Hansjörg Noe

„Nun kann ich darüber sprechen...”

Zeitzeugen, Tagebücher und autobiograische Dokumente zum Nationalsozialismus in Lörrach

Lörracher Hefte Nr. 22, hrsg. v. Andreas Lauble und Markus Moehring

1 Dreiländermuseum Lörrach Inhalt

Einführung der Herausgeber 5

I. Ich war dabei, heute schäme ich mich 10

Ich kenne viele, die dabei waren und sich heute als Demokraten gebärden 15

Das sind halt Soldatenspiele bei der Hitlerjugend 20

Impressum Lieder, die mir nicht aus dem Kopf gehen 23

Herausgeber: In diesem Geschäft werden keine Juden bedient 25 Andreas Lauble, Markus Moehring Ein Ur-Lörracher erzählt 29 Grafik und Satz: Verlag Waldemar Lutz II. Mein Vater war der Bahnhofsgastwirt 34 Druck und Einband: Ki6 - EDITORI S.R.L, Bozen/Italien Die Reklameschrift leuchtet die ganze Nacht 36

Abbildungen: Die Bildrechte liegen bei den Institutionen oder Personen, die jeweils Ich wünsche Ihnen viel Glück in dem Haus 38 bei der Abbildung angegeben sind. Den umfangreichen Fotonachlass von Eugen Zürcher hat Karlfrieder Vortisch im Stadtar- III. chiv ehrenamtlich sortiert und erschlossen. Seine Arbeit bildete auch die Grundlage für die Der Angeklagte räumt unumwunden ein, 44 Fotoseiten im Mittelteil des Buches. kein Anhänger der Nationalsozialisten zu sein

Buchtitel: Dieser stammt aus dem Bericht eines Zeitzeugen (Seite 14) Nun häuften sich die Besuche der 49 Titelbild: Ausschnitt eines Fotos von Eugen Zürcher; es zeigt Hitlerjungen in der Stadtmitte von Lörrach (StALö Zü 6.361.17) Im Papageienviertel von Lörrach 56

Online-Sammlungsdatenbank: Einen Einblick in die Sammlung des Dreiländermu- Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten 60 seums zum Nationalsozialismus bietet die Online-Datenbank unter: dreiländermuseum.eu IV. „Aktion Gewitter“ 68 © Stadt Lörrach (Stadtarchiv Lörrach und Dreiländermuseum), Hansjörg Noe Er ist verdächtig, den schweizerischen Sender Beromünster gehört zu haben 73 Verlag Waldemar Lutz, Lörrach 2015 ISBN 978-3-922107-06-4 Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte 77

2 3 Dreiländermuseum LörrachDreiländermuseum Lörrach Einführung

V. Einführung Auch Fotografien sind Zeitzeugnisse: 86 Bilder aus dem Nachlass von Eugen Zürcher

VI. Sie gaben ihr einen Tritt in den Hintern 104 Die Zeit des Nationalsozialismus liegt über 70 Die Nazicamorra des Dorfes war versammelt 107 Jahre zurück. Der zeitliche Abstand macht es mög- lich, dass heute Zeitzeugen eher bereit sind, ihre Ich beschloss, den Hitlergruß nicht mitzumachen 111 Erinnerungen an die damalige Zeit mitzuteilen und dass breitere Bevölkerungsschichten daran Interes- Der vergessene Weltmeister: Albert Richter 114 se haben. Ein für dieses Buch befragter Zeitzeuge drückte es bei einer Führung durch die Ausstellung Täglich sah man neue Gesichter, alte verschwanden 117 „Lörrach und der Nationalsozialismus“ im Dreilän- dermuseum so aus: „Nun kann ich darüber spre- Im Gewann „Zehn Juchert” erschossen 122 chen und bin froh darüber”. (vgl. dazu Text S. 14)

VII. Schmerzliche Erinnerungen kommen dabei ge- Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird 128 rade auf lokaler Ebene besonders nahe: Hier be- treffen sie den eigenen Ort, die eigene Familie, Eines Morgens stand eine Leiter am Grenzzaun 135 die eigene Person. Zugleich bleibt für Interviews von Zeitzeugen nicht mehr viel Zeit. Bereits heute Die schönsten Jugendjahre wurden vertan 138 sind es fast ausschließlich Kindheitserinnerungen, die wir erfragen können. Mit bewundernswerter Erinnerungen wie „zufällige Lichter“ 142 Energie und einem enormen Arbeitspensum hat Hansjörg Noe die Aufgabe übernommen zusam- Ramadan am Kriegsende in Lörrach 150 menzutragen, was wir von Zeitzeugen heute noch erfahren können. Entstanden ist ein überaus le- Rettung des Gaswerks Lörrach 155 senswertes Buch, das auch über viele Facetten des Dritten Reiches in Lörrach berichtet, die bislang Der letzte Kriegstag in Lörrach aus der Sicht eines Volkssturmmannes 157 so noch nicht öffentlich bekannt waren. Das Buch bildet außerdem zahlreiche Fotos und Archivalien Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben 158 aus dem Stadtarchiv Lörrach ab, die unveröffent- licht waren, und macht Quellen aus Privatbesitz Bis zum bitteren Ende 165 oder anderen Archiven öffentlich.

Im Auftrag des Lörracher Gemeinderates hat- Literatur zu Lörrach im Nationalsozialismus 172 te Dr. Robert Neisen die Zeit des Nationalsozia- Anmerkungen 173 lismus in Lörrach systematisch wissenschaftlich Archivsignaturen 175 untersucht. Die Ergebnisse wurden der Öffent- lichkeit 2013 in einer umfangreichen Publikation vorgestellt.1 Zeitgleich zeigten Dreiländermuseum und Stadtarchiv die große Sonderausstellung „Lör- rach und der Nationalsozialismus”. Zu ihr erschien

4 5 Dreiländermuseum Lörrach Einführung Einführung

in der Reihe „Lörracher Hefte” ein Begleitband, der ist, hat sich dem Projekt versagt. Es hat keinen öf- Autor und Herausgeber haben die Beiträge nach Zeitzeugen geben in Interviews immer Persönli- Neisens wichtigste Forschungsergebnisse zusam- fentlichen Aufruf der Stadt Lörrach gegeben, sich einem wiederkehrenden Schema geordnet. Die ches wieder und berichten Details aus einer ganz menfasst und Exponate aus der umfangreichen als Zeitzeugen zu melden. Beiträge sind meist mit einem Zitat des Zeitzeugen bestimmten Perspektive. Denn menschliche Erin- Sammlung des Dreiländermuseums sowie Fotos aus dem nachfolgenden Text überschrieben. Wenn nerungen sind immer lückenhaft und emotional und Dokumente des Stadtarchivs abbildet2. Die in- Die Auswahl der befragten Personen erhebt nicht Noe eine persönliche Beziehung zum Zeitzeugen gefärbt. Schon zum Zeitpunkt eines Ereignisses, tensive Beschäftigung mit dem Thema zeigte auch, den Anspruch, repräsentativ zu sein, doch bemüh- hat, macht er darauf im einführenden Text auf- an das später erinnert wird, nimmt jeder Mensch dass Robert Neisen im Rahmen seiner dreijähri- te sich Hansjörg Noe intensiv darum, unterschied- merksam. Hier werden auch die Entstehung des nur Ausschnitte wahr. Später wird zudem vieles gen Forschungen nicht alle Aspekte zur NS-Zeit in liche Erinnerungen und Perspektiven auf das Drit- Textes, das Entstehungsjahr und Noes Zugang zu vergessen, verdrängt, revidiert, angepasst und ver- Lörrach hatte bearbeiten können. Der Auftrag an te Reich festzuhalten. „Opfer“ und „Mitläufer“ sind den zusätzlich verwendeten Quellen erläutert. ändert. Jede Erzählung interpretiert Geschehnisse ihn bestand darin, schwerpunktmäßig die Rolle dabei stärker berücksichtigt als „Täter“. Die Texte aus der Rückschau. Eine Rolle spielen dabei der ei- der Stadtverwaltung im Dritten Reich zu untersu- sind durch Befragung entstanden. Meistens hat Die Beiträge selbst sind in drei verschiedenen gene Wissensstand, die öffentliche Wahrnehmun- chen. die erste Befragung mehrere Stunden gedauert. Schriften gesetzt, um auf die Unterschiedlichkeit gen, der Einfluss anderer Menschen oder von Me- Die Mehrzahl der befragten Personen war über der Textgattungen aufmerksam zu machen. Ziel dien und viele weitere Faktoren. Deshalb darf man Im März 2014 beschloss der Gemeinderat weitere 80 Jahre alt. Der Interviewer Noe hat die Befrag- ist dabei, Art und Ursprung der Texte so weit wie eine historische Narration weder verwechseln mit Forschungen zum Nationalsozialismus in Lörrach ten erzählen lassen und dabei kein Aufnahmegerät möglich kenntlich zu machen, ohne zu sehr in die der „originalen“ vergangenen Erfahrung des Zeit- und konkrete Maßnahmen, um die öffentliche Aus- verwendet. Ihre Aussagen hat er unmittelbar pro- Lesbarkeit der Beiträge und den Stil des Autors ein- zeugen und erst recht nicht mit dem historischen einandersetzung mit dieser Zeit zu intensivieren. tokolliert, danach sofort den Erzähltext niederge- zugreifen. Ereignis selbst. Weil die menschliche Erinnerung Dazu gehörte auch der Beschluss, noch lebende schrieben und den Interviewten zum Gegenlesen unzuverlässig ist und viele psychische Faktoren Zeitzeugen zu befragen und Ergebnisse in der Rei- vorgelegt. In einem weiteren Durchgang haben die In serifenloser Schrift gesetzt sind Texte, in de- über die Erinnerung entscheiden, kann es zu un- he „Lörracher Hefte” zu veröffentlichen. Eine sys- Befragten dann oft viele Erinnerungen aus ihrem nen Noe klar als Autor formuliert, zusammenfasst terschiedlichen Versionen selbst gemeinsam und tematische wissenschaftlich durchgeführte Befra- Gedächtnis „ausgegraben”. Manche Beteiligte sind und interpretiert. Davon heben sich in Normal- gleichzeitig erlebter Ereignisse kommen. Dies zeigt gung erschien angesichts des enormen Aufwandes vor der zweiten Sitzung ihre persönlichen Unter- schrift gesetzte Texte ab, in denen die Zeitzeugen auch das hier vorliegende Buch. Auch bilden sich aus finanziellen und organisatorischen Gründen lagen durchgegangen und haben Dokumente vor- als Ich-Erzähler zu Wort kommen. Diese Texte sind durch Jahrzehnte langes und häufiges Erzählen als nicht durchführbar. Möglich wurde das Projekt gelegt, die dann eingeflossen sind. Das ist auch nicht in Anführungszeichen gesetzt. Es handelt oft ausgearbeitete Geschichten heraus, die sich im zur Zeitzeugenbefragung nur, weil Hansjörg Noe anhand von Bildern aus den Alben geschehen, zu sich meist um Texte, die Hansjörg Noe im Sinne der Laufe der Zeit erst so entwickelt haben. anbot, diese umfangreiche Arbeit eigenständig und denen sie erzählt haben. Noe hat einzelne Zeitzeu- Zeitzeugen nach seinen Gesprächen ausformuliert ehrenamtlich durchzuführen. Stadtarchivar und gen bis zu vier Mal besucht. Alle befragten Perso- hat und später von diesen freigegeben worden sind. Zeitzeugeninterviews können auch dabei hel- Museumsleiter, die schon die Forschungen von Dr. nen haben am Ende die Veröffentlichung der Texte In derselben Schrift gesetzt sind außerdem Texte fen, mehr über die Vergangenheit zu erfahren, Neisen wissenschaftlich begleitet hatten, erhielten freigegeben. von Ich-Erzählern, die von Anfang an schriftlich insbesondere, wenn zeitgenössische Quellen dar- den Auftrag, dies auch für die jetzt vorliegende Pu- vorlagen und denen kein Interview zugrunde liegt. über keine Auskunft geben. Ihr größter Wert liegt blikation von Hansjörg Noe zu tun. Für das vorliegende Buch hat Hansjörg Noe nicht In kursiven Buchstaben erscheinen schließlich Tex- aber darin zu erkennen, wie ein Mensch sich aus nur Zeitzeugen, sondern bisweilen auch deren te, die aus schriftlichen Quellen unterschiedlicher heutiger Sicht an vergangene Ereignisse erinnert Die Auswahl der befragten und aufgenomme- Nachkommen befragt. Er hat außerdem schrift- Art wörtlich zitieren. Die Quellenangaben sind und mit welchen Formen von Deutung und Sinn- nen Personen ist sowohl zufällig als auch gezielt. liche Dokumente mit einbezogen, die teilweise unmittelbar bei der wiedergegebenen Quelle oder bildung er die Vergangenheit betrachtet. Wer ein Gezielt dahingehend, dass der Autor bei solchen zeitnah zum Dritten Reich entstanden sind, eben- zusammenfassend am Ende des Beitrags genannt. Zeitzeugeninterview führt, erzeugt eine historische Personen der Zeitgeschichte begonnen hat, die er so aber auch aus der Rückschau mit zum Teil er- Kurze Erläuterungen des Autors sind in eckigen Quelle und macht damit selbst Geschichte. In die- kennt, dann jene, die aus der Literatur bekannt heblichem zeitlichen Abstand. Punktuell hat Noe Klammern wiedergegeben. sem Sinne danken wir Hansjörg Noe für seinen und im Gedächtnis der Lörracher, mindestens der wichtige eigene Recherchen durchgeführt und Ar- enormen Einsatz und seinen wichtigen Beitrag zur älteren Lörracher, verankert sind; zufällig sind sol- chivalien in Archiven ergänzend ausgewertet. Im Zeitzeugeninterviews machen Geschichte leben- Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Lörrach. che Zeitzeugen interviewt worden, die im Laufe des Ergebnis liegen sehr unterschiedliche Textgattun- dig und interessant. Sie können eine wertvolle Er- Prozesses bekannt geworden sind. Die Zeitzeugen gen vor, die in einem Zeitraum von 70 Jahren, zwi- gänzung zu anderen Quellen darstellen, weil sie kommen aus allen damaligen Gesellschaftsschich- schen 1944 und 2014, entstanden sind. Auskunft über Sachverhalte geben, die dort häufig Lörrach, im August 2015 ten: Bürgertum, Kaufleute, Handwerker, Arbeiter fehlen. Dies gilt insbesondere für Erfahrungen des Andreas Lauble und Markus Moehring und Angestellte. Nicht einer, der angefragt worden Alltags.

