als ein Denkmalbereich zusammenge- sen der Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“, anhand der gebauten fasst, sondern funktional miteinander verbunden. Diese his- und erhaltenen oder archäologisch dokumentierten Bau- torischen funktionalen Verbindungen sollten sowohl op- und Bodendenkmälern, ist gleichzeitig eine Herausforderung tisch als Landmarken als auch als Identitätsmarken Berück- an die kulturelle Inwertsetzung des gesamten Ruhrgebiets. sichtigung finden und soweit möglich erhalten bleiben. Im Ruhrgebiet sind durch die extreme industrielle Über- Das industriekulturelle Erbe ist vor weiteren Bestandsver- formung und die starke Zersiedlung in einem hohen Maße lusten zu bewahren, und seine kulturlandschaftsgeschichtli- archäologische Fundstellen zerstört worden. Es muss da- che Substanz ist bei zeitgenössischen Planungen zu inte- her ein schonender Umgang mit den wenigen noch erhal- grieren. Dies erfolgt innerhalb der Symbolsprache von Ar- tenen Bodendenkmälern angestrebt werden.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:27 Seite 227

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet 6.2

Haldenlandschaft Herten (Panoramabild Seite 226 und 227) Foto: LWL/M. Höhn

Aus bodendenkmalpflegerischer Sicht ungenügend ge- Verbesserung der Umweltsituation unabhängig vom Nieder- regelt ist der Umgang mit großflächigen Industriebrachen, gang der Montanindustrie als selbstverständlich. In den ver- vor allem mit den Kernanlagen aus der archivalisch wenig schiedenen Sparten der Umwelttechnologie wie Dekontami- 227 dokumentierten Anfangsphase der Industrialisierung im nierung, Luftreinhaltung, Gewässerschutz, Abfallbeseitigung, 19. Jahrhundert. Hier ist eine stärkere Einbindung von in- Lärmbekämpfung hat sich inzwischen sogar ein wirtschaftli- dustriearchäologischer Fachkompetenz bei Planungen für cher Schwerpunkt im Ruhrgebiet entwickelt. Die weitere Ver- die Zukunft zu fordern. Ein zentrales Ziel ist dabei: besserung der Umweltqualität ist auch in der Zukunft gebo- ten. Eine saubere Umwelt ist nicht nur ein weicher Standort- G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, faktor bei der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern ist zu- Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- gleich Voraussetzung für eine hohe Lebensqualität der Be- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. wohner und den Ausbau touristischer Angebote.

Landschaft im Ruhrgebiet war in der Hochphase der In- Bei einem derart hohen Verdichtungsgrad kann nicht dustrialisierung eine Kategorie, unter der man Reste einer stereotyp eine weiterhin stark verdichtete Bauweise ver- vorindustriellen Landnutzung verstand. Heute geht es da- langt werden. In den Kerngebieten des Reviers geht es rum, die Zeugnisse der Industriegeschichte und die verän- vielmehr darum, verbrauchte Flächen wiederzugewinnen derte Industrienatur als Folgelandschaft weiterzuentwi- und den Städtebau auf diese Situation abzustimmen sowie ckeln. Die Verbindung dieser Themenfelder verlangt von um eine auf die Verbesserung der Lebensqualität ausge- den Bewohnern und Betrachtern nicht weniger, als eine richtete Freiraumplanung. Eine Anknüpfung an die Traditi- Gesamtlandschaft des Ruhrgebiets als solche überhaupt on der Werks- und Zechensiedlungen ist empfehlenswert. zu erkennen. Diesen Ansatz könnte durch die Zuordnung zu den Stadt- oder Stadtteilzentren mit höherer Arbeitsplatzdichte eine Die Ruhrregion hat als gewachsene Kulturlandschaft neue postmontane Siedlungsbaukultur verfolgen, die Vi- nicht nur ein einzelnes Zentrum, nicht nur eine städtebauli- sionen wie ein Walddorf in Waltrop oder ein Kamener che Mitte und soll dies auch in Zukunft nicht haben. Das Wohnkreuz als Gartenstadt aufzeigt. Leitbild eines vernetzten, polyzentrischen Kulturraums ist in seiner Entwicklung auch ein Beispielfall für die Organi- Mit dem ehemaligen IBA Leitprojekt Emscher Landschafts- sation europäischer Ballungsräume und für die Gestaltung park wurde eine Durchgrünung der Emscherzone eingelei- des Zusammenlebens verschiedener Kulturen. tet, die eine Initialzündung für die freiraumplanerische Weiter- entwicklung der Region bildete. Moderne Entwicklungsziele Der visionäre Slogan „Blauer Himmel über der Ruhr“ der für die Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ müssen auf dem Land- 1960er Jahre erscheint heute angesichts einer dauerhaften schaftsparkkonzept aufbauen und es erweitern.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_KL_14.qxp 23.10.2007 13:27 Seite 228

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 14 // Ruhrgebiet

Aus freiraumplanerischer Sicht wird für die Weiterent- der Schlüssel für die Zukunft des Gebiets. Kultur- und Touris- wicklung der Emscherregion das Leitbild des urbanen musförderung haben dabei flankierende Aufgaben. Parksystems empfohlen. Die Einbeziehung sämtlicher Mo- saiksteine natürlicher Elemente und damit die Durchdrin- Durch die Ernennung der Stadt Essen zur Kulturhaupt- gung der Stadt durch die Natur sind dabei wichtige Punkte. stadt Europas 2010 (gemeinsam mit Pécs und Istanbul) bie- tet sich eine einmalige Chance, den vernetzten, polyzentri- Der West-Ost-Grünkorridor entlang der Emscher ver- schen Kulturraum Ruhrgebiet mit all seinen Entwicklungs- knüpft sich mit den von Nord nach Süd verlaufenden phasen und Zeugnissen aufzuarbeiten und für die europäi- Grünzügen des Ruhrgebiets zu einem Grundgerüst. Da- sche und internationale Öffentlichkeit zu präsentieren, als von ausgehend sollen auch kleinste Elemente der Stadt- Beispielfall für die Organisation europäischer Ballungsräu- natur oder der Industrienatur mit diesem Gerüst zu einem me und für die Gestaltung des Zusammenlebens verschie- engmaschigen Netz verknüpft werden. dener Kulturen. Hauptfelder der Parkplanung werden sein:

G Erhaltung der vorhandenen Freiräume und Zurückge- winnung verlorener Flächen,

G dezentrales Naturerlebnis vor der Haustür für jedermann,

G Entwicklung eines Spektrums neuartiger Kulturland- schaftstypen wie z.B. neuer Wasser-Waldlandschaften in Bergsenkungsbereichen oder eine neue Heide auf Industriebrachflächen oder ein Streuobstgürtel als Kompensationsflächenprojekt.

Umsetzungsinstrumente für die weitere Landschaftsent- wicklung sind neben der Landschaftsplanung auch auf der Ebene der Masterplanung für das Ruhrgebiet vorhanden. Es gilt hier die Ziele für die Kulturlandschaftsentwicklung einzubringen. 228 Zentrale Bereiche des Ruhrgebiets zeichnen sich neben höchsten Werten bei den überbauten Flächenanteilen leider auch durch eine ungebrochene Spitzenreiterposition bei den Arbeitslosenzahlen aus. Die Entwicklungsperspektive für die Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“ ist daher mittelbar gebunden an eine arbeitsplatzintensive wirtschaftliche Entwicklung.

Die Umnutzung der industriellen Anlagen und Flächen als produktive oder kulturelle Standorte spielt dabei eine große Rolle. Soll die Region nicht zu einer gesichtslosen Kulisse von Funktions- und Geschäftsbauten werden, ist die kultur- landschaftsverträgliche Umformung ein geeigneter Weg zu einer Dienstleistungs- und Bildungslandschaft. Besonderer Wert sollte hier auf eine möglichst enge Beziehung zwi- schen Wohnsiedlungen und Arbeitsplätzen gelegt werden.

Beiträge zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe kann neben der Industriedenkmalpflege ganz entscheidend auch die kommunale Bauleitplanung leisten.

Die Bevölkerungsentwicklung im Zentrum des Ruhrgebiets ist für das Gelingen von planerischen Ansätzen entschei- dend. Nicht mehr die klassische Stadtflucht an den Rand des Ballungsraumes prägt die heutige Situation, sondern ein differenziertes Bild von Binnenwanderung und altersbeding- ten Veränderungen. Generell gibt es in den zentralen Ruhr- gebietsstädte aufgrund des demographischen Wandels ei- nen z.T. erheblichen Rückgang der Einwohnerzahl. Eine Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Lebensumfeld ist

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_15.qxp 17.10.2007 22:24 Seite 229

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden 6.2

Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden Der Naturhaushalt hat gerade in dieser Kulturlandschaft in eindrucksvoller Weise sichtbar das Wirtschaftsleben des Menschen beeinflusst: Ertragreiche Landwirtschaft, produktives Gewerbe und blühender Handel waren Lage und Abgrenzung möglich und haben das Landschafts- und Siedlungsbild geprägt. Die anthropogene Landschaft hat wiederum Die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ umfasst im Kern die Fauna, insbesondere die Vogelwelt beeinflusst. weite Teile des Kreises Soest; ausgenommen sind im Nor- Biotope (z.B. Kalkmagerrasen) und Pflanzen (Enzian, den die nördlich der Lippe gelegenen Gebietsteile der Ge- Orchideen) sind als Ergebnis und Zeugnis historischer meinden Lippetal und Welver sowie der Stadt Lippstadt Bewirtschaftungsformen erhalten. und im Süden die Stadt Warstein und die Gemeinden Wi- ckede und Ense sowie die südlichen Teile von Möhnesee und Rüthen. Aus dem Kreis Unna sind die östlichen Ge- Geschichtliche Entwicklung biete von Bönen und Unna sowie die südöstlichen Teile von Hamm Bestandteile dieser Kulturlandschaft. Einen Siedlungsschwerpunkt in Westfalen bildet der Hellwegraum nördlich der Mittelgebirgsschwelle bzw. Obgleich die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ bis zur südlich der Lippetalung. Aufgrund der Lössbedeckung Integration in die preußische Provinz Westfalen nach 1815 war dieser Raum seit dem Neolithikum ständig intensiv verschiedenen Ländern und die Bevölkerung seit der Kon- besiedelt. Hiervon zeugen zahlreiche, oftmals großflächi- fessionalisierung unterschiedlichen Konfessionen zugehö- ge Siedlungsstellen, die aber meist nur in Form von Ober- rig war, ist sie durch gleichartige naturräumliche Voraus- flächenfunden bekannt sind. Einige Fundstellen konnten setzungen und Verkehrsverhältnisse sowie damit nur we- in der Vergangenheit aber auch durch teils umfangreiche nig differierende wirtschaftliche Entwicklungen deutlich archäologische Grabungen erschlossen werden. von anderen Kulturlandschaften abgegrenzt. Dies gilt zu- mindest nach Norden und Süden, wo die Lippe bzw. der In diesem Areal treten zudem wenig nördlich des Süß- Höhenzug des Haarstranges Grenzen bilden sowie nach wasser-Quellhorizonts Solequellen aus, die die Menschen Osten zum Delbrücker und Paderborner Land. spätestens seit der vorrömischen Eisenzeit nutzten. Frühe Belege für die Salzgewinnung fanden sich besonders in Nach Westen jedoch wären naturräumlich und kulturhis- Werl und Soest. Diese förderte sehr stark den Handel und torisch auch die Gebiete von Unna, Dortmund und Bo- den Warenaustausch. Hierdurch gelangten „exotische“ chum zugehörig. Aufgrund der starken Überformung im In- bzw. qualitätvolle Gegenstände in den Hellwegraum, wie dustriezeitalter bilden sie jedoch zusammen mit anderen z.B. eine keltische Eberstatuette in Erwitte, die ihren Ur- 229 Kommunen die eigene Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“. sprung vielleicht in Österreich hat.

Namengebend für die Kulturlandschaft ist das histori- Zwischen Liesborn und Herzfeld liegt eine bedeutende sche Altstraßenbündel des „Hellwegs“. Fundlandschaft beiderseits der Lippe mit Fundstellen seit der Mittelsteinzeit, mit frühmittelalterlichen und mit evtl. rö- mischen Funden bei Gut Nomekenhof. In der Karolinger- Naturräumliche Vorraussetzungen zeit war es eines der Kerngebiete des Besitzes der Egberti- ner mit der Abtei Liesborn, gegründet um die Mitte des 9. Im Untergrund stehen im Süden wasserdurchlässige Jahrhunderts, und Herzfeld als Ort der Grablege der Heili- Kalk- und Kalksandsteine an. Wo sie auf die wasserstau- gen Ida, der Frau Egberts. Damit hängt wohl die sog. Hü- enden Tonsteine des Emschermergels stoßen, treten nenburg bei Liesborn zusammen und aus späterer Zeit Quellen zutage, die z.T. das lebensnotwendige Element das Prämonstratenserinnenkloster Cappel (12. Jh.). Von Salz an die Erdoberfläche bringen. Die Bäche entwäs- den Höfen der Karolingerzeit ist Herzfeld zu nennen, des- sern zur Lippe nach Norden. Das Klima ist im Gegensatz sen frühe Kirchengründung nicht nur durch archivalische zum angrenzenden Bergland gemäßigt. Quellen, sondern auch durch eine umfangreiche Kirchen- grabung bezeugt ist. In der späten vegetationslosen bis -armen Eiszeit hat der Wind das Feinmaterial Löss herangetragen, das sich Vermutlich in karolingische Zeit gehört auch die ergrabe- zu sehr ertragreichen Böden entwickelt hat. Im Holozän, ne Kirche von Benninghausen, an der 1240 ein Zisterzien- der jüngsten geologischen Epoche, haben sich artenrei- serinnenkloster gegründet wurde. Eine Sonderstellung che Laubwälder entwickelt. Doch schon früh wurden die- nimmt Lippstadt ein, ältester Stammsitz des Edelherrenge- se gerodet und seit der Jüngeren Steinzeit entwickelte schlechtes zur Lippe, das nicht nur die älteste Planstadt sich eine Ackerbaulandschaft. Westfalens gründete, sondern mit dem Marienstift sowie dem Prämonstratenserinnenkloster Cappel wichtige reli- Die geringe Reliefenergie, der zumeist trockene Unter- giöse Zentren ins Leben rief. Die Ostseite der Herrschaft grund und vor allem der Quellhorizont an der Grenze der wurde im 13. Jh. durch die Burg Lipperode gesichert. wasserdurchlässigen Kalksandsteine im Süden und der was- serstauenden Tonsteine im Norden waren günstige Voraus- Während des Mittelalters haben im Hellwegraum zahl- setzungen für eine wichtige Verkehrsachse, den Hellweg. reiche heute wüst gefallene teils großflächige Siedlungen

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_15.qxp 17.10.2007 22:24 Seite 230

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden

bestanden, die bisher kaum archäologisch näher untersucht den Mittelalters und der frühen Neuzeit beeinflusst hat. In wurden. So finden sich z.B. um Erwitte zahlreiche durch diesem Zusammenhang sollen u.a. der Gutsbezirk Welver- Oberflächenfundstellen nachgewiesene Dorfwüstungen. Aus Schweckhausen mit den Orten Welver-Balksen und Soest- diesen aufgelassenen Ortschaften entwickelten sich durch Hillingsen wie auch das räumliche Umfeld der im Verlauf Ballungsprozesse während des ausgehenden Hoch- und der Soester Fehde 1447 zerstörten Burg ten Broiche des Spätmittelalters schließlich die heute noch bestehenden, bis kölnischen Ministerialengeschlechts derer von Schorlem- ins frühe Mittelalter zurückreichenden wichtigen Städte und mer bei Erwitte-Berenbrock untersucht werden. Zu doku- Marktorte wie Werl, Soest, Erwitte und Geseke. Diese Städte mentieren sind weiterhin anhand ausgewählter Beispiele liegen wie auf einer Schnur aufgereiht an dem alten, spätes- die verschiedenen Entwicklungstypen (aufgegebener) Nie- tens seit der Karolingerzeit genutzten Königs- und Handels- derungsburgen der Kleinregion. weg, dem Hellweg, der von Paderborn bis an den Rhein führte bzw. sich von Paderborn über Höxter/Corvey nach Südlich von Hellwegraum und Börde steigt das Westfä- Osten fortsetzte. Weiterhin ist der Hellwegkorridor gekenn- lische Bergland an. Die erste Schwelle, der Haarstrang, zeichnet durch eine Reihe sehr früher Kirchen (Unna, Büde- nördlich der Ruhr gelegen, kennt zahlreiche ur- und frühge- rich, Werl, Soest, Erwitte, Geseke), die ebenfalls Kerne der schichtliche Fundstellen. Von besonderer Bedeutung sind Siedlungsentwicklung wurden, in Erwitte in Verbindung mit in seinem westlichen Bereich Konzentrationen von Grabhü- einem Königshof und in Geseke mit einem Damenstift. geln. Neben den noch im Gelände mehr oder minder sicht- baren Hügeln sind im Laufe der Jahrtausende durch Be- Vom Hellweg sind in der Landschaft nur noch wenige ackerung zahlreiche Hügel verschwunden, deren Bestattun- Teilstücke in Form von Hohlwegen (z.B. „Bullerloch“ östlich gen sich jedoch z.T. noch im Boden verbergen können. Sie Erwitte) überliefert. Bei Geländeeingriffen wurde er ver- gehören in das späte Neolithikum und die frühe Bronzezeit. schiedentlich jedoch nachgewiesen. Siedlungsstellen aus dieser Zeit (z.B. Erwitte-Domhof) sind dagegen in diesem Gebiet nur ansatzweise bekannt. Charakteristisch für die Niederbörde nördlich von Soest sind Kleinstsiedlungen und Niederadelssitze, mit denen Ein weiterer Bereich mit einer Verdichtung von Grabhü- der offene Landschaftsraum in bemerkenswerter Dichte geln liegt im östlichen Hellwegraum etwa zwischen Erwitte- überzogen ist. Erhalten sind von letzteren häufiger hoch- Anröchte und dem Raum nördlich Rüthen (beide Kr. Soest). bis spätmittelalterliche Mottenanlagen, oft mit angeglieder- Auch hier ist weiterhin von vielen mittlerweile bereits zer- tem, rechteckig umgräftetem Wirtschaftshofgelände. Zu störten derartigen Bestattungsplätzen auszugehen. 1911 ist untersuchen ist, wie die Herausbildung der Kleinadelssitze bei Eringerfeld ein Grabhügel freigelegt worden. Hier fand 230 die Kulturlandschaftsentwicklung während des ausgehen- sich über der zentralen – leider beigabenlosen – Körperbe-

Auf der Haar Foto: LWL/M. Philipps 

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden 6.2

stattung eine Steinpackung bzw. Steinkonstruktion. In ei- chen, innerhalb von Ortswüstungen gelegenen Hovesathen. nem weiteren Grabhügel – südlich Rüthen – sind neben Lei- Deren Lage wurde derartig parzellenscharf beschrieben, chenbrand zwei bronzene Armspiralen gefunden worden. dass die Relokalisation vorgenommen werden konnte. Aufgrund dieser Befunde und der z.T. in ihrer Höhe noch gut erhaltenen Grabhügel könnte es sich bei diesen im We- In späterer Zeit gehörten die zum Kreis Unna und zur sentlichen um solche der Bronzezeit handeln. Anderweitige Stadt Hamm zählenden Teile der Kulturlandschaft „Hell- Funde der Bronzezeit sind in diesem Raum sehr selten. wegbörden“ zu der seit der Reformation überwiegend lu- therischen, 1609/16 an Brandenburg-Preußen gefallenen, Das Karstgebiet des oberen Hellweges östlich von An- Grafschaft Mark. Die Gebietsteile des Kreises Soest wa- röchte gehört zum klassischen Verbreitungsgebiet des ren Bestandteil des zum Fürstbistum Köln gehörenden Haufendorfes. Das mittelalterliche Siedlungsstrukturgefü- katholischen Herzogtums Westfalen. Die mächtige Stadt ge in diesen Räumen war durch ein Vorherrschen von Soest mit dem eigenen Territorium der Börde war seit weilerartigen Kleinstsiedlungen geprägt. 1449 der Grafschaft Mark assoziiert und Lippstadt im Nordosten war lippisch-märkisches bzw. lippisch-bran- Die Untersuchung des Kirchspiels Hoinkhausen, das mit denburg-preußisches Kondominium. Seit 1815 gehört die seiner Umgebung erstmals im 10. Jh. als Arpesfelt histo- Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ in der Gesamtheit zur risch in das Blickfeld tritt, verfolgte die Zielsetzung, die mit- preußischen Provinz Westfalen mit Hamm als Oberzen- telalterlich-frühneuzeitliche Kulturlandschaftsgenese mit- trum und Arnsberg als Regierungssitz. tels einer Katasterrückschreibung exemplarisch zu unter- suchen. Das eigentliche Zentrum des Arpesfeldes bilden Die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Siedlungsstruktur die beiden resistenten Siedlungen Oester- und Westerei- ist bis heute in weiten Teilen ablesbar. Wo im Nordwesten den. Diese wurden ringartig von (jüngeren) Orten der karo- die Streusiedlung dominiert, bilden Pfarrkirchen mit den lingisch-ottonischen Ausbauphase umgeben, deren Orts- für diese Siedlungsform charakteristischen Kirchringbe- name zumeist auf -inghausen endet: Nach den Ergebnis- bauungen die Orte niedrigster Zentralität, während sich im sen der archäologischen Prospektion entstanden die Wüs- dominierenden Gebiet der Dorfsiedlung auch die landwirt- tungen Hiddinchusen bereits vor 800 n. Chr., Bodinchusen, schaftlichen Anwesen mehr oder minder dicht um die oft- Hussinchusen, Volquordinchusen und tom Ostholte im 9. oder mals noch spätmittelalterlichen Pfarrkirchen gruppieren. 10. Jahrhundert. Der an der Peripherie gelegene resistente Eingestreut liegen – mit besonderer Konzentration an den Kirchort Hoinkhausen ist wahrscheinlich erstmals 950 un- Wasserläufen von Lippe und Ahse – die immer umgräfte- ter der Namensform Hoiannanusini bezeugt. Im Verlauf ei- ten, im Jahr 1804 insgesamt allein 224 in der Grafschaft ner durch Fehden maßgeblich beeinflussten spätmittelal- Mark gezählten Herrenhäuser und Adelsgüter sowie die 231 terlichen Wüstungsphase, wurden alle Ausbausiedlungen fünf erhaltenen ländlichen Klöster. unter Ausnahme des Kirchortes aufgegeben. Die bis 1300 gegründeten bzw. erhobenen Städte liegen Der frühneuzeitliche und neuzeitliche Kulturlandschafts- fast ausschließlich an dem seit karolingischer Zeit ausge- zustand im Erpesfeld ist durch verschiedene Zehntkataster bauten Hellweg oder an den beiden die Kulturlandschaft dokumentiert. Ausgehend vom Urkataster wurde die Par- begrenzenden Flüssen Lippe und Ruhr im Südwesten. zellarstruktur des Jahres 1597 – aus diesem Jahr liegt das älteste überlieferte Textkataster des Klosters Oelinghausen Als siedlungsgeschichtliche Besonderheiten sind die So- vor – für große Bereiche des Kirchspiels rekonstruiert. Die levorkommen (Werl, Soest) und – für Geseke – das als bäuerlichen und unterbäuerlichen Besitzeinheiten unterla- Gründungsimpuls wirkende, heute inmitten der Stadt gele- gen dem Anerbenrecht, das eine (weitere) Besitzzersplitte- gene Damenstift hervorzuheben. Während alle übrigen rung verhinderte. Die Flur der beiden Eiden war 1597 in Städte der Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ unregelhaft- „Felder“ gegliedert, genannt sind die Zelgen Ostergerstfell- gewachsene Stadtstrukturen aufweisen, ist für Lippstadt de und Brachfellde. Ähnlich wie für die Gemarkung von der regelhafte Grundriss der im 12./13. Jh. üblichen plan- Ahden (Kreis Paderborn) bezeugt, wo im 14. Jh. vier „Fel- mäßigen Stadtgründungen charakteristisch. Nicht nur in der“ (= Zelgen) bestanden, ist für das Kirchspiel Hoinkhau- der Region, sondern für ganz Nordwestdeutschland rag- sen von einem zelgengebundenen Getreidebau mit zwi- ten die beiden mittelalterlichen Großstädte Soest und schengeschalteter Brache auszugehen. Die Ackerparzel- Dortmund (s. Kulturlandschaft „Ruhrgebiet“) heraus. len, viele besaßen lediglich die Größe von einem driggerde (ungefähr 0,2 ha), waren zumeist nicht durch Zuwegungen Soest hat bis heute wesentliche Elemente seiner mittel- erschlossen und unterlagen folglich dem sog. Flurzwang. alterlichen Struktur bewahren können: weite Teile des Par- Die Katasterrückschreibung lässt eine Neuformierung bäu- zellierungssystems und des Netzes von Plätzen, Straßen erlicher Besitzeinheiten durch die Angliederung von Acker- und oft mauer-gesäumten Gassen innerhalb der über- parzellen in den Wüstungsfluren erkennen. Daneben be- durchschnittlich gut erhaltenen Stadtbefestigung, wesent- standen in Oestereiden 1597 auch Höfe, deren Land nahe- liche Baulichkeiten als Reste der ottonischen Pfalz des 9. zu ausschließlich in einer Wüstungsgemarkung lag. Inte- Jahrhunderts, die St. Patroklikirche im Zentrum, sechs ressanterweise verfügten derartige Höfe teilweise nicht spätmittelalterliche Pfarr- und Klosterkirchen in den „Ho- über eine Hofstelle in Oestereiden, obschon die Hofstelle ven“, mehrere Adels- und Patrizierhöfe inmitten weiträumi- faktisch dort lag. Berichtet wird stattdessen von ursprüngli- ger Areale, giebelständige Bürgerhäuser an den Haupt-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden

straßen und traufenständige Kleinhäuser der Unterschicht Die west-östlichen Unterschiede bleiben trotz der auch an den Nebenstraßen. hier wirkenden allgemeinen Tendenzen – Ausdehnung der Siedlungen und Rückgang der Landwirtschaft – und trotz Das Zeitalter der Glaubensspaltung schlägt sich in der des weiteren Ausbaus der Verkehrslinien (Ausbau A 44 Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ territorial unterschied- (1927, 1933-1939, 1964-1972) als südliche Parallele zu der lich nieder. Das katholische Herzogtum Westfalen kennt 1934-1938 angelegten A 2; Ausbau der Eisenbahntrasse seitdem in den Ortslagen und der freien Landschaft Klein- Hamm-Paderborn-Kassel zur Hochgeschwindigkeitstrasse; objekte wie Wegekreuze und Bildstöcke als Zeugnisse Flughafen Dortmund-Wickede) in der gesamten Nachkriegs- vertiefter Konfessionalisierung. In der Grafschaft Mark zeit bis heute unverkennbar. Im westlichen Teil nimmt der entstanden neben den alten, zumeist in die Hände der Zuwanderungsdruck aus dem Ruhrgebiet, insbesondere im Lutheraner übergegangenen Pfarrkirchen zusätzliche Einfamilienhaussektor, weiter zu und gleichzeitig werden die Gotteshäuser für die zahlenmäßig in Unterzahl bleiben- aufgegebenen Landwirtschaftsflächen autobahnnah zu be- den Katholiken und Reformierten. vorzugten Standorten von Großmärkten und Logistikzentren. Im weniger dicht besiedelten östlichen Teil folgen in der Nut- Die kriegerischen Auseinandersetzungen bis zum späten zung der Lagegunst des Hellwegrückens Windkraftanlagen 17. Jh. sind nach Zerstörungen und Verwahrlosung bis den noch zahlreich als Relikte erhaltenen Windmühlen. heute ablesbar an den Wiederaufbauhorizonten in Stadt und Land. Außerdem prägte wesentlich die Modernisierung der Verteidigungsanlagen auch Struktur und Gestalt der Kulturlandschaftscharakter Städte, wie z.B. der Ausbau von Lippstadt zu der im Grund- rissbild noch deutlich erkennbaren neuzeitlichen Festung. Die mäßig geneigte Haarabdachung und die flachwelligen Hellweg-Niederbörden bilden gemeinsam die Hellwegbör- Erhebliche Veränderungen der Siedlungsstruktur bewirk- den und erstrecken sich nach Norden bis zum Münsterland, ten merkantilistische Maßnahmen Preußens in der Graf- im Osten steigt die Paderborner Hochfläche an. Im Westen schaft Mark schon im 18. Jh., nach 1815 dann in der ge- geht die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ in das dicht be- samten Region. Unmittelbar wirksam wurden, neben der baute und verkehrsreiche Ruhrgebiet über. Der Landschafts- Ansiedlung von Kolonisten in den 1770er Jahren und der charakter ist offen. Aufgrund der überwiegend intensiven bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogenen Verlage- agrarischen Nutzung sind weite Blicke möglich. In direkter rung der Friedhöfe von den Kirchhöfen vor die Siedlungen, Nachbarschaft zum Mittelgebirge wird das Flachland hier vor allem Verbesserungen der Infrastruktur. Dazu gehörten besonders intensiv wahrgenommen und die milderen Tem- 232 die ersten Kunststraßenbauten, die ebenso auf die staatli- peraturen und der frühe Blühbeginn als typisch empfunden. che Saline Königsborn bezogen waren wie die Schiffbar- machung von Ruhr und Lippe zwischen 1780 und 1830. Die seit jeher relativ intensive Bewirtschaftung hat große Nach 1815 erfolgte als Ersatz des schon lange bedeu- Ackerschläge hervorgebracht. Mehrere Flurbereinigungs- tungslos gewordenen Hellwegs der Bau der Staatschaus- verfahren haben die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ ent- see von Duisburg bis Paderborn (heute B 1), die sich bei scheidend gestaltet. Die geringe Anzahl der Gehölze und Erwitte als dem dadurch bedeutendsten Straßenknoten- Wälder ist zwar ökologisch nicht optimal, jedoch typisch. punkt mit der ebenfalls neuen Koblenz-Mindener Chaus- Das „ausgeräumte“ Landschaftsbild trägt durchaus zur see (heute B 55) kreuzt. Die neue Trasse zog eine Aufsied- Identitätsbildung bei. Die Agrarlandschaft, eine „Kulturstep- lung durch Folgebauung unmittelbar vom Verkehr profitie- pe“ im positiven Sinn, bietet gefährdeten Tierarten (Wiesen- render Gewerbe (Gasthöfe, Handwerke u.a.m.) nach sich. weihe, Bekassine, Kiebitz, u.a.) einen Lebensraum.

In Folge der Gemeinheitsteilungen seit den 1770er Jah- Der grüne Kalksandstein des geologische Untergrundes ren entstanden auf Teilen der gemeinen Marken kleine kennzeichnet heute unverkennbar repräsentative Gebäude Neusiedlerstellen. Das Bevölkerungswachstum seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beförderte jedoch nicht nur diese Streusiedlung, sondern auch eine Verdich- Soester Börde tung und Ausdehnung der dörflichen Bebauung. Foto: LWL/U. Woltering 

Die Industrialisierung setzte auch am mittleren Hellweg mit dem Bau der ersten Eisenbahn (1850 Hamm-Pader- born) ein. Trotz der relativ frühen Eisenbahnlinie Hamm- Kassel ab 1856 wird die Kulturlandschaft „Hellwegbör- den“ relativ wenig durch großindustrielle Anlagen (z.B. die Ausweitung der Kalk- bzw. Zementfabrikation südlich Ge- seke und Erwitte sowie die Artilleriewerkstadt Lippstadt seit 1905), sondern durch Fabrikationsanlagen geprägt, die in Verbindung zu der aufgrund der Nähe zum Ruhrgebiet prosperierenden Landwirtschaft stehen (Mühlenwerke, Brennereien, Malz- und Hefefabriken, Molkereien).

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden 6.2

(Sakral- und Herrschaftsbauten) der Region und prägt als Mauerstein den städtischen und ländlichen Raum.

In das Kalkgestein der Haarabdachung sind die für Nordrhein-Westfalen einmaligen „Schledden“ (Trockentä- ler) eingeschnitten. Sie sind Standorte von Kalkmagerra- sen, eine Folge der historischen Landnutzung Schafbe- weidung, bzw. Viehhude.

Am Hellweg haben sich in regelmäßigen Abständen Städte für die Versorgung der Reisenden (Unna, Werl, Soest, Erwitte, Geseke, u.a.) entwickelt. Insbesondere mit den statt- lichen Kirchtürmen prägen sie weithin sichtbar den Land- schaftsraum. Dörfer, Weiler und ehemalige Klöster beleben attraktiv die Agrarlandschaft. Die salzhaltigen Quellen am Hellweg führten zu einer Kette bedeutender Salinen (Unna- Königsborn-Werl-Soest-Sassendorf-Bad Westernkotten-Salzkot-  ten) und schließlich zu Stätten der Badekultur. Bauernhof auf der Haar Foto: LWL/M. Philipps Der Hellweg diente den Pilgern als „Jacobusweg“. Dies ist im Bewusstsein der Menschen verankert und lässt sich in Bezeichnungen („Pilgrimhaus“) seit dem über einen niedrigeren Hauswirtschaftsteil (‚Hals’) erfolgte 14. Jh. nachvollziehen. in einer durch das nahe Ruhrgebiet ausgelösten Prosperi- tätsphase ebenso einige Jahrzehnte früher als in anderen Im Zeit- und Kriegsroman „Simplizius Simplizissimus“ Landesteilen wie der Übergang zum Massivbau; dabei (1669) hat Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen handelte es sich überwiegend um Backsteinbauten (zuerst mit dem „Jägerchen von Soest“ eine Figur entworfen, die backsteinsichtig, seit den 1880er Jahren dann verputzt), re- noch jetzt assoziativ im Raum existiert. gional aber auch – insbesondere um Soest und Erwitte und südlich bis Anröchte und Rüthen – um Bauten (be- Die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ hat aufgrund ihrer sonders häufig Speicher) aus dem örtlich anstehenden Na- Fruchtbarkeit, dem Vorkommen salzhaltigen Grundwassers, turstein in der charakteristischen grünen Färbung. In der 233 ihrer günstigen Verkehrslage und dem Vorkommen des grü- zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden im Dorfsied- nen Kalksandsteins sowie der Jahrtausende langen intensi- lungs- und Flurbereinigungsbereich den Aussiedlerhöfe in ven Tätigkeit des Menschen ihr besonderes Gepräge erhal- zeittypisch modernen Formen und Materialien gebaut. ten, das in der oben geschilderten Zusammenstellung ein- zigartig ist. Hinzu kommt ihre Lage zwischen den Räumen Adelsbauten sind fast ausnahmslos in Massivbauweise Ruhrregion und dem Bergland, die ihren besonderen Cha- errichtet. Die ländlichen Herrensitze und Rittergüter sind – rakter als ländlichen Raum des „Niederlandes“ verstärkt. entsprechend der Topographie – fast durchgängig mit oft weitläufigen Systemen von Gräften gesichert. Auffallend ist Mechanismen und Tendenzen der Entwicklung, die ur- eine enge Reihung adeliger Besitztümer entlang der Was- sprünglich für die Herausbildung dieser Kulturlandschaft serläufe von Lippe und Ahse sowie der Erbsälzersitze um verantwortlich sind, bilden nun ihre Gefährdung. Es ist zu die Stadt Werl. Die Wohlstandsphase des 16. Jahrhunderts befürchten, dass sie von den eigenen „Produkten“ (Ver- blieb an bemerkenswert vielen Bauten der Renaissance ab- kehr, Siedlung, Gewerbe, Bergbau) „aufgezehrt“ wird. lesbar. Anlagen des Barock finden sich vorrangig im katho- lischen Osten des ehemaligen Herzogtums Westfalen, wo In der bäuerlichen Architektur dominierte bis ins frühe 19. die Bedeutung des Adels bis zum Ende des Alten Reiches Jh. der Fachwerkbau für Haupthäuser und ihre Nebenge- 1803 ungleich größer blieb als im preußischen Westen. bäude (Speicher, Scheunen und Remisen) ebenso wie für die seit dem ausgehenden 18. Jh. rasch vermehrten Kleinhäu- Von den geistlichen Niederlassungen auf dem Lande ser der unterbäuerlichen Schicht an der Peripherie der Dör- haben die Klöster Welver, (Soest-) Paradiese und (Lipp- fer. Bei den Haupthäusern handelte es sich bis ins ausge- stadt-) Benninghausen als Vierflügelanlage wesentliche hende 18. Jh. ausnahmslos um dreischiffige niederdeut- barocke Bauteile bewahren können. Benninghausen, sche Hallenhäuser in der neuzeitlichen Form des Vierstän- seit 1821 in öffentlicher Nutzung mit nach 1850 zuge- derbaus mit seinen hoch aufragenden Traufwänden. Der wachsenen Baulichkeiten, Paradiese und Stift Cappel seit dem späten 18. Jh. aufkommende Bautyp des traufen- (Lippstadt-) prägen in ihrer Alleinlage ganz wesentlich ständigen Querdielenhauses prägte wesentlich die Bebau- die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“, wohingegen ung entlang der Kunststraßen, bevor ab der Mitte des 19. Welver (mit Baulichkeiten nach 1670) und das baulich Jahrhunderts ganz allgemein die Trennung von Wohn- und stark reduzierte Nazareth (Augustinerinnen seit 1487 in Wirtschaftsteil einsetzte. Diese Ausbildung eines Wohnhau- Geseke-Störmede) heute die Zentren später zugewach- ses (‚Kopf’) mit Anschluss des Wirtschaftsteiles (‚Rumpf’) sener dörflicher bzw. städtischer Siedlungen bilden.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 15 // Hellwegbörden

Von den Pfarrkirchen der Städte und Dörfer sind über- der Sicherung des karolingischen Königsgutsbezir- durchschnittlich viele nur mäßig verändert noch aus dem kes in Erwitte zugekommen ist. Mittelalter überkommen. Weithin sichtbar ist die vieltürmige Silhouette G Grabhügelfelder befinden sich auf dem Haarstrang der Stadt Soest mit dem Turm von St. und der Haarabdachung (vor allem zwischen Frönden- Patrokli im Zentrum, aber auch die berg-Niederense und Anröchte-Ehringfeld). anderen auffallend hohen und wuch- tigen Türme prägen in ihrer charakte- G Der Raum Geseke weist mittelalterliche Orte im Boden ristischen grünen Färbung ganz we- auf, die aufgrund mehrfacher Adels- und Territorialfeh- sentlich die Kulturlandschaft beson- den zerstört worden sind. ders unmittelbar entlang des Hell- wegs (Lünern, Hemmerde, Werl, Ostön- G Um Rüthen-Kneblinghausen sind zahlreiche mesolithi- nen, Lohne, Erwitte, Geseke). Einigen sche Oberflächenfundstellen entdeckt worden. Zudem dieser Türme ist – bis heute am Turm sind das etwa 10 ha Fläche einnehmende Römerlager von Erwitte besonders gut erkennbar Kneblinghausen als obertägiges Bodendenkmal und  Das Westfälische Abendmahl – die Funktion als Fixpunkt der neu Überreste einer germanischen Siedlung bekannt. St. Maria zur Wiese, Soest trassierten Staatschausseen (heute Foto: LWL/M. Philipps B 1 und B 55) zugewachsen. G Besondere Sichtbezüge richten sich auf die Silhouette von Soest und die Kirchtürme von Werl und Erwitte. Als Verkehrserschließung des Raumes ist die Schiffbar- machung der Lippe durch einige Schleusenanlagen nebst G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- Wärterwohnhäuser der 1820er Jahre dokumentiert, wäh- dere als Bodenarchiv, sind Erwitte, Geseke, Lippstadt, rend andere Kunstbaue (insbesondere Begradigungen und Soest und Werl. zwischenzeitlich stark erneuerte Uferbefestigungen) derzeit zugunsten von Renaturierungen wieder entfernt werden. Vom Straßen- und Eisenbahnbau, deren lineare Bänder zu- Leitbilder und Ziele meist stark erneuert noch in Nutzung befindlich sind, zeu- gen als Kulturlandschaftselemente die Meilensteine an der G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, B 55 und einige Chausseegasthäuser entlang der B 1 so- Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- wie Bahnhofsempfangsgebäude und Stellwärterhäuser ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. 234 entlang der Bahnlinie Hamm-Paderborn. Von den Anfän- gen öffentlicher Versorgungseinrichtungen im frühen 20. Jh. G Der offene Landschaftscharakter sollte grundsätzlich künden die Wassertürme bei Eickeloh und Lippstadt. erhalten werden. Seine Bedeutung ist nur mit einer ge- nügend großen Ausdehnung gegeben. Der Anteil raumbildender Gehölzstrukturen wie Hecken oder Wäl- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche der sollte die Weite des Raumes nicht beeinträchtigen. und -elemente G Die Weiterentwicklung der historisch gewachsenen G Die Kulturlandschaft „Hellwegbörden“ zwischen Lippe Verkehrs- und Entwicklungsachse entlang des Hell- und Haarhöhe sowie zwischen Werl und Salzkotten wegs soll unter Berücksichtigung der kulturhistori- spiegelt repräsentativ den offenen Charakter einer schen Bedeutung des Raumes erfolgen. Den Sicht- über Jahrhunderte entwickelten Agrarlandschaft wie- beziehungen auf die überkommenen Stadtsilhouetten der. Sie besitzt bedeutende städtische Zentren, typi- ist besondere Beachtung zu schenken. sche Dörfer der Börde und Kirchdörfer am Hellweg, das Kloster Paradiese und patrizische Landsitze der G Bei einem eventuellen Funktionswandel der Bade- und Sälzer, überregionale Monumente des Straßen- und Kurorte sollte ihre Historie weiterhin in der Struktur ab- Eisenbahnbaues, Zeugnisse der Salzgewinnung und lesbar bleiben. der Windenergienutzung (KLB 15.01). G Der Abbau von Gesteinen wird zwar schon lange be- G Die „Lippeniederung“ mit der Stadt Lippstadt als Zen- trieben, jedoch muss in der Zukunft dem Wert der Kul- trum ist gekennzeichnet durch bäuerliche Streu- und turlandschaft als Erholungs- und Lebensraum ein hö- Dorfsiedlungen (Heringhausen, Herzfeld) über hochwas- heres Gewicht bei Abwägungsentscheidungen zukom- serfreien Terrassen, Wasserschlösser der Lipperenais- men. Für die Instandsetzung von historischen Gebäu- sance (Hovestadt, Overhagen), Wasserbaue an der Lip- den oder für Gebäude mit regionalem Bezug sollte der pe und das Kloster Benninghausen (KLB 7.02). Baustoff weiterhin zur Verfügung stehen.

G Die Umgebung des Königshofes Erwitte enthält eine G Vermeidung der technisch-industriellen Überprägung archäologische Schicht mit Belegen für seit der Me- des Landschaftsbildes der offenen ländlichen Kultur- rowingerzeit besiedelter Orte (Assapa, Glashem, Ho- landschaft durch übermäßige Ausweisung von Vor- celhem, Osthem), denen eine besondere Funktion bei ranggebieten für Windenergienutzung.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal 6.2

Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal

Lage und Abgrenzung

Die Kulturlandschaft „Paderborner Hochfläche – Mittle- res Diemeltal“ erstreckt sich zwischen dem Almetal im Westen und dem Kamm des Eggegebirges im Osten. Im Norden bildet der Abfall zur Lippeniederung die Grenze, im Süden das Diemeltal und die Marsberger Hochfläche.

Diese Kulurlandschaft umfasst die südliche Hälfte des Kreises Paderborn (Kommunen Altenbeken, Borchen, Bü- ren, Lichtenau, Wünnenberg und die südlichen Ortsteile der  Stadt Paderborn) sowie kleine Teile des Hochsauerland- Almetal südlich von Büren kreises (vier Ortsteile der Stadt ) und des Kreises Foto: LWL/M. Weber Höxter (westlich von Warburg-Scherfede).

Die Kulturlandschaft „Paderborner Hochfläche – Mittle- Im Raum Marsberg stehen großflächig die aus dem res Diemeltal“ ist von den angrenzenden Kulturlandschaf- Oberkarbon stammenden Arnsberger Schichten und tri- ten bei ähnlichen kulturhistorischen Entwicklungen (seit aszeitliche Buntsandsteine an, aus denen sich fruchtba- dem 15. Jh. territoriale Zugehörigkeit und seit dem 16. Jh. ka- re, ackerbaulich genutzte Braunerdeböden entwickelten. tholische Konfession) primär naturräumlich abgegrenzt. Daneben sind in diesem Raum flachgründige und wenig ertragreiche Rendzinen verbreitet.

Naturräumliche Voraussetzungen In den schmalen Bachtäler im Bereich der Arnsberger Schichten mit ihren nicht trittfesten Nassböden dominiert Von 120 m ü. NN bei Paderborn steigt die Paderborner die forstwirtschaftliche Nutzung, die Bachtäler im Be- Hochfläche allmählich und breitflächig zum Eggegebirge reich des anstehenden Buntsandsteines mit ihren tief- und zum Sauerland hin an, bis auf Höhen von 368 m ü. gründigen und trittfesten Böden werden überwiegend 235 NN (Brocksberg bei Buke) bis 451 m ü. NN (Hoheloh bei ackerbaulich genutzt. Meerhof). Zum Diemeltal fällt die Hochebene steil ab, bei Niedermarsberg hat sich die Diemel bis auf ca. 245 m ü. NN eingeschnitten. Die südöstlich anschließende Mars- Geschichtliche Entwicklung berger Hochfläche erreicht Höhen von über 400 m ü. NN. Archäologisch ist die Paderborner Hochfläche, sofern Die Paderborner Hochfläche ist die größte Kalkland- bewaldet, eine vor allem von bronzezeitlichen Grabhügeln schaft und zugleich die größte Karstlandschaft Westfalens, geprägte Kulturlandschaft (mehr als 500 erhaltene Grabhü- die überwiegend von ackerbaulich genutzten Braunerde- gel). Daneben findet sich teils in den Tälern, teils auf der böden mittlerer Güte bedeckt ist. Die an Kuppen und Steil- Hochfläche eine außergewöhnliche Konzentration neolithi- hängen vorkommenden flachgründigen und sehr steinrei- scher Steinkistengräber und sog. Erdwerke, eisenzeitliche chen Rendzinen besitzen nur eine geringe Bodengüte. und/oder frühmittelalterliche Wallburgen (Gellinghausen, Hahnenberg u.a.), frühmittelalterliche Friedhöfe (Fürsten- In die Paderborner Hochfläche haben sich mehrere berg), mittelalterliche Wüstungen (besonders im Sintfeld, Täler eingeschnitten, die nur episodisch nach Starkre- KLB 16.01) und im Soratfeld, mittelalterliche Stadtkerne gen oder Schneeschmelze Wasser führen (Trockentäler). (Büren, Kleinenberg, Lichtenau, Wünnenberg), die Stadtwüs- Selbst Täler, die ihre Quellen außerhalb der Hochfläche tung Blankenrode (aus dem 13. bis 14. Jh.) und zahlreiche in der Egge oder im nördlichen Sauerland haben, wie Klöster (Böddeken, Dalheim). Beke, Eller, Sauer, Altenau und Alme verlieren im Som- mer ihr Wasser. Über Relikte der vorrömischen und römischen Kaiserzeit in dieser Kulturlandschaft ist erstaunlich wenig bekannt. Das im klüftigen Kalkuntergrund versickerte Wasser, die Oberkreideschichten erreichen im Bereich der Paderbor- Im Westzipfel der Region sind zwischen Büren-Sidding- ner Hochfläche Mächtigkeiten von über 300 m, tritt erst hausen und Rüthen-Kneblinghausen in den vergangenen nach einer mehrere Kilometer langen unterirdischen Pas- Jahrzehnten zahlreiche mesolithische Oberflächenfund- sage in einem Quellsaum aus, der sich von Geseke über plätze entdeckt worden. Wie jüngste Neufunde zeigen, ist Upsprunge, Salzkotten, Kirchborchen und Paderborn bis das Potential damit jedoch noch nicht erschöpft, da im- nach Bad Lippspringe erstreckt. Die tiefgründigen Böden mer noch bisher unbekannte Fundstellen zu Tage kom- in den Tälern besitzen meist eine hohe Bodengüte. men können. Zudem liefern die bekannten Plätze immer

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal

noch neues, reiches Fundmaterial. Warum gerade dieses letzten Jahren z.T. archäologisch untersucht werden Gebiet für die letzten Jäger und Sammler so attraktiv war, mussten. Hier sind neben den Überresten z.B. von Kir- ist unklar. chen auch Verarbeitungsplätze von Kupfer freigelegt wor- den, die auf das große wirtschaftliche Potential der Region Das Soratfeld bei Lichtenau stellt eine Offenlandschaft im Mittelalter verweisen. dar, in der mit einer bereits merowingischen und engri- schen Besiedlung zu rechnen ist. Annähernd im Kreu- Südöstlich von Marsberg/Obermarsberg liegt eine mar- zungspunkt der Via regia Paderborn-Marsberg mit dem kante Ansammlung von Grabhügeln. Sie finden sich z.T. West-Ost verlaufenden Herßewech kam es im letzten Vier- im Ackerland, so dass mit den Spuren weiterer durch die tel des 8. Jahrhunderts zur Anlage des Zentralortes Landwirtschaft zerstörter Grabhügel in diesem Bereich zu Kercdorp. Dieser ist in einem inneren Ring von Siedlun- rechnen ist. Über die Datierung der Hügel (Endneolithikum gen fränkischen Ortsnamenstyps (Northem, Sudhem, Bul- oder Bronzezeit) ist nichts genaues bekannt. Einige Hügel hem, Masenhem, Odenhem) und in einem zweiten Ring weisen einen Steinmantel auf. von Orten engrischen Lautstandes (Sewardessen, Heisen) umgeben. Infolge der Gründung der Stadt Lichtenau Die Kulturlandschaft „Paderborner Hochfläche – Mittle- sind alle diese Siedlungen wüstgefallen. Aus einer ar- res Diemeltal“ zählt zum mittel- und westdeutschen Dorf- chäologischen Untersuchung der in sich geschlossenen siedlungsgebiet. Dies ist das Ergebnis eines spätmittelal- Siedlungskammer dürften sich erhebliche historische Er- terlichen Wüstungsprozesses, in dessen Zuge ungezählte kenntnisse über den Prozess der Eingliederung Sach- ältere Einzelhöfe und Drubbel aufgegeben wurden. Ursa- sens in das karolingische Reich ergeben. chen waren der allgemeine Bevölkerungsrückgang, die

236  Kloster Dalheim, heute Standort des LWL-Landesmuseums für Klosterkultur Foto: LWL/M. Holzrichter

Im Bereich von Marsberg sind nicht unerhebliche Kupfer- aus Südosten (heutiges Hessen) vordringende Zelgenwirt- vorkommen bekannt, die auch ausgebeutet wurden, wie schaft und das sog. Bauernlegen von Klöstern (vor 1350) Bergbauspuren belegen. Diese sind im Wesentlichen mit- oder dem Adel (vor allem im späten 15. und 16. Jh.) betrieben. telalterlich bis neuzeitlich. Über die zeitliche Einordnung der Ausbeutung (Bronzezeit, Kaiserzeit ?) ist nichts bekannt. Auch die Gründung zahlreicher (Klein-) Städte hatte zur Von Marsberg ausgehend nach Ost-Nord-Ost liegen im Siedlungskonzentration beigetragen. Die Stadtgründun- Diemel-Tal mehrere mittelalterliche Wüstungen, die in den gen der Bischöfe von Köln und Paderborn sowie des orts-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal 6.2

ansässigen Adels – u.a. Büren, Kleinenberg, Lichtenau, Die Gründung neuer Siedlungen oder gar Städte blieb Niedermarsberg, Wünnenberg – sanken jedoch schon im nicht zuletzt aufgrund stagnierender Bevölkerungszahlen späten Mittelalter zumeist zu Minderstädten herab (Schwa- aus, was wiederum eine Ursache in den zahlreichen ney) oder verschwanden wie viele Kleinsiedlungen ganz. Kriegen hat, von denen dieser Raum noch stärker als das übrige Westfalen-Lippe betroffen war. Im Dreißigjäh- Weiter zurück reicht die Geschichte der auf einem zen- rigen Krieg z.B. wurde die einst blühende Stadt Ober- tralen Bergsporn über dem Diemeltal gelegenen Stadt marsberg als einzige komplett zerstört, bedingt durch ih- Obermarsberg; auf dem Gelände der neben der Syburg re Lage nahe dem weitaus stärker umkämpften Hessen. über dem Ruhrtal bei Dortmund (s. KLB 14.31) bedeutend- Zahlreiche Stadtbrände sind eine weitere Ursache für sten sächsischen Befestigungsanlage war nach der karo- den städtischen Niedergang (u.a. in Kleinenberg, Lichte- lingischen Eroberung ein Stift gegründet worden, in des- nau), wobei der Wiederaufbau vereinzelt auf erweiterter sen Schutz sich die Siedlung zu einer bis 1646 bedeuten- Siedlungsfläche (Wünnenberg) erfolgte. den Stadt entwickeln konnte. Die wüst gefallenen Gemar- kungen wurden von den Adeligen (ausgehend von den Neben Land- und Forstwirtschaft sowie städtischem mächtigen Burgen bzw. späteren Schlössern Büren, Canstein, Handel und Gewerbe (in zumindest nach 1648 bescheide- Fürstenberg, Nordborchen, Padberg, Wewelsburg) und von nen Umfängen) sind die zahlreichen Kalksteinbrüche als den zahlreichen Klöstern der Region (Böddeken, Bredelar, Baustofflieferanten zu erwähnen. Blei wurde in dem da- Dalheim, Holthausen) zu großen, flächenhaften Grundbesit- nach benannten Ort Bleiwäsche, Kupfererz seit Alters – an- zen vereinigt. Viele Dörfer sind in Anlehnung an die Her- fänglich ganz wesentlich unter Regie des in der Region be- rensitze entstanden (Fürstenberg, Padberg, Wewelsburg). güterten Klosters Corvey (s. Kulturlandschaft „Weserberg- land – Höxter“) – und bis ins 20. Jh. in Marsberg gewonnen In historischer Zeit gehörte die Kulturlandschaft „Pader- und verhüttet. Seit dem ausgehenden 18. Jh. war eine Pa- borner Hochfläche – Mittleres Diemeltal“ größtenteils zum pierfabrik an der Diemel, nach 1803 – wie wenig später ehemaligen Fürstbistum Paderborn, das 1815 dem König- auch in Altenbeken – eine Eisenhütte im säkularisierten reich Preußen zugesprochen worden war, und speziell zu Kloster Bredelar und über einen längeren Zeitraum auch dem damals gebildeten Kreis Büren. Die Bevölkerung be- verschiedene Glashütten vorhanden. kannte sich ganz überwiegend zum katholischen Glauben, jedoch hatten sich schon früh an vielen Orten auch jüdi- An Verkehrswegen gewann die Süd-Nord-Verbindung sche Gemeinden gebildet. entlang der Diemel, von der bei Marsberg eine für den Nordwesten wichtige Straße nach Hessen abzweigt, durch An der frühneuzeitlichen Siedlungsstruktur hat sich seit Chaussierung im frühen 19. Jh. an Rang. Durch die 1854 237 Mitte des 16. Jahrhunderts nichts Grundlegendes geändert. eröffnete Eisenbahnlinie von Hamm über Paderborn und

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal

weiter über das Eggegebirge nach Kassel und spätere Kalkkuppen extensiv genutzte Halbtrockenrasen und Kalk- Nord-Süd-Verbindungen erfuhr Altenbeken ein starkes triften. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann Wachstum als Eisenbahnknotenpunkt. der Niedergang der Wanderschäferei, was zu einem star- ken Rückgang der Halbtrockenrasen und Kalktriften führte, Stagnation kennzeichnete dessen ungeachtet noch im die vielfach aufgeforstet wurden, häufig mit Koniferen. 19. Jh. die Geschicke aller Städte in diesem Raum. Auf dem Land brachte die Blüte nach Einführung des Kunst- Der Anteil von Wiesen und Weiden an der landwirt- düngers weniger eine Verdichtung der bäuerlichen Sied- schaftlichen Nutzfläche ist im Bereich der Paderborner lung, als vielmehr die Gründung einiger weiterer großer Hochfläche traditionell sehr gering; das Vorkommen be- Güter und Vorwerke (z.B. in der Herrschaft Marsberg-Can- schränkt sich auf siedlungsnahe Bereiche, Bachauen und stein). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Talgründe der Trockentäler. Mit der zunehmenden Inten- allmählichen Ausweitung der Siedlungskerne sowie – auf sivierung der Landwirtschaft im 20. Jh. und der Aufgabe dem Lande – zu einer Wiederbesiedlung der Hochfläche der Milchviehhaltung nimmt der Grünlandanteil immer im Rahmen von Flurbereinigung und Aussiedlung land- stärker ab, die Flächen werden umgebrochen und acker- wirtschaftlicher Betriebe aus den beengten Dorf- und baulich genutzt. Kleinstadtkernen. Neben den ausgedehnten Ackerfluren sind in Teilberei- chen großflächige orchideenreiche Kalkbuchenwälder vor- Kulturlandschaftscharakter handenen, die naturnah bewirtschaftet werden. Seit dem 19. Jh. ist die Anpflanzung von Koniferen (u.a. Fichte und Die ehemals vorhandene geschlossene Waldlandschaft Lärche) und die parzellenweise Umwandlung in Fichten- wurde durch die Rodung der Wälder und die Anlage der reinbestände zu beobachten. Ackerflächen sukzessive zu einer offenen Kulturlandschaft mit dominierender ackerbaulicher Nutzung umgewandelt. Das Landschaftsbild der offenen Agrarlandschaft wurde Dieser Prozess erfuhr im Spätmittelalter durch die Wüs- in jüngster Zeit durch die Anlage großflächiger Windparks tungsvorgänge einen gravierenden Rückschlag. Der Raum (darunter z.B. der größte binnenländische Windpark Europas Wünnenberg und das Sintfeld gehören z.B. zu den am im Soratfeld bei Lichtenau) stark technisch-industriell über- stärksten von den spätmittelalterlichen Wüstungsprozes- formt. sen betroffenen Landschaften in Mitteleuropa. Der Zustand der Menschenleere und Verödung hat etwa 30 bis 100 Die über Jahrhunderte schwierigen Lebensbedingungen 238 Jahre angedauert. In dieser Phase setzte eine massive schlagen sich – im Vergleich vor allem zu den fruchtbareren Wiederbewaldung ein. Die durch lokale Adelsfamilien und Ebenen der Hellwegbörden (Kulturlandschaft „Hellwegbör- Klöster initiierte frühneuzeitliche Wiederbesiedlung erreich- den“) und des Delbrücker Landes (Kulturlandschaft „Pader- te in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihren Ab- born – Delbrücker Land“) – in einem für Westfalen-Lippe ins- schluss. Zu dieser Zeit entstanden die Großgüter der Klös- gesamt hohen Anteil an Klöstern, großen Vorwerken und ter sowie des Lokaladels, aus denen sich wiederum die Gütern sowie in eher kargen Architekturen der übrigen länd- Großdörfer mit ihren riesigen Gemarkungen entwickelten. lichen und kleinstädtischen Gebäude nieder. An die Stelle des engmaschigen mittelalterlichen Sied- lungsnetzes trat nun die Dorflandschaft der Neuzeit. Die einst üblichen bäuerlichen Haupthäuser in Form des niederdeutschen Hallenhauses aus Fachwerk sind Das heutige Landschaftsbild der Kulturlandschaft „Pa- heute bis auf wenige Reste aus der Kulturlandschaft „Pa- derborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal“ wird durch die derborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal“ verschwun- charakteristische Konzentration der Siedlungen auf wenige den. Es dominieren Neubauten aus der Zeit nach 1850, Haufendörfer und Kleinstädte bestimmt. Die freie Feldflur die durch Bruchsteinmauern, seit 1890 durch Backstein- ist mit Ausnahme einzelner Vorwerke, aus denen sich z.T. mauern geprägt sind. Der große Bestand an massiven kleine Weiler entwickelt haben und der überwiegend erst Bauten in den Gemeinden der Hochebene dürfte darauf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angelegten zurückzuführen sein, dass hier eine wirtschaftliche Blüte Aussiedlerhöfe, weitgehend siedlungsfrei. der Landwirtschaft erst im 19. Jh. im Gefolge des Kunst- düngers einsetzte. Dies dokumentiert sich auch in der Die ackerbaulich genutzten Hochflächen sind meist frei großen Zahl von Neubauten von Wirtschaftsgebäuden, von gliedernden Landschaftselementen. Daneben sind insbesondere den großformatigen Ernte- bzw. Korn- mehrere großflächige und geschlossene Waldflächen z.B. scheunen. Zudem wurden zu dieser Zeit die Wirtschafts- bei Atteln, Borchen, Büren und Dahl vorhanden. teile der bestehenden Bauernhäuser zumeist vergrößert und/oder durch seitliche Stallanbauten erweitert. Insbe- Neben der ackerbaulichen Nutzung war die Wander- sondere im Raum Marsberg setzte sich in der Neubau- schäferei über viele Jahrhunderte ein wichtiger Faktor bei welle nach 1850 das Querdielenhaus durch. der Entwicklung und Gestaltung der Kulturlandschaft „Pa- derborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal“. Durch den In der Aussiedlerbewegung der 1950er Jahre ist der Verbiss der Tiere entstanden vor allem entlang der steilen, Kopf-Hals-Rumpf-Bautyp in modernen Materialien und nicht ackerfähigen Talhänge und auf den flachgründigen Bauformen obligatorisch.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal 6.2

Besonders die Adelssitze auf den Höhen prägen bis ten landtechnischen Gesichtspunkten eingerichteten Wirt- heute wesentlich die Kulturlandschaft „Paderborner schaftsgebäude geschmacksbildend und Vorbild gebend Hochfläche – Mittleres Diemeltal“. Landesburgen der für die Region geworden. Charakteristische Beispiele Fürstbischöfe von Paderborn, auf denen als Vertreter des sind die wenig nach 1850 entstandenen Güter Hamborn Landesherren Drosten saßen, waren die Wewelsburg und (Borchen-), Borntosten, Forst und Udorf (alle durch den Fürstenberg. Wie Schloss Canstein war dagegen auch Frhr. v. Elverfeldt auf Haus Canstein; Marsberg-) sowie das Büren, über dem Almetal mit einer großen Burg und da- neue adelige Vorwerke Gut Wohlbedacht von 1797 neben gegründeter Stadt, Sitz einer regionalen Herr- (Wünnenberg-Fürstenberg). schaft. 1640 übernahm der Jesuitenorden den Besitz. Er ersetzte die Burganlage im Laufe des 18. Jahrhunderts Mit Böddeken, Bredelar, Büren und Dalheim sind bedeu- durch die bis heute die Landschaft prägende Anlage ei- tende Klosteranlagen überkommen, wobei Böddeken von nes Kollegs mit eigener großartiger Kirche, das heute als spätmittelalterlichen Bauten, die anderen dagegen von ba- Schule genutzt wird. rocken und jüngeren Bauphasen geprägt werden. Erwäh- nenswert sind klösterliche Zehntscheunen des 18. Jahr- Die meisten der älteren Burgen sind in der Neuzeit durch hunderts in den zugehörigen Dörfern und Kleinstädten wohnlichere Schlösser ersetzt worden, doch haben sich (Lichtenau, Meerhof, Wünnenberg). Die barocken Baulichkei- mit Canstein (Stadt Marsberg) trotz späterer Überformun- ten des Kapuzinerklosters in Niedermarsberg werden nach gen und mit der Wewelsburg (Stadt Büren) eindrucksvolle der Säkularisation als Irrenanstalt genutzt und nach und Beispiel erhalten. Die bedeutendsten Schlossanlagen der nach zur großflächigen psychiatrischen Einrichtung erwei- Kulturlandschaft sind die Erpernburg (Büren-Brenken) und tert. Vor der Stadt entstand im ausgehenden 19. Jh. in his- die in Paderborn-Wever. toristischen Bauformen eine ebenfalls weitläufige Einrich- tung der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Neue landwirtschaftliche Großbetriebe wurden seit dem späten 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts gegründet. Pfarrkirchen unterschiedlicher Zeitstellung prägen weit- Vielfach sind diese Güter im Gefolge der Gemeinheitstei- hin sichtbar diese Kulturlandschaft. Besonders eindrucks- lungen angelegt, andere Neugründungen gehen auch auf voll aus allen Himmelsrichtungen, auch über den tiefen die Anlage von Vorwerken bei bestehenden Schlossanla- Taleinschnitt der Diemel hinweg, ist die baulich noch in gen zurück. Die auf den Gütern errichteten Herrenhäuser das Mittelalter zurück reichende ehemalige Stiftskirche sind ebenso wie die zumeist riesigen und nach moderns- von Obermarsberg. Die Synagoge in Padberg (Marsberg-)

239 Jesuitenkolleg, Büren Foto: LWL/W. Neuling 

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 16 // Paderborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal

bezeugt wie zahlreiche Friedhöfe (herausragend derjenige Leitbilder und Ziele unterhalb von Obermarsberg) die Existenz bemerkenswert vieler und großer jüdischer Gemeinden. Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung des cha- rakteristischen Kulturlandschaftsbildes der offenen, agra- Aus dem reichen Bestand sakraler Kleinarchitekturen risch genutzten Hochflächen mit eingeschnittenen Tälern, (Kreuzwege, Madonnen-Grotten) seien besonders die in al- großflächigen Waldbereichen und der gewachsenen länd- len Teilen dieser Kulturlandschaft noch aus der Zeit der lichen Siedlungsstruktur mit Haufendörfern, einzelnen Gegenreformation überkommenen sandsteinernen Bild- Vorwerken und Weilern. stöcke aus der Papen-Werkstatt in (Marsberg-) Giershagen hervorgehoben. G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- Bedeutsame Elemente der Kulturlandschaft „Paderbor- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. ner Hochfläche – Mittleres Diemeltal“ sind ferner die erhal- tenen Teile der Stadtbefestigungen von Obermarsberg, G Weiterentwicklung der ländlichen Siedlungsstruktur die mit ihren entfernter liegenden Warttürmen weit in die durch behutsame Erweiterung der vorhandenen Dörfer Landschaft ausgreift. und Weiler bei nachweislich gegebenem Bedarf.

Bemerkenswert sind verschiedene Empfangsgebäude G Erhaltung historischer Strukturen und Kleinelemente in und Kunstbauten des Eisenbahnbaus des späten 19. Jahr- der Feldflur (u.a. Wegebeziehungen, Wegekreuze, Feld- hunderts, insbesondere die Viadukte von Altenbeken und scheunen, kleine Steinbrüche). Neuenbeken als besonders prägnante Zeugnisse. G Freihaltung der Täler, Bach- und Flußauen als prägen- de Landschaftsteile der offenen Agrarlandschaft. Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche und -elemente G Minimierung der Bodenerosion zum besseren Schutz des Bodens als archäologisches Archiv und zur Erhal- G Das Sintfeld (KLB 16.01) ist ein herausragendes Bei- tung der Bodenfunktionen im Naturhaushalt durch bo- spiel einer nach den starken Wüstungsvorgängen im denschonende Bearbeitungsweisen. 15. Jh. neugestalteten Agrarlandschaft. G Erhalt der extensiven Weidenutzung auf Magerstandor- 240 G Der Kulturlandschaftsbereich Almetal (Teil von KLB 7.03) ten (Kuppen, Steilhänge und in Trockentälern) als histori- weist das typische Kulturlandschaftsmosaik der Pader- scher Landnutzungsform. borner Hochfläche mit einer reichhaltigen archäologi- schen Fundregion auf. Baudenkmäler dokumentieren G Vermeidung der technisch-industriellen Überprägung die wesentlichen Elemente der Kulturlandschaft „Pa- des Landschaftsbildes der offenen ländlichen Kultur- derborner Hochfläche – Mittleres Diemeltal“ und ihrer landschaft durch übermäßige Ausweisung von Vor- Entwicklung vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. ranggebieten für Windenergienutzung.

G Zeugnisse des Zweiten Weltkrieges sind die Reste ge- G Erhalt der kulturlandschaftsprägenden Hofstellen und tarnter Rüstungsindustrie der Wirtschaftlichen For- Gebäude im Außenbereich durch Förderung bei ge- schungsgesellschaft mbH (Wifo) in Herbram Wald und staltwerterhaltender Umnutzung. Spuren eines Konzentrationslagers (Niederhagen) in Wewelsburg. G Berücksichtigung der vorhandenen baukulturellen Ge- staltwerte bei der Weiterentwicklung der Ortskerne und G Das Soratfeld ist eine wichtige archäologische Fund- Siedlungsflächen. landschaft.

G Kloster Dalheim, einschließlich der Bauten aus der späteren Zeit als Staatsdomäne, mit seiner Umge- bung ist ein besonderes Beispiel für die Klosterkul- tur der Region und heute LWL-Landesmuseum für Klosterkultur.