6 7 Dreiländermuseum Lörrach I.

ER WOLLTE NICHT

MIT DEM STROM

SCHWIMMEN,

DA SCHWAMM DER

STROM MIT IHM.

Nikolaus Cybinski

8 9 Dreiländermuseum Lörrach Ich war dabei, heute schäme ich mich Ich war dabei, heute schäme ich mich

„Ich war dabei, heute schäme ich mich” Noch etwas habe ich nicht vergessen: Mein Vater Einst kommt der Tag der Rache, einmal, da werden hatte in der Wohnung eine Karte von Spanien und wir frei. Gespräche mit einem Zeitzeugen (Jhg. 1925), der ungenannt bleiben will, ab 11. Juni 2014. steckte darauf mit Fähnchen den Verlauf des Bür- Schafendes Deutschland erwache, brich deine Kette gerkrieges. Damals habe ich von den Erwachsenen entzwei. gelernt, dass national immer gut und international Dann lasst das Banner liegen, dass unsere Feinde es immer schlecht war. Kämpften doch in Spanien die sehn, Der Zeitzeuge ist mir bei einer Führung im Dreiländermuseum zum Thema „Nationalsozialis- Nationalisten gegen die Internationalen. immer werden wir siegen, wenn wir zusammen stehn. mus in Lörrach” begegnet. An dieser Führung haben viele Besucherinnen und Besucher der Ausstellung teilgenommen. Beim Thema „Aufstieg der NSDAP” hat mich der damals 89-jährige An drei Veranstaltungen in dieser Zeit habe ich Hitler treu ergeben, treu bis in den Tod. Mann unterbrochen und etwa Folgendes gesagt: Erinnerungen. Zum Kreisparteitag 1939 in Lörrach Hitler wird uns führen einst aus dieser Not. (damals habe ich nicht gewusst, was ablief) wur- Ich war gerne bei der HJ, auch beim Arbeits- Als Kinder spielten wir Krieg. Meine Helden als den wir Hitlerjungen beordert. Wir mussten in der Sagen Sie mir, was sollte ich anderes denken dienst, habe mich freiwillig zum Wehrdienst gemel- Kind waren die Soldaten. Wir haben eine Schnur Bahnhofstraße bei der Hebelschule Spalier stehen. mit meinen 10 Jahren? 1935 kam ich zum Jung- det. Dann im Krieg habe ich gemerkt, was mit uns um den Bauch gebunden, das war das Koppel, und Zum Besuch Hitlers am Isteiner Klotz (1939) sind volk und zu Weihnachten erhielt ich eine braune gemacht worden ist. Und heute schäme ich mich. einen Stock als Säbel hineingesteckt und im Wald wir freiwillig mit den Fahrrädern nach Efringen- Uniform, und ich war stolz darauf. Mit dem Jung- Burgen und Bunker gebaut. Auch in den Lesebü- Kirchen an den Bahnhof gefahren. Da waren Tau- volk machten wir viele Unternehmungen, sind zur Es ist sehr leise nach dieser Aussage ge- chern in der Schule standen viele Berichte zum sende von Menschen, und alle haben gejubelt. Beim Küssaburg gewandert und haben andere Fähnlein wesen, die alle sehr betroffen gemacht hat. Krieg mit den Franzosen. Kreisparteitag in Mülhausen 1942, dort war Robert getroffen. Unser Lehrer 1936 war beim Jungvolk Das ist der Anlass, dass ich den alten Herrn Wagner angesagt, mussten wir auch antreten. Mit Zugführer, die Propaganda, wie ich heute weiß, hat besucht habe. Er hat mir viele Stunden von Und dann die Versammlungen der SPD und der Omnibussen sind wir hingefahren worden. uns Jugendliche nicht losgelassen. 1938 sind wir sich erzählt. KPD! Da ging es immer chaotisch zu. Das machte nach Lörrach umgezogen. Dort bin ich dann in der Angst. Und wenn die NSDAP aufmarschierte, war Mein Wissen hing davon ab, was ich gehört habe, Schule dem Flugzeugmodellbau begegnet. Unser Um zu erklären, wie alles gekommen ist, muss alles geordnet. Ich erinnere mich an den 1. Mai was uns Kindern gesagt worden ist. Wirklich, mein Lehrer dort, auch ein Nationalsozialist aus Brom- ich weit zurückgreifen, bis zu meinem Vater. Er ist 1933; die Feiern haben mir ein schönes, würdiges Wissen hing von den Menschen um mich herum bach, ich weiß noch gut, wie er hieß, hat mit uns 1890 in Hagenau im Elsass geboren. Er war dort Bild vermittelt, das konnte nicht falsch sein. Beim ab, von den Eltern, vom Lehrer in der Schule und Flugmodelle gebaut, im Sarasingebäude außerhalb Gleisarbeiter bei der Bahn und hatte sich 1910 zum Aufmarsch waren die verschiedenen Berufs- und sogar vom Pfarrer. Und dann die ständigen Vorträge des Unterrichts. Das hat mich begeistert. Ich kam Militärdienst gemeldet. Er war im Ersten Weltkrieg Handwerkergruppen wohl geordnet dabei. Auch und Belehrungen im Jungvolk und in der Hitlerju- dann mit 14 Jahren zur Fliegerhitlerjugend. Mein Soldat. Nach Krieg und Gefangenschaft war er über den Reichstagsbrand wurde gesprochen. Das gend, die so genannte weltanschauliche Schulung. Lebensplan war geboren: Ich wollte beim Militär schließlich in Freiburg und hatte eine Anstellung waren alles Brandstifter, die Kommunisten, die ge- Wir hatten keinen Grund, etwas anderes zu den- zum fliegenden Personal bei der Luftwaffe und da- als Beamter beim Zoll erhalten. Er wurde an ver- gen das Neue waren. Später haben mich dann die ken. Der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes nach zur Lufthansa. Da ich kein Abitur hatte, habe schiedenen Stellen, u.a. im Zollausschlussgebiet am Rheinlandbesetzung und die Rückgliederung des war normal und stand nicht im Widerspruch zur ich mich dann später 12 Jahre beim Militär ver- Hochrhein, eingesetzt. Saarlandes stark beeindruckt. Bemerkt habe ich Ideologie der NSDAP. Ich erinnere mich an ein Lied: pflichtet, um so meinen Wunsch zu verwirklichen. auch, dass es mit der Zeit weniger Arbeitslose gege- Zu Hause war häufig die Rede von den Franzosen. ben hat, die auf der Straße waren. Und in Waldshut Brüder in Zechen und Gruben, Brüder hinter dem Der Segelflugzeugbau war gut organisiert. Die Kur- Die Familie fand es ungerecht, dass wir ins Elsass gab es dann plötzlich Soldaten in feldgrauer Uni- Plug, se fanden in Brombach in einer Werkstatt der ehe- nicht mehr zurückkehren durften. Wie bei vielen form, die Helden meiner Kindheit. Von der Olym- aus den Fabriken und Stuben, folgt uns’res Banners maligen Brombacher Mühle statt. Wir hatten prakti- unserer Bekannten wurde die Meinung vertreten, piade 1936 schwärmten alle in Waldshut, wir hör- Zug. sche Ausbildung und theoretischen Unterricht. Drei dass die deutsche Armee siegreich gewesen und ten Berichte im Rundfunk. Das Überfliegen des Prüfungen über Materialkunde bis zu flugfähigen bis vor marschiert sei und Deutschland nur Hochrheins durch den Zeppelin war die Sensation. Börsengauner und Schieber knechten das Vaterland. Werkstücken wurden abgenommen. Nachdem ich durch die Aufstände 1918 den Krieg verloren habe. Und dann die Eingliederung Österreichs ins Reich, Wir wollen ehrlich verdienen, leißig mit schafender schulentlassen worden war, machte ich eine Lehre Die Dolchstoßlegende war für uns keine Legende. darüber sprachen alle. Auch von der Reichskristall- Hand. im Metallfach. Einen Gewerbeschullehrer hatte ich, Aufgrund seines Schicksals war mein Vater dem na- nacht habe ich gehört, aber da haben alle um mich wie ich heute weiß ein ehemaliges Mitglied der SPD, tionalistischen Gedankengut sehr aufgeschlossen. herum die Meinung vertreten, dass das den Juden Hitler ist unser Führer, ihn lohnt nicht goldener Sold, aber auch der sagte zu uns nichts über das Hitlerre- Später trat er als Zollbeamter der NSDAP bei. schon recht geschehe. der von den jüdischen Thronen vor seine Füße rollt. gime, konnte wohl nichts sagen, um zu überleben.

10 11 Dreiländermuseum Lörrach Ich war dabei, heute schäme ich mich Ich war dabei, heute schäme ich mich

Meinen Wunsch, Flieger zu werden, habe ich Zur Luftwaffe habe ich mich, wie schon gesagt, weiter verfolgt. Zu allen drei Stufen der Flugaus- freiwillig gemeldet, bin dann nach der Gesellenprü- bildung und des Segelflugscheins mussten vorher fung im Juni 1943 eingezogen worden. Den dreimo- 30 Arbeitsstunden geleistet werden. Meine Segel- natigen Reichsarbeitsdienst habe ich zuerst in Salz- flugübungen machte ich in Gersbach am Wochen- burg abgeleistet. Aber sehr schnell hat sich der ende; das war freiwillig und nur im Sommer und Spaten in ein Gewehr verwandelt. Ich wurde an die nur, wenn es nicht regnete. Diese Ausbildung war Küste nach Frankreich verlegt und der Küstenwache sehr erfolgreich. Übrigens war der Weg von Lörrach zugeteilt. Auch meine Rekrutenausbildung und die nach Gersbach ein Abenteuer. Wir sind samstags so genannte Frontbewährung waren in Nordfrank- mit dem Zug über Schopfheim nach Hasel gefah- reich. An vielen Orten war ich im Krieg, auf das alles ren, dann nach Gersbach hoch gelaufen und sonn- will ich jetzt nicht eingehen. Wichtig ist mir heute tags das Gleiche wieder zurück. Das hat uns nichts die Frage, warum ich so lange gebraucht habe, bis ich eingesehen habe, welchem Staat ich denn diene.

Ein paar Hinweise gab es schon, die mich hät- ten stutzig machen können: So bin ich einmal beim RAD [Reichsarbeitsdienst] an der Küste während einer Alarmstufe „Rot“ eingeschlafen. Ich war knapp 18 Jahre alt und völlig erschöpft. Ein Feldmeister hat mich erwischt und Meldung gemacht. In einem Verhör wurde mir mit Kriegsgericht gedroht. Nur der Leiter des Verhörs schickte mich weg und mein- te, der sei ja zu jung und zu dumm, um zu wissen, was ein Kriegsgericht bedeutet.

In einer anderen Zusammenkunft sollten wir Jun- gen zur SS gezwungen werden. Nur mein Wehrpass zur Luftwaffe rettete mich. Mein Wunsch war die Wehrmacht, zu den Soldaten zu gehören, nicht zu einer Polizeitruppe wie der SS. Einmal war ich Segellieger-Modellbau im Sarasingebäude. in der Klinik in Oranienburg zur Untersuchung Kriegsgefangenenlager Bretzenheim. (Süddeutsche Zeitung) (privat) meiner Lunge. Ich hatte schlechte Blutwerte, und man wusste nicht, woher die kamen. Lungenent- zündung oder gar Tuberkulose waren gefährlich. Nauheim, größte Lazarettstadt damals, dort dann in wurde die Genfer Konvention umgangen und es ausgemacht, wollten wir doch nur unserem Hobby Dort in Oranienburg sah ich KZ-Häftlinge in ihren amerikanische Gefangenschaft am 15. März 1945. gab keine Kontrolle durch das Rote Kreuz. nachgehen. Meinen Segelflugschein habe ich nach gestreiften Jacken und Hosen. Ich wusste schon, Wir Gefangenen landeten schließlich alle im ame- Kursen an anderen Orten 1943 abgelegt. dass es Konzentrationslager gab, aber in meiner rikanischen Kriegsgefangenenlager in Bretzenheim Das Lager in Bretzenheim war ein riesiges Gelände damaligen Denkweise glaubte ich, dass die Insas- nahe Bad Kreuznach. mit Stacheldraht umzäunt. Es war in Bezirke einge- Und dann der Krieg. Den Kriegsbeginn hat un- sen rechtskräftig verurteilt seien. Über die Zustände teilt. Diese durfte man nicht wechseln. Wir Gefan- sere Familie während eines Besuchs in Laufenburg dort wusste ich nichts. Im dortigen Lager wurden 90 000 bis 100 000 genen waren in Gruppen zu 10 Mann eingeteilt, die erlebt. Wie gesagt, meine Mutter stammt aus Lau- Soldaten festgehalten. Die Amerikaner stuften zusammen auch die magere Essensration erhielten, fenburg. Was ich bemerkt habe, dass die Erwachse- Gegen Kriegsende wurde ich in der Eifel verwun- uns als entwaffnete Feindkräfte (Disarmed Enemy anfangs nur kaltes, oft rohes Essen. An Pfingsten gab nen doch recht bedrückt waren, als sie vom Kriegs- det, ein Granatsplitter traf mich im Unterschenkel. Forces, DEF), nicht als Kriegsgefangene ein. So es erstmals Brot, ein amerikanisches Weißbrot für beginn erfuhren. Damit haben sie nicht gerechnet. Ich kam zuerst in ein deutsches Lazarett in Bad 50 Mann. Um Wasser zu bekommen, musste im-

12 13 Dreiländermuseum Lörrach Ich war dabei, heute schäme ich mich Ich kenne viele, die dabei waren...