G Besondere Sichtbezüge richten sich auf die Silhouette von Büren, Paderborn sowie auf Obermarsberg.

G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- dere als Bodenarchiv, sind Büren, Kleinenberg, Lichte- nau und Wünnenberg.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 17 // Schwalm-Nette 6.2

Kulturlandschaft 17 // Schwalm-Nette den Auensedimenten erhaltenen archäologischen, faunisti- schen und floristischen Relikte stellen herausragende In- formationsquellen zur Landschaftsgenese und zur Ge- Lage und Abgrenzung schichte der Menschen dar.

Die Kulturlandschaft „Schwalm-Nette“ bildet den Über- Der Raum Schwalm-Nette wurde ab der Älteren Jung- gang zwischen der Börde im Süden und dem Nieder- steinzeit durch Ackerbauern aufgesiedelt (ab ca. 5.500 v. Chr.), rhein im Norden. Richtung Westen bewirkt der Waldgürtel ausgehend von der fruchtbaren Lössbörde. Erst ab der entlang der deutsch-niederländischen Staatsgrenze zu- Mittleren Jungsteinzeit wurden auch die nördlich angren- gleich eine kulturlandschaftliche Grenze. In Richtung Os- zenden Auen und Sandböden genutzt. Wegen der natur- ten markieren die Süchtelner Höhen eine deutliche Ge- räumlichen Voraussetzungen ist von einer eher lockeren ländekante und zugleich eine Übergangszone in Bezug metallzeitlichen Besiedlung des Schwalm-Nette-Gebietes auf die Bodenverhältnisse sowie die sich daraus erge- auszugehen. Im nahen Umfeld der Siedlungsplätze lagen bende historische lineare Siedlungsstruktur. die Nutzungsareale. Im nördlichen Bereich der Kultur- landschaft „Schwalm-Nette“ war die Viehhaltung bedeu- Neben der kreisfreien Stadt Mönchengladbach gehören tender, da die sandigeren Böden eine intensive agrari- zur Kulturlandschaft „Schwalm-Nette“ der westliche Kreis sche Nutzung nicht zuließen. Viersen und der nördliche Kreis Heinsberg. Durch den intensiven Verbrauch von Holz ist von ei- ner weitgehenden Entwaldung zumindest in der älteren Naturräumliche Voraussetzungen Eisenzeit auszugehen; ausgedehnte Heideflächen präg- ten die Landschaft. Nach Rückgang der Bevölkerungs- Die Mäandersysteme von Schwalm und Nette sind als dichte konnten sich die Wälder in der 2. Jahrtausend- Charakteristikum mit ausgeprägten Terrassenrändern und hälfte v. Chr. wieder ausbreiten. Trockenrinnen deutlich raumprägend. Die Region wird von Naturwegen erschlossen, die sich Die ca. 20 km langen, bis 86 m ü. NN ansteigenden hauptsächlich an die flussnahen Terrassenkanten hielten Süchtelner Höhen, ein plateauartiger Höhenzug, bilden (z.B. Schwalm, Nette). Die Gräberfelder mit Brandbestat- den Abschluss der Niersplatten in Richtung Westen und tungen lagen in der Nähe der Siedlungen, aber auf land- haben im Gelände eine starken Abfall um 20 bis 40 m, wirtschaftlich weniger nutzbaren Höhen wie etwa den Dü- der im schwach reliefierten Gelände besonders land- nen oder Sanderzonen. Als landschaftsprägende Ele- 241 schaftsbildwirksam ist. Die Süchtelner Höhen bestehen mente in der Schwalm-Nette-Region konnten sich Grab- aus kiesig-sandigen Terrassenaufschüttungen z.T. mit hügel in den Wäldern bis heute erhalten wie im Grenz- Flugsand bedeckt. Die dortigen Podsolböden sind im wald, in Hardt und bei Wassenberg. Vergleich zu den östlich sich anschließenden Lehmbö- den nährstoffarm. In der Römerzeit (40 v. Chr. bis 450 n. Chr.) war dieser Raum mit festen Straßen erschlossen, mit Gutshöfen Der Ostabfall der Süchtelner Höhen erweitert sich sanft- dicht besiedelt und ackerbaulich intensiv genutzt. Das wellig auf die Grefrath-Straelener Terrasse mit für Ackerbau von Ackerbau dominierte Gebiet zwischen Brüggen, günstigen Lehm- und Lösslehmböden. Außerhalb der Tal- Elmpt, Niederkrüchten, Brempt und Born bildete auf- züge mit Feuchtböden und Mooren dominieren nach Wes- grund der fruchtbaren Lössböden eine römische Sied- ten hin zunehmend sandige Böden. Auf ihnen stocken lungsinsel mit Landgütern (villae rusticae), die von Wäl- ausgedehnte Kiefernforste. Nach Süden hin breiten sich dern und Mooren in den Flusstälern umgeben war. Die Lössböden aus, die in die Börde überleiten. Landschaftswirksamkeit der Römer wird weiterhin durch eine im Grenzwald überlieferte Römerstraße, ein Teil- stück der Fernstraße Xanten-Maastricht, belegt. Geschichtliche Entwicklung In Mülfort entwickelte sich im 1. Jh. n. Chr. an einem Die einerseits durch ausgedehnte Auen und inselarti- Niers-Übergang ein Vicus (Ort), der zugleich Kreuzungs- ge Hochflächen und andererseits durch den Nordrand punkt der Straßen von Neuss nach Roermond und Köln der Rheinischen Lössbörde charakterisierte Kulturland- nach Nijmegen war. An der Niers befand sich zudem ein schaft „Schwalm-Nette“ wurde bereits seit den Altstein- Hafen, der die An- und Abfuhr lokaler Güter und Import- zeiten aufgesucht. In Rheindahlen erforschte man aus- waren sicherstellte. Mülfort ist einer der charakteristischen gedehnte Rastplätze des Neandertalers und der Jünge- Mittelorte, die in der römischen Periode die zivile Verwal- ren Altsteinzeit (100.000 bis 9.600 v. Chr.). tung und wirtschaftliche Versorgung der ländlich struktu- rierten Umgebung sicherstellten. Auf militärische Nutzung Für die Nachkaltzeiten ist das Siedeln in den ausgedehn- im 1. Jh. weist ein Militärlager oberhalb des Vicus hin, das ten Auen von Schwalm, Nette und Niers nachgewiesen; die- im 2. Jh. zu einem Versorgungslager umgebaut wurde. se boten mit Bruchwäldern und Flachwasserzonen gute Le- Vor Ort wurden Töpferwaren hergestellt, die eine lokale bens- und Jagdbedingungen (8.000 bis 5.500 v. Chr.). Die in Verbreitung fanden. Zahlreiche Grabungen und Beobach-

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tungen zeigen die Struktur des Ortes mit mehreren Stra- Dörfern (Ober- und Niederkrüchten, Waldniel, Elmpt) und ßenzügen und der typischen Bebauung sowie umfang- Weilern (Laar, Birth, Damm, Heyen) konzentriert. Diese ur- reichen Gräberfeldern. sprünglichen Rodungssiedlungen sind im 12. und 13. Jh. entstanden (Rodungsnamen auf -rath, -holt und -end). Im frühen Mittelalter gab es eine Regressionsphase in der Siedlungsentwicklung, die einige Jahrhunderte dauerte Im südlichen Teil blieben nach der spätmittelalterlichen und in der sich die Waldflächen wieder ausdehnen konn- Rodungsphase größere Waldflächen erhalten, die als All- ten. Seit ca. 700 wurde der Raum wiederbesiedelt, beson- mende genutzt wurden. Durch die gemeinschaftliche ders intensiv vor allem vom 9. bis zum 12. Jahrhundert. Nutzung degradierten die Wälder zu locker bestockten

2 4 2  Bockerter Heide Foto: LVR/M. Köhmstedt

Die heutige Landschaftsstruktur geht auf diese Sied- Wäldern und Heiden, deren Flächen besonders im südli- lungsphase zurück. Auffallend ist, dass die Siedlungs- chen Teil des Landschaftsraumes relativ groß waren. struktur weitgehend von geschlossenen und reihenför- migen Siedlungen geprägt wird. Nur nördlich der Bahn- Der seit dem 10. Jh. nachgewiesene Flachsanbau hat linie Viersen-Venlo weicht die Siedlungsstruktur ab: dort diesen Raum nachhaltig geprägt. Die gesamte mittlere gibt es gereihte Einzelhofstrukturen und Kleinstweiler Niederrheinregion und das benachbarte Gebiet von Weg- mit drei bis vier Höfen. berg und Wassenberg wurden als Flachsland bezeichnet. Der Flachs bildete die Grundlage für die Leinenweberei als Hierbei waren vor allem die Terrassenränder der Haus- und Hofgewerbe, die bis in das späte 19. Jh. be- Schwalm und ihrer Nebenflüsse bevorzugte Niederlas- deutend und die Grundlage für die Textilindustrie im Mön- sungsstandorte und es entstanden allmählich gereihte chengladbacher Raum war. Aus Flachssamen wurde in Siedlungsformen wie bei Elmpt, Niederkrüchten, Lüttel- den Wassermühlen an Niers, Nette und Schwalm Leinöl forst (Denkmalbereich) und Brempt. Die Höfe sind in den gewonnen. Nach der Ernte wurde der Flachs in künstlich

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angelegten Tümpeln, sog. Flachsrösten, gerottet. Nach kirchen und Wickrath zu Mönchengladbach im Jahr der Rottung wurden die Fasern mit Webstühlen in den Hö- 1975 entstand ein städtischer Ballungsraum mit einer fen zur Leinen verarbeitet. Die Flachsrösten oder -kuhlen zeitgenössischen Infrastruktur. Hierdurch ist die Sied- befanden sich in den Wäldern mit wasserundurchlässigen lungs- und Landnutzungsstruktur der vorindustriellen Pe- Böden und in den Auenbereichen der Flüsse und Bäche. riode weitgehend verschwunden. Prägende weit sichtba- Die landschaftstypischen Spuren des Flachsanbaus sind re Elemente sind Wassertürme, die zwischen 1900 und in Form von Flachsrösten immer noch vorhanden. 1920 entstanden sind.

Ab dem 9. Jh. errichtete man sog. Motten als adlige Brüggen und Dülken waren Hauptorte im nördlichen Fluchtburgen, die ab dem 10./11. Jh. teilweise zu mittelal- Herzogtum Jülich mit Stadtrechten seit dem 14. und 15. Jh., terlichen Burgen und in der Neuzeit zu Schlössern erwei- Brüggen auch Sitz eines Amtes. Im 19./20. Jh. wurden tert wurden. Strukturell landschaftsprägend sind beson- Dülken und Süchteln, ein ebenfalls befestigter kleinerer ders Alte Burg bei Arsbeck, Alt-Krickenbeck, Born, Tüs- Ort, in ihrer Bedeutung von der Industriestadt Viersen be- chenbroich. Weitere frühmittelalterliche Burgenstandorte drängt und später eingemeindet. finden sich u.a. bei Brüggen, Rheydt, Wegberg. Zahlrei- che Wallanlagen, wie in der Umgebung von Wassenberg, Die hohe Qualität der Tonlager ließ im Mittelalter bei Oe- belegen die intensive Nutzung der Landschaft, diese An- bel und Elmpt-Overhetfeld bedeutende Töpfereigewerbe lagen dienten als Fluchtburgen und Viehpferche. entstehen. Die dort hergestellten blaugrauen Kugeltöpfe sind im ganzen westlichen Rheinland und den angrenzen- Die im Mittelalter errichteten Landwehrsysteme hatten den Gebieten als Exportgüter zu finden. In der Umgebung vorrangig den Zweck der territorialen Abgrenzung, in wei- von Bracht, Breyell und Kaldenkirchen entwickelte sich ab terer Funktion sollten sie das unkontrollierte Wandern von dem 18. Jh. das Ziegeleigewerbe. Tieren sowie unerlaubte Grenzüberschreitungen verhin- dern. Sie bestanden aus einem oder mehreren Wällen mit Die sumpfigen Fluss- und Bachtäler waren nicht geeig- jeweils vorgelagerten Gräben; die Wälle waren dicht mit net für Ackerbau und wurden gemeinschaftlich genutzt. Dornenhecken bewachsen. Schranken sicherten die ein- Die Seen an Nette und Schwalm sind durch die Gewin- fachen Übergänge, die regelmäßig nicht bewacht waren. nung von Torf entstanden, die vor allem im 16. und 17. Jh. Umfangreiche Landwehrsysteme haben sich bis heute im wegen des Holzmangels zunahm. Entlang der Schwalm Raum zwischen Venlo und Krickenbeck sowie im Viersen- und Nette entstanden seit dem Hohen Mittelalter zahl- Mönchengladbacher Grenzgebiet erhalten (heute noch in reiche Wasserburgen und Mühlen. großen Abschnitten Stadtgrenze). Reste der Territorialland- 243 wehr zwischen den Herzogtümern Geldern und Jülich von Im frühen 20. Jh. wurden Schwalm und Nette reguliert etwa 1420 sind als Nachfolger des älteren in Abschnitten und die Auen melioriert. Seit den 1960er Jahren gibt es überlieferten Erbenbuschwalles am westlichen Rand der Sand- und Kiesgewinnung in der Schwalmaue, bei der Höhe überliefert. Ein besonders gut erhaltener Abschnitt zwischen Brüggen und der Grenze zu den Niederlanden der „Äußeren Landwehr“ verläuft zwischen Viersen und Seen entstanden sind. Seit 1966 bildet diese Kulturland- Mönchengladbach entlang der Bockerter Heide. schaft den Kernraum des deutsch-niederländischen Na- turparks Maas-Schwalm-Nette. Eine Kirche auf dem Hügel an einem Bach im 9. Jh. und die Gründung der Benediktinerabtei 970 waren der Bis ca. 1850 ist die Agrargeschichte vor allem hin- Anfang der heutigen Großstadt Mönchengladbach. Die sichtlich des damalig funktionierenden landwirtschaftli- Klöster Neuwerk 1135 und Buchholz waren Tochtergrün- chen Systems mit weitgehend individuellem Ackerbau dungen des Mönchengladbacher Klosters. Als Markt und gemeinschaftlich genutzten Flächen des heutigen wurde Mönchengladbach 1183 erwähnt. Erst zwischen Grenzwaldes und den Feuchtbereichen der Bachtäler zu 1364 und 1366 wurde Mönchengladbach vergleichswei- betrachten. Die Höfe des altbesiedelten Ackerlandes se spät zur Stadt erhoben und befestigt. besaßen seit dem Hochmittelalter Nutzungsrechte (für den Elmpter Wald 1276 erstmalig erwähnt). Durch die Eine dynamische Entwicklung erlebte Mönchenglad- Übernutzung im Rahmen der Holzgewinnung, die Vieh- bach um 1850 aufgrund neuer Technologien, Produkti- beweidung und die Laubgewinnung als Winterfutter onsformen, der Erschließung durch die Eisenbahn und in- durch Schneitelung der Bäume, wandelte sich der frastruktureller Maßnahmen. Aus dem Hausgewerbe he- Grenzwald zunehmend in ein großes Heidegebiet. Be- raus entwickelte sich eine Textilindustrie. Mönchenglad- sondere Elemente im Wald sind „Hinrichtungsstätten“, bach expandierte zum „Manchester“ des Rheinlandes. wie der Galgenring bei Elmpt. Die Textilindustrie blieb bis ca. 1970 ein wichtiger Wirt- schaftszweig und nahm danach schnell an Bedeutung Nach 1850 veränderte sich die Situation durch neue ab. Daneben haben sich auch andere Industriezweige Entwicklungen in der Landwirtschaft. Mit der Einführung (z.B. Maschinenindustrie) entwickelt. des Kunstdüngers, neuen Fruchtfolgen, der Einführung von individuell genutzten Weiden und Wiesen wurden Mit den Eingemeindungen der benachbarten mittelalter- die Allmendeflächen überflüssig. Der fast vollständig zur lichen Städte Rheydt, Rheindahlen, Giesenkirchen, Oden- Heide degradierte Grenzwald wurde seit 1850 mit Kiefern

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 17 // Schwalm-Nette

aufgeforstet und nach damaligen forstwirtschaftlichen Die wirtschaftliche Entwicklung der Region intensivierte Gesichtspunkten mit einem Netz von quadratischen bzw. sich durch den Bau der Eisenbahnen, da damit der An- rechteckigen Jagen überzogen. schluss an die überregional bedeutenden Märkte gewähr- leistet wurde. Wichtige Strecken sind die Bahn vom Rhein Ab 1935 wurde der Grenzwald militärisch mit Bunkern, bei Duisburg über Viersen, Mönchengladbach nach Aa- Geschützständen, Hangars usw. genutzt. Auch nach dem chen (1849-51), der „Eiserne Rhein“ von Mönchenglad- Zweiten Weltkrieg blieb die Militärnutzung der Bundes- bach über Wegberg nach Antwerpen (1879) und die Ver- wehr und NATO u.a. als Munitionsdepot erhalten. bindung von Mönchengladbach nach Venlo (1851). Die lo- kale Erschließung übernahmen Klein- und Militärbahnen, Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Grenzwald fast von denen einige aufgelassene Trassen noch heute im komplett abgeholzt und nach anfänglichen Schwierigkei- Gelände erkennbar sind, z.B. Zweigstrecke nach Brüggen ten aufgrund der Sanderosion wieder vollständig mit Kie- (1890), Krefelder Eisenbahn (1870), Geldernsche Klein- fern aufgeforstet. Durch Ton-, Sand- und Kiesgewinnung bahn (1902), Anschlussbahnen nach Wildenrath, zum sind inselartig eingestreute Offenlandbereiche entstanden. Flugplatz Elmpt und zum Brachter Wald.

2 4 4  Wacholderheide in Elmpt Foto: Naturpark Schwalm-Nette

Die Trasse der 1807 begonnenen napoleonischen Ka- Die Süchtelner Höhen erheben sich deutlich. Sie sind im nalverbindung des Nordkanals zwischen Rhein und Maas südlichen Teil und nördlich von Hinsbeck weitgehend be- ist, obwohl nicht fertig gestellt, zwischen Neuss und Venlo waldet geblieben. Seit dem Spätmittelalter hat sich eine re- noch in zahlreichen Spuren und Gebäuden erlebbar und lativ dünne Besiedlung mit Einzelhöfen und umliegendem zu einem Identifikationspunkt am Niederrhein geworden. Ackerland in Gemengelage mit kleineren Waldflächen ent- Die Kanaltrasse wurde teils voll ausgebaut (z.B. Stadtge- wickelt. Haus Milbeck wurde im 14. Jh. errichtet. biet Neuss) bzw. ist partiell nur als Bodendenkmal erhal- ten. Zum Denkmal gehören ferner Infrastruktureinrichtun- Die Ruine des Kaiserturms (15. Jh.) erinnert an Haus Bo- gen wie Gebäude für Kanal-, Brücken- oder Hafenwärter choltz, das 1096 erwähnt wird. Westlich von Süchteln liegt (erhalten in Neuss, Viersen und Herongen), ein Hafen der „Erbenbusch“, der von den berechtigten Bauern (Ge- (Neuss) und Schleusenanlagen (Louisenburg). Die unvoll- erbten) bewirtschaftet wurde. Seit Ende des 19. Jahrhun- endete Kanaltrasse wurde später teilweise für Eisenbahn- derts dienten die Süchtelner Höhen als Erholungsraum und anlagen oder Straßen verwendet (z.B. in Kaarst, Süchteln). die Rheinische Landesklinik Süchteln wurde hier errichtet.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 17 // Schwalm-Nette 6.2

Kulturlandschaftscharakter Funktionen (vorgeschichtliche Grabhügel, römische Stra- ße, Land- und Forstwirtschaft, Grenzraum zu den Nieder- Die gereihte Siedlungsstruktur der kleineren Orte mit landen, Ton- und Kiesgewinnung; KLB 17.02). den umgebenden Ackerflächen, die von kleinen Feldge- hölzen unterbrochen werden, prägt das Landschaftsbild. G Joint Headquarters Rheindahlen (JHQ): militärische Industrie, Gewerbe, Dienstleistung, Infrastruktur und Planstadt von 1952-54 als westeuropäisches Haupt- Wohngebiete charakterisieren den Mönchengladbach- quartier der NATO (KLB 17.03). Viersener Ballungsraum; hierin befinden sich kleinere Grünflächen, Wälder, Gärten und Parkanlagen sowie Ab- G Süchtelner Höhen und Hoher Busch: auch hier beson- grabungsflächen. Lobberich, das befestigte Kaldenkir- ders gut ablesbare mehrdimensionale Funktionen chen und Oedt sind charakteristische „Industriedörfer“. (Land- und Forstwirtschaft, Landwehren, Wallfahrtswesen, Erholung; KLB 17.04). Das Landschaftsbild wird von den Kiefernwaldungen im Grenzwald und mehr oder weniger von gereihten Au- G Bockerter Heide: einer der besterhaltenen Kulturland- enwäldchen in den Bachniederungen geprägt. Hierbei schaftsbereiche aus dem Spätmittelalter im Rheinland haben vor allem die Wälder entlang der Flüsse eine glie- (KLB 17.05). dernde Wirkung. Durch die geschlossene Siedlungs- struktur hat das Landschaftsbild einen offenen Charak- G Obere Niers (KLB 17.06): wichtige steinzeitliche Sied- ter. Ein inselartiges Gefüge wird durch die umgebenden lungsplätze, römischer Marktort und Straßen, Burg Wälder herbeigeführt. Rheydt, Meliorationen, landschaftsprägende Gehölz- strukturen. Der nördliche Teil der Kulturlandschaft „Schwalm-Nette“ ist durch mäandrierende Kleingewässer und „Donken“ G Siedlungsraum Erkelenz/Wegberg (KLB 25.01): wichti- sowie kleine Waldareale und Nutzflächen niederrheinspe- ge Siedlungsplätze und Städte von der Vorgeschichte zifisch abwechselnd gegliedert. Erlebbar sind eine Vielge- bis zum Mittelalter, Motten, Landwehren, Flachsgru- staltigkeit der Landschaft und eine Vielzahl von Kleinele- ben, Kloster Hohenbusch. menten wie Torfkuhlen, Reste des Nordkanals, Schanzen, Landwehrreste und Forstflächen. G Siedlungsraum um Liedberg (KLB 25.03): wichtige Siedlungsplätze von der Vorgeschichte bis zum Mittel- Die Süchtelner Höhen heben sich deutlich hervor und alter, römischer Steinbruch. haben eine großräumig gliedernde Wirkung. Von beson- 245 derer Bedeutung und im heutigen Landschaftsbild prä- G Schwalmtal mit Brüggen und Lüttelforst: prägnante gend sind die Relikte der bäuerlichen Waldwirtschaft: Nie- Lagesituation an Terrassenkante. derwald- und Kopfbaumbewirtschaftung. Im westlichen Teil des Kulturlandschaftsraumes sind die vielen kleinen G Krickenbecker Seen: durch Torfgewinnung geschaffene Wäldchen, „Pesch“ genannt, charakteristisch. Kulturlandschaft von hoher touristischer Bedeutung mit dem herrschaftlichen Mittelpunkt Schloss Krickenbeck. Größere Flächen weisen die Merkmale eines dicht be- siedelten und industriellen Ballungsraumes auf. In den G Trasse des Nordkanals mit Schleuse Louisenburg. Freiflächen dominiert der Ackerbau in Siedlungsnähe. Die Ackerfluren sind im Rahmen von Zusammenlegungen der G Tonlagerstätten als Archive der tertiären Vegetations- 1950er bis 80er Jahre mit geradlinigen Wegenetzen um- entwicklung. gestaltet worden. Das wenige Grünland befindet sich hauptsächlich in Hofnähe. Dazwischen befinden sich G Mühlen und Herrensitze an Schwalm und Nette. noch einige größere Waldflächen, die durch Aufforstung aus Heiden hervorgegangen sind. Das Siedlungsbild hat G Römische Straßentrasse. sich durch flächige Erweiterungen, Gewerbe- und Indus- triegebiete, Neubaugebiete, Feriensiedlungen und Militär- G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- einrichtungen erheblich verändert. dere als Bodenarchiv, sind Brüggen, Brüggen-Bracht, Mönchengladbach, Nettetal-Leuth, Niederkrüchten, Rheindahlen, Schwalmtal-Waldniel, Viersen-Boisheim, Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche Viersen-Dülken und Viersen-Süchteln. und -elemente

G Ehemaliger Nachtjägerflugplatz Venloer Heide: größter Leitbilder und Ziele Nachtjägerflugplatz Europas, teilweise in den Nieder- landen gelegen (KLB 17.01). G Das Hauptgefüge dieses Raumes mit besiedeltem und intensiv genutztem Ackerland, vorgeschichtlichen G Brachter Wald, Elmpter Wald und Meinweg (Grenz- Grabhügeln und römischen Siedlungsstrukturen, die wald): besonders gut ablesbare mehrdimensionale seit dem Mittelalter weitgehend siedlungsfreien Grenz-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 17 // Schwalm-Nette

waldflächen sowie die Flussniederungen mit ihren spe- zifischen Siedlungen, Burgen und Wassermühlen, Spu- ren des historischen Leinengewerbes und der Torfge- winnung als besondere Nutzungsformen sind nachvoll- ziehbar, haben für die Kulturlandschaft „Schwalm-Net- te“ eine kennzeichnende Bedeutung für die Identität und sind in der Struktur zu bewahren.

G Weiterhin ist die Offenhaltung der restlichen Heideflä- chen, Anpflanzung bodenständiger Gehölze (Buche, Ei- che) und Waldlichtung für Bodenvegetation im Grenz- wald sowie die Erhaltung und Pflege der historischen Waldbestände zu gewährleisten.

G Aufgrund der Besiedlungsart, des Besiedlungsgrades und der Besiedlungsdichte weist dieser Raum unter- scheidbare Raumstrukturen auf. In den Freiräumen sind die überlieferten Strukturen in Siedlungsformen, Agrargefügen und siedlungsfreien Flächen zu erhalten sowie bei der Freiraumplanung zu berücksichtigen. Die Siedlungsflächen weisen hauptsächlich Merkmale der dynamischen industriellen Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, von der die unterschiedli- chen Entwicklungsstufen (Textilindustrie) noch erkenn- bar sind und als solche bewahrt werden müssen.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

2 4 6 G Das archäologische Bodenarchiv im Bereich der Schwalm- und der Niersaue und den Feuchtböden ist zu erhalten.

G Die wertvollen Kulturlandschaftsbereiche im Schwalm- Nette-Raum haben einen hohen Zeugniswert und sind zu bewahren.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 18 // Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen 6.2

Kulturlandschaft 18 // schwach ausgeprägten Rinnen durchzogen, die sich nach Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen Westen orientieren. Diese Trockentäler sind, im Gegen- satz zu den anderen Bereichen, noch relativ feucht. Wäh- rend die Plattenränder zur Rheinebene steil ausgeformt Lage und Abgrenzung sind, sind sie im Westen zum Nierstal fast wegerodiert.

Die Abgrenzung der „Krefeld – Grevenbroicher Ackerter- Im südlichen Teil wird die Kulturlandschaft „Krefeld – Gre- rassen“ zu den nördlichen Kulturlandschaften wird vor allem venbroicher Ackerterrassen“ von der Flussterrassentreppe durch die Intensität des Ackerbaus vorgegeben. Die weite- der Kölner Bucht geprägt. Von der Ostgrenze zur Rheinaue ren Markierungskriterien sind das Relief mit unterschiedli- bis zum Aufstieg zur Ville variiert die Höhe zwischen 40 bis chen Besiedlungsvoraussetzungen, die Hydrologie und die 90 m ü. NN. Auf den Niederterrassenflächen des Rheins be- Bodenverhältnisse als bestimmende Faktoren für die Kultur- finden sich lehmige Sand- und Lehmböden mit Braunerden. landschaftsgeschichte. Im Osten prägt ein allmählich abfal- Über eine Kante steigt das Gelände zur Mittelterrasse an, lendes Relief zum Rhein als unmittelbarer Einflussfaktor die die teilweise markant stufenförmig aufgebaut ist. Sie ist mit Übergangszone. Im Westen bestimmen die Ville und die an- Lösslehm bedeckt, wodurch kleinere Reliefunterschiede grenzenden Braunkohlentagebaue die Markierung. ausgeglichen werden. Sie wird von einigen überwiegend von der Ville kommenden Trockenrinnen eingeschnitten. Die Kulturlandschaft der „Krefeld – Grevenbroicher Acker- terrassen“ umfasst die kreisfreie Stadt Krefeld, Teile des Der untere Talabschnitt der Erft bei Grevenbroich, nach Rhein-Kreis Neuss und den östlichen Teil des Kreises Viersen. dem Durchbruch durch die Ville, ist flach eingesenkt mit sandig- bis lehmig-tonigen Auenböden; hier herrschen in- tensiv genutzte Agrarflächen vor, jedoch finden sich hier Naturräumliche Voraussetzungen auch bewirtschaftete Eichen- und Eschenwälder.

Der vom Nierstal und durch zwei östlich angrenzende Altrheinarme in mehrere Platten gegliederte, tischebene Geschichtliche Entwicklung Bereich senkt sich insgesamt nach Norden und Westen von 45 auf 30 m ü. NN ab. Diese Platten sind von den ver- Der Raum zwischen Kempen im Norden und Bergheim in armten Böden einer feinsandigen mittelschweren Schotter- Süden gehört zwei Naturräumen an, deren Voraussetzungen lehmdecke bedeckt, die an den Plattenrändern teilweise sich in der Besiedlungsstruktur der Bronze- und Eisenzeit wi- stärker versandet. Die Kempener Lehmplatte ist von derspiegeln. Zwar hat die vorgeschichtliche Besiedlung des 247

Erft Foto: LVR/M. Köhmstedt 

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 18 // Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen

Raumes keine obertägig sichtbaren Spuren hinterlassen, nutzten Offenlandflächen wurden gemeinschaftlich unter aber die archäologische Forschung kann heute ein recht ge- Aufsicht eines Grundherrn genutzt. Die mehr oder weni- naues Bild der damaligen Besiedlungsstruktur entwerfen. ger feuchten und sumpfigen Auen, kleineren Auenwälder und Bruchgebiete wurden von den in Honschaften oder Im Süden boten die fruchtbaren Lössböden beste Vo- Vrogen organisierten Bauern als gemeinschaftliche Wei- raussetzungen für eine agrarische Nutzung. In der Bronze- defläche (Benden) genutzt. Erst nach 1860 wurden diese und Eisenzeit wurde eine bäuerliche Mischwirtschaft betrie- Flächen allmählich kultiviert und parzelliert. ben, die den Ackerbau stark in den Vordergrund stellte. Die Besiedlungsstruktur war gekennzeichnet durch einperiodi- Die Kempener Platte wird noch heue von typischen ge Einzelgehöfte (kleinteilige Mehrhausgehöfte) oder Weiler, Einzelhöfen des 10. bis 12. Jahrhunderts geprägt, die die sich längere Zeit am Ort hielten (z.B. das mitteleisenzeitli- zwischen 1300 und 1795 zu den Honschaften gehörten. che Gehöft bei Grevenbroich). Im Norden gehört der Raum Auffallend ist, dass diese Höfe sich fast ausnahmslos in dem Niederrhein an, charakteristisch sind ebenfalls Mehr- trockenen Talrinnen befinden. hausgehöfte, die als Einzelanlage oder in kleinen Weilern auf hochwasserfreien Donken nahe von Wasserläufen la- Die Agrarstruktur unterlag jeweils zeitgenössischen Ver- gen (z.B. bei Krefeld und Grevenbroich). Im nahen Umfeld änderungen, so durch Flurbereinigungsverfahren im 20. Jh. der Siedlungsplätze lagen innerhalb der Siedlungskam- und durch die Siedlungserweiterungen, die große Auswir- mern die Nutzungsareale. In den Niederungen, wie im Be- kungen auf die Kulturlandschaft hatten. Die heutige Nut- reich der Kempener Lehmplatte, war neben der Landwirt- zung wird von Ackerbau dominiert. schaft die Viehhaltung bedeutend, da die Böden eine inten- sive agrarische Nutzung nicht zuließen. Die metallzeitlichen Für die Landschaftsentwicklung im südlichen Bereich Einzelgehöfte verteilten sich locker in einer zunehmend of- entscheidend waren die Anlage der Burg Hülchrath im fenen Kulturlandschaft, wie sie durch archäobotanische Un- 10. Jh. und des Klosters Langwarden 1140. Hiervon gin- tersuchungen von Ausgrabungsbefunden belegt ist. Das gen die Erschließung der Bruchgebiete der Erftniede- einzige erhaltene und noch heute raumprägende Kultur- rung wie „Hochbroich“, die infrastrukturelle Vernetzun- landschaftselement aus dieser Zeitepoche ist die wohl ei- gen durch Wege entlang der Erft und zugehörige abhän- senzeitliche Befestigung auf dem Hülser Berg bei Krefeld. gige Bauernstellen aus. Damit ist landschaftsgeschicht- lich ab dem 11./12. Jh. erneut mit raumprägenden an- In der Eisenzeit stand mit dem in den feuchten Niede- thropogenen Veränderungen zu rechnen. rungen gewonnenen Raseneisenerz ein wichtiger Rohstoff 248 für die Herstellung von Waffen, Geräten und Schmuck lo- In späterer Zeit wurden die genannten Baulichkeiten kal zur Verfügung. Die Gräberfelder lagen nahe den Sied- fortlaufend umgestaltet, landschaftswirksam wird dies ne- lungen, in der Regel auf wenig gut nutzbaren Böden. Na- ben der Bauarchitektur in jeweils zeitgenössischer Ein- turpfade als Verkehrswege sind für die Erft-Niederung und bindung durch den Ausbau der Ortschaft Hülchrath zu ei- die Terrassenkante an der Nordkanal-Niederung festzu- ner Festung im 17. Jh. mit Bastionen und Erdwerken und machen (z.B. bei Grevenbroich). bewusster Freihaltung eines unbebauten Glacis sowie durch die Umgestaltung des Klosters Langwarden zu ei- In römischer Zeit war die Region in den Bereichen der nem Schloss im 18. Jh. mit Umgestaltung des Barock- fruchtbaren Lössböden mit einem dichten Netz römi- gartens in einen „französischen Garten“. scher Landgüter (villae rusticae) besiedelt. Mit den Agrar- produkten dieser Anlagen wurden die Städte und Militärs In unmittelbarer Nähe des Klosters lagen im Mittelalter der weiteren Umgebung versorgt. zwei weitere Herrensitze, gesichert als Motten mit Burghü- geln und Wassergräben und eingebunden in eine fortifika- Ganz im Süden der Kulturlandschaft „Krefeld – Greven- torisch ausgewählte siedlungsleere Landschaft. Diese wur- broicher Ackerterrassen“ verlief im Gebiet von Königsdorf de seit etwa 1500 zunehmend in die agrare Nutzung ein- die Köln-Heerlener Fernstraße. Bedeutend für die römische bezogen, bevorzugt als Weidegebiete, den „Benden“. Epoche ist auch der Sandsteinabbau in Korchenbroich- Liedberg: Aus Liedberger Sandstein gearbeitete Skulpturen 1845 erfolgte der parallel zum alten Terrassenweg verlau- wie Jupitersäulen und Refiefs fanden sich in der gesamten fende Straßenausbau zwischen den Orten, die heutige B 9. Umgebung wie z.B. in Jüchen-Dyck und Bedburdyck. Im Norden der Kulturlandschaft „Krefeld – Grevenbroi- In den Ortschaften im Bereich der Kempener Platte ent- cher Ackerterrassen“ liegt der verkehrliche Mittelpunkt stand im Hochmittelalter eine Art genossenschaftlicher die Stadt Krefeld. Die älteste Bahnlinie in diesem Raum Organisationsform, im hiesigen Raum als „Vrogen“ und verlief von Duisburg-Homberg (mit dem Trajekt nach Ruhr- „Honschaften“ bezeichnet. Eine Honschaft oder Vroge ort) ab 1849 über Krefeld nach Viersen, als Verbindungs- war ein Verbund, der einen Hofverband oder mehrere bahn für den Gütertransport vom Rhein nach Belgien. In Orts- bzw. Bauerschaften mit der dazugehörigen Gemar- der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgten von Kre- kungen enthalten konnte. Sie blieben bis 1795 bestehen. feld aus die Verbindungen nach Neuss-Köln/Greven- Innerhalb dieser Organisation wurde das Ackerland indivi- broich, nach Kempen/Kleve und nach Neersen/Rheydt. duell genutzt. Der Wald und die nicht ackerbaulich ge- Die Verbindung nach Duisburg und ins Ruhrgebiet wur-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 18 // Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen 6.2

de über die Linie nach Rheinhausen verlegt, die Brücke Sehr deutlich ist das frühmittelalterliche Siedlungsmuster über den Rhein errichtete man 1874. entlang der Terrassenkante und der Altstraße zwischen den Landschaftsräumen mit teilweise einzeiligen Straßen- Das Land zwischen Viersen, Kempen und Moers er- dörfern wie Winternam, Niedereyll, Obereyll und Stenden schloss ab 1870 die Krefelder Eisenbahn, ergänzt durch wahrnehmbar. Diese Grenzlinie zwischen Flussaue und Überlandstrecken der Straßenbahnen. Die Bahnen dienten höher gelegener Fläche ist ein typisches Siedlungsmuster dem Abtransport der lokal hergestellten Güter und hatten der fränkischen Landnahme seit dem 7. Jahrhundert. bedeutenden Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung. Gro- ße Abschnitte dieser Trassen sind noch im Gelände erkenn- Es gibt eine Reihe von Gutshöfen, die von Wassergräben bar. Eine der wichtigsten Verbindungen wurde durch die umgeben sind. Sie bestehen aus Wohn- bzw. Herrenhaus, Rheinbahn 1896/98 erbaut, die teilweise auf aufgegebenen Scheune, Stall, Karrenschuppen, Backhaus und Spieker. Eisenbahntrassen verlaufende Überlandstraßenbahn von Sie weisen eine bauliche Verwandtschaft mit den Wasser- Düsseldorf nach Krefeld (heute U 76), berühmt durch den in burgen auf. Beispiele von solchen Gutshöfen sind: Beng- Deutschland erstmaligen Verkehr mit Speisewagen. der, Hegger, Heyerhof, Koitzhof, Overingshof, Rickelenhof und Schüttenhof. Diese mittelalterliche Siedlungsstruktur ist Verkehrlicher Mittelpunkt auf der Grevenbroicher Börde in der offenen Kulturlandschaft noch gut erlebbar. ist die Stadt Grevenbroich, mit Verbindungen nach Köln, Düren, Mönchengladbach und Neuss, alle noch heute in Ein großräumiges Beispiel für eine barocke und klassizis- Betrieb. Im Süden wird das Eisenbahnnetz durch die Bah- tische Stadtplanung ist Krefeld. Um einen mittelalterlichen nen des Braunkohlentagebaues ergänzt. Von Neuss aus Ortskern herum entstand vom frühen 17. bis in das 19. Jh. begann man bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine strate- hinein ein rechtwinkliges Straßenraster mit Platzanlagen un- gische Bahn zur Ahr und weiter nach Frankreich zu errich- ter Einbezug der ehemaligen Wälle. Bauliche Dominante im ten. Von dem Abschnitt Neuss-Rommerskirchen sind noch Zentrum neben einigen Kirchen ist das frühere Stadtpalais große, landschaftsprägende Abschnitte als Damm erhal- der Seidenfabrikanten Von der Leyen (im Kern 1791/94, heu- ten. Hier fuhren jedoch nie Züge, da der Weiterbau nach te Rathaus). Darüber hinaus sind im Stadtgebiet zahlreiche dem Ersten Weltkrieg untersagt wurde und später keine herausragende Zeugnisse der ehemals früher hochbedeu- wirtschaftliche Notwendigkeit mehr bestand. tenden Textilindustrie („Seidenstadt“) erhalten; Haus Lange, Haus Esters, Haus Heusgen, die Verseidag-Fabrik (alle L. Mies van der Rohe), das Verseidag-Verwaltungsgebäude Kulturlandschaftscharakter (E. Eiermann) und die Textilingenieurschule (B. Pfau). 249 Die heutige Vegetation besteht aus Wald, Grünland und Ackerland. Neben den erhaltenen historischen Baulichkei- ten mit zugehöriger Park- und Gartengestaltung sind die Mottenhügel des Mittelalters Ausdruck der herrschaftlichen Struktur der Kulturlandschaft. Gut erlebbar ist das Vorherr- schen von Feuchtgebieten und die Bedeutung der Erft und des Gillbaches als hydrologische Voraussetzungen zur zeitspezifischen Standortwahl der Besiedlung.

Ebenso tragen lineare Relikte wie der Bahndamm, der nicht vollendeten strategischen Bahnlinie mit der markie- renden Pappelreihung zu einer Landschaftsbildbereiche- rung entlang historischer Achsen bei. Herausragend ist hierbei die Museumsinsel Hombroich.

Markant in der Kulturlandschaft „Krefeld – Grevenbroi- cher Ackerterrassen“ sind im nördlichen Bereich neben der Kempener Platte das Stadtgebiet Krefeld und der Hül- ser Bruch. Dieser gehört zu einem Bruchgebietsstreifen, der sich nach Norden fortsetzt. So gehörte das nördliche  Winternamer Bruch zur angrenzenden ehemaligen Hon- Jüchen-Dyck, Maronenallee zum Nikolauskloster schaft Winternam, ein bereits seit römischer Zeit besiedel- Foto: LVR/J. Gregori ter Raum. Diese Feuchtbereiche wurden bevorzugt als Weideflächen („Benden“) und als Niederwald genutzt. Zur Markierung der Viehtriften und umzäunten Weidebereiche Von den zugehörigen separaten Nutzwäldern sind wurden landschaftsprägende Heckenreihen angelegt, die heute nur noch wenige Relikte erhalten geblieben, die ein seit dem Mittelalter typisches rechtsbedingtes Gefüge- um 1845 noch zahlreicher waren, aber später häufig muster ergeben. Ebenso befanden sich dort zahlreiche gerodet und als Ackerland kultiviert worden sind. Eben- Flachsrösten und großflächige Kopfweidenkulturen. so haben sich von in den ehemals gemeinschaftlich ge-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 18 // Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen

nutzten Allmenden entstandenen Heideflächen nur we- G Teilabschnitt der römischen Straße Köln-Heerlen nige Reste erhalten. (KLB 24.03).

Insbesondere bedingt durch dieses Siedlungsgefüge G Teilabschnitt der römischen Limesstraße (KLB 19.05). und das überlieferte Straßen- und Wegegefüge hat die Kul- turlandschaft „Krefeld – Grevenbroicher Ackerterrassen“ G Teilstück der Eisenbahntrasse Köln-Welkenraedt, der einen hohen kulturhistorischen Wert. ersten internationalen Eisenbahnstrecke der Welt (KLB 24.07).

Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche G Bahndamm der nicht vollendeten strategischen und -elemente Bahnlinie zur Ahr.

G Kempener Lehmplatte mit römischen Siedlungsplätzen G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- und Gräberfeldern (z.B. Vorst), mittelalterlichen, wasser- dere als Bodenarchiv, sind Grevenbroich, Hülchrath, umwehrten Höfen, mittelalterlicher Landwehr und der Kempen, Krefeld, St. Tönis und Willich. Stadt und Stadtbefestigung Kempen (KLB 18.01). G Abtei Brauweiler: mittelalterliches Benediktinerkloster, G Hülser Berg und Hülser Bruch mit der vorgeschichtli- barocke Klostergebäude; Kulturzentrum des LVR; chen Höhenbefestigung und der mittelalterlichen Landmarke. Bruchkolonisation (KLB 18.02). G Wildmühlen im Raum Kaarst-Korschenbroich sowie G Untere Erft und Gillbachtal mit vorgeschichtlichen in Krefeld. und römischen Siedlungsplätzen, mittelalterlichen Burgen und Mühlen, dem Park Museumsinsel Hom- broich; Schloss Langwarden, Schloss Reuschen- Leitbilder und Ziele berg (KLB 18.03). G Die Strukturverluste durch die zunehmenden Besied- G Teilstück des Nordkanals (KLB 18.04). lung und Anlage von Gewerbegebieten und die zu- nehmenden Auskiesungen sowie Effekte des intensi- G Teilbereich des bedeutsamen Kulturlandschaftsberei- ven Ackerbaus sind einzuschränken. 250 ches Moers-Asberg (römische Lager, Siedlung und Gräberfelder (KLB 14.24). G Einige Flächen sind bereits baulich mit Krefeld ver- bunden in Form der Wohnvorortbildung und damit G Schloss und Schlosspark Dyck; der Dycker Park ist städtischen Entwicklungsprozessen ausgesetzt. Im ein herrschaftlich gestalteter Landschaftsbereich mit nördlichen Hülser Bruch sind bereits Konflikte aufge- der Burg- bzw. späteren Schlossanlage Dyck. Mit treten, die kulturhistorisch unverträglich sind; im Hin- dem neuzeitlichen Übergang zu Residenzen wurde blick auf den Auftrag des ROG (Erhalt der gewachse- 1656 - 1663 eine barocke Schlossanlage errichtet, nen Kulturlandschaft) besteht hier Handlungsbedarf. später erweitert durch einen herausragenden Konflikte ergeben sich aus Substanzverlusten, Stö- Schlosspark. Innerhalb der agrarisch dominierten rungen im gegliederten Landschaftsbild mit kaum Umgebung mit Offenland bedeuten der Dycker noch erkennbaren Kulturlandschaftsstrukturen. Die- Schlosspark und die davon abgehenden Baumalleen ser Entwicklung ist entgegenzutreten. eine Bereicherung des Landschaftsbildes. Die Ge- samtkomposition der barocken Anlage sowie der G Die Erkennbarkeit des mittelalterlichen Siedlungsgefü- Maßnahmen von 1800 in der Neukonzeption des 20. ges von Einzelhöfen, Gutshöfen und Gehöftgruppen Jahrhunderts ist von landesweiter Bedeutung und als mit unmittelbar anschließenden Obstgärten, -wiesen, Verbindung von herrschaftlichen, geistlichen Baulich- Nutzgärten, Bäumen sowie überlieferten Straßentras- keiten mit einer bewusst landschaftsgestaltenden sen und einigen Nutzwäldchen ist zu bewahren. Geisteswelt der frühen Neuzeit nachzuvollziehen und sehr gut erlebbar (KLB 25.03). G Kulturlandschaftliche Gestaltungs- und Entwicklungs- maßnahmen müssen sich an das historisch gewachse- G Kuhlenlandschaft Verberg-Niep (mesolithischer Rhein). ne offene Landschaftsbild anpassen mit Verstärkung der hofnahen Vegetation mit Obstwiesen und Hofweiden. G Teilabschnitt der römischen Straße Köln-Heerlen (KLB 24.03). G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt- G Siedlungsraum um Liedberg (vorgeschichtliche Sied- kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen. lungs- und Bestattungsplätze, römischer Steinbruch Liedberg, römische, spätantike, fränkische Siedlungs- G Erhalt der Erlebbarkeit der Landmarken. plätze, mittelalterliche Ortschaften; KLB 25.03).

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene 6.2

Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene gefallen sind. In manchen dieser Rinnen und in den Zwi- schenräumen der Rheinschwingen finden sich Gleyböden, die durch einen konstanteren und relativ hohen Grundwas- Lage und Abgrenzung serstand geprägt sind. Große Teile der Aue sind heute durch Deiche geschützt und als landwirtschaftliche Fläche Für die Kulturlandschaft „Rheinschiene“ ist der Rhein mit genutzt, die oft von Gebüschen und Hecken durchsetzt seinen Terrassen in Verbindung mit dichter Besiedlung und sind. Nur vereinzelt gibt es noch Reste von Auwäldern. Die zentralen Orten sowie Wirtschaftsstandorten maßgebliches Vordeichgebiete werden als Weide- und Wiesenland ge- Kriterium für die Abgrenzung zu benachbarten Kulturland- nutzt, während die geschützten Gebiete Ackerland tragen. schaften. Damit ergibt sich eine breite rheinparallele Aus- dehnung unter Einbeziehung der Stadtgebiete von Düssel- Die Rheinauen sind Teil des Biotopverbundkorridors, der dorf, Köln und Bonn. Nördlich grenzen mit anderen Markie- von der Schweiz bis in die Niederlande reicht. Neben dem rungskriterien das Ruhrgebiet als west-östlich orientierte In- Biotopverbund dienen die Auen als Retentionsraum. dustriezone und südlich die mittelrheinische Pforte an, de- ren naturräumliche Ausstattung sich deutlich unterschei- det. Die Abgrenzung zu den westlich und östlich angren- Geschichtliche Entwicklung zenden Kulturlandschaften ergibt sich aus der mehr oder weniger markanten Geländestufe zur Rhein-Hauptterrasse Die Terrassenlandschaft links und rechts des Rheins, bzw. dem Anstieg zur Mittelgebirgszone. Abweichend wur- zu der vor allem das Vorgebirge im südlichen Teil der den eher ländlich geprägte Teilräume dem benachbarten Kulturlandschaft „Rheinschiene“ zu zählen ist, bot durch „Bergischen Land“ zugeschlagen, wobei eher verdichtete ihre fruchtbaren Lössböden beste Voraussetzungen für Teilräume der „Rheinschiene“ zugeordnet wurden. eine agrarische Nutzung. In der Bronze- und Eisenzeit wurde, wie in den Zeitabschnitten zuvor, eine bäuerliche Der Rhein ist der unmittelbar wirksame räumliche Faktor Mischwirtschaft betrieben, die den Ackerbau stark in den innerhalb der Kulturlandschaft und darüber hinaus von gro- Vordergrund stellte. Eine Besiedlungsstruktur ist ab der ßer Bedeutung für Nordrhein-Westfalen und damit einzigar- Urnenfelderzeit erkennbar und reicht – mit Bevölkerungs- tig kulturlandschaftsprägend. Neben den genannten kreis- schwankungen – bis an das Ende der vorrömischen Zeit. freien Städten, die vollständig innerhalb der Kulturland- Bei den Siedlungen handelte es sich häufig um einperi- schaft „Rheinschiene“ liegen, gehören Anteile der kreisfrei- odige Einzelgehöfte (kleinteilige Mehrhausgehöfte), die in en Städte Duisburg, Krefeld und Leverkusen sowie Teile ihrem Wirtschaftsraum nach einer Hausgeneration in der des Rhein-Kreis Neuss, des Rhein-Erft-Kreises, des Rhein- Nähe neu errichtet wurden (sog. Wandersiedlungen wie 251 Sieg-Kreises, des Kreis Mettmann und des Rheinisch-Ber- z.B. in Duisburg-Huckingen, Düsseldorf-Rath) oder längere gischen Kreises zur Kulturlandschaft „Rheinschiene“. Zeit am Ort bestehen blieben (wie z.B. in Köln-Blumenberg oder in Porz-Lind). Neben der agrarischen Nutzung des Naturraums muss – wenigstens partiell – mit der Gewin- Naturräumliche Voraussetzungen nung und Verarbeitung anstehender Erze (Raseneisener- ze) gerechnet werden (z.B. im Düsseldorf/Ratinger Raum). Die Kulturlandschaft „Rheinschiene“ wird aus der Fluss- Rheinfurten sind u.a. bei Neuss/Düsseldorf (Düsselmün- terrassentreppe der Kölner Bucht gebildet. Von der Kante dung) anzunehmen, hinzu kommen Naturpfade entlang zur Rheinaue bis zum West-Rand, an den Aufstieg zur Vil- der Erft sowie die Wegeverbindung von der Maas zum le, variiert die Höhenlage zwischen 40 bis über 90 m ü. Rhein an der Siegmündung. NN. Auf den Niederterrassenflächen beiderseits des Rheins liegen anlehmige Sand- bis Lehmböden (Brauner- Eine Besonderheit bilden die ausgedehnten Grabhügel- den). Insbesondere im linksrheinischen Teil befinden sich felder auf der rechtsrheinischen Mittelterrasse, die auch als viele kleine, miteinander vernetzte Trockenrinnen und brei- Heideterrasse bezeichnet wird. Insgesamt wird mit einer tere gewundene Altarmrinnen des Rheins. Aus dem Nord- Zahl von 15.000 Hügelgräbern gerechnet, die auf den teil der linksrheinischen Niederterrasse erheben sich zahl- rechtsrheinischen Heideterrassen zwischen Lippe und reiche Dünen. Über eine relativ steile Kante im Nordteil der Sieg angelegt wurden. Zwischen den Grabhügeln wurden Kulturlandschaft „Rheinschiene“ steigt das Gelände zur heute nicht mehr sichtbare Flachgräber angelegt, so dass Mittelterrasse an, die stellenweise markant stufenförmig die Belegungszahlen noch erheblich höher gewesen sind. aufgebaut ist und zur Hauptterrasse hin ausläuft. Die Mit- Die Gräberfelder wurden an überörtlichen Verkehrsrouten telterrasse ist mit Lösslehm bedeckt, wodurch kleinere Re- angelegt, von denen der Rhein mit seinen begleitenden liefunterschiede ausgeglichen werden. Die Mittelterrasse Naturwegen der bekannteste ist. Die grundsätzliche ver- wird von einigen von der Ville kommenden Trockenrinnen kehrsgeographische Stellung der Region an der unteren zerteilt. Die sich in die Niederterrasse einschneidende Sieg wird z.B. durch das urnenfelderzeitliche Kriegergrab Rheinaue zwischen Düsseldorf und Wesel ist mit meist leh- von Hennef-Geistingen gelegen in der benachbarten Kul- migen, teilweise auch sandigen Auenböden bedeckt. Der turlandschaft sichtbar, das in seiner Ausstattung am Mittel- Grundwasserstand dieser Böden hängt überwiegend vom und Niederrhein singulär ist. Die Bestattungssitten sind de- Rheinpegel ab. Zwischen den oft weit ausladenden Rhein- nen der linksrheinischen Lössbörden, des unteren Nieder- schwingen befinden sich Altarme, die aber meist trocken rheins und der Niederlande vergleichbar. Sie zeigen eine

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kontinuierliche Besiedlung wenigstens ab der Urnenfelder- geboren und ließ das „Oppidum Ubiorum“ (Ubiersiedlung) im zeit bis in die mittlere vorrömische Eisenzeit; durch sie wird Jahre 50 n. Chr. zur Stadt erheben. In der Römerzeit war es eine vollständig aufgesiedelte Region inmitten einer zuneh- Statthaltersitz der Provinz Germania Inferior. Um 80 n. Chr. mend offenen Kulturlandschaft rekonstruierbar. Zum jetzi- erhielt Köln mit der Eifelwasserleitung einen der längsten gen Zeitpunkt bleibt unklar, ob die Gräberfelder eine dichte römischen Aquädukte überhaupt. Neben den Ausstel- und konstante Besiedlung von einzelnen Sippen innerhalb lungsobjekten im Römisch Germanischen Museum geben einer relativ klar umrissenen Siedlungskammer anzeigen zahlreiche Reste römischer Bauwerke im gesamten Innen- oder ob mit einem bislang unbekannten übergreifenden stadtbereich Zeugnis der römischen Stadt ab. Einzugsgebiet der Gräberfelder gerechnet werden muss. Auf dem Gebiet der Stadt Dormagen wurde ein ca. 3 ha In der Römerzeit war die hier besprochene Region für großes Alenkastell durch zahlreiche Ausgrabungskampa- das Rheinland von vorrangiger Bedeutung. Das Zentrum gnen archäologisch untersucht. Die Umwehrung des ältes- bildete Köln, wo die wichtigsten Fernstraßen der Region ten Lagers bestand aus einer Holz-Erde-Mauer, im 2. Jh. wie die Limesstraße entlang des Rheins, nach Westen die wurde das Lager in Stein ausgebaut. Längs der beiden Fernstraße nach Heerlen und nach Südwesten die Verbin- vom Lager ausgehenden Straßen ist ein Lagerdorf (vicus) dung über Zülpich nach Trier zusammentrafen. Die durch belegt. Im Süden von Dormagen wurde in den 1960er Jah- den Rhein gebildete Grenze der römischen Provinz Nieder- ren eine Militärziegelei der legio I ergraben, die während germanien (Germania Inferior) wurde durch zahlreiche Mili- des zweiten Drittels des 1. Jh. n. Chr. in Betrieb war. täranlagen gesichert. Militärlager befanden sich in Deutz, Dormagen, Neuss und Bonn. Außerhalb der Siedlungen Auf dem Gelände der spätantiken Festungsanlage wurden die linksrheinischen fruchtbaren Lössböden inten- „Haus Bürgel“, die wahrscheinlich unter Kaiser Konstantin siv genutzt. Ein dichtes Netz von Landgütern überspannte im Zuge der Rheinsicherung zwischen 306 und 315 er- die Region, wodurch die Versorgung der Städte und des baut wurde, befindet sich heute eine mittelalterlich-neu- Militärs mit Agrarprodukten gewährleistet war. zeitliche Einzelhofsiedlung, in deren Bausubstanz Reste des Kastells noch bis zu einer Höhe von 4 m erhalten Der Name von Köln in römischer Zeit, Colonia Claudia Ara sind. Die Kastellmauer umschloss ehemals ein nahezu Agrippinensium (CCAA), geht auf die römische Kaiserin quadratisches Areal von 64 m Seitenlänge. Von den über- Agrippina zurück. Die Gattin von Claudius war am Rhein lieferten 12 Türmen sind vier sicher nachweisbar.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene 6.2

Um das Jahr 16 v. Chr. wurde in Neuss an der Mündung siedlungsstandorte ermöglichten. Ebenso existierten Furten der Erft in den Rhein eine Holz-Erde-Befestigung errichtet. und abgeschnittene Altgewässer. Daneben bildeten Rhein- Es folgten weitere saisonal benutzte Heerlager. Um die Mit- hochwässer, vor allem im Zusammenhang mit Eisgang, per- te des 1. Jahrhunderts wurde ein steinernes Legionslager manente Gefährdungen für die Höfe im Auenbereich, die errichtet, um das Militärlager herum entstanden eine Lager- ein Siedlungsverhalten hervorbrachten, das mit dem im vorstadt und ausgedehnte Gräberfelder, die Keimzelle der Küstenbereich vergleichbar ist. Die naturräumlichen späteren Stadt Neuss. Die heutige Bundesstraße B 9 ver- Zwangsläufigkeiten führten zu einer „Perlenkette“ von ein- läuft abschnittsweise im Trassenverlauf der Römerstraße. zelnen Siedlungen parallel zum Fluss wie sie z.B. zwischen Düsseldorf, Köln und Bonn noch heute erkennbar sind. In Krefeld-Gellep wurde das mittelkaiserzeitliche Auxiliar- kastell Gelduba zu großen Teilen archäologisch untersucht. Reaktionen auf die Bedrohung durch den Rhein waren Die rückwärtige Fläche des Lagers ist erhalten, ein großer die Anlage von Ringdeichen und die Aufschüttungen von Teil des vorderen Lagers und der davor gelegene römische Wurten sowie im Spätmittelalter die Errichtung von Bann- Hafen wurden in den 1970er Jahren beim Bau eines neuen deichen. Zwischen diesen Banndeichen und dem Rhein Hafenbeckens abgetragen. Außerhalb des Lagers befand befanden sich bevorzugt Weideflächen. Gegliedert war die sich ein vicus. In einem weiten Bogen legen sich die Grä- Aue durch Hecken- und Kopfweidenreihen. Kopfweiden berfelder von Gellep auf der dem Rhein abgewandten Sei- wurden in mehrfacher Weise genutzt: Korbflechterei, Zaun- te um das Kastellgelände. Mehrere tausend Gräber römi- abdichtungen und Weidenmatten für den Deichbau, die scher und fränkischer Zeit wurden bereits freigelegt. Die durch Rasensoden verstärkt worden sind. Belegung beginnt im frühen 1. Jh. und setzt sich ohne Un- terbrechung bis zum Ende des 7. Jahrhunderts fort. Innerhalb der neuzeitlichen Deichbautechnik lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden, die sich in der Ge- Die Anfänge von Bonn gehen auf eine ubische Ansied- samtkonzeption als flussbegleitend, einfassend und in ihrer lung zurück, die unter dem späteren mittelalterlichen Stadt- Typologie nach Aufschüttungswinkeln unterscheiden las- kern auf einer Halbinsel im Rhein lag. Das erste römische sen, bis die Rheinbegradigungen und Sicherungsmaßnah- Lager befand sich auch an dieser Stelle, bis dann um men des 19. und 20. Jahrhunderts den Flussverlauf ganz- 30 n. Chr. das Legionslager nördlich dieser Ansiedlung jährig stabilisierten. Als wichtige historische Funktionen gegründet wurde; im Bereich des ehemaligen Lagers ent- kam dem Rhein die Rolle als Grenzfluss zu, in römischer stand die Lagervorstadt (canabae legionis). Gegen Ende des Zeit etwa als Abschnitt der Limesgrenze und im Zuge spä- 1. Jahrhunderts etablierte sich im Süden entlang der Limess- terer militärischer Auseinandersetzungen bis hin zum Zwei- traße ein Zivilvicus. In den Wirren des Jahres 275 n. Chr. wur- ten Weltkrieg markierte er kurzfristig die Frontlinie. 253 de neben dem Lager und der Lagervorstadt auch der Vicus zerstört. Wiederaufgebaut wurde nur das Legionslager, so Im Gegensatz zum linksrheinischen Gebiet ist die rechts- dass sich in der Spätantike die Siedlung gänzlich in den rheinische Niederterrasse des Landschaftsraumes in der Festungsbereich des Legionslagers verlagerte. Siedlungsstruktur überwiegend erst nachrömisch im Mittel- alter erschlossen worden. Die potentielle natürliche Vege- In nachrömischer Zeit wurden viele Siedlungen auf- tation war zwar bereits seit der Eisenzeit anthropogen be- gegeben, das Straßen- und Wegenetz verfiel und viel- einflusst, das Siedlungsmuster bildete sich seit 800 n. Chr. fach eroberte der Wald ehemals landwirtschaftlich ge- mit kleinen Ortsgründungen heraus, die dann allmählich nutzte Flächen zurück. zu Städten und zugehörigen Außenbereichen expandier- ten. Im Landschaftsbild dominiert um 800 n. Chr. ein aus- Im Vorgebirge lassen sich durch eine große Häufung gedehnter Auenwald, die Siedlungsdichte nahm in dieser fränkischer Reihengräberfriedhöfe fränkische und frühmit- Phase in Richtung der höher gelegenen trockeneren Heide telalterliche Siedlungskerne nachweisen. Im Verlauf der und Sandflächen zu. Einzelne Höfe als Grundherrschaften, weiteren Entwicklung schlossen sich dann viele dieser die Gerichtsstätte Kaiserswerth, der Kirchort Bilk und eine kleinen Siedlungen zu größeren Ortschaften zusammen. kleine Siedlung an der Mündung der Düssel lagen als Ro- Andere fielen wüst, wahrscheinlich durch Abwanderung zu dungsinseln inmitten dieses Auenwaldes. benachbarten Siedlungen. Hinweise auf diese Altsiedlun- gen und Wüstungserscheinungen sind Siedlungsnamen Diese letztgenannte Siedlung entwickelte sich zum Fle- auf freiem Feld zwischen den heutigen Vorgebirgsdörfern. cken „Dusseldorp“, der 1288 Stadtrechte erhielt und da- nach einen systematischen Ausbau zur Stadt zunächst Innerhalb der Kulturlandschaftsentwicklung dominierte durch Anlage von Wall und Graben, später einer Stadt- der Rhein als Gunst- und zugleich als Ungunstfaktor für das mauer erfuhr. Mit dem heute noch im Stadtbild erkennba- anthropogene Verhalten. Bis zu den großen Rheinbegradi- ren ältesten Siedlungsbereich ging der Bedeutungszu- gungen im 19. Jh. mit der Anlage von Buhnen, geschlosse- wachs im Laufe der Jahrhunderte einher, der sich land- nen Deichlinien und fast ausschließlicher Grünlandnutzung schaftlich in zunehmender räumlicher Expansion vor allem in der Aue verlagerte der Rhein mehrfach seinen Lauf und seit dem 17. Jh. ausdrückte und insbesondere eine herr- schuf so ein System von Altmäandern, Altarmen, Rhein- schaftlich gestaltete Residenzlandschaft entstehen ließ. schleifen und Rheinschlingen, die das Gelände charakteris- Weiterhin liegen die Außenbezirke und das Umland im Ein- tisch im Mikrorelief gestalteten und dadurch angepasste Be- zugsgebiet städtischer Umformungsprozesse und Funkti-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene

onswandel landschaftlicher Raumausstattung z.B. umlie- genden Stromverlagerungen. Ursprünglich unmittelbar am gender Wälder für die Naherholung, aber auch die Anlage Rhein gelegen, verlagerte sich der Fluss zwischen 1550- zunächst eines Zeppelinfeldes und späteren Flughafens 1650, bis er schließlich nicht mehr die Stadtmauer berührte. mit entsprechender Landschaftsauswirkung veränderten den Kulturlandschaftsraum. Aus heutiger Sicht ist die Geschichte dieses Kulturland- schaftsraumes primär eine urbane Geschichte. Betrachtet Territorialpolitisch erlangte Düsseldorf als Residenz man ihn in seiner geschichtlichen Entwicklung, so ist an nach der Verlegung von Burg an der Wupper durch die erster Stelle der Rhein als Standortfaktor zu sehen, der als Grafen von Berg und als Residenz der in Personalunion verbindendes, aber untergeordnet auch als trennendes verwalteten Grafschaft Mark sowie der Herzogtümer Jü- Element betrachtet werden kann. Der Rhein fungierte bzw. lich und Kleve 1348 Bedeutung, eine vergleichbare Funk- fungiert als Reservoir für unterschiedliche Formen der tion, die Düsseldorf seit 1946 als Landeshauptstadt wie- Wassernutzung, als Nahrungsquelle, als Verkehrs- und der erhalten hat mit entsprechenden raumgestaltenden Handelsweg und zeitgebunden als faktische oder mentale Auswirkungen als Agglomeration. Grenze. Hochwasser waren und sind eine Bedrohung für

254  Stammeln Foto: LVR/M. Köhmstedt

Kaiserswerth war im Mittelalter ursprünglich eine Rhein- die wassernahen Standorte, dienten aber in historischen insel mit einem Benediktinerkloster und einer Pfalz, bis Zeiten auch der Düngung des Bodens. Der Rhein ist be- die Zollstätte Kaiserswerth 1181 ebenfalls Stadtrechte er- reits in römischer Zeit ein wichtiger Transportweg wie die hielt. Ende des 9. Jahrhunderts wurde bei Kalkum ein Kö- Häfen von Königswinter, Bonn und Köln/Alteburg zeigen. nigshof errichtet, bei dem Anfang des 19. Jahrhunderts Gleiches gilt für das Mittelalter. Das Stapelrecht Kölns führ- ein Landschaftsgarten angelegt wurde. te auf der rechtsrheinischen Seite zu Umgehungsrouten, als bergischer Umschlagplatz etablierte sich Porz-Zündorf. Die mittelalterliche Stadt und wichtige Zollstätte Zons wur- de zwischen dem alten Rheinlauf und einem Seitenarm auf Zu einer starken Veränderung auch der Landschaftswir- einer Inselterrasse am Standort einer frühmittelalterlichen kung des Rheines kam es durch die Rheinstromregulie- Vorgängersiedlung errichtet. Damit ist die Entwicklung der rung ab dem 19. Jahrhundert. Der Rhein wurde vollständig Stadt eng verbunden mit ihrer Lage am Rhein und den fol- kanalisiert, seine Ufer befestigt, Buhnen wurden angelegt,