mer einer von unserer Gruppe in der Warteschlange Das Mahnmal heute im Lager Bretzenheim „Ich kenne viele, die dabei waren und sich heute als warten, bis der Wasserwagen kam. Im ganzen Lager nennt das Lager „Feld des Jammers“. Es ist konnte man nur noch zwischen dem Stacheldraht allen in Gefangenschaft verstorbenen deut- Demokraten gebärden” Gras finden; wir aßen sogar Gras. Im gesamten La- schen Soldaten zum Gedenken gewidmet. ger gab es kein Zelt, keine Baracke. Wir waren je- In einem Informationsblatt der Gedenkstätte Gespräche mit Hans Peter Roth (Jhg. 1930) ab 18. Juni 2014 und danach notiert. Am 22. Februar 2015 dem Wetter ausgesetzt. Einer unserer Gruppe hatte heißt es: hat Hans Peter Roth das mit ihm geführte Gespräch nochmals selbst schriftlich gefasst. eine Wehrmachtszeltplane. Daraus bauten wir uns einen Windschutz. Gegen die Kälte legten wir uns Das Mahnmal an der Bundesstraße 48 zwischen nach dem System „Löffelchen“ in eine Mulde zum Bad Kreuznach und Bretzenheim wurde 1966 unter Schlafen. Körperpflege, Wäsche, Kleider wechseln Mitwirkung der ganzen Bevölkerung der Umgebung Auf dem Salzert bei Hans Peter Roth: Wir haben uns zum Interview verabredet. Er ist zunächst war Fehlanzeige. Wegen des Einsatzes von DDT- eingeweiht. Es steht für das weit über die Grenzen beim Verabreden des Termins skeptisch gewesen. Er will wissen, in wessen Auftrag ich handle Pulver gab es kein Ungeziefer. Wer arbeiten wollte, Deutschlands bekannte Kriegsgefangenenlager Bret- und welche Gründe es sind, nach so langer Zeit Zeitzeugen zu befragen. ging nach dem Zählappell ans Eingangstor. Mit et- zenheim, das von Ende März 1945 bis 31. Dezember Die Absicht ist Hans Peter Roth bekannt. Hat er doch im Umfeld der Ausstellung zu „Lörrach was Glück wurde man ausgewählt; das hieß auch, 1948 auf diesem Gelände bestanden hat als direkte und der Nationalsozialismus” die Diskussion als aufmerksamer Mitbürger mitbekommen und zusätzliches Essen zu bekommen. Mitte August Folge des von Nazi-Deutschland begonnenen Zweiten sich daran beteiligt. Er hat natürlich auch erfahren, wie er angefeindet worden ist. Es wundert wurden 22 Männer bestimmt, die in einer Kaserne Weltkriegs. Das weite, bis zu den Weinbergen reichende ihn, dass er als Nationalsozialist eingestuft wird und nicht alle Demokraten, die sich so nennen, in Bad Kreuznach arbeiten sollten. Ich war dabei; Gelände hinter und beidseits des Mahnmals hatte eine Demokratie praktizieren. Roth sieht sich nicht als Verteidiger der Zeit, „aber manches muss danach musste ich nicht mehr ins Lager zurück. Ausdehnung von ca. 400 ha und war in 24 Camps ein- doch wahr bleiben, was wahr ist”, so formuliert er. Und er hat etwas gegen jene, die damals Dort konnte ich sogar auf einem Strohsack in einem geteilt und war zeitweise mit ca. 110 000 Gefangenen Mitläufer gewesen sind und sich heute als Gegner des Nationalsozialismus positionieren. Da ist Haus schlafen und wieder auf einem Stuhl sitzen. belegt. Zeitweise waren auch Frauen (Rotkreuzschwes- Hans Peter Roth radikal, auch mit sich. tern, Wehrmachtshelferinnen) unter freiem Himmel im Hans Peter Roth hat am 22. Februar 2015 das mit ihm geführte und von mir zusammengefass- Ich war 20 Jahre alt, 1,80 m groß und wog 48 Lager untergebracht. Das Lager stand bis zum 10. Juli te Gespräch nochmals selbst niedergeschrieben und mir folgenden Text übergeben: kg. 18 000 Mann sollen in Bretzenheim verhungert 1945 unter amerikanischer Verantwortung und wurde sein. Dann wurden wir den Franzosen nach der danach vom französischen Militär übernommen. Zu Ich bin 1930 in Lörrach geboren, also bei Hitlers Basler „Trämlis“ und landete für längere Zeit mit Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen über- diesem Zeitpunkt war das Lager auf ca. 30 ha verklei- Berufung zum Reichskanzler eben mal drei Jahre alt. Oberschenkelbrüchen im Krankenhaus. Außer un- geben. Dort ging es mir besser, weil ich eine Arbeit nert als Durchgangs- und Entlassungslager geführt. Mein Vater, infolge schlimmer Kindheitserlebnisse seren Nachthemden, in denen wir gerettet wurden, erhielt. Ich habe mich sogar ein Jahr als Freiarbeiter Unzählige Gefangene durchliefen dieses Lager, teils um ein junger radikaler Sozialist, verließ 1916, neun- hatten wir nichts mehr; meine Mutter war mit ihren in einem Stahlwerk in Innerfrankreich verpflich- nach Frankreich zur Zwangsarbeit deportiert oder um zehnjährig, seine Familie und seine Heimatstadt drei Kindern allein. tet. Das war 1948. Diese Verpflichtung als Arbeiter in die Heimat entlassen zu werden. Wie viele Gefangene Basel und meldete sich freiwillig zum kaiserlichen stellte mir in Aussicht, einen festen Entlassungster- durch Hunger, Gewalteinwirkung, Seuchen und Krank- Heer. Im Baltikum erlebte er nach der Kapitulation In dieser schweren Not erfuhren wir drei Helfer. min genannt zu bekommen. heiten während der Gefangenschaft im Lager ums Leben als Freikorpskämpfer den Sozialismus der Sowjets. In der Turmstraße lebte eine Familie Dähne, beken- kamen, wird sich nie feststellen lassen. Nach Schätzung Als geläuterter Sozialist zurück, suchte er seine neue nende Nationalsozialisten. Sie nahmen meine Mut- In französischer Gefangenschaft nun gab es für des Bretzenheimer evangelischen Pfarrers Max Dell- Heimat in Lörrach, da ihm die alte, Basel, verwehrt ter und uns Kinder auf. In unserer Nachbarschaft die Gefangenen, die versammelt wurden, Aufklä- mann sind während der amerikanischen Lagerleitung blieb. Ich war im dritten Lebensjahr, als er 1933 an führte der Jude Bodenheimer ein Schuhgeschäft. Er rung über den NS-Staat. Man zeigte uns Filme, lang- bis zu 4500 Menschen gestorben. Blutvergiftung und Wundstarrkrampf verstarb. stattete meine Mutter und meine Schwestern mit sam, auch aufgrund der ständigen Angst im Krieg, Quelle: Dokumentationszentrum und Ausstellung, Kriegsgefangenen- Schuhen aus; ich brauchte keine, ich hatte meine den Strapazen, die wir durchmachten, dämmerte es lager Bretzenheim bei Bad Kreuznach, Text auf einzelnen Blättern o. J.: Vier Wochen nach seinem Tod brannte mitten in Beine in Gips. Der jüdische Arzt Dr. Moses be- VdH-Kreisverband Bad Kreuznach mir. Ich habe lange gebraucht, die Wahrheit über der Nacht das damalige Hansa-Haus nieder; heu- handelte uns gratis und ohne Krankenschein. Der die Gräuel und Verbrechen des NS-Regimes zu ak- te steht dort das Hotel „Drei König“. Meine Mut- evangelische Dekan Barner vermittelte uns eine zeptieren. Ich glaubte ja, wir seien die Guten, die ter musste ihre drei kleinen Kinder aus unserer Mansardenwohnung im neuen Pfarrhaus in der Anderen aber die Bösen. Dass dies umgekehrt war, Mansardenwohnung vier Stockwerke tief in das Hindenburgstraße (Teil der heutigen Haagener Stra- ließ mich in ein tiefes Loch fallen. Nun kann ich Sprungtuch der Feuerwehr werfen und selbst hin- ße). Das dort lebende ältere Pfarrerehepaar Schnei- darüber sprechen und bin froh darüber. Aber ich terher springen. Ich stürzte bei meinem Fall auf die der brauchte Hilfe, die von meiner Mutter gewährt schäme mich doch, ich war wirklich verblendet. Fahrstromleitung des damals in Lörrach fahrenden wurde, eine Miete entfiel dafür. An diesem „Hilfs-

14 15 Dreiländermuseum Lörrach Ich kenne viele, die dabei waren... Ich kenne viele, die dabei waren...

Männer durch unsere Reihen, machten die eine oder andere Bemerkung, und auf Hinweis der beiden Leh- rer wurden Namen notiert; es traf mich und sechs andere Schüler. Auffällig war, wir waren alle blond und blauäugig, und wir waren überdurchschnitt- lich gute Schüler. Als erstes erfolgte eine seltsame körperliche Untersuchung. Zwei weiß gekleidete Männer, wohl ein Arzt mit einem Helfer, maßen an unseren Köpfen und tasteten diese ab. Später erfuhr ich, dies sei eine Überprüfung gewesen, ob unsere Köpfe eine slawische oder nordische Abstammung verrieten. Ich gehörte zu den fünf „Nordischen”. Nach einer sportlichen Prüfung waren wir nur noch zwei. Und die zwei uniformierten Männer waren der Schulleiter Dr. Hofmann sowie der Hundert- schaftsführer Fritz, ein Klassenlehrer der NAPOLA (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) Reichenau Das Hansahaus nach dem Brand im August 1933. Die Brandopfer bedanken sich bei den Helfern der am Bodensee. Dorthin wurden wir zu einer Prü- Gebäude der NSDAP-Kreisleitung an der Ecke Bad- Mit Kreuzchen markiert: Die ausgebrannten Man- Feuerwehr. fungswoche eingeladen, die meine Mutter für mich straße (heute: Senser Platz) und Adolf-Hitler-Straße sarden-Wohnungen der Familien Pfaff und Roth. (StALö 5.4.3 Feuerwehr) annahm. Der Vater des anderen Eingeladenen lehnte (heute: Tumringer Straße). (StALö 5.4.3 Feuerwehr) für seinen Jungen ab. Ich bestand, war nun fast ein (StALö Zü 19.56.21; Foto: E. Zürcher) Jahr in Reichenau, danach wurde ich dann nach Ber- lin in die ehemalige Reichskadettenanstalt Spandau programm” beteiligte sich der Staat mit monatlich In der Schule, Religionsunterricht, die aufregen- versetzt. Von dort holte mich meine Mutter wegen einem Nachtangriff entlang der Schweizer Grenze 28,10 RM Waisenrente, Witwenrente gab es keine. den Geschichten des Alten Testaments! Nach einer zunehmender Luftangriffe auf die Reichshauptstadt an den Rhein vor. Ich war bei Vesoul einquartiert. solchen Stunde kam dann wieder unser Klassenleh- zurück. „Dienstlich”, „offiziell” war ich meiner Mut- Mit einem Kameraden zusammen gelang es uns, auf In dieser schon noblen Nordstadt mit gut situier- rer, ein fanatischer Judengegner mit entsprechender ter sehr lange sehr böse, im Herzen dankbar für die nächtlichen Schleichwegen den Rhein zu erreichen ten Bewohnern waren wir schiere Exoten, erfuhren Hetze über die vorherige Religionsstunde. Mein Erlösung von riesengroßem Heimweh. und mit einem der letzten Sturmboote von Hünin- aber auch manche Hilfe. Mancher Rock, aus dem Seelenleben wurde recht strapaziert. Unsere Helfer: gen nach Friedlingen überzusetzen. eine Bankierstochter entwachsen war, bekam eine Nationalsozialisten – Uniformen, Märsche, Fahnen, So war mein Weg vom kleinen, schwer verletzten meiner Schwestern, der schwarze Samtanzug des Olympia in , alles unterm Hakenkreuz – ein Buben zum strammen Hitlerjungen, erzogen mit Ab Oktober 1944 erließ Martin Bormann die Aus- Sohnes eines Arztes machte mich eitel. jüdischer, helfender Kaufmann und ein jüdischer allen ideologischen und politischen Konsequenzen. führungsbestimmungen des Volkssturms, einer mili- Arzt, zudem ein evangelischer Dekan mit dem tärischen Formation aller waffenfähigen Männer von 1938 kam eine junge Pfarrerfamilie nach Lörrach, Kreuz auf der Brust – drei große Helfer für unsere Mitte 1944 bin ich wieder in Lörrach und wieder 16 bis 60 Jahren. Obersturmbannführer der Waffen- und wir mussten unsere Wohnung verlassen. Unse- Familie, die nicht miteinander auskamen. Das ver- an meiner alten Schule. Schon im August werde ich SS Kurt Rahäuser war nach Lörrach gekommen, um re neue Bleibe war eine bescheidene Wohnung: zwei stand ich nicht, ich liebte alle drei. an die Gebietsführerschule ins Elsass nach Mülhau- den Aufbau der Wehrwölfe zu organisieren. In der Zimmer und Küche, kein Bad, ein Plumpsklo am sen-Riedisheim geschickt. Die Schule war in einer Standortkommandantur waren noch Major Pfeil, Ende einer Laube in Gemeinschaft mit zwei weite- Dann mein „Eintritt in die Geschichte“. Ich be- ehemaligen großen jüdischen Villa untergebracht. Standortkommandeur, Kreisleiter Grüner und Rein- ren Familien. Gegenüber der Flachsländer Hof, ein suchte die Sexta im Hans-Thoma-Gymnasium, Die Front kam näher. September wird der Schulbe- hard Boos, Bürgermeister in Lörrach. schöner Bau mit einem prominenten Bewohner: amtlich damals „Oberrealschule für Jungen“ mit trieb eingestellt. Dem letzten Einsatz zur Kartoffel- Hermann Burte. Als ich von seiner Bedeutung er- inzwischen recht vielen Mädchen. Alle Quint- und ernte folgte die Ausbildung mit Handfeuerwaffen, Die Frage Rahäusers, ob ich Motorrad fahren fuhr, grüßte ich ihn mit „Herr Dichter”, was meinem Sextaner Lörrachs traten an einem Nachmittag ge- Karabiner 98, MG 43 und auch an der Panzerfaust. könne, beantwortete ich wahrheitsgemäß mit „Ja- blonden Lockenkopf ein freundliches Streicheln ein- gen Schuljahresende in unserem Schulhof an. Die Wir sollten gegen Partisanen eingesetzt werden; das wohl”! Eine Viktoria 198 wurde mir zur Verfügung brachte. jeweiligen Klassenlehrer führten zwei uniformierte blieb uns erspart. Französische Truppen stießen in gestellt; ich sollte als Kurier- und Meldefahrer zur

16 17 Dreiländermuseum Lörrach Ich kenne viele, die dabei waren... Ich kenne viele, die dabei waren...

Verfügung stehen. Die Dienststelle war im Hause le der Familie Boos zurückgegeben. Wie ge- schwinden, während der Boos Hardi immer in Lörrach von Lörrach strafversetzt werden. Beides hat Herr Boos der Kreisleitung, eben der Standortkommandantur sagt, merkt Roth an, die beglaubigten Kopi- ist und mal dafür geradestehen muß für das, was heute verhindert, obwohl er wusste, dass ich kein Parteigenosse am heutigen Senser Platz. Ich hatte wöchentlich en stammten von der Familie Boos oder von passiert, obwohl er mit der ganzen Reichskristallwoche 6 war. Als ich im Jahre 1944 durch Kreisleiter Grüner aufs zwei bis drei Dienstfahrten zum Isteiner Klotz, ei- Stadtarchivar Hoog. Roth geht davon aus, nicht einverstanden ist. Denn sehen Sie, nicht allein, Neue ein Schreibverbot erhielt, trat Herr Boos erneut für nem zentralen Bunker am Westwall. In der Kom- dass diese im Stadtarchiv liegen. Zugang dass uns dieser ganze Unfug innenpolitisch ungeheueren mich ein. Dies war zwar ohne Erfolg, aber wenigstens mandantur war ich täglich mit den maßgeblichen habe er keinen erhalten.4 Seine Dokumenta- Schaden zufügt, sind uns diese Vorgänge außenpolitisch mit der Wirkung, dass ich gegen die Angrife der Gesta- Männern zusammen und lernte sie dabei recht gut tion habe niemanden interessiert. ein ständiger Angrifspunkt, der nicht zu bagatellisieren po und gegen die Maßnahmen des Kreispropagandalei- kennen, von denen in allen Bereichen Bürgermeis- In einem Schreiben an Oberbürgermeiste- ist. Jedenfalls macht man mit solchen Kindereien keine ters, der sich durch mich wegen meiner Stellungnahme ter Boos die angenehmste Person war, stets höflich rin Heute-Bluhm vom 12. Januar 2014 zitiert Politik.” in der Judenfrage verletzt fühlte, geschützt war. Auch und korrekt. Roth die Oberbürgermeisterin, dass das Ziel Selbstverständlich kann ich diese Äußerungen des der Aufarbeitung (Boos in der Zeit des Nati- Herrn Boos nur ungefähr wörtlich wiedergeben. Ich Diese Parteibonzen, wie ich sie heute nenne, sind onalsozialismus) sei, „der dokumentarischen habe aber im Verlauf des Winters 1939/40 (zur dama- alle nach dem 21.4.1944 verschwunden, Boos ist Ehrlichkeit Rechnung zu tragen, aber den ligen Zeit war ich als Leiter des Ernährungs- und Wirt- noch da. Mit etwa 20 Volkssturmmännern hat er Charakter einer Ehrung zu vermeiden”. Et- schaftsamtes im Dienste der Stadt Lörrach) mehrmals den Befehl erhalten, Lörrach bis zum letzten Mann was anderes habe er nie verlangt mit seinen Gelegenheit gehabt, mit Herrn Bürgermeister Boos mich zu verteidigen. Hätte Boos das nicht gemacht, wäre Einlassungen über Reinhard Boos. Hanspeter über politische Geschehnisse zu unterhalten und hatte er wahrscheinlich von den Scharfmachern vor de- Roth im Gespräch: damals und habe heute noch den Eindruck, dass Herr ren Verschwinden noch erschossen worden. Boos ein aufrechter Nationalsozialist war, der aber, des- Von zwei Belegen aus meiner Dokumentation sen ungeachtet, in sehr vielen Dingen anderer Meinung Soweit die Niederschrift von Hans Peter möchte ich, dass sie aufgenommen werden, weil sie war, als dies von Berlin bzw. Karlsruhe aus befohlen Roth. Aus dem Gespräch mit ihm am 5. Juli sowohl die persönliche Seite aufzeigen, aber auch war. Ich weiß auch aus seinen damaligen Schilderungen, 2014 kann ich Folgendes ergänzen: die Situation in Lörrach widerspiegeln. Darum geht daß er persönlich eben wegen dieser eigenen Meinungen Natürlich sei Reinhard Boos ein Nationalso- es ja.5 große Schwierigkeiten hatte bei Gauleiter Wagner. Im zialist gewesen, meint Hans Peter Roth, Boos Verlaufe dieser Unterredung kam Herr Boos wieder- habe der Partei vertraut. Was Roth in dem Der Architekt Eugen Lacroix aus Villingen holt auf das Judenproblem zu sprechen und wiederhol- halben Jahr sehen und erleben konnte, das gibt am 18. April 1949 eine eidesstattliche te mehrmals seine Meinung über Judenverfolgung und sei gewesen, dass Boos mit den Menschen Erklärung im Rahmen des politischen Säube- Synagogenzerstörung im obigen Sinne. Daher ist mir um ihn herum angemessen umgegangen sei. rungverfahrens von Reinhard Boos ab: auch nach 11 Jahren noch ungefähr der obige Wortlaut Deshalb habe er, Roth, es nach dem Krieg als in Erinnerung. Die am 10. November 1938 zerstörte Synagoge in seine Plicht empfunden, Belege und Zeugen Am Abend des Tages der Zerstörung der Synagoge in Villingen, den 18. April 1949, Eugen Lacroix Lörrach. (DLM Fo 237a) zu suchen, die seine persönliche Erfahrung Lörrach im November 1938 betrat ich die Gaststätte am (Quelle: privat) bestätigen. Roth indet es unerträglich, dass Bahnhof in Lörrach und traf am so genannten Stamm- nur einseitig bzgl. der nationalsozialistischen tisch den damaligen Bürgermeister Boos zusammen mit Alfred Holler, Lehrer am Hebel-Gymnasium, bei anderen Amtshandlungen habe ich Herrn Boos als Vergangenheit von Boos geforscht und re- dem Ortsgruppenleiter Glünkin u. a. m. Schon gleich gibt am 28. August 1946 nachstehende Er- einen recht und wohlwollend denkenden Mann kennen cherchiert und nichts zu seiner Entlastung nach der Begrüßung frug mich Herr Boos, was ich von klärung ab: gelernt. Er trat großzügig auch für Nichtparteigenossen vorgetragen worden sei.3 der Zerstörung der Synagoge halte, und als ich ihm mei- ein, wenn er ihre Sache für vertretbar fand. Roth hat, so seine Aussage, über 22 Belege ne Missbilligung ausdrückte, erklärte mir Herr Boos Herr Reinhard Boos ist in seiner Eigenschaft als Bür- Lörrach, den 28. August 1946, gez. Alfred Holler, gefunden, die eine andere Seite des ehemali- wörtlich folgendes: „Sehen Sie, Herr Lacroix, da sitze germeister der Stadt Lörrach mehrmals tatkräftig und Professor am Hebelgymnasium. gen Bürgermeisters aufzeigen, auch Belege, ich nun als Bürgermeister an der Spitze der Gemeinde erfolgreich für mich eingetreten. Als kultureller Mitar- (Quelle: privat) die über Hilfe für Verfolgte durch Boos berich- und weiß von den ganzen Vorgängen in der Stadt nicht beiter des Oberbadischen Volkblattes und der Badischen ten. Sie stammten mehrheitlich von der Fa- mehr, als irgend ein anderer Einwohner, muss aber eines Presse hatte ich verschiedentlich Zusammenstöße mit milie Boos selbst, die diese Dokumente dem Tages dafür den Kopf hinhalten. Ein Kreisleiter Blank der Kreisleitung und dem Kreispropagandaleiter wegen ehemaligen Stadtarchivar Hoog überlassen kam und ging, ein Kreisleiter Allgeier ist zwar im Au- meiner der Partei unbequemen Berichterstattung. Ein- hat. Der habe diese kopiert und die Origina- genblick da, wird aber auch wieder von Lörrach ver- mal sollte ich von der Gestapo verhört, ein anderes Mal

18 19 Dreiländermuseum Lörrach Das sind halt Soldatenspiele bei der Hitlerjugend Das sind halt Soldatenspiele bei der Hitlerjugend