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene 6.2

Inseln und Furten verschwanden. Nur an wenigen Stellen Brühl“ sowohl durch die inhaltlichen Verzahnungen mit lassen sich noch ehemalige Nebenarme des Rheines able- dem Umland als auch durch die optischen Bezüge inner- sen. Durch das Ausbaggern der Fahrrinne ist eine Über- halb des weit gefassten Landschaftsraumes zeugt. querung des Rheines zu Fuß unmöglich geworden, wie es beispielsweise bis in das 16. Jh. an einer Furt der damals Im 19. Jh. bildeten sich auf dem Gebiet ehemals länd- pfarrrechtlich zusammengehörenden Ortschaften Weiß licher (z.B. Leverkusen) oder gewerblicher (z.B. Bergisch und Ensen südlich von Köln üblich war. Der nun erstmals Gladbach) Ansiedlungen Industrieorte, die im Fall von nach der Römerzeit wieder einsetzende Brückenbau ver- Bergisch Gladbach bereits im 19. Jh., ansonsten im 20. Jh. ändert das Bild zusätzlich, er beschleunigt den Verkehr Stadt wurden: Bergisch Gladbach, Leverkusen, Troisdorf über den Rhein und zentriert den Rhein neu. Köln gilt als und Wesseling. Stadt der Brücken und wird durch dieses Element berei- chert. Die Brücken lösten einen großen Teil der ehemali- Bergisch Gladbach hat auch durch die enge Verknüp- gen Rheinfähren ab. Im Zuge der Industrialisierung kommt fung von Bergbau und Industrialisierung eine Sonderstel- dem Rhein als Transportweg und den Rheinhäfen als Um- lung unter diesen Städten. Leverkusen und Wesseling sind schlagsplätze erneut eine große Bedeutung zu. in ihrer Entstehung nur durch die Ansiedlung sehr großer Betriebe der chemischen bzw. petrochemischen Industrie im Die Kreuzungspunkte der hochwasserfrei gelegenen 19. bzw. 20. Jh. zu verstehen. Sie liegen direkt am Rhein, rheinparallelen Wege mit wichtigen Ost-West verlaufenden nicht nur wegen der Transportmöglichkeiten, sondern auch Verbindungen waren prädestiniert für die Siedlungsent- wegen der Wasserversorgung. Die bisher letzte Entste- wicklung. Im Verkehrs- und Siedlungsbild spiegelt sich bis hungsphase neuer Städte in diesem Raum ist durch die heute der Rhein als Grenze des römischen Reiches. Suburbanisierung zu erklären. In der Kulturlandschaft „Rheinschiene“ steht für diesen Stadttyp Sankt Augustin, Mit Köln als ältester, auf römische Zeit zurückgehender dessen Stadtgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts von ei- Stadt in der Region lässt sich zudem eine Standort- und nigen ländlichen Gemeinden und einem Kloster besiedelt Siedlungskontinuität bis heute belegen. war. Die Entstehung Sankt Augustins als Stadt basiert auf dem starken Suburbanisierungsdruck durch die Ernennung Betrachtet man den gesamten Agglomerationsraum, so Bonns zur Bundeshauptstadt, gefolgt vor allem von Ansied- fällt die durch ihre unterschiedlichen Entstehungsbedingun- lungen aus dem Gewerbe- und Dienstleistungsbereich. gen und -zeiten differierende strukturelle Ausprägung der heute zusammengewachsenen Städte auf. So konzentrieren Sowohl Sankt Augustin als auch die Industriestädte ha- sich die älteren Städte (römisch/mittelalterlich) im Linksrhei- ben eine ähnliche Grundstruktur, da sie nicht über einen 255 nischen, während im Rechtsrheinischen mit Ausnahme von starken historischen Stadtkern verfügen, sondern über vie- Siegburg die durch die Industrialisierung entstandenen le kleine, ehemals ländliche Siedlungskerne. Die ehemali- Städte dominieren. Eine kurze Chronologie der Städte be- gen Ortsverbindungsstraßen sind erhalten, die Siedlungs- ginnt mit Köln: seit dem späten Mittelalter freie Reichsstadt, struktur ist dispers. Leverkusen und Sankt Augustin verfü- mit seinem heute noch ablesbaren römischen Kern, den gen über junge, einheitliche Stadtzentren. mittelalterlichen Stadterweiterungen, ausgeprägten Stadt- vierteln mit ihren romanischen Kirchen, der typischen Stadt- Die Herausbildung der heutigen, mehr oder weniger zu- struktur mit Ausfallstraßen und Radialen, den ehemaligen sammenhängenden Agglomeration, die über die genann- Festungsringen und dem darauf aufbauenden Grünsystem. ten Städte hinaus noch etliche Gemeinden mit einbezieht, basiert zum einen auf dem starken Wachstum der Städte Es folgten die mittelalterlichen Städte Brühl, Bonn (mit im Zuge der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahr- römischem Lager als Vorläufersiedlung) und Siegburg, wo- hunderts in ihr unmittelbares Umland und auf der Subur- bei Letzteren die stadtgeschichtliche Bedeutung und banisierung seit den 1950er Jahren, die einhergehend mit heutige stadtbildprägende Dominanz eines großen Klos- der allgemeinen Automobilisierung zu raumübergreifen- ters bzw. Stiftes gemeinsam ist. Im weiteren Verlauf der den, regionalen Strukturen führte. Geschichte verfügt Siegburg bis in das 16. Jh. über ein starkes Gewerbe und wird nach dessen Rückgang ab Im Rechtsrheinischen zieht sich die Agglomerationszone dem 19. Jh. von Industrialisierung geprägt, während über die an dem Flughafen Köln-Bonn vorbeiführende Ach- Bonn vor allem durch seine Funktion als Residenz der se Kalk-Porz-Wahn bis nach Troisdorf. Wie Troisdorf wurden Kölner Erzbischöfe, als Rentier-, Kur- und Beamtenstadt auch Kalk und Porz bereits im 19. Jh. durch die Industriali- des 18. und 19. Jahrhunderts (Bad Godesberg) und natür- sierung geprägt. Geschlossen hat sich das Band aber erst lich enorm durch seine Hauptstadtfunktion nach dem in der Nachkriegszeit, vor allem im letzten Viertel des 20. Zweiten Weltkrieg überformt und erweitert wurde. Jahrhunderts. Hier wurden große Gewerbegebiete, vom Umland gut erreichbar, ausgeschrieben und der Flughafen Durch die Kölner Erzbischöfe verknüpft sich die Ge- Köln-Bonn löste einen regionalen Entwicklungsschub aus. schichte Bonns mit der Stadt Brühl, welche als Aufent- haltsort der mit Köln verfeindeten Kölner Erzbischöfe über In Hinblick auf den Verkehr lassen sich folgende Phasen Jahrhunderte geprägt wurde, wovon heute die Weltkultur- unterscheiden. Zu dem in vor- und frühgeschichtlicher Zeit erbestätte „Schlösser Augustusburg und Falkenlust in dominierenden Landverkehr kommt ab der Römerzeit der

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene

Schiffsverkehr, der im Mittelalter und der frühen Neuzeit an senbahntunnel Deutschlands, 1954 abgetragen, vom Tunnel Bedeutung gewinnt. Die Industrialisierung wird sowohl wurde nur noch ein Teil des östlichen Portals stehen gelas- vom Ausbau der Rheinschifffahrt mit Anlage neuer, z.T. be- sen), den Viadukt bei Aachen-Burtscheid sowie den triebseigener Häfen getragen als auch von der guten re- Buschtunnel (Länge 693 Meter unter dem Brandenberg) als gionalen Erschließung durch die Eisenbahn, die auch die ältestem noch befahrenen Eisenbahntunnel Deutsch- flussabseits gelegenen Gebiete erschloss. Sie verband die lands. Es war die erste grenzüberschreitende Eisenbahn- Bergbaugebiete mit den Industrie- und Gewerbestandor- verbindung in Deutschland. Die Gesamtstrecke bis Ant- ten und diese mit ihren Absatzmärkten. Aber auch für den werpen wurde 1843 eröffnet. Diese Bahnlinie stellt noch Absatz landwirtschaftlicher Produkte und den Personen- heute die bedeutendste internationale Verbindung in verkehr war sie von herausragender Bedeutung. Nordrhein-Westfalen dar, mit Verbindungen nach Brüssel/ Paris und Amsterdam/London. Sie ist Teil des europäi- Die Planungen einer Bahnverbindung von Elberfeld an schen Schnellbahnverkehrs (Thalys). den Rhein gehen auf das Jahr 1832 zurück, um für die Produktionen der Baumwollspinnereien im Bergisch-Märki- Von diesen Hauptlinien ausgehend wurde im Wirt- schen Land kostengünstig die Rohprodukte anliefern zu schaftsraum Rhein ein dichtes Eisenbahnnetz geknüpft, können, die aus Übersee im Düsseldorfer Hafen eintrafen. das heute einen der bedeutenden Verkehrskorridore im Nach Gründung der Düsseldorf-Elberfelder Gesellschaft deutschen und europäischen Eisenbahnnetz darstellt. Im 1835 erhielt diese 1837 die Konzession zum Bau einer nor- Norden sind dies die Verbindungen von Duisburg nach malspurigen Eisenbahn. Es musste eine Steilstrecke zwi- Ratingen/Düsseldorf und Krefeld, wobei die Strecke Duis- schen Erkrath und Hochdahl errichtet werden, die kurzzei- burg-Düsseldorf wegen des hohen Verkehrsaufkommens tig mit einem Seilbetrieb überwunden wurde, während die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg abschnittweise sechs- übrigen Abschnitte nach Düsseldorf und Elberfeld zwar gleisig ausgebaut wurde. Von Düsseldorf ausgehend gab enge Kurven, aber kaum Gefälle aufwiesen. und gibt es Verbindungen nach Essen, Wuppertal (zwei Strecken), Solingen, Köln (rechts- und linksrheinisch), Der Abschnitt von Düsseldorf bis Erkrath wurde 1838 Neuss, Mönchengladbach und Krefeld. eröffnet, die erste normalspurige Eisenbahn für den öf- fentlichen Verkehr in Nordrhein-Westfalen. Die Steilstre- Köln bildet im rheinischen Netz das Eisenbahnzen- cke von Hochdahl nach Erkrath eröffnete man 1841. Die- trum. Hier wurde bereits im späten 19. Jh. der Verkehr ser Steilstreckenbetrieb bestand bis 1927, die Umlenk- so ausgebaut, dass er in einem großen Ring kreuzungs- rolle des Seilbetriebs ist noch als Denkmal vor Ort erhal- frei um Köln herum geführt wurde (nach dem Vorbild Ber- 256 ten. Die Fortsetzung der Bahnlinie nach Elberfeld wurde lins). Dieser Ring besitzt getrennte Gleise und Verbin- 1841 dem Betrieb übergeben. dungen für den Güter- und den Personenverkehr. Vom Ring aus führen Verbindungen nach Bergisch Gladbach, Die Köln-Mindener Eisenbahn war das erste große Eisen- Gummersbach, Siegburg/Troisdorf, Bonn, Euskirchen, bahnprojekt der Region und sollte die Verbindung zwischen Aachen, Grevenbroich und Neuss. dem Rhein, dem aufstrebenden Industriegebiet nördlich der Ruhr und der Weser herstellen, auch um die niederländi- Als Besonderheit – und immer ein verkehrlicher Eng- schen Zölle auf dem Rhein zu umgehen. Die Konzession für pass – gilt die Anbindung des Kölner Hauptbahnhofes die Verbindung wurde 1837 erteilt, die Strecke wurde in Ab- mit der Rheinquerung über die Hohenzollernbrücke schnitten eröffnet: 1845 Deutz-Düsseldorf, 1846 bis Duis- nach Deutz. Die Brücke musste auf kaiserliche Anord- burg, 1847 bis Hamm, am 15. Oktober 1847 das Reststück nung in der Ost-West Achse des Kölner Doms angelegt bis Minden. Dadurch bestand erstmalig eine durchgehende werden, womit sich die enge Kurve als Zufahrt zum Eisenbahnverbindung zwischen Antwerpen und Berlin. Die Hauptbahnhof ergibt. Bis zum Zweiten Weltkrieg diente Bahnstrecke weist noch heute lange gerade Abschnitte und die Brücke auch dem Fußgänger-, Straßen- und Straßen- großzügige Kurvenführungen auf, typische Elemente frü- bahnverkehr; diese Verbindung wurde beim Wiederauf- her Eisenbahnen, die keine Rücksicht auf eine günstige bau der Brücke nicht wieder hergestellt. Reste der Stra- Anbindung von Ortschaften und dicht besiedelte Räume ßenbahngleise sind auf der Deutzer Seite noch erhalten nehmen mussten. Diese Bahnlinie diente in erster Linie und belegen die ehemalige Verkehrsführung. Die Bahn- dem Güterverkehr, während der Personenverkehr zu- trasse zwischen Deutz und Hansaring, im Zuge der Ein- nächst nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Köln- richtung des S-Bahn Verkehrs um zwei Gleise erweitert, Mindener Eisenbahn stellt eine der wichtigsten Verkehrs- durchschneidet die Stadt auf einem hohen Damm mit verbindungen in Nordrhein-Westfalen dar. zahlreichen Brücken und bildet dadurch eine bedeuten- de Achse in der Stadtentwicklung. Gemeinsames Streben von Belgien und der Rheinischen Eisenbahngesellschaft war es, eine Verbindung zwischen 1844 wurde die Eisenbahn von Köln nach Bonn eröffnet, dem Seehafen Antwerpen und dem Rhein herzustellen. die Verlängerung nach Rolandswerth (Rheinland-Pfalz) folg- Das 1839 in Betrieb gegangene Teilstück von Köln bis Lö- te 1855. Die rechte Rheinstrecke erreichte von Süden her venich und die 1841 von Lövenich bis Aachen eröffnete Oberkassel 1871. Gleichzeitig wurde ein Schiffs-Trajekt Gesamtstrecke verfügten über einige bauliche Besonder- über den Rhein aufgenommen, mit Anbindung an den heiten: den Königsdorfer Tunnel bei Frechen (der älteste Ei- Bonner Hauptbahnhof. Der Einschnitt der Bahn zum Rhein

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene 6.2

ist heute noch im Stadtbild erkennbar und wird teilweise Intensive Umgestaltungen haben somit in der „Rheinschie- von einer Straße unter der B 9 genutzt. Die Fortsetzung ne“ eine ursprünglich bäuerlich geprägte Kulturlandschaft in von Oberkassel nach Troisdorf (Anschluss an die Strecke einen sehr dicht besiedelten, intensiv genutzten Wirtschafts- Siegen-Deutz) folgte noch 1871. raum umgewandelt. Die herkömmliche agrare Siedlungs- struktur ist weitgehend von den stark zunehmenden räumli- In Düsseldorf wurde ab 1876 ein großes Straßenbahn- chen Ansprüchen der Industrie, den Siedlungs- und Stadter- netz entwickelt, nach Berlin das bis heute größte Straßen- weiterungen sowie der Infrastruktur überlagert worden. bahnnetz Deutschlands. Überlandverbindungen führten nach Krefeld, Moers, Duisburg, Ratingen, Mettmann, Ben- Trotz ihres dominierenden zeitgenössischen Erschei- rath und Neuss (hier gab es einen eigenen Betrieb von 1910- nungsbildes trifft man allerdings noch Nischen an, in 1971). Verbindungen zum Ruhrgebiet stellten die Betriebe denen Reste der vorindustriellen Agrar- und Waldland- in Duisburg, Benrath und Mettmann her. Im Zweiten Welt- schaften hervortreten (hier sind die Ackerterrassen und krieg fuhren Kohlenzüge direkt von den Zechen in Kamp- die rechtsrheinische Heideterrasse besonders hervorzuhe- Linfort über die vorhandenen Straßenbahnverbindungen ben), aber auch wertvolle Bestandteile der Industrialisie- bis in die Düsseldorfer Innenstadt. rungsgeschichte.

Die Kölner Straßenbahnen errichteten ab 1877 ein dich- Markante Landschaftsbilder stellen der Agglomerations- tes Stadtnetz sowie Verbindungen weit ins Umland, wie raum Düsseldorf und die Südausläufer von Duisburg dar. nach Frechen/Benzelrath, nach Bergisch Gladbach, Le- Dazwischen ist das vorherrschende Landschaftsbild verkusen, Opladen (eigene Straßenbahn 1911 bis 1955) und durch den Rhein, flussbegleitende Haufendörfer, Hofgrup- Porz-Wahn. Darüber hinaus gab und gibt es Überlandver- pen und architektonisch herausragende Einzelhöfe und bindungen, wie die Verbindung von Porz-Wahn nach Schlossanlagen inmitten von Offenlandflächen geprägt. Siegburg (Wahner Straßenbahn 1917-1961 und Kleinbahn Hervorzuheben ist die Landschaftswirkung der Schlossan- Siegburg-Zündorf 1914-1966) und die berühmte Köln-Bon- lage Kalkum mit zugehörigem Landschaftsgarten und das ner Eisenbahn. Letztere verbindet auf zwei Strecken (Vor- Wasserschloss Heltorf mit einem englischen Garten. Die- gebirgs- und Rheinuferbahn) die beiden Städte Köln und se Schlossanlagen mit umgebenden Parkanlagen und li- Bonn mit den Gemeinden im Vorgebirge. Diese waren au- nearen Bezügen in Form von Alleen, geradlinigen Wegen ßerhalb der Städte als Eisenbahn konzessioniert. Hier fuh- und Gewässerorientierungen sind raumprägend. ren auch die ersten Schnellzüge auf Privatbahnen. Heute sind die beiden Strecken in die Stadt- bzw. U-Bahnnetze In Kaiserswerth ist die Pfalzruine obertägig sichtbar der beiden Großstädte integriert. und in der Umgebung befinden sich noch Reste der bas- 257 tionären Befestigung des 16. Jahrhunderts. Damit sind Das 20. Jh. ist das Jahrhundert der Automobile und historische Landschaftsteile im Landschaftsbild erhalten der Flugzeuge. Die Entwicklung der Autobahn von ei- geblieben und noch heute wirksam. nem Fernverkehrsnetz zu einer innerregionalen Er- schließung lässt sich an der Entwicklung nach 1950 ab- Das Reizvolle dieser nur auf den ersten Blick ausschließ- lesen. Mit der Köln-Bonner Autobahn liegt hier die ältes- lich zeitgenössisch erscheinenden Ballungsgebiete ist das te Autobahn Deutschlands. An letzter Stelle ist der Köln- Nebeneinander von verschiedenartigen Elementen, Struk- Bonner Flughafen zu nennen, der, hervorgegangen aus turen und Kulturlandschaftsbereichen, besonders aus al- einem Militärflughafen, seit den 1970er Jahren dem zivi- len Epochen des industriellen Zeitalters, aber auch aus len Personenverkehr dient. vorgeschichtlichen und historischen Epochen. Die Dyna- mik dieses schnellen, technisch bedingten Umwandlungs- Bedingt durch die naturräumlichen Voraussetzungen, prozesses ist in der Kulturlandschaft „Rheinschiene“ deut- hat sich im Vorgebirge eine vorwiegend an die Kölner lich ablesbar, wobei die Industrialisierung ebenfalls eine und Bonner Märkte angepasste kleinbäuerliche Struktur wichtige raumprägende Phase der Kulturlandschaftsent- auf sehr kleinen Parzellen entwickelt mit Schwerpunk- wicklung darstellt, die diesem Raum seine regionale Iden- ten auf Gemüse, Gewürzkräuter, Blumen, Baum- und tität verleiht und in seiner Ablesbarkeit auch im strukturel- Strauchobst sowie Erdbeeren. len Wandel erhalten werden muss.

Daneben liegen in der Rheinaue wie auch auf den Fluss- Kulturlandschaftscharakter terrassen Areale der ehemals diesen Raum dominieren- den, landwirtschaftlich genutzten Flächen, die zum einen Die zentralen Elemente dieses Kulturlandschaftsraumes durch Ackerbau, zum anderen durch Gartenbau geprägt sind somit Wasser, Stadt- und Verkehrsentwicklung sowie sind. Im flussnahen Landschaftsbild dominiert der Rhein Industrie- und Gewerbestandorte. Besonderes Merkmal mit seiner Aue, die sich in die hochwassersicheren Hof- ist die ein nahezu geschlossenes Siedlungs-, Gewerbe- standorte und Siedlungsreihungen einfügen. Die Aue wird und Industrieband darstellende bebaute Fläche, durchzo- vor allem als Grünland genutzt und ist nur teilweise be- gen und flankiert von einem leistungsstarken Verkehrssys- waldet. Landschaftsbildwirksam sind weiterhin die Dei- tem. Die Stadtsilhouetten sind Landschaftsbild-Dominan- che und die Kleinstrukturen im Gelände. Ebenso sind die ten und je nach Standort räumlich sehr weit wirksam. alten Rheinarme im Landschaftsbild gut erkennbar.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene

Die Niederwaldwirtschaft und Waldweide, die seit der Ei- den Königsforst, dem ehemaligen Jagdrevier der Bergi- senzeit mit einer Nutzungskontinuität bis in das 18./19. Jh. schen Grafen, einen Freiraum, der nicht nur aus ökologi- betrieben wurde, ist mit kleinen Restbeständen in der scher, sondern auch aus kulturgeschichtlicher Sicht eine Zonser Heide bis heute ablesbar. besondere Bedeutung hat.

So deuten z.B. Trespen- und Salbeiwiesen im NSG „Grind“ auf historische Nutzungssysteme hin. Korbflechte- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche rei wurde in Zons bis 1934 betrieben, in einigen Einzel- und -elemente maßnahmen bis in die 1980er Jahre. Charakteristisch wa- ren ursprünglich große Korbweidenfluren, die heutigen Be- G Untere Erft und Gillbach (KLB 18.03): vorgeschichtli- stände geben die ursprüngliche regionale Landschaftswir- che, römische Siedlungsplätze; mittelalterliche Bur- kung nicht mehr wieder. Kleine Randvorkommen von Fär- gen, Mühlen. berwaid entlang der Bundesstraße weisen auf ehemalige Sonderkulturen für die Indigo-Gewinnung innerhalb der G Abschnitt des Nordkanals (KLB 18.04).

258  Siegtalansicht von Bödingen Foto: LVR/J. Gregori

historischen Textilbranche hin, Vorkommen von Saat- und G Krefeld-Gellep – Linn (KLB 19.01): vorgeschichtliche, Futteresparsette um Zons und Stürzelberg weisen eben- römische, fränkische Gräberfelder; römisches Lager; falls auf spätmittelalterliche Kulturpflanzen hin. Abschnitte der römischen Limesstraße; spätrömi- sche Befestigung; mittelalterliche Burg; befestigte Eine charakteristische Besonderheit stellt weiterhin die Burgsiedlung und Stadt Linn. rechtsrheinische Heideterrasse dar, die großflächig inner- halb der Region nur noch im Bereich der seit 1850 als G Düsseldorf (KLB 19.02): Relikte vorgeschichtlicher Truppenübungsplatz genutzten Wahner Heide erfahrbar Metallgewinnung; mittelalterliche Stadt, neuzeitliche ist. Die Wahner Heide bildet mit dem nördlich anschließen- Festung und barocke Residenzstadt Düsseldorf;

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene 6.2

mittelalterliche Stadt Kaiserswerth; Schloss Kalkum; römischen Limesstraße; mittelalterliche Stadt mit St. Urdenbach. Quirinus; Hafen.

G Knechtsteden/Stommelner Busch (KLB 19.03): Klos- G Der Rhein als europäischer Strom (KLB 19.14). terlandschaft um das abgeschieden gelegene mittel- alterliche Prämonstratenserkloster Knechtsteden. G Köln-Bonner Autobahn (KLB 19.15).

G Dormagen/Zons/Benrath (KLB 19.04): römisches Lager G Teilstück der Köln-Mindener Eisenbahn (KLB 14.33). Dormagen; Abschnitt der römischen Limesstraße; rö- mische, spätantike, fränkische Siedlungsplätze; römi- G Teilstück der Eisenbahnlinie Düsseldorf-Elberfeld sches Lager Haus Bürgel; mittelalterliche Stadt Zons; (KLB 20.05). Schloss Benrath mit barocker Parkanlage. G Abschnitt der mittelalterlichen Straße Köln-Lennep- G Teilstück der römischen Limesstraße (KLB 19.05). Schwelm (KLB 22.01).

G Worringer Bruch (KLB 19.06): Ereignisort; vorgeschicht- G Teilbereich von Wahner Heide – Siegburg (KLB 22.06) liche, römische, spätantike, fränkische Siedlungsplätze; Abschnitt der römischen Limesstraße. G Teilstück der mittelalterlichen Brüderstraße (KLB 22.08).

G Leverkusen (KLB 19.07): Bayerwerk und ausgedehnte G Teilstück der römischen Straße Köln-Heerlen (KLB 24.03). Kolonien. G Teilbereich der Töpfereisiedlung Frechen (KLB 26.02). G Köln (KLB 19.08): vorgeschichtliche Siedlungs- und Bestattungsplätze; kaiserzeitlich-germanische Be- G Teilabschnitt der römischen Straße Köln-Trier (Teil von siedlung Westhoven; römische Stadt CCAA (Stadt- KLB 28.01). grundriss); römische Siedlungsplätze, Straßen, Hafen, Brücken; rechtsrheinische Festung Divitia; fränkische G Teilabschnitt der Bahnlinie Köln-Welkenraedt (KLB 27.04). städtische Besiedlung, Bestattungen; mittelalterliche Stadt; Dom (Weltkulturerbe); romanische Kirchen; G Teilstück der Siegtaleisenbahn (KLB 30.02). Friedhöfe; mittelalterliche/frühneuzeitliche Töpfereien; frühneuzeitliche preußische Festung; Verkehrstech- G Fossilführende karbonatische Ablagerungen/Riffkalke 259 nik; Rheinfront und Rheinbrücken (20. Jh.); Messe, aus dem Mittel- bis Oberdevon der Paffrather Mulde. Braukultur; Grünsystem (Grüngürtel). G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- G Strundetal (KLB 19.09): fossilführende devonische Kal- dere als Bodenarchiv, sind Angermund, Bensberg, ke; frühneuzeitliche Industrieanlagen. Bonn, Brühl, Deutz, Düsseldorf, Gerresheim, Kaisers- werth, Köln, Linn, Monheim, Mülheim, Neuss, Opladen, G Brühler Schlösser – Vorgebirge (KLB 19.10): römische Siegburg, Uerdingen und Zons. Siedlungsplätze; Abschnitt der römischen Wasserleitung Eifel-Köln: früh- bis spätmittelalterliche Töpfereien; mittel- G Sichtbezüge zum Siebengebirge, zum Kölner Dom, alterliche Burgen und Ortschaften, Klöster; mittelalterli- zu Schloss Falkenlust, zum Michaelsberg in Sieg- che, neuzeitliche Burg und Stadt Brühl; barocke kurfürst- burg und zu Schloss Bensberg, insbesondere vom liche Schlösser Augustusburg und Falkenlust (Weltkultur- Vorgebirge aus. erbe mit umgebendem Ausstrahlungsbereich). G Schloss Heltorf in Düsseldorf-Angermund. G Niederkassel (KLB 19.11): jungsteinzeitliche Sied- lungsplätze; metallzeitliche und kaiserzeitlich-germa- G Ortskerne von Köln-Worringen, Köln-Flittard, Köln-Hitdorf. nische Siedlungsplätze; fränkische Gräberfelder; frühmittelalterliche Siedlungsplätze. G Schloss Morsbroich in Leverkusen.

G Bonn (KLB 19.12): römisches Lager mit Vorstadt, Zivil- stadt, Siedlungsplätze, Wasserleitung, Töpfereien; Ab- Leitbilder und Ziele schnitt der römischen Limesstraße; spätantike Gräber- felder; frühmittelalterliches Münster; mittelalterliche Kir- G Kulturlandschaftliche Konflikte ergeben sich durch groß- che Schwarzrheindorf; mittelalterliches Kloster Vilich; flächige Maßnahmen wie z.B. Kiesabbau, rheinufernahe mittelalterliche und neuzeitliche Stadt, Schloss Clemens- Bebauungsverdichtung, Struktur- und Substanzverluste ruhe; Festung Bonn; ehemaliges Regierungsviertel. der historischen Kulturlandschaftselemente. Diesen Konfliktpotenzialen soll entgegen gewirkt werden. G Neuss (KLB 19.13): römisches Lager mit Vorstadt; römi- sche Zivilsiedlung, Gräberfelder, Straßen; Abschnitt der G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler,

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 19 // Rheinschiene

Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt- kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Ein kulturlandschaftliches Leitbild ist die Beibehaltung der Maßstäblichkeit in der Flusslandschaft.

G Offenhaltung des Auenbereiches.

G Sicherung und Vernetzung der rechtsrheinischen Heideterrasse.

G Beibehaltung der linearen Siedlungsstruktur.

G Einschränkungen der Ausdehnung des Kiesabbaus.

G Das kulturlandschaftliche Leitbild bezieht sich auf die Bewahrung der Ablesbarkeit unterscheidbarer urbaner und suburbaner Funktionsbereiche mit kulturlandschaft- lich bedeutsamen Stadtkernen, Expansionsachsen des 19. Jahrhunderts, Industriegürteln mit Verkehrsknoten- punkten und Gewerbeflächen. Es ist darauf zu achten, dass diese Funktionen räumlich unterscheidbar bleiben und sich nicht miteinander vergesellschaften wie z.B. die Übergänge von Gewerberandsiedlungen und ein- stöckigen Einfamilien-Reihenhaussiedlungen.

G Urbanes städtisches mehrgeschossiges Bauen ist zu fördern, während das Zusammenwachsen der Städte in den Außenbereichen verhindert werden muss.

260 G Die vorhandenen Frei- und Grünlandflächen sind zu erhalten.

G Erhalt der Erlebbarkeit der Landmarken.

G Schutz der archäologisch bedeutsamen Bereiche vor Bodeneingriffen und Bodensubstanzverlusten.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt- kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Erhalt und Pflege der Rheinbrücken auch als Land- marken.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land 6.2

Kulturlandschaft 20 // Trotz der Tatsache, dass viele typische Merkmale des Niederbergisch-Märkisches Land Bergischen Landes im Bereich Ratingen, Velbert, Rem- scheid, Wuppertal und Sprockhövel vorhanden sind, wird dieser Raum aufgrund der jüngeren Siedlungsdichte, der Lage und Abgrenzung Gewerbe- und Industriestruktur sowie der Infrastruktur als Ballungsraum vom Bergischen Land abgegrenzt. Die Kulturlandschaft „Niederbergisch-Märkisches Land“ umfasst den Kreis Mettmann, den Nordteil des Ennepe- Zusammen mit den Seitentälern und den umgebenden Ruhr-Kreises (mit Ausnahme der südlich gelegenen Stadt Höhen bilden das Ennepetal, das untere Volmetal sowie Breckerfeld und des Gebietes der Stadt Witten nördlich der das mittlere Ruhrtal spätestens seit dem 17. Jh. eine eng Ruhr) und des Märkischen Kreises, das Gebiet der Stadt verflochtene Wirtschaftseinheit. Wuppertal und weite Teile der Städte Hagen, Remscheid und Solingen sowie aus dem Kreis Unna die Stadtgebiete von Schwerte und Fröndenberg. Naturräumliche Voraussetzungen

Das „Niederbergisch-Märkische Land“ wird im Norden Das bewegte Hügelland südlich von Wuppertal besteht durch den Agglomerationsraum Ruhrgebiet, im Westen aus langgestreckten Höhenrücken und runden Kuppen, durch die Rheinschiene und im Süden und Südosten steigt im Süden bis auf 300 m ü. NN an und entwässert nach durch das Bergische Land und das Sauerland begrenzt. Norden zur Ruhr und nach Westen zum Rhein hin. Im Nordwesten ist der Übergang zu den Hellwegbörden als fließender Korridor zu verstehen. Auf stark gefalteten devonischen und karbonischen Gesteinen lagern sandig-lehmige Verwitterungsböden Die Kulturlandschaft „Niederbergisch-Märkisches mit Gesteinstrümmern, auf den Talsohlen feinsandige Land“ ist primär als Wirtschaftsraum definiert. Hier war und lehmige Böden. im Tagebau Steinkohle abbaubar. Mit seiner langen Tra- dition der Metall- und Textilverarbeitung hatte der Raum Im Westen bilden die Velberter Höhen eine deutlich einen wesentlichen Anteil an der Frühindustrialisierung Stufe, die die Wasserscheide zwischen den nach Westen in Nordrhein-Westfalen. und den nach Norden fließenden Gewässern bildet. Zahl-

Wetter 261 Foto: LWL/C. Bonatz  Kap_6_2_KL_20.qxp 07.11.2007 17:52 Seite 262

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land

reiche Bäche fließen von den südlichen Höhen durch und Eisenzeit genannt sei. Besonders erwähnt seien je- ebene feuchte Talsohlen mit steilen, z.T. terrassierten doch die eisenzeitlichen Höhlenfunde um Hagen. Hängen rippenartig der Ruhr zu. Südlich wird die Land- schaft durch den Haßlinghauser Rücken von der Wupper- Das Mittelalter ist durch zahlreiche Oberflächenfunde Ennepe-Senke getrennt, zu der er in deutlichen Terras- geprägt; wichtige Wallburgen liegen im Raum Hagen. Ei- senstufen hin abfällt. sen- und Galmeiverhüttung spielte eine Rolle.

Insgesamt fällt die Landschaft von Hagen bis Mettmann Wülfrath ist eine der ersten Rodungssiedlungen im frühmit- von etwa 300 m ü. NN auf 100 m ü. NN ab. Sie ist im Nord- telalterlichen Reichsforst. Der Ortsname wurde schriftlich ge- osten überwiegend mit Wald bedeckt, während sich im gen Ende des 11. Jahrhunderts erstmals erwähnt, die Stadt- Südwesten ein abwechslungsreiches Bild aus Grün- und geschichte lässt sich jedoch bis ins 8. Jh. zurückverfolgen. Ackerland zeigt, wobei das Grünland leicht überwiegt. Eine lange Phase mit fast ausschließlich landwirtschaft- Der westfälische Teil der Kulturlandschaft „Niederber- licher Orientierung, überwiegend im Bereich der Selbst- gisch-Märkisches Land“ wird bestimmt durch die west- und Nahversorgung, wurde durch das Einsetzen der In- östlich verlaufenden Talabschnitte von Ennepe und Ruhr. dustrialisierung um 1860, insbesondere im nördlich an- Die Ennepe mündet bei Hagen in die Volme und jene schließenden Ruhrgebiet mit einer Ausstrahlung auf die wiederum in die Ruhr. benachbarten Räume und dementsprechenden Agglo- merationsprozessen, abgelöst.

Geschichtliche Entwicklung Dies hat zu einer steten Verkleinerung der agraren Nutz- fläche seit 1860 geführt. Die Landwirtschaft war traditio- Während der älteren und mittleren Steinzeit durchstreifte nell auf Selbstversorgung ausgerichtet und durch die Kli- der Mensch diese Region. Vor allem entlang der Gewässer ma- und Bodenverhältnisse im Osten eher extensiv und finden sich immer wieder Fundstellen auf den alten Terras- wenig ergiebig. Seit 1500 dominierte im westlichen Teil senflächen. Jüngste Funde zeigen auch die Nutzung auf des Niederbergischen Landes der Getreideanbau, wäh- höheren mit Löss bedeckten Lagen so um Fröndenberg, rend Viehzucht eine geringere Bedeutung hatte. Daneben aber auch der Höhlen im Kalkgebiet um Hagen. Im Nean- entwickelte sich die Pferdezucht zu einem wichtigen Er- dertal der Düssel liegt einer der wichtigsten urgeschichtli- werbszweig, in größerem Umfang gesichert für das 18. Jh., chen Fundplätze, der menschliche Anwesenheit im Kon- wobei einige Gestüte noch heute tätig sind. Ein weiteres 262 text einer Jäger- und Sammlerkultur dokumentiert. Element diesbezüglich ist die Pferderennbahn in Ratin- gen, die somit an diese Tradition anknüpft. In der folgenden jüngeren Steinzeit wurde der Mensch sesshaft und nutzte regelmäßig den westfälischen Teil der Der im Westen liegende heutige Düsseldorfer Stadtwald Region mit seinen Lössflächen, so im Raum Schwerte- ist ein überliefertes geschlossenes Waldgebiet und hatte Fröndenberg. Einzelne Funde stammen auch aus den bereits im 18. Jh. eine wichtige Naherholungsfunktion für Höhlen. Steingeräte bestehen mitunter aus Gesteinen ent- Düsseldorf. Das Waldareal datiert in seiner Ausdehnung fernter Gebiete wie Süddeutschland und Norditalien. bis in vorkarolingische Zeit (vor 800 n. Chr.), Ratingen wird ausdrücklich im 8. Jh. als waldfreies Gebiet hervorgeho- Im Osten des Niederbergischen Landes herrschen schluf- ben, dementsprechend ist die Waldgrenze seit etwa 1.000 fige Lehmböden vor, die scheinbar für eine Besiedlung in Jahren konstant und markiert den Übergangsraum vom der Bronze- und Eisenzeit wenig geeignet waren. Bislang fränkischen zum sächsischen Altsiedelland. gibt es keine Hinweise für eine landwirtschaftliche Nutzung dieser Böden durch den vorgeschichtlichen Menschen. Im Raum östlich der Linie Velbert-Wülfrath-Mettmann-Er- krath wurde seit dem 18. Jh. die Viehwirtschaft intensiviert. Hingegen ist der westliche Randbereich des Hügellan- Deshalb ist von einem unterschiedlichen Nutzungsgefüge des von Löss bedeckt, der für eine landwirtschaftliche auszugehen, prägend für das jeweilige Landschaftsbild: im Nutzung bestens geeignet war und in der jüngeren Bron- Westen die Getreideanbauzone und im Osten Viehhaltung zezeit und der Eisenzeit agrarisch genutzt wurde. Die mit historischer Waldweide und kleineren Grünlandanteilen. westlichen lössbedeckten Randbereiche zeigen eine ge- ringfügige Besiedlung in dieser Zeit. Einige Flurnamen weisen auf ehemalige Einhegungen, insbesondere durch Hecken hin, vermutlich innerhalb ei- Grabhügel aus dem Raum Hagen-Schwerte-Frönden- nes Kampensystems mit Viehtriften. Die Schafhaltung wur- berg lassen sich nur allgemein an das Ende der jüngeren de u.a. in Heidearealen betrieben. Somit ist das Nutzungs- Steinzeit und die frühe Bronzezeit datieren, sind heute system in diesem Raum gekennzeichnet von Bauernwäl- aber durch den modernen Ackerbau z.T. stark gestört. dern und Rodungsbereichen um die Höfe.

Vom Ende der Bronzezeit stammt das bekannte Dieses Landschaftsbild wiederum veränderte sich im Schwert-Depot aus Hagen-Vorhalle, das stellvertretend für Laufe des 20. Jahrhunderts durch Umwandlung von die insgesamt geringen Siedlungsnachweise der Bronze- Äckern in Grünland und die Aufgabe der Waldweide so-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land 6.2

wie der Niederwaldnutzung. Die Waldflächen erhielten ei- scheint der weiter nach Osten verlaufende Zweig (heute ne neue Funktion als Erholungsraum. B 7) dieser Straße älteren Datums zu sein.

Neben der Landwirtschaft spielte das im Mittelalter ein- An beiden Straßen liegen bei Altenessen und Mettmann setzende Eisengewerbe eine wichtige wirtschaftliche Rolle. karolingische Aufmarschburgen gegen die Sachsen im In den Quellmulden und an den Bachläufen haben sich bis Osten. Urkundlich wird dieser Straßenzug erstmals 1065 heute Eisenschlackenhalden und andere Relikte erhalten. erwähnt. In dieselbe Kategorie von Wegeverbindung nach Das entweder obertägig als Raseneisenerze oder mithilfe Osten passt der Hilinciweg (heute B 227), der ebenfalls von von Schürffeldern aus Gräben und Löchern gewonnene Neuss über Ratingen-Heiligenhaus nach Hattingen an Rohmaterial wurde in Rennöfen ausgeschmolzen. Die Ver- den Hellweg führte. Dieser wird schon 875 urkundlich er- hüttungstätigkeit war stellenweise sehr intensiv, so zwi- wähnt. Eine direkte West-Ost Verbindung verlief von Haus schen der Wupper-Ennepe-Mulde und der Ruhr. Bürgel durch die Vohwinkeler Senke über Hilden, Haan, Wuppertal, Schwelm nach Hagen und weiter an den Hell- Die Wasserkraft der Fließgewässer war ein naturräumli- weg (heute B 228, B 7). Dieser Zug könnte auch schon cher Gunstfaktor, deren Nutzung zum Betrieb der ersten seit dem 9. Jh. genutzt worden sein. All diese Straßenzü- Öfen und für die Eisenverarbeitung landschaftswirksam ge spiegeln den Versuch wieder, direktere Handelsbezie- war. Die Wasserkraft war vorindustriell der entscheidende hungen von Köln aus nach Osten zu knüpfen. Energiefaktor und die Bach- und Flussläufe bildeten die Keimzellen der späteren Herausbildung der charakteristi- Die Schiffbarmachung der Ruhr durch Buhnen und schen Industriegassen entlang der Flüsse und Talungen. Schleusenanlagen seit 1776 bis Langschede (Fröndenberg) schuf einen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts bedeut- Die Wasserkraft der Wupper diente, der im Solinger samen Transportweg für Massengüter (primär Salz und Koh- Raum seit dem Mittelalter und vor allem in der Neuzeit le). bedeutenden Eisenindustrie, für den Betrieb von Schleif- mühlen. Bereits im 14./15. Jh. entwickelte sich im bergi- Verbessert wurde das schon in der frühen Neuzeit schen Raum ein Schwerpunkt der Eisenverarbeitung he- dichte Netz an (bevorzugt Höhen-)Wegen, sowohl was die raus. Hervorzuheben ist z.B. Solingen als Zentrum der lokal bedeutsamen „Kohlenwege“ als auch die Chaussie- Schwert- und Klingenfabrikation sowie Remscheid mit rungen der überregional bedeutsamen Verbindungen Werkzeugindustrien. Neben der Holzköhlerei für die (z.B. 1794 Köln-Berliner Straße; 1794 Siegen-Kleve; 1807 Ha- Rennöfen erlangte schließlich die Steinkohlengewinnung gen-Iserlohn; 1849 Volmestraße) betraf, die zumeist bis für die industrielle Stahlproduktion eine große Bedeu- heute den Rang von Bundesstraßen behielten. 263 tung, verbunden mit dem Eisenbahnausbau als infra- struktureller Voraussetzung. Die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse brachten den Orten an den Kreuzungspunkten von Straße und Das Schwarzbachtal weist mit Relikten verschiedener Wasser, die seit alters den Austausch zwischen Hellweg- Gruben der Kalk-, Sand-, Tonschiefer- und Kiesgewinnung zone (agrarische Produkte) und Bergland (gewerbliche Spuren historischer Ressourcengewinnung des 18. und 19. Produkte) vermittelten, rasch neuen Aufschwung (z.B. Jahrhunderts auf; berühmt war der Abbau von grauge- Kornmärkte in Herdecke, Schwerte). flammten Marmor in Ratingen. Die Planungen einer Bahnverbindung von Elberfeld an Bereits vor der Entwicklung des Bergbaus und der Erz- den Rhein gehen auf das Jahr 1832 zurück, um für die verhüttung entstand ab der karolingischen Zeit ein Netz Produktion der Baumwollspinnereien im Bergisch-Märki- von Handelswegen und -straßen, welches das Niederber- schen Land kostengünstig die Rohprodukte anliefern zu gische Land im Innern erschloss und mit den Nachbarre- können, die aus Übersee im Düsseldorfer Hafen eintrafen. gionen verband. Erste datierbare Bezugspunkte erhalten Nach Gründung der Düsseldorfer-Elberfelder Gesellschaft ergeben sich mit den Abtei- und Stiftsgründungen von 1835 erhielt diese 1837 die Konzession zum Bau einer Werden (801), Essen (850) (beide in der Kulturlandschaft normalspurigen Eisenbahn. Es musste eine Steilstrecke „Ruhrgebiet“) und Gerresheim (vor 870) (in der Kulturland- zwischen Erkrath und Hochdahl errichtet werden, die schaft „Rheinschiene“). kurzzeitig mit einem Seilbetrieb betrieben wurde, während der Abschnitt nach Elberfeld zwar enge Kurven, aber Diese Neugründungen wurden durch Straßen mit den kaum Gefälle aufweist. Der Abschnitt bis Erkrath wurde Altsiedlungen am Rhein (Neuss und Köln in der Kulturland- 1838 eröffnet. Die Steilstrecke von Hochdahl nach Erkrath schaft „Rheinschiene“) verbunden. Die strata Coloniensis eröffnete man 1841. Dieser Steilstreckenbetrieb bestand verlief von Köln über die alte Limesstraße und querte bei bis 1927, die Umlenkrolle ist noch als Denkmal vor Ort er- Neuss über eine Furt den Rhein. Gerresheim, Hubbelrath halten. Die Fortsetzung der Bahnlinie nach Elberfeld wur- und Mettmann waren weitere Siedlungen, die passiert de 1841 dem Betrieb übergeben. wurden, bevor die Abtei Werden erreicht werden konnte. Dort war die Straße in den Zug des Hellweges nach Os- Das Tal der Wupper wurde noch durch mehrere Linien ten eingebunden. Dieser Nordschwenk nach Werden der großen privaten Bahngesellschaften erschlossen. Dazu macht erst mit der Gründung der Abtei einen Sinn, daher gehört die Strecke der Rheinischen Bahn von Düsseldorf

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land

über Neandertal-Mettmann nach Wichlinghausen. Diese gen-Kohlfurth dient als Bergisches Straßenbahnmuseum. wird im westlichen Abschnitt bis Mettmann sehr erfolg- Ein Rest der Verbindung der Mettmanner Straßenbahn reich von der Regiobahn GmbH betrieben, während der zwischen Wülfrath und Mettmann ist noch als Damm vor- östliche Abschnitt bis Gevelsberg-Hagen bereits aufge- handen; hierbei handelt es sich um eine der ersten Stre- geben wurde. Von den ehemaligen Nord-Süd Verbindun- cken der sog. Schnellstraßenbahnen aus den 1930erJah- gen ins Ruhrgebiet existiert nur noch die Linie über Nevi- ren, die auf besonderem Gleiskörper und mit besonderer ges-Langenberg, die Strecken über Velbert und Sprock- Streckenführung schnelle Verbindungen zwischen den hövel sind aufgegeben bzw. nur noch mit Güterverkehr Orten herstellen sollten. In Solingen hat sich der Oberlei- belegt (z.B. Kalktransporte von Wülfrath). Bei der heutigen tungsbus erhalten (in Deutschland sonst nur noch in Ebers- S-Bahnlinie 9 handelt es sich um die ehemalige „Prinz- walde und Esslingen). Berühmt ist hier die „Drehscheibe“ Wilhelm-Bahn“ (ab 1831 im Deilbachtal). Nach Süden gab an der Endstelle von Burg: wegen des beengten Platzes es aus Wuppertal Verbindungen nach Cronenburg, Rem- konnte keine Schleife erbaut werden, so werden die Bus- scheid, Radevormwald-Wipperfürth/Lüdenscheid und se auf einer Drehscheibe gewendet, ein weltweit einmali- nach Köln (heute ICE-Strecke). ges verkehrstechnisches Denkmal.

Die berühmte Müngstener Brücke liegt an der Strecke Das bedeutendste Denkmal des schienengebundenen Ohligs-Solingen-Remscheid-Oberbarmen, die 1897 er- Verkehrs in Nordrhein-Westfalen ist die weltweit einmalige öffnet wurde. Die Müngstener Brücke ist mit 107 m auch Wuppertaler Schwebebahn. Wegen der beengten Verhält- heute noch die höchste Stahlgitterbrücke Deutschlands. nisse im Tal der Wupper und des starken Verkehrs, der mit Sie ist 465 m lang. Pferdebahnen nicht mehr zu bewältigen war, wurde ab 1898 die an einer Schiene hängende Bahn errichtet. Entwi- Nachdem es bereits seit dem späten 18. Jh. mehrere in ckelt wurde die Technik von C. E. Lange, auf dem Werks- ihren Trassen noch ablesbare pferdebetriebene Kohlebah- gelände von v.d.Zypern & Charlier in Köln wurden die Pro- nen gegeben hatte, setzte die Erschließungen durch die totypen gebaut; Teile dieser Vorläuferanlagen sind hier Eisenbahn mit dem Bau der Strecke Düsseldorf-Hagen noch vorhanden. Zur Planung und Errichtung der Eisen- 1841 - 1849 durch die Bergisch-Märkische-Eisenbahnge- konstruktionen von Stützen und Brückenteilen beauftragte sellschaft und wenig später mit der parallel geführten Kon- man die Dortmunder Union, Harkort in Duisburg, die Gute- kurrenzstrecke der Rheinischen Bahn, ein. Als Nord-Süd- hoffnungshütte in Oberhausen und MAN in Mainz-Gus- Verbindung ist die 1862 eröffnete Ruhr-Sieg-Bahn Hagen- tavsburg. 1901 wurden erste Abschnitte eröffnet, die Ge- Haiger wichtig. Neben zahlreichen weiteren das Netz ver- samtstrecke Vohwinkel-Oberbarmen war 1903 vollendet. 264 dichtenden Strecken entstand seit 1898, in der nunmehr Betriebsbahnhöfe gab es an beiden Endpunkten. stark besiedelten Region, ein überörtliches, ebenfalls heu- te noch existierendes elektrisches Straßenbahnnetz von Hervorzuheben sind die Städte und dörflichen Großsied- Witten-Bommern über Witten nach Castrop mit Nebenstre- lungen, die mit ihrer Siedlungsgeschichte als zugehörige cken nach Hattingen und Herdecke. Bestandteile die Kulturlandschaft „Niederbergisch-Märki- sches Land“ prägten, da hiervon Verdichtungsprozesse Von Wuppertal aus wurden ab Ende des 19. Jahrhun- ausgingen, die das heutige Landschaftsbild erklären. Hier- derts zahlreiche Straßenbahnverbindungen innerhalb des bei ist den Städten gemeinsam, dass sie einen starken Ex- Tales und in das Umland erstellt. Besonderheiten sind die pansionsschub im 19. Jh. erfuhren, nachdem sie vor der langen Überlandstrecken, die teilweise zusammen mit industriellen Spezialisierung in ihrer Ausdehnung wesent- mehreren Verkehrsbetrieben befahren wurden. Hierzu ge- lich kleiner und funktional stärker agrarisch geprägt waren. hören Verbindungen nach Hilden-Benrath (Anschluss an die Die extremen Hanglagen, begleitend zur Wupper, boten Düsseldorfer Rheinbahn), Wülfrath, Mettmann-Grafenberg für die ackerbauliche Nutzung keine günstigen Vorausset- (Mettmanner Straßenbahn, Anschluss nach Düsseldorf), Nevi- zungen, so dass die Waldbedeckung und Waldnutzung ges-Velbert-Heiligenhaus/Werden, Neviges-Langenberg- bis heute vorherrschend blieb. Die Rodungssiedlungen Hattingen/Steele (Anschlüsse an die Essener und Bochumer und vereinzelte Höfe auf den Höhen haben lediglich insel- Straßenbahnen), Hiddinghausen, Remscheid (Anschluss an artig in die geschlossenen Waldgebiete eingegriffen. die Remscheider Straßenbahn, betrieben 1893-1969) und So- lingen (Anschluss an die Solinger Straßenbahn, betrieben Bis 1225 war das System der weltlichen und geistlichen 1897-1969). Auf letzterer Strecke gab es einen 188 m lan- Grundherrschaften ausgebildet. Besondere Bedeutung gen Straßenbahntunnel (Stöckerbergtunnel). Einen weiteren besaßen aus dem Rheinland die Abtei Werden und das Tunnel gab es auf der Strecke von Elberfeld nach Licht- Kloster Beyenburg sowie die westfälischen Stifte Herde- scheid, 1902 eröffnet: den Gelpetaltunnel, 258 m lang, heu- cke, Gevelsberg und Fröndenberg. Zunächst gehörte das te noch vorhanden, aber verschlossen. Dieses Netz wurde Gebiet südlich der Ruhr zur Grafschaft Berg, seit deren bis in die 1930er Jahre kontinuierlich ausgebaut. Diese Ver- Teilung 1160 zur Grafschaft Mark, die, ergänzt um kleinere bindungen wurden nicht nur im Personenverkehr, sondern Herrschaftsbezirke, 1398 aus dynastischen Gründen mit auch im Güterverkehr genutzt, in Kriegzeiten auch als Er- dem Herzogtum Kleve vereinigt wurde, und 1609/1616 an satz für gestörte Eisenbahnverbindungen. Brandenburg-Preußen gelangte. Nach der Reformation bekannte sich die Bevölkerung überwiegend zum Luther- Ein Abschnitt der Wuppertaler Bergbahnen bei Solin- tum. Nach 1816 bildete die Region einen Teil der Provinz

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land 6.2

Westfalen mit dem Regierungssitz in Arnsberg. telalter bis ins 19. Jh. im Tagebau von Köttern, seit der Ein- Die Siedlungsstruktur ist – entsprechend der Topogra- führung von Maschinen und der Entwicklung neuer Ab- phie und der Bodengüte – uneinheitlich. Während die grö- bautechniken bergmännisch im Tiefbau betrieben wurde, ßeren Täler Voraussetzungen für die Anlage/Entstehung eine bedeutende Rolle. auch größerer Siedlungen (Kirchdörfer z.B. Boele, Dahl, Vo- erde, Wengern) boten, ließen die Höhenlagen nur eine sehr Mit Entstehen der großen Industriewerke verdichtete sich lockere Besiedlung zu. Hier lagen die Einzelhöfe oder Wei- die Bebauung, insbesondere in den Tälern, zu heute fast un- ler in der Nähe von obertägig abbaubaren Steinkohlenflö- unterbrochenen Siedlungsbändern. In Schwerte wurde die zen oder wassergetriebenen Produktionsstätten. Aufgrund Siedlung des Eisenbahnausbesserungswerks von 1922 an- der kargen Böden herrschten Kleinbetriebe (ca. zwei ha) gelegt. Generell entstanden in den 1920er und 1930er Jah- vor; die gewerblichen Verdienstmöglichkeiten im Bergbau ren vermehrt „bodenständige“ Siedlungen aus kleinen Häu- und in den Hammerwerken hatten deshalb zentrale Be- sern (Herdecke, Habig-Siedlung). Aus kleinen Siedlungsker- deutung. Viele der bedeutenderen Siedlungen entwickel- nen wuchsen neue Städte (Gevelsberg, Haspe); Hagen ten sich in Anlehnung an die Stifte (Herdecke, Fröndenberg) wuchs zur Großstadt und zum Oberzentrum der Region. und Burgen (Freiheiten Volmarstein, Wetter). Mit diesem Wachstum gewannen Energiewirtschaft Schwelm und Schwerte als einzige spätmittelalterliche und Wasserversorgung im Bereich der Ruhr, die in ein Stadtgründungen verdanken ihre Stadtwerdung der Ver- überregionales Konzept eingebunden wurde, an zusätz- kehrslage und dem Gewerbe. Wie die Stiftsdörfer und licher Bedeutung. Die Ruhrstauseen im Gebiet dieser Burgfreiheiten erhielt auch der Flecken Hagen erst relativ Kulturlandschaft, Hengsteysee (1929), Harkortsee spät 1746, im Zuge des Industrialisierungsprozesses, (1931), dienen dazu, das Wasser durch biologische Pro- Stadtrechte. Eine besondere Stellung nimmt die einstige zesse zu reinigen und das Wasserangebot der Ruhr zu Freiheit des Reichshofes Westhofen unterhalb der Syburg regulieren. Zur Wasserwirtschaft gehören auch die Ruhr- ein, die mit einem Kranz kleinerer Adelssitze aus karolingi- wiesen, aus denen Wasser als Uferfiltrat gewonnen wird. schem Königsgut hervorgegangen war. Darüber hinaus dienen die beiden Seen der Stromerzeu- gung durch Turbinen. Mit dem Hengsteysee ist zudem Entscheidend für die Entwicklung und Prägung der Kultur- ein gleichzeitig mit der Anlage des Sees errichtetes landschaft „Niederbergisch-Märkisches Land“ waren einer- Pumpwasserkraftwerk verbunden; am Harkortsee stand seits die oberflächennah abzubauenden Vorkommen von bis 2005 das bereits vor der Anlage des Sees 1908 er- Kohle und Erz sowie andererseits der Energiereichtum so- öffnete mit Kohle betriebene Cuno-Kraftwerk, dessen wohl an Holz als auch an Wasserkraft. Nachdem diese zum Kesselanlagen erhalten geblieben sind, während das 265 Betrieb von Schmieden und Hämmern genutzt werden konn- Kraftwerk selbst vollständig neu errichtet wurde. Einge- te, entstand in den Tälern eine eisenverarbeitende Kleinin- bunden in dieses Energie- und Wasserkonzept ist der dustrie, die, nach einer Phase des Niedergangs im 17. Jh., schon in den 1920er Jahren beabsichtigte Tourismus, im 18. Jh. erneut einen Aufschwung nahm, der bis heute an- hält. An weiteren Wirtschaftszweigen spielen die hauptsäch- lich in Schwelm und Herdecke angesiedelte Tuchproduktion Harkortsee bei Wetter und die Bandwirkerei (nach 1945 aufgegeben) sowie seit  Foto: LWL/C. Bonatz dem 15. Jh. der Abbau des qualitativ hochwertigen Ruhr- sandsteins und der Grauwacke eine bedeutende Rolle.

Voraussetzung des Aufschwungs nach dem Siebenjäh- rigen Krieg war die preußische Wirtschaftsförderung, die mit der Ansiedlung von Klingenschmieden in Hagen-Eil- pe 1666 schon einen frühen Vorläufer hatte, sowie ein ra- dikales Sanierungs- und Modernisierungsprogramm in Produktion und Verwaltung, die der Freiherr vom Stein, der ab 1784 das westfälische Oberbergamt mit Sitz in Wetter leitete, durchsetzte.

Maßgebend für die Siedlungsverdichtung war der enor- me wirtschaftliche Aufschwung im Industrialisierungspro- zess. Beginnend mit der Fabrik von Friedrich Harkort auf der Burg Wetter entwickelte sich in der Umgebung eine Maschinenindustrie, die hauptsächlich Maschinen für den Bergbau, unter anderem Fördermaschinen, produzierte und die teilweise noch heute, ebenso wie die hochspeziali- sierte eisenverarbeitende Industrie des südlichen Kreisge- biets, eine überregional führende Stellung inne hat. Bis in die 1950er Jahre spielte der Kohleabbau, der seit dem Mit-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land

der heute eine zunehmende Bedeutung gewinnt. selbst hat noch Spuren frühindustrielle Gewässernutzung Mit dem Zuzug von Ostflüchtlingen und dem industriel- bewahrt, ebenso ist der dortige hohe Grünlandanteil len Boom nach 1945 erreichte die bauliche Verdichtung durchsetzt von Gehölzen und Baumgruppen. neue Dimensionen. Zusätzliche Wohnviertel entstanden teilweise entfernt von den Arbeitsstätten, so dass die Sied- Südlich wird die Kulturlandschaft „Niederbergisch- lungsstruktur heute durch große Wohnquartiere an den al- Märkisches Land“ von der dicht bebauten Industriegas- ten Ortsrändern oder auch „auf dem freien Feld“ bestimmt se entlang von Ennepe und Wupper bis Solingen im wird, die von Pendlern in die nahen Großstädte Wuppertal, Landschaftsbild deutlich durch die dortige städtisch-in- Bochum, Essen und Dortmund bewohnt werden. Dabei dustrielle Agglomeration begrenzt. Die Städte des Krei- handelt es sich teilweise um Einfamilienhaus-, teilweise um ses Mettmann liegen entlang eines Halbkreises, der das verdichtete Wohnviertel mit Etagen- und Terrassenhäu- oben beschriebene Gebiet umrahmt. sern. Auch der Werkswohnungsbau wurde weitergeführt. Besonders eindrücklich in ihrer Vielfalt und Ausdehnung Das Landschaftsbild des Ruhrtals wird abschnittsweise sind die Wohnviertel der Nachkriegszeit in Herdecke-Ende. beherrscht von steilen, meist mit Wäldern bestandenen Hängen. Besonders von den Aussichtstürmen aus eröffnen sich eindrucksvolle Blicke über die überwiegend als Grün- Kulturlandschaftscharakter land genutzte Ruhraue, weite Bereiche nehmen auch die Stauseen ein. Oberhalb des Autobahnkreuzes Westhofen Innerhalb einer kulturlandschaftlichen Grobgliede- weitet sich das Ruhrtal und ist zwischen Schwerte und rung ist im Vergleich zu den umgebenden Großstadt- Fröndenberg meist von Wiesen und Weiden eingenommen. ballungen die Siedlungsdichte geringer. Auffällig sind noch vorhandene Offenlandflächen im Landschaftsbild, Auf den Bauernhöfen und Kötterstellen dominiert bis ins das insgesamt als ein Übergangsraum zwischen Ruhr- späte 19. Jh. das niederdeutsche Hallenhaus mit drei- gebiet und Bergischem Land mit dementsprechender schiffigem Wirtschaftsteil aus Fachwerk. Unter den ange- Vergesellschaftung jeweils regionaltypischer Strukturen sichts karger Landwirtschaft nicht eben zahlreichen Ne- charakterisiert ist. bengebäuden sind neben Backhäusern und einigen bruchsteinernen Speichern die Bohlenkonstruktionen Das Landschaftsbild verändert sich von Westen nach mancher Scheunen und der sog. Hafer-(= Korn-)kästen Osten. Westlich dominiert zunächst ein Waldgebiet mit his- als regionale Besonderheiten ebenso hervorzuheben wie torischen Einzelelementen, die für die Naherholung von unter den Dachdeckungen – in Stadt und Land gleicher- 266 Bedeutung sind. Nördlich des Schwarzbachtales liegt eine maßen – die einst sehr zahlreichen Natursteinplatten- und auffällige Dolinenlandschaft mit Einsturzkratern des unter Holzschindeldächer; letztere fanden auch als Wandver- der Lössdecke anstehenden Massenkalks. Diese stellt ei- kleidung Verwendung. Seit dem ausgehenden 18. Jh. ne charakteristische landschaftliche Eigenart aufgrund na- wird die Fachwerkbauweise durch den Massivbau ersetzt, turräumlicher Voraussetzungen dar. wobei für ein Jahrhundert das Bauen mit örtlichem Sand- stein für alle Funktionen – von der Scheune über den Daran wiederum schließt das Mettmanner Lösslehmge- Bergmannskotten bis zur gehobenen Gaststätte und zur biet an. In dieser wellig-hügeligen Agrarlandschaft domi- Villa – als prägnanter regionaler Baustil nahezu obligato- niert die landwirtschaftliche Nutzung. Insbesondere an risch und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom den Rändern der eingeschnittenen Täler gliedert sich das Backsteinbau abgelöst wird. Parallel dazu und im westfäli- Landschaftsbild stellenweise in kleinere Waldparzellen schen Vergleich erstaunlich früh wird das niederdeutsche oder in Waldstreifen. Die landwirtschaftlichen Betriebe lie- Hallenhaus abgelöst durch das reine Wohnhaus, das gen entweder als Einzelhof in Streulage oder sind in Hof- traufseitig aufgeschlossen und dessen Grundriss dreizo- gruppen verbunden. nig gegliedert ist. Bei der Einführung dieser Bauform ge- hen die ländlichen, nahe der Produktionsanlagen residie- Weiter östlich der Linie Velbert/Neviges ist der Waldanteil renden Unternehmerfamilien (z.B. Haus Harkort in Hagen- größer, obwohl insgesamt noch die landwirtschaftliche Westerbauer oder Haus Heilenbecke in Ennepetal-Milspe) Nutzung dominiert. Regionaltypisch sind die Kalkrandsied- schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts voran. Ein kul- lungen agraren Ursprungs und ein anderes Nutzungsgefü- turelles Gefälle zwischen Land und Stadt ist spätestens ge auch mit größeren Grünlandanteilen als im westlichen seit dieser Zeit in der Kulturlandschaft „Niederbergisch- Teil. Hecken und Gehölze sind in diesem Gebiet etwas Märkisches Land“ nicht zu konstatieren. zahlreicher vertreten. Die ebenfalls in Streulage oder in Hofgruppen liegenden landwirtschaftlichen Betriebe wech- Im Rahmen des Zusammenwachsens der alten, oft in seln mit nichtlandwirtschaftlicher Bebauung z.B. Ausflugs- Stadtstruktur und älteren Bauten gut überlieferten Sied- lokalen an Straßen zugehörig zu den größeren Waldarea- lungskerne entlang der Verbindungsstraßen dominieren len der Naherholungsgebiete. die Bauten des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, die sämtlich massiv und meistens mehrgeschossige, Zur nördlich angrenzenden Ruhrniederung ist der Be- verputzte Mietwohnhäuser sind, die in der Zeit des His- reich zwischen Angerbach und Ruhr durch Siedlungsver- torismus den zeittypischen, aufwändigen Dekor zeigen. dichtungen der Ortschaften geprägt. Der Angerbach Bedeutende Beispiele sind in allen Städten erhalten, in

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land 6.2

Schwelm teilweise in geschlossenen Vierteln. „Schwelmer Brunnen“, dessen Anfänge im 18. Jh. liegen In den im Zuge der Industrialisierung neu entstehenden und das noch mehrere Gebäude, darunter Brunnen, Bade- Ortschaften – wie z.B. die Hagener Ortsteile Haspe und und Logierhäuser sowie eine Parkanlage, umfasst. Weiter Wehringhausen – ist die historistische Architektur des spä- sind zu nennen: Ausflugsgaststätten (Herzkamp, Sprockhö- ten 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch sehr gut erhal- vel), ferner die Nutzung der Talsperren als Ausflugsziele. ten und bietet ein eindrucksvolles Gesamtbild der damals Auch die Umnutzung von historischen Stätten wie Steinhau- neu entstandenen Stadtstruktur. sen und Volmarstein sind in diesem Zusammenhang zu se- hen. Türme und Denkmäler sind in markanten Lagen neu Die verstädterten Zonen zeigen nicht nur die verschie- errichtet worden, z.B. in Hagen der Bismarckturm (1901), densten Produktions- und Verkehrsbauten. Eingestreut der Eugen-Richter-Turm (1911), der Kaiser-Friedrich-Turm sind Baudenkmäler aus früherer Zeit (Fachwerkbauten des (1910) und der Freiherr-vom-Stein-Turm (1869). 18. und klassizistische Sandsteinbauten des 19. Jahrhunderts), so dass weite Teile dieser Kulturlandschaft gegenwärtig ei- nen baulich eher amorphen Eindruck machen. Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche und -elemente Die zahlreichen, in einer dichten Kette entlang der Ruhr von Haus Werdringen (Hagen) im Osten bis zur Isenburg G Langenberg im Deilbachtal (KLB 20.01) ist ein typischer (Hattingen) im Westen errichteten Höhen- und Wasserbur- Standort der frühindustriellen Steinkohlenbergbaus. gen verloren spätestens im 18. Jh. ihre strategische Be- deutung. Sofern nicht als barocke Gutsanlage erneuert, G Das Angerbachtal (KLB 20.02) ist geprägt durch fossil- verfielen sie und wurden erst seit dem ausgehenden 18. Jh. führende devonische Kalke; die mittelalterliche Be- als Fabrikanlage (Burg Wetter) wiederbelebt oder im Zuge siedlung ist ein herausragendes Merkmal. Haus Crom- der Burgenromantik als malerische Ausflugsziele gesi- ford ist u.a. als Standort des Rheinischen Industriemu- chert. In der Tradition der Burgen über der Ruhr stehen ei- seums von Bedeutung. nige adeligen Häuser und Fabrikantensitze des 19. Jahr- hunderts (Häuser Mallinckrodt, Schede beide Herdecke). G· Das Neandertal (KLB 20.03) gilt als bedeutendste pa- läolithische Fundstelle Deutschlands. Die Bachland- Mit den Stiftskirchen von Herdecke (9. Jh.) und Elsey schaft mit Mühlen und Hofanlagen ist heute stark von (überformt) sind bedeutende mittelalterliche Kirchen erhal- der Kalkindustrie geprägt, aber dennoch von hoher ten. Auffällig groß ist die Zahl der Saalkirchen, die zwi- touristischer Bedeutung. schen 1728 und 1830 entstanden und meist ältere Kirche 267 ersetzten (Gevelsberg, Kirchende, Niedersprockhövel). Auf G Der Raum Wuppertal/Remscheid/Solingen (KLB heutigem Hagener Stadtgebiet wurden in Haspe und Boe- 20.04) stellt einen überaus komplexen Ausschnitt der le in den 1860er Jahren Kirchen im Geiste von Schinkels historischen Kulturlandschaft dar. Er enthält in hoher „Normalkirche“ als schlichte Saalbauten aus Sandstein mit Dichte und zum Teil unmittelbarer Nachbarschaft u.a. flachgeneigtem Satteldach, polygonaler Chorapsis und mittelalterliche und neuzeitliche Siedlungen (Rons- vorgesetztem quadratischem Fassadenturm errichtet. Von dorf, Cronenberg), Mühlen und Hammerwerke; Stand- den Kirchen des Historismus sind die ältesten die von orte neuzeitlicher Eisenverarbeitung, Standorte der Schwelm (evangelische und katholische Kirche). Aus der Textilindustrie bei Dahlerau sowie verkehrstechni- zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen eine ganze sche Besonderheiten. Aufgrund der industriege- Reihe von Kirchen, die das Wachstum der Städte bzw. da- schichtlichen Persistenz und Bedeutung ist dieser maligen Gemeinden und, da es sich in einigen Fällen um Raum insgesamt weit über das Land Nordrhein- katholische Kirchen handelt, die Einwanderung von Katho- Westfalen hinaus bemerkenswert. liken in das protestantische Gebiet bezeugen. Nach den Kriegszerstörungen bzw. mit dem in manchen Städten G Die Eisenbahnstrecke Düsseldorf-Elberfeld als älteste sprunghaften Anstieg der Bevölkerung nach 1945 entstan- Bahntrasse im Rheinland (KLB 20.05). den auch moderne Kirchen, die als prägend für die Kultur- landschaft gelten können. G In den Tälern der Ennepe und ihrer südlichen Zuflüsse wird die frühe gewerbliche Orientierung als Charakte- Wesentliche Elemente der Kulturlandschaft „Niederber- ristikum der Kulturlandschaft „Niederbergisch-Märki- gisch-Märkisches Land“ sind auch die bei den Herrenhäu- sches Land“ besonders anschaulich. Konstituierende sern angelegten Erbbegräbnisse, z.B. Harkort (Gut Schede, Merkmale aus dem Bestand an Baudenkmälern sind Herdecke) und auch großstädtische Anlagen wie der Fried- der Stadtkern Schwelm, die Adelssitze Ahausen, Mart- hof Am Berghang in Hagen-Delstern mit dem ältesten Kre- feld und Rocholz, der Schwelmer Brunnen und Unter- matorium in Preußen (1906/07). nehmersitze überwiegend aus dem 18. Jh. mit eisen- und textilgewerblichen Produktionsstätten (KLB 20.06). Trotz primär gewerblicher und industrieller Orientierung ist auch eine Prägung der Kulturlandschaft „Niederbergisch- G Das Ruhrtal (östlicher Abschnitt des KLB 14.31) mit konsti- Märkisches Land“ durch Einrichtungen von Erholung und tuierenden Merkmalen aus dem Bestand an Baudenk- Freizeit bemerkenswert. Ältestes Monument ist das Kurbad mälern: Hohensyburg mit Burg (ehemalige Wallburg, Burg-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 20 // Niederbergisch-Märkisches Land

ruine, Vincketurm, Kaiserdenkmal) und Dorf (mit Kirche, kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen. Kirchhof, Schule, ländlicher Bebauung); Hinterlassenschaf- ten frühen Bergbaus; Trasse der ehem. Zahnradbahn G Beibehaltung der Geschlossenheit der Waldflächen, (Bodendenkmal); Serpentinenstraße zum Hengsteysee z.B. entlang des Schwarzbachtales, im Tal der Wupper, mit Brücke (1920er Jahre); adelige Häuser Husen und in der Dolinenlandschaft, im Mettmanner Lösslehmge- Steinhausen, Burgen und Herrensitze Steinhausen, biet und im östlichen ehemaligen Waldweidegürtel. Kemnade; Dorfkern Wengern mit Pfarrkirche und Kirch- hofrandbebauung; Wannebachtal mit ländlicher Archi- G Bewahrung der differenzierten Siedlungsstruktur mit tektur überwiegend des 18. Jahrhunderts; Fabrikanlage Städten, Haufendörfern, Weilern und Einzelhöfen mit Lohmann. den Ackerflächen und zugehörigen Gärten, Obstwie- sen und Waldflächen. G Die mittelalterliche Straße Köln-Lennep-Schwelm (KLB 22.01) mit angrenzenden Siedlungen ist ein typi- G Offenhaltung der unbebauten Flächen mit Einzelhöfen sches Beispiel für einen Fernhandelsweg. und Weilern zwischen den Städten und Großdörfern.