„Das sind halt Soldatenspiele bei der Hitlerjugend” hen und sind dann auf sie los gestürmt. Wir haben bei Bürgermeister Wilhelm Neef, der im Zuge mit Schild und Schwert Zweikämpfe ausgefochten. der Gleichschaltung Bürgermeister Gümpel Gespräch mit Max Heidenreich (1922- 2014) am 25. September 2014. Der Zeitzeuge ist im November Manchmal hat es blaue Flecken und zerschürfte 1933 abgelöst hat. Obwohl Neef Parteigenos- 2014 verstorben. Hände gegeben. Das sind halt Soldatenspiele gewe- se ist, fragt er nach, ob er sich das gut über- sen, quasi vormilitärische Ausbildung. legt habe. Die militärische Ausbildung erfährt Heidenreich in Freiburg, schon nach einem Nach der Schulentlassung besucht Max Jahr Ausbildung werden er und andere an In der Markgrafenstraße in Lörrach-Haagen wohnt das Ehepaar Heidenreich. Max Heidenreich Heidenreich die Winterschule, eine landwirt- den Atlantik bei Saint-Nazaire befohlen. Dann und Liselotte Heidenreich empfangen mich in der guten Stube. Max Heidenreich ist viele Jahre schaftliche Schule in Schopfheim. Dorthin erhält das ganze Bataillon, in dem er Dienst Ortsvorsteher in Lörrach-Haagen gewesen. Er berichtet: fährt er meist mit dem Fahrrad. Er arbeitet verrichtet, den Einsatzbefehl nach Russland. zunächst beim Vater im landwirtschaftlichen Bis etwa 30 km vor Moskau führt ihn der Im Jahr der Machtübernahme Hitlers war ich 11 aber kann sich Max Heidenreich noch sehr gut Betrieb, kurze Zeit auch in der Milchzentra- Krieg. Heidenreich wird dreimal verwundet, Jahre alt und ging in Haagen in die Schule. Aus der erinnern: le in Lörrach nahe dem Rosenfelspark. 1940 schließlich ist er nicht mehr im „Kriegsdienst” Schulzeit ist mir am besten in Erinnerung, dass je- wird Max Heidenreich 18 Jahre alt. Der Krieg verwendungsfähig. Nach Aufenthalten in La- den Samstag schulfrei gewesen ist. Da hat es keinen Das war wie bei den Pfadfindern heute. Wir haben ist schon ein Jahr alt, der Feldzug gegen zaretten wird er Ende 1944, mittlerweile erst Unterricht gegeben, aber politische Erziehung. Und Geländespiele gemacht, oft auf der Röttler Burg. Die Frankreich eben vorbei, Waffenstillstand ge- 22 Jahre alt, zum Ausbilder der Volkssturm- der Hitlergruß war üblich. Aber mein Vater war Tumringer Hitlerjugend ist unser Gegner gewesen. schlossen im Juni 1940 im Wald von Com- leute in Brombach. In der Gewerbeschule in nicht in der Partei, er war neutral. Aus Werbeschildern, die an den Zäunen angebracht piègne. Der junge Mann meldet sich freiwillig der Bündtenstraße ist die Ausbildungsstätte. waren, haben wir Ritterschilde gebastelt, aus Latten zum Kriegsdienst. Heidenreich heute: „Das Zu den zum Volkssturm auszubildenden Was das nun heißt, der sei neutral gewesen, Speere und Schwerter. Vom Wehrgang auf der Burg war klar!” Vater Heidenreich begleitet seinen Männern gehören die Jahrgänge 1928/1929, weiß er nicht einzuordnen. An die Hitlerjugend haben wir die Tumringer von Rötteln anrücken se- Sohn zum Rathaus in Haagen, sie melden sich also junge Leute, die nur 6 Jahre jünger sind.

Bildunterschrift

Aufmarsch der Hitlerjugend Lörrach. (StALö Zü 21.7; Foto: E. Zürcher) „Soldatenspiele”: Hitlerjugend mit Gasmasken am Bahnhofsplatz Lörrach. (StALö Zü 19.56.16; Foto: E. Zürcher)

20 21 Dreiländermuseum Lörrach Das sind halt Soldatenspiele bei der Hitlerjugend Lieder, die mir nicht aus dem Kopf gehen

„Lieder, die mir nicht aus dem Kopf gehen”

Gespräch mit einem ungenannt bleiben wollenden Zeitzeugen (Jhg. 1922) am 18. August 2014.

Als ich den alten Herrn zu Hause aufsuche, geht er gleich an seinen Bücherschrank, holt das Buch „Hitlers Kinder” von Guido Knopp heraus und ein ganzes Bündel von Liederbüchern aus der Zeit des Dritten Reiches. „Dass ich das einmal gesungen habe, kann ich mir fast nicht ver- zeihen. Aber wir wussten es nicht besser.”, merkt er an. Die Lieder kann der Zeitzeuge heute noch fast alle aufsagen. Was er nicht mehr auswendig weiß, schlägt er nach. Er gibt mir die Liederbücher mit, „damit Sie den Text richtig aufschreiben!” Er erzählt:

Das Buch von Guido Knopp hat mich sehr be- Bei den Sternen steht, was wir schwören. eindruckt. Es ist für mich Erinnerung und Aufklä- Der die Sterne lenkt, wird uns hören. rung: Erinnerung, weil ich auch zu Hitlers Kindern Eh der Fremde dir deine Kronen raubt, gehört habe, und Aufklärung, weil ich jetzt erst die Deutschland, fallen wir Haupt bei Haupt. Zusammenhänge erkenne. Ich bin in dem Geist der Hitler-Ideologie erzogen worden. Die Verant- Auch die Führer des Jungvolks und der HJ wuss- wortlichen in der Schule und in der Hitlerjugend ten uns mit Liedern zu begeistern. Ein Refrain: (HJ) haben meine Fähigkeiten erkannt und mich für Führungsaufgaben vorbereitet. Dazu muss man Unsere Fahne lattert uns voran, Segellieger auf dem Übungsgelände am Bergkopf in Gersbach. (privat) sportlich gewesen sein und fähig, klare Komman- in die Zukunft zieh’n wir Mann für Mann. dos geben zu können. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not. Heidenreich bildet sie mit anderen auch an Kaum zu Hause, es war wohl Anfang 1945, wur- Da ist die Laufbahn gleich vorherzusehen. Im Mit der Fahne der Jugend Panzerfäusten und Maschinengewehren aus. de ich zwangsrekrutiert. Im Wehrertüchtigungs- Jungvolk hat es bei mir noch nicht gereicht, auch für Freiheit und Brot. Ein militärischer Lehrgang umfasst 14 Tage lager in Brombach wurden wir ausgebildet. Mein weil mein Vater der Hitler-Bewegung abseits gestan- Uns’re Fahne lattert uns voran, und etwa 12 Volkssturmleute. Dort erlebt Ausbilder war Max Heidenreich aus Haagen. Wir den hat. Meine Eltern wollten mich aus politischen uns’re Fahne ist die neue Zeit. Heidenreich auch den Angriff auf den Bahnhof lernten mit Panzerfäusten schießen und mit Sturm- Gründen zurückhalten. Mein Vater war nur in der Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit. in Brombach bzw. auf die dortigen Fabriken gewehren bzw. Maschinengewehren umgehen. Die NSDAP, ist ja als Bahnbeamter nicht anders möglich Ja, die Fahne ist mehr als der Tod. Teves und Schöplin. Die Flugzeuge kommen Ausbildung war hart. Wir mussten spuren, bei poli- gewesen, meine Mutter nur beim Roten Kreuz. im Tieflug von Schopfheim her. Es ist der 24. tischen Vorträgen durfte niemand einschlafen, und Über die Texte haben wir uns keine Gedanken Februar 1945, 46 Menschen werden getötet, wem das dennoch passierte, der wurde am Brunnen In der Schule hat ein Lehrer, ein glühender An- gemacht und zum Teil unmögliche Texte gesungen. viele verletzt. Die Druckwelle habe ihn an die mit kaltem Wasser abgeduscht. hänger Hitlers, mich und die anderen Kinder beein- Bei vielen Veranstaltungen habe ich Gedichte und Wand gedrückt, meint der Zeitzeuge. flusst und auch begeistert. Es sind die Gedichte und Sprüche vorgetragen, so zum Beispiel: Die letzten Kriegstage erlebt Max Hei- Lieder gewesen, die wir aufgesagt haben, in denen Bei meinen weiteren Recherchen bin ich auf denreich in Bludenz/Vorarlberg. Als sich die sich die ganze Ideologie spiegelt. Einige Beispiele: Lass mich geh’n, Mutter, lass mich geh’n! einen Zeitzeugen in Maulburg gestoßen, der Wehrmacht aulöst, fährt er mit einem Kom- All das Weinen kann uns nichts mehr nützen, zu Max Heidenreichs auszubildenden jungen paniefahrrad von dort nach Haagen. Er habe Heilig Vaterland! In Gefahren denn wir geh’n, das Vaterland zu schützen! Männern in Brombach gehört hat. Er hat mir Glück gehabt, dass er nicht erwischt worden Deine Söhne sich um dich scharen. Deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen: am 1. Oktober 2014 erzählt: sei, dass er Zivilkleidung erhalten habe und Von Gefahr umringt, heilig Vaterland, Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben auch Entlassungspapiere. alle stehen wir Hand in Hand. müssen!

22 23 Dreiländermuseum Lörrach Lieder, die mir nicht aus dem Kopf gehen In diesem Geschäft werden keine Juden bedient

„In diesem Geschäft werden keine Juden bedient”

Gespräche mit Wilhelm Jung (Jhg. 1928) ab 7. Juli 2014.

Ich treffe Wilhelm Jung, seit 1962 Mitglied der CDU, ab 1964 Mitglied des Landtags von Baden- Württemberg und ab 1980 für 10 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestags, in seinem Haus im Obereck. Sein Vater war ein stadtbekannter Bäckermeister, der jüngste Sohn wurde sein Nachfolger.

Mein erstes unvergessliches Erlebnis hatte ich väterlichen Freunde von gegenüber, der Glaser- am 10. November 1938, am Morgen der Kristall- meister und der Schreinermeister, über die Stra- nacht, wie man später diese Nacht genannt hat. ße anriefen, ob ich schon gesehen hätte, was da Ich wollte zur Schule gehen, als mich die beiden an unserer Eingangstür hing. Sie waren deshalb Liederbücher aus den 1930er-Jahren. (privat)

An der Schlageter-Feier in Schönau sind wir da- In einem Spielmannszug habe ich gespielt. Von bei, mit LKWs sind wir nach Schönau gefahren, ei- meiner Klasse sind mehrere dabei. Da haben wir nen riesigen Aufmarsch hat es gegeben. Eine Sonn- den Torgauer Marsch rauf und runter gespielt. Aber wendfeier findet statt. Da stehen wir Pimpfe und auch dieses Lied geht mir nicht aus dem Sinn: singen aus voller Brust: Volk ans Gewehr! Flamme empor, Flamme empor! Siehst du im Osten das Morgenrot, Steige mit loderndem Scheine ein Zeichen, zur Freiheit zur Sonne. von den Gebirgen am Rheine Wir halten zusammen, ob lebend, ob tot, glühend empor, glühend empor. mag kommen, was immer da wolle. Warum jetzt noch zweifeln, Heilige Glut, hört auf mit dem Hadern, rufe die Jugend zusammen. noch ließt deutsches Blut in den Adern. Dass bei lodernden Flammen Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr! wachse der Mut.