G Die Bergische Eisenstraße als spätmittelalterliche We- G Konzentration der weiteren gewerblichen und indus- geverbindung (KLB 22.09) hat ähnliche Bedeutung er- triellen Entwicklung auf die bereits bestehenden Flä- langt wie die Brüderstraße. chen und Gebäude in den Industrie- und Gewerbegas- sen unter Bewahrung des industriekulturellen Erbes. G Die Wuppertaler Schwebebahn. G Bewahrung des agrarkulturellen Erbes in der rechts- G Die Bergisch-Märkische Eisenbahn von Oberbarmen rheinischen Börde um Mettmann. bis Dahlerau. G Sichern und Erlebbarmachen von Fernblicken und G Die berühmte Müngstener Brücke liegt an der Stre- Sichtbezügen. cke Ohligs-Solingen-Remscheid-Oberbarmen, die 1897 eröffnet wurde. G Erhalten und Vermitteln von historischen Elementen und Strukturen der Gewerbe- und Industriegeschichte G Spuren historischer Ressourcengewinnung (18./19. Jh.) (z.B. Mühlen, Hämmer, Bergbau, Steingewinnung, Verkehr). im Schwarzbachtal ( Kalk-, Sand-, Tonschiefer- und Kies). 268 G Nutzung der erhaltenen Wasserkraftanlagen für die Ge- G Der historische „Hilinciweg“ von Neuss zum Hellweg. winnung regenerativer Energie.

G Hammerwerke und Schleifkotten im Gelpetal, Itterbach- G Bewahrung von Teilen der Fossilvorkommen im Bereich tal, Lohbachtal, Morsbachtal sowie im Eschbachtal. des Remscheider Sattels und bei Wuppertal-Dornap/ Wülfrath/Neandertal vor dem Abbau von Kalkgestein. G Die Eschbachtalsperre und die Ronsdorfer Talsperre. G Erhalt und Pflege der verkehrstechnischen Denkmäler. G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne und Frei- heiten von besonderer historischer Bedeutung, insbe- G Bewahrung des industriekulturellen Erbes im Tal der sondere als Bodenarchiv, sind Barmen, Cronenberg, Wupper und in den Nebentälern. Elberfeld, Gräfrath, Hagen, Hasten, Herdecke, Hilden, Langenberg, Lüttringhausen, Mettmann, Neviges, Ra- tingen, Schwelm, Schwerte, Solingen, Velbert, Volmar- stein, Westhofen, Wetter und Wülfrath.

G Schloss Linnep und Schloss Landsberg in Ratingen sowie Schloss Lüntenbeck in Wuppertal.

G Die Eisenbahntrasse der Prinz-Wilhelm-Bahn in Velbert.

G Blickbeziehungen von den Turmdenkmälern im Ha- gener Becken und am Abstieg von der Sauerlandli- nie (A 45) in Richtung auf die Hohensyburg.

Leitbilder und Ziele

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 21 // Sauerland 6.2

Kulturlandschaft 21 // Sauerland Naturräumliche Voraussetzungen

Das gesamte Sauerland (Märkisches und Kölnisches Sau- Lage und Abgrenzung erland) ist als Mittelgebirge mit seinem bewegten Relief, der unterschiedlichen Bodenausstattung und den klimati- Die Kulturlandschaft „Sauerland“ ist als Bergland nach schen Höhenabfolgen ein Landschaftsraum, in dem die Norden durch den Höhenzug des Haarstrangs naturräumlich natürlichen Voraussetzungen stark die menschlichen Nut- gegenüber der ganz anders strukturierten Kulturlandschaft zungen beeinflusst haben. Das waldreiche Bergland sowie „Hellwegbörden“ und nach Süden durch den Gebirgskamm die offenen Kalksenken und die freien Hochebenen mar- des Rothaargebirges gegenüber den Kulturlandschaften kieren diese Kulturlandschaft. „Siegerland“ und „Wittgenstein“ sehr deutlich, nach Osten zum hessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg und nach Schon die Namen der Mittelgebirgszüge „Rothaargebir- Westen zur überwiegend rheinischen Kulturlandschaft „Ber- ge“, „Lennegebirge“ und „Ebbegebirge“ kennzeichnen gisches Land“ jedoch primär kulturhistorisch und hier insbe- das Bergland mit seiner hohen Reliefenergie. Die höchsten sondere territorial- und kirchengeschichtlich abgegrenzt. Erhebungen liegen auf über 800 m Höhe. Der Langenberg (843 m ü. NN) und der Kahle Asten (842 m ü. NN) sind die Die Kulturlandschaft „Sauerland“ ist aus denkmalkundli- höchsten Berge von NRW. Die Hänge des Berglands sind cher Sicht in zwei unterschiedliche Teilbereiche, im Westen von Siepen zerschnitten. Die Flusstäler sind steil einge- das „Märkische Sauerland“ und im Osten das „Kölnische schnitten und eng. Die Böden sind überwiegend karg und Sauerland“, gegliedert. an den Hängen flachgründig. Das Klima ist atlantisch ge- prägt mit erheblichen Niederschlägen und ausgegliche- Das Märkische Sauerland deckt sich weitgehend mit nen, oft kühlen Temperaturen. Die Hochlagen über 550 m dem heutigen Märkischen Kreis, jedoch ohne die Gebie- ü. NN sind das kühlste und niederschlagreichste Gebiet te der Städte Balve und Menden, die aufgrund ihrer his- von Nordrhein-Westfalen. Die spät im Jahresverlauf begin- torisch-konfessionellen Geschichte zum Kölnischen nende Vegetationsperiode ist sehr kurz. Die natürlichen Sauerland zugehören. Laubwälder wurden stark genutzt und devastiert. Heute werden Nadel- und Laubwälder forstlich bewirtschaftet. Das Kölnische Sauerland umfasst die gebirgigen Teile des einstmals zum Erzbistum Köln gehörigen Herzog- Die offenen Bereiche im Sauerland stehen im Gegensatz tums Westfalen. Es sind dies der heutige Hochsauer- und in der Ergänzung zum waldreichen Sauerländer Berg- landkreis (ohne die südöstlichen Teile, die die Kulturland- land. Oft besteht hier der geologische Untergrund aus 2 6 9 schaft „Medebacher Bucht“ bilden, und ohne die östlichen Kalkgesteinen. Die Böden sind relativ fruchtbar und leicht bzw. südwestlichen Teile, die der Kulturlandschaft „Bergi- zu bearbeiten. Die Hänge sind nicht sehr steil. Talräume sches Land“ zuzurechnen sind) und der Kreis Olpe sowie und morphologische Mulden sind weit ausgeräumt. Bis auf der südliche Teil des Kreises Soest und der östliche Teil Ausnahmebereiche ist die Höhenlage zwischen 100 m und des Märkischen Kreises. 450 m ü. NN. Das Klima ist dort gemäßigt. Die jährliche Wuchsperiode der Vegetation ist nicht stark eingeschränkt. Die Abgrenzung des Märkischen und des Kölnischen Die höher gelegene Briloner Hochfläche ist zwar klimatisch Sauerlandes ergibt sich primär aus der territorialen, seit rauher. Dieser Nachteil wird aber von der Bodengüte aus- der Reformation auch konfessionellen Grenze zwischen geglichen. Die natürlichen Voraussetzungen waren günstig dem katholischen kölnischen und dem evangelisch-luthe- für die Ansiedlung von Menschen. Die für den Ackerbau rischen märkischen Teil, der sich sekundär in einer unter- geeigneten Bereiche sind weitgehend entwaldet worden. schiedlichen gewerblich-industriellen Entwicklung und damit in einem deutlich unterschiedlichen Bestand an Baudenkmälern niederschlägt.

Das Märkische Sauerland weist als altes Gewerbeland mit einer auch heute florierenden Metallindustrie insbeson- dere in den Tälern eine überaus dichte Bebauung in zeitli- cher Mischung auf.

Das Kölnische Sauerland ist als eisengewerblicher, je- doch früh deindustrialisierter Raum charakterisiert. Die Bevölkerung hat sich hier ohne größeren Bruch im Refor- mationszeitalter weiterhin zum katholischen Glauben be- kannt. 1821 erfolgte die Zuordnung von der Erzdiözese Köln zur Diözese Paderborn.

Zahlreich waren einst die jüdischen Gemeinden insbe- Die Kulturlandschaft Sauerland sondere im Raum Marsberg.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 21 // Sauerland  Hochsauerland 270 Foto: LWL/M. Philipps

Geschichtliche Entwicklung wie die Grabung eines solchen Hügels mit den Resten ei- ner Baumsargbestattung nahe legen. Für die geschichtliche Entwicklung des Raumes ist mar- kant, dass hier die Keimzelle der Eisenindustrie des Ruhr- Im direkten Umfeld von Plettenberg findet sich die gan- gebietes liegt. Während Mittelalter und früher Neuzeit wurde ze Bandbreite der mittelalterlich-neuzeitlichen Raumnut- vor allem Eisen abgebaut und verarbeitet. Eine großflächige zung. Bergbau (vor allem Eisengewinnung) ist in Form von Waldwirtschaft stellte den benötigten Brennstoff Holzkohle Ober- und Untertageabbaustellen zahlreich belegt. Die sicher. Hammerwerke entstanden an den Bächen und Flüs- Verhüttung der Erze in mittelalterlichen Rennfeueröfen sen und dienten der Herstellung von Fertigprodukten. und jüngeren Hüttenanlagen findet sich in den Talberei- chen. Hohlwege, die vor allem als Nord-Süd-orientierte Die Abbaugebiete sind durch Pingenfelder und Stollen- Bündel im Wald erhalten sind, unterstreichen den Trans- systeme gekennzeichnet, die den Erzgängen folgten. Aus- port von Rohstoffen und Fertigprodukten in die Absatzge- geprägte Beispiele hierfür finden sich in dem Areal zwi- biete im Hellwegraum. Landwehren (Wall-Graben-Systeme) schen Altena und Lüdenscheid (Märkischer Kreis). Zudem dokumentieren den kleinterritorialen Schutz der Rohstoff- liegen hier zahlreiche Verhüttungsplätze, z.B. Rennfeuerö- vorkommen und die Zollerhebung. fen des Mittelalters. Diese Areale sind durch die ausgrei- fende Bebauung (z.B. Lüdenscheid) und das wilde Verkip- Südwestlich Sundern liegen ebenfalls größere Rohstoff- pen von Pingen stark gefährdet. vorkommen, die im Mittelalter und der Neuzeit ausgebeu- tet wurden. Vorhanden sind Blei- und Eisenerzgänge, die Ein in Mittelalter und Neuzeit intensiv genutztes Erzvor- durch Tage- (Pingen) und Untertagebaue (Stollensysteme) kommen (Eisen und Kupfer) liegt nordöstlich von Pletten- abgebaut wurden. Die meist im Wald liegenden Abbaua- berg (Märkischer Kreis) in Höhenlagen von 450 bis 550 m reale sind oft durch wildes Verkippen und intensive Forst- über NN. Zahlreiche Pingen und Stollensysteme belegen bewirtschaftung gefährdet. den damaligen Erzabbau. Wie weit dieser Abbau – auf Kupfer – zurückreicht (Bronzezeit?), ist ungewiss und Im oberen Ruhrtal haben sich im Laufe des Mittelalters durch Befunde bisher nicht geklärt. Grabhügel aus die- weltliche und geistliche Zentren von weit über das Flusstal sem Areal dürften jedenfalls in die Bronzezeit datieren, ausgreifenden Herrschaften gebildet. Am Beginn steht Me-

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schede mit seiner Burg und dem von den Grafen von Werl Die entsprechenden Abbaufelder sind heute für die fort- gegründeten Frauenstift des 9. Jahrhunderts. Im 11./12 Jh. schreitende Bebauung oftmals ein Problem. Die Bedeu- folgte als neues Zentrum der gräflichen Herrschaft die Burg tung Brilons während des Mittelalters und der frühen von Arnsberg, das mit dem Hauskloster Wedinghausen Neuzeit wird durch eine die Stadt weiträumig umgebende und der Stadtgründung Hauptsitz der gleichnamigen Graf- Stadtlandwehr unterstrichen, von der noch einige Wall- schaft wurde. Auch das flussabwärts gelegene Neheim ist und Grabenreste – oftmals in Waldgebieten gelegen – er- eine arnsbergische Gründung des 13. Jahrhunderts. In das halten sind. Hierzu gehören auch Warttürme, deren frühere Mittelalter reicht die Wallburg auf dem Fürstenberg Standorte weitgehend bekannt sind (einer ist aktuell durch zurück, die in verschiedenen Gestaltungsphasen vom einen Tagebau gefährdet). 9. bis zum 13. Jh. bestanden hat und als Stammsitz des für ganz Westfalen bedeutenden Adelsgeschlechts von Fürs- Das südlichste Kalkvorkommen in Südwestfalen um At- tenberg gilt. Anfänge einer Dynastenherrschaft lassen sich tendorn-Finnentrop-Lennestadt (Kreis Olpe) kennt bisher mit Burg und späterer Klostergründung auch in Scheda be- nur wenige Höhlenfundstellen mit steinzeitlichen Funden legen, ebenso auf Burg Ardey westlich von Fröndenberg, jedoch mit der Atta-Höhle ein großes Höhlensystem, das vom 13. Jh. an Hauskloster und Grablege von der Mark. auf das Potential verweist. In diesem Gebiet verbergen sich sicher noch unbekannte, urgeschichtlich genutzte Eindrucksvolle Reste ehemals wichtiger Verkehrs- und Höhlen und Schlotten mit Tierresten. Im Süden und Osten Handelswege im Mittelgebirge sind teils tief in den Unter- von Attendorn sind eine ganze Reihe von Hohlwegen be- grund eingekerbte, meist lineare Hohlwege. Diese ent- kannt, die auf die Stadt zuführen und z.T. den großen We- standen durch die lange Nutzung einer Trasse während getrassen Südwestfalens („Heidenstraße“) zuzurechnen Mittelalter und Neuzeit sowie durch die Erosion, die die sind. Nordwestlich und südöstlich liegen Abschnitte der Hohlwege immer weiter in den meist bergigen Untergrund Landwehr, die die Stadt umgab und den Zugang über die einfräste. Erst im frühen 19. Jh. wurden die alten Hohl- Straßen (sowie Zollabgaben) regelte. wegsysteme durch die „französischen“ Chausseen abge- löst. Hohlwege sind eine wichtige obertägige Denkmal- Südlich des Lühlingsbaches, östlich Alme (Hochsauer- gattung besonders des Mittelgebirgsraumes. Zwischen landkreis), sind in den vergangenen Jahrzehnten großflä- Möhne und Ruhr südöstlich des Möhnesees (Kreis Soest) chige Siedlungsplätze des Mittelalters (Wüstungen) ent- liegen mehrere Bündel Nord-Süd-orientierter Hohlwege, deckt worden, die auf eine intensive Besiedlung hinwei- die alte Verbindungstrassen des südwestfälischen Berg- sen. Ursächlich verantwortlich hierfür dürften die bekann- landes mit dem nördlich liegenden Hellwegraum reprä- ten Rohstofflagerstätten in diesem Bereich sein, die von sentieren. Über diese Verbindungsstränge wurde z.B. der den Siedlungen aus ausgebeutet wurden, denn im südlich 2 7 1 Rohstoffhandel (Eisen) abgewickelt. anschließenden Forstdistrikt „Buchholz“ sind Rohstoffvor- kommen von Eisen und Blei bekannt, die offenbar Ziel der Zwischen Rüthen und Kallenhardt liegt eine markante Ausbeutung waren. Die jüngst durchgeführte geomagneti- Konzentration von Grabhügeln. Die im Wald liegenden Be- sche Prospektion auf einem der Siedlungsareale hat einen stattungsplätze sind noch weitgehend unberührt und gut Ofenstandort ergeben, der vermutlich der Eisenschmelze erhalten. Die Freilegung eines Hügels durch E. Henneböle diente. Neufunde von Bleibarren des „Typs Garbeck“ deu- 1933 weist auf eine bronzezeitliche Zeitstellung hin, eine ten einen Beginn der Besiedlung und Rohstoffgewinnung durch andere Funde kaum belegte Epoche dieser Region. in diesem Gebiet bereits zur römischen Kaiserzeit an.

Ein wichtiges devonisches Kalkvorkommen in Südwest- Ein über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, genutz- falen findet sich im Bereich Warstein (Kreis Soest). Hier tes Rohstoffvorkommen im nordöstlichen Sauerland an wurden in der Vergangenheit einige wichtige Höhlenfund- Volme, Elspe und oberer Ruhr liegt zwischen Bestwig- stellen entdeckt, die z.T. detaillierte Informationen über Ramsbeck und Winterberg-Siedlinghausen. Neben Eisen die Lebensweise vor allem jünger-paläolithischer Men- und Kupfer ist hier auch Blei bis in jüngste Zeit hinein in schengruppen erlauben. Einige dieser Höhlen sind durch großem Umfang abgebaut worden, worauf große Halden den modernen Kalkabbau latent gefährdet (Erschütterun- der Untertagebauten verweisen. Wie weit der Abbau in die- gen bei Sprengungen). Hierdurch werden aber auch wie- sem Gebiet zeitlich zurückreicht, ist unklar. Jüngst wurde derholt neue Höhlen und verfüllte Schlotten angeschnit- eine Holzkohlenprobe aus einem Stollen des Venetianer- ten, die z.B. pleistozäne Tierreste geliefert haben. Südöst- abbausystems durch ein 14C-Datum in das frühe Mittelalter lich von Warstein sind im Wald auch einige ausgeprägte datiert. Das vorhandene mittelalterliche Burgen- und damit Hohlwegbündel überliefert. Herrschaftssystem dürfte sich hier aufgrund der Rohstoff- lagerstätten herausgebildet haben. Möglicherweise reicht Die Briloner Hochfläche (Hochsauerlandkreis) ist ein wei- der Abbau jedoch noch weiter zurück, bis in die Merowin- teres devonisches Kalkvorkommen in Südwestfalen. Ne- gerzeit und gar Kaiserzeit. Blei aus dem Ramsbecker ben Höhlen sind hier vor allem die im Mittelalter und Neu- Raum könnte der Rohstoff für die frühmittelalterlichen Blei- zeit ausgebeuteten Rohstoffvorkommen von Bedeutung. pfannen der Salzsiedereien in Soest gewesen sein und für Besonders Galmei, das zur Messingherstellung notwendig die kaiserzeitlichen Bleibarren der Germanen. Isotopenun- war, ist hier häufig vorhanden und dann auch abgebaut tersuchungen von Bleierzen des Raumes und den Bleibar- worden. Auch Blei war ein wichtiges Gewinnungsprodukt. ren legen eine solche Verbindung für die Kaiserzeit nahe.

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Eindeutige Abbauspuren dieser Zeit aus dem Ramsbe- Süd-Verbindungen über Attendorn, Plettenberg, Affeln, Iserlohn cker Raum sind jedoch bisher unbekannt. zum Ruhrtal; von Dortmund nach Frankfurt über Hagen, Bre- ckerfeld, Halver, Meinerzhagen). Seltener sind Siedlungs- Eine eisenzeitliche und frühgeschichtliche Befestigungs- und Stadtgründungen in Tallage (Altena, Plettenberg); stär- anlage auf dem Wilzenberg, die sich an der „Heidenstraße“ ker verdichtet wurden die Talsiedlungen erst im Zuge der ausrichtete, war der Ausgangspunkt der hochmittelalterli- gewerblichen Entwicklung (seit dem 14. Jh. Nutzung der chen Erschließung des Raumes Schmallenberg. Mit der Wasserkraft). Hierfür ist das Rahmedetal zwischen Lüden- Gründung der Kirche in Wormbach wohl schon im 9. Jh. scheid und Altena ein charakteristisches Beispiel; einer der entstand ein erstes kirchliches Zentrum, das zusammen ältesten Industriestandorte mit einer sehr engen, kleinteili- mit weiteren Gütern 1072 von Erzbischof Anno von Köln gen Bebauung ist die Nette bei Altena. der neu gegründeten Benediktinerabtei Grafschaft übertra- gen wurde. Diese Abtei hat für den Landesausbau des köl- Die Höfe der Reidemeister, die im Verlagssystem produ- nischen Westfalens überragende Bedeutung besessen zieren ließen und den Messehandel besorgten, waren und war ebenfalls Ausgangspunkt für die Gründung von Keimzelle weiterer Produktionsstätten insbesondere um Burg und Stadt Schmallenberg im 13. Jahrhundert. die Städte Lüdenscheid, Altena, Werdohl und Iserlohn. Das Ausgangsmaterial war der Osemund, eine konfektio- Ab dem 12. Jh. muss die geschichtliche Entwicklung nierte Stahlbramme, die in dieser Gegend hergestellt und von Märkischem und Kölnischem Sauerland getrennt durch Recken und Ziehen vornehmlich zu Drähten verar- dargestellt werden. beitet wurde. Bald schon privilegierte Brandenburg-Preu- ßen die Städte. Altena hatte einen Stapel für Grobdrähte, Seitdem bildete das Märkische Sauerland den südli- Iserlohn das Monopol auf den Kratzendraht und damit auf chen Teil der sich herausbildenden Grafschaft Mark; die Kleineisenwaren (Nadeln), Lüdenscheid auf Waren aus Grafen nannten sich zunächst nach ihrem Sitz in Altena. Nichteisen-Metallen, Hohenlimburg auf Drahtgewebe. Da- Dynastische Entwicklungen führten Ende des 16. Jahr- zu entwickelte sich in Iserlohn wegen des Bergbaus auf hunderts zum Aufgehen im Herzogtum Jülich-Kleve-Berg- zinkhaltige Erze (Galmei) die Gelbgießerei, in Lüdenscheid Mark-Ravensberg; 1609 kam die zur evangelisch-lutheri- die Aluminiumindustrie und sehr früh die Kunststoffindus- schen Konfession übergegangene Grafschaft Mark an trie. Parallel spielte die Textilindustrie (Tuchherstellung, Kat- Brandenburg-Preußen. Bestandteil dieser Kulturland- tundruck) eine durchgehend wichtige Rolle. schaft „Sauerland“ ist auch die ehemalige Grafschaft Lim- burg, die Ende des 16. Jahrhunderts im Erbfall an Bent- Trotz der Schwierigkeiten der Verkehrserschließung im 272 heim-Tecklenburg ging; damit wurde das reformierte Be- Bergland (z.B. Eisenbahnen: Hagen-Letmathe-Iserlohn kenntnis eingeführt. Nach 1815 wurde das Märkische 1859-1864, 1861 Altena-Plettenberg, 1874 Hagen-Brügge, Sauerland Teil des Regierungsbezirks Arnsberg in der 1900 Hemer-Hönnetal-Bahn) gelang dem Gewerbe im mär- preußischen Provinz Westfalen. kischen Teil des Sauerlandes in großem Umfang der Übergang zur Industrie. Nicht nur die größeren Flusstäler Trotz der kargen Böden gab es aufgrund der Boden- wurden seitdem dichter bebaut, sondern auch die Städte schätze Blei, Kupfer (Plettenberg), Galmei (Iserlohn) und erfuhren eine signifikante Verdichtung und Ausdehnung, vor allem Eisen schon früh eine relativ dichte Besiedlung. seit die Produktionsanlagen durch den Einsatz von Im flacheren Norden und in den fruchtbareren Flusstälern Dampfmaschinen ab 1860 nicht mehr vom Wasser als gab es Acker-, Wiesen- und Forstwirtschaft, im Süden in Energieträger abhängig waren. den bergigeren Regionen dominieren kleinere Höfe, die die Land- oder Forstwirtschaft nur im Nebenerwerb be- Das Kölnische Sauerland war wegen der Rohstoffvor- treiben konnten. Forstwirtschaft bedeutete häufig die kommen von besonderem territorialpolitischen Interesse, Produktion von Holzkohle. wovon heute die Burgen Bilstein (Lennestadt), Bruchhau- sen (Olsberg), Schnellenberg (Attendorn) und zahlreiche Bis zum späten Mittelalter war das bestimmende und bis Ruinen von Höhenburgen sowie viele Gründungsstädte heute ablesbare Siedlungssystem voll ausgebildet; zu- zeugen. Abgeschlossen war die Territorialisierung der Re- nächst waren allerdings nur die Hochlagen und Hochebe- gion Mitte des 15. Jahrhunderts, nachdem 1368 die Graf- nen besiedelt. Es dominierten Ansiedlungen von sechs bis schaft Arnsberg und 1449 die Herrschaften Bilstein und acht Höfen; Einzelhöfe und Kirchdörfer (z.B. Halver und Fredeburg dem Erzbistum Köln einverleibt worden waren, Kierspe mit den noch gut erkennbaren, charakteristischen zu dem das Kölnische Sauerland bis 1802 zugehörig blieb. Kirchringbebauungen) sind selten. Bis zum späten Mittelalter war das bestimmende und bis Die Gründung bzw. rechtliche Bestätigung der Städte (Al- heute ablesbare Siedlungssystem voll ausgebildet. Die tena 1235, Iserlohn 1124, Lüdenscheid 1268, Neuenrade einzelnen Siedlungsplätze sind – weitgehend unabhängig 1353, Plettenberg 1387) und Freiheiten (z.B. Hohenlimburg, vom Alter der aufgehenden Bebauung – aus historischen das erst 1903 volles Stadtrecht erhielt) erfolgte oft in Anleh- Gründen von hoher Bedeutung für das Kölnische Sauer- nung an ältere Burgen, die wiederum vorzugsweise auf land. Es dominieren Weiler und Kirchdörfer, die in ihrer Bergkuppen oder Hochebenen lagen. Auch die Verkehrs- Größe vielfach an die (Berg-) Freiheiten und (Klein-) Städte wege verliefen ursprünglich bevorzugt in Höhenlage (Nord- heranreichen. Die Gründung bzw. rechtliche Bestätigung

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der Städte und Freiheiten – mit territorialer Schutz- und Er- werte Ausweitung, jedoch sind archivalisch seit dem spä- schließungsfunktion und mit Schutzfunktion einzelner Erz- teren Mittelalter große Mengen an gewerblichen Anlagen lager- bzw. Abbaustätten, von längerfristiger Wirksamkeit des Erzbergbaus und der Weiterverarbeitung in den aber als Orte des Austausches zwischen ländlichem Ge- Flusstälern nachgewiesen. Deren Zahl nahm bereits im werbe und importierten Nahrungsmitteln – erfolgte vor- Zuge eines Deindustrialisierungsprozesses spätestens zugsweise auf Bergkuppen oft in Anlehnung an ältere Bur- gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutlich ab. Die Jahr- gen, z.B. Arnsberg, Bilstein, Eversberg, Grevenstein, Ha- zehnte um 1800 waren für das Sauerland die erste Phase chen, Kallenhardt, Rüthen, Schmallenberg. eines tiefgreifenden Umbruchs. 1802 war die Herrschaft des Erzbischofs von Köln und damit gleichzeitig die Kon- Dagegen blieben insbesondere die größeren Täler bis fession des Monarchen abgelöst worden durch das evan- zum Beginn der Nutzung der Wasserkraft spätestens im gelische Großherzogtum Hessen-Darmstadt, dem frühen 16. Jh. weitgehend siedlungsleer. Besonders deut- 1813/15 dauerhaft Preußen folgte: Kontinuität hatte einzig lich ablesbar ist dies südlich des Arnsberger Waldes. die Funktion Arnsbergs als Regierungssitz.

Langfristig bessere Entwicklungsmöglichkeiten besaßen Eine neue Zeit hatte schon um 1780 mit dem die Ver- dagegen Stadtgründungen auf den wenigen Hochflächen kehrsverhältnisse ein erstes Mal revolutionierenden Kunst- (z.B. Attendorn, Brilon), wo – etwa um Brilon – bis heute die straßenbau (Arnsberg-Kassel entlang der Ruhr, heute B 7; Aufgabe älterer Siedlungen im Zuge des Stadtausbaus ge- Süd-Nord-Straße von Drolshagen bis Warstein, später „Koblenz- gen Ende des 13. Jahrhunderts deutlich erkennbar ist. Mindener-Chaussee“, heute B 55) eingesetzt. Ebenfalls seit Oberzentrum der Region war die alte Stadt Soest, die sich dem späten 18. Jh. beraubte eine Folge von Brandkatastro- allerdings 1444-1449 aus der Oberhoheit des Erzstiftes phen bis in die 1840er Jahre nahezu alle Städte fast kom- Köln löste und der Grafschaft Mark anschloss. plett ihrer älteren Bausubstanz. Im Wiederaufbau wurden die Befestigungen fast ausnahmslos geschleift und die be- Eingestreut liegen zum einen die verhältnismäßig wenigen siedelte Fläche oft bis auf das Doppelte vergrößert (z.B. Ne- geistlichen Konvente, unter denen nach dem Stift Meschede heim 1807, Schmallenberg 1822) oder ganz (Warstein 1802) als ältestem die Klöster Grafschaft (Schmallenberg-), We- oder teilweise (Hirschberg 1788) ins Tal verlagert. dinghausen (Arnsberg-) und Ewig (Attendorn-) den größten Besitz und Einfluss besaßen, und zum anderen die Adelssit- In den Jahrzehnten nach 1850 gelang von den beste- ze, für die – nach Aufgabe der Höhenburgen – die Tallage henden Gewerbebetrieben nur wenigen der Sprung zum mit Sicherung durch Gräften charakteristisch ist. Die Sied- Industriebetrieb; auch die Bergwerke wurden mit wenigen lung erfuhr bis in die frühe Neuzeit hinein keine nennens- Ausnahmen zwischen 1850 und 1900 geschlossen. Der 2 7 3

Bei Grevenstein  Foto: LWL/M. Philipps

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 21 // Sauerland  Bei Altenhellefeld Foto: LWL/M. Philipps

274 Bau von Eisenbahnlinien (Ruhr-Sieg-Bahn 1861, Obere Ruhr- Die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg hatten nur tal-Bahn 1873, Hönnetal-Bahn 1905) konnte die Nachteile der die wenigen sauerländischen Städte mit kriegswichtigen peripheren Lage nur unzureichend mildern. Industrien oder Infrastrukturen (Eisenbahndepots) in Mitlei- denschaft gezogen (am schwersten Meschede). Dagegen Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise ist die Industrie hatte der Kampf um den Ruhrkessel stärker als in ande- im ehemaligen Herzogtum Westfalen auf die sich weiten- ren westfälischen (und darüber hinaus nordwestdeutschen) den Tallagen der größeren Flüsse, d.h. auf das Ruhrtal Landesteilen Zerstörungen auch in den Weilern, Dörfern abwärts Bestwig bis Neheim-Hüsten und das Lennetal und Kleinstädten zur Folge. abwärts Saalhausen sowie das relativ flache Umfeld der Städte Attendorn, Menden und Warstein konzentriert. An- Nur wenige Jahre später erfuhr jedoch der ländliche gesichts des insgesamt mäßigen Wachstums im Indus- Raum eine ganz wesentliche Umprägung. Verbunden mit triezeitalter sind größere Erweiterungen mit Villen und einer erneuten Flurbereinigung (d.h. Flächenzusammenle- Mietshäusern im historistischen Stil auf wenige Städte be- gung mit Aufhebung alter Parzellengrenzen, wie sie erstmalig schränkt (Arnsberg, Menden, Neheim-Hüsten). Im Allgemei- schon im 19. Jh. vorgenommen worden war) wurden sauer- nen jedoch genügte ein ringförmiger Gürtel mit Wohn- landweit über 1.000 landwirtschaftliche Betriebe aus den häusern des gehobenen Bedarfs und eine Aufsiedlung zu beengt empfundenen historischen Ortskernen in die entlang der Ausfallstraßen, bevorzugt an der Verbin- bis dahin über Jahrhunderte (mit Ausnahme der seit dem dungsstraße zum Bahnhof. ausgehenden 19. Jh. errichteten Feldscheunen) unbebauten Feldmarken ausgesiedelt. Die Deindustrialisierung der kleineren Täler und die rela- tive Ungestörtheit der (damals allerdings weitgehend entwal- Der Funktionsverlust der zurückgelassenen Altbauten deten) Höhenlagen boten dem Sauerland seit dem ausge- beschleunigte die Modernisierung der alten Ortskerne henden 19. Jh. mit der „bürgerlichen Entdeckung der Na- und schuf u.a. auch Gelegenheit zum Durchbruch autoge- tur“ (1891 Gründung des Sauerländischen Gebirgs-Vereins, rechter Verkehrsschneisen. Unübersehbar sind auch aller- SGV) eine neue Perspektive mit der Entwicklung zum Erho- orts großvolumige, die topopgraphischen Bedingungen lungs- und Ergänzungsraum für das expandierende Ruhr- missachtende, Parzellen- und Hausstättengrenzen tilgen- gebiet. Es werden vor allem in den Hochlagen besondere de Bauten der 1970er bis 90er Jahre überwiegend von touristische Einrichtungen (Aussichtstürme, Unterkunftsmög- Kommunalverwaltungen, Dienstleistern und Kreditinstitu- lichkeiten) errichtet, und auch die seit 1903 aufgestauten ten sowie an den Ortsrändern Neubaukomplexe etwa für Talsperren werden schnell touristisch genutzt. Krankenhäuser oder Schulzentren und erneut auch für

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Ordenskongregationen (z.B.: Mariä Königin in Lennestadt- ökologischen Gründen bedauerlich sein, weist aber auf Altenhundem (1959), Königsmünster (1964) in Meschede ihre große kulturelle Bedeutung und hohe touristische At- oder für den Tourismus (z.B. Ferienkolonien der Kolpingfami- traktivität für die Bevölkerung Nordrhein-Westfalens hin. lie in Olpe und Oberhundem). In den Wäldern sind auch die Bäche natürlich bis natur- Für die jüngste Zeit sind nicht nur die auch weiterhin neu nah erhalten. Sie verleihen der Landschaft Bewegung und ausgewiesenen Einfamilienhaus- und Gewerbegebiete (und typische natürliche Geräusche. Obwohl die meisten Bäche ebenso die Erweiterungsbauten der ansässigen Industriebetrie- in der freien Landschaft begradigt und reguliert sind, wer- be) sowie die beiden Autobahnen (A 44 Hagen-Gießen, A 46 den sie als naturnahe Elemente empfunden. Werl-Brilon), sondern auch flächenintensive oder silhouet- tenprägende Anlagen wie Umspannwerke bzw. Fernmelde- Die Flüsse sind weitgehend reguliert, aber meist nicht auf- türme und auch großflächige touristische Einrichtungen wie gestaut, sondern fließen in ihrer natürlichen Geschwindig- die Erlebnisparks (Fort Fun in Bestwig) zu nennen. keit. Ihr Wasserstand schwankt im Laufe der Jahreszeiten.

Selbst in sehr engen Tälern des Berglandes entwickel- Kulturlandschaftscharakter ten sich große Orte, da das Wasser als Energiequelle für die Kleinindustrie genutzt wurde, und sich dort die Über- Das gesamte Sauerland (Märkisches und Kölnisches Sau- landstraßen und die Eisenbahn befanden. Diese Konglo- erland) kann aufgrund seines Nutzungsmusters und seines merate widersprechen der vermeintlichen Naturidylle des daraus resultierenden Landschaftsbildes in das Bergland Sauerlandes, sind aber das lebenswichtige Pendant zum und die offenen Kalkbereiche gegliedert werden. ländlichen Raum. Winterberg ist als Wintersportort mit in- ternationalen Wettbewerben eine Besonderheit. Seine Das Sauerländer Bergland ist geprägt von Wald, Grün- Sportanlagen sind landschaftsprägend. land, Seen und ansehnlichen Siedlungen mit auffallenden Bauformen (Fachwerk, Schiefer, Bruchstein, Massivbauten). Die offenen Kalksenken und die Hochflächen sind relativ Die natürlichen Laubwälder wurden in der Vergangenheit kleinflächig. Die Morphologie ist eben bis mäßig geneigt. durch die Gewinnung von Grubenholz und die Holzver- Das Landschaftsbild steht im Kontrast zum Wald-Bergland, kohlung stark in Anspruch genommen. Die Waldweide das die Kulisse und einen bewegten Horizont bildet. Sie und schließlich regelrechter Raubbau nach Auflösung der sind überwiegend agrarisch genutzt. Weite Blicke sind früheren Markenverbände haben in einigen Gebieten eine möglich über die freien Täler und Mulden. Kuppen und Devastierung der Wälder herbeigeführt. Historische Kar- Hügel sind bewaldet. Sie erhöhen die Vielfalt der Land- 2 7 5 ten um 1800 lassen auf großen Flächen eine Verheidung schaft. Ihre räumliche Kleinteiligkeit erzeugt ein Gefühl der erkennen. Die Landgrafen von Hessen-Darmstadt, die Übersichtlichkeit und Sicherheit. Landesherrn des Kurkölner Sauerlandes und dann die preußische Regierung förderten die geregelte Forstwirt- Die Grundfärbung der Landschaft sind die Grüntöne schaft. Ab ca. 1870 wurden Bereiche großflächig mit Fich- der Wiesen und Weiden, des frischen Ackerlandes sowie ten wieder aufgeforstet. Diese waren in diesem Raum der inselartigen Laub- und Nadelwälder. Seine Schattie- nicht heimisch und wurden eingeführt. Als Ausnahme sind rungen wechseln im Laufe der Jahreszeiten zu den ausgedehnte Buchenwälder bis ins 19. und 20. Jh. über- Brauntönen der reifen und abgeernteten Felder und der kommen. Bis heute sind sie als Laubwälder erhalten und melierten herbstlichen Wälder. Großflächige Weihnachts- sollten naturnah bewirtschaftet werden. baumkulturen erzeugen den Eindruck von Aufforstungen.

Die Laubwälder sind überwiegend Buchenwälder, de- Der geologische Untergrund des Kalkes wird in Stein- ren Farben den Inbegriff der Jahreszeiten darstellen. Sie brüchen abgebaut. rufen positive Empfindungen hervor. Die Fichtenwälder sind dunkel monoton und wirken undurchdringlich. Sie Historische land- und forstwirtschaftliche Nutzungen ha- haben jedoch den Vorteil des Wintergrüns. Die Wälder im ben gleichsam als positiven Nebeneffekt kleinflächige Bio- Bergland sind großflächig. In Teilbereichen ist keinerlei tope für vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten durch Technik erzeugtes Geräusch zu hören. Sie sind entstehen lassen, z.B. Kalkmagerrasen oder Wacholder- Wirtschaftswälder und dementsprechend gut durch ein heiden als Lebensraum für Reptilien, Enziane und Orchi- Wegenetz erschlossen. deen. Nur wenige Flächen geben Zeugnis über traditionel- le Bewirtschaftungsweisen wie Plaggen und Schafbewei- Das Grünland ist meist nicht artenreich, hat jedoch im dung. Die als Naturschutzgebiete ausgewiesenen Biotope Laufe der Vegetationszeit seine typischen Farb-Bilder. werden mit Hilfe von Pflegeplänen in ihrem Aussehen und Das Weideland ist gekennzeichnet durch seine Zäune ökologischem Haushalt bewahrt. und das Vieh. Die Kalkbereiche müssen zwangsläufig viele Aufgaben Das niederschlagsreiche Gebiet ist durchzogen von übernehmen, die das Bergland schon aufgrund seiner Steil- Fließgewässern. Die Quellen der größten Flüsse – Ruhr heit nicht erfüllen kann. Sie wurden schon früh landwirt- und Lenne – sind gefasst bzw. gestaltet. Dies mag aus schaftlich genutzt und erhielten ihr Aussehen als Agrarland-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 21 // Sauerland Land

schaft. Bis heute ist ihr Charakter überwiegend ländlich. Es Von den Adelssitzen sind besonders die Höhenburgen ist seit alters her ein Raum für die Funktionen Wohnen, Wirt- bis heute prägend für das Märkisches Sauerland. Neben schaften und Verkehr. Der Raum unterliegt einem starken dem Amtssitz der Grafen zu Altena (im frühen 20. Jh. im Zu- Nutzungsdruck. Insbesondere Umstrukturierungen im länd- ge der Burgenromantik wieder aufgebaut) befanden sich lichen Wirtschaften verändern heute das Landschaftsbild. Burgen im Grenzgebiet zur Grafschaft Arnsberg bzw. zum Erzbistum Köln, von denen heute noch Klusenstein und Im gesamten Sauerland wurden Talsperren errichtet, die die Ruine Schwarzenberg existieren. Ebenfalls Residenz natürliche Lebensräume für Pflanzen und Tiere überflutet ist die um 1230 begonnene Hohenlimburg; hier erfolgte haben und Menschen zwangen, in neue Orte umziehen. Die nach 1610 die Umwandlung von der Burg zum Schloss. Stauseen mit ihren Dämmen waren starke Eingriffe in den Von den umgräfteten und zumeist in Naturstein aufgeführ- Naturhaushalt und in das Landschaftsbild. Heute werden sie ten Herrensitzen in Tallagen bewahren nur wenige spät- als großartige menschliche Kunstbauwerke bewertet. Ihre mittelalterliche Gebäudeteile, die meisten sind im Barock Wasserhöhen schwanken im Jahresverlauf entsprechend oder später überformt worden (Neuenhof, Haus Rade, Let- den wasserwirtschaftlichen Erfordernissen erheblich. Den- mathe, Hemer, Edelburg, Badinghagen). Einige Wasserbur- noch sehen sie wie natürliche Seen aus, sind wertvolle Bio- gen zeigen noch den engen Zusammenhang auch des tope und bieten ausgezeichnete Erholungsmöglichkeiten. Adels mit der Eisenproduktion (Haus Rhade im Volmetal oder Schloss Neuenhof im Elspetal). Das Großrelief des Sauerlandes ist überprägt von Klein- formen, z.B. von Spuren des historischen Bergbaues. Über- Der Bestand erhaltener Kirchenbauten reicht bis in das regional bedeutsame Altstraßen („Heidenstraße“, „Jakobs- späte 12. Jh. zurück (Iserlohn-Hennen). Sowohl die romani- weg“) und lokal bedeutsame historische Verbindungswege schen als auch die gotischen Hallenkirchen zeigen – ent- („Leyerweg“) haben sich als Hohlwege tief in die steilen sprechend der kulturräumlichen Orientierung des Märki- Hängen eingeschnitten. schen Sauerlandes – rheinische Einflüsse. Charakteris- tisch sind vor allem im 18. Jh. Kirchenneu- und -umbauten Obwohl die Zahlen der Einwohner/km² im Vergleich zu zwecks Anpassung an die neuen liturgischen Bedürfnis- Nordrhein-Westfalen und zur Bundesrepublik gering sind, sen des reformierten Gottesdienstes (Saalkirchen in Kier- ist nicht zu übersehen, dass die Bevölkerung im Raum spe, Kierspe-Rönsahl, Halver u.a.; reformierte Kirchen in Iser- sehr ungleichmäßig verteilt und auf bestimmte Bereiche lohn und Hohenlimburg). Mit der Industrialisierung kamen konzentriert ist. So sind trotz relativ geringer Durchschnitt- am Ende des 19. Jahrhunderts (Altena, Lüdenscheid, Iser- zahlen der Bevölkerung im Landschaftsbild Ballungsräume lohn, Letmathe) und in einem weiteren Schub nach dem 276 von Siedlungen, Gewerbe und Industrie vorhanden. Zweiten Weltkrieg katholische Kirchen hinzu.

Das Märkische und das Kölnische Sauerland weisen ei- Produktionsanlagen sind seit dem ausgehenden 17. Jh. nen unterschiedlichen Bestand von Baugattungen auf. Im insbesondere mit den Mahl-Mühlen (Halver-Schulten-Heed- Märkischen Sauerland ist zu vermerken: feld, Hemer-Bäingsen, Lüdenscheid-Oedenthal, Nachrodt-Wib- lingwerde-Brenscheid) und Hammerwerken (Hammer auf Bei den ländlichen Profanbauten handelt es sich über- der schwarzen Ahe; Lüdenscheid-Brüninghausen Bremecker wiegend um Bruchsteinbauten. Dieses bauliche Spezifi- Hammer; Iserlohn-Barendorf) in den Flusstälern mit ihren kum des Märkischen Sauerlandes ist auf Entwicklungen im Betriebsgewässern als herausragende Dokumente der späten Mittelalter zurückzuführen. Nur in der nördlichen Kulturlandschaftsentwicklung überliefert. Hügellandschaft zum Ruhrtal haben sich seit dem ausge- henden 18. Jh. Fachwerkbauten erhalten. Sonderformen Die Entwicklung von Verkehr und Kommunikation ist des ländlichen Bauens sind Speichergebäude als sog. Ha- durch landschaftsprägende Denkmäler sowohl des Straßen- ferkästen in Bohlenbauweise und als Bruchsteinbauten, verkehrs (Steinerne Brücke in Altena, ehemalige Umspannsta- die häufig als „Wehrspeicher“ bezeichnet werden. tionen in Meinerzhagen-Hahnenbecke und Iserlohn-Refflingsen; Rahmedebrücke im Zuge der A 45) als auch der Erschließung Signifikant sind die fast herrschaftlichen Sitze von Reide- der Region durch Eisenbahnen (Plettenberg-Ohler Bahnbrü- meistern und Industriellen nahe den Produktionsstätten cke, Werdohler Bahntunnel) dokumentiert. Bei Iserlohn exis- (Kierspe-Voswinkel, Haus Nachrodt, Hemer-Stephanopel). Eine tiert am Danzturm noch eine Station der optischen Telegra- ähnliche Anordnung (fast in jedem Hofraum war eine „Fabrik“ phenlinie aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. mit zwei bis drei Arbeitern zu finden) bestimmt auch noch die Ausdehnung der Städte im Industrialisierungsprozess. Die ursächlich zur Versorgung der mit Wasserkraft be- triebenen Fabriken gebauten Talsperren (1891 Fuelbecker Insbesondere Lüdenscheid, Iserlohn und auch Altena Talsperre, 1903 Glörtalsperre, 1904 Jubachtalsperre), die weisen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gro- ebenso wie Anlagen zur Stromgewinnung (Lennestaustu- ße Stadterweiterungsgebiete mit Backstein- oder Putz- fen Plettenberg-Elhausen, Werdohl-Wilhelmstal) stellen eine bauten historistischer Prägung bis hin zu Villenvierteln in wesentliche Umprägung der Kulturlandschaft dar. Den Tal- ausgewählten Randlagen auf. Ein geplanter Siedlungs- sperren wuchsen sekundär die Funktionen für die Was- bau kam aber erst nach dem Ersten Weltkrieg auf (Lü- serversorgung und für die Freizeitgestaltung der Bevölke- denscheid; Hohenlimburg z.B. Hoesch-Siedlung 1922). rung des Ruhrgebiets zu. Die touristische Erschließung

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 21 // Sauerland 6.2

der Kulturlandschaft „Sauerland“ setzt um 1900 mit dem lich prägend ist die Epoche zwischen 1648 und 1803, in Wiederaufbau von Burg Altena (Jugendherberge, Restaura- der alle Herrenhäuser – gehäuft zwischen 1660 und 1720 – tion und Aussichtsturm) und der Gründung des Sauerländi- durch Neu- oder Umbauten in erweiterten Raumstrukturen schen Gebirgsvereins (SGV; Vereinshaus auf dem Kohlberg und zeittypischer Gestalt als breit gelagerte Palais in ach- bei Altena) ein. Die Aussichtstürme (z.B. Iserlohn Seilerwald, sialer Gliederung und Anordnung von Flügelbauten und Lüdenscheid Homertturm, Halver Karlshöhe) sind prägende symmetrischem Bezug der Wirtschaftshöfe eine Anpas- Bestandteile und gleichzeitig wichtige Einrichtungen zur sung an zeitgemäße Standards erfuhren. Erlebbarkeit dieser Kulturlandschaft. Bei den Sakralbauten bestimmen die zum Teil noch in Im Kurkölnischen Sauerland dominierte als Baumateri- das 15. Jh. zurückreichenden und fast ausschließlich aus al der ländlichen Privatbauten bis zum letzten Drittel des teilweise verputztem Naturstein errichteten Kapellen das 19. Jahrhunderts für Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Ortsbild der vielen kleinen Dörfer und Weiler; die alten, seit Fachwerkbau. Auszunehmen ist jener westliche Teil der dem späten Mittelalter tradierten Pfarrkirchen prägen nicht Kulturlandschaft, der als Ausläufer der sog. „Märkischen nur die Zentren zahlreicher Kirchdörfer (z.B. in Schmallen- Steinbauregion“ zu sehen ist. Der Fachwerkbau erreicht im berg-Berghausen, -Lenne und -Wormbach) und Städte, son- ausgehenden 18. Jh. die Blüte eines Regionalstiles im dern wirken weit hinaus in die Kulturlandschaft „Sauer- übergreifenden Rahmen des Spätbarock und Rokoko mit land“. Die Erneuerung vieler Pfarrkirchen setzt in den fast verschwenderischer Verwendung von überaus kräftig 1660er Jahren ein, hat ihren Höhepunkt jedoch erst in den dimensionierten Hölzern in reicher und damit malerischer Jahrzehnten nach 1740. Erhaltene Pfarrhäuser, Schulen Verwendung südlich (d.h. hessisch) beeinflusster Strebenfi- und andere kirchliche Gebäude dieser Epoche tragen im guren, gepaart mit überbordenden Inschriften und Schnit- Ensemble wesentlich zur Gestalt der Dorfmitten bei (z.B. zereien meist religiösen Inhalts und vielfach geschwunge- Oberkirchen, Wormbach). ner Schreinerarbeit an Toren, Türen und Fenstern. Es do- miniert in Stadt und Land das längs aufgeschlossene, im Auch aus jüngeren Zeiten sind zahlreiche denkmalwerte Inneren dreischiffig gegliederte niederdeutsche Hallen- Kirchen erhalten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tauchen entstanden erstmalig Bauten für die nun gegründeten jedoch in den Kleinstädten und auf dem Land die ersten evangelischen Kirchengemeinden. Seit der Mitte des 19. reinen Wohnhäuser in der Art adeliger Palais auf, die jene Jahrhunderts wurden vielerorts in den alten Pfarreien be- Gewerkenfamilien insbesondere im Raum Olsberg/Brilon trächtlich vergrößerte Ersatz- und Erweiterungsbauten er- errichten ließen, die allmählich die Erzgewinnung und - richtet, und in zahlreichen Dörfern und Weilern entstanden verarbeitung in ihren Händen konzentrierten. – gleichermaßen markant die überkommenen Ortsbilder 2 7 7 verändernd – durch die Erhebung zur Pfarrei, Kirchen an Nach 1802 machten sich Tendenzen zur Trennung von Stelle der alter Kapellen. Wohn- und Wirtschaftsteil und zu einer holzsparenden, kargen und auf das funktional Notwendige reduzierten Mit Ausnahme einiger Klosterkirchen (z.B. Oelinghausen, Fachwerkbauweise bemerkbar, die letztlich zum Bau reiner Wedinghausen) mit der noch in das 9. Jh. zurückreichen- Wohnhäuser in Massivbauweise führte. Der Schiefer be- den Stiftskirche St. Walburgis in Meschede als herausra- ginnt sich als Material für die Dachdeckung erst ab den gendem Monument bewahren nur recht wenige Klöster 1850er Jahren (und für Wandverkleidungen erst ab etwa spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Bauteile. Vielmehr prä- 1890) – und damit zeitlich parallel zu Blechplatten für Wand gen barocke Um- und Neubauten des späten 17. und des und Dach – durchzusetzen, als er sich durch neue und ra- 18. Jahrhunderts sowohl die ländlichen Klöster (z.B. (War- tioneller abgebaute Tiefbaugruben in Fredeburg, Norde- stein-) Mühlheim 1677-1690, (Schmallenberg-) Grafschaft nau und Nuttlar deutlich verbilligt. Ebenfalls aus Kosten- 1729-1742, (Attendorn-) Ewig 1726), als auch die Bauten gründen konnte sich das massive Haus (zuerst backstein- der jüngeren Bettelordenskonvente in den Städten (erhal- sichtig, erst um 1900 verputzt) in Stadt und Land angesichts ten z.B. Brilon 1772-1782). Die bemerkenswert vielen Klos- sehr begrenzter Rohstoffvorkommen in der Region erst terneubauten des 19. und 20. Jahrhunderts von alten und nach dem Bau von Eisenbahnen durchsetzen. neu gegründeten Orden entstanden zumeist in herausge- hobener Lage und strahlen ins Land (u.a. Missionare vom Nach einer recht kurzen Phase mit historistischen Archi- Heiligsten Herzen Jesu in Arnsberg-Oeventrop 1902; Königs- tekturen reichsweiter Prägung setzt schon vor dem Ersten münster der Benediktiner in Meschede (1962). Weltkrieg eine Rückbesinnung auf heimische Bautraditio- nen ein, während bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges Konfessionell gebundene Friedhöfe prägen bis heute zumeist nach Entwurf zentraler Siedlungsgesellschaften in die Ortsmitten (christliche Friedhöfe um die alten Pfarrkir- zeittypisch modernen Bauformen (verputzte Massivbauten chen) oder seit dem frühen 19. Jh. die damaligen Sied- mit einigen Elementen der Vorfertigung) und Bautypen („Kopf- lungsränder; jüdische Friedhöfe liegen seit Alters vor Hals-Rumpf“-Typen) prägend wurden. den Toren der Städte. In den Dörfern und in der Feld- mark zeugen seit dem ausgehenden 17. Jh. vermehrt Für die ländlichen Wohnbauten des Adels ist ebenso wie Bildstöcke und Wegekreuze von vertiefter Konfessionali- für die städtischen Adelshöfe (erhalten etwa in Arnsberg, sierung. Zumeist weithin sichtbar im Land, entstanden Balve, Brilon, Menden) der Steinbau charakteristisch. Bau- nun auch Wallfahrtskapellen.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 21 // Sauerland

des Hönnetals gehen auf frühindustrielle Traditionen des 19. Jahrhunderts zurück.

Die Prägung der Kulturlandschaft „Sauerland“ durch neu- zeitliche Verkehrswege und -mittel manifestiert sich im Bau- denkmälerbestand besonders durch die Trassen der Chausseen und ihrer Begleitbauten (Meilensteine, Chaussee- wärterhäuser u.a.) seit dem frühen 19. Jh. und durch Kunst- und Betriebsbauten der Eisenbahn (Viadukte und Tunnel, Empfangsgebäude etc.) seit dem späten 19. Jahrhundert.

Zeugnisse jüngerer Funktionen der Kulturlandschaft „Sauerland“ sind z.T. weithin sichtbare Einrichtungen des Fremdenverkehrs (z.B. die Aussichtstürme Astenturm in Winterberg 1884, Rhein-Weser-Turm in Kirchhundem 1932; Wintersporteinrichtungen Bobbahn 1910, Sprungschanze 1959, beide in Winterberg), aber auch Ferienhausgebiete  Bei Sundern-Wilde Wiese und der Erholung dienende Einrichtungen (z.B. Lungen- Foto: LWL/M. Philipps heilstätten Beringhausen in Meschede 1892/93; Kurkliniken und -einrichtungen Bad Fredeburg nach 1970) auch die großflächigen Stauseen (1905 Alte Henne-, 1913 Möhne-, Eine erneut vertiefte Volksfrömmigkeit im Gefolge des 1935 Sorpe-, 1955 neue Henne- und 1965 Biggetalsperre) „Kulturkampfes“ der 1870er Jahre drückt sich ebenso in sowie Wasserkraftwerke (allein zehn Kraftwerke an der den Kreuzwegen wie in den heute von mächtigen Bäumen Ruhr, drei an Talsperren). malerisch überschatteten Hof- und Wegekreuzen aus.

Nach dem starken Deindustrialisierungsprozess seit Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche dem 18. Jh. zeugen von Bergbau und Weiterverarbeitung und -elemente von Eisen und Buntmetallen älterer Zeit fast ausschließlich Geländespuren und Bodendenkmäler. G Im Raum Iserlohn-Altena-Lüdenscheid ist spätestens 278 seit dem Hochmittelalter Eisenerz gewonnen, bzw. ver- Zahlreicher werden die erhaltenen Zeugnisse für die arbeitet worden. Schwerpunkt der Verarbeitung war die Jahrzehnte nach 1850. Noch vor dem Bau der Eisen- Drahtzieherei und die in Iserlohn beheimatete Herstel- bahnlinien erlebte das alte Bergbaurevier um den Eisen- lung von Kettenpanzern (KLB 21.01). berg von (Bestwig-) Ramsbeck wenig nach 1850 den wohl spektakulärsten Versuch der weitgehenden Neu- G Das Lennetal steht in langer Tradition der Nutzung der gründung eines kombinierten Bergbau- und Hüttenbetrie- Wasserkraft für eisengewerbliche Zwecke. Höhenbur- bes schon unter industriellen Vorzeichen. Drei große gen geben Zeugnis für die Bedeutung des Tales im Neusiedlungen für angeworbene Bergleute (Ramsbeck, Mittelalter und für die nationale Burgenromantik (um Andreasberg, Heinrichsdorf), ein Produktionsgebäude und 1900). Siedlungen und Industrieanlagen in dichter Fol- der Hüttenkamin von 1854 zeugen bis heute von diesem ge machen entscheidende Etappen der Entwicklung spekulativ überhitzten Unternehmen. der Kulturlandschaft augenfällig (KLB 21.01).

Hervorzuheben sind weiter der Kupferhammer in War- G Der Kalkbereich zwischen Hagen und Balve/Hönnetal stein, Hüttenanlagen und Wohngebäude in Meggen und ist wichtig aus forschungsgeschichtlicher Sicht. Er ist Brilon-Wald sowie die Luisenhütte in Wocklum bei Balve. eine bedeutende archäologische und paläontologische Heute eines der herausragenden Technischen Kulturdenk- Fundregion. Das umfangreiche Fundmaterial aus den male Westfalen-Lippes war dieser 1854 für Holzkohlebe- Höhlen des Hönnetales wird im Wesentlichen in das feuerung konzipierte Hochofen schon nach wenigen Jah- Paläolithikum und die vorrömische Eisenzeit datiert. ren der Konkurrenz des im Entstehen begriffenen Ruhrge- Neben pleistozänem Material sind in alten Schlotten Di- biets nicht mehr gewachsen, da wegen des fehlenden nosaurierreste der Unterkreide entdeckt worden. Be- Bahnanschlusses der Antransport sowohl von Rohstoff (Erz merkenswert sind Funde von Menschenresten des Me- aus dem Siegerland) als auch von Brennstoff (Steinkohle so- und Neolithikums.Im tiefen Taleinschnitt des Hön- bzw. Koks aus der Region um Dortmund) ökonomisch nicht netales und auf den begleitenden Höhen wird die Terri- zu bewältigen war. torial-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Verkehrsentwick- lung in großer zeitlicher Tiefe seit dem späten Mittelal- Einige Partien der Kulturlandschaft „Sauerland“ werden ter dokumentiert (KLB 21.01). von Brüchen und Halden als Zeugnissen des (bisweilen noch fortschreitenden) Abbaus von Steinen und Schiefer G Der Kleinweiler Sundern-Wilde Wiese ist eine Montan- bestimmt; die außergewöhnlich großen Kalksteinbrüche siedlung in einer Höhenlage von 520 bis 600 m ü. NN.

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In den umgebenden Wäldern befinden sich Spuren G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- historischen Bergbaus (KLB 21.02). sondere als Bodenarchiv, sind Affeln, Allendorf, Alte- na, Arnsberg, Attendorn, Bad Fredeburg, Balve, Bele- G Der Arnsberger Wald mit Arnsberg und den Kölnischen cke, Bilstein, Bödefeld, Brilon, Drolshagen, Eslohe, Bergstädten ist ein spezieller Ausschnitt des Landes Eversberg, Freienohl, Grevenstein, Hachen, Hagen NRW. Das ehemalige Jagdrevier ist in einer außerge- (Sundern-), Hirschberg, Iserlohn, Kallenhardt, Lang- wöhnlichen Größe als zusammenhängender Wald er- scheid, Lüdenscheid, Meinerzhagen, Menden, Me- halten und gibt Auskunft über die Forstgeschichte. Um schede, Neheim, Neuenrade, Obermarsberg, Olpe, Rüthen-Kneblinghausen sind zahlreiche mesolitihische Plettenberg, Rüthen, Schmallenberg, Silbach, Sun- Oberflächenfundstellen und beweisen eine attraktive dern, Warstein und Winterberg. Region für die letzten Jäger und Sammler. Die Lage der Städte Belecke, Hirschberg, Kallenhardt und Rüthen G Besondere Blickbeziehungen sind auf Hohenlimburg auf Bergkuppen ist für die Kölnischen Stadtgründun- gerichtet. gen im Sauerland charakteristisch. Arnsberg besitzt als Regierungsstadt mit der historischen Altstadt und dem klassizistischen Stadterweiterungsgebiet Bedeutung. Die Möhne-Talsperre ist ein Zeugnis der Wasserbau- kunst (KLB 21.03).

G Das „Alte Testament“ bei Altenhellefeld und die „Caller Schweiz“ sind beispielhafte Landschaftsausschnitte des offenen, agrarisch genutzten Sauerlandes mit his- torischen Landnutzungsformen (Niederwälder, Wachol- derheiden, Kalkmagerrasen) (KLB 21.04).

G Die weite und nur schwach reliefierte Briloner Hochflä- che mit der Stadt Brilon ist eine intensiv genutzte offe- ne Agrarlandschaft. Sie lässt bis heute den Wüstungs- vorgang zur Zeit der Stadtgründung und umgekehrt die planmäßige Wiederbesiedlung in den 1950er und damit zwei für die Kulturgeschichte des Sauerlandes 2 7 9 gleichermaßen bedeutsame Entwicklungsschübe er-

kennen. Sie weist Zeugnisse des frühneuzeitlichen  Im „Alten Testament“ Bergbaus und der Verhüttung auf. In den nahegelege- Foto: LWL/M. Philipps nen Wäldern ragen die Bruchhauser Steine als Identi- tätsstifter empor (KLB 21.05). Leitbilder und Ziele G Das Ebbegebirge gibt Zeugnis für die Verknüpfung von Natur-Ressourcen und der Forst- und Industriegeschich- Das Sauerland ist eine frühe Montanregion gewesen. te (historischer Erzabbau und Köhlerbetrieb, Hütten- und Die damalige Bedeutung ist heute nicht mehr vorrangig Mühlenstandorte (KLB 21.06). der Landschaft abzulesen. Sie erweckt in weiten Berei- chen den Eindruck einer Naturlandschaft und erfüllt somit G Der Raum Schmallenberg im Hochsauerland zeigt die die Voraussetzungen für eine Erholungslandschaft. Land- charakteristische Vielfalt ländlicher Siedlungen ein- und Forstwirtschaft tragen eine große Verantwortung zur schließlich typischer Wandlungen der Bauformen sowie Erhaltung der bäuerlichen Kulturlandschaft als Basis für überregional bedeutende Einzelmonumente (KLB 21.07). die Erlebnis- und Freizeitfunktion des ländlichen Raumes.

G Die Winterberger Hochfläche gibt Zeugnis über die G Bei Umstrukturierung heutiger landwirtschaftlicher Ver- Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte (Ackerterrassen- hältnisse ist die Pflege der Landschaft zu fördern. Das systeme unter Wald, Bergbauwüstungen, Standorte der jetzige Landschaftsbild und der damit verbundene Kleineisenindustrie) und ist eine traditionelle Erho- Charakter ist typisch und erhaltenswert. lungslandschaft mit historischen Landnutzungsformen (Bergheiden) und den für das Selbstverständnis Nord- G Die Wälder sind landschaftsprägend und bedürfen ei- rhein-Westfalens wichtigen Ruhr- und Lennequellen ner besonderen Berücksichtigung. Die Fichtenwälder (KLB 21.08). sind Ergebnis und Zeugnis einer bestimmten Wirt- schaftsepoche und typische Elemente dieser Kultur- G Weitere besondere Kulturlandschaftselemente sind die landschaft. Zur Förderung eines vielfältigen Land- adeligen Häuser Neuenhof und Rhade mit ihren bauli- schaftsbildes sollte allerdings die Erhöhung des Laub- chen und landschaftlichen Bestandteilen sowie das waldanteils und eine naturgemäße Waldbewirtschaf- Kohlberghaus in seiner landschaftlichen Einbettung. tung angestrebt werden.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 21 // Sauerland

G Die Offenhaltung der Täler im Bergland entspricht dem Wunsch nach Vielfalt und optischer Gliederung des Raumes. Eine Nutzung als Grünland ist der Landwirt- schaft zu ermöglichen. Die Unterstützung der Land- wirtschaft bei einer Flächenpflege nach ästhetischen Kriterien ist zu leisten.

G Für die Kalksenken und Hochebenen sollte überge- ordnet gelten: Erhaltung des offenen Landschaftscha- rakters als Zeugnis einer alten Agrarlandschaft. Des- halb besteht Anlass der Definition von Wald-Feld- Grenzen und Steuerungsbedarf bei der Anlage von Weihnachtsbaumkulturen.

G Anthropogene Biotope sollen weiterhin als Natur- schutzgebiete ausgewiesen werden. Pflegepläne sind unterstützend nötig.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Insbesondere sind Hohlwege als eine durch die mecha- nisierte Forstwirtschaft stark gefährdete Denkmalgat- tung zu schonen. Mit den Forstbehörden sollten denk- malverträgliche Nutzungskonzepte entwickelt werden.

G Der Kalkabbau gefährdet bekannte wie unbekannte Bodendenkmäler. Eine enge Abstimmung mit den Ab- baubetrieben ist notwendig. 280 G Gebäude sollen sich – ohne nostalgischen Kulissenbau – in Kubatur, Baumaterialien und Farbgebung an der histo- rischen Bausubstanz orientieren.

G Gewerbegebiete sollen in ihrer Ausdehnung und Lage die besondere Situation der Einsehbarkeit im Mittelge- birge berücksichtigen.

G Der Wert alter, oft seit Jahrtausenden von Menschen besuchter Kultstätten (Felsen, Höhlen, Quellen u.a.) ver- dient Achtung.

G Der geologische Untergrund Kalk ist in weiten Berei- chen verantwortlich für die frühe Entwicklung der Kul- turlandschaft. Heute wird diese durch seinen Abbau bedroht. Eine Abwägung zugunsten der Kulturland- schaft ist nötig.

G Der Tourismus und das Ausüben von Sportarten in der Landschaft müssen die Eigenart des Landschaftsbildes respektieren und den Naturhaushalt als Grundvoraus- setzung einer intakten Kulturlandschaft schonen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land 6.2

Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land Naturräumliche Voraussetzungen

Das Bergische Land wird im Untergrund von devon- Lage und Abgrenzung ischen Tonschiefern, Grauwacken und Sandsteinen aufge- baut; kleinflächig eingestreut findet sich auch Kalkstein. Es Die Kulturlandschaft „Bergisches Land“ umfasst den ist ein stark zertalter Mittelgebirgsraum. An den Hängen Oberbergischen Kreis, den westlichen Teil des Märkischen und auf den Höhenrücken haben sich häufig gering mäch- Kreises, den nordöstlichen Teil des Rhein-Sieg-Kreises, tige Braunerden und Ranker entwickelt; die Talböden wer- den südöstlichen Teil der kreisfreien Stadt Köln, große Tei- den von Grundwasserböden ausgefüllt. le des Rheinisch-Bergischen Kreises, den Ostrand der kreisfreien Stadt Leverkusen und die südlichen bzw. süd- Das wellige Hügelland im westlichen Teil mit einer östlichen, ländlich geprägten Teile der kreisfreien Städte durchschnittlichen Höhe von 300 m ü. NN steigt in den Remscheid, Solingen und Wuppertal. östlichen Teilen bis 500 m ü. NN an und wird von der Ag- ger, Bröl, Dhünn, Sülz, Wiehl und der oberen Wupper so- Im Westen wird die Kulturlandschaft „Bergisches Land“ wie ihren Nebenflüssen durchzogen; teilweise sind die Tä- angelehnt an die naturräumliche Gliederung von der Nie- ler als Kerbtäler ausgebildet. derterrasse des Rheins und dem Heidenterrassenband be- grenzt. Wie im Norden wird die Markierung auch durch die Durch die Luvlage verzeichnet das Bergische Land hohe höhere Dichte der Siedlungen sowie der zunehmenden Niederschläge von 1.000 bis 1.300 mm pro Jahr mit einem Gewerbe- und Industriedichte in den benachbarten Kultur- Maximum im Dezember. Das feuchte Klima in Verbindung landschaften „Niederbergisch-Märkisches Land“ und mit der Topographie bietet nur ungünstige Voraussetzun- „Rheinschiene“ bestimmt. gen für den Ackerbau. Das Relief, die vergleichsweise ge- ringwertigen Böden und die hohen Niederschläge mit au- Die Abgrenzung im Osten erklärt sich durch die Be- ßerordentlichem Wasserreichtum hatten für die siedlungs- siedlungsstruktur und den Waldbedeckungsgrad. Im Sü- und agrargeschichtliche wie auch die wirtschafts- und ge- den wird das Gebiet durch den Nutscheid-Höhenzug be- werbegeschichtliche Entwicklung Konsequenzen, deren grenzt. Im Süden grenzt das Gebiet an die Kulturland- Raumwirksamkeit bis heute prägend ist. schaft „Nutscheid-Sieg“. Die wichtigsten Biotope befinden sich in den Auenflä- chen der Flüsse und Bäche sowie in den Laubwäldern. 281

Geschichtliche Entwicklung

Während der Steinzeit durchstreifte der Mensch das Ber- gische Land jagend und sammelnd, insbesondere entlang der Gewässer. Hinweise auf Siedlungsplätze sind bisher nicht bekannt. Das ausgeprägte Relief und die steinigen, schluffigen Lehmböden waren für die bronze- und eisenzeit- liche Landwirtschaft ungeeignet. Dennoch fand eine lockere Besiedlung an den Unterläufen der Dhünn, Sülz und Agger sowie auf der Hochfläche bei Neunkirchen-Seelscheid statt, da die westlichen Randhöhen von Löss bedeckt waren.

Hier, am Rande der damaligen Besiedlung, wurden auch die bekannten Ringwälle Erdenburg, Güldenberg und Lüde- rich errichtet. Im Inneren des Bergischen Landes weisen le- diglich vereinzelte Funde am Oberlauf der Dhünn und Agger auf eine saisonale Nutzung des Waldes als Waldweide, für den Holzeinschlag und als Jagdgebiet hin.  Am Nutscheid Foto: Naturpark Bergisches Land Der Erzbergbau ist seit dem 5. Jh. v. Chr. im westlichen Bergischen Land nachgewiesen (Kupfererzbergbau bei Rös- rath). Für das letzte Jahrhundert v. Chr. sind Erzschmelzan- Der Name „Bergisches Land“ wird nicht – wie man viel- lagen ebenfalls aus dem Königsforst nahe Rösrath belegt. leicht vermuten kann – von seiner Topographie abgeleitet, Aus römischer Zeit liegen Nachweise des Bergbaus auf sondern der Name stammt vom Herrschergeschlecht der Silber und Bleierze vor. Grafen von Berg, das seit dem 11. Jh. – vermutlich aus dem Rechtsrheinischen stammend – im Bergischen Land Das Bergische Land war im Frühmittelalter (5. bis 8. Jh. immer mehr an Bedeutung gewann. n. Chr.) ein geschlossenes Waldland, aus dem kaum Sied-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land

lungsfunde bekannt sind. Nur im Bereich der Niederter- Eine Kartierung dieser Ortsnamen zeigt jedenfalls eine rasse entlang des Rheins (Kulturlandschaft „Rheinschiene“) Konzentration von Ortschaften in einem Gebiet, in dessen finden sich fränkische Gräberfelder (Niederkassel-Rheidt, Grundherrschaften, z.T. historisch nachweisbar, aus Westfa- Bonn-Oberkassel u.a.). Aber auch hier sind Siedlungen ar- len stammende Adelige ansässig waren. Im Nordosten chäologisch kaum fassbar. herrschten die erstmals 1145 genannten Grafen von Har- denberg, die dem niederrheinisch-westfälischen Reichskreis Dieses Bild änderte sich etwa ab dem 9. Jh. Bedingt angehörten. Das Gebiet zwischen Wupper und Dhünn (Amt durch eine Klimaverbesserung und die dadurch steigende Beyenburg und Bornefeld) war noch im 11. Jh. im Besitz der Produktion landwirtschaftlicher Güter, stieg die Bevölkerung Grafen von Werl, einem sächsischen Adelsgeschlecht aus im Altsiedelland westlich des Rheins bis um 1300 stark an. der Grafschaft Werl in Westfalen. Mitte des 11. Jahrhunderts Es entstand nunmehr ein Bevölkerungsdruck. Während ist auch eine „von Werl“ in Kronenberg belegt. des hochmittelalterlichen äußeren Landesausbaues im 11./12. Jh. wanderten Bevölkerungsteile in das fast unbe- Im Südosten des Bergischen Landes (Amt Windeck) siedelte Bergische Land aus, rodeten dort Waldgebiete herrschten die Landgrafen von Thüringen. Wahrscheinlich und machten das Land urbar. Vermutlich bestand bereits sind die sächsischen Siedler im 10./11. Jh. ins Bergische zu dieser Zeit die territoriale Gliederung des Bergischen gekommen. Die Konzentration der mittelalterlichen Wall- Landes, wie sie aus dem Hochmittelalter bekannt ist. burganlagen entlang der Grenze von Territorien diente dann unter Umständen zur Absicherung der fränkisch- In karolingischer Zeit orientieren sich vereinzelte frühe sächsischen Grenze. Siedlungen oder Kirchengründungen des Bergischen Lan- des entlang der überregional verlaufenden Höhenstraßen, In besonderem Maße wurde ab dem 11. Jh. die Ge- die – zum größten Teil erst seit dem Mittelalter nachweis- schichte des Bergischen Landes durch die Erzbischöfe bar – die großen Städte am Rhein mit den östlichen Lan- von Köln und die Grafen von Berg geprägt, die seit den desteilen verbanden. Das Bistum Köln besaß bereits im 80er Jahren des 11. Jahrhunderts mit den Zusatz de Ber- 9. Jh. zahlreiche Kirchen und Klöster bis weit in den west- ge oder de Monte mit ihrem Hauptsitz Burg Berge an der fälischen/sächsischen Raum hinein, und verschiedene Köl- Dhünn auftreten. Durch eine geschickte Heiratspolitik, ner, Bonner und Düsseldorfer Kirchen und Stifte hatten durch Erwerb anderer Grafschaften und durch die Übertra- schon sehr früh Besitzungen im Bergischen Land. gung verschiedener Kirchen- und Stiftsvogteien erlangten die Grafen von Berg im Verlauf des Mittelalters fast in den Im 9. bis 10. Jh. setzt eine Phase des intensiven Baus Besitz des gesamten Bergischen Landes, dessen Name 2 8 2 von befestigten Anlagen, der Ringwälle und der sog. Mot- sich aus dieser Tatsache herleitet. ten (Niederungsburgen) ein. Die zahlreichen Motten finden sich häufig auf der Niederterrasse des Rheins oder in den Im 11. bis 13. Jh. wurde die bergische Landschaft Niederungen der Flusstäler. Es handelt sich um mit Was- grundlegend verändert. Die großen zusammenhängen- sergräben geschützte Burganlagen, die als befestigter den Waldgebiete verschwanden und machten einer flä- Wohnsitz der Adeligen fungierten (z.B. Bergisch-Gladbach, chigen Besiedlung Platz. Motte Kippekausen, Beienburg bei Rösrath). Die großen Wall- anlagen dagegen liegen erhöht auf Geländespornen und Die Verbreitung der erstmals im 12. Jh. urkundlich be- hatten einen eher fortifikatorischen Charakter (z.B. Eifgen- legten Ortschaften und Gehöfte konzentrieren sich im burg bei Burscheid, Heidenburg bei Engelskirchen). Die Wall- Westen des Bergischen Landes im Bereich der fruchtba- anlagen finden sich häufig im Grenzbereich von Grund- ren Lössgebiete und der wichtigen Überlandstraßen. Ver- herrschaften bzw. Ämtergrenzen oder an Flüssen. mutlich spielten im 12. Jh. Ackerbau und Handel eine grö- ßere Rolle als in den älteren Zeiten. Historisch, aber auch archäologisch von Bedeutung ist die Annahme, dass das Bergische Land in karolingischer Bis ins 13. Jh. verlagert sich die Besiedlung mehr nach Zeit auch von aus der westfälischen Börde stammenden Osten in den bislang noch unbesiedelten Raum. Durch die Sachsen teilweise besiedelt wurde. Aufgrund von Untersu- verbesserten Agrartechniken war es nunmehr möglich, die chungen über die Herkunft von Siedlungsnamen des Ber- ungünstigeren schweren Böden zu bearbeiten. Eine wichtige gischen Landes ist davon auszugehen, dass sich zwei Rolle wird die Viehzucht gespielt haben. Die gerodeten Flä- Richtungen der Besiedlung unterscheiden lassen. Auf- chen waren gut geeignet für eine Viehweidewirtschaft. Auch grund der Ortsnamensendungen auf -inghausen, deren der seit dem 12. Jh. allerorts florierende und von den Grafen Ursprung im westfälischen-sächsischen Siedlungsbereich von Berg geförderte Bergbau wird ein Grund gewesen sein, festgelegt wird, ist die Schlussfolgerung naheliegend, dass landwirtschaftlich ungünstigere Gebiete zu besiedeln. ein Teil der Siedler aus dem Osten aus den westfälischen Börden kam, während die westlichen Gebiete vom fränki- War das Hochmittelalter in Deutschland von einer Zu- schen Altsiedelland her bevölkert wurden. Leider gibt es nahme der Bevölkerung geprägt, so folgte im Spätmittel- aufgrund der nur geringen frühmittelalterlichen Quellenla- alter in fast ganz Europa ein starker Bevölkerungsrück- ge keine historischen Daten aus dieser frühen Zeit. Die äl- gang. Durch Klimaverschlechterung und mehrere Pest- testen Erwähnungen von Ortsnamen mit -inghausen stam- wellen ging seit Beginn des 14. Jahrhunderts die Bevöl- men erst aus dem 10. Jahrhundert. kerungszahl stark zurück.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land 6.2

Im Bergischen Land scheinen diese Wüstungserschei- ein, mit einer Blütezeit im 12./13. Jh. Die größte Raumwirk- nungen nicht so stark gewesen zu sein. Die Anzahl der samkeit hat heute der Bergbau des 18. bis 20. Jahrhun- Erstnennungen von Orten ist – bedingt auch durch den derts, beispielsweise die Bleiglanz- und Zinkblendegruben besseren Quellenstand – gegenüber denen der vorherigen des Lüderich (Overath), die erst 1978 eingestellt wurden. Jahrhunderte weiter gestiegen. Bereits vor der Entwicklung des Bergbaus und der Erz- Die hochmittelalterliche Besiedlung setzte von den Höhen verhüttung entstand im Mittelalter ein Netz von Handelswe- her ein und wanderte erst mit der verstärkten Nutzung der gen und -straßen, welches das Bergische Land im Innern Wasserkraft für Mühlen und Hämmer und mit der Verkehrser- erschloss und mit den Nachbarregionen verband. Von schließung und Industrialisierung seit dem 18./19. Jh. in die Köln aus über Kürten-Wipperfürth (Hansestraße oder Heer- Täler. Dabei bleibt die funktionale Differenzierung zwischen straße, heute B 506) nach Hagen bzw. Schlehbusch, Wer- den Höhenzügen und den Tallandschaften charakteristisch. melskirchen, Schwelm (heute B 51) wurden direkte Verbin- dungen nach Nordosten gefunden. Diese müssen auch Auf den Höhenzügen finden sich die alten, z.T. bis heute schon im 10. Jh. eingerichtet worden sein. genutzten regionalen und überregionalen Wegeverbindun- gen ebenso wie die alten Kirchdörfer. Abseits der Höhen- Dagegen weisen die anderen Straßenzüge direkt nach straßen entwickelten sich Weiler aus Einzelhöfen mit cha- Osten (Richtung Kassel oder Siegen). Nach Kassel führte rakteristischen Merkmalen und Grundrissen, die bevorzugt die Heidenstraße (Bensberg, Hohkeppel, Marienheide, Mein- in Hang- oder Muldenlage angelegt wurden. erzhagen) und band dort in das ostdeutsche Fernstraßen- system ein. Die Brüderstraße oder Brückerstraße führte Bewusst landschaftsbildbeherrschend wirkte sich der nach Siegen, um den Eisentransport von dort an den administrative Mittelpunkt Schloss Burg an der Wupper Rhein zu gewährleisten. seit dem 12. Jh. aus. Die 1133 errichtete Burg auf einer Höhe über die Wupper verfiel im 19. Jh. und wurde auf Ini- Die Gewässer in den Tälern wurden seit dem Mittelalter tiative des Schlossvereins von 1890 bis 1914 in historisie- zum Betreiben von Mühlen genutzt. Im späten Mittelalter render Form wieder aufgebaut und ist seit 1894 Sitz eines und der Frühen Neuzeit erhöht sich die Zahl der Mühlen bergischen Regionalmuseums. Das tief eingeschnittene und Hämmer, durch die neue Technik wandern auch die Flusstal, die dichte Waldvegetation und die inszenierte Verhüttungsöfen an das Wasser. Man schätzt insgesamt Burg sind von hoher Bedeutung für die regionale Identifi- etwa 1.000 ehemalige Mühlenstandorte im Bergischen kation und den überregionalen Tourismus. Land, mit unterschiedlichsten Funktionen von der Getrei- demühle über die Walk- und Sägemühle bis hin zur Pul- 283 Die Stadtgründungen des Spätmittelalters, die im Zu- vermühle u.a.m. sammenhang mit der Ausbildung und Sicherung der anei- nander grenzenden Territorien zu sehen sind, blieben bis heute Kleinstädte (z.B. Bergneustadt, Hückeswagen). Bre- ckerfeld und Wipperfürth waren Mitglieder der Hanse.

Die Landwirtschaft war auf Selbstversorgung ausgerich- tet und durch die Klimaverhältnisse extensiv und wenig er- giebig. Durch die intensive Wald- und Holznutzung für Ge- werbe und Landwirtschaft bis zum Beginn des 19. Jahr- hunderts unterlagen die Wälder einer starken Degradation. Großflächig dominierten Heiden und Niederwälder das Landschaftsbild. Erst unter preußischer Verwaltung wurde durch gezielte Aufforstungen Wald neu aufgebaut, zu- nächst überwiegend mit Fichte. Auf flachen und ebeneren Hangteilen mit natürlicher Drainage sowie kleineren Löss- inseln entwickelten sich Ackerflächen, die v.a. in der zwei- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Grünland umgewandelt wurden, welches heute die Höhen dominiert. Persistenzen  zeigen sich seit ca. 200 Jahren in der Wald-Offenland-Ver- Bei Breckerfeld teilung als charakteristischem Merkmal dieser Landschaft. Foto: LWL/M. Philipps

Eine große Bedeutung für die Entwicklung der Kultur- landschaft „Bergisches Land“ hatte der Bergbau mit an- Ab dem 18. Jh. werden die Täler zunehmend durch schließendem weiterverarbeitendem Gewerbe und Indus- Siedlungen erschlossen, denen Verkehrswege folgen. Zu trie. Bereits der vorrömische und römische Bergbau auf einer Ausbildung regelrechter Industrie-, Gewerbe und Rasen- und Brauneisenerz, Kupfer-, Silber- und Bleierz hat Siedlungsachsen in den Tälern kam es mit der Industriali- Spuren in der heutigen Landschaft hinterlassen. Der mittel- sierung ab dem 19. Jh., die oftmals die Altstandorte der alterliche Bergbau setzte v.a. in karolingischer Zeit wieder Mühlen und Hämmer weiter belegten.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land

Das Tal der Wupper südlich von Wuppertal war wegen Eine wirtschaftliche Nutzung mit großem Flächenanteil im der nutzbaren Wasserkraft zunächst für die Eisen-, dann Bergischen Land ist die Wasserspeicherung. Seit Beginn vor allem für die Textilindustrie seit dem späten 18. Jh. des 20. Jahrhunderts wurden 14 Talsperren als Brauchwas- von großer Bedeutung. Ab 1815 siedelten sich bedeuten- serspeicher oder zur Trinkwasserversorgung gebaut. de Unternehmen wie Wülfing, Hardt und Bauendahl in Dahlhausen, Vogelsmühle und Dahlerau an. Vor allem der Die Kulturlandschaft „Bergisches Land“ Land ist auf- Fabrikstandort Dahlerau mit seinem seit 1836 errichteten grund ihrer Topographie nur unzureichend durch die Ei- mächtigen Werksteinbau und der vollständig erhaltenen senbahn erschlossen. Dabei hatte die verkehrliche Er- Dampfmaschinen-Zentrale von 1891 zeigt noch heute schließung im Güterverkehr immer Vorrang vor den Inte- den isolierten „company-town“-Charakter dieser frühin- ressen des Personenverkehrs. Die Hauptstrecke ist die dustriellen Standorte. Verbindung von Köln über Overath, Gummersbach, Wip- perfürth nach Lüdenscheid und Remscheid bzw. Olpe, die Um 1800 wird das Bergische Land zusammen mit dem den Anschluss der Bergischen Industrien an die Absatz- Solinger, Wuppertaler und Remscheider Raum (Kulturland- märkte an der Rheinschiene und im Ruhrgebiet sicherte. schaft „Niederbergisch-Märkisches Land“) aufgrund seiner Eine weitere bedeutende Achse war die Verbindung von starken Industrieausstattung mit England verglichen. Be- Gummersbach nach Morsbach-Betzdorf. sondere Schwerpunkte der Eisenbearbeitung liegen im Tal der Agger und ihrer Zuflüsse (Schwerpunkt: Ründeroth, Die Erschließung des Raumes übernahmen Kleinbah- Gummersbach, Wiehl- und Leppetal) mit der Fertigung von nen, wie die Bröltaler Eisenbahn von Siegburg nach Eisen und Stahl als Vorprodukt sowie der Achsenfabrikati- Waldbröl/Gummersbach zwischen Morsbach, die Verbin- on. Die Textilindustrie zeigt ein ähnliches Verbreitungsmus- dung von Siegburg nach Overath (Aggertalbahn), die Ver- ter auf: beginnend an der oberen Wupper mit Wipperfürth, bindung Hoffnungsthal nach Lindlar und die Querverbin- Hückeswagen bis Wermelskirchen und Radevormwald wer- dung von Rösrath nach Bergisch Gladbach. Eine Neben- den v.a. im späten 19. Jh. die noch vergleichsweise freien bahn führte von Engelskirchen nach Marienheide (1897- Täler der oberen Agger und der Wiehl besetzt. Die Strunde 1958). In Gummersbach fuhr 1913-1953 eine Straßen- entwickelt sich zu einem Schwerpunkt der Papierindustrie. bahn, die nicht nur den Personenverkehr bediente, son- dern auch Güterverkehr betrieb. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts wird in Lindlar die Steinindustrie betrieben. Im 19. Jh. erlangt dieser Industrie- Kulturlandschaftscharakter zweig, bedingt auch durch die Bahnerschließung, große Ver- 2 8 4 breitung insbesondere im mittleren Oberbergischen Kreis. Das Landschaftsbild des Bergischen Landes hat auf- grund der Verflechtung seines natürlichen Potentials mit In Dahlhausen, Vogelsmühle und Dahlerau haben sich seiner kulturhistorischen Entwicklung seine heutige Vielfalt im 19. Jh. große Textilfabriken in Geschoss- und Shed- und Eigenart erhalten. Die Entwicklung vom Erz-, Holz- und dachkonstruktionen angesiedelt. Wasserlieferanten sowie einer tradierten Verhüttungs- und Eisenverarbeitungsregion zum Naherholungs- und bevor- zugten Wohngebiet der angrenzenden Ballungsgebiete be-

Kürten-Hembach stimmt die Identität dieses Raumes, der zu einem großen Foto: LVR/J. Gregori  Teil als Naturpark ausgewiesen wurde.

Ein großes Thema des Bergischen Landes ist das Was- ser, welches eine zentrale Rolle in der Kulturlandschafts- entwicklung des Raumes spielte. Die Talsperren sind Aus- druck der Bedeutung und der Nutzung des Wassers als bergischem Gunstfaktor und sind bedeutend für die Trinkwasserversorgung v.a. für die dicht besiedelte Kultur- landschaft „Rheinschiene“.

Das Bergische Land stellt aufgrund seiner Landnutzung und Nutzungsverteilung noch weitgehend eine ursprüngli- che historische Kulturlandschaft dar. Die land- und forst- wirtschaftliche Nutzung mit großen Grünlandbereichen und kleinbäuerlicher Struktur prägt heute das Land- schaftsbild des Bergischen Landes.

Die Waldverteilung zeigt neben kleinteiligem Wald an steilen Hanglagen auch größere zusammenhängende Flächen wie beispielsweise am Heckberg. Durch Wie- derbewaldungstendenzen in den letzten Jahrzehnten ist der Waldanteil steigend.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land 6.2

Im Landschaftsbild charakteristisch sind kleinflächige G Die mittelalterliche Straße Köln-Lennep-Schwelm Waldareale in Gemengelage insbesondere mit Grünland- (KLB 22.01) mit hieran liegenden Siedlungen ist ein ty- flächen sowie in der gegliederten Siedlungsstruktur mit ei- pisches Beispiel für einen Fernhandelsweg. ner Vielzahl zerstreut liegender kleiner Weiler und Einzel- höfe mit Hausbäumen, Bauerngärten mit Hecken, sied- G Die Klosterlandschaft Altenberg (KLB 22.03) ist ein lungsnahen Obstwiesen und traditionellen Baumaterialien überregional bedeutsames und identitätsstiftendes (Bruchstein, Fachwerk, Schiefer) sowie die farbliche Gestal- Beispiel für eine von Zisterziensern geschaffene histo- tung der Bauten („Bergischer Dreiklang“: weißer Putz, grauer rische Kulturlandschaft. Schiefer, grüne Fensterläden). G Aggertal und Leppetal (KLB 22.04) sind gut erhaltene Gut nachvollziehbar ist noch die Erschließung der Kultur- Beispiele für frühneuzeitliche, gewerblich geprägte landschaft „Bergisches Land“ über Höhenstraßen mit Bachtäler mit zahlreichen Hammerwerken und Zeug- Kirchdörfern und den im Hang in Quellmulden platzierten nissen der Steinindustrie. Weilern und Höfen. G Das Bensberger Erzrevier (KLB 22.05) weist Relikte von Die gewerbliche und bergbauliche Tradition ist durch Erzgewinnung und -verhüttung auf, die über einen Zeit- zahlreiche Relikte und überlieferte Strukturen in den Tä- raum von mehr als 2.000 Jahren entstanden sind. lern außerdem erkennbar. Besonders zu erwähnen sind die Vielzahl noch erhaltener Mühlen- und Hammerwerks- G Die Burg Bensberg und das Neue Schloss Bensberg standorte mit zugehörigen Wasseranlagen und eine große (KLB 22.05) bilden einen landschaftsbildprägenden Zahl ehemaliger Steinbrüche. Kontrapunkt zum Kölner Dom (Silhouettenwirkung).

Ein wesentlicher regionaler Wertschöpfungsfaktor ist die G Die Wahner Heide (KLB 22.06) ist eine mittelalterliche Ausstattung mit kulturlandschaftsbezogenen Museen. Die- Allmende und aufgrund der späteren militärischen se erläutern die Kulturlandschaft für Besucher und bieten Nutzung als Truppenübungsplatz bis heute als größe- Vermarktungsstrategien. Als Beispiele für bestehende Ein- re Heidefläche noch erhalten geblieben; zusätzlich richtung seien hier genannt: Erhaltung prähistorischer Relikte, wie Siedlungen, Gräberfelder. G Bergisches Freilichtmuseum Lindlar: Landwirtschaft, Wohnen und Arbeiten, Landschaft G Der Königsforst (KLB 22.06) ist ein geschlossener herr- schaftlicher Bannwald, der für die Jagd der Landesher- 285 G Rheinisches Industriemuseum Engelskirchen: Strom, ren eine große Bedeutung hatte und heute als Naher- Textilindustrie holungsgebiet der Stadt Köln dient. Bedeutsam ist eine große Anzahl prähistorischer Gräber. G Rheinisches Industriemuseum Alte Dombach: Papier- herstellung G Die mittelalterliche Stadt Siegburg und das mittelalterli- che Kloster auf dem Michaelsberg (KLB 22.06) sowie G Museum Wendener Hütte: Vorindustrielle Eisentech- die spätmittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Töpferei- nologie en sind überregional bedeutsam.

G Das Homburger Land (KLB 22.07) steht für eine Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche 500jährige reichsunmittelbare Herrschaft mit zentraler und -elemente Schlossanlage, kleinteiliger ländlicher Struktur und Zeugen der Gewerbeentwicklung. G Das Strundetal (KLB 19.09) ist reich an Zeugnissen der Entwicklung der Papierindustrie und Standort des G Brüderstraße Köln-Siegen als frühmittelalterlicher Fern- Rheinischen Industriemuseums. handelsweg war ehemals die wichtigste Verbindung des Oberbergischen Landes mit dem angrenzenden G Im Tal der Wupper sind Industrieanlagen mit ihrem Um- Siegerland und dem Rhein (KLB 22.08). feld von europäischem Rang erhalten (KLB 20.04). G Die Bergische Eisenstraße als spätmittelalterliche We- G Wie im Tal der Ennepe wird in deren südlichen Ne- geverbindung (KLB 22.09) hat ähnliche Bedeutung er- bentälern die frühe gewerbliche Orientierung als Cha- langt wie die Brüderstraße. rakteristikum der Kulturlandschaft besonders an- schaulich (KLB 20.06). G Die Straße von Frankfurt zum Hellweg als frühmittelalterli- cher Fernhandelsweg war von überregionaler Bedeutung. G Relikte der früh- und hochmittelalterlichen Eisenverhüt- tung mit mittelalterlichen Siedlungen und Hammerwer- G Ein Teil des Nutscheid-Straßenkorridors berührt das ken im Raum um Radevormwald sind montanarchäo- Bergische Land. Der Nutscheid-Rücken ist mit seiner logisch überregional bedeutsam (KLB 22.02). Wegetrasse ein elementarer, persistenter und raumprä-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 22 // Bergisches Land

gender Faktor seit Jahrtausenden. Sein hoher archäo- G Bewahrung der kleinräumigen Siedlungsstruktur und logischer, historischer und kulturlandschaftlicher Zeug- der ablesbaren Gliederung mit Dörfern, Weilern und niswert ist von überregionaler Bedeutung (KLB 30.01). Einzelhöfen in den höheren und mittleren Bereichen mit zugehörigen Gärten, Obstwiesen und bäuerlichen G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- Nutzwäldchen. sondere als Bodenarchiv, sind Bergneustadt, Beyen- burg, Breckerfeld, Burg an der Wupper, Hückeswa- G Bewahrung der Wald-Offenlandverteilung sowie Erhal- gen, Lennep, Radevormwald, Wipperfürth. tung und Pflege historischer Waldnutzungsformen.

G Kirchdörfer wie Engelskirchen-Ründeroth, Gummers- G Freihaltung und In-Wert-Setzung von Fernblicken und bach-Hülsenbusch, Gummersbach-Lieberhausen, Hal- Sichtbeziehungen. ver, Marienheide-Müllenbach, Lindlar, Lindlar-Hohkep- pel, Reichshof-Eckenhagen, Wenden sind prägende G Erhalt von Elementen und Strukturen der Gewerbe- Elemente der Siedlungsstruktur. und Industriegeschichte (z.B. Mühlen, Hämmer, Berg- bau, Steingewinnung). G Die bunten Kirchen, wie in Gummersbach-Niederhau- sen, Nümbrecht-Marienberghausen, Marienheide-Mül- G Konzentration der weiteren gewerblichen und industriel- lenbach, Wiehl-Marienhagen und Bergneustadt-Wiede- len Entwicklung auf die bereits bestehenden Flächen nest sind überregional bekannt. und Gebäude in den Industrie- und Gewerbegassen unter Bewahrung des industriekulturellen Erbes. G Mitteldevonische Kalke in der Paffrather Kalkmulde mit Fossilvorkommen sind von hohem Zeugniswert. G Nutzung der erhaltenen Wasserkraftanlagen für die Ge- winnung regenerativer Energie. G Die Aggertalsperre, Bevertalsperre, Brucher Talsperre, Dhünntalsperre, Kerspetalsperre, Lingesetalsperre, G Erstellung kulturlandschaftlicher Nutzungskonzepte Neyetalsperre, Panzertalsperre, Wahnbachtalsperre 0zum Erhalt der Grünlandwirtschaft und der Obstwie- und ihre funktional zugehörigen Anlagen (z.B. Stromge- sengürtel um die Orte. winnung) sind Ausdruck der bergischen Wasserbau- technik für die Trinkwasser- und Energieversorgung. G Bewahrung von Teilen der mitteldevonischen Fossilvor- kommen vor dem Abbau von Kalkgestein. 2 8 6 G Schloss Burg und Burg an der Wupper als topogra- phisch und historisch bedeutsame Festpunkte werden durch besondere Sichtbezüge, spezielle Blickwinkel und Blickachsen erlebbar.

G Schloss Gimborn als Sitz der ehemaligen Herrschaft Gimborn-Neustadt und Schloss Ehreshoven als prächtige Wasserschlossanlage im Tal der Agger sind Zeugnisse der Territorialgeschichte des Bergi- schen Landes.

G Ein Teilstück der Bergisch-Märkischen Eisenbahn von Oberbarmen (Kulturlandschaft „Niederbergisch-Märki- sches Land“) bis Dahlerau ist Zeugnis der Verkehrs- geschichte.

G Eine Vielzahl von historischen Handelsstraßen als Hö- henstraßen, teilweise mit begleitenden Landwehren, ist charakteristisch.

G Die große Zahl erhaltener Mühlen- und Hammerwerks- standorte mit zugehörigen wasserbaulichen Anlagen in Tälern, wie z.B. dem Lennefetal, ist bemerkenswert.

Leitbilder und Ziele

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler so- wie Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 23 // Medebacher Bucht 6.2

Kulturlandschaft 23 // Medebacher Bucht Entsprechend dem kleinteiligen Reliefmuster haben sich unterschiedliche Böden entwickelt. Auf den flachen Berei- chen existieren schiefrig-lehmige, teilweise tiefgründige, Lage und Abgrenzung relativ fruchtbare Braunerden. Auf den trockenen erhabe- nen Standorten sind dagegen basenarme, flachgründige, Die Kulturlandschaft „Medebacher Bucht“ umfasst den skelettreiche Ranker und Braunerden verbreitet, deren südöstlichen Teil des Hochsauerlandkreises mit den Stadt- landwirtschaftlicher Ertrag gering bis sehr gering ist. gebieten von Hallenberg und Medebach sowie den südli- chen Teil des Stadtgebietes von Winterberg. Die Fließgewässer Ahr, Liese, Orke und Nuhne führen vom Rothaargebirge zur Eder. Das Gebiet liegt im Regen- Der Gebirgskamm zwischen dem Kahlen Asten bei Win- schatten des Mittelgebirges und hat mit 700 bis 800 terberg und dem Etterskopf bei Willingen/Upland hat eine mm/Jahr deutlich niedrigere Niederschlagszahlen als das deutliche räumliche Orientierung nach Osten bewirkt. Die- Bergland. Dennoch ist es als kühlfeucht zu bezeichnen. se schlägt sich auch im Bestand an Baudenkmälern durch Nebel und Spätfröste sind häufig. unverkennbare hessische Merkmale nieder. Die Vegetationsausbildungen zeichnen die Gunst oder Un- gunst der Standorte nach. Neben intensiv genutzten Acker- Naturräumliche Vorraussetzungen schlägen kommen Hecken und Feldraine, artenreiche Grün- landgesellschaften unterschiedlicher Feuchte- und Nährstoff- Die Kulturlandschaft „Medebacher Bucht“ ist eine hügeli- stufen (Gold- und Glatthaferwiesen, Sumpfdotterblumenwie- ge, von bewaldeten Randhöhen umschlossene offene Ge- sen, Rotschwingelweiden, Silikatmagerrasen, Magerweiden birgsrandsenke um Hallenberg und Medebach. Sie liegt vor und -wiesen) vor. Auf flachen Härtlingsrücken wachsen Gins- dem schroffen Ostabfall des Rothaargebirges. Im Einzelnen terheiden, heideähnliche Vegetation und Feldgehölze. zeigt die Medebacher Bucht eine differenzierte Morpholo- gie. Zwischen die auffallend flache, von 450 m auf 350 m nach Südosten abfallende schiefe Ebene von Medebach Geschichtliche Entwicklung und den nur 300 bis 350 m hohen Münder Grund (Hessen) legen sich von Südwesten her die 450 bis 550 m hohen Rip- Die Kulturlandschaft „Medebacher Bucht“ hat mit dem pen, Höcker und Riedel des Hallenberger Hügellandes. westlich angrenzenden Kölnischen Sauerland die Territori-

2 8 7 Bei Medebach Foto: LWL/M. Philipps 

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 23 // Medebacher Bucht

algeschichte und damit die Zugehörigkeit zum Erzbistum Die ländliche Bausubstanz zeigt hessische Bautypen Köln und die Dominanz der katholischen Konfession ge- (Längs- und Querhäuser) und Gestaltungsmerkmale (kräftig meinsam. Seit 1815 gehörte diese Kulturlandschaft zum dimensionierte Hölzer, malerische Strebenformen und Schnit- Königreich Preußen. zereien). Dies trifft ebenso auf die Bebauung der beiden al- ten Städte Hallenberg und Medebach zu, wobei jedoch Medebach stark von Wiederaufbauten nach Stadtbränden aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt wird.

Unverkennbar ist durch zahlreiche öffentliche und kirchliche Bauten nach Entwürfen von Landbaumeistern aus der Zeit um 1850 (z.B.: Hallenberg Rathaus 1843; Me- debach Pfarrhaus 1850; Pfarrkirche Züschen 1855-1858) die Prägung der Kulturlandschaft durch die Zugehörigkeit zu Preußen seit 1815.

Wesentliche Bestandteile der Kulturlandschaft „Mede- bacher Bucht“ sind die zahlreichen Kreuzwege, darunter besonders prägnant derjenige in Düdinghausen mit Ob- jekten von 1886.

Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche und -elemente

G Der vielfältige Kulturlandschaftskomplex ist eine exten- siv genutzte Kulturlandschaft, wie sie nur noch selten  Kloster Glindfeld in Nordrhein-Westfalen vorhanden ist. Sie ist ein Ab- Foto: LVR/J. Gregori bild einer „alten“ Nutzung. Sie gibt der Landschaft nicht nur ihr unverwechselbares Aussehen, sondern auch einen Lebensraum für eine anthropogen begüns- 2 8 8 Kulturlandschaftscharakter tigte Brutvogelgemeinschaft (Neuntöter, Raubwürger, Schwarzstorch, Rotmilan, Braunkehlchen u.a.) Die Kulturlandschaft „Medebacher Bucht“ ist aufgrund der abgelegenen Lage und der relativen Verkehrsferne von G Die Restheideflächen und krüppelwüchsigen Bu- Land- und Forstwirtschaft geprägt. Die teilweise relativ un- chen-Niederwälder sind Relikte einer historischen fruchtbaren Bereiche und die politische und wirtschaftliche Waldnutzung. Stellung in der Peripherie, sowohl von Westfalen als auch von Hessen, sind Ursachen für die gebietstypische traditio- G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- nelle Landnutzung und das Landschafsbild. Diese Kultur- dere als Bodenarchiv, sind Hallenberg und Medebach. landschaft weist ein in Teilräumen noch kleinteiliges Nut- zungsmosaik auf, mit einem hohen Anteil an Saumstruktu- ren. Charakteristisch ist ein hoher Anteil des Dauergrünlan- Leitbilder und Ziele des an der landwirtschaftlichen Nutzfläche besonders im Bereich von Medebach und auf den flachgründigen Kup- G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler sowie pen, die „Ginsterköpfe“ genannt werden. Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne.

Auf schwierig zu bewirtschaftenden, wenig produktiven G Der reich gegliederte Landschaftscharakter der exten- Standorten haben sich bis heute alte Kulturlandschaftsbio- siv genutzten bäuerlichen Kulturlandschaft sollte insbe- tope erhalten. Hierzu zählen wertvolle Mager- und Feucht- sondere als seltenes Gut und als Ausgleichsraum zu grünlandtypen. Bis heute extensiv genutzte Äcker sind von den flächenmäßig überwiegenden intensiv genutzten hervorgehobener Bedeutung für den Naturschutz. Weitere Landschaftsräumen grundsätzlich erhalten werden. bedeutsame Landschaftselemente sind Heide-, Silikatma- Seine Bedeutung ist nur mit einer genügend großen gerrasen- und Kalkhalbtrockenrasen-Biotope. Ausdehnung gegeben.

Bezogen auf die Siedlungsformen dominieren in der Re- gion die Weiler und (Kirch-)Dörfer, die, wie das baulich bis auf Teile des Konventsgebäudes aus dem 17. Jh. reduzier- te ehemalige Augustinerinnenkloster Glindfeld, bevorzugt in der Tallage an Bachläufen angelegt wurden.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_24.qxp 17.10.2007 22:40 Seite 289

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant 6.2

Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant Höhenzügen bei Wassenberg-Hückelhoven an der Ostgren- ze und entlang der Linie Kirchhoven-Heinsberg-Dremmen.

Lage und Abgrenzung Mächtige Auenlehme haben sich in den Tälern abgela- gert, stellenweise in den Böschungsbereichen der Lössplat- Im Westen und Norden markiert die Staatsgrenze mit ten auch Lösslehme. Vorherrschender Bodentyp der Über- den Niederlanden von 1816 die Grenze der Kulturland- flutungsauen ist der Braune Auenboden, z.T. vergleyt, klein- schaft „Jülicher Börde – Selfkant“. Im Osten und Südosten flächig auch Auengley, Nassgley oder Anmoorgley. Dane- bildet die Rurniederung eine naturräumliche und struktu- ben sind überwiegend nährstoffreichere Gleye in verschie- relle Zäsur. Die Grenze zur Eifel wird im Süden besonders denen Ausprägungen teilweise großflächig entwickelt. Im durch die naturräumlichen Gegebenheiten wie die Mittel- unteren Rurtal kommen vielfach auch Pseudogley-Gleye vor. gebirgsmorphologie, die Böden und den Waldbede- ckungsgrad markiert. Die stärker niederrheinische gepräg- Hydrologisch wird der Raum von der Rur, Wurm und In- te Siedlungs- und Landschaftsstruktur führen zu einer Un- de geprägt und gehört zum Stromgebiet der Maas. Die ur- terscheidung von der benachbarten Kulturlandschaft sprünglich stark mäandrierende Rur und ihre Nebenbäche „Rheinische Börde“. haben im Norden eine 2 bis 9 km breite gewässerreiche, teilweise vernässte oder sumpfige Aue geschaffen, die bis Der westliche Kreis Heinsberg, der westliche Kreis Dü- zur niederländischen Grenze bis auf 29 m ü. NN abfällt. ren und der nordöstliche Kreis Aachen haben Anteil an Die Rur verlässt bei Kreuzau (130 m ü. NN) die Nordeifel dieser Kulturlandschaft. und durchströmt heute als begradigter Fluss bis zur Staatsgrenze die Bördenlandschaft über eine Länge von etwa 25 km nach Norden und mündet bei Roermond in die Naturräumliche Voraussetzungen Maas. Das mittlere Rurtal zwischen Kreuzau und Linnich bildet eine 1,5 bis 2 km breite Aue, in die die Inde mündet. Die Kulturlandschaft „Jülicher Börde – Selfkant“ erreicht In der weiten Rurniederung erheben sich einige flache, tro- im Süden eine Höhe von etwas mehr als 100 m über NN ckene Terrasseninseln. und in der unteren Rurniederung im Norden 29 - 35 m über NN. Sie umfasst die Jülicher Börde im Süden und Die Täler sind in die Hauptterrassenplatten der umge- den Bereich der Selfkant-Terrassenplatte im Norden, deren benden Bördenlandschaft eingeschnitten. Der Nordosten zentraler Bereich die leicht nach Norden geneigte Geilen- der Rurniederung ist durch zahlreiche, von der Hauptter- kirchener Lehmplatte ist. Diese geht im Westen bei Hön- rasse kommende Bäche (Birgeler, Rothen- und Schaag- 289 gen-Tüddern entlang einer 12 m hohen Geländestufe in bach) zerschnitten. die Mittelterrassenebene von Havert über und fällt nach al- len Seiten zu den umgebenden Niederungen ab. In die Der untere Indelauf bildet ein etwa 2 km breites Tal von Geilenkirchener Lehmplatte sind die Niederungszüge des Eschweiler bis zur Mündung in die Rur bei Jülich. Das un- Rodebaches und des Saeffeler Baches tief eingeschnitten; tere Wurmtal fällt von 100 m Geländehöhe nördlich von sie verlaufen in Ost-West-Richtung und fließen der sich im Herzogenrath bis auf ca. 30 m ü. NN bis zur Mündung in Westen anschließenden Maasebene zu. die Rur ab.

Der geologische Untergrund wird von jungtertiären flu- Klimatisch gehört die Kulturlandschaft „Jülicher Börde viatilen Sanden und limnischen Tonen gebildet, die von – Selfkant“ in eine Übergangszone zwischen der relativen Hauptterrassensedimenten wie Schottern, Kiesen und Klimagunst der Niederrheinischen Bucht und dem eher Sanden von Rhein und Maas überlagert werden. In den atlantischen Klima des Niederrheinischen Flachlands. Die Randbereichen bedecken Flugsand- und Dünenfelder die Niederschlagsmenge variiert zwischen 650 bis 750 mm. Selfkant-Terrassenplatte, insbesondere im Nordwesten. Die Jahresmitteltemperatur beträgt im Januar 2° C, im Ju- Kennzeichnend für den Raum ist die großflächige Überde- li 17° C. Die hauptsächliche Windrichtung ist westlich ckung mit Sandlöss und sandigem Löss der Weichsel-Kalt- bzw. nordwestlich. zeit, der über den Terrassenschottern lagert und eine meist um 2 m mächtige sandige Decklehmschicht gebildet hat. Geschichtliche Entwicklung Als Hauptbodentyp ist die Parabraunerde zu nennen, stellenweise finden sich Pseudogleye (Staunässeböden). In den rheinischen Bördelandschaften sind zahlreiche Ehemalige Trockentälchen sind mit Kolluvien gefüllt. mittel-, jung- und spätpaläolithische Feuersteinartefakte Belege für die Anwesenheit von Jägern der Neandertaler- Zur morphologisch sichtbaren Hauptterrasse wurde die- zeit und des Homo sapiens in den reichen Jagdgründen ser Schotterkörper, als sich im jüngeren Pleistozän die der ehemaligen eiszeitlichen Lösssteppen. Neben der Flusstäler von Rur, Inde, Wurm und den Nebenbächen tiefer Jagd spielte auch die Rohstoffversorgung mit Feuerstein in diesen hineinerodierten und in ihnen Sand- und Kies- aus den Flussschottern der Rur und weiter westlich gele- schotter der Mittel- und/oder Niederterrasse freilegten. Die gener Bäche eine wichtige Rolle (Magdalénienfundplatz Gei- Terrassen verlaufen als ehemalige Uferkanten parallel mit lenkirchen-Beeck). Darauf deuten Artefakte aus westischem

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant

Feuerstein, die in den spätjungpaläolithischen Siedlungen Zugleich stellte die Niederung einen bedeutenden Ver- Gönnersdorf und Andernach im Neuwieder Becken kehrsweg zu Land und zu Wasser dar. (Rheinland-Pfalz) entdeckt worden sind. Aus Fluss- und Bachniederungen gibt es viele Hinweise auf Siedlungs- Zeitgleiche Gräberfelder finden sich in der Börde selten; plätze mittelsteinzeitlicher Jäger und Sammler der Nach- die Brandbestattungen wurden in Urnengräbern unter eiszeit. Es sind in aller Regel Mikrolithen aus Feuerstein, Grabhügeln beigesetzt (beispielsweise bei Wassenberg, Hü- nur selten werden evidente Reste der Infrastruktur eines ckelhoven, Geilenkirchen u.a.). Verkehrstechnisch stellte die Jägerlagers entdeckt. Rur-Niederung die Verbindung von der Rheinischen Löss- börde an die Maas sicher. In diesem Zusammenhang ist ein Flussübergang bei Heinsberg/Wassenberg zu betrach- ten, den vermutlich eine der seltenen befestigten Wallanla- gen der rheinischen Eisenzeit sicherte.

Besonders in der Römerzeit war dieser Raum sehr dicht und regelhaft mit agrarisch wirtschaftenden Gutshöfen (vil- lae rusticae) besiedelt. Diese produzierten Grundnahrungs- mittel wie Getreide, Gemüse sowie Obst und betrieben Handwerk (z.B. Töpferei, Glasmacherei, Metallverarbeitung). Die Produkte wurden auf den lokalen Märkten der Land- städte (vici) wie beispielsweise Jülich oder Baesweiler ver- handelt. Durch langjährige archäologische Untersuchun- gen im Hambacher Forst wurde beispielhaft bekannt, dass die Lössbörden ein flächenhaftes Netz selbstständig wirt- schaftender villae rusticae überzog.  Jülicher Börde Foto: LVR/K.H. Flinspach Die meist eingefriedeten römischen Landgüter bestan- den in der Regel aus einem repräsentativen, ziegelge- deckten Haupthaus und mehreren Nebengebäuden, wie Die fruchtbaren Lössböden bildeten eine hervorragen- Bade-, Gesindehäuser, Scheunen, Stallungen, Speicher de Voraussetzung für die Besiedlung der Bördenland- und Werkstätten. Die Güter umfassten Flächen von bis zu 290 schaft seit dem frühen Neolithikum (Bandkeramik). Um- 5 ha. Diese lagen in ihren Wirtschaftsfluren. Außerhalb fangreiche Ausgrabungen bandkeramischer Siedlungs- der Hofflächen befanden sich regelmäßig feuergefährli- plätze (Forschungsprojekt Aldenhovener Platte) und deren che Werkstattbereiche, kleine Gräberfelder, private Heilig- Auswertungen machen die Lössbörden der südlichen tümer sowie die Anbindung an das überörtliche Wege- Rheinischen Bucht zum besterforschten bandkerami- netz. Der Wohlstand dieser Familienverbände war unter- schen Siedlungsraum Europas. schiedlich und lässt sich an zahlreichen Ausstattungs- merkmalen erkennen (eigene Frischwasserversorgung über Ebenfalls gut belegt ist die Besiedlung im nachfolgenden eine Wasserleitung, Badeanlagen wie beispielsweise in Üb- Mittel- (Rössener Kultur) und Jungneolithikum (Michelsber- ach-Palenberg (Park an der Wurm) noch heute sichtbar, poly- ger Kultur). Dagegen zählen archäologische Hinweise zum chromer Wandputz und Mosaike im Wohnbereich, Ausstat- anschließenden Spätneolithikum zu den großen Seltenhei- tung der Gräber u.a.m.). ten, und auch das Endneolithikum (Schnurkeramik und Glo- ckenbecherkultur) ist nur sporadisch bekannt. Zahlreiche römische Fernstraßen durchzogen die weitge- hend entwaldeten und ackerbaulich genutzten Börden. Die Die naturräumlichen Bedingungen boten beste Voraus- wichtigste West-Ost-Verbindung zwischen dem Atlantik und setzungen für eine weitere agrarische Nutzung in der vor- der Provinz-Hauptstadt Niedergermaniens, Köln, zieht sich römischen Zeit und ermöglichten eine dichte Besiedlung quer durch die Jülicher Börde. Nach der Eingliederung Gal- in den Metallzeiten. Die Gehöfte wurden nach einer Haus- liens und der Gebiete bis zum Rhein in das römische Welt- generation in ihrem Wirtschaftsraum neu errichtet (sog. reich im 1. Jh. v. Chr. wurde Jülich als römische Straßensta- Wandersiedlungen); einige Ansiedlungen blieben auch tion Iuliacum an einer Verengung des damals schwer zu über eine längere Zeit am Ort bestehen. Bei den Ansied- passierenden Rurtals gegründet. Der vicus entwickelte sich lungen handelt es sich um Einzelgehöfte (kleinteilige kontinuierlich als regionales Markt- und Handwerkszen- Mehrhausgehöfte), die regelhaft an den Hängen parallel zu trum. Die erste Erwähnung folgte 356 n. Chr. anlässlich ei- den Wasserläufen lagen (wie bei Alsdorf, Aldenhoven u.a.). nes Gefechts zwischen Truppen des Caesars Iulianus Ein kontinuierlicher innerer Siedlungsausbau ab der jün- (Apostata) mit fränkischen Kriegern. Die germanischen Ein- geren Bronzezeit (ca. 1.100 v. Chr.) führte zu einer voll- fälle führten um 310 n. Chr. zum Bau der ersten römischen ständigen Aufsiedlung dieser Kulturlandschaft in der mitt- Befestigung. Diese wurde von den Franken übernommen. leren Eisenzeit (um 500 v. Chr.). In der Rur-Niederung wur- Der römische Name des vicus Baesweiler ist dagegen un- den die hochwasserfreien Hochflächen besiedelt, da sie bekannt: auch hier entwickelte sich an der römischen Fern- günstige Bedingungen für eine Grünlandnutzung boten. straße ein regionales Markt- und Handwerkszentrum.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant 6.2

Die spätantike Zeit (3. und 4. Jh.) war von einer Konzentra- bau), die bis ins Hochmittelalter zurückreicht. Durch den tion der landwirtschaftlichen Betriebe auf wenige, sehr wohl- Flachsanbau entstand seit dem Spätmittelalter die häusli- habende Güter geprägt, die ihre Produkte weiterhin in den che Leinenweberei im nördlichen Bereich bei Heinsberg lokalen Märkten absetzten. Auf der spätrömischen, infra- und Erkelenz (Kulturlandschaft „Rheinische Börde“). strukturellen Grundlage entwickelte sich im 5. und 6. Jh. eine merowingische Siedlungslandschaft, die, ausgehend von An den Fließgewässern Rur, Wurm und Inde sowie ent- den römischen Zentren, eng an die optimale Siedlungsgunst lang der Bäche in der Rurniederung wurden zahlreiche ge- der Landschaft gebunden war. Eine Wiederbewaldung nicht werbliche Wassermühlen mit den zugehörigen Mühlengrä- genutzter Brachflächen war zu verzeichnen. Die eindrucks- ben errichtet. Die sich nördlich von Linnich weitende Rur- vollsten Relikte dieser Zeit sind die Gräberfelder, die die Be- niederung weicht aufgrund der naturräumlichen Beschaf- siedlungsentwicklung sowie die ethnische, soziale und de- fenheit erheblich von den angrenzenden Bördenflächen ab. mographische Verteilung der Bevölkerung nachzeichnen. Dort dominiert das Grünland und es sind noch Reste der Pappel- und Korbweidenkulturen erhalten geblieben. Süd- Seit der späten merowingischen und nachfolgenden ka- lich von Linnich hat die Rur ihren ursprünglichen Charakter rolingischen Zeit wurden viele der zuvor entstandenen mit zahlreichen Mäandern beibehalten. Zwischen Linnich Waldflächen gerodet und wiederum als Ackerland genutzt. und Staatsgrenze ist die Rur in den 1950er Jahren begra- digt worden. Heute wird die Rur wiederum renaturiert. Zwi- Die Besiedlung erfolgte in Straßendörfern und Weilern schen Düren und Jülich entstand im 16. Jh. an der Rur ein mit überwiegend geschlossenem Charakter, die im Früh- bedeutendes Papiergewerbe. Aufgrund der schlechten wirt- bzw. Hochmittelalter entstanden sind. Darüber hinaus schaftlichen Lage förderte Preußen um 1850 den Anbau prägten mittelalterliche Wehranlagen, sog. Motten, das von Korbweiden planmäßig, der allerdings seit den 1960er Siedlungsbild. Sie dienten dem niederen Adel als landwirt- Jahren wiederum an Bedeutung verloren hat. schaftliche Betriebe und boten mit ihrem aufgehügelten Wehrtum eine Zuflucht in kriegerischen Zeiten (z.B. Motte Traditionelle Gewerbezweige existierten bereits in der Rö- Alteburg bei Jülich). merzeit bei den Tonvorkommen von Langerwehe, wo Töpfe- reizentren entstanden. Dort wurden u.a. Ziegel hergestellt. Zusätzlich befinden sich in dieser Kulturlandschaft ein- zelne größere Gutshöfe als Einzelgehöfte sowie Klöster Als Baumaterial für die Gebäude fanden zunehmend die wie das 1147 erstmals erwähnte Kreuzherrenkloster Haus heute für dieses Gebiet typischen dunkelbraunen Ziegel- Hohenbusch bei Erkelenz. Viele wehrhafte Befestigungen steine Verwendung, die die Bördendörfer mit den kleineren des hohen Mittelalters entwickelten sich am Übergang Fachwerkhäusern, aber auch Herrenhäuser im Raum Hü- 291 zur frühen Neuzeit zu Wasserburgen und festen Häusern ckelhoven bis heute prägen. wie beispielsweise Haus Kambach und Burg Kinzweiler bei Eschweiler. Die Erschließung mit der Eisenbahn begann mit der Ver- bindung Mönchengladbach-Aachen, die 1849-51 eröffnet Jülich wurde in der karolingischen Zeit der Hauptort des wurde. Bei Baal zweigten die Verbindungen nach Jülich Jülichgaues (Pagus Iuliacensis). Besonders ab der Vereini- und Wassenberg, bei Lindern die Verbindung nach Heins- gung der Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg bildete Jülich ei- berg ab. Die Trassen der ehemaligen Bahnlinien sind bei- ne wichtige Machtregion im Rheinland. Die Zitadelle Jülich spielsweise im Bereich Wassenberg mit markanten Gelän- ist die älteste erhaltene Zitadelle Deutschlands und wurde deeinschnitten noch gut erkennbar. Einen betrieblichen nach 1545 von dem italienischen Baumeister Alessandro Mittelpunkt der Eisenbahnentwicklung bildete Jülich; von Pasqualini erbaut. Sie war Teil einer idealen Stadtbefesti- hier aus führten Bahnlinien nach Würselen/Aachen, nach gung und Teil der Residenzstadt Wilhelms V. Sie bildet Eschweiler und Mönchengladbach. In Jülich wurde ein noch heute das Zentrum der modernen Stadt. großes Ausbesserungswerk errichtet, dem im Zweiten Weltkrieg ein Kriegsgefangenenlager und Arbeitslager an- Die meisten Städte, die vor allem an Wegekreuzungen geschlossen wurde. Die meisten der Anlagen sind zwi- und Flussübergängen entstanden, sind aus Dörfern her- schenzeitlich verschwunden. vorgegangen und haben im Laufe des 13. und 14. Jahr- hunderts Stadtrechte erhalten: Düren zwischen 1184 und In Geilenkirchen querte die Aachener Bahn ab 1900 die 1212 (1246 als Reichstadt erwähnt), Jülich 1234, Heinsberg Geilenkirchener Kleinbahn, die die Verbindungen nach 1255, Wassenberg 1273, Geilenkirchen 1386, Linnich Alsdorf und Jülich sowie nach Gangelt/Tüddern herstellte 1393. Prägend sind weiterhin bis heute Straßen- und Hau- (Betrieb bis 1971). Sie diente dem lokalen Transport von fendörfer, Weiler und vereinzelte Gutshöfe. Gütern und Menschen und ist im Abschnitt Gillrath-Schier- waldenrath als Touristenbahn erhalten. In den offenen Fluren gab es Feldwege, teilweise auch Hohlwege, Raine, Landwehren, Feldgehölze, Kreuze und Im westlichen Bereich wurde im Wurmgebiet bei Übach- Bildstöcke, die von Einzelbäumen markiert waren. Bedingt Palenberg und bei Hückelhoven am Ostrand der Kultur- durch die fruchtbaren Böden gab es in Vergleich zu ande- landschaft „Jülicher Börde – Selfkant“ bis vor einigen Jah- ren Regionen relativ früh eine Tradition von verschiedenen ren Steinkohle gefördert. Von Süden nach Norden fort- Sonderkulturen (Wein- und Obstanbau, Flachs, Gemüsean- schreitend finden sich heute immer weniger ältere Berg-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant

baurelikte. Im Inde-Revier befinden sich mehrere Abbau- Kulturlandschaftscharakter schichten übereinander. Die älteste Schicht besteht aus Resten alter Gruben, Ruinen von Obertagebauten, von Die deutlich erkennbar unterschiedlichen Teilbereiche Pingen, zerwühlten und mit kleinen Halden überstreuten der Kulturlandschaft „Jülicher Börde – Selfkant“ sind ein Hängen sowie den Resten der Kottensiedlungen der früh- wesentliches Merkmal. Die Jülicher Börde gliedert sich in industriellen Epochen. mehrere durch Wasserläufe getrennte Lösslehm-Platten mit Gebieten von fast ausschließlich Einzelhöfen und an- Danach folgten größere Schachtanlagen mit beschei- deren mit Straßendörfern. denen Gebäuden und ausgedehnten Halden. Die ersten Arbeitersiedlungen waren um 1850 noch unscheinbar. Der Bereich des Rur- und Wurmtales mit völlig anderer Agrar- und Hausstruktur, den bereits mittelalterlich zu Müh- Die Bergbausiedlungen des frühen 20. Jahrhunderts lengräben umfunktionierten Bächen sowie der Konzentrati- sind zwar noch erhalten, aber verlieren durch den Ver- on von Adelssitzen, Orten (Städten) und Mühlen kontras- kauf der Häuser und deren individuelle Umgestaltung ih- tiert hierzu auffallend. ren Charakter. Die teils licht bewaldete Endmoränenlandschaft im Self- Bei Übach-Palenberg fehlen die Kleinzechen; das Ge- kant mit ihren Heideflächen, dem Bergdorf Hillensberg im biet wird von verschiedenen Arbeitersiedlungstypen der äußersten Südwesten des Selfkant, mit den befestigten neuesten Zeit geprägt (Gartenstadtsiedlungen der Zeit vor Städtchen Gangelt und Waldfeucht und dem Spargelan- dem Ersten Weltkrieg, lockere Siedlungen der 1920er Jahre bau auf den Sandböden leitet zum Maastal über. und Siedlungen der Nachkriegszeit). Der Kohlenbergbau rückte im Laufe der Zeit immer weiter nach Norden vor, wobei die Bergwerke immer größer wurden.

Im Gegensatz zum südlichen Eschweiler Gebiet entwi- ckelte sich im Wurmrevier keine Eisenindustrie. Kennzeich- nend für dieses Gebiet ist eine vielseitige Fertigungsindus- trie, die aktuell ebenfalls rückläufig ist.

Im 19. Jh. wurden die restlichen verbliebenen Waldflä- 292 chen gerodet. Die Teverener und Hambacher Heide west- lich von Übach-Palenberg erfuhren eine Aufforstung weit- gehend mit Kiefern.

Mit großflächigen Zusammenlegungen, die vor allem an neuen rechtwinkligen rasterförmigen Wirtschaftswegenet-  zen erkennbar sind, verschwand seit ca. 1900 allmählich In der Ruraue das alte Wegegefüge. Hierdurch blieb nur das überörtliche Foto: LVR/K.H. Flinspach Hauptstraßennetz erhalten.

Mit den Flurbereinigungen wurde die landwirtschaftliche Das Untere Rurtal und der Übergang zum Schwalm-Net- Infrastruktur tiefgreifend verändert. Neue Sonderkulturen te-Gebiet ist durch Mühlen, Flachsanbau und Leinenverar- entstanden in Form von Obstplantagen, Baumschulen und beitung geprägt; hier etwa verläuft die erkennbare Grenze Gärtnereien sowie Spargelanbau etwa bei Effeld. zum niederdeutschen Hallenhaus. Die deutliche feudale Prägung dieser Kulturlandschaft durch grenzbefestigende Großflächige Siedlungserweiterungen sowie gewerbli- Burgen im Grenzgebiet der jülischen und limburgischen che und industrielle Ansiedlungen sind vor allem bei den Einflussbereiche ist heute noch erlebbar. Städten Düren, Jülich, Heinsberg und Geilenkirchen kon- zentriert, aber auch an den größeren Dörfern sind seit den Die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung 1970er Jahren zunehmend Neubau-, Gewerbe- und Indus- durch Ziegeleien, der Umbau von Mühlen, der Stein- und triegebiete entstanden. Braunkohlenbergbau und die staatliche Förderung seit der Preußenzeit haben die historischen Strukturen nach- Die Versorgungs- und Infrastruktur sowie das Verkehrs- haltig verändert. netz (z.B. Bau der Autobahnen A 44 und A 46) wurden wei- ter ausgebaut. Die Korbflechter-Region entlang der Rur erfährt in jüngs- ter Zeit eine gewisse Wiederbelebung. Der Braunkohlentagebau Inden II südlich von Aldenho- ven dehnt sich über mehrere Gemeinden aus. In ver- Aufgrund der intensiven Ackernutzung und wegen des schiedenen Bereichen in der Rurniederung wird Kies- weitgehenden Fehlens von gliedernden Kulturlandschafts- und Sand abgebaut. elementen und -strukturen wie Wälder und Baumreihen

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant 6.2

bzw. Baumgruppen wird das offene Landschaftsbild der G Heinsberg: größte Motte Deutschlands; mittelalterliche Börde als abwechslungsarm empfunden. Burg und Stift, Kirche, Stadt; Festungsanlagen.

Die kulturhistorischen und vor allem die kunsthistori- G Korbweidenkulturen im Rurtal. schen Sehenswürdigkeiten wie Kirchen, Burgen, Schlös- ser, Parks, Klöster sowie die Selfkantbahn sind wichtige Grundlagen für die Naherholung. Leitbilder und Ziele

Andererseits haben kleine Kulturlandschaftselemente G Beim Fortgang der heutigen Entwicklungen werden wie Einzelgehöfte mit ihrer umgebenden Vegetation, weitere Teile dieser Landschaft durch die Ressourcen- Windmühlen, Schlösser, Klostergebäude, die Kirchtürme gewinnung (Braunkohlen und Kies) und den modernen der Pfarrdörfer, Einzelbäume, Wegekreuze, Feldkapellen Ackerbau ihre Identität und Eigenart verlieren und zu usw. einen größeren Ausstrahlungseffekt. einer Produktionslandschaft reduziert werden. Durch das Tiefpflügen wird das reichhaltige archäologische Die relativ breite Rurniederung hat dagegen mit Pappel- Bodenarchiv stark in Mitleidenschaft gezogen. Diese reihen, Baumgruppen, kleinen Waldareale einen sehr ab- Veränderungen haben bereits zu einem einseitig und wechslungsreichen Charakter. negativ geprägten Image für intensiv ackerbaulich ge- nutzte Teile dieser Landschaft geführt. Durch weitere Siedlungs- und Industrieverdichtungen sowie -erweite- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche rungen werden die durch die Offenheit geprägten rest- und -elemente lichen Wäldchen, Weiden und Wiesen in den wenigen Bachtälern, Alleen, Landwehren, Wallhecken, Obstwie- G Teilfläche des Kulturlandschaftsbereiches „Brachter sen, Weiden und Baumgruppen, die sich noch in Nähe Wald, Elmpter Wald und Meinweg“ (KLB 17.02) mit vor- der Siedlungen befinden, weiter zurückgedrängt. Die- geschichtlichen Grabhügeln, vorgeschichtlichen Sied- ser Entwicklung ist entgegenzuwirken. lungsplätzen an der Rur, dem Abschnitt einer römi- schen Straße, mittelalterlichen Motten, Landwehren, G Auf dem ersten Blick macht diese intensiv genutzte und Töpfereien sowie einem Abschnitt des Westwalls. aber immer noch mit archäologischen Kulturgütern (vom Neolithikum bis heute) reich ausgestattete sehr of- G Untere Wurm (KLB 24.01) mit vorgeschichtlichen und fene Kulturlandschaft mit Fernsichten einen fast mono- römischen Siedlungsplätzen, dem römischen Marktort tonen Eindruck, der jedoch bei näherer Betrachtung 293 Rimburg, dem Wurmübergang der römischen Straße täuscht. Vereinzelte Baumreihen, Wäldchen, Dorfsil- Köln-Heerlen sowie mittelalterlichen Mühlen und Burg- houetten (mit Kirchtürmen, Bäumen, Streuobstwiesen und anlagen und ebenfalls einem Abschnitt des Westwalls. Hausweiden), Einzelgehöfte, Schlösser, Klöster, Wind- mühlen, Wegekreuze oft mit Einzelbäumen, Bildstöcke G Mittlere Rur – Nideggen (KLB 24.02) mit vorgeschicht- u.a. haben durch die Offenheit eine besonders prä- lichen Siedlungsplätzen, römischen Siedlungsplätzen gende optische Wirkung. Die Sichtbezüge müssen und dem römischen Rurübergang, frühmittelalterli- weitgehend beibehalten werden und sind für die Iden- chen Orten, mittelalterlichen Mühlen, Mühlengräben tität der Bevölkerung von sehr großer Bedeutung. (Teiche) und Burganlagen, mit mittelalterlichen Motten (Jülich-Altenberg), mittelalterlichen und neuzeitlichen G Die intensiv genutzten Ackerböden stellen heute noch Städten sowie der neuzeitlichen Festung Jülich. die naturräumliche Voraussetzung für den Wert die- ses fruchtbaren und geschichtsträchtigen Raumes G Teilabschnitt der Römerstraße Köln-Heerlen (KLB 24.03). dar. Eine bodenschonende landwirtschaftliche Nut- zung der Lössböden ist zum Erhalt der archäologi- G Teil des Kulturlandschaftsbereiches „Indetal – Langer- schen Substanz und des offenen Landschaftscharak- wehe“ (KLB 27.03). ters anzustreben.

G Abschnitt der Aachen-Frankfurter Heerstraße (KLB 25.09). G Die Waldflächen befinden sich hauptsächlich an den Rändern bei Übach-Palenberg. Die erhaltenen Waldflä- G Teilabschnitt der Bahnlinie Köln-Welkenraedt (KLB 27.04). chen sind zu bewahren.