Boykott jüdischer Geschäfte in Lörrach. SA-Männer bewachen den „Strumpf-Wühlbazar” von August Weil in der Adolf-Hitler- (Tumringer) Straße 190 in Lörrach. (Archiv Michael Fautz; Foto: F. Brunner)

24 25 Dreiländermuseum Lörrach In diesem Geschäft werden keine Juden bedient In diesem Geschäft werden keine Juden bedient

väterliche Freunde, weil ich in deren Werkstätten ter sah die Plakate und riss sie herunter mit dem Ich kam dann zur Hitlerjugend, meldete mich Dann holte ich das Motorrad im Gasthaus „Ein- basteln durfte. Was hätte ich sehen sollen? Da hing Ausruf: „Was für ein Arschloch hat mir das an die bei der Motorrad-Hitlerjugend. Etwa 1943, ge- tracht“. Für die Maschine und die Fahrbereitschaft über der Türe in mehreren Schriftzügen der Satz: Türe gehängt?“ Ich weiß nicht, wer das gemacht rade 15-jährig, bekam ich einen besonderen Auf- war Max Josef Weigner, ein Maschinist der Reitter- „In diesem Geschäft werden keine Juden bedient“. hatte. Jedenfalls wollten die beiden von gegenüber trag, Motorrad-Kurier zu werden. Das war sicher Brauerei, zuständig. Von ihm lernte ich auch den Was das bedeutete, wusste ich jedenfalls nicht, rief sehen, wie mein Vater mit einer solchen Provoka- ungewöhnlich, aber als Mitglied der Motorrad-HJ Vergaser reinigen und Schläuche reparieren. Die aber meine Mutter und sie ihren Mann. Mein Va- tion umging. Es ist danach nichts passiert. konnte ich Motorrad fahren. Ich machte den Füh- gute Seele der Motorrad-HJ war der Bosch-Hoff- rerschein für Motorräder und auch für PKWs. Die mann. Er hieß so bei uns, weil er der Chef der Ich ging damals in die Hebelschule. Als erstes Männer, die das gekonnt hätten, waren alle im Servicevertretung der Firma Bosch in Lörrach war. erinnere ich mich, dass ich ohne Kenntnis der Krieg, und die älteren beherrschten ein solches Mo- Er übte mit uns auch das richtige Fahren. Immer Schriftsprache dort ankam. Wir alle konnten nur torrad nicht. Ich glaube, Kreisleiter Grüner schlug wieder besorgte er Benzin und achtete darauf, dass alemannisch sprechen. Das Hochdeutsche habe mich vor. Dessen Amtssitz war die Kreisleitung der jeder eine Runde zur Übung drehen konnte. So ich mit Hebels Kalendergeschichten gelernt. Wir NSDAP, heute Senser Platz, damals Ecke Adolf-Hit- mochten wir ihn sehr. haben sie immer und immer wieder gelesen und ler-Straße und Badstraße. Außer Grüner kannte ich aufgesagt. Heute kann ich fast alle auswendig. noch den Ortsgruppenleiter Glünkin. Die Kurier- In der Kreisleitung musste ich im Keller auf mei- post händigten mir Angestellte in der Kreisleitung nen Einsatz warten, konnte aber auch wieder heim, Ohne nachzufragen, sagt Wilhelm Jung aus. Wir transportierten Briefe der Wehrmacht, die wenn nichts los war. Als ich einmal dort saß, dräng- mit 86 Jahren ohne zu zögern, ohne zu sto- Kreisleitung war wohl dafür zuständig. Ich weiß te der Kreisleiter den Bosch-Hoffmann die Treppe cken, Hebels „Kannitverstan” auf. Es ist ein nicht, was in den Briefen stand, die waren versie- runter und schlug ihn heftig mit der Reitpeitsche. wunderbarer Augenblick, wie Jung in diese gelt. Ich selbst verbarg sie immer in meiner Jacke Der Grund war wohl, dass der Bosch-Hoffmann in Welt eintaucht. Man meint, Johann Peter auf der Brust. der Wirtschaft „Linde“ eine heftige Äußerung ge- Hebel zu hören. Die Zeit hält inne. Gut kann gen die Nationalsozialisten gemacht haben soll. Ich man verstehen, was er meint, dass er mit Das Kurierfahren war ein Himmelfahrtskom- habe den Grüner angeschrieen, dass er das bleiben Hebels Kalendergeschichten die Schriftspra- mando wegen der Jabos (Jagdbomber). Sie legten lassen solle. Ich konnte mir das erlauben, zumal ich che gelernt habe. Und dann kehrt er in die in den letzten Kriegsjahren häufig die freie Be- sehr kräftig für mein Alter war. Ich habe dann den 1930er Jahre zurück. weglichkeit außerhalb der Häuser lahm. Mit mir Bosch-Hoffmann nach Hause gebracht. fuhr Paul Krey. Wir bauten das Motorrad um. Den Die Lehrer überboten sich, uns den Hitlergruß Soziussitz drehten wir um, dass der Beifahrer mit Und so endete mein Kurierdienst: Im Herbst 1944 beizubringen. Einmal bekam ich sogar 50 Pfennige, dem Rücken zu mir saß. So konnte er nach hinten musste ich an den Westwall zum Isteiner Klotz fah- weil ich mit „Heil Hitler“ grüßte. Wir Kinder küm- den Himmel nach Jabos absuchen. Die kamen ja ren. Kurz vor dem Ortseingang Isteins stand damals merten uns um Politik ebenso wenig wie die Kinder unerwartet. Wenn er solche Tiefflieger sah, war- links der Straße ein Bunker. Dort sollte ich Post ab- heute. Meine Frau, damals auch in der Hebelschule, fen wir das Motorrad in den Straßengraben und geben. Der Bunker war mit Holz umkleidet, von au- sie ist etwas älter als ich, erinnert sich noch an die suchten sicheren Unterschlupf. Die Fahrten gin- ßen sah der eher wie eine Scheune aus. Das mach- Fahnenappelle auf dem Schulhof und an das Lied gen nach Freiburg und auch häufig nach Karls- te man aus Tarnungsgründen. Volkssturmmänner „Die Fahne hoch“. Nach der Volksschule ging ich ruhe. Sie wurden immer nötig, wenn die Leitun- warteten dort. Ich war kaum im Bunker, als davor kurz ins Hans-Thoma-Gymnasium. Viele Lehrer gen eine Kommunikation nicht möglich machten. eine Granate explodierte. Als ich danach nach mei- kamen aus dem Elsass, weil die deutschen Lehrer Mindestens jeden Monat einmal. Wir fuhren auf nem Motorrad suchte, lagen die Trümmer des Fahr- eingezogen waren. Einer hatte mit uns „Wilhelm dem Bundesfeldweg, heute B 3. Wenn ich nicht zeugs in einem großen Loch. Ich nahm dann den Tell“ gelesen. Das war recht mutig wegen Schillers angefordert wurde, arbeitete ich in der Backstube Rest des Tanks, wartete auf die Nacht und trug das Appell an die Freiheit und dass der Tell den Gessler- meines Vaters als Bäckerlehrling. Tagsüber wur- Trümmerstück nach Lörrach. Hut nicht gegrüßt hatte. Ob er deshalb bald wieder de ich telefonisch abgerufen. Nachts musste ich weg war, obwohl wir diesen Lehrer alle mochten? antreten, wenn Fliegeralarm war. Die überflogen Am Ende des Jahres 1944 musste ich einen Standort-Befehl der SA Lörrach zum Boykott jüdi- Meine Frau hat damals als BDM-Führerin auch Lörrach, auch wegen der Grenze zur Schweiz, Wehrertüchtigungskurs in Bernau mitmachen. Mit scher Geschäfte am 1. April 1933. nicht verstanden, dass man an Weihnachten keine aber hin musste ich trotzdem. mir waren noch 15 Lörracher dabei, alle so alt wie (STAF B 719/1 5036) kirchlichen Weihnachtslieder singen sollte. ich. Darunter war auch der Sohn des Bürgermeis-

26 27 Dreiländermuseum Lörrach In diesem Geschäft werden keine Juden bedient Ein Ur-Lörracher erzählt