G Sichtbezüge im Umfeld von Heinsberg. G Reste der Obstgärten und -wiesen, Gärten und Weiden um die Dörfer, die den Übergang zur offenen Feldflur G Umgebung des Schlosses Effeld. bilden, sollten erhalten werden.

G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- G Erhalt der Arbeitersiedlungen des Kohlenbergbaus. sondere als Bodenarchiv, sind Aldenhoven, Düren, Gangelt, Geilenkirchen, Heinsberg, Jülich, Linnich, G Kleine, die offene Bördenlandschaft prägende Kultur- Randerath, Waldfeucht und Wassenberg. landschaftselemente wie Kreuze, Bildstöcke (meist im

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 24 // Jülicher Börde – Selfkant

Zusammenhang mit Einzelbäumen), Landwehren, He- cken und Baumreihen, Hofanpflanzungen, Feldgehöl- zen, Waldstreifen sind zu erhalten und zu pflegen.

G Flachskuhlen, Mergel- und Lösskuhlen (Heinsberger Land) sollen als solche erkennbar erhalten werden.

G Erhalt der Erkennbarkeit der geschlossenen Sied- lungsstruktur mit Straßendörfern, Weilern und Einzel- höfen (Gutshöfen).

G Beibehaltung der die Börde prägenden Ackerbautradition.

G Berücksichtigung der Belange des Kulturellen Erbes bei wasserbaulichen Maßnahmen z.B. der Fließge- wässerrenaturierung.

G Rückführung von Acker- in extensiv genutztes Grün- land in den Auen und an den Dorf- und Weilerrändern im Zusammenhang mit Flächenstilllegungen.

G Nutzung von herkömmlichen Baumaterialien (dunkel- braune Ziegel) auch für Neubauten, Stärkung der re- gional geprägten Baukultur.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt- kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Erhalt und Pflege der Burgen und Adelssitze sowie 294 der Mühlenstandorte.

G Bei den Straßendörfern gilt es nicht nur die ge- schlossene Siedlungsstruktur zu erhalten, sondern auch die prägenden Straßenfluchten, besonders bei Lückenbebauung.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 25 // Rheinische Börde 6.2

Kulturlandschaft 25 // Rheinische Börde und die hauptsächlich im Süden der Kulturlandschaft gele- genen Reste der Bürgewälder. Diese setzen sich aus ver- schiedenen Eichen- und Buchenwäldern zusammen, die Lage und Abgrenzung aufgeforsteten Waldgebiete bestehen aus unterschiedli- chen Nadel- und Laubwaldforsten. Die Kulturlandschaft „Rheinische Börde“ umfasst den von der Erft bzw. dem Ville-Rücken im Osten und der Rur im Westen begrenzten Teil der linksrheinischen Lössbörde. Erftaue bei Ottenheim Im Norden schließt sich das Schwalm-Nette-Gebiet an,  Foto: LVR/Archiv welches sich auch naturräumlich z.B. durch eine größere Dichte von Fließgewässern mit ihren Auen von der Börde unterscheidet. Im Süden und südwestlich schließt der Mit- telgebirgsraum der Eifel an.

Die Kulturlandschaft „Rheinische Börde“ beinhaltet den südwestlichen Teil des Rhein-Kreis Neuss, den westlichen Teil des Rhein-Erft-Kreises, den südwestlichen Teil des Rhein-Sieg-Kreises, den nördlichen Teil des Kreises Euskir- chen, den östlichen Teil des Kreises Düren, den östlichen Teil des Kreises Heinsberg und die südlichen sowie östli- chen Stadtteile der kreisfreien Stadt Mönchengladbach.

Naturräumliche Voraussetzungen

Die „Rheinische Börde“ wird im Wesentlichen aus einer von 200 m ü. NN im Süden auf 70 m ü. NN im Nordosten abfallenden Hauptterrassenfläche gebildet; diese trägt auf Schotterlehmen eine unterschiedlich mächtige Lössschicht. Im Bereich der Bürgewälder finden sich auch Pseudogley- böden. Die Morphologie ist weitgehend eben, nur im Nor- 295 den der Kulturlandschaft wird sie durch flache Kuppen und Im Osten bildet die Erft eine 2 km breite Talaue mit san- Rücken bewegter. Eine deutliche Geländestufe gibt es zu digen und tonigen Grundwasserböden, die von mit Pap- dem auf Mittelterrassenniveau gelegenen nordöstlichsten peln durchsetzten landwirtschaftlichen Flächen eingenom- Teil der Kulturlandschaft. men wird, nur bei Kerpen befindet sich noch ein kleines Bruchwaldgebiet. Im folgenden Mittelteil findet man noch Die „Rheinische Börde“ ist durch die fruchtbaren Löss- einzelne Altarme und Gehölzgruppen in der Aue. Bei Harff böden sowie ein ursprünglich ausgeprägteres Relief mit durchbricht die Erft die Ville indem sie sich nach Nordos- ausgeprägten Hochflächen, sanften Hängen und Wasser- ten zum Rhein wendet. Im Durchbruch ist die mit Auen- läufen charakterisiert.Die Rheinbacher Lössplatte bildet lehmböden bedeckte Talsohle verengt und besitzt relativ den südlichen Teil der „Rheinischen Börde“ und wird im steil geböschte Hänge. Süden und Westen von den Bruchschollen der Voreifel und im Osten vom Höhenzug der Ville begrenzt. Unter den geringmächtigen Lössauflagerungen von maximal 2 m lie- Geschichtliche Entwicklung gen die Schotter der jüngeren Hauptterrasse des Rheins, die in Erosionslage, z.B. am östlichen Rand des Swist- Wie in der Kulturlandschaft „Jülicher Börde – Selfkant“ sprungs, auch großflächig an die Oberfläche treten. Im Sü- ist die Entwicklung in der Steinzeit verlaufen. Herauszuhe- den werden sie von Eifelschottern überlagert. Entlang der ben ist die besonders intensive Begehung der Erftaue im größeren Bäche sind Auenlehme abgelagert. Des weiteren Mesolithikum (Beburg-Königshoven). kommen geringmächtige, aber flächenhaft ausgebildete Kolluvien vor. Die Nutzungsmuster der Steinzeit fanden in den Metall- zeiten ihre Fortsetzung mit einer agrarischen Nutzung und Die Hauptgrundwasserscheide zwischen Rur und Erft einer dichten Besiedlung. Die Gehöfte wurden nach einer wird stark durch die Sümpfungsmaßnahmen der großräu- Hausgeneration in ihrem Wirtschaftsraum neu errichtet migen Braunkohletagebaue (bis 80 km² Abbaufläche, Ab- (sog. Wandersiedlungen); einige Ansiedlungen blieben auch bautiefe bis 300 m) im Zentrum der Kulturlandschaft „Rhei- über einen längeren Zeit am Ort bestehen. Bei den Ansied- nische Börde“ beeinflusst. Die waldarme Landschaft wird lungen handelt es sich um Einzelgehöfte (kleinteilige Mehr- von ausgedehnten, strukturarmen landwirtschaftlichen Flä- hausgehöfte), die regelhaft an den Hängen parallel zu den chen geprägt. Ausnahmen bilden die Rekultivierungsräu- Wasserläufen lagen (wie bei Titz, Bergheim, Kerpen usw.). me, Aufforstungsinseln und Bergehalden der Tagebaue Dieses Siedlungsschema scheint in der Bronzezeit bis in

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 25 // Rheinische Börde  Kloster Schweinheim, Euskirchen-Kirchheim Foto: LVR/J. Gregori

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die Jüngere Eisenzeit gleich geblieben und erst in der Spät- läufen. Darüber hinaus ist eine bedeutende Ost-West-Ver- latènezeit unter dem Einfluss der römischen Eroberungen bindung zu postulieren, die von der Maas ausgehend die aufgegeben worden zu sein. Eine geschlossene und mit Börde bis zum Rhein hin querte. Wall und Graben befestigte Siedlung bei Niederzier sowie eine vergleichbare bei Meckenheim verdeutlichen größere Die Rodungen der Wälder nahmen im Umfang in der dörfliche Siedlungen der ausgehenden Eisenzeit. Römerzeit seit dem 1. Jh. n. Chr. stark zu. In dieser Zeit gehörte dieser mit fruchtbaren Böden begünstigte Raum Der archäologische Kenntnisstand für die Metallzeiten ist zum landwirtschaftlichen Produktionsgürtel um Köln. Die in der Rheinbacher Lössplatte inzwischen als sehr gut an- Kulturlandschaft war durch zahlreiche Einzelhöfe (villae rus- zusehen. Intensive Prospektionen im Rahmen eines For- ticae) vollständig aufgesiedelt. Diese produzierten Grund- schungsprojektes von 1993 bis 1998 in einem kleinen Aus- nahrungsmittel wie Getreide, Gemüse und Obst und be- schnitt der Rheinbacher Lössplatte (36 km²) im Gebiet von trieben Handwerk. Die Produkte wurden auf den lokalen Swisttal und Rheinbach bestätigen, dass die Landschaft Märkten der Landstädte (vici) wie beispielsweise Zülpich, während der Metallzeiten nahezu vollständig besiedelt und Euskirchen-Billig oder Bergheim-Thorr verhandelt. genutzt war. Durch die folgende intensive landwirtschaftli- che Nutzung sind bereits viele Plätze in Mitleidenschaft ge- Die meist eingefriedeten römischen Landgüter bestan- zogen. Für diese Fundstellen sind bei Überplanungen ar- den in der Regel aus einem repräsentativen, ziegelgedeck- chäologische Untersuchungen geboten, um die Kenntnis- ten Haupthaus und mehreren Nebengebäuden, wie Bade-, se zum Leben und Handeln in damaliger Zeit mit moder- Gesindehäuser, Scheunen, Stallungen, Speicher und nen archäologischen und naturwissenschaftlichen Metho- Werkstätten. Die Güter umfassten Flächen von bis zu 5 ha. den zu erforschen. Diese lagen in ihren Wirtschaftsfluren. Außerhalb der Hof- flächen befanden sich regelmäßig feuergefährliche Werk- Metallzeitliche Gräberfelder finden sich in der „Rheini- stattbereiche, kleine Gräberfelder, private Heiligtümer so- sche Börde“ selten; die Brandbestattungen wurden in Ur- wie die Anbindung an das überörtliche Wegenetz. nengräbern unter Grabhügeln beigesetzt (z.B. bei Merze- nich, Düren, Vettweiß u.a.). Die Börde wurde durch Natur- Steinbrüche beim heutigen Schloss Liedberg lieferten pfade erschlossen, die entlang der Flussläufe anzuneh- Baumaterial für römische Städte. Zahlreiche römische men sind, wie an der Rur, der Erft sowie kleineren Bach- Fernstraßen durchzogen die weitgehend entwaldete und

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 25 // Rheinische Börde 6.2

ackerbaulich genutzte Börde. Hierzu gehören u.a. die rö- Das in Jülich (Kulturlandschaft „Jülicher Börde – Selfkant“) mischen Straßen Zülpich-Neuss und Trier-Köln. ansässige Adelsgeschlecht erlangt im Mittelalter große Be- deutung weit über die Region hinaus und wird zeitweise Die spätantike Zeit (3. und 4. Jh.) war von einer Konzen- zum politischen Gegenspieler der kirchlich-politischen tration der landwirtschaftlichen Betriebe auf wenige, sehr Macht der ehemaligen Colonia. Durch diese Bedeutung als wohlhabende Güter geprägt, die ihre Produkte weiterhin in Herrschersitz folgt eine entsprechende architektonische den lokalen Märkten absetzten. Darstellung der politischen Verhältnisse in der Renaissance durch die Errichtung der Jülicher Schloss – Zitadelle. Die Auf der spätrömischen infrastrukturellen Grundlage entwi- letzten Reste der spätrömischen Befestigung waren bis zu ckelte sich im 5. und 6. Jh. eine merowingische Siedlungs- diesem Zeitpunkt noch Bestandteil des Jülicher Adelssitzes. landschaft, die, ausgehend von den römischen Zentren, eng an die optimale Siedlungsgunst der Landschaft gebun- Zülpich dagegen zerfällt im hohen Mittelalter in drei den war. Eine Wiederbewaldung nicht genutzter Brachflä- Grundherrschaften, die zeitweise sogar in kriegerische chen setzte ein. Die Wälder breiteten sich daher wieder ver- Auseinandersetzungen vor Ort verstrickt waren. Das mittel- stärkt aus. Der Hambacher Forst entstand in dieser Zeit. alterliche Zülpich und sein Stadtrecht entsteht neu aus die- sen drei Grundherrschaften und nicht aus der römischen Die eindrucksvollsten Relikte dieser Zeit sind die Gräber- Tradition heraus. felder, die die Besiedlungsentwicklung sowie die ethni- sche, soziale und demographische Verteilung der Bevölke- Die heutige Kreisstadt Euskirchen beginnt mit ihrer Ent- rung nachzeichnen. Die in spätrömischer Zeit befestigte wicklung erst zu dem Zeitpunkt, an dem das nahe gelege- Stadt Zülpich (Tolbiacum) behielt in der merowingischen ne Zülpich gerade das Ende seiner römischen Tradition er- Zeit ihre zentralörtliche Rolle. Obwohl das Schlachtfeld der fährt. Ausgehend von sechs fränkischen Hofsiedlungen im Chlodwig-Schlacht von 496 nicht genau lokalisiert ist, gilt Veybachtal, die alle im 6./7. Jh. noch eigene Friedhöfe auf- die Nähe zu Zülpich dennoch als sicher. Der Zülpichgau wiesen, wird bei der Hofsiedlung am heutigen Annaturm- mit den umgebenden Ländereien ist eines der frühesten platz eine Kirche errichtet. Friedhof und Kirche dieser Sied- mittelalterlichen Besiedlungszentren des Rheinlandes. lungsstelle liegen auf der Trümmerstätte einer römischen villa rustica. Die Koinzidenz der topographischen Lage mag Die Besiedlung zwischen dem 5. bis 9. Jh. nahm vor al- sich aus dem günstigen Standort und möglicherweise lem entlang der Gewässer zu. Der Nachweis der frühesten noch vorhandener Zuwegung und dem Umstand, dass die Mühlenstandorte der karolingischen Zeit stammt aus die- Trümmerstelle schlecht als Ackerland verwendbar war, er- ser Region (Erftstadt-Niederberg). Wälder wurden neu oder geben haben. Vielleicht war auch Aberglaube oder absicht- 297 wieder gerodet und in Ackerland umgewandelt. liche christliche Überprägung heidnischer Relikte mit aus- schlaggebend. Offensichtlich wurde diese Kirche St. Martin Zwischen 900 und 1200 entwickelten sich die Dörfer und zum Zentrum der umliegenden Höfe, so dass das ganze Weiler. Diese bilden die Grundlage für die heutige Sied- Areal in schriftlichen Quellen des 9. Jahrhunderts als lungsstruktur und das sich daraus ergebende kulturland- „Augstkirche“ (870 n. Chr.), später „Aouweskerke“, „Kirche schaftliche Gefüge mit dominierender Ackernutzung und in der Aue“, erwähnt wird. überwiegend hochmittelalterlichen Ortschaften, Weilern und Einzelhöfen. Dieses Siedlungsmuster blieb in der Die Verleihung des Stadtrechtes (1302) an die damals Struktur und Dichte bis ca. 1840 weitestgehend unverän- schon mit Wall und Graben umfriedete Siedlung erfolgte dert und ist heute noch ablesbar. unter Walram dem Roten von Monschau-Falkenburg, dem Erbe des Monschauer und Heinsberger Besitzes. Die Um- Die siedlungspolitische Struktur des frühen und hohen stände der Stadtgründung sind in einem Protokoll von Mittelalters im Rheinland und damit die heutige Gebietsauf- 1294 ausführlich dargelegt: Die vier Dörfer Euskirchen, Rü- teilung fußt also maßgeblich auf den fränkischen Neuan- desheim, Disternich und Kessenich seien „mit Hilfe der siedlungen. Insbesondere die Neugründung von Städten Herren“ übereingekommen, dass das Dorf Euskirchen zu am Ende des Mittelalters ist nicht auf die alten römischen einer Stadt gemacht würde und die Bewohner der anderen Siedlungsstrukturen zurückzuführen. Gerade die südliche drei Dörfer in die Stadt Euskirchen umziehen sollten. Ein- Rheinische Börde und die benachbarten Bereiche sind he- wohner der anderen Dörfer, die nicht unter das Recht der rausragende Zeugen dieser Entwicklung. Die römischen vi- Monschauer fielen, blieben allerdings in den alten Dörfern, ci Zülpich, Jülich (Kulturlandschaft „Jülicher Börde – Self- die z.T. noch heute existieren, wohnen. 1322 erhielt Euskir- kant“) und Euskirchen-Billig sowie Düren-Mariaweiler (Kul- chen Marktrecht, dann Wappen und Siegel und noch im turlandschaft „Jülicher Börde – Selfkant“) stehen bis zum En- 14. Jh. eine Stadtmauer, die im 18. Jh. noch einmal mit de der römischen Herrschaft weitgehend gleichberechtigt Erdbastionen verstärkt wurde. Die Stadtmauer ist heute nebeneinander. Billig und Mariaweiler finden ihr Ende im noch in großen Teilen bis 7 m Höhe erhalten, nur die Stadt- Zuge des Machtwechsels von Rom an die Franken. Zülpich tore wurden alle abgebrochen. Im Jahre 1355 erwerben und Jülich behalten ihre topographische Bedeutung als die Grafen von Jülich Euskirchen um ihre Machtposition Straßenkreuzung bzw. Flussübergang. Spätrömische Wehr- gegenüber Köln zu stärken. Im 15. Jh. wird die Stadt von bauten werden auch während der nächsten Jahrhunderte den Jülichern zur Mithauptstadt der Grafschaft erhoben – als Herrschaftssitze oder Militärstandorte genutzt. die Geschicke Zülpichs werden zu dieser Zeit weitgehend

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 25 // Rheinische Börde

von Köln, das dort eine Landesburg besitzt, bestimmt, was Hülchrath, die Motte Kyburg mit Turmruine und Gut Seli- zu einer gewissen Isolierung vom Umland führt. Die aus kum. Diese befinden sich überwiegend in der Aue. Die Erft dem mittelalterlichen Machtgefüge heraus entstandenen war wichtig für den Antrieb von Wassermühlen mit den zu- Städte wie Euskirchen sind hervorragend in die politischen gehörigen Mühlengräben, -teichen und -wehren. und wirtschaftlichen Strukturen ihrer Zeit und ihres Umlan- des eingebunden und gewinnen zunehmende Bedeutung. Im späten 19. Jh. setzten die ersten bedeutenden Kultur- Neben Euskirchen gehören Lechenich (Kölner Besitz) und landschaftsveränderungen im Siedlungsbereich der Städte Bad Münstereifel (Jülicher Herrschaft; Kulturlandschaft „Ei- und größeren Orte ein. fel“) zu dieser Gruppe. Eine wesentliche Strukturveränderung stellte der Bau Im Mittelalter entstanden im Zusammenhang mit der He- der Eisenbahntrassen mit den zugehörigen Kulturland- rausbildung der Territorien an wichtigen Punkten wie Fur- schaftselementen (Bahnhöfe, Haltestellen, Bahnwärterhäus- ten, Kreuzungen von Wegen und in den Städten zahlrei- chen usw.) zwischen 1850 und 1900 dar. Die älteste Bahnli- nie der Börde ist die internationale Verbindung von Köln nach Antwerpen, die in diesem Abschnitt 1839 in Betrieb ging. Sie führte über Düren, das sich zum betrieblichen Mittelpunkt der Region entwickelte. Von Düren aus führten und führen Bahnlinien nach Zülpich/Euskirchen, Heim- bach, Jülich/Baal und Bedburg/Grevenbroich. Die meisten dieser Linien dienten vorrangig dem lokalen Güterverkehr und sind heute weitgehend verschwunden. Im Norden ver- läuft die Verbindung von Aachen nach Mönchengladbach durch den Raum, von dieser Linie gab es einen Abzweig nach Wassenberg/Dalheim.

Im südlichen Teil der Kulturlandschaft „Rheinische Bör- de“ ist der betriebliche Schwerpunkt Euskirchen mit den Verbindungen nach Bonn, Köln, Düren, Mechernich/Jün- kerath/Trier und Bad Münstereifel. Die Erschießung des Landes zwischen Arloff, Zülpich und Liblar übernahmen  298 Kerpen, Schloss Bergerhausen die Euskirchener Kreisbahnen (1894-1965). In Düren, Jü- Foto: LVR/K.H. Flinspach lich und Zülpich ergänzten Lokalbahnen das Eisenbahn- netz und stellten die Verbindungen in die ländlichen Re- gionen sicher. In Düren gab es zudem noch von 1893 bis che Burgen, von denen viele im 17. und 18. Jh. als Schlös- 1971 eine Klein- bzw. Straßenbahn. ser mit Gärten, Parks und Alleen umgestaltet wurden. Im Rahmen der Flurbereinigungen haben sich haupt- Das Wege- und Straßennetz entwickelte sich im Mittelal- sächlich zwischen 1920 und 1937 in der Umgebung von ter und in der frühen Neuzeit ebenfalls weiter. Auf der Karte Jüchen und in der Periode 1954-1980 südwestlich von von 1845 fällt eine dreiecksähnliche Struktur mit den die Neuss die historisch gewachsenen Flächen in ihrer Parzel- Ortschaften verbindenden Wegen auf, die von überörtli- lierung und Wegeanordnung erheblich verändert, wobei chen Landstraßen und Chausseen durchschnitten wurden. diese ersten Flurbereinigungen mittlerweile wiederum eine Die Chausseen des späten 18. und frühen 19. Jahrhun- „historische“ Zuweisung erhalten müssen, da sie einer da- derts werden vor allem durch eine relativ gerade Trassen- mals charakteristischen Landschaftsgestaltung entspre- führung – meistens zwischen zwei Ortschaften – charakteri- chen. Das spätmittelalterliche/frühneuzeitliche Wegegefü- siert und sind teilweise bis heute landschaftsbildprägend. ge wurde von einem neuen rechteckig geprägten ersetzt, In historischer Zeit war die Erft ein versumpftes Tal, das eine das bis heute dominiert. natürliche Grenzlinie zwischen dem Kurfürstentum Köln und dem Herzogtum Jülich bildete. In den 1970er Jahren erweiterte der Braunkohlenabbau sich – vom Süden kommend – in nördliche Richtung. Die Kulturlandschaftsstruktur im Erftbereich hat sich bis Hierbei wurden ganze Dörfer umgesiedelt (Garzweiler, ca. 1200 entwickelt, danach sind keine neuen Ortschaften Priesterrath) und neue Landschaften „gebaut“. Die Mor- mehr entstanden, was zu einer starken siedlungsstrukturel- phologie wurde durch Aufschüttungen im Rahmen des len Persistenz des Bereiches geführt hat. Dementsprechend Braunkohlenabbaus ebenfalls verändert. Die Braunkoh- waren der Bau von grenzsichernden Burgen, kleinen Befesti- lenhalde „Sophienhöhe“ bei Jülich hat das ursprüngliche gungen auf Burghügeln (Motten) und die Schaffung von flache Landschaftspanorama erheblich verändert und sich Flussübergängen wichtig. auf das Mikroklima ausgewirkt. In den nächsten Jahren wird sich der Tagebau Garzweiler II auf das östliche Gebiet Beispiele sind Schloss Eppinghoven, Reuschenberg, Gut der Stadt Erkelenz auswirken, indem ein ganzer Landstrich Hombroich, Motte Hombroich, Motte Helpenstein, Schloss abgegraben wird.

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In den 1960er Jahren setzte eine großflächige und flä- Die spätmittelalterliche Struktur mit der Reihung von chenhafte Erweiterung der Dörfer mit Neubau- und Gewer- Motten, Adelssitzen und Wasserschlössern in der Niede- begebieten ein. Mit dem Bau der Autobahnen A 44, A 46 rung der Erft, umgeben von Wald- und Grünlandflächen, und A 61 in den 1970/80er Jahren erfolgten Anschlüsse an lässt die Standorte noch sehr deutlich in der Landschaft die Ballungsräume, die Wohnvorortbildungen und den als fortifikatorisch ausgewählte Standorte erlebbar werden. Strukturwandel beschleunigten sich. Teile der A 46 verlau- Die Altrinnen markieren noch den nicht meliorierten, stär- fen über die alte Chausseetrasse Neuss-Garzweiler. ker mäandrierenden Gewässerverlauf.

Die heutige Nutzung wird vom intensiven Ackerbau domi- niert. An den Ortsrändern und den relativ wenigen Einzelge- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche höften finden sich Grünland, Obstgärten und -wiesen sowie und -elemente -bäume. Inselartig eingestreut sind die sog. Bürgewälder er- halten, die als jahrhunderte alte Waldstandorte ökologisch G Bereich Erkelenz-Wegberg (KLB 25.01): vorgeschichtli- und kulturgeschichtlich von besonderer Bedeutung sind. che, römische, mittelalterliche Siedlungsplätze; mittel- alterliche Motten, Landwehren; mittelalterliche Städte; neuzeitliche Flachsgruben; Kloster Hohenbusch. Kulturlandschaftscharakter G Zeche Sophia-Jacoba in Hückelhoven (KLB 25.02). Trotz der Entwicklungen insbesondere der letzten 50 Jahre, die das kulturhistorische Erlebnispotential im Ver- G Teilbereich der Oberen Niers (KLB 17.06). gleich zu anderen Regionen geringer erscheinen lässt, ist die „Rheinische Börde” als eine gewachsene Kulturland- G Liedberg (KLB 25.03): vorgeschichtliche Siedlungs- und schaft zu betrachten. Aufgrund des großen Nutzungs- Bestattungsplätze; römischer Steinbruch Liedberg; rö- drucks ist eine sehr ausgeräumt erscheinende, offene mische, spätantike, fränkische Siedlungsplätze; mittel- Agrarlandschaft, durchschnitten von Verkehrsadern und alterliche Ortschaften. Silhouetten beherrschender Industrie- und Gewerbeanla- gen sowie von den Halden des Braunkohlentagebaus ent- G Teilabschnitt der Römerstraße Köln-Heerlen (KLB 24.03). standen. G Finkelbach – Ellebach bei Bedburg, Jülich, Düren In dieser offenen Bördenlandschaft stellen die Ortsrän- (KLB 25.04): alt-, mittel- und jungsteinzeitliche Sied- der, die Kirchtürme, die Einzelhöfe mit ihren umgebenden lungsplätze; römische Siedlungsplätze. 299 und zuführenden Alleen und Baumreihungen, die Mühlen sowie Burgen und Schlösser (Liedberg) und die kleineren G Erft mit Swist und Rotbach – Euskirchener Börde und kulturhistorischen Einzelobjekte wie Kreuze und Bildstöcke Voreifel (KLB 25.05): vorgeschichtliche Siedlungsplätze; markante landschaftsprägende Objekte dar. römische Siedlungsplätze; frühmittelalterliche Orte; mittelalterliche Mühlen, Burg- und Schlossanlagen. Die Jahrtausende währende Tradition des Ackerbaus hat diesen Landschaftsraum entscheidend geprägt. Durch den G Euskirchener Börde und Voreifel: altsteinzeitliche Sied- offenen Charakter haben die vereinzelten kleineren Kultur- lungsplätze; metallzeitliche Siedlungsplätze, Metallge- landschaftselemente im Vergleich zu anderen Landschafts- winnung und Metallverarbeitung; römische Siedlungs- räumen eine größere Auswirkung im Landschaftsbild. Der plätze; römischer Marktort Vicus Belgica, Eiskirchen-Bil- größte Anteil der Freiflächen besteht aus intensiv genutz- lig; Abschnitt der römischen Wasserleitung Eifel-Köln; tem Ackerland. frühmittelalterliche Siedlungsplätze, Gräberfelder; mit- telalterliche Burganlagen, Mühlen; mittelalterliche, neu- Der Wald ist seit dem Hochmittelalter auf wenige Berei- zeitliche Städte Euskirchen, Rheinbach. che zurückgedrängt worden. Die Siedlungsflächen und Gewerbegebiete bei den größeren Ortschaften, der Braun- G Kreuzau – Vettweiß (KLB 25.06): vorgeschichtliche kohlentagebau, Kraftwerke und Fabrikanlagen dominieren Siedlungsplätze; römische Siedlungsplätze; römischer aufgrund ihrer Proportionen im Landschaftsbild. Töpfereibezirk Soller.

Eine außerordentlich beherrschende Landschaftswir- G Zülpich und Neffelbachtal (KLB 25.07): vorgeschichtli- kung haben die seit den 1950er Jahren errichteten Braun- che Siedlungsplätze; römische Stadt Tolbiacum (Zül- kohlenkraftwerke, die aufgrund ihrer Bauweise und ihrer pich) mit Thermenanlage; Abschnitt der römischen Emissionen mit künstlicher Wolken- und Nebelbildung den Straße Köln-Trier; frühmittelalterliche, mittelalterliche Horizont dominieren. und neuzeitliche Stadt Zülpich; mittelalterliche Motten, Burgen, Mühlen am Neffelbach; Silhouettenwirkung. Im zentralen und südlichen Teil des Landschaftsraumes dominieren die Bergbau-, Gewerbe- , Siedlungs- und Park- G Abschnitt der römischen Straße Köln-Zülpich-Trier (28.01). flächen. Im nördlichen Teil herrscht Wald-, Grün- und Ackerland vor. G Abschnitt der Aachen-Frankfurter Heerstraße (KLB 25.08).

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 25 // Rheinische Börde

G Teilabschnitt der Bahnlinie Köln-Welkenraedt (KLB 27.04). Halden sowie Erweiterungen von Orten ist diese Kultur- landschaft sehr stark verändert worden. Hier sind G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- Strukturverluste des Landschaftsgefüges mit linearem dere als Bodenarchiv, sind Erkelenz, Euskirchen, Ker- Gewässer, Reihung von Motten, Adelssitzen und pen, Lechenich, Rheinbach, Wickrath und Zülpich. Schlössern sowie Substanzverluste aufgetreten. Die- sen Entwicklungen ist entgegenzuwirken. G Sichtbezüge Burg Adendorf-Tomburg und Burg Heim- erzheim-Tomburg. G Bei einer ungelenkten Renaturierung der Erft könnten die tradierten Standorte von Mühlen, Burgen und G Die Bürgewälder als „alte“ Waldstandorte. Adelssitzen verloren gehen. Die wasserwirtschaftlichen Planungen sind auch an den Bedürfnissen des Kultu- G Mittelalterliche Hofstellen (z.B. Gut Kaiskorb in Bedburg, rellen Erbes in der Landschaft auszurichten. Gut Gommershoven in Bergheim, Gut Onnau in Kerpen). G Die verbliebenen Bürgewälder sind zu erhalten. G Mittelalterliche Dörfer mit charakteristischen Wege- verbindungen zu den Nachbardörfern (z.B. Kirchtrois- G Eine bodenschonende landwirtschaftliche Nutzung der dorf, Kirchherten und Grottenherten in Bedburg, Nieder- Lössböden ist zum Erhalt der archäologischen Substanz embt und Oberembt in Elsdorf) sowie in den Dörfern und des offenen Landschaftscharakters anzustreben. stehende, häufig ebenfalls bereits mittelalterliche Kir- chen als Landmarken. G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- G Schloss Gymnich und Schloss Türnich bei Kerpen. ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Erhalt der Erlebbarkeit der Landmarken und Sichtbezüge. Leitbilder und Ziele G Erhalt und Pflege der Burgen und Adelssitze sowie der G Der momentane Nutzungsdruck ist sehr hoch. Durch Mühlenstandorte. den Braunkohlenabbau, die Sand- und Kiesgewinnung sowie die Bebauungserweiterungen mit Neubau- und Gewerbegebieten werden historische Strukturen in be- 300 stimmten Arealen komplett zerstört. Ackerbau ohne An- knüpfung an die vorherrschende Struktur wirkt sich ne- gativ auf das ökologische, aber auch das kulturhistori- sche Potential der gewachsenen Struktur mit dem Ne- beneinander unterschiedlicher Zeitebenen aus. Die ge- nannten Formen der Freiraumbeanspruchung sind demnach zu begrenzen und zu konzentrieren.

G In den vergleichsweise kleinflächigen kulturhistorisch wertvollen Bereichen besteht aufgrund ihrer gleichzeiti- gen Funktion für die Erholung ein großer Besucher- druck. Auf den nachgeordneten Planungsebenen sind Konzepte der touristischen Nutzung unter Wahrung der historischen Belange vorzusehen.

G Die weit sichtbaren überlieferten Kulturlandschaftsele- mente sowie die alten Dorf-Flur-Grenzen, insbesonde- re die Dorfrandzonen mit Gärten, Obstgärten, -wiesen, hofnahen Weiden, Baumreihen und Einzelbäumen, sollten als historische Kulturlandschaftselemente zur Belebung des Landschaftsbildes unbedingt erhalten bleiben (Gestaltungssatzungen für Dorfrandzonen; In- standhaltung bzw. -setzung der Einzelhofvegetation; An- pflanzungen von Einzelbäumen an Flurwegekreuzungen; Pflanzprogramm wege- und straßenbegleitender Baumrei- hen und gegebenenfalls Alleen als Landschaftsbildanrei- cherungen).

G Durch den hohen Nutzungsdruck des Braunkohlenab- baus, die Braunkohlenkraftwerke, die Aufschüttung von

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 26 // Ville 6.2

Kulturlandschaft 26 // Ville kleinteilig durch Seen und Wald geprägt, die des 20. Jahr- hunderts zwischen Frechen und Bedburg durch rekultivier- te zusammenhängende landwirtschaftliche Gebiete und Lage und Abgrenzung gliedernde Forstflächen.

Die Kulturlandschaft „Ville“ wird entsprechend der raum- Die jüngere Hauptterrasse auf dem Kottenforstplateau ist prägenden Relikte des Braunkohlenbergbaus im Norden mit Rheinkies bedeckt. Unter den Kiesen lagern tertiärzeit- und orientiert an den ausgedehnten Waldflächen des Kot- liche Tone, die die Basis für das historische Töpfereigewer- tenforstes im Süden abgegrenzt und physiognomisch als be im Süden darstellen. Übergangsraum zwischen der niederrheinischen Kölner Bucht und rheinischer Lössbörde angesehen. Da in der südlichen „Wald-Ville“ keine Braunkohle abge- baut wurde, sind hier die Wälder älter als im nördlichen Teil; Der von Südosten nach Nordwesten verlaufende Höhen- sie stocken auf staunassen Böden der Rhein-Hauptterrasse. zug der Ville reicht von der Kulturlandschaft „Mittelrheini- sche Pforte“ im Süden bis nach Bedburg im Norden. Im Das Vorgebirge, der östliche markant ausgeprägte Ville- Westen trennen Erft und Swist die Ville von der Kulturland- hang zwischen Köln und Bonn mit gliedernden Talein- schaft „Rheinische Börde“, lediglich der Abschnitt des Erft- schnitten, liegt als ein von Siedlungen geprägtes Band tales zwischen Bergheim und Bedburg wird aufgrund sei- zwischen der westlich anschließenden Wald-Ville und der ner Prägung durch den Braunkohlenbergbau zur Ville ge- Köln-Bonner Ackerebene. Es bildete sich dort ein landwirt- rechnet. Der östliche Terrassenabfall ist die markante Ge- schaftliche Nutzungssystem heraus, das die Potentiale der ländestufe des „Vorgebirges“ zur Rheinebene (Kulturland- unterschiedlichen Räume nutzt. Im Vorgebirge finden sich schaft „Rheinschiene“) und wurde mit einbezogen. Zwi- durch zum Teil mächtige Lössanwehungen besonders schen Brühl und Frechen wird das Vorgebirge wegen sei- günstige Bedingungen für die Landwirtschaft, die eine in- ner Prägung durch den Braunkohlenbergbau ebenfalls als tensive Gartenbaunutzung ermöglichen. Vom Vorgebirge der Ville zugehörig abgegrenzt. aus bieten sich an vielen Stellen Sichtbeziehungen in die Köln-Bonner Bucht sowie über den Rhein zum Bergischen An der Kulturlandschaft „Ville“ haben der Rhein-Erft-Kreis, Land und zum Siebengebirge; diese lassen sowohl sied- der Rhein-Kreis Neuss, der Rhein-Sieg-Kreis mit seinen lungsgeschichtliche als auch geologische Prozesse eines linksrheinischen Orten und die kreisfreie Stadt Bonn Anteil. größeren Raumgefüges erkennbar werden.

Der Talzug von Erft und Swistbach im Westen mit einer 301 Naturräumliche Voraussetzungen relativ breiten Aue bildete eine Erschließungsachse für die weiter westlich sich anschließende Rheinische Börde. Das Die Ville entstand im Zusammenhang mit dem Einbruch relativ große Einzugsgebiet stellt eine stetige Wasserfüh- der niederrheinischen Bucht vor ca. 30 Millionen Jahren. rung sicher. Dies war die Voraussetzung für die Ansiedlung Danach teilte diese sich in einzelne Schollen auf, die mit von Niederungsburgen, Wasserburgen und -schlössern mächtigen Kies-, Sand- und Tonschichten in die Tiefe san- sowie Mühlen entlang der Erft und ihrer Nebenbäche. ken. Der Villerücken selber behielt seine relative Höhenlage als Bestandteil der niederrheinischen Bucht bei, während die Rur- und Erftschollen weiter tiefer absanken. Die Ville ist Geschichtliche Entwicklung Teil des rheinischen Braunkohlenreviers zwischen Köln, Aa- chen und Mönchengladbach; dieses ist mit seiner Gesamt- Der Bereich des Ville-Hochplateaus ist seit der Altstein- ausdehnung, ca. 2.500 km², so groß wie das Saarland. In zeit von den Menschen aufgesucht worden. Aus dem süd- dieser Zone befindet sich in unterschiedlichen Tiefen die im lichen Teil des Ville-Rückens ist im Marienforster Tal bei Miozän (Tertiärzeit) aus Sumpfwäldern entstandene Braun- Bonn-Bad Godesberg ein altsteinzeitlicher Siedlungsplatz kohle. Auf der relativ oberflächennah liegenden Braunkohle bekannt. Diese Fundstelle beinhaltet u.a. das einzige klein- der südlichen Ville begann der stark landschaftsverändern- räumig begrenzte Chalzedonvorkommen des Rheinlan- de Braunkohletagebau im rheinischen Braunkohlenrevier. des, das überwiegend in der Jüngeren Altsteinzeit (Jung- paläolithikum) als Rohstoffquelle zur Steingeräteproduktion Die Ville besitzt ein sehr charakteristisches Kulturland- genutzt wurde. Mit Spuren bergmännischer Gewinnung ist schaftsbild sowohl in der naturräumlichen Ausstattung mit zu rechnen, sie sind jedoch bisher nicht bekannt. Die Ver- Braunkohlenvorkommen als auch im Relief und der ent- breitung von Artefakten aus Marienforster Chalzedon weist sprechenden Nutzungsstruktur. Der Höhenzug der Ville dem Fundplatz eine überregionale Bedeutung zu. fällt von 180 m ü. NN im Süden bis etwa 110 m ü. NN im Norden ab. Während der Osthang mehrere bogenförmige Das Vorgebirge zwischen Rhein und Ville bot durch sei- Buchten früherer Prallhänge des Rheins aufweist, verläuft ne fruchtbaren Lössböden beste Voraussetzungen für eine der Westrand gleichförmig. Im Nordteil der Ville hatte der agrarische Nutzung. In der Bronze- und Eisenzeit wurde Abbau von Braunkohlen erhebliche landschaftliche Aus- wie in den Zeitabschnitten zuvor eine bäuerliche Mischwirt- wirkungen. Die ehemaligen Tagebaue des 19. Jahrhun- schaft betrieben, die den Ackerbau stark in den Vorder- derts zwischen Brühl, Hürth, Liblar und Frechen sind heute grund stellte. Eine Besiedlungsstruktur ist vor allem in der

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 26 // Ville

zum Rheintal weisenden Seite ab der Urnenfelderzeit er- kleinen Siedlungen zu größeren Ortschaften zusammen. kennbar und reicht – mit Bevölkerungsschwankungen – Andere fielen wüst, wahrscheinlich durch Abwanderung zu bis an das Ende der vorrömischen Zeit. Bei den Siedlun- benachbarten Siedlungen. Hinweise auf diese Altsiedlun- gen handelte es sich häufig um einperiodige Einzelgehöfte gen und Wüstungserscheinungen sind Siedlungsnamen (kleinteilige Mehrhausgehöfte), die in ihrem Wirtschaftsraum auf freiem Feld zwischen den heutigen Vorgebirgsdörfern. nach einer Hausgeneration in der Nähe neu errichtet wur- den (sog. Wandersiedlungen, wie z.B. in Pulheim-Brauweiler In historischer Zeit war die Erft ein versumpftes Tal, das und Pulheim-Sinthern) oder längere Zeit am Ort bestehen eine natürliche Grenzlinie zwischen dem Kurfürstentum blieben (wie möglicherweise am Wenzelberg). Köln und dem Herzogtum Jülich bildete. Die Kulturland- schaftsstruktur im Erftbereich hat sich bis ca. 1200 entwi- Zeitgleiche Gräberfelder finden sich ebenso wie in den ckelt, danach sind keine neuen Ortschaften mehr entstan- westlich angrenzenden Lössbörden relativ selten. Grabhü- den, was zu einer starken siedlungsstrukturellen Persis- gelfelder sind im mittleren und südlichen bewaldeten Teil tenz des Bereiches geführt hat, insbesondere innerhalb der Ville und des Vorgebirges häufiger erkennbar gewesen dieser bis zum 18. Jh. wirksamen naturräumlichen Barrie- (Brühl-Heide), mittlerweile aber durch den Braunkohlenta- re. Dementsprechend waren der Bau von grenzsichernden gebau weitgehend verloren gegangen. Burgen, kleinen Befestigungen auf Burghügeln (Motten) und die Schaffung von Flussübergängen wichtig. Beispiele Im südlichen Teil der Ville muss ein vorgeschichtlicher sind Schloss Eppinghoven, Reuschenberg, Gut Hom- Naturpfad angenommen werden, der das südliche Rhein- broich, Motte Hombroich, Motte Helpenstein, Schloss tal bei Bonn mit dem Eifelfuß verband. Dieser Naturpfad Hülchrath, die Motte Kyburg mit Turmruine und Gut Seli- wird zwischen Weilerswist und Bornheim vermutet. kum. Diese befinden sich überwiegend in der Aue.

Während der Römerzeit muss für das Vorgebirge und Die Erft war wichtig für den Antrieb von Wassermühlen auch das Ville-Hochplateau von einer intensiven landwirt- mit den zugehörigen Mühlengräben, -teichen und -wehren. schaftlichen Nutzung und einer planmäßigen Erschließung Die Kitzburger Mühle verweist darauf, dass wahrscheinlich mit Gutshöfen (villae rusticae), ausgegangen werden. Über auch an den Vorgebirgsbächen, vor allem aber am Müh- die Ville wurde die römische Eifelwasserleitung nach Köln lenbach, früher Wassermühlen standen. geführt, die hier so angelegt war, dass das natürliche Ge- fälle genutzt werden konnte. Geprägt wurde die Mühlenlandschaft des Erft-Mittellaufs insbesondere durch den 1860 bis 1866 entstandenen Erft- 302 In fränkischer Zeit erfolgte eine Wiederbewaldung. Der flutkanal, mit dem die Hochwassergefahr gebannt, und der Kottenforst wie auch der Villewald wurden jetzt Königsgut sumpfartige Charakter der Erftniederung überwunden wer- und waren damit der Rodung, Waldweide und Holznutzung den konnte. Die Wasserbauwerke des 19. Jahrhunderts entzogen. Der Begriff „ville“ leitet sich vermutlich von „vele“ aus denen am Erft-Mittellauf auch die Wassergräben der = Anhöhe ab. Der Wald wurde in der Folge intensiv genutzt. Herrensitze gespeist werden, und die große Vielzahl der Holznutzung, Waldmast und Waldweide führten schließlich noch mit ihrer Technik erhaltenen Wassermühlen prägen zur Verwüstung weiter Bereiche. Im 16. Jh. ging der Kotten- die Erftlandschaft zwischen Euskirchen und Neuss. forst in den Besitz der Kölner Kurfürsten über. Eine beson- dere Beachtung erfuhr der Kottenforst als Jagdgebiet unter Das Gebiet zwischen Köln/Frechen im Norden und Me- Kurfürst Clemens August. Das heutige Wegenetz des Wal- ckenheim im Süden zeichnet sich durch umfangreiche des ist vor allem durch die Parforcejagd des Landesfürstens Tonlagerstätten aus, die für die Ansiedlung von Töpfereien begründet. Die Parforcejagd war eine Hetzjagd zu Pferde, bzw. von Keramik produzierenden Industrien seit der Rö- die ein schnelles Vorankommen und damit ein gut ausge- merzeit bis in die Gegenwart ausschlaggebend gewesen bautes Wegenetz erforderte, was vor allem im feuchten und sind. Von besonderer Bedeutung sind die hier relativ ober- unwegsamen Kottenforst umfangreiche Baumaßnahmen er- flächennah auftretenden tertiären Tone (Steinzeugtone), die forderte. In diesem Zusammenhang stand auch die Errich- sich für die Herstellung von besonders widerstandsfähigen tung des Jagdschloss Herzogsfreude, dass das Zentrum Keramikwaren eignen. Im Mittelalter und in der Neuzeit des Wegenetzes des Kottenforstes bildete. Es wurde bereits wurden daraus Trinkgefäße hergestellt, während heutzuta- im frühen 19. Jh. abgetragen. Nach 1814 begann unter ge überwiegend Tonrohre produziert werden. Seit dem Preußen die Zeit der staatlich geführten Forstwirtschaft. Der Mittelalter bis in die frühe Neuzeit waren die Töpfereien Kottenforst zeichnet sich heute noch durch eine sehr große zwischen Frechen und Meckenheim von internationaler Anzahl von Kleinelementen aus. Dies sind in erster Linie We- Bedeutung; die Region ist als das bedeutendste Töpferei- gekreuze, die teilweise als Orientierungspunkte für die Jagd zentrum nördlich der Alpen anzusehen. Töpferwaren aus dienten oder aber auch eine Gedenkfunktion innehaben. diesen Zentren wurden größtenteils über Köln weit über Daneben finden sich mehrere Gedenksteine. Europa hinaus verhandelt; Steinzeuggefäße aus Frechen gelangten durch den Seehandel auch nach Amerika, Afri- Im Vorgebirge lassen sich durch eine große Häufung ka und Australien. Von überregionaler Bedeutung sind vor fränkischer Reihengräberfriedhöfe fränkische und frühmit- allem die zahlreichen Töpfereien zwischen Bornheim-Wal- telalterliche Siedlungskerne nachweisen. Im Verlauf der dorf, Bornheim-Walberberg, Brühl, Brühl-Eckdorf, Brühl- weiteren Entwicklung schlossen sich dann viele dieser Badorf, Brühl-Pingsdorf und Frechen.

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Eisenerzbergbau und -verarbeitung lassen sich am Gemüse, Gewürzkräuter, Blumen, Baum- und Strauchobst Rand der Ville zum Vorgebirge von etwa 1500 bis in das sowie Erdbeeren. 19. Jh. nachweisen; einige Relikte sind südwestlich von Waldorf belegt. Die Täler von Swist und Erft waren als alte Verkehrswege intensiv genutzt. Die Verkehrsströme der Neuzeit verliefen je- Auf dem südlichen, relativ oberflächennah erreichbaren doch anders, so dass dieser Raum nur von Eisenbahntras- Teil der Lagerstätte zwischen Brühl, Hürth und Frechen lie- sen gequert wurde. Bedeutendste Strecke ist die Verbindung gen die Anfänge des das Landschaftsbild stark verändern- von Köln nach Aachen von 1839. Weiter gehören dazu die den Braunkohlentagebaus. Verbindungen von Euskirchen nach Köln (1864), nach Düren (1874), nach Bonn (1880) und Bad Münstereifel (1890). Loka- An die Stelle von vereinzelter „Turff“-Gewinnung in klei- le Bedeutung besaßen die nicht mehr existierenden Verbin- nen obertägigen Aufschlüssen trat von 1850 bis 1920 eine dung von Liblar nach Bergheim/Bedburg/Grevenbroich, die vorindustrielle Braunkohlengewinnung, die erstmals von ei- Liblarer Kleinbahn und die Verbindung von Köln über Fre- ner das Landschaftsbild verändernden Qualität war. Das chen, Benzelrath nach Nörvenich-Bolheim. Gebiet ist inzwischen mit Wald und Seen rekultiviert und dient der Naherholung. Der Übergang zu einer großflächi- gen temporären „Tagebaulandschaft“ mit vorher durchzu- Kulturlandschaftscharakter führenden Umsiedlungen sowie anschließender Rekultivie- rung ist nach 1950 mit ersten Großtagebauen im nördlichen Im nördlichen Teil wird dieser Raum geprägt durch die Bereich der Ville erfolgt. Bedeutende Objekte und Orte wie großflächigen Braunkohlentagebaue (bis 66 km² Abbauflä- Kloster Benden oder die Stadt Kaster wurden als histori- che, Abbautiefe 40 bis 160 m), die in Teilen bereits rekulti- sche Inseln erhalten. Um Brühl und Knapsack liegen be- viert sind. Hier erfolgte und erfolgt noch eine komplette sonders frühe Beispiele der Nachbarschaft des Braunkoh- Umgestaltung des Landschaftsbildes. Historische Bezüge lenbergbaus mit der darauf aufbauenden chemischen In- sind weitgehend vollständig beseitigt. Die Rekultivierungs- flächen zeigen den zeitlichen Wandel der Rekultivierungs- leitbilder in der Mischung von landwirtschaftlicher Rekulti- vierung, Wald und Wasserflächen. Bergheim und Bedburg sind durch den Tagebau stark beeinflusste Städte an der Erft und Zentren der Nahversorgung und Verwaltung.

Im mittleren Teil der Kulturlandschaft „Ville“ dominiert die 303 rekultivierte Wald- und Seenlandschaft des früheren Braunkohletagebaus das Bild. Eine hohe Strukturvielfalt durch einen kleinteiligen Wechsel von Wald und Seen hat zu einer hohen ökologischen Wertigkeit und zu hoher Er- holungseignung und Nutzung geführt, die sorgsam ausba- lanciert werden muss.

Einige der in dieser Landschaft ausgewiesene Natur- schutzgebiete beziehen sich auf Rekultivierungsgebiete des Braunkohleabbaus. Die „Villeseen“ sind unterschiedlich gro-  Ville ße Abgrabungsgewässer mit Steilufern und Flachwasserzo- Foto: Naturpark Rheinland nen sowie mit z.T. gut ausgebildeten Verlandungszonen.

Die im Süden angrenzende Wald-Ville wird von großflächi- dustrie; die erste Brikettfabrik entstand 1878 in der Rodder- ger ackerbaulicher Nutzung auf dem Plateau geprägt, ge- grube bei Brühl, das Karbidwerk in Knapsack folgte 1905. rahmt von größeren Waldkomplexen im Süden und Westen.

Neben den Rekultivierungsflächen prägen große Indus- Die Kottenforstwälder begrenzen die Kulturlandschaft trie- und Gewerbeansiedlungen und die indifferenten sub- „Ville“ im Süden. Dieser geschlossene Waldkomplex mit urbanen Siedlungen das Landschaftsbild. Das Gebiet ist vielfältigen erhaltenen historischen Waldnutzungsformen rekultiviert und findet als Naherholungsraum positive Re- und dem kurfürstlichen Jagdrevier hat große kulturhistori- sonanz. Hier wurde eine relativ junge Kulturlandschaft neu sche Bedeutung. Die genaue Grenze zwischen Kotten- geschaffen, die aus heutiger Sicht aber bereits als histo- forstplateau und Villerücken tritt im Gelände indirekt in Er- risch und bedeutsam zu bezeichnen ist. scheinung: mit dem Siedlungsband vom Vorgebirge bei Bornheim über Alfter, den westlichen Stadtrand von Bonn Bedingt durch die naturräumlichen Voraussetzungen, und entlang des Hardtbachtales bis Alfter-Witterschlick. hat sich im Vorgebirge eine vorwiegend an die Kölner und Bonner Märkte angepasste kleinbäuerliche Struktur auf Die Kulturlandschaft „Ville“ ist auch Bestandteil des Na- sehr kleinen Parzellen entwickelt mit Schwerpunkten auf turparks „Rheinland“, was dem großen Erholungsdruck

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entspricht, der auf diesem Raum lastet, und der durch den Leitbilder und Ziele Naturpark gesteuert werden soll. G Die Großtagebaue nivellieren die gewachsene Kultur- landschaft auf eine Zeitstellung hin und Rekultivie- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche rungsmaßnahmen können ausgeräumte historische und -elemente Strukturen und Elemente nicht ersetzen. Im Gegen- satz zur „Renaturierung“ zentriert der Begriff „Rekulti- G Vollrather Höhe (KLB 26.01): Kraftwerk Frimmersdorf II vierung“ auf das gesetzliche Interesse an der „Wie- und Abraumhalde; Landmarke, Zeugnis der bergbauli- dernutzbarmachung“ (§4(4) BBergG) von Bergbaufol- chen Rekultivierung. gelandschaften. Während Lebensräume für Flora und Fauna neu geschaffen werden können, neue Siedlun- G Teilstück der römischen Straße Köln-Heerlen (KLB 24.03). gen gegründet und das agrare Nutzungssystem wie- dereingeführt werden kann, sind die historischen Kul- G Teilabschnitte und Wirkungsbereiche der Erft mit turlandschaftselemente und -strukturen nicht „rekulti- Swist und Rotbach (KLB 25.05): vorgeschichtliche vierbar“ und damit für immer verloren. Daher kommt Siedlungsplätze; römische Siedlungsplätze; frühmit- hier der Bewahrung der noch erhaltenen Elemente telalterliche Orte; mittelalterliche Mühlen, Burg- und und Strukturen aus der Zeit vor dem Braunkohlenta- Schlossanlagen. gebau eine besondere Bedeutung zu.

G Teilbereich der Töpfereisiedlung Frechen (KLB 26.02). G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- G Brühler Schlösser/Vorgebirge (KLB 19.10): römische ne sowie der o.g. Blickbeziehungen. Siedlungsplätze; Abschnitt der römischen Wasserlei- tung Eifel-Köln: früh- bis spätmittelalterliche Töpfereien; G Erhalt der Erlebbarkeit der Landmarken und Sicht- mittelalterliche Burgen und Ortschaften, Klöster; mittel- bezüge. alterliche, neuzeitliche Burg und Stadt Brühl; barocke kurfürstliche Schlösser Augustusburg und Falkenlust G Erhalt der über viele Jahrhunderte persistenten Wälder (Weltkulturerbe mit Pufferzone). bzw. Waldstandorte.

G Braunkohlenrevier und Rekultivierung Hürth/Liblar G Bewahrung des archäologischen Erbes des mittelalter- 304 (KLB 26.03): die heutigen Badeseen und Wälder sind lichen Töpfereigewerbes entlang des Vorgebirges. Ausdruck einer erst- und einmaligen Herangehens- weise bei der Rekultivierung von Tagebauen in den G Erhalt und Pflege der Burgen und Adelssitze sowie der 1950/60er Jahren. Mühlenstandorte.

G Kottenforst (KLB 26.04): steinzeitlicher Siedlungsplatz G Steuerung des Erholungsdrucks. Marienforst; Abschnitt der römischen Eifelwasserlei- tung; Kloster Marienforst; systematisch ausgebautes G Erhalt von Braunkohlelagern als Archiv der tertiärzeitli- barockes Parforce-Jagdrevier, das mit den geradlinigen chen Flora und Fauna und ihrer Lebensbedingungen. sternförmigen Wegen und Entwässerungsgräben, den Pferdewechselstationen und der typischen Vegetati- onszusammensetzung sehr gut erhalten ist. Flakstel- lungen, Ringwall Venne, Venusberg/Röttgen.

G Ein Teilbereich von Bonn (KLB 19.12).

G Ein Teilbereich des Drachenfelser Ländchens (KLB 29.01).

G Ein Teilabschnitt der Bahnlinie Köln-Welkenraedt (KLB 27.04).

G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- dere als Bodenarchiv, sind Bedburg, Bergheim, Berg- heim-Paffendorf, Bergheim-Quadrat und Kaster.

G Besonders charakteristische Kulturlandschaftelemente sind die mittelalterlichen Motten und Burgen sowie jün- gere Adelssitze in den Auen der Fließgewässer.

G· Die Brikettfabrik Carl in Frechen als beispielhaft erhalte- ne frühe Anlage der Braunkohlenbrikettierung.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 27 // Aachener Land 6.2

Kulturlandschaft 27 // Aachener Land cher Faktor für die Entwicklung Aachens sind die in Süd- west-Nordost-Linien auftretenden Thermalquellen.

Lage und Abgrenzung Sehr charakteristisch ist der nördlich der Stadt gelegene Lousberg mit 264 m ü. NN, ein isoliert liegender Ausläufer Die Markierung der Kulturlandschaft „Aachener Land“ ist der geologischen Formation der Oberkreide, der sich mar- einerseits durch die große zentralörtliche Bedeutung von kant 100 m über der Kessellage Aachens erhebt. Auf dem Aachen und andererseits durch die markanten Merkmale Plateau des Lousberg steht charakteristischer Lousberg- des Münsterländchens, des Stolberger Raumes und des Feuerstein an, der in der Späten Altsteinzeit (Mittelpaläolithi- Bereiches um Herzogenrath im Vergleich zu den umge- kum), der Mittleren Steinzeit (Mesolithikum), besonders benden Landschaftsräumen als historisch gewachsene aber in der Jüngeren Steinzeit (Neolithikum) zur Herstellung Verdichtungszone begründet. Die Abgrenzung zu den im von Steingeräten genutzt worden ist. Vergleich eher agrarisch und forstlich geprägten Kultur- landschaften „Eifel“ und „Rheinische Börde“ ergibt sich Die Böden weisen erhebliche kleinregionale Differenzie- durch die industriell-bergbauliche Prägung der Landschaft. rungen auf mit mittelschweren, stark sandhaltigen Böden im Osten und tiefgründigen, leichten, lehmig-sandigen Die Kulturlandschaft „Aachener Land“ beinhaltet die podsoligen Braunerden auf den Höhen des Aachener kreisfreie Stadt Aachen sowie die nördlichen und östli- Waldes nördlich des Aachener Kessels. Insgesamt nimmt chen Teile des Landkreises Aachen. die Staunässeneigung der Böden in südlicher Richtung mit der Höhenlage zu.

Naturräumliche Voraussetzungen Die Kessellage von Aachen hat im Kleinklima erhebliche Auswirkungen, insgesamt ist der Raum im Winter durch Die Kulturlandschaft „Aachener Land“ ist geologisch eher milde Temperaturen gekennzeichnet. vom Paläozoikum geprägt; dies wird einmal im Bereich des Venn-Sattels im Süden deutlich und zum anderen haben die Steinkohlenvorkommen bei Aachen ihren Ur- Geschichtliche Entwicklung sprung im Erdaltertum. Die Anwesenheit des Menschen in der Region von Aa- In der Karbonzeit entstandene Moorwälder wurden in chen ist bereits seit dem Mittelpaläolithikum (Faustkeil von jüngeren Phasen der Erdgeschichte von Schutt- und Aachen-Schönforst) sowie dem späten Jungpaläolithikum 305 Schlammschichten überdeckt und schließlich in Steinkoh- (Magdalénienfunde vom Schneeberg) belegt. Mikrolithen aus lenflöze umgewandelt. Diese Vorkommen wurden in der Lousberg- und Vetschau-Feuerstein zeigen, dass sich auch Vergangenheit bei Übach-Palenberg und Baesweiler, im im Mesolithikum Menschen im Aachener Raum aufhielten. Bereich des „Wassenberger Horstes“ (Hückelhoven, Kul- turlandschaften „Schwalm-Nette“, „Jülicher Börde – Selfkant“ Der Fund einer Querbeilklinge (sog. Dechselklinge) vom und „Rheinische Börde“) und im sog. „Hillensberger Zipfel“ Plateau des Lousberges aus dem Altneolithikum sowie (Kulturlandschaft „Jülicher Börde – Selfkant“) abgebaut. noch heute exzellent erhaltene Bergehalden und Abbau- spuren einer spätneolithischen Feuersteingewinnung auf Im Tertiär (Erdneuzeit) bildeten sich in den damaligen dem Lousberg weisen auf die wiederholte Begehung des küstennahen Gebieten Moorwälder, die von Sanden und Aachener Kessels im Neolithikum hin. Das gesamte Pla- Ablagerungen von Urrhein und Urmaas überlagert und teau des Lousberg war und ist teilweise noch heute von ei- schließlich zu Braunkohlen umgewandelt wurden. Diese ner mehrere Meter dicken Kreidekalkplatte bedeckt, in der wurden und werden auch heute noch in den östlich an- zahlreiche Feuersteinlagen eingeschlossen sind. schließenden Kulturlandschaften abgebaut. Für das Neolithikum sind vielfältige Spuren bergmän- Der südliche Teil der Kulturlandschaft „Aachener nischer Gewinnung des Feuersteins (Tagebau) nachge- Land“ ist auch landschaftlich durch die unterkarboni- wiesen. Dies macht den Lousberg zum ältesten montan- schen Kalkgesteine geprägt. Die Flusstäler sind tief in historischen Denkmal Nordrhein-Westfalens und zu ei- das Kalkgestein eingeschnitten und stellenweise sind nem der bedeutendsten Bodendenkmäler Deutschlands. felsige Partien aufgeschlossen. Zur selben geologischen Formation wie der Lousberg gehört der Schneeberg nahe Vaals. Der dort anstehende Das Aachener Hügelland im Westen der Kulturland- sog. Vetschauer-Feuerstein wurde bevorzugt in der Mitt- schaft ist Teil des Limburgischen Kreidemassivs und fällt leren Steinzeit (Mesolithikum), aber auch noch in frühen im Aachener Raum von 350 m ü. NN auf 145 m ü. NN ab; Abschnitten der Jungsteinzeit (Neolithikum) zur Herstel- es ist gekennzeichnet durch ein unruhiges Relief; ein viel- lung von Steingeräten genutzt. gestaltiges Landschaftsbild ist typisch. Darin liegt der flachwellige Aachener Kessel, der zum Teil mit Löss über- Der charakteristisch schokoladenbraun gefärbte Platten- deckt ist. Das Gebiet ist sehr wasserreich, gekennzeich- feuerstein wurde in der Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. net durch zahlreiche Bäche. Ein wesentlicher naturräumli- bergmännisch im Tagebau (Steinbruch) abgebaut und vor

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 27 // Aachener Land  Aachener Land bei Schlangenberg 306 Foto: LVR/A. Heusch-Altenstein

Ort ausschließlich zu Rohlingen von Beilklingen zugerich- wurden Naturpfade entlang der Bachläufe, z.B entlang tet. Die Halbfabrikate wurden durch Handel verbreitet und der Inde, begangen. Für die späte Eisenzeit ist der Raum fanden sich in der niederländischen Provinz Drenthe, in als Stammesgebiet der Sunuker bekannt. Ob die Ther- Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz zumeist in geschlif- malquellen Aachens bereits in vorrömischer Zeit genutzt fener Form. Der Lousberg ist das einzige bekannte jung- wurden ist unklar, aber denkbar. steinzeitliche Feuersteinbergwerk in Nordwestdeutschland. In römischer Zeit lässt sich ein Badebetrieb bei den Die naturräumlichen Bedingungen der Kulturland- Schwefelquellen Aachens und Burtscheids für das römische schaft „Aachener Land“ spiegeln sich in der metallzeitli- Militär ab dem frühen ersten nachchristlichen Jahrhundert chen Besiedlung wider. Sind es südlich von Aachen nur nachweisen. Um die Thermen herum entwickelte sich rasch sehr wenige Siedlungspunkte der Eisenzeit, gibt es in ein römischer vicus, der durch Straßen an die überörtlichen Aachen und im nördlich angrenzenden Flachland Hin- Verkehrswege nach Heerlen, Jülich und Maastricht ange- weise auf Besiedlung seit der Bronzezeit, wie bei Würse- schlossen war. Die Ansiedlung, die vermutlich Aquae granni len und Eschweiler. Es sind landwirtschaftlich ausgerich- genannt wurde, war in der Spätantike befestigt. tete Mehrhausgehöfte als Einzelsiedlungen belegt, die meist nach einer Generation im nahen Umfeld und inner- Römische Buntmetallgewinnung und -verarbeitung halb ihrer Wirtschaftsflur neu errichtet wurden. Gräber spielte vor allem im Stolberger Raum eine große Rolle. dieser Periode sind nur wenige überliefert; es sind Bergbauspuren dieser Zeit sind noch heute im Gelände Brandbestattungen, die in Urnen unter Grabhügeln wie sichtbar (Breinigerberg, Büsbach), eine ergrabene Bergbau- beispielsweise im Aachener Wald beigesetzt wurden. siedlung bei Breinigerberg gibt Aufschluss über die Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Bergleute und Metallwerker. In Im Südosten der Kulturlandschaft „Aachener Land“ lie- dieser stark funktionsgeprägten Kulturlandschaft ist weiter- gen Buntmetallerz-Lagerstätten, in denen schon in vorrö- hin eine römische Tempelanlage bei Aachen-Kornelimüns- mischer Zeit Bergbau einsetzte. Dies lassen Einzelfunde ter im Gelände sichtbar (Varnenum). vom Breiniger Berg, aber auch die Vielzahl erhaltener Grabhügel im Stolberger Raum sowie eine mitteleisenzeit- Obwohl die schriftlichen Quellen für Aachen erst 765 liche Befestigung bei Stolberg-Gressenich vermuten. Es einsetzen, kann von einer kontinuierlichen Besiedlung im

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 27 // Aachener Land 6.2

Aachener Raum ausgegangen werden. Als Residenzstadt villen und Siedlungen, wie auch durch die inzwischen fast der karolingischen Könige hatte Aachen fortan eine hohe Be- völlig vernachlässigte Bäderkultur ist diese Entwicklungs- deutung im mitteleuropäischen Raum. Hier nimmt die 252 phase noch heute erlebbar. km lange Krönungsstraße der Karolinger nach Frankfurt ih- ren Ausgang (Aachen-Frankfurter Heerstraße). Die bauliche Das westliche und südliche Aachener Umland ist eine Ausstattung Aachens mit der unter Karl dem Großen errich- alt industrialisierte Zone. Das sog. „Aachener Reich“ (die teten Pfalz ab 789, (der Granusturm als ältestes aufrecht ste- Reichsstadt mit ihren zugehörigen Quartieren) wurde ab hendes Bauwerk der Stadt ist heute noch sichtbarer Teil der 1336 von zahlreichen Landwehren geschützt. Diese sind Pfalz) und der Pfalzkapelle ab 805 mit dem Thron und dem heute vor allem im Aachener Wald noch auf längeren Grab Karls tragen dieser Bedeutung Rechnung. Strecken erkennbar. Bis 1450 verfügte die Stadt noch über eigene Galmeigruben bei Altenberg (Moresnet), de- Die Entwicklung des Aachener Doms beginnt mit dem Bau ren eindrucksvolle Reste heute jenseits der deutsch-belgi- des karolingischen Oktogons der Pfalzkapelle; seit 1987 ist schen Grenze liegen. Dadurch erlangte das Messingge- der Dom Bestandteil der Welterbeliste der UNESCO; eine Er- werbe im Stadtgebiet Aachen große Bedeutung, ebenso weiterung auf den Pfalzbereich ist wünschenswert. Unter wie das Tuchmachergewerbe. Ludwig dem Frommen wurde 814 im Tal der Inde das Kloster Inda (Kornelimünster) gegründet, welches als Reichskloster Die Verlagerung der Aachener Betriebe seit dem 16. Jh. eine prägende Funktion in der südöstlichen Region um Aa- in Dörfer und Talniederungen der Umgebung, z.B. in das chen einnahm. Im Aachener Umfeld sind karolingische Kö- Wurmtal, ist mit der dort zur Verfügung stehenden Was- nigshöfe als landwirtschaftlich und handwerklich arbeitende serkraft, niedrigen Löhnen und durch religiöse Zwänge Betriebe wie Seffent und Schurzelt bekannt. zu erklären. Aachen gehörte zum Bistum Lüttich, Burt- scheid zum Erzbistum Köln. Das Schwergewicht der 1166 erhielt Aachen von Kaiser Friedrich Barbarossa Frühindustrialisierung lag im Vichttal bei Stolberg. Hier Stadtrechte und wurde freie Reichsstadt. Das Recht der wurden zahlreiche Kupferhämmer aus dem Aachener Stadtumwehrung wurde 1171-1175 mit dem Bau der sog. Stadtgebiet angesiedelt, die später häufig mit aufwändi- Barbarossamauer umgesetzt. Diese ist noch an einigen gen Bauten zu sog. Kupferhöfen verbunden wurden, von Stellen im Stadtgebiet erkennbar. Die heute sichtbare äu- denen es heute noch eine größere Zahl gibt und die in- ßere Stadtumwehrung ist etwa 100 Jahre jünger; sie hatte zwischen fast ganz von neuen Industrie- und Wohnbau- 11 Tore, von denen heute noch das Pont- und das Mar- ten umgeben worden sind. Für die Kupferhöfe war die schiertor erhalten sind. Trotz starker baulicher Überprä- Verbindung von Produktionsstätte und Fabrikantenhaus gungen und Substanzverluste sind im Bodenarchiv der bei geschlossenem Hofraum charakteristisch. 307 Aachener Innenstadt die Siedlungsschichten der römi- schen und des mittelalterlichen Aachens erhalten. Sie ge- Das gesamte Eifelvorland wurde Anfang des 19. Jahr- ben Aufschluss über Handel, Handwerk und das Leben in hunderts aufgrund der günstigen Verkehrslage ein wichti- der aufstrebenden Stadt. An Gut Melaten wurde beispiels- ger Industriestandort. Die Gebiete mit Eisen-, Blei- und Gal- weise das 1235 erstmals erwähnte Leprosorium (Isoliersta- meivorkommen und Zugang zu den Steinkohlenvorkom- tion für Leprakranke) mit seinem Friedhof untersucht. Die men, wie im Raum Stolberg-Eschweiler, waren prädestiniert Untersuchungsergebnisse geben exemplarisch einen Ein- für eine industrielle Entwicklung. Die Galmeivorkommen blick in die demographischen Verhältnisse dieses spätmit- waren um 1900 erschöpft. Viele Relikte wie Halden, Stollen telalterlichen Spitals im Umfeld einer bedeutenden mittel- und auch die an Schwermetall angepasste Vegetation (Gal- europäischen Handelsstadt. meiveilchen) des Stolberger Raumes und Münsterländchen zeugen noch von diesem ehemaligen Bergbau. Ein Großteil der Bausubstanz des mittelalterlichen Aa- chens ging im Großbrand von 1656 verloren. In der Alt- Älterer Steinkohlenbergbau ist im Wurmtal und im stadt und in den spätmittelalterlichen Erweiterungsgebie- Eschweiler Raum nachgewiesen. In der zeitlichen Abfolge ten gibt es dennoch zahlreiche Spuren der Bebauung, die rangiert nach dem Lütticher das Eschweiler Revier, das einen hohen Industrialisierungsgrad des Gebietes zeigen. schon im 18. Jh. um das Gebiet zwischen Würselen und Im Umland reihten sich viele gewerblich genutzte Wasser- Herzogenrath erweitert wurde. Im Inderevier gibt es Reste mühlen an den Bächen. alter Gruben, Ruinen von Übertagebauten, Pingen, kleinen Halden sowie frühindustriellen Kottensiedlungen. Vom Kurwesen der gehobenen Klasse des 17. und 18. Jahrhunderts mit Badeanlagen und Kurhäusern in Aachen Die ersten Arbeitersiedlungen waren um 1850 noch klein und Burtscheid sind bedeutende Anlagen erhalten, wie bei- dimensioniert. Der Kohlenbergbau rückte im Laufe der Zeit spielsweise der klassizistische Elisenbrunnen und das immer weiter nach Norden vor, wobei die Bergwerke im- Stadttheater. Auf dem Lousberg entstand mit dem Volkspark mer größer wurden. Um Alsdorf fehlt die Schicht der Klein- die älteste von Bürgern errichtete Parkanlage Mitteleuropas. zechen; das Gebiet wird von verschiedenen Arbeitersied- lungstypen geprägt: u.a. Gartenstadtsiedlungen von 1910, Seine rezente und ablesbare Prägung erhielt Aachen je- lockeren Siedlungen der 1920er Jahre und Siedlungen doch durch die Industrialisierung vom Barock bis ins 20. Jh.; der Nachkriegszeit. Im Gegensatz zum Eschweiler Gebiet mit den erhaltenen Fabrikdenkmälern, den Fabrikanten- entwickelte sich im Wurmrevier keine Eisenindustrie.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 27 // Aachener Land

Stolberg wuchs im 20. Jh. immer mehr mit Eschweiler 1852 eröffnet. In der Folgezeit errichtete man Bahnstre- zusammen, womit der Anschluss an das dortige Steinkoh- cken nach Eschweiler, Alsdorf, Simpelveld-Heerlen (NL), legebiet hergestellt wurde. In diesem Zusammenhang ist Gemmenich-Verviers (B), Kornelimünster-Monschau/Eu- die im Stolberger Raum gut nachweisbare Umnutzung pen (B). Diese Strecken waren durch Querverbindungen von aufgelassenen Gebäuden zu erwähnen; so wurden miteinander verbunden, die überwiegend dem Güterver- ehemalige Kupferhöfe teils zu Tuchfabriken und teils zu kehr dienten. Diese Bahnlinien sicherten auch den Ver- Wohnhöfen umfunktioniert. kehr von und zu den Bergwerken und stellten damit ei- nen wichtigen Faktor der Erschließung des Aachener Eine weitere gewerbliche Besonderheit war der Abbau Bergwerkreviers dar. und die Weiterverarbeitung von sog. Blaustein für den Kir- chen- und Hausbau. Bis Anfang 1870 beschränkte sich die Wegen der schwierigen topographischen Verhältnisse Nutzung dieser Natursteine lediglich auf das Brechen und war die Errichtung von Kunstbauten erforderlich, wie die Behauen. Mit Beginn des Industriezeitalters und der Anlage Dammanlagen und Brücken Richtung Gemmenich, bei der Eisenbahnstrecken um 1870 begann dann die indus- Laurensberg, an der Vennbahn. Letztere wurde aufgrund trielle Gewinnung und Weiterverarbeitung des Kalkgesteins. belgisch-französischer Interessen von Aachen-Rothe Erde über Monschau nach St. Vith 1885 eröffnet. Sie erhielt spä- Die älteste Bahnlinie in der Kulturlandschaft „Aachener ter Anschlüsse nach Raeren, Stolberg und an das Luxem- Land“ ist die internationale Verbindung von Köln nach burger Netz. Nach Abtretung der Gebiete westlich von Aa- Antwerpen, die in diesem Abschnitt 1839 in Betrieb ging. chen an den belgischen Staat verlor die Vennbahn ihre Be- Sie führte über Düren (Kulturlandschaft „Jülicher Börde – deutung und ist heute im Aachener Stadtgebiet weitge- Selfkant“), das sich zum betrieblichen Mittelpunkt dieser hend abgebaut, aber als Radweg erschlossen. Region entwickelte. Die Aachener Kleinbahn, später Aachener Straßenbahn, Im Norden verläuft die Verbindung von Aachen nach errichtete seit 1880 ein dichtes Netz weit in den Raum rei- Mönchengladbach durch den Raum. Weiter nach Norden chender Verbindungen, die bis Eschweiler, Stolberg, Als- wurde die Verbindung Erkelenz-Mönchengladbach bereits dorf, Herzogenrath, Zweifall und Walheim reichten und An-

Schloss Zweibrüggen, Übach-Palenberg Foto: LVR/J. Gregori  308

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 27 // Aachener Land 6.2

schlüsse an die Bahnen in Vaals (NL) und Raeren (B) be- am Fluss und eine verdichtete industrielle Nutzung ver- saßen. Neben Personenverkehr gab es Güterverkehr, der eint, kombiniert mit einer einzigartigen landschaftlichen zeitweise auch den An- und Abtransport der Güter von Einbindung. Venwegen und Breinig sind typische Stra- und zu den Bergwerken sicherstellte. Als Kuriosum galten ßendörfer aus Bruchsteinbauten des 17.-19. Jahrhunderts Querungen der Höckerlinie des Westwalles im Zweiten mit langen schmalen Wirtschaftsparzellen und einer offe- Weltkrieg, hier wurden gesonderte Anlagen zur Siche- nen Feldflur sowie eingestreuten Steinbrüchen. rung der Bahntrasse und der durchgehenden Verteidi- gungslinie vorgehalten. Die Aachener Straßenbahn wurde Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche bis 1974 vollständig stillgelegt. und -elemente

Die Osthänge des Vichttales über Stolberg-Büsbach in G Die Untere Wurm (KLB 24.01): römischer Marktort Rim- Richtung Aachen gehörten zum Limesprogramm des burg und Abschnitt der römischen Straße Köln-Heer- Westwallausbaues 1938/39. Neben den als Höckerlinie len/Wurmübergang. bezeichneten und weitgehend intakten Panzersperren sind zahlreiche Bunker als Ruinen noch erhalten, viele G Teilabschnitt der Römerstraße Köln-Heerlen (KLB 24.03). Anlagen wurden durch das Bundesvermögensamt in den letzten Jahren zerstört. G Münsterländchen/Kornelimünster (KLB 27.01): römi- sches Heiligtum Varnenum; römischer Galmeiberg- bau; mittelalterliches Kloster und Ortschaft Korneli- Kulturlandschaftscharakter münster, Wallfahrtszentrum; neuzeitlicher Bleiberg- bau; Hütten und Mühlen im Vichtbachtal; kleingliedri- Die ausgeprägte Reliefenergie hat eine sehr abwechs- ge historische Agrarlandschaft. lungsreiche Kulturlandschaft befördert, in der sich die naturräumlichen Gunstfaktoren der Ressourcengewin- G Aachen/Obere Wurm (KLB 27.02): jungsteinsteinzeitli- nung und der Thermalquellen besonders deutlich abbil- cher Bergbau Lousberg als ältestes montanhistori- den. Demzufolge sind die Erlebnisqualitäten sehr aus- sches Denkmal Nordrhein-Westfalens; ältester Volks- geprägt und dies wird insbesondere durch die europäi- park Europas; römische Thermenanlagen Aachen und sche Bedeutung von Aachen in kultureller und histori- Burtscheid; römische Siedlung; frühmittelalterliche scher Hinsicht deutlich. Pfalz und Dom (Weltkulturerbe); frühmittelalterliche Siedlungsplätze; neuzeitliche Stadt; mittelalterliche Aa- Besonders charakteristisch ist ein insgesamt guter Erhal- chener Landwehr, Mühlen, Burganlagen; frühneuzeitli- 309 tungszustand der jeweiligen kulturlandschaftlichten Über- cher Bergbau; Bad Aachen. reste aus der Montan- und der Siedlungsgeschichte von Aachen bzw. Stolberg mit seinen Kupferhöfen und der he- G Indetal/Langerwehe (KLB 27.03): vorgeschichtliche rausragenden Burganlage. Siedlungs- und Bestattungsplätze; vorgeschichtlicher, römischer, mittelalterlicher Bergbau, Metallgewinnung Die assoziative Bedeutung von Aachen ist immens hoch, und Metallverarbeitung; römische Siedlungsplätze; mit- weiterhin ist es ein wichtiger Universitätsstandort und da- telalterliche Burganlagen; mittelalterliche Stadt Stol- mit ein innovatives Zentrum, das sich entsprechend räum- berg; neuzeitlicher Bergbau und Töpferei. lich niederschlägt mit Ausstattungsmerkmalen der Funkti- on als Forschungs- und Wissenschaftsstandort. G Abschnitt der Aachen-Frankfurter Heerstraße (KLB 25.09).

In den Außenbereichen der Städte und Orte ist ein dy- G Teilabschnitt der Bahnlinie Köln-Welkenraedt (KLB 27.04). namischer Prozess der Wohnvorortbildung erkennbar und insgesamt hat diese Kulturlandschaft auch eine G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- große touristische Bedeutung. Hinzu kommt die Grenz- sondere als Bodenarchiv, sind Aachen, Burtscheid, lage verbunden mit dem Bewusstsein, das Aachen ein Eschweiler, Herzogenrath, Kornelimünster, Langerwe- europäisches Zentrum in karolingischer Zeit gewesen he und Stolberg. ist und auch danach grenzüberschreitend bedeutend war und ist. G Fossilvorkommen im Bereich des Vennsattels (Kambri- um/Ordovizium) sowie der Karbonkalke bei Aachen und Die hügelige Landschaft südöstlich von Aachen mit Stolberg. Grünland, Hecken, Wäldern, Mühlenanlagen, Bergbaure- likten und dem ehemaligen reichsunmittelbaren Benedik- G Die Relikte des Westwalls in Form von linear verlaufen- tinerkloster Kornelimünster sowie die Ortschaften mit ih- den Panzerhindernissen und einer Vielzahl von beglei- ren aus Blaustein errichteten Bauten sind für das Rhein- tenden Bunkeranlagen. land von besonderer Bedeutung. G Mittelalterliche Burgsiedlung Stolberg. Im Vichtbachtal von Mulartshütte über Zweifall, Vicht und Stolberg bis Atsch sind eine markante Siedlungsstruktur G Römischer Töpfereibezirk Langerwehe.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 27 // Aachener Land

Leitbilder und Ziele

G Die Maßstabsebene für die Formulierung eines Leitbil- des muss Europa sein, da Aachen im Frühmittelalter zum Kern des karolingischen Reiches gehörte und die- ses Wissen im Bewusstsein Mitteleuropas fester Be- standteil der Geistesgeschichte ist. Aachen als kulturel- les Zentrum ist von großer europäischer Bedeutung und dessen Bewahrung unter besonderer Wertschät- zung der Architekturreste ist somit zentral.

G Die Reste der Montanindustriegeschichte in Form der steinzeitlichen Abbaurelikte auf dem Plateau des Lous- berges sind zu bewahren.

G Die Kupferhöfe aber auch die Geländerelikte des Ab- baus von Buntmetallen sind zu erhalten und als regio- nal bestimmend zu vermitteln.

G Die Relikte des Westwalls sind als Mahnmal der dunk- len Seite der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu er- halten und zu kommunizieren.

G Für Kornelimünster ist zu fordern, dass zum einen die bauliche Entwicklung vor Ort zu steuern ist und die Re- likte der Wahlfahrt mit europäischer Relevanz heraus- zuarbeiten sind.

G Bei den Straßendörfern gilt es nicht nur die geschlos- sene Siedlungsstruktur zu erhalten, sondern auch die 310 prägenden Straßenfluchten besonders bei Lückenbe- bauung.

G Berücksichtigung der Belange des Kulturellen Erbes bei wasserbaulichen Maßnahmen z.B. der Fließgewäs- serrenaturierung.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der historischen Stadtkerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Die Fossilvorkommen im Aachener Land sind als be- deutende Zeugnisse der Entwicklung des Lebens und aufgrund ihrer Seltenheit zu erhalten.

G Die historischen Verkehrswegetrassen sollen erhalten und erlebbar gemacht werden.

G Das reiche römische Erbe der Kulturlandschaft ist im europäischen Kontext zu bewahren und der Öffentlich- keit zugänglich zu machen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 28 // Eifel 6.2

Kulturlandschaft 28 // Eifel steht aus devonischer Grauwacke und Tonschiefer. Es ha- ben sich auf den Hochflächen tonhaltige und nährstoffarme Braunerden entwickelt, die stellenweise zu Staunässe nei- Lage und Abgrenzung gen, während die Hänge geringmächtige und skelettreiche Ranker als Böden aufweisen. Besonders die Rur hat stel- Im Norden grenzt die Kulturlandschaft „Eifel“ an das „Aa- lenweise Terrassensporne und Umlaufberge herausmodel- chener Land“ und im Osten an die „Rheinische Börde“. Die liert. Weiter unterhalb wird das Rurtal breiter und weist Ter- westliche und südliche Grenze sind durch die Staatsgren- rassenbildungen auf. Im Talgrund finden sich vor allem Au- ze mit Belgien bzw. die Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz enlehmböden. Im Mündungsgebiet der Urft in die Rur wer- vorgegeben, denn die Eifel setzt sich in den angrenzenden den die Täler von Stauseen geprägt, in deren Windungen belgischen und rheinland-pfälzischen Gebieten fort. noch gut die ursprünglichen Flussverläufe abzulesen sind.

Die Begrenzung folgt weitgehend den Grenzen der na- turräumlichen Gliederung und vor allem der Geomorpholo- gie und Topographie. Weiterhin wichtige Abgrenzungskrite- rien sind der Waldbedeckungsgrad, die vorherrschenden Böden, die Siedlungsdichte und der Erschließungsgrad.

Der südliche Kreis Aachen, der südwestliche Kreis Dü- ren, der südliche Kreis Euskirchen und der südwestliche Teil des Rhein-Sieg-Kreises haben Anteil an der Kultur- landschaft „Eifel“.

Die fünf naturräumlich unterscheidbaren Teilräume der Eifel bilden sich auch in ihrem kulturlandschaftlichen Er- scheinungsbild deutlich ab, werden auf der hier zugrunde gelegten Maßstabsebene jedoch nicht getrennt beschrie- ben, sondern zusammengefasst dargestellt.

Naturräumliche Voraussetzungen 311  Rursee Der Mittelgebirgsraum der Eifel wurde vor allem im De- Foto: Naturpark Hohes Venn-Eifel von geprägt und besteht überwiegend aus Tonschiefern, Grauwacken und Sandsteinen; er wird von 100 bis 200 m tief eingeschnittenen, windungsreichen Kerb- und Sohlen- Vor allem die Hochflächen des Dürener Eifelfußes, tälern der oberen Rur, der Urft, der Olef, von Ahr und Kyll der Hollerather Hochfläche und des Kermeter sind von sowie weiterer Gewässer gegliedert. Die Höhe der Land- ausgedehnten Wäldern bedeckt. Nur auf den Talsohlen schaft nimmt von über 600 m ü. NN im Süden auf etwa und in einigen Rodungsinseln befinden sich landwirt- 220 m ü. NN im Norden und Osten ab. Die Böden sind schaftliche Flächen. hauptsächlich lehmig-tonig bis steinig. Der zentrale Bereich der Kulturlandschaft „Eifel“ wird Bei genauerer Betrachtung lässt sich die Eifel natur- durch die Eifelkalkmulden gebildet. Die Kalkeifel baut sich räumlich in fünf Teilräume unterscheiden. auf aus geologischen Mulden verschiedener unter- und mitteldevonischer Gesteine mit dazwischen liegenden Der geologisch älteste Teil ist am Nordwestrand der Ei- Kalk- und Schiefergebirgssätteln. Die nördlichste dieser fel, der Bereich des Hohen Venns, mit dem kambro-siluri- Mulden ist die Sötenicher Kalkmulde, die aus kluftreichen schen Venn-Sattel, der aus Schiefer, Phylit und Quarzit auf- Kalken, Dolomiten und Mergeln besteht. Weitere Mulden gebaut ist. Die Böden sind zum Teil als extreme Staunäs- sind die Blankenheimer, Dollendorfer und Hillesheimer seböden ausgebildet, die in den Höhenlagen in Verbin- Mulde. Die Sättel und Mulden erreichen als Rumpfflächen dung mit extrem hohen Niederschlägen (Luv-Lage) die Bil- Höhen von 400 bis 550 m ü. NN. dung von Hochmooren begünstigt haben. Der Vennrücken ist Quellgebiet zahlreicher Gewässer, die sowohl nach Nor- Außer der eingeschnittenen Urft in der Söttenicher Mul- den als auch nach Süden abfließen; er hat somit eine gro- de findet man hier keine größeren Oberflächengewässer. ße wasserwirtschaftliche Bedeutung. Um den verkarsteten Kern der Mulde liegen weichere und wasserstauende Mergelschichten. Die Muldenlandschaf- Nach Südosten schließt sich die stark reliefierte, zertalte ten sind im Vergleich zu Rureifel relativ waldarm und mit und dicht bewaldete Rureifel an. Das Monschauer Hecken- einem hohen Anteil an offenem Kulturland ausgestattet. land mit dem Rurtal im Zentrum bildet den nordöstlichen In klimatischer Hinsicht treten in der Kalkeifel Lee-Effekte Übergangsbereich zum Hohen Venn. Der Untergrund be- gegenüber dem Westeifel-Ardennenblock auf.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 28 // Eifel  Eifellandschaft bei Dahlem-Kronenburg 312 Foto: LVR/J. Gregori

Den nördlichen Anschluss an die Kalkeifel bildet die Me- nuar und 14° C im Juli. Durch die hohe durchschnittliche chernicher Trias-Bucht. Überwiegend Sandsteine aus dem Zahl von Eis- und Frosttagen ist die Vegetationsperiode älteren Abschnitt des Mesozoikums bilden den Untergrund. von Mai bis September mit 120 bis 150 Tagen relativ kurz. Die Böden sind Braunerden, die stellenweise zur Podsolie- rung neigen. Ihre gute Wasserzügigkeit und das weniger stark ausgeprägte Relief begünstigen bei Höhenlagen von Geschichtliche Entwicklung ca. 500 m ü. NN im Süden und ca. 220 m ü. NN im Norden eine intensivere landwirtschaftliche Nutzung. Die Bleiverer- Die ältesten gesicherten Belege einer steinzeitlichen zungen im Raum Mechernich bildeten die Grundlage der Begehung im nahen Umfeld der Rheinischen Bucht stam- dortigen industriell-gewerblichen Entwicklung. men aus dem Travertin der Kartsteinhöhle bei Mecher- nich. Mit einem Alter von rd. 200.000 Jahren vor heute da- Im Osten schließen sich an die Kalkeifel und die Mecher- tieren sie ins Altpaläolithikum (Zeit des Homo erectus). In nicher Trias-Bucht die Ahreifel und der Münstereifeler Wald der Höhle selbst und deren unmittelbarer Nähe wurden an. Der Untergrund besteht auch hier wieder aus devon- bei Ausgrabungen Steingeräte aus dem Mittelpaläolithi- ischer Grauwacke und Tonschiefer. Es haben sich tonhaltige kum (Zeit des Neandertaler), dem Jung- und dem Spätpa- und nährstoffarme Braunerden entwickelt, die teilweise zu läolithikum entdeckt. Dagegen fehlen Siedlungsplätze des Staunässe neigen. An den Hängen finden sich geringmäch- Mesolithikums und des Neolithikums. Seltene Funde alt- tige und skelettreiche Ranker als Böden. Die Niederschläge neolithischer Steingeräte (Scheibenkeule aus Nideggen- gehen weiter zurück und entsprechend nimmt die Ackernut- Wollersheim) mögen durch die für diese Zeit angenomme- zung gegenüber der Grünlandnutzung allgemein weiter zu. ne Transhumanz (Wanderwirtschaft) zu erklären sein.

Das Klima der Eifel ist vor allem im Westen extrem at- Von einer lockeren Besiedlung der Eifel in der Bronze- lantisch geprägt mit relativ hohen Niederschlägen, die und Eisenzeit darf ausgegangen werden, auch wenn das aufgrund der Luvlage im Westen im Bereich des Hohen Siedlungsbild unklar bleibt. In weitgehender Unkenntnis Venns ca. 1.500 mm im Jahr aufweisen und nach Osten der Siedlungen selbst kann der Landesausbau über pollen- hin bis etwa 800 bis 900 mm abnehmen. Die jährliche analytische Untersuchungen nachgewiesen werden. Pol- Temperatur variiert zwischen ca. von -1° C bis 1,5° C im Ja- lendiagramme von zwei Eifelmaaren in der Südeifel (Rhein-

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 28 // Eifel 6.2

land-Pfalz) zeigen eine verstärkt einsetzende Besiedlung Durch die Eifel geführte Straßen verbanden die Provinz anhand Rodungs- und Bewirtschaftungsanzeigern im Pol- Niedergermanien mit Innergallien und dem moselländi- lenmaterial ab dem 7. Jh. v. Chr. Sichtbare Zeichen dieser schen Raum mit Trier. Es sind verschiedene Straßen mit Besiedlung bilden die mancherorts noch erhaltenen teilweise heute noch gut erkennbaren Teilstücken wie bei Grabhügel (Blankenheim, Mechernich) sowie Befestigun- Nettersheim und Dahlem belegt. gen. Nur in wenigen Beispielen ergraben (wie zum Beispiel die Alte Burg bei Euskirchen-Kreuzweingarten, Mechernich- Eine weitere Besonderheit in der römischen Kulturland- Weyer, Kartstein), dürfen in einer weiteren Anzahl bislang schaft der Eifel ist die Tempellandschaft um Bad Münsterei- undatierter Anlagen vorgeschichtliche Umwehrungen er- fel und Nettersheim. Der in Niedergermanien verbreitete Kult wartet werden, wie z.B. am Stromberg bei Blankenheim. der Matronen ist hier besonders anschaulich mit mehreren Tempelanlagen nachvollziehbar (Nöthen, Görresburg). Die Besiedlung der Mittelgebirgsregion lässt sich kei- neswegs allein durch eine land- oder weidewirtschaftliche Zusammenfassend beurteilt ist die Nordeifel eine in rö- Nutzung klären. Spätestens ab der Urnenfelderzeit muss mischer Zeit stark genutzte Mittelgebirgslandschaft mit für die Region eine verkehrspolitische Bedeutung ange- land- und viehwirtschaftlich arbeitenden Betrieben, aber nommen werden. Für die frühe bis mittlere Eisenzeit kann darüber hinaus eine vor allem als Rohstofflieferant wichtige darüber hinaus mit einem Landesausbau gerechnet wer- Region des westlichen römischen Reiches. Zahlreiche den, der wenigstens zum Teil durch die Prospektion und Spuren dieser Tätigkeiten sind heute noch deutlich er- den Abbau von Erzen angeregt war. Dieser ist für den Me- kennbar und machen die Region zu einer der wichtigsten chernicher Raum nachgewiesen, und wird für den Nideg- Bodendenkmallandschaften der Bundesrepublik. gen/Kreuzauer Raum vermutet. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches kam Die Eifel wurde in der nachfolgenden römischen Zeit die Kulturlandschaft „Eifel“ relativ schnell unter die Herr- wichtiger Rohstofflieferant für die aufstrebende Provinz schaft der Merowinger und Karolinger (karolingische Burg- Niedergermanien. Römische Steinbrüche, z.B. bei Me- ruine bei Bad Münstereifel). Die Eifel entwickelte sich zu ei- chernich-Katzvey und Nettersheim, Kalkbrennereien ner Kernregion des Karolingerreiches. Eine anzunehmen- (sechs in Reihe angeordnete Kalköfen bei Iversheim sind für de Siedlungskontinuität zur nachfolgenden merowingi- den Besucher zugänglich) und Bergwerke auf Eisen, Kup- schen Zeit, die auf einem sehr geringen demographischen fer, Blei und wohl Silber waren in der Eifel in Betrieb. Sie Niveau vorhanden gewesen sein dürfte, lässt sich derzeit haben heute noch sichtbare Spuren in Form von Schäch- archäologisch nicht nachweisen. ten, Halden und Pingen hinterlassen, wie in Mechernich, 313 Nideggen und Kreuzau. Es ist aber deutlich, dass die vormals römisch genutz- ten Wirtschaftsräume wieder aufgegriffen wurden bzw. Auch die Eifelwälder mit ihrem Holzreichtum waren ein entlang der römischen Fernstraße Köln-Trier wohl weiter wichtiger Rohstofflieferant; sie lieferten Holzkohle für genutzt wurden. Die Siedlungen, die über die Gräberfel- technische Feuerungen und Bauholz. Die Rohstoffquel- der erschlossen werden können, lassen einen verstärkten len ebenso wie das sich in kaiserlichem Besitz befindli- Zuzug von Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 6. Jahr- che Land wurden staatlich verwaltet. In dieser Abhängig- hunderts erkennen. Die Gräberfelder sind die wichtigste keit werden sicherlich die teilweise sehr aufwändig aus- archäologische Quellengattung dieser Zeit. Ein Anteil von gestatteten Gutshöfe (villae rusticae) zu sehen sein, deren mindestens einem Drittel der vorhandenen Gräberfelder Erwerbsquellen nicht nur die Landwirtschaft, sondern in (als Siedlungsanzeiger) belegen, dass die heutigen Ortsla- hohem Maße die Rohstoffgewinnung (Villen bei Euskir- gen in dieser Zeit ihren Anfang nahmen, bei einem weite- chen-Kreuzweingarten, Blankenheim, Nideggen-Berg) und ren Drittel muss jedoch von einer heute wüst gefallenen die handwerkliche Verarbeitung waren. Siedlung ausgegangen werden.

Die römische Eifelwasserleitung, eine der größten Inge- Seit den früh- und vor allem den hochmittelalterlichen nieurleistungen der Antike, nutzte die Verfügbarkeit von fri- Kolonisationsphasen wurde die Grundlage für das heuti- schem, kalkhaltigen Quellwasser in der Sötenicher Kalk- ge Siedlungsgefüge mit einer weitgehend geschlosse- mulde. Ende des 1. Jahrhunderts wurde die 95 km lange nen Besiedlungsstruktur von Weilern, Dörfern – vor allem Leitung erbaut, die mindestens bis in die zweite Hälfte des Haufendörfer – und Kleinstädten gelegt. 3. Jahrhunderts in Betrieb war. Sie versorgte die Provinz- hauptstadt Köln täglich mit bis zu 20.000 m³ Wasser. Als Die Städte sind aus Siedlungen hervorgegangen, die reine Gefälleleitung konzipiert überwand sie die Wasser- zur Stadt erhoben worden sind, wie Münstereifel 1299, scheide zwischen Rhein und Maas, zahlreiche kleine Täl- Schleiden 1360, Monschau 1325, Blankenheim 1341. Ni- chen sowie das Vorgebirge (Kulturlandschaft „Ville“) durch deggen wurde 1313 als Stadt gegründet. Tunnel und Aquäduktstrecken. Der ausgeschilderte Römer- kanal-Wanderweg von Nettersheim über Kall, Mechernich, Im Hochmittelalter war die Eifel Grenzgebiet zwischen den Euskirchen und Rheinbach zeigt zahlreiche Aufschlüsse Erzbistümern Köln und Trier, der Grafschaft Luxemburg und und technische Begleitbauwerke und vermittelt dem Wan- dem Herzogtum Jülich. Dies erklärt die große Zahl an Burg- derer einen anschaulichen Eindruck des Streckenverlaufs. ruinen, welche vor allem zur Grenzsicherung erbaut wurden.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 28 // Eifel

Die relativ frühe Christianisierung führte zur Errichtung Ödlandflächen wurden im Rahmen der Schiffelwirtschaft zahlreicher Klöster, von denen besonders die Abtei Stein- genutzt; einer ein bis zwei Jahre währenden Ackerland- feld 1121 bei Kall zu erwähnen ist. Die Klöster waren nutzung folgte eine 15- bis 30-jährige Brachephase. So sehr einflussreich und hatten großen Grundbesitz. Auch entstanden Heidelandschaften, die als Reliktlandschaften die Benediktiner-Abtei Prüm (Rheinland-Pfalz) verfügte heute auch Naturschutzwert haben, wie beispielsweise über ausgedehnte Ländereien in der Nordeifel. Im Prü- bei Blankenheim-Alendorf. mer Urbar von 893 finden sich zahlreiche Erstnennungen von Ortschaften der Region. Die extensive und in erster Linie auf Selbstversorgung ausgerichtete Landwirtschaft, die vom rauen, nieder- schlagsreichen Klima und weitgehend mageren Böden geprägt war, konnte vor allem in der Neuzeit oft nur im Nebenerwerb in Verbindung mit Handwerk, Gewerbe, wie z.B. Köhlerei, betrieben werden.

Die wirtschaftliche Entwicklung in der Eifel war Mitte des 19. Jahrhunderts durch fehlende oder ungenügende Ver- kehrsanbindung behindert. Es war daher erforderlich, Ei- senbahnverbindungen zum Abtransport der beispielswei- se im Oleftal hergestellten Güter zu errichten. Die Rheini- sche Bahn erreichte 1864 von Düren aus Euskirchen, von dort erfolgte der Weiterbau durch die Eifel nach Trier bis 1871. Von Schleiden aus wurde 1884 die Oleftalbahn er- richtet, jedoch kam der Bahnbau zu spät, die meisten der Fabriken waren bereits in das Ruhrgebiet abgewandert. Ei- ne weitere Querbahn führte von Blankenheim (Wald) durch das Ahrtal zum Anschluss bei Ahrdorf.  Kronenburg Aufgrund belgisch-französischer Interessen kam es zum Foto: LVR/A. Heusch-Altenstein Bau der Vennbahn von Aachen-Rothe Erde über Mon- schau nach St. Vith, die 1885 eröffnet wurde und später 314 noch Anschlüsse nach Raeren, Stolberg und an das Lu- Die Eifel war eine gewerbliche Region. Die gewerblichen xemburger Netz erhielt. Nach Abtretung der Gebiete Aktivitäten waren in Tälern mit Wasser als Energiequelle westlich von Aachen an den belgischen Staat ist die für die gewerblichen Wassermühlen konzentriert, die bei Vennbahntrasse belgisches Staatsgebiet. Heute ist die den Erzvorkommen lagen (Kronenburg, Schleiden, Gemünd Vennbahn in die touristische Erschließung eingebunden. und Kall). In Mechernich wurde Blei gewonnen. Vor allem Als Nebenbahn wurde die Linie von Düren durch das Rur- war in der waldreichen Eifel das Eisengewerbe sehr wich- tal bis nach Heimbach 1892 errichtet. tig, denn die Herstellung von Eisen hatte einen großen Holzbedarf. In zahlreichen Kohlenmeilern wurden Holz- Im Laufe des 19. Jahrhunderts führten die durch das kohlen hergestellt und über sog. Kohlenstraßen zu den Ei- Bevölkerungswachstum zunehmende Zersplitterung des senhütten transportiert. Schleiden und Kall waren bis ins Grundbesitzes (als Folge des vorherrschenden Realteilungs- 19. Jh. für Eisenherstellung wichtige Produktionsorte. Das erbrechtes), schlechte Böden und wetterbedingte Miss- Eisengewerbe wanderte in der Folge jedoch zum größten ernten zu Auswanderungen nach Übersee. Vor allem in Teil aufgrund des neuen durch die Anwendung von Koh- der Periode 1880-1890 mit sieben Missernten und Hun- len basierten Hochofenverfahrens ins Ruhrgebiet ab. gersnöten gab es eine Notstandssituation, die nach 1890 allmählich aufgrund preußischer Hilfsprogramme (Eifel- Eine weitere gewerblich-industrielle Entwicklung kon- fond) mit agrarstrukturverbessernden Maßnahmen (Zu- zentrierte sich im Monschauer Raum, wo sich seit dem sammenlegungen, Wasserleitungen, Aufforstungen, Meliora- 16. Jh. ein bedeutendes Textilgewerbe entwickelte und tionen usw.) allmählich behoben werden konnte. der Stadt Wohlstand gebracht hat. Am Rand des Hohen Venns entstand aufgrund der rauen Der Zustand der Wälder hatte sich durch die nicht nach- Klimaverhältnisse die typische Monschauer Heckenland- haltige Bewirtschaftung aufgrund Jahrhunderte langer schaft. Die Hecken schützten die Höfe auf der Hochebene Überbeweidung, Waldackerbau, Streuentnahme und vor gegen die Westwinde. Dort wurde aufgrund des feuchten allem Abholzung für die Holzkohlenproduktion für das Ei- Klimas zunehmend auf Grünlandwirtschaft umgestellt. senverhüttende und -verarbeitende Gewerbe ohne ausrei- chende Neuanpflanzung sehr stark verschlechtert. Die Die staatlich gelenkten Aufforstungen mit hauptsächlich ehemals dichten Wälder waren zu Heiden bzw. lichtem Nadelgehölzen (Fichten und Kiefern) gestalteten sich zu- Wald verkommen. Um 1820 lag der Heide- und Ödlandan- nächst sehr schwierig. Der verhasste sog. Preußenbaum teil in der Eifel durchschnittlich bei etwa 45%. Teile dieser (Fichte) entwickelte sich zu einem Profitbaum, denn mit der

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 28 // Eifel 6.2

Modernisierung des Bergbauwesens und dem Bau von Am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten neuen Schachtanlagen im Ruhrgebiet sowie im Aachener touristischen Einrichtungen für die sog. Sommerfrische so- Revier seit 1860, nahm die Nachfrage nach Grubenholz wie Kur- und Badeorte (Bad Münstereifel) für gehobene sehr stark zu. Die Aufforstungspolitik führte mit den agrar- Schichten. Seit dem frühen 20. Jh. wurde eine touristische strukturellen Maßnahmen zu einem drastischen Rückgang Struktur aufgebaut, die sich vor allem im Rahmen des zu- der Heide- und Ödlandflächen sowie zu einem tief greifen- nehmenden Wohlstandes gut entwickeln konnte. Die Rur- den Landschaftswandel mit einer damit einhergehenden und Urfttalsperre mit ihren umliegenden ausgedehnten Veränderung des Wald- und Landschaftsbildes. Waldflächen haben für die Naherholung und den Touris- mus eine große Bedeutung. Besonders die Viehzucht mit Grünlandwirtschaft und Feld- futterbau verbesserte die Situation der Landwirtschaft, bei Durch die Vermarktung der Kulturlandschaft „Eifel“ gibt denen die Heide- und Ödlandflächen als Extensivweiden es in den letzten Jahren eine Zunahme an Besuchern. noch lange genutzt wurden. Viele Dörfer verfügten noch Dies führte zum weiteren Ausbau der touristischen Infra- über Gemeinheitsweiden und Weidegenossenschaften. Ver- struktur mit Erholungseinrichtungen wie Feriendörfern sorgungs- und infrastrukturelle Einrichtungen (Wasser und und -parks, Zeltplätzen und Erholungsparks. Auch für Elektrizität) wurden angelegt bzw. modernisiert. Die traditio- den Skisport wurden Einrichtungen geschaffen. Der Be- nelle Wasserversorgungsfunktion der Eifel für die Ballungs- deutung des landschaftlichen Potentials wurde durch die räume wurde mit der Anlage von Talsperren (Urfttalsperre Errichtung des grenzüberschreitenden Naturparks Ho- 1905 und Rurtalsperre 1938) wieder aufgenommen. hes Venn/Eifel und des Nationalparks Eifel Rechnung ge- tragen. Beiden kommt für die Entwicklung der Kultur- In den letzten Jahrzehnten verstärkte sich aufgrund der landschaft eine hohe Verantwortung zu. relativ hohen Milchpreise die durch die Milchviehhaltung bedingte starke Zunahme von Grünland noch, während der Ackerbau (Feldfutterbau) an Bedeutung abnahm. Seit den 1980er Jahren nehmen Brache und Flächenstilllegun- gen zu. Seit einigen Jahren nimmt die Betriebszahl rapide ab. Durch eine Förderungspolitik nahmen die privaten Aufforstungen von zunächst entfernten und weniger ge- eigneten Agrarflächen schnell zu.

Die Grenzlandsituation führte im frühen 20. Jh. zur Er- 315 richtung von Truppenübungsplätzen (z.B. bei der ehema- ligen „NS-Ordensburg Vogelsang“) und Befestigungen (Westwall). Als Folge der beiden Weltkriege gab es Be- satzungen und Reparationsabholzungen insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die ursprüngliche Fachwerkbauweise wurde in den Nachkriegsjahren durch die zunehmende Anwendung von Naturstein, Basalt und Schiefer (als Schutzmaterial für das Mauerwerk) zurückgedrängt. Die noch bescheidenen  Ansätze zu Siedlungsverdichtung und Industrieansied- Narzissenwiese lung konzentrierten sich meistens bei den größeren Orten Foto: Naturpark Hohes Venn-Eifel und bei den älteren Gewerbezentren. Vor allem seit den 1960er Jahren wurden die regional geprägten Bauweisen mehr und mehr aufgegeben und auf die Anwendung von Kulturlandschaftscharakter regionalem Baumaterial wurde verzichtet. In kulturgeographischer Hinsicht lässt sich die Eifel in Siedlungserweiterungen in Form von flächigen Neubau- zwei Gebietseinheiten gliedern. Das Hohe Venn und die gebieten und Modernisierung der Bausubstanz mit nicht reliefierte und zertalte Rureifel weisen eine hohe Wald- regionsgebundenen Baumaterialien und Hausformen ha- dichte auf. In den Waldbereichen eingestreut befinden ben in jüngster Zeit die traditionellen Ortsbilder der Dörfer sich die landwirtschaftlich genutzten Flächen der Dörfer. und Städte sowie die Ortsstrukturen erheblich verändert Das meiste Offenland wird als Grünland genutzt. Die Städte und zu einer Vereinheitlichung der Bausubstanz geführt. wie Monschau und Schleiden befinden sich in den Tälern. Nicht nur bei den Städten und größeren Orten entstanden neue Wohn-, Gewerbe- und Industriegebiete. Im Urft- und Der östliche Teil der Kulturlandschaft „Eifel“ (Kalkeifel, Ah- Oleftal entwickelte sich eine relativ dichte gewerblich ge- reifel und Menchernicher Raum) ist dagegen weniger bewal- prägte Siedlungsgasse (Schleiden, Gemünd und Kall). Die det, und hier wechseln sich die Grün- und Ackerlandflächen Orte sind heute häufig nur noch Schlafstätten, die Men- mit den von Fichten dominierten Waldflächen ab. Neben schen pendeln in die angrenzenden Räume zur Arbeit. den Tälern gibt es Hochflächen und Kuppen. Die Siedlungs-

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struktur wird vor allem durch Haufendörfer sowie Stra- schützender Nähe von Burgen befindet sich in den Talla- ßendörfer und ehemalige Städtchen (Dollendorf, Blan- gen und auf den Hochflächen der Monschauer Hecken- kenheim, Reifferscheid) sowie die Stadt Bad Münstereifel landschaft und der Kalkeifel. mit ihrer erhaltenen Stadtmauer und dem historischen Stadtkern geprägt. Die besiedelten Bereiche sind durch die baulichen Ver- änderungen und Erweiterungen nach 1955 erheblich ver- Der Eifelraum wird charakterisiert durch die Entwick- ändert worden. lung vom hochmittelalterlichen kulturellen Zentralraum Europas, mit Klöstern und Burgen, zum „Armenhaus“ des Die größte Gefährdung der Kulturlandschaft „Eifel“ be- Deutschen Reiches und nach 1945 zu einer heute als na- steht in dem starken Rückzug der Landwirtschaft. Die durch turnah empfundenen Wohn- und Erholungs- sowie Ur- Betriebs- und Flächenstilllegungen entstandene Brache und laubslandschaft. Die Eifel weist einerseits große kulturhis- die damit zusammenhängenden geförderten Aufforstungen torische und ökologische Potentiale auf, die andererseits von dorfnahen Fluren und Bachtälern bzw. -auen werden vor allem in den Ortskernen von deutlichen „städtischen“ das Landschaftsbild ohne Gegenmaßnahmen erheblich ver- Modernisierungserscheinungen überlagert werden. ändern. Hiervon sind auch die Obstwiesen, alte Gemein- heitsflächen, Heckenreihen u.a. betroffen. Der Eifeler Laubwald, von dem um 1800 durch die jahr- hunderte lange Übernutzung große Teile zu Heide bzw. Öd- Außerdem wirken sich die Ressourcengewinnung, der land verkommen waren, hat sich seitdem weitgehend in ei- Massentourismus und die Anlage von zahlreichen Neu- nen nach modernen Gesichtspunkten bewirtschafteten und bau- und Gewerbegebieten negativ aus. Durch den Bau von Fichten dominierten Mischwald gewandelt. Diese Um- von Windkraftanlagen wird das Eifeler Landschaftsbild wandlung hatte allerdings zu einer ökologischen Verarmung stellenweise erheblich beeinträchtigt. geführt. Die großen Mischwaldareale der Rureifel werden nach Osten hin (Kalkeifel) zunehmend von, seit der Römer- zeit tradierten Ackerfluren, abgelöst. Die erhalten gebliebe- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche nen Heideflächen – vor allem Wacholderheiden – mit einem und -elemente Flächenanteil von 1% stehen heute unter Naturschutz und dokumentieren die einstigen Ausbeutungslandschaften. G Mittlere Rur/Nideggen (KLB 24.02): industriell und berg- baulich geprägtes Rurtal zwischen Heimbach und Kreuzau; vorgeschichtliche Siedlungsplätze; römische 316 Siedlungsplätze; frühmittelalterliche Orte; mittelalterli- che Mühlen und Mühlengräben, Burganlagen.

G Teil des Kulturlandschafsbereiches Kreuzau/Vettweiß (KLB 25.06): römische Siedlungsplätze; römischer Tun- nel Drove; Drover Heide.

G Nordeifel – Römische Straße Köln-Tier (KLB 28.01): vor- geschichtlicher bis neuzeitlicher Bergbau; Buntsand- steinabbau; Erzabbau und Metallverarbeitung; römi- scher Kalkabbau und Kalkverarbeitung; römisches Landgut Blankenheim; römische Siedlungsplätze, Eifel- wasserleitung, Tempelbezirke; mittelalterliche Mühlen und Burganlagen; mittelalterliche Burg mit Wasserlei-  Eifel bei Gondenbrett tung und Stadt Blankenheim; mittelalterliche Stadt Bad Foto: LVR/K.H. Flinspach Münstereifel; Radioteleskop Stockert.

G Teilabschnitt der Römischen Straße Köln-Zülpich-Trier Zahlreiche Relikte im Wald deuten auf den ehemaligen (KLB 28.01): römische Straßentrasse, begleitende Infra- Erzbergbau und auf ehemalige Verarbeitungsplätze (Mei- struktur; römische Siedlungsplätze. lerplätze, Lohegewinnung, gewerbliche Wassermühlen, Ver- hüttungsplätze, Pingen, Halden, Stollen u.a.m.) hin. G Teil des Kulturlandschaftsbereiches Euskirchener Bör- de und Voreifel (KLB 25.08): Abschnitt der römischen Die Anpassung der Bewohner an das rauhe Klima z.B. Wasserleitung Eifel-Köln; römischer Bergbau, Kalk- mit Schutzhecken auf der Hochfläche bei Monschau, mit brennerei, Erzabbau und Metallverarbeitung. angepassten und der Nutzung natürlicher Potentiale (Bergbau und auf Wasserkraft basierendes Gewerbe in den G Monschauer Land (KLB 28.02): mittelalterliche Burg Tälern sowie traditionelle Nutzung des Wasserreichtums in und Stadt Monschau; Fachwerkbauten; Tuchindus- Form von Talsperren und Heilbädern) prägen die Eifel heute trie; Heckenlandschaft; Kloster Reichenstein; Ab- noch. Die hauptsächlich geschlossene Besiedlung in schnitt des Westwalls (Zweiter Weltkrieg).

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 28 // Eifel 6.2

G Die Tomburg bei Rheinbach als mittelalterliche Höhenburg. G Hürtgenwald als Kampfgebiet des Zweiten Weltkrieges; Soldatenfriedhöfe in Vossenack. G Rurtalsperre – Urfttalsperre (KLB 28.03): Wüstung Woll- seifen; „NS-Ordensburg Vogelsang“, Abschnitt des G kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- Westwalls, Luftverteidigungszone West (Zweiter Welt- dere als Bodenarchiv, sind Blankenheim, Heimbach, krieg); Talsperren; Nationalpark Eifel. Kronenburg, Monschau, Münstereifel, Nideggen, Reif- ferscheid und Schleiden. G Oleftal und Oleftalsperre (KLB 28.04): spätmittelalterli- che und frühneuzeitliche Eisenverhüttung und -verar- beitung; Talsperre. Leitbilder und Ziele

G Westwallabschnitt bei Udenbreth (KLB 28.05). G Pflege der Wacholderheiden und Gemeinschaftsweiden als Relikte der extensiv genutzten Gemeinheitsflächen. G Alendorf – Lampertstal (KLB 28.06): Wacholderheide- landschaft; Kalvarienberg bei Alendorf; mittelalterliche G Erhalt der Wiesen und kleineren Auenwäldchen in den Burg und Siedlung Schloßthal. Bach- und Flussauen.

G Sichtbezüge im Umfeld von Kronenburg. G Pflege ehemaliger Niederwaldflächen (Lohewälder) an den Talhängen. G Blickbeziehungen zum Radioteleskop Stockert. G Erhalt und Erlebbarmachen der Standorte des traditionel- G Sichtbezüge zum Kloster Steinfeld. len Gewerbes und des Bergbaus (Rennfeueröfen, Kalk- öfen, Wassermühlen, Köhlereien, Gruben, Stollen, Halden). G Kartsteinhöhle als älteste im Paläolithikum aufgesuchte Höhle der Nordeifel. G Bewahrung der Relikte des Textilgewerbes und der zu- gehörigen Bleichflächen bei Monschau. G Fossilführende devonische Kalke. G Pflege der Monschauer Haus- und Flurheckenlandschaft. G Vorgeschichtliche Befestigungen bei Mechernich-Wey- er, Euskirchen-Kreuzweingarten, Kreuzau-Winden. G Erhalt der wenigen nicht zusammengelegten Realtei- lungsfluren (Monschau, Simmerath und Dreiborn). 317 G Römische Siedlungslandschaft Nordeifel mit Tempel- region um Nettersheim und Bad Münstereifel, römi- G Bewahrung der Dorf-Gemarkungs-Beziehungen mit schen Steinbrüchen, Kalkverarbeitung und Bergwer- den dorfnahen Obstweiden und Obstwiesen sowie ken in den Kalkmulden und dem Mechernicher Trias- Ackerterrassen und -rainen. dreieck, repräsentativen Villen bei Blankenheim, Euskirchen-Kreuzweingarten, römischen Fernstraßen G Schutz der Burgen. und der Eifelwasserleitung nach Köln (vielfach im Gelände noch erlebbar). G Die Relikte des Westwalls und der Hürtgenwald als Schlachtfeld sind als Mahnmal der dunklen Seite der G Merowingische Gräberfeldlandschaft im römischen Alt- Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erhalten und zu siedelgebiet Nordeifel. kommunizieren.

G Karolingischer Königshof Vlatten und kaiserlicher Forst G Erhalt des reichen archäologischen Erbes und Einbe- Kermeter mit dem einzigen noch bestehenden Trappis- ziehung in touristische Konzepte (z.B. ILEK). tenkloster Deutschlands Mariawald. G Landschaftsgerechte Landnutzungsformen für die frei- G Bad Münstereifel: gut erhaltene mittelalterliche Stadt werdenden Agrarflächen (extensive Mast- und Milchvieh- mit karolingischer Burgwüstung und mit dem Münster- haltung, extensive Heuwirtschaft, Schäfereien). eifeler Wald. G Nachhaltige Sicherung der Arbeit des Naturparks und G Frühe Montanregion um Schleiden, Kall, Mechernich des Nationalparks. und Hürtgenwald. G Freihaltung der traditionellen waldfreien Flächen. G Hoch- bis spätmittelalterliche Burgenregion mit zahlrei- chen Beispielen wohlerhaltener Burgen. G Beibehaltung der vorhandenen Waldstandorte, z.B. der Kuppenwälder. G Wallfahrtsort Heimbach. G Bei den Straßendörfern gilt es nicht nur die geschlos- G Wildenburg als Berg-Tal-Siedlung. sene Siedlungsstruktur zu erhalten, sondern auch die

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 28 // Eifel

prägenden Straßenfluchten, besonders bei Lückenbebau- ung.

G Berücksichtigung der Belange des Kulturellen Erbes bei wasserbaulichen Maßnahmen z.B. der Fließge- wässerrenaturierung.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtker- ne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Die Fossilvorkommen in der Eifel sind als bedeutende Zeugnisse der Entwicklung des Lebens und aufgrund ihrer Seltenheit zu erhalten.

G Die historischen Verkehrswegetrassen sollen erhalten und erlebbar gemacht werden.

G Entwicklung des Nationalparks Eifel unter Berücksichti- gung des Kulturellen Erbes.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte 6.2

Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte ne Hügellandschaft, die aufgrund einer Löss- oder Löss- lehmauflage eine relativ intensive landwirtschaftliche Nut- zung erfährt. Godesberger Bach und Mehlemer Bach Lage und Abgrenzung gliedern den Raum.

Die Kulturlandschaft „Mittelrheinische Pforte“ markiert den Übergang vom Mittel- zum Niederrhein sehr markant Geschichtliche Entwicklung durch das Eingangstal in den Fluss-Canyon des Unteren Mittelrheins erkennbar mit flussbegleitenden Bergen und Der altsteinzeitliche Grabfund des Cromagnon-Men- sehr tiefem Einschnitt. schen in Bonn-Oberkassel ist ein Beleg für die frühe Anwe- senheit des Menschen in diesem Raum. Der Raum umfasst die südlichen Teile des Rhein-Sieg- Kreises und der kreisfreien Stadt Bonn. Diese Kulturland- Von einzelnen steinzeitlichen Funden abgesehen wurde schaft besteht aus dem Siebengebirge, Drachenfelser der Raum das erste Mal von Menschen der Eisenzeit wäh- Ländchen und Pleiser Ländchen und ist im Norden von rend der Frühlatènezeit besiedelt. Sie erreichten den Raum der rheinischen Tiefebene, im Westen von Ville und Börde wahrscheinlich von Norden aus, wo er zum Siegtal hin ab- begrenzt sowie im Osten von der Kulturlandschaft „Nut- fällt. Im Siegmündungsgebiet befand sich zu dieser Zeit ei- scheid – Sieg“ zu differenzieren. ne Siedlungskonzentration. Bei Stieldorferhohn konnte ei- ne Siedlung der Zeit um ca. 350 bis 200 v. Chr. ausgegra- ben werden. Diese bestand aus 10 Gebäuden. Weitere Naturräumliche Voraussetzungen Funde dieser Zeit zeigen eine stärkere Besiedlung des Pleiser Ländchens in dieser Zeit an. Neben den Hofstellen Die „Mittelrheinische Pforte“ kennzeichnet die Ausläufer auf der Ebene finden sich auch Siedlungsspuren auf den des Rheinischen Schiefergebirges im Übergang zur nie- angrenzenden Höhen. derrheinischen Tiefebene. Die naturräumlichen Bedingungen der auffälligen Ge- Die über 40 zusammengedrängten Bergkuppen des Sie- birgssituation mit dem damals bereits wichtigen Rhein bengebirges sind vulkanischen Ursprungs und erreichen wurden mit der Anlage der spätlatènezeitlichen Ringwall- Höhen zwischen 250 und 460 m ü. NN. Der Westrand des anlage im 1. Jh. v. Chr. auf der Kuppe des Petersberges Siebengebirges ist infolge des Rheinstroms besonders steil. genutzt. Die Wallanlage ist als kurzzeitig besiedelte Höhen- befestigung der germanischen Sugambrer um die Mitte 319 Das Fundament des Siebengebirges bilden unterdevon- des 1. Jahrhunderts v. Chr. zu betrachten, die im Zuge der ische Schiefer der Siegener Stufe, die von verschiedenstem Auseinandersetzungen mit römischen Truppen unzerstört vulkanischem Material und an den Nordhängen zusätzlich aufgegeben worden ist. Die Ringwallanlage ist im Gelände mit Lössdecken überlagert sind. Insgesamt ist das Sieben- erkennbar und damit ein wahrnehmbares Relikt dieser gebirge als Ruine eines einzigen Großvulkans in Form eines Phase. Weiterhin wurden in der Eisenzeit erste Wegever- Aschenkegels zu sehen. Im Nordwesten ist die Reliefener- bindungen unter Berücksichtigung der Geländesituation gie nicht ganz so stark. Das Siebengebirge ist überwiegend z.B. entlang der Bäche angelegt. mit Buchen- und Hainbuchenwäldern bestanden. Einen wichtigen Fund aus dem letzten Jh. v. Chr. stellt Der östliche Teil der Kulturlandschaft „Mittelrheinische der Goldhortfund von Stieldorferhohn dar. Für diese Zeit Pforte“ ist das Pleiser Hügelland, oder auch Pleiser Länd- lassen sich erstmals Bergbauaktivitäten in diesem Raum chen genannt. Es liegt östlich des Rheins und stellt sich nachweisen. Bei Bennerscheid wurde in dieser Zeit Bleierz dar als eine durch die tief eingesenkten Kastentäler von abgebaut und verhüttet. Hanf- und Pleisbach sowie deren Nebenbächen in Terras- senriedel und Hügel aufgelöste Hochfläche in 150 bis über Die Bedeutung des Raumes in Bronze- und Eisenzeit be- 200 m ü. NN, die weithin mit Löss bzw. Lösslehm sowie legen auch zahlreiche Bestattungen, wie in Hennef-Geistin- Tuffen bedeckt ist. Im Untergrund stehen Terrassenschot- gen mit der Bestattung eines urnenfelderzeitlichen Kriegers ter sowie tertiäre Sande und Tone mit einzelnen Tufflagen sowie herausragende Einzelfunde, die der Goldbecher von und Basaltdurchbrüchen an, die im Südosten in den Wachtberg-Fritzdorf und der Bronzedolch von Bonn-Beuel. Schiefergebirgsrumpf des Niederwesterwaldes übergehen. Die fruchtbaren Lössböden des Pleiser Ländchens wur- den zum Beginn der Eisenzeit besiedelt. Die Siedlungen Das Pleiser Hügelland wird hauptsächlich ackerbaulich lagen in der Nähe von Gewässern, wie bei Bonn-Vilich. genutzt, es bestehen aber auch verbreitet kleinräumige Hier konnten in der Vergangenheit mehrere Mehrhausge- Nutzungsaufteilungen. Neben den wertvollen Wäldern prä- höfte archäologisch untersucht werden, wobei die kontinu- gen Weinbergsbrachen, Obstwiesen und trockenwarme ierliche Nutzung des Wirtschaftsraumes die Gunst des Steinbrüche das Gebiet. Raumes bezeichnet. Weitere Siedlungen sind aus Bonn und Sankt Augustin überliefert. Nahe den Siedlungen la- Linksrheinisch bildet das Drachenfelser Ländchen quasi gen die Gräberfelder, in denen die Brandbestattungen un- das Gegenstück zum Pleiser Ländchen. Auch dieses ist ei- ter Grabhügeln oder als Flachgräber niedergelegt wurden.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte  Siebengebirge Foto: LVR/J. Gregori

320 Mit dem Vordringen der Römer an den Rhein ging die sich Siedlungsreste aus der Zeit des 7. Jahrhunderts. In Besiedlung des Pleiser Ländchens zurück. Während der beiden Fällen handelt es sich um Einzelhöfe. Der Hof von Römerzeit lässt sich keinerlei Besiedlung in diesem Gebiet Oberholtorf entwickelte sich in nachkarolingischer Zeit zu nachweisen. Eine Ausnahme bildet die alte eisenzeitliche einer Burg mit Eigenkirche. Mit der Besiedlung des Pleiser Bleierzgrube bei Bennerscheid. Diese wurde von den Rö- Ländchens im 7. Jh. können die Anfänge der mittelalterli- mern in den ersten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts n. Chr. chen Besiedlung benachbarten Kulturlandschaften „Nut- zu einem großen Tagebau von gut 1 km Länge ausgebaut. scheid - Sieg“ und „Bergisches Land“ belegt werden. In fränkische Zeit datieren Gräberfunde in Niederdollendorf. Die technischen und logistischen Fähigkeiten der Römer führten zu den ersten großflächigen und nachhaltigen Im Hinblick auf die Herausbildung der heutigen Kultur- Landschaftsveränderungen, verursacht durch den Abbau landschaft „Mittelrheinische Pforte“ ist die hochmittelalter- von Trachyt. Römische Steinbrüche befanden sich rechts- liche Phase für das sich anschließende Siebengebirge rheinisch am und um den Drachenfels, linksrheinisch wur- entscheidend gewesen. Markiert wird dies mit dem Klos- de Trachyt in Wachtberg-Berkum im Drachenfelser Länd- ter Heisterbach, der Errichtung der Burg auf dem Dra- chen abgebaut. Für den Betrieb der Steinbrüche waren chenfels, den Steinbrüchen am Stenzelberg, den urkund- verschiedene Maßnahmen notwendig, wie die Freihaltung lich dokumentierten Nennungen von Königswinter, Hon- von Bäumen im Abbau- und Transportbereich sowie die nef und anderen Siedlungen sowie der Ersterwähnung Anlage einer Verladestelle. Die am Drachenfels gewonne- des Weinbaus im 9./10. Jahrhundert. Die erste schriftliche nen Trachytblöcke wurden unterhalb des Rüdenet auf Erwähnung des Weinbaus erfolgte im Prümer Urbar von Lastschiffe verladen und auf dem Rhein abtransportiert. 893. Der Weinbau in Dollendorf (Hof Sülz) wurde 966 in ei- Diese Stelle ist noch heute bei extremem Niedrigwasser ner Urkunde des Aachener Marienstiftes erwähnt. Die erkennbar. Es ist allerdings hervorzuheben, dass der Entwicklung des Weinbaus im Siebengebirge wurde rechtsrheinische Bereich nicht in der Weise wie der links- durch die 1189 gegründete Zisterzienserabtei Heister- rheinische in der Nähe des Bonner Legionslagers besie- bach gefördert. Die Abtei Heisterbach mit den zugehöri- delt war. Die römerzeitliche Steinbruchtätigkeit ist anhand gen Höfen wie Gut Sülz, Wülsdorfer Hof, Pfaffenröttchen von Bergbaurelikten noch nachvollziehbar. und Rüdenet entwickelte sich zum wichtigsten Weinpro- duzenten in der Region. Erst während der mittleren Merowingerzeit im 7. und 8. Jh. interessierten sich die Menschen wieder für das Plei- Da der Holzbedarf für den Weinbau wegen der Her- ser Ländchen. Bei Oberholtorf und Stieldorferhohn fanden stellung von Lagerungs- und Transportfässern sowie der

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte 6.2

Stützpfähle für die Weinstöcke groß war, wurde jeder mit- tit), Lohrberg (Trachyt), Perlenhardt auf Honnefer Gebiet telalterlichen Weinbergparzelle ein sog. Rambusch zuge- (Trachyt), weitere Steinbrüche im Bereich Bad Honnef und wiesen. Im Rahmen der Ramheckenwirtschaft wurden die Bonn-Oberkassel, Kantering (Trachyt), Ofenkaul (Trachyttuff) Buchenbestände in einer Höhe zwischen 0,5 und 1,5 m und zahlreiche weitere Kleinbrüche. geschnitten, und die am Kopfende aussprießenden Aus- schläge alle 14 Jahre als Stangenholz für Weinbergspfäh- Neben den eigentlichen Steinbrüchen führten die Halden le, Brennholz und Zaunmaterial abgeholzt. Somit hat der und die zugehörige Infrastruktur zu starken Beeinträchti- Weinbau mit dieser Waldbewirtschaftungsform bis in die gungen, die, durch den 1869 gegründeten Verschöne- Neuzeit hinein eine spezifische kulturlandschaftliche rungsverein für das Siebengebirge und den 1886 gegrün- Struktur gebildet, von der heute noch Niederwaldspuren deten Verein zur Rettung des Siebengebirges, zur endgülti- vorhanden sind. gen Schließung der Brüche führten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Steinabbau am Stenzel- Im Spätmittelalter, seit dem 14. bis zum 16. Jh., erfuhr berg (1931), an der Nordseite des Petersbergs (ca. 1914) der Weinbau eine Blüteperiode. Die Weinanbaufläche er- und am Weilberg (1940) eingestellt. Seitdem konnten sich streckte sich damals von den Hängen entlang des Rheins dort die natürliche Sukzession und damit die Rückerobe- und kleineren Nebentälern bis in die Ebene. rung durch die Natur frei entfalten. Während des Betriebes der Steinbrüche waren diese überwiegend kahl, somit ist Die ehemalige Zisterzienserabtei Heisterbach entfaltete das heutige Erscheinungsbild bedingt durch den Baum- Raumwirksamkeit einerseits baulich mit der 1237 fertig wuchs ein völlig anderes als noch vor 60 Jahren. gestellten Abteikirche und den Klostergebäuden und an- dererseits durch das umgebende Nutzungs- und Bewirt- Parallel zum Rhein verlaufen wichtige Eisenbahnverbin- schaftungssystem. Hierzu gehörten z.B. Fischteiche, dungen links- wie rechtsrheinisch, die auf Trassen aus der Acker- und Weinbauflächen, Niederwälder, Wassermüh- Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgehen. len, Höfe und weitere Infrastrukturobjekte. Das rechtsrheinische Pleiser Ländchen wird ab der Mit- Auf kleinem Raum sind die verschiedenen zeitlichen te des 19. Jahrhunderts durch Industrie- und Kleinbahnen Schichtungen miteinander verwoben: Vorgängersiedlun- erschlossen, wie die Bröltalbahn, die Lokalbahnen Bonn- gen, Abteigründung, jahrhundertelanges Wirken der Zis- Siegburg und Bonn-Bad Honnef, die Heisterbachertal- terzienser, Pilgerwesen, Säkularisation, Gartengestal- bahn (1891-1967), die Kleinbahn Beuel-Großenbusch (ab tung, Romantik, Neunutzung als Cellitinnenkloster und 1900). Sie dienten zunächst der Abfuhr industrieller Güter touristische Attraktion der Gegenwart. Eingebettet in wie den in den Steinbrüchen des Siebengebirges gebro- 321 zahlreiche Relikte vergangener Kulturlandschaftsphasen chenen Werksteinen, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahr- bietet das Heisterbacher Tal herausragende kulturelle hunderts auch der touristischen Erschließung. Hinzu ka- Wertschöpfungspotentiale. men reine Touristenbahnen wie die Zahnradbahnen auf den Petersberg und die heute noch betriebene Bahn auf Königswinter wurde schon im 18. Jh. wegen der geologi- den Drachenfels (1883). schen Besonderheiten des vulkanischen Siebengebirges zum Ziel von Bereisungen, die sich ab 1800 mehr und mehr Insbesondere durch die Anbindung an die Eisenbahn auch den Naturschönheiten dieser Rheingegend zuwandten. und die zunehmende Naherholungsfunktion wuchs die Be- Die markante Silhouette des Siebengebirges als Ausläufer deutung des Siebengebirges als Ausflugsziel im 20. Jahr- des Mittelrheins in die Köln-Bonner Bucht wurde vielfach Ge- hundert. Aufbauend auf historisierenden Gebäuden und genstand künstlerischer Darstellungen. Sagen und Mythen, einem aus der Rheinromantik abgeleiteten räumlichen genährt vor allem von der Burgruine auf dem Drachenfels, Image erreichte der Fremdenverkehr im 20. Jh. eine domi- wo auch der Kampf Siegfrieds mit dem Drachen angesiedelt nierende Funktion. Der Weinbau erlebte insgesamt einen wurde, gaben literarischen Stoff für die Rheinromantik. In der Rückgang und ist heute auf einige Lagen in Oberdollen- Stadt richtete man sich durch ein Hotel-, Pensions- und Gast- dorf, Königswinter und Bad Honnef-Rhöndorf beschränkt. stättenangebot auf den Reiseverkehr ein. Mit der Wartburg und dem Heidelberger Schloss gehörte der Drachenfels zu Das Nebeneinander von separaten Rodungsorten wie den drei herausragenden Standorten in Deutschland, die als der historischen Verbindung zum östlich gelegenen Ae- Blickfang für die Villenansiedlungen wohlhabenden Großbür- gidienberg ist entlang der östlichen Siedlungsreihung gertums dienten (Villa Hammerschmidt, Palais Schaumburg u.a. und dem Honnefer Gebiet im Siebengebirge noch Villen am Rheinufer zwischen Bonn und Bonn-Mehlem). wahrnehmbar.