ters Reinhard Boos, auch Reinhard mit Namen. französischen Schweiz in Diensten war. Eine fran- Ein Ur-Lörracher erzählt Vier Wochen dauerte die Ausbildung, unter ande- zösische Familie mit fünf Kindern wurde im Haus rem an der P 38 (Standard-Dienstpistole der Wehr- einquartiert. Sie hieß Caupoud. Wir haben sie trotz Gespräch des Stadtarchivars Andreas Lauble mit Rudolf Klauser (Jhg. 1929) am 6. Februar 2014. Nie- macht) und dem MG 42 (Maschinengewehr der unserer Ängste freundlich aufgenommen, und sie derschrift von Teilen des aufgenommenen Gesprächs am 22.2.2015 und Abfassung des nachfolgenden Wehrmacht). Die Waffen mussten wir ausbauen dankte es uns. Aus dieser Situation entstand eine Textes durch Hansjörg Noe am gleichen Tag. und wieder zusammensetzen. Auf dem Hinweg ka- frühe deutsch-französische Freundschaft, für die men wir in Präg in den Schnee. Präger wiesen uns ich sehr dankbar bin. den Weg durch den hohen Schnee, es gab ja keinen Schneeräumdienst. Mit zwei anderen suchten wir Wilhelm Jung hat fast ununterbrochen und Zu Beginn des Gesprächs bezeichnet sich Rudolf Klauser als einen Ur-Lörracher. Das Pelzge- die Bernauer, die uns entgegen kommen sollten, ließend erzählt. Sie haben ihn emotional stark schäft der Familie steht seit 1843 in der Tumringer Straße. Klauser ist aber nicht nur Ur-Lör- aber wir erreichten unser Ziel nicht. Beinahe wären berührt, die alten Geschichten, insbesondere racher, sondern auch ein Ur-Feuerwehrmann. Er gehört seit seiner Jugendzeit zur Freiwilligen einige von uns erfroren, weil sie vor Erschöpfung jene, die gut ausgegangen sind. Feuerwehr in Lörrach und wird 1977 von der neuen Stadt Lörrach nach der Verwaltungsreform eingeschlafen waren. Und dann wurden wir gar ihr Abteilungskommandant. So ist es nicht verwunderlich, dass er im Gespräch manchmal die noch am nächsten Tag vom Lehrgangsleiter schi- Anzufügen ist noch eine handschriftliche Hitlerjugendzüge mit Löschzügen verwechselt. kaniert. Ich wurde dann 1944 eingezogen, muss- Eintragung in einem Merk- und Schreibbuch te nach Esslingen über Immendingen. Ich landete der Familie Jung, das mir Wilhelm Jung aus- Sicher war ich beim Jungvolk und der Hitlerju- noch Maschinengewehre gab es in den Bunkern. schnell in einem Lazarett für Seuchenkrankheiten, gehändigt hat. Die Eintragung ist am 20. April gend, wurde im Laufe der Zeit Gefolgschaftsführer Es war wohl im Frühjahr 1945, als die Franzosen weil ich Scharlach mit hohem Fieber bekam. 1939 notiert. Sie verdeutlicht auch eine Seite mit einer grünen Kordel, braunem Hemd, Krawatte schon auf der anderen Rheinseite waren; sie schos- der politischen Einschätzung damals: und Kordhose. Das war ja anfangs freiwillig, später sen mit Artillerie auf den Klotzen und zerstörten Von meinem Vater erfuhr ich nach dem Krieg noch aber, wann weiß ich nicht mehr, Pflicht. Für junge eine Nachrichtenleitung. Wir mussten dann die Folgendes: Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1939: Heute, am 20. April, ist Hitlers 50. Geburts- Leute war das „glatt“, Geländespiele und so, immer Störung beheben und wurden während dessen mit 1944 wurden viele Mitglieder der verbotenen Partei- tag. Bei schönem Wetter und gesetzlichem Feiertag, an der frischen Luft. Es ging darum, die Fahne der Artillerie beschossen. Ich hatte dabei große Angst. en wie Zentrum, SPD und KPD verhaftet. Sie wurden alle Geschäfte sind geschlossen, die Straßen der Stadt anderen zu erobern und die eigene zu verteidigen. ins „Café Schumacher“, so wurde hier im Volksmund sind schön belaggt und die Schaufenster der Läden aufs Ob die NSDAP mitgewirkt hat, weiß ich auch nicht damals das Lörracher Gefängnis genannt, gebracht. Schönste geschmückt. Musik und Trommler weckten die mehr, an politische Schulung kann ich mich nicht Wie gesagt, mein Vater war eine Persönlichkeit, dem Leute. Am Berg wurde mit Kanonen geschossen und zu- erinnern, doch später schon, und vormilitärisch die Nationalsozialisten nichts anhaben konnten. Er gleich wird der neue Marktplatz eingeweiht. Gott sei Lob war das auch. Wir trafen uns auf dem Kinderspiel- ging ins Gefängnis, wurde dort vorstellig und sag- und Dank, dass er uns unseren Führer geschenkt hat. Er platz, manchmal mussten wir auch antreten auf te, dass es in Lörrach keine Handwerker mehr gäbe, wolle ihn ferner schützen und ihn ausrüsten mit Geist dem Marktplatz. Dort war es ganz einfach sich aus- wenn diese Männer in Haft blieben, die jungen seien und Kraft und Weisheit und Verstand zum Wohle unse- zurichten, man musste nur auf die Platten auf dem im Krieg und die alten Männer eingesperrt. Unter res Volkes und Vaterlandes. Boden achten. den Freigelassenen waren Gipsermeister Indleko- (Quelle: privat) fer, Elektromeister Zimmermann, Schneidermeister Ich ging dann zur Nachrichten-HJ. Der Ver- Rupp, Buchhändler Maurath und andere.7 Wilhelm Jung erklärt noch, dass seine Groß- sammlungsraum der Nachrichten-HJ war in der mutter diesen Eintrag in den Kalender vorge- Kirchstraße. Wir wurden dann als Fronthelfer nach Und dann nach dem Krieg: Die Bäckerei Jung nommen habe. Er sei erstaunt gewesen, dass Kandern eingezogen und dort als Nachrichtenhel- wurde von der französischen Militärbehörde be- eine so fromme und gottesfürchtige Frau wie fer und Funker ausgebildet. Wir wurden dann in schlagnahmt. Wir wurden zur „Boulangerie mili- sie von Hitler derart propagandistisch beein- der Divisionsvermittlung eingesetzt. Das war sehr taire française”. Mein Vater gab mir die Leitung ab, lusst hat werden können. interessant, an richtigen Fernsprechern zu sitzen es wurde ihm zuviel. Manchmal buken wir 200 Lai- wie beim Militär. In diesem Zusammenhang musste be Brot im Schichtbetrieb. ich dann auch zum Isteiner Klotz. Der Eingang war vom Engetal her, mit einem Zug fuhren wir in den Meine Mutter konnte gut Französisch, weil sie Berg. Die Kanonen waren damals schon weg, man Musikzug der Hitlerjugend in der Schwarzwaldstraße. wie viele junge Frauen in den 1920er Jahren in der hatte sie an den Atlantikwall abtransportiert, nur (StALö Zü 14.1.5; Foto E. Zürcher)

28 29 Dreiländermuseum Lörrach Ein Ur-Lörracher erzählt Ein Ur-Lörracher erzählt

Einmal, irgendwann dazwischen, wurden wir in Brombach in einer Ausbildungsstätte [alte Gewer- beschule in der Bündtenstraße] geschliffen, das war hart. Den Ausbilder habe ich nach dem Krieg bei der Feuerwehr in Haagen getroffen. Er war dort Feuerwehrkommandant. Ich habe ihm nichts nach- getragen und mich mit ihm gut verstanden [vgl. Text S. 20 ff]. Zur Division SS-HJ wollte man mich auch einziehen, davor bewahrte mich jedoch ein Stellungsbefehl als Fronthelfer zur Nachrichten-HJ.

An was erinnern Sie sich in Lörrach?

Natürlich an die Aufmärsche auf dem Robert- Wagner-Platz [heute neuer Marktplatz]. Dort stand auch die Synagoge. Und auch den Abtransport der Juden habe ich gesehen. Da war was los, da sind wir Jugendlichen hingegangen. Ich war ja gerade 12 Jahre alt. Heute gehen die Jugendlichen ja auch überall hin. Über das sprachen wir aber zu Hause Barrikade an der Ecke Turm- / Palmstraße, aufge- Beginn der Abräumung der Straßensperren beim Bahnhof Lörrach nach dem Einmarsch der Franzosen am nicht. Von der Versteigerung des Besitzes der Juden nommen von französischen Besatzungssoldaten. 24. April 1945. ( alle drei Fotos aus der Broschüre: „Pages de Guerre du 2/3. RCA”, Paris, o. J., Privatbesitz) in der Grabenstraße weiß ich nichts.

Was können Sie vom Kriegsende erzählen? ser in der Stadt hatten solche Fluchtwege im Laufe Platz bei der katholischen Kirche [nach Herrn Klausers für das Eindringen in den Stollen. Dennoch des Krieges eingerichtet. Die Panzersperre musste Erinnerung war dies auf dem Burghof] versammelt; ge- versuchen es die Feuerwehrmänner. Mit dem Ich glaube, es war nach dem Angriff auf die Rüs- übrigens mein Vater mit anderen Straßenbewoh- fangene Volkssturmleute, Soldaten und Zivilisten wur- Kreisbrandmeister Leible sind auch Vater und tungsfirma Teves 1945. Da sind 10 bis 15 russische nern zusammen nach dem Einmarsch der Franzo- den dort zusammengetrieben und hatten Gelegenheit, Sohn Klauser dabei. Es gelingt ihnen nicht, Arbeiter abgehauen. Sie wurden an der „Eisernen sen sofort abbauen; sie drohten ihm Erschießung den Einmarsch der Franzosen mit anzusehen. Um 20 die französischen Ofiziere lebend zu retten. Hand” aufgegriffen. Wir, also einige Freunde und an, wenn er das nicht sofort in einem Tag erledigte. Uhr wurde die Feuerwehr aus der Haft entlassen. Für ihren lebensgefährlichen Einsatz erhalten ich, waren dort oben. Ein „Goldfasan“ [Bezeichnung Mein Vater war auch bei der Feuerwehr. (Quelle: http://www.feuerwehr-loerrach.de, abgerufen am 13.8.2015) die Feuerwehrmänner in Freiburg auf dem von hohen Parteifunktionären der NSDAP], hatte sie Münsterplatz eine Ehrung durch die französi- gestellt, sie lagen alle auf dem Boden. Er hieß uns, In der Chronik der Freiwilligen Feuerwehr Schließlich erzählt Rudolf Klauser noch von sche Besatzungsmacht. auf die Gefangenen aufpassen, solange er weg war. Lörrach ist nachzulesen: einem Ereignis am Isteiner Klotz, das ihm Wohin er ging, weiß ich nicht. Jedenfalls konnten wir stets in Erinnerung bleibt. 1947 werden die sie auch nicht aufhalten, sie sind abgehauen, als wir Am zweitletzten Tag vor dem französischen Ein- Festungswerke im und am Isteiner Klotz ge- nicht aufpassten. Danach passierte uns aber nichts. marsch wurde die Feuerwehr im Hirschenkeller kaser- sprengt. Die Sprengungen haben den Isteiner niert […] Am 24. April 1945 erfolgte die Beschießung Klotz als Landschaftsruine zurückgelassen. Vor unserem Haus in der damaligen Adolf-Hitler- der Stadt. Während eines Einsatzes in der Wallbrunn- Im Hauptzugangsstollen vom Engetal her Straße gab es eine Panzersperre. Einmal musste ich straße bei Julius Brunner brach auf der Säge bei Fried- wird gesprengt. Bei dieser Sprengung verun- beim Einmarsch der französischen Besatzungstrup- rich Weber ein Brand aus, wo dann die restlichen Geräte glücken zwei französische Ofiziere. Die Lörra- pen einen deutschen Offizier aus der Schusslinie eingesetzt wurden. Während dieses Einsatzes