Folgende im Tagebau betriebene und damit obertägige Der verstärkt einsetzende Fremdenverkehr und der Kur- Steinbrüche, die heute noch als auffällige Relikte insbe- betrieb brachten seit Ende des 19. Jahrhunderts qualitäts- sondere auf den Bergkuppen die Siebengebirgslandschaft volle Bauten hervor, wie z.B. repräsentative Landhäuser prägen, hat es gegeben: römische Steinbrüche am Dra- und Villen von Rentiers sowie das Kurzentrum von Bad chenfels, mittelalterlicher Trachytabbau am Drachenfels, Honnef, das 1901-1907 ausgebaut worden ist. 1892 wurde Weilberg (Basalt), Petersberg (Basalt), Ölberg (Basalt), bei die Lungenheilstätte Hohenhonnef eröffnet. Die Kurfunkti- Thomasberg (Basalt), Wolkenburg (Latit), Stenzelberg (La- on ist bis heute erhalten geblieben.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_kl_29.qxp 17.10.2007 22:47 Seite 322

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte  Drachenfels 322 Foto: VVS-Archiv/D. Weber

Der Petersberg, als ehemaliger erster Niederlassungsort Die Entwicklung des Drachenfelser Ländchens und der Heisterbacher Mönche, kam nach der Säkularisation der angrenzenden Gebiete ist durch den vulkanischen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Privatbesitz und blieb Charakter und das Töpfergewerbe geprägt. Die Siedlun- mit den Pilgerwegen von Königswinter, Nieder- und Ober- gen des Drachenfelser Ländchens sind größtenteils be- dollendorf, Heisterbach und Rosenau zur Petruskapelle reits im 13. Jh. erwähnt und haben bis heute ihre histori- bis in den 1930er Jahre ein bedeutender Wallfahrtsort. schen Standorte bewahrt. Anstelle des alten Gasthofes der Familie Nelles auf dem Petersberg wurde 1888 ein neues großes Hotel gebaut. So kommt dem ehemaligen administrativen Zentrum Im Rahmen der Umgebungsgestaltung des Hotels ent- des Drachenfelser Ländchens, der im Quellgebiet des Go- standen Promenadenwege und an den Aussichtspunkten desberger Baches bei Villip gelegenen Wasserburg Gude- geräumige Estraden. Außerdem wurden eine Parkanlage nau, eine zentrale Bedeutung zu. Diese heute noch vor- und verschiedene Gartenanlagen als Spiel- und Rastplät- handene Burg wurde nach urkundlichen Quellen wahr- ze angelegt. Hierdurch entwickelte sich der Petersberg zu scheinlich vor 1250 erbaut und ging 1402 an die Burggra- einem beliebten Treffpunkt für Vereine und Gesellschaf- fen von Drachenfels. Neben der Burg Gudenau gibt es ei- ten. Zahlreiche königliche und adlige Gäste hielten sich ne Reihe weiterer Herrensitze. ebenfalls dort auf. Der Raum ist durch ein dichtes historisches Straßennetz Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier Politikge- erschlossen. Hervorzuheben ist dabei die Allee bei Burg schichte geschrieben (Petersberger Abkommen 1949, Sitz Gudenau. Das heutige Wegenetz ist in den landwirtschaft- der Hohen Alliierten Kommission bis 1954, Staatsgäste-Unter- lich genutzten Bereichen stark regelmäßig ausgebildet, was kunft, zuletzt nach dem Neubau Gästehaus der Bundesrepu- auf bereits durchgeführte Flurbereinigungsmaßnahmen blik Deutschland). hindeutet. In den Waldgebieten sind die Wege überwie- gend unregelmäßig angelegt. Insgesamt ist sowohl mit per- Der Name „terrula drachenfelsiensis“ oder „Drachenfel- sistenten als auch modernen Wegeführungen zu rechnen. ser Ländchen“ ist durch die Übernahme der Herrschaft Gudenau von den Burggrafen von Drachenfels im Jahre Es findet sich eine größere Anzahl von Steinbrüchen, die 1402 schriftlich belegt. teilweise bereits in römischer Zeit angelegt worden sind.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte 6.2

Südöstlich von Wachtberg-Berkum auf dem Hohen Berg elemente, landwirtschaftliche Nutzflächen, Waldgebiete, liegen Brüche, die Baumaterial für den Kölner Dom und durch den Vulkanismus deutlich geprägte Landschaftssil- auch für das Bonner Münster lieferten. houetten, historische Siedlungen und eine stark gekam- merte sowie reliefierte Landschaft auf. Es lassen sich die Weitere Steinbrüche liegen bei Villip, Arzdorf, Berkum unterschiedlichsten Aspekte des menschlichen Wirkens in und Niederbachem. Sie geben einen weiteren Hinweis auf der Landschaft nachvollziehen. Darüber hinaus befinden den engen Zusammenhang zwischen vulkanischem Ein- sich an vielen Orten Aussichtspunkte, die einen großen fluss und wirtschaftlicher Tätigkeit im Drachenfelser Länd- ästhetischen Reiz haben. chen.

Westlich und südlich von Adendorf finden sich mehrere Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche runde und ovale ehemalige Tongruben. Sie sind durch ar- und -elemente chäologische Funde gesichert; in mehreren heute wieder verfüllten Gruben konnte Keramik geborgen werden. Damit G Drachenfelser Ländchen (KLB 29.01): Wasserburg Gu- sind sie als Relikte des frühneuzeitlichen Töpfergewerbes denau und weitere Herrensitze; Steinbrüche aus römi- in Adendorf eindeutig belegt. Die heute noch bestehende scher und mittelalterlicher Zeit u.a. für den Kölner Dom Töpfertradition von Adendorf lässt sich bis in das 17. Jh. und das Bonner Münster; Töpfergewerbe in Adendorf zurückverfolgen, als Westerwälder Töpfer zuwanderten. mit Tongruben.

G Siebengebirge (KLB 29.02): Späteisenzeitlicher Herr- Kulturlandschaftscharakter schaftsbereich mit Ringwall Petersberg sowie Sied- lung zwischen Petersberg und Nonnenstromberg; rö- Das flach hügelige Pleiser Ländchen wird vor allem von mische Steinbrüche Rüdenet, Drachenfels; mittelal- Landwirtschaftsflächen dominiert, in denen sich kleinere terliche Burgen Drachenfels, Wolkenburg, Löwen- Wälder und kleine Bachtäler befinden. Die Siedlungs- und burg, Rosenau; religiöse Elemente Einsiedelei, Fun- Landnutzungsstruktur hat sich im Hochmittelalter heraus- damente der Wallfahrtskirche, Kapellen, Kreuzwege, gebildet und ist heute noch erkennbar. Klosterlandschaft Heisterbacher Tal; Kulturland- schaftsprägender Weinanbau mit Weinbergen, Wein- Das Siebengebirge hebt sich als abweichendes land- gütern, Winzerhäusern, Winzerort Oberdollendorf; ge- schaftliches Bild aus seiner direkten Umgebung mit vielen werbliche Spuren mit Steinbrüchen, Ofenkaulen, Sichtachsen und Sichtbezügen hervor. Die vielen Kuppen Mühlen, Bergbau; assoziative Strukturen der Rheinro- 323 und Kegel vulkanischen Ursprungs wie Petersberg, Öl- mantik mit touristischer Erschließung durch Ausflugs- berg und Drachenfels bilden die Kulisse, in der sich eine lokale, Wegesysteme, Zahnradbahnen; Blickbezüge abwechselungsreiche Kulturlandschaft mit Wald- und und Sichtwinkel auf das Gebirge; symbolische Be- Landwirtschaftsflächen, Siedlungen sowie Steinbrüchen deutungsebenen des 20. Jahrhunderts mit Peters- entwickelt hat. Die Silhouette der markanten Kuppen ist berg als Sitz der Hohen Kommissare und Gästehaus weithin sichtbar. der Bundesregierung; Rheintourismus mit Rheinfront und Hotelbauten, Ausflugslokalen, Villen, Silhouetten- Das Rheintal mit Königswinter und Bad Honnef sowie wirkung, Rheinansicht vor der Kulisse des Siebenge- der Drachenfels und die Heisterbacher Chorruine wer- birges, historische Ortskerne. den heute noch mit der Rheinromantik in Verbindung gebracht. Wichtig sind sowohl die Blickbezüge inner- G Teilabschnitt der römischen Limesstraße (KLB 19.05). halb des Siebengebirges als auch die Fernsichten (z.B. Kölner Dom, Godesburg, Rolandsbogen). G Der Rhein als europäischer Strom (KLB 19.14).

Die Siebengebirgslandschaft entlang des Rheins erhielt G Zahlreiche Sichtachsen und Sichtbezüge. vor allem im 19. Jh. eine romantische Assoziation, die durch englische und deutsche Maler sowie Literaten ver- G Fossilvorkommen in Hennef-Rott; Ölschieferlager- mittelt wurde und sich bis heute auswirkt: Sie ist land- stätte mit mitteltertiärem Fossilvorkommen von euro- schaftlich reizvoll gegliedert. Schon allein deshalb erfüllt päischem Rang. das Siebengebirge eine wichtige Wohn- und Naherho- lungsfunktion für den Ballungsraum Köln-Bonn. Dies wird G Ein kulturlandschaftlich bedeutsamer Stadtkern, ins- auch durch die Ausweisung des Siegengebirges als Natur- besondere als Bodenarchiv, ist Königswinter. schutzgebiet und als Naturpark belegt. Zusätzlich bietet dieser Raum eine breite Palette an kulturellen Aktivitäten Leitbilder und Ziele und eine Vielzahl von Sehenswürdigkeiten. G Wegen der wertvollen außerordentlich markanten Das Drachenfelser Ländchen zeichnet sich durch eine Sicht- und Blickbeziehungen einer Landschaftssil- Vielzahl von landschaftlichen Aspekten aus. Es ist sehr ab- houette von sehr hohem Wert müssen Großbaumaß- wechslungsreich und weist historische Kulturlandschafts- nahmen hinsichtlich ihrer Landschaftswirkung ange-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 29 // Mittelrheinische Pforte

passt werden. Denkmalpflege und Kulturlandschaft sind in der Mittelrheinischen Pforte hinsichtlich des Umgebungsschutzes sehr eng miteinander verbun- den.

G Damit ist neben dem unmittelbaren Substanzschutz die kulturlandschaftsgeschichtlich gewachsene Struk- tur von einem sehr hohem Erhaltungswert.

G Die Vielfalt der historischen Kleinrelikte ist zu bewah- ren, da diese wie z.B. im Wallfahrtswesen konstituie- rende Elemente der Landschaft sind und ausschließ- lich vor dem Hintergrund ihrer Funktion in einem We- gesystem nachvollziehbar sind.

G Die kulturlandschaft-denkmalpflegerischen Ziele sind mit den naturschutzfachlichen zu verbinden, da diese auch von besonderer kulturhistorischer Bedeutung für die Naturschutzgeschichte sind.

G Alte Waldstandorte, die nachweislich über Jahrhunder- te von dieser Vegetationsformation bestockt wurden, sind zu erhalten.

G Erhalt der Sichtbezüge.

G Erhalt der Erlebbarkeit der Landmarken.

G Kulturlandschaftliche Gestaltungs- und Entwicklungs- maßnahmen müssen sich an das historisch gewachsene 324 Landschaftsbild anpassen.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt- kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 30 // Nutscheid - Sieg 6.2

Kulturlandschaft 30 // Nutscheid – Sieg mit Beginn der Eisenzeit fassbar und durch zahlreiche Siedlungs- und Grabfunde belegt. Mit nur geringfügigerer Dichte setzte sich die Besiedlung bis in die Späteisenzeit Lage und Abgrenzung fort, die durch den Bau des großen Ringwalles auf dem Petersberg und der Großsiedlung auf dem Joch zum Non- Die Kulturlandschaft „Nutscheid – Sieg“ umfasst die süd- nenberg hin ihren Abschluss findet. östlichen Teile des Oberbergischen Kreises und des Rhein-Sieg-Kreises. Die Sieg und der Nutscheid-Rücken Der gleichmäßig abfallende Rücken des Nutscheid bil- haben als Achsen diese Kulturlandschaft in einer einzigar- dete als Naturweg in der Bronze- und Eisenzeit die einzige tigen Weise geprägt; die aus diesen beiden Teilräumen be- Hauptverbindungsstraße aus dem Osten in den südlichen, stehende Kulturlandschaft lässt sich in Bezug auf die rechtsrheinischen Teil der Niederrheinischen Bucht. Die Landschaftsstruktur und das Siedlungsbild deutlich von Wichtigkeit der Straße wird verdeutlicht durch die Bestat- der sich nördlichen anschließenden Kulturlandschaft „Ber- tung eines adeligen Kriegers der jüngeren Bronzezeit an gisches Land“ und der westlich benachbarten Kulturland- seinem westlichen Ende bei Hennef-Geistingen (Rhein- schaft „Mittelrheinische Pforte“ abgrenzen. Sieg-Kreis) sowie der Errichtung eines späteisenzeitlichen Abschnittswalles auf der Rennenburg bei Ruppichteroth (Rhein-Sieg-Kreis). Die Kontrolle über die sog. Nutscheid- Naturräumliche Voraussetzungen Straße war für die Besiedlung ausschlaggebend. Durch die Straße wurden auch kleine Siedlungskammern an der Der Nutscheid ist ein bewaldeter Höhenzug zwischen Sieg erschlossen, die im Raum Windeck bereits in die älte- den Flüssen Sieg und Bröl und grenzt an Waldbröl. Mit re Bronzezeit datiert werden können. 1.500 ha Fläche ist er eines der größten Forstgebiete im Bergischen Land. Große Teile des Nutscheid sind als Die bereits in vorgeschichtlicher Zeit genutzte Nut- Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen. scheid-Straße wurde im Mittelalter ein wichtiger Handels- weg zwischen dem Rheintal (z.B. Köln und Siegburg) und Die Sieg hat als Nebenfluss des Rheins verschiedene Pha- dem Siegerland. sen der Materialablagerung und Terrassenbildung durchlau- fen, die in Geländekanten nachvollziehbar sind. Sie ist trotz Neben der wirtschaftlichen Nutzung des Waldes wurden Begradigungsmaßnahmen ein mäandrierender Fluss mit seit dem Mittelalter auch Erze abgebaut und an den Bä- ausgeprägten Prall- und Gleithängen. Sehr charakteristisch chen des Nutscheids, unter Verwendung von in den Wäl- sind die Umlaufberge mit ehemaligen Flussschlingen. dern gewonnener Holzkohle, verhüttet. 325

Das aus verwitterten Grauwacken und Tonschiefern aufge- Die Sieg war kulturlandschaftsgeschichtlich ein prägen- baute Bergland nördlich des mittleren Siegtals ist durch der, linearer naturräumlicher Faktor, wobei einige Baumaß- zahlreiche Einschnitte reliefiert. Die Höhen bewegen sich et- nahmen massiv in das Flussgeschehen eingegriffen haben, wa zwischen 260 und 450 m ü. NN. Der westliche, stärker wie der Bau von Wehren, Staustufen oder z.B. innerhalb bewaldete Teil ist an den Rändern von nach Süden oder der Flussschleife bei Schladern, in der 1858 ein Berg ge- nach Norden führenden Bächen durchzogen, wobei die sprengt wurde, der für die Siegtaleisenbahn im Weg war. nach Süden zur Sieg gerichteten Täler schmaler sind. Der östliche Teil, das Morsbacher Bergland, ist stärker zertalt Das neuzeitlich zusammengefasste Hennef setzt sich und klein gekammert. Es besteht aus zahlreichen Riedeln aus den Orten Geistingen, Stadt Blankenberg, Bödingen und Buckeln, die eine annähernd gleiche Niveaulage haben. und Uckerath zusammen. Die urkundlichen Erstnennun- Nur am Ostrand ist die Landschaft mit geschlossenen Laub- gen variieren: Geistingen um 800, Hennef als „Hanafo“ und Nadelwaldflächen bedeckt, im übrigen Gebiet wechseln 1075, Blankenberg 1181 und Bödingen 1190. Lange Zeit sich die Wälder an den Hängen und in den feuchteren Quell- bildeten Burg und Stadt Blankenberg die bedeutendste mulden der Täler mit Grünland auf den Talsohlen ab. Siedlung im heutigen Gebiet von Hennef. Die Burg Blan- kenberg wird 1181 als „castrum quod Blankenburg dicitur“ Mehrere mit den Fließgewässern zusammenhängende bezeichnet und ist von den Grafen Heinrich II. und Ever- Schutzgebiete bestehen hier. Einige Nebenbäche der Sieg hard II. von Sayn auf einem Allod der Abtei Siegburg als sind mit ihrem Talsystem, den Steilhangwäldern, Magerwei- Stützpunkt ihres ausgedehnten Grundbesitzes errichtet den und Quellsümpfen unter Naturschutz gestellt worden. worden. 1245 erhielt Blankenberg Stadtrechte. 1981 wird Ebenso ein bewaldeter Höhenzug im Nutscheid mit Hang- Hennef die Bezeichnung „Stadt“ verliehen. quellmooren, Heideflächen und Niederwaldbereichen, in denen z.B. Haselhuhn und Schwarzstorch vorkommen. Neben Fachwerkhäusern, der sog. Dreiseler Schweiz und dem Wasserfall der Sieg bei Schladern, ist die Burg- Die fruchtbaren Böden am Nordrand der Vulkanland- ruine Windeck von hoher kulturlandschaftsgeschichtlicher schaft des Siebengebirges mit dem nördlich vorgelagerten Bedeutung. Nach ihr wurde die Gemeinde und das Erho- Siegmündungsbereich, der am Ende der Nutscheidstraße lungsgebiet “Windecker Ländchen” benannt. Die Burg lag, wurden bereits in der älteren Bronzezeit besiedelt. Ein wurde erstmals 1174 urkundlich erwähnt. Zu dieser Zeit sprunghafter Anstieg der Besiedlung in dieser Region ist befand sich die nördlich der alten gelegene neue Burg

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_30.qxp 17.10.2007 22:48 Seite 326

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 30 // Nutscheid - Sieg  Windecker Ländchen 326 Foto: LVR/M. Köhmstedt

über dem Siegtal als Lehen im Besitz der Grafen von Berg. Verkehrstechnische Bedeutung im Raum „Nutscheid – Im Dreißigjährigen Krieg zerstörten 1646 Schweden und Sieg“ besaßen die Nutscheid-Straße auf den Höhen und 1648 kaiserliche Truppen Burg Windeck. Im 19. Jh. wurde die Sieg als Wasserweg. Zum Transport der Eisenprodukte auf dem Burgberg neben die Ruine Schloss Windeck ge- aus dem Siegener Raum konnte die Sieg jedoch kaum Be- baut, das im Verlauf des Zweiten Weltkrieges 1945 durch deutung gewinnen. So war es erforderlich, eine Eisenbahn- Bomben in Brand gesetzt wurde. 1961 erwarb der damali- verbindung durch das Siegtal von Troisdorf (Anschluss an ge Siegkreis den Burgberg mit den Ruinen und nahm um- die rechtsrheinische Bahntrasse) nach Siegen zu errichten. fassende Sicherungsarbeiten an der Burgruine vor, die Sie setzte die bereits seit dem Mittelalter genutzten Verbin- Schlossruine wurde abgerissen. dungen fort, die durch die Eisenstraße und die Nutscheid- Straße vorgezeichnet waren. Die Siedlung Herchen, an der Sieg gelegen, ist seit 1985 staatlich anerkannter Erholungsort, der bereits im Baede- Verkehrsgeschichtlich und bis heute raumwirksam ist der cker von 1883 als schönster Luftkurort des Siegtales be- Bau der Siegtalstraße ab 1859 sowie der Eisenbahn durch zeichnet worden ist. Auch künstlerisch trat der Ort in Er- das Siegtal, die im gleichen Jahr bis Hennef vollendet wur- scheinung: der Siegburger Komponist Engelbert Humper- de. Es mussten zahlreiche Kunstbauten errichtet werden dink ließ sich hier zu seiner Märchenoper “Hänsel und (Brücken, Tunnel, Bahndämme und Einschnitte). Dadurch ist Gretel” inspirieren und der Schriftsteller Josef Winkler die Bahntrasse aus den 1860er Jahren das beherrschende machte Herchen zur Heimat seines Schelmenromanes landschaftsgestaltende Element des Tales, hinter die die Tal- “Der tolle Bomberg”. straße, die teilweise erst nach dem Bahnbau errichtet wur- de, in ihrer gestaltenden Bedeutung zurücktrat. In Verbin- Als regionales Wahrzeichen ist der Siegtaldom St. dung mit dem Bahnbau stehen lokale Steinbrüche, deren Laurentius in Dattenfeld hervorzuheben. Kennzeich- Aufschlüsse noch heute im Gelände zu erkennen sind (z.B. nend für die weitere religiöse Funktion der Kulturland- in der Umgebung von Blankenberg); zugleich diente die schaft „Nutscheid – Sieg“ ist die Wallfahrt mit Fußfällen Bahn dem Warenladungsverkehr lokaler Güter mit Kunden und Kapellen wie „Zum Heiligen Kreuz“ in Süchter- im Rheintal. Von Hennef aus dienten zwei Kleinbahnen scheid, dem Baubefund nach um 1200 errichtet; die dem lokalen Güter- und Personenverkehr, die Bröltalbahn Reste wurden in den Neubau von 1956/57 einbezogen. nach Nordosten (eröffnet 1862 als Pferdebahn) und die

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 30 // Nutscheid - Sieg 6.2

Kleinbahn nach Asbach (eröffnet 1892). Von diesen nicht fen zeigen sehr abwechslungsreiche kleinteilige Land- mehr existierenden Bahnen sind noch längere Trassen- schaften mit hoher ökologischer Wertigkeit. Die größeren abschnitte im Gelände erkennbar, da diese Verbindun- Ortschaften liegen hier auf den Höhen wie Uckerath oder gen teilweise nicht auf den vorhandenen Straßen, son- Leuscheid. Im westlichen Teil ist die Landschaft noch sehr dern auf eigenen Trassen errichtet wurden z.B. im Bröltal offen mit bewaldeten Talhängen und landwirtschaftlich ge- und im Hanfbachtal. nutzten Höhenlagen. Südöstlich Eitorf dominiert das gro- ße, nahezu siedlungsfreie Waldgebiet des Leuscheid die Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die Region ei- Hänge zur Sieg und die Höhen. nen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Erzgruben beim Ort Ruppichteroth in der benachbarten Kulturland- schaft „Bergisches Land“, die sich räumlich weiter aus- Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche wirkten: zum Transport der gewonnenen Erze wurde die und -elemente Rhein-Sieg-Eisenbahn von Hennef bis nach Schönenberg und von dort weiterführend in das Saurenbachtal gebaut. G Nutscheid-Straßenkorridor: Der Nutscheid-Rücken ist Diese Bahn wurde später bis Ruppichteroth und Waldbröl mit seiner Wegetrasse seit Jahrtausenden ein elemen- verlängert. Wegen der geringen Ergiebigkeit mussten die tarer, persistenter und raumprägender Faktor. Seine Erzgruben nach 1870 stillgelegt werden. hohe archäologische, historische und kulturland- schaftliche Zeugnisfunktion ist von überregionaler Während des Zweiten Weltkriegs befanden sich drei Ab- Bedeutung (KLB 30.01). schussrampen für V1-Raketen im Nutscheid, die einzigen im Rechtsrheinischen, die je benutzt wurden. Nach Kriegs- G Burg Blankenberg: Burgruine mit historischer Stadt, ende wurden die Anlagen von britischen Truppen zerstört. die das Landschaftsbild an dieser Stelle des Siegta- Während des Kalten Krieges wurden Patriot-Raketen im les dominiert. Sie ist ein wichtiges Zeugnis der Terri- Nutscheid stationiert, die jedoch nach der Auflösung des torialentwicklung. Sichtbeziehungen bestehen über Konfliktes wieder abgezogen wurden. Die ehemals ameri- das Siegtal hinweg, so etwa zum Michaelsberg in kanische Militärbasis mit einem hohen Observationsturm Siegburg (KLB 30.01). im Wald ist jedoch heute noch vorhanden. G Stadt Blankenberg: Mittelalterliche Stadtsiedlung in hervorragendem Erhaltungszustand (KLB 30.01). Kulturlandschaftscharakter G Bödingen: Wallfahrtsort mit regionaler Bedeutung. Ein 327 Der Nutscheid ist ein ausgeprägtes Forstgebiet von ho- Stationswegenetz, der historische Stadtkern, das Klos- hem landschaftsästhetischen Wert und einer bergisch be- ter und Sichtbeziehungen etwa zu Burg und Stadt einflussten Siedlungsstruktur. Die naturräumlichen Gege- Blankenberg bilden einen bedeutsamen Ausschnitt der benheiten geben diese vor: Die Täler sind überwiegend historischen Kulturlandschaft (KLB 30.01). besiedelt und werden landwirtschaftlich genutzt, während die Hang- und Höhenlagen nahezu siedlungsfrei und be- G Die Siegtaleisenbahn mit ihren Brücken, Tunnelmün- waldet sind. Gelegentlich zeugen Burgen bzw. häufig nur dern und Bahnhöfen ist für die moderne Verkehrser- noch ihre Ruinen an strategisch wichtigen Positionen von schließung weit über den Raum des Siegtales hinaus der Sicherung und Bedeutung der Höhenlagen. von Bedeutung (KLB 30.02).

Das Siegtal hat in der Siegaue mit angrenzenden Erhe- G Auel: historische Ortslage mit gut erhaltener histori- bungen, dem mäandrierenden Flusslauf, den Ortslagen scher Bausubstanz in landschaftlicher Symbiose in ei- mit hangwärtigen Siedlungen und der Bahnlinie einen un- ner Auenlandschaft bzw. naturnahen Kulturlandschaft. verwechselbaren Charakter mit herausragenden Sichtbe- ziehungen. Deutlich werden in den Flussschlingen die G Merten: Ortsteil der Gemeinde Eitorf mit ehemaligem Prall- und Gleithänge. Während im Westen städtische Kloster der Augustinerinnen. Die übergreifende kultur- Strukturen anzutreffen sind, komplettieren im Osten eher landschaftliche und historische Bedeutung ergibt sich dörfliche das Bild. aus der Klosteranlage, der ehemaligen Burg sowie Sichtbeziehungen. Schon im 19. Jh. informierten Wanderführer über die Einzigartigkeit des Siegtales. Es verwundert also nicht, G Hennef: Verwaltungssitz und ehemaliger Kurort von re- dass diese gewachsene Kulturlandschaft zu den beliebten gionaler landesgeschichtlicher Bedeutung. Parkanla- Naherholungsgebieten Nordrhein-Westfalens zählt. Gera- gen, barocke und klassizistische Gebäude, Bäderarchi- de die städtische Bevölkerung aus der nahen Köln-Bon- tektur und Prachtallee sind konstituierende Merkmale. ner Region nutzt die abwechslungsreiche Landschaft zu vielerlei Aktivitäten. G Schloss Allner: Die zweiteilige barocke Anlage mit Mauerring und Pfeilern in Stadtnähe ist ein herrschaftli- Im Süden der Sieg erfolgt der Übergang zum Wester- ches Kulturlandschaftselement und als Gesamtanlage wald. Viele der Seitentäler mit ihren naturnahen Bachläu- von landschaftsbildbestimmender Qualität.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_30.qxp 17.10.2007 22:48 Seite 328

Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 30 // Nutscheid - Sieg

G Kirche St. Laurentius in Dattenfeld: Die doppeltürmige Basilika mit baulichen Resten der Vorgängerkirche be- sitzt historische Bedeutung, einen hohen regionalen Bekanntheitsgrad und ist landschaftsprägend.

G Burg Windeck: Die Burgruine ist von überregionaler Be- deutung und mit den Sichtbeziehungen identitätsstiftend.

Leitbilder und Ziele

G Der Nutscheid-Straßenkorridor ist verkehrsgeschicht- lich von großer Bedeutung. Diese Verkehrsachse ist innerhalb der weiteren Kulturlandschaftsentwicklung strukturell und in der Substanz zu bewahren und in Hinblick auf das regionale Alleinstellungsmerkmal hervorzuheben.

G Bewahrung des Forstbestandes des Nutscheids sowie Erhaltung und Pflege historischer Waldnutzungsformen.

G Bewahrung der kulturlandschaftlichen Gliederung mit Offenland und Waldgrenzen.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadt- kerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

G Erhaltung der Silhouette des Landschaftsausschnitts und der Orte Blankenberg und Bödingen. 328 G Freihaltung und In-Wert-Setzung von Fernblicken und Sichtbeziehungen.

G Erhaltung der Bahntrasse als Zeugnis der Verkehrs- geschichte mit starkem menschlichen Eingriff in die Landschaft und starkem kulturlandschaftlich prägen- den Faktor.

G Erhalt von Elementen und Strukturen der Gewerbe- und Industriegeschichte (z. B. Bergbau).

G Das Siegtal weist ein einzigartiges ästhetisch anspre- chendes Landschaftsbild auf, dessen strukturprägen- de Elemente bewahrt werden müssen.

G Freiräume zwischen den Einzelsiedlungen: die Ort- schaften im Siegtal müssen in ihrer Ablesbarkeit der Siedlungsstrukturen erhalten bleiben.

G Offenhaltung der Auen zur Sicherung der Landschafts- qualität.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe Kap_6_2_KL_31.qxp 07.11.2007 18:01 Seite 329

Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 31 // Siegerland 6.2

Kulturlandschaft 31 // Siegerland Geschichtliche Entwicklung

Eine der wichtigsten Kulturlandschaften Südwestfalens Lage und Abgrenzung ist das Siegerland (das sich zudem im angrenzenden Rhein- land-Pfalz und Hessen fortsetzt) um Kreuztal, Hilchenbach Die Kulturlandschaft „Siegerland“ umfasst etwa die und Burbach (Kreis Siegen-Wittgenstein) mit der wichtigen westliche Hälfte des heutigen Kreises Siegen-Wittgen- mittelalterlich-neuzeitlichen Residenzstadt Siegen (KLB stein und damit das gesamte Territorium des ehemaligen 31.01) in seiner Mitte. Fürstentums Nassau-Siegen. Die reichen Vorkommen von Eisenerzen wurden bis in Die Kulturlandschaft „Siegerland“ ist gegen die nördli- das 20. Jh. intensiv abgebaut, wovon die Überreste zahl- chen Landesteile Westfalen-Lippes durch den Kamm des loser Pingen, Stollensysteme und Hütten- bzw. Hammer- Rothaargebirges naturräumlich und auch kulturhistorisch werke zeugen. Von besonderem Interesse ist das vom deutlich abgegrenzt. 16. bis 18. Jh. genutzte und archäologisch erschlossene Wüstungsareal Hilchenbach-Altenberg, das neben Ab- Die Ostgrenze zur Kulturlandschaft „Wittgenstein“ ist bei bau- und Verhüttungsstellen eine Bergbauwüstung erge- ähnlichen topographischen Verhältnissen insbesondere ben hat. Dort wurde Blei, Zink und Silber abgebaut. durch die Territorialgrenze zu den Grafschaften Wittgen- stein und durch unterschiedliche Landnutzungen definiert: Der Beginn der Eisengewinnung liegt jedoch bereits in Die Besiedlung des Siegerlandes ist im Gegensatz zu Witt- der frühen Eisenzeit (Hallstatt D), als keltisch-geprägte Pro- gestein relativ dicht und durch weit zurückreichenden Ei- spektoren die Vorkommen erkannten und zu nutzen be- senbergbau und Hüttenwesen geprägt. gannen. Mehrere Grabungen haben die eisenzeitliche Nut- zung des Raumes nachweisen können (Schlackenhalden, Nach Süden bestehen deutliche – auch historische – Verhüttungsstellen). Große eisenzeitliche Wallburganlagen Gemeinsamkeiten mit den angrenzenden hessischen Re- unterstreichen diese Nutzungsphase. Nach einer Unterbre- gionen, die die Landesgrenze trotz ihrer hohen histori- chung während der Kaiserzeit beginnt die mittelalterliche schen Kontinuität nur wenig gemindert hat. Eisengewinnung, die oftmals alte Verhüttungsstellen der Eisenzeit nutzt. Hohlwege zeugen vom Waren- und Roh- stofftransport dieser Zeit und mehrere Burganlagen von Naturräumliche Vorraussetzungen der damaligen Herrschaftsstruktur. 329 Das „Siegerland“ bildet nahezu den Mittelpunkt des Der mittelalterliche Silberbergbau im südlichen Sieger- Rheinischen Schiefergebirges. Es wird umrahmt von ca. land ist erstmals 1298 in einer Schriftquelle bezeugt: Der 700 m hohen steilen waldbedeckten Berghöhen. In dem deutsche König Adolf nahm seine Vettern Heinrich und niederschlagsreichen Gebiet entspringen zahlreiche Quel- Emicho von Nassau als Reichslehnleute an und setzte ih- len. Ein dichtes Netz von Fließgewässern hat die Land- nen ein Manngeld in Höhe von 1000 Mark Denaren Kölner schaft zertalt. Nach dem Verlassen der steilen Hänge flie- Währung aus. Als Ersatz für diese Geldrente verpfändete ßen die Bäche in relativ breiten Tälern zur Sieg, die zum er den Brüdern mehrere silberhöffige Berge (Berg Ratzen- Gewässereinzugsgebiet des Rheins gehört. Diese Szene- scheit u.a.). Man wird der historischen Quelle dem Inhalt rie der Enge und Weite ist nahezu symbolisch für die Be- nach entnehmen dürfen, dass dort zu diesem Zeitpunkt grenzung der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch bereits silberhaltiges Erz gefördert wurde, sonst wären für die Offenheit des Raumes mit den Möglichkeiten für diese wohl kaum als geldwertes Pfandobjekt in Betracht den schaffenden Menschen. gezogen worden. Die übertragenen Bergrechte scheinen in der Folgezeit ausgeübt worden zu sein, denn 1489 ur- Das Klima ist kühlfeucht. Der geologische Untergrund teilt Johann, Graf zu Nassau, dass sich das Bergwerk uff birgt Erzvorkommen (Blei-, Zink-, Silber- und Kupfererze, der Rottscheyt (Rottenscheit, Rottenscheyt) als ergiebig er- Spateisenstein), die in historischer Zeit abbauwürdig wa- wiesen habe. Zu dem Bergwerk „Landeskrone“ gehörten ren. Die Böden an den steilen Hängen und Riedellagen damals ausdrücklich bezeugte Grubengebäude uff dem sind flachgründig und wenig fruchtbar, in den Mittel- und Berge, Schächte, Stollen und ein Erbstollen (Wasserlö- Unterhanglangen sind sie tiefgründiger und auch acker- sungsstollen). Der Bergwerksbetrieb umfasste damals Hüt- baulich bewirtschaftbar. tengebäude, Göpel(?)-Mühlen, Pochstellen (Slege) und Schmelzen (Schmeltzstetten). Die ehemaligen Buchenwälder wurden durch Raub- bau devastiert bzw. auf Dauer in ihrer Artenzusammen- Südlich der ehemals deutlich ausgeprägten, vor weni- setzung verändert. gen Jahren durch moderne Forstbewirtschaftungsmetho- den stark beschädigten Bergbaurelikte wurde im obers- Reiche Niederschläge sorgen zuverlässig für Wasser, ten Talabschnitt des Wildenbaches eine im Spätmittelal- das früher die Kraft für die verarbeitenden Handwerks- ter aufgegebene mittelalterliche Ortswüstung (Wibelhu- und Industriebetriebe lieferte – anfangs direkt als An- sen) lokalisiert, in deren Umgebung zeitgleich (13./14. Jh.) trieb, später indirekt als elektrischer Strom. eine mittelalterliche Eisenverhüttung bestanden hat.

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 31 // Siegerland

Die umfangreiche Waldwirtschaft sowie zahlreiche We- lichkeiten haben eine Siedlungsstruktur hervorgerufen, gebaumaßnahmen und die sich immer weiter ausweitende die geprägt wird von Ansiedlungen nahe den Erzlager- Gewerbe- und Wohnbebauung sind akute Gefahrenpunkte stätten (z.B. Eiserfeld, Müsen), vorrangig aber in Hang- für die vorhandenen Bergbauspuren. Auch die lange be- und Tallagen nahe der zahlreichen Wasserläufe. kannten eisenzeitliche Wallanlagen werden immer wieder durch die Forstwirtschaft gefährdet. Es dominieren – zumeist im 11. bis 13. Jh. – erstmalig erwähnte Weiler, Straßen-, Haufen- und Kirchdörfer. Ein- Ein besonderes Bodendenkmal ist die sog. Siegener zelhöfe und Höhensiedlungen sind selten. Hecke, ein spätmittelalterliches bis neuzeitliches, die ge- samte Stadt Siegen umgebendes Landwehrsystem, das Auch die Zahl der geistlichen Niederlassungen auf dem das protestantische Nassauische Amt Siegen umschloss Land (Prämonstratenserinnenkloster, später Stift Keppel) so- und gegen das katholische Kurköln abgrenzte. Einige Be- wie der Städte blieb gering: Stadtrechte erhielten im Mittel- reiche dieser Landhecke sind in die Denkmallisten der alter nur Siegen und (in minderer Qualität) der Flecken Freu- Kommunen eingetragen. Der genaue Verlauf von Teilen denberg. Wie auch andere Orte, hatten sich beide zu Füs- dieses Fortifikationswerkes, das mehrere Ausbaustufen sen von Höhenburgen, die vor den Niederungsburgen bei erlebte, ist z.T. noch unklar. weitem überwogen, entwickelt. Nur die Burg über Siegen blieb umgestaltet als Residenzschloss erhalten. Nach Ab- Des Weiteren ist der Bereich um Hilchenbach in spät- schluss der Territorialisierung stand das Siegerland mit mittelalterlicher Zeit als wichtiges Herrschaftszentrum der manchmal schnell aufeinanderfolgenden Landesteilungen Grafen von Nassau anzusehen, die zeitweilig Hilchen- und Vereinigungen unter der Herrschaft des gräflichen, bach als Residenz nutzten und auch die Herrschaft über später fürstlichen Hauses Nassau-Oranien. das im 13. Jh. gegründete nahe Prämonstratenserinnen- kloster Keppel ausübten. Mit Ausnahme eines kurzzeitig um Netphen (‚Johann- land’; bis heute überwiegend katholisch) herrschenden Zwei- Die spezifischen naturräumlichen Voraussetzungen der ges, wandte sich das eng mit der Geschichte der Nieder- Kulturlandschaft „Siegerland“ und damit die Erwerbsmög- lande verknüpfte Geschlecht dem reformierten Bekenntnis zu.

Siegen, Schloss Foto: LWL/M.Philipps  330

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 31 // Siegerland 6.2  Siegen Foto: Schwabenflugbild © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Nach 1817 wurde der nun preußische Kreis Siegen nach Kulturlandschaftscharakter 331 kurzer Zugehörigkeit zum Regierungsbezirk Koblenz im Regierungsbezirk Arnsberg Teil der Provinz Westfalen. Die natürlichen Wälder wurden durch den frühen Berg- bau so stark übernutzt, dass man annimmt, dass die Bereits vor der preußischen Zeit hatten Verbesserungen Menschen um 200 n.Chr. zum Verlassen des Raumes der Straßenverhältnisse (Nord-Süd-Verbindung von Frankfurt veranlasst wurden. (heute B 54), Fernweg Köln-Marburg und die historische, in Teilen erlebbare Eisenstraße) zu einem Aufschwung von Im Mittelalter erfolgte im Auftrag der fränkischen Königs- Bergbau und Metallgewerbe geführt. Es profitierte auch höfe eine zweite Besiedlung und der Erzabbau wurde wie- der seit alters wichtige Gewerbezweig der Gerberei, der derbelebt. Bis in das 20.Jh. waren die erholten Wälder wie- die besondere Haubergswirtschaft beförderte. Die Indus- der die Energie-Ressource für die Eisengewinnung. Die trialisierung führte zu einem rasanten Wachstum der alten Entfernung zwischen den Abbaustätten auf den Höhen und zur Entstehung neuer Orte. Kreuztal z.B. verdankt sei- und Hängen und den Verarbeitungsstätten in den Tälern ne Entwicklung erst der Eisenbahn; hier entstand nach An- erforderte ein effektives Transportwesen. Kühe als Zugtiere lage der wichtigsten Verbindung (ab 1861 Hagen-Frankfurt) beförderten die Güter auf einem Wegenetz. Ihr Futterbedarf ein bedeutender Eisenbahnknotenpunkt. erzwang die Entwicklung des „Siegerländer Wiesenbaues“ (1534 erstmals urkundlich erwähnt). Das ausgeklügelte Be- Die Täler wurden entlang der Hauptverkehrswege na- wässerungs- und Düngesystem von Rieselwiesen erlaubte hezu lückenlos bebaut. Es entstand ein Gemenge von bis ca. 1950 eine reiche Heugewinnung für den Winter. Bauten des 16. bis 20. Jahrhunderts. Seit dem ausgehen- den 19. Jh. wurden auch Hänge und höhere Lagen für Die Ernährung und Versorgung der relativ zahlreichen Be- Wohngebiete, aber auch für öffentliche Gebäude und z.B. völkerung in dem unwirtlichen Landstrich sowie die Gewin- Kasernen erschlossen. nung der Holzkohle als Energie benötigte eine gute Organi- sation von Land- und Waldwirtschaft. 1562 hat Johann zu Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Nassau eine Holz- und Waldordnung verfasst und somit die stark zerstörte Stadt Siegen eine immense bauliche Aus- erste Haubergsgesetzgebung geschaffen. Sie wurde 1718 weitung mit auch einschneidenden Verkehrsbauten (auf- als „Güldene Jahnordnung“ verankert und überführte die geständerte „Hüttentalhochstraße“), die bis heute – trotz Hauberge in genossenschaftliches Gesamteigentum. Dies der Einstellung des Bergbaus – in der gesamten Region war die Voraussetzung für die äußerst komplexe Haubergs- seit den 1960er Jahren fast ungebrochen anhält. Bewirtschaftung, die sich von einer Niederwald-Bewirtschaf-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 31 // Siegerland

tung in anderen Regionen deutlich unterscheidet. Ein stren- Als Maßnahme zur Waldschonung verfügte 1562 eine ger Bearbeitungszyklus von ca. 20 Jahren ermöglicht auf Ordnung den Bau von Gemeinschaftsbackhäusern („Ba- derselben Fläche: „Hauen“ von Holz als Ausgangsmaterial ckes“), die bis heute Bestand haben bzw. wieder belebt für Holzkohle und Grubenholz – Räumen des dünnen Hol- wurden. Die Öfen werden mit Holz befeuert und ergeben zes als Brennmaterial – Gewinnung von Lohe als Rohstoff das für die Region typische „Schanzenbrot“. für Gerbereien – Anbau von Roggen – Waldweide. Die unverwechselbare Siegerländer Mundart gehört dem Die Abhängigkeit der Menschen von den Wäldern in der Moselfränkischen an. Vergangenheit und die eingeführte nachhaltige Bewirt- schaftung als Hauberge zeigen sich heute noch in einem Viele Elemente der historischen Kulturlandschaft existieren Waldanteil von ca. 65%. Er bestimmt das Landschaftsbild nicht mehr, sind aber noch aus Flurnamen u.ä. abzuleiten. des Siegerlandes. Die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Das Haubergswesen hat die Eiche als Hauptbaumart ländliche und dörfliche Architektur zeigt ausschließlich gefördert. Als Begleiter treten Birken auf. Diese Wälder Fachwerkbauten mit kräftigen Hölzern, besonders anschau- haben als Ergebnis von Stockausschlägen einen beson- lich in den historischen Kernen von Freudenberg und Hil- deren Charakter. Sie sind licht und hell und verändern im chenbach, Burbach, Ferndorf und zahlreichen ehemaligen Jahresverlauf ihr Aussehen. Bezeichnend ist die melierte Weilersiedlungen. Es dominieren keineswegs große Hofan- Farbgebung der Grün- und Brauntöne und die Schatten- lagen von Vollbauern, sondern eher kleinere Betriebe, denn spiele des Lichtes, das zwischen den Blättern bis auf den die Landwirtschaft wurde oft nur zur Selbstversorgung ne- Boden dringen kann. Die Wälder sind im Gegensatz zu ben der Tätigkeit im Bergbau und Gewerbe betrieben. dichten Hochwäldern nun fühlbar warm. Bei den sog. Ernhäusern sind Wohn- und Stallteil unter Nach der Aufgabe der Hauberge wurden viele Flächen einem Dach vereint und jeweils separat quer aufge- mit Fichten aufgeforstet. Ihr Waldbild ist von einem Dunkel- schlossen. Die Zahl an Nebengebäuden ist gering, denn grün geprägt, das auch im Winter anhält. Die oft dichten Backhäuser wurden z.B. meist gemeinschaftlich im Dorf- Bestände erlauben kein Eindringen der Sonne. Die spitzen verband genutzt. Sie sind als Kleinbauten unterschied- Baumwipfel ergeben eine typische Ausbildung des Hori- lichster Zeitstufen wichtiger und verbreiteter Bestandteil zontes. Die Kombination von Laub- und Nadelwäldern der Dorfbilder geblieben. drückt sich in einem abwechslungsreichen Landschafts- 332 bild der Berge aus. Besonders die Wälder auf den steilen Die unter dem Eindruck zunehmender Holzknappheit Hängen sind weithin sichtbar und wirksam. Der Siegerlän- 1790 erlassene Sparverordnung wurde prägend für einen der Wiesenbau wird zwar nicht mehr praktiziert. Das Grün- großen Bestand überlieferter Fachwerkhäuser des 19. land in den Tälern ist aber nach wie vor kennzeichnend. Jahrhunderts. Klar zu unterscheiden sind die Bauten aus der Zeit vor 1790 mit dicht gesetzten, kräftigen Hölzern Die aufgelassenen Grubengelände haben mit Hohl- mit ihrem gegenläufigen Verstrebungen („Wilder Mann“), und Vollformen das Kleinrelief geprägt und seltene vielfäl- die deutliche kulturräumliche Bezüge zum Fachwerkbau tige Standorte hinterlassen für schützwürdige Pflanzen, der südlichen hessischen Regionen zeigen, von den Häu- Tiere und Biotope. sern nach 1790 mit schmalen, parallelen und riegellosen Ständerwerk, die einen ganz eigenen Regionalstil prägen. Die frühe Besiedlung und die Industrie-Anlagen orien- tierten sich an den Wasserläufen. Bis in die Gegenwart Gegen Ende des 19. Jahrhunderts treten neben charak- drängen die Steillagen die Funktionen Wohnen, Gewerbe teristischen Dachraumvergrößerungen durch Aufdrempe- und Industrie auf die Täler des Littfebaches, des Ferndorf- lung die in der Region gefertigten Blechplatten (‚Siegerlän- baches und der Sieg. der Pfanne’) als Dach- und Wandverkleidung hinzu.

Die Eisenstraße auf dem Rothaarkamm und viele Hohl- Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hielten die wege sind Reste der mittelalterlichen Verkehrsinfrastruktur. im deutschen Reich fast einheitlichen historistischen Der Fernhandelsweg Frankfurt-Soest musste in dem be- Haustypen, Materialien und Gestaltungsweisen Einzug in engten Raum die Täler in Anspruch nehmen. Der moderne das Siegerland. Davon zeugt ein Bestand an bescheide- Straßenbau hat infolge der Morphologie Straßen mit Stel- nen Wohnhäusern sowie Wohn- und Geschäftshäuser zen und Brücken entwickelt, die charakteristisch sind (Au- des Historismus in den Orts- und Stadtkernen. tobahnbrücke bei Siegen, Hüttentalstraße) und markant das Landschaftsbild bestimmen. Sehr qualitätvoll ist der Bestand an Villen aus der Zeit nach 1850, die von den traditionsreichen Unternehmerfami- Das Anwachsen des Eisengewerbes förderte die Ent- lien überwiegend an den Ausfallstraßen der größeren Orte wicklung der ehemaligen Weiler und Kleindörfer zu re- (Kreuztal, Hilchenbach, Freudenberg, Siegen) errichtet wurden. lativ großen ländlichen Siedlungen. Sie reihen sich in Diesen Bauten ist trotz üppiger Ausstattung meist ein zu- den Haupt- und Nebentälern aneinander und dehnen rückhaltenderes Äußeres eigen, was auf die Mentalität des sich auf die mäßig geneigten Unterhänge aus. strengen Protestantismus im Siegerland zurückzuführen ist.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 31 // Siegerland 6.2

Nach einer Stagnation in den 1920er Jahren und den Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche Kriegszerstörungen belebte sich erst nach dem Zweiten und -elemente Weltkrieg das Bauwesen wieder und es kommt mit der steigenden Zahl von Stahlarbeitern zu bemerkenswerten G Abbau von Eisenerz, seit mittelalterlicher Zeit von Sil- Leistungen im Siedlungsbau; vorangestellt sei hier die ber, ist für den Bereich des späteren Stadtgebietes Siedlung „Wenscht“ in Siegen-Geisweid. Siegen seit vor- und frühgeschichtlicher Zeit belegt. Einige Hauberge werden noch traditionell bewirt- Die Adelsbauten, das Obere Schloss auf dem alten schaftet (KLB 31.01). Burgberg über Siegen mit dem Pendant des Unteren Schlosses sowie der Rittersitz Junkernhees (Kreuztal) als G Zu den städtebaulich prägnanten Orten gehören Sie- Niederungsburg in weitgehend ungestörter Tallage, sind gen mit dem Burgberg, der durch die Nikolaikirche besonders prägend für die Kulturlandschaft „Siegerland“. („Krönchen“), das Obere Schloss und seine Altstadt geprägt wird (KLB 31.01), und der nach einem Stadt- Die Ginzburg in Hilchenbach-Grund ist von besonderer brand 1666 nach einheitlichem Plan neu angelegte historischer Bedeutung für die Region. Auf dem Burgberg „Alte Flecken“ Freudenberg. in Siegen-Niederschelden erhebt sich heute eine historis- tische Villa mit großer Fernwirkung. G Ehemalige Stahlwerke Krupp südlich der das Hüttental prägenden Spitzkegelhalde in Siegen-Geisweid mit Etliche Kirchdörfer werden bis heute durch kleine Dorf- zwei wesentlichen Sichtbezügen. kirchen des 13. bis 17. Jahrhunderts geprägt. Die Türme dieser massiv gemauerten und verputzten Hallenkirchen G Kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbe- bestimmen vielfach bis heute die Ortsbilder (Kreuztal-Fern- sondere als Bodenarchiv, sind Freudenberg, Hilchen- dorf, Netphen-Obernetphen, Freudenberg-Oberholzklau, Bad bach und Siegen. Laasphe-Feudingen und -Fischelbach).

Zu den wichtigen Orten mit städtebaulich besonders Leitbilder und Ziele klarer Silhouette zählt Burbach, auf dessen Burgberg heute eine frühklassizistische Kirche (1774-1776) weithin Paradoxerweise hat der historische Bergbau eine na- sichtbar steht. Hinzu kommt eine Reihe prägender Kir- turnahe Kulturlandschaft hervorgebracht, die in relativ chen des 19. und 20. Jahrhunderts. großen Bereichen noch erkennbar ist. Sie wurde seit Jahrtausenden höchst intensiv genutzt. Dank der spe- 333 Eine Besonderheit der Kulturlandschaft „Siegerland“ ziell entwickelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen stellen die seit der Reformation bis in die Zeit um 1800 Ordnung entstand in weiten Bereichen ein ökologisch in- entstandenen Kapellenschulen dar. Es handelt sich da- takter Raum mit nach heutigem Empfinden „schönen“ bei um meist kleine in Fachwerk oder Mauerwerk aufge- (ästhetischen) Landschaftsbildern. führte Häuser mit Glockenreiter, in denen Schul- und Kirchenraum vereint waren (Siegen-Breitenbach, -Trup- Bis heute ist die enge Verzahnung zwischen natürlichen bach, - Eisern; Hilchenbach-Ruckersfeld, -Grund; Netphen- Ressourcen und industrieller Entwicklung in der Land- Beienbach; Wilnsdorf-Rinsdorf). Mehrere Kapellenschulen schaft ablesbar. Die Verknüpfung von Natur- und Industrie- liegen in städtebaulich signifikanter Hanglage oberhalb Elementen sowie das besondere soziale und wirtschaftli- der Orte. che Gefüge finden in einmaliger Weise in der Kulturland- schaft „Siegerland“ ihren Ausdruck. In hohem Maße wird die Kulturlandschaft „Siegerland“ von Bauten der Produktion geprägt. Unter den zur Zeit Fakt ist nun, dass die historische Bewirtschaftung, die ca. 80 Technischen Kulturdenkmalen finden sich nicht die Kulturlandschaft geprägt hat, überholt und aufgegeben nur solche des Bergbaus (Bethaus Hilchenbach-Müsen, ist. Dennoch ist es wünschenswert, den jetzigen Land- Fördergerüst Siegen-Eiserfeld, Verwaltungsgebäude und schaftscharakter in seiner Schönheit und Eigenart zu er- Röstofen der Grube Storch in Siegen-Gosenbach) und der halten. Das Siegerland trägt als Unikat wesentlich zur kul- Metall-, sondern auch der Lederverarbeitung (Gerbereien turlandschaftlichen Vielfalt Nordrhein-Westfalens bei. in Hilchenbach und die Villa eines Gerberei-Besitzers in Kreuztal-Krombach). Derzeit erfährt das Siegerland aufgrund europäischer und weltweiter Wirtschaftsveränderungen wiederum einen Struk- Zahlreiche denkmalgeschützte Mühlen veranschaulichen turwandel, der Wirtschaftszweige wie Gesundheitswesen die Nutzung der Wasserkraft (z.B. in Netphen-Nenkersdorf). und Tourismus erstarken lässt. Für diese Branchen ist die charaktervolle Kulturlandschaft eine Grundvoraussetzung. Unter den Monumenten der Verkehrsgeschichte ragt ne- ben einigen Eisenbahn-Brücken und -Empfangsgebäuden G Einige typische Kulturlandschaftselemente und -land- die Trasse der alten Fernhandelsstraße „Napoleonsweg“ schaftsbereiche müssen – wie in Teilen schon prakti- in einem seit 1850 wohl unverändertem Zustand an der ziert – mit einem Schutzstatus (z.B. Naturschutzgebiet) Grenze zwischen Kreuztal und dem Kreis Olpe heraus. belegt werden. Die ehemaligen land- und forstwirt-

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 31 // Siegerland

schaftlichen Methoden sind zu imitieren, um den Kultur- landschaftscharakter zu erhalten.

G Für die größten Bereiche müssen Wirtschaftsweisen gefunden werden, die zwar das jetzige Landschafts- bild weitgehend bewahren, aber dennoch eine renta- ble Nutzung zulassen.

G Beim Waldbau ist die Verwendung von Laubhölzern, in den tieferen Lagen von Eichen, anzustreben. Die Vertei- lung von Nadel- und Laubwäldern in der Fläche soll ausgewogen sein.

G Die Entwicklung von Techniken zur Energiegewinnung, die Niederwälder nutzen, sollten gefördert werden. De- ren Einsatz sollte verstärkt erfolgen.

G Das Grünland in den Tälern ist aus ästhetisch-kulturhis- torischen Gründen wertvoll und soll beibehalten werden.

G Beim Bauen im ländlichen Bereich sollte die schwarz- grau-weiße Farbpalette der bestehenden Gebäude Beachtung finden.

G Eine schonende Nutzung des Raumes als Erholungs- landschaft käme dem Erhalten der harmonischen kulti- vierten Landschaft entgegen. Projekte, die dieser Funk- tion entsprechen, sollten unterstützt werden.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, 334 Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne sowie der o.g. Blickbeziehungen.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 32 // Wittgenstein 6.2

Kulturlandschaft 32 // Wittgenstein genstand von Ausgrabungen waren. Diese Fundplätze be- legen die Siedlungstätigkeit einer keltisch geprägten Be- völkerung während der vorrömischen Eisenzeit. Wie im Lage und Abgrenzung Siegerland bricht auch hier mit der römischen Okkupation links des Rheins die Überlieferung ab. Im Mittelalter erfolg- Die Kulturlandschaft „Wittgenstein“ umfasst etwa die öst- te die Besiedlung der Oberläufe von Lahn und Eder von liche Hälfte der Fläche des heutigen Kreises Siegen-Witt- Hessen aus, die kirchliche Erschließung über die Stütz- genstein und damit die Territorien der ehemaligen Graf- punkte Raumland und Feudingen dementsprechend vom schaft Wittgenstein. Erzbistum Mainz. Ausgangspunkt der Grafschaft Wittgen- stein war die gleichnamige, 1174 erwähnte Burg und die Die Kulturlandschaft „Wittgenstein“ ist gegen die nördli- wenig später gegründete Stadt Laasphe im oberen Lahn- chen Landesteile Westfalens durch den Kamm des Rot- tal. Im 14. Jh. entstanden Burg und Stadt Berleburg zur Si- haargebirges naturräumlich, kulturhistorisch und durch cherung der gräflichen Herrschaft im oberen Edertal, seit siedlungsfreie Räume deutlich abgegrenzt. Die Westgren- der Grafschaftsteilung 1604 Residenz eines eigenständi- ze zum Kulturlandschaft „Siegerland“ ist bei ähnlichen to- gen Territoriums bis 1806. Die enge kulturelle Ausrichtung pographischen Verhältnissen durch die historische Grenze der Grafschaft Wittgenstein auf den nordhessischen Raum und unterschiedliche Landnutzungen definiert: Wittgen- bedingt interessante archäologische Fragestellungen, ins- stein ist im Gegensatz zum Siegerland durch Forst- und besondere für die Zeit der ältesten Besiedlung. Landwirtschaft mit lockerer Besiedlung geprägt. Nach Os- ten und Süden bestehen deutliche Gemeinsamkeiten mit Im Jahre 1174 setzt mit der erstmaligen Namensnennung den angrenzenden hessischen Regionen (Landkreis Wald- die Geschichte der Grafschaft Wittgenstein ein. 1603 erfolg- eck-Frankenberg), die die Landesgrenze trotz ihrer hohen te – nach Einführung des reformierten Bekenntnisses – die historischen Kontinuität nur wenig gemindert hat. Teilung in die beiden Grafschaften Sayn-Wittgenstein-Berle- burg und Sayn-Wittgenstein-Wittgenstein bzw. ab 1653 Sayn-Wittgenstein-Hohenstein. Diese Teilung der zu Fürs- Naturräumliche Vorraussetzungen tentümern erhobenen Territorien blieb bis in die napoleoni- sche Zeit bestehen, nach der 1817 Wittgenstein als bis 1975 Wittgenstein ist umrahmt vom Astengebirge im Norden, eigenständiger Kreis Bestandteil der preußischen Provinz von der Rothaar im Westen, von den Ederkopfhöhen im Westfalen mit Regierungssitz in Arnsberg wurde. Süden und von Kalteiche und Sackpfeife im Südosten. Be- sonders der Rothaarkamm, der bis auf über 800 m an- Die Siedlungsstruktur wird weniger von Einzelgehöften 335 steigt, begrenzt den Raum eindrucksvoll. Er erstreckt sich in Höhen-, als von Weilern und Kirchdörfern in Hügel- und von Südsüdwest nach Nordnordost und bildet die Wasser- Tallagen mit den Kirchen in dominierender Position be- scheide zwischen den Gewässersystemen von Weser und stimmt, von denen manche bereits kurz nach 800 und vie- Rhein. Auf dem Kamm entspringen Sieg, Lahn und Eder in le im 11. Jh. genannt sind. Berleburg und Laasphe sind enger Nachbarschaft. Sieg und Lahn fließen durch das die einzigen Städte in dieser Kulturlandschaft. Sie entwi- Siegerland nach Westen zum Rhein. Die Eder führt ihr ckelten sich in Anlehnung an die später zu landesherrli- Wasser und das der zahlreichen Nebenbäche zur Weser chen Schlössern ausgebauten Burgen und wurden im 13. und öffnet somit das Land in Richtung Osten. Jh. durch städtische Rechte privilegiert.

Das Klima ist feucht-kühl. Die Luft ist rein. Das Mittelge- Über Jahrhunderte bildete neben einer bescheidenen birgsklima mit ausgeglichenen Temperaturen ist im Ver- Landwirtschaft die umfangreiche Forstwirtschaft den Haupt- gleich zur Küste und zu den Alpen reizmild. erwerb. Anders als im benachbarten Siegerland beschränk- te sich der Abbau von Bodenschätzen in größerem Maßstab Auf basenarmen devonischen Ausgangsgesteinen ha- auf den überregional bedeutsamen Schieferabbau insbe- ben sich relativ nährstoffarme, oft flach- bis mittelgründige sondere um Raumland, der mindestens bis in die frühe (Kuppen- bis Hanglage), in den Tälern auch tiefgründige Neuzeit zurückreicht. Von wenigen Chausseen ab 1850 (Bie- Böden mit meist mittlerer bis geringer Wasserdurchlässig- denkopf-Kreuztal, Leimstruth-Berleburg, Banfetalstraße) und Ei- keit und Sorptionsfähigkeit ausgebildet. senbahnlinien nach 1883 (Kreuztal-Marburg aus der Ruhr- Sieg-Bahn, 1911 nach Berleburg über Erndtebrück) abgese- hen, verhinderten die topographischen Gegebenheiten den Geschichtliche Entwicklung Ausbau der Verkehrswege. Dies dämpfte einerseits die In- dustrialisierung, die sich weitgehend auf holzverarbeitende Östlich des Siegerlandes liegt zwischen Bad Berleburg Betriebe und geringe Kapazitäten an Eisenindustrie (Ama- und Erndtebrück (Kreis Siegen-Wittgenstein) die Wittgenstei- lienhütte und nahebei aus frühindustrieller Zeit Kunst-Wittgen- ner Mulde. Im Umfeld einiger großer eisenzeitlicher Wall- stein) beschränkte, begünstigte aber andererseits die Nut- burgen, von jeweils mehreren Hektar Innenfläche, ist zung der Kulturlandschaft „Wittgenstein“ zu Zwecken der durch intensive Prospektion eine reiche eisenzeitliche Alt- Erholung. Durch den Ausbau ihrer Kuranlagen erlangten die siedellandschaft erschlossen worden. Neben Siedlungs- beiden Städte Bad Berleburg und Bad Laasphe nach dem stellen sind auch Gräberfelder erkannt worden, die z.T. Ge- Zweiten Weltkrieg den Status staatlich anerkannter Bäder.

Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe kap_6_2_kl_32.qxp 07.11.2007 18:03 Seite 336  Bad Laasphe 336 Foto: LWL/D. Schwarzhans

Kulturlandschaftscharakter schaftliche Bedeutung für Wittgenstein. In einem gere- gelten Bergbau wurde der leicht zu brechende Schiefer Der Waldreichtum (70% Flächenanteil) und die Ausdeh- gewonnen. Seine Blütezeit erreichte der Schieferabbau nung der Waldgebiete geben der Landschaft ihr Ausse- im 18. und 19. Jh., als die preußische Brandschutzver- hen. In natürlich wirkenden Wäldern verleihen Felswände ordnung Schiefer an Stelle von Stroh als Dachdeckungs- einen romantisch-urwüchsigen Charakter. Schmale Wie- material festlegte. sentäler bringen Abwechslung und betonen die Bewegt- heit des Reliefs. U.a. haben die unfruchtbaren Böden und das rauhe Kli- ma zu wirtschaftlichen Krisen und zu Auswanderungswel- Die ausgedehnten Stollen der aufgegebenen Bergwerke len geführt. Im Gegensatz zum Siegerland spielten Wald- sind wichtige Winterquartiere für Fledermäuse. Die Abbau- genossenschaften und Haubergswirtschaft nur kurzzeitig halden und Steilwände sind von seltenen wärme- und tro- eine geringe Rolle. Dies spiegelt sich in den Waldgesell- ckenheitsliebenden Tier- und Pflanzenarten sowie Mager- schaften und im Landschaftsbild wieder. rasen und Felsheiden besiedelt worden. Bis heute wirkt der Rothaarkamm als Barriere. Er ist ver- Das Klima wird als Schonklima und als „therapeutisch kehrstechnisch nur an wenigen Stellen leicht zu überque- einsetzbar“ bezeichnet. Der Raum ist lärmarm, in den ren. Die Anschlussstellen der Autobahnen sind weit ent- Waldtälern und auf den Bergkämmen sogar ruhig. fernt. Das Rothaargebirge bildet die Grenze zwischen dem fränkischen und dem sächsischen Sprachraum. Die morphologische Situation hat nicht nur Auswir- kungen auf das Landschaftsbild, sondern auch auf die Die ländlichen Bauten der Zeit vor 1790 zeigen mit kulturellen Entwicklungen. In früheren Zeiten haben die dicht gesetzten, kräftigen Hölzern und Zier-Verstrebun- Talungen von Lahn und Eder die Region mit der Außen- gen („Wilder Mann“) deutliche kulturräumliche Bezüge welt verbunden. Von Hessen aus erfolgte entlang der zum Fachwerkbau der südlich anschließenden hessi- Täler die Besiedlung mit Weilern und kleinen Dörfern. schen Regionen. Oftmals werden die Bauten von langen Ebenso wie im Siegerland besaßen schon vor Christi Segenssprüchen, in Schreibschrift und gelegentlich von Geburt und bis in das 20. Jh. Bodenschätze eine wirt- reichem, farbig gefasstem Schnitzwerk geschmückt.

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel Kulturlandschaft 32 // Wittgenstein 6.2

Früh schon sind bei vielen Anwesen die Scheunen aus- Residenzen – Berleburg nach dem Stadtbrand von 1825 gesondert, und stehen als separate Nebengebäude quer mit klassizistischem Retablissement, Laasphe mit weiter zum Wohn-Stallhaus, wo sie nicht – auf Drängen einer um zurück reichender Fachwerkbebauung – wogegen die Feuersicherheit bemühten Obrigkeit – in separaten Scheu- bescheidenen Stadterweiterungsgebiete u.a. von Kuran- nenvierteln vor den Siedlungen zusammengefasst wurden. lagen bestimmt werden.

Die nach 1790 entstandenen Fachwerkbauten zeigen Besonders bedeutsame Kulturlandschaftsbereiche unter dem Diktat einer holzsparenden Bauordnung riegel- und -elemente loses Ständerwerk, was für das 19. Jh. einen ganz eige- nen Regionalstil prägt. Wandverkleidungen und die Um- G Ilsequelle mit umliegenden Wäldern bei Heiligenborn. deckung der ursprünglich von Stroh oder Schindeln be- Das Wasser galt früher als heilkräftig und war Jahr- deckten Dächer mit Blech oder Schiefer treten seit dem hunderte lang Ziel von Wallfahrten (KLB 32.01). ausgehenden 19. Jh. neben dem dann aufkommenden Massivbau hinzu. G kulturlandschaftlich bedeutsame Stadtkerne, insbeson- dere als Bodenarchiv, sind Bad Berleburg und Bad Die Schlösser Berleburg und Laasphe und repräsenta- Laasphe, die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Histo- tive Landsitze der Landesherrschaft mit Funktionen als rische Stadtkerne sind. Jagdschlösser, Witwensitze und land- und forstwirt- schaftliche Domänen, daneben auch die landesherrlich G Dorfkerne von Elsoff und Raumland mit mittelalterli- geförderten Ansiedlungen Fremder prägen die Kultur- chen Kirchen und ländlichen Bauten seit dem 18. landschaft „Wittgenstein“. Jahrhundert.

Die beiden Städte Bad Berleburg und Bad Laasphe be- G Das ehemalige Schieferbergwerk „Hörre“ einschließ- wahren in ihren Kernen den Charakter kleinstädtischer lich der landschaftsprägenden Abraumhalden.

Bad Berleburg, Schloss  Foto: LWL/M. Philipps

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Kapitel Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 6.2 Kulturlandschaft 32 // Wittgenstein

Leitbilder und Ziele

Die Lage „hinter“ dem Kamm des Rothaargebirges, die Ungunst der natürlichen Voraussetzungen und die gedros- selte Entwicklung des Raumes in der Vergangenheit ha- ben sich insgesamt positiv auf die Kulturlandschaft „Witt- genstein“ ausgewirkt. Diese Qualität sollte als Stärke für neue Entwicklungen im Freizeit- und Erholungsbereich ge- nutzt werden. Dies erhöht die Identifikation der ansässigen Bevölkerung mit dem Raum und fördert den Tourismus.

Der Raum erfordert ein besonders behutsames Vorge- hen bei Planungen, die die Naturnähe und den harmoni- schen Charakter beeinträchtigen können.

G Zur Wahrung der Vielfalt des gewachsenen Land- schaftsbildes sind Wälder naturnah zu bewirtschaften und Wiesentäler frei zu halten.

G Insbesondere zugunsten der Kneipp-Heilbäder Bad Berleburg und Bad Laasphe sind die Reinhaltung der Luft und die Ruhe des Raumes zu gewährleisten.

G Ein wichtiges Pendant zur Stille und Abgeschieden- heit der Landschaft sind die Städte und Dörfer mit tra- ditioneller Bauweise. Sie dürfen nicht nur Kulisse sein, sondern müssen mit Leben (Läden, Gastronomie, Hotels/ Pensionen u.a.) erfüllt sein.

G Die Bauweise von Neubauten sollte die traditionelle 338 Form- und Farbgebung respektieren. Der Putz sollte weiß, die Dachhaut anthrazit bis dunkelgrau sein. Die Verwendung der überkommenen Materialen Schiefer und Stein sollte ohne historisierende Absicht bewusst eingesetzt werden.

G Für den Bereich „Verkehr“ ist als Besonderheit die ge- ringe Ausstattung an Verkehrswegen zu konstatieren, die als Vor- und auch als Nachteil für die Kulturland- schaft zu bewerten ist. Die Nachteile der peripheren Lage sind bewusst. Z.B. wird von Bevölkerungsgrup- pen eine bessere Verkehrsanbindung gewünscht. Eine sorgfältige Abwägung ist nötig, die insbesondere die Auswirkungen einer Verkehrsstraße nicht nur als linea- res Element, sondern als Bauwerk mit Strahl- und Sog- wirkung auf den gesamten Raum bedenkt. Es ist nicht zu verkennen, dass die Nachteile der Region immer wieder im Laufe der Geschichte Menschen zum Verlas- sen der Heimat genötigt haben. Die Erhaltung der Ei- genart des Wittgensteiner Landes kann helfen, Abwan- derungen entgegen zu wirken.

G Schutz und Erhalt der Boden- und Baudenkmäler, Schutz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Stadtkerne.

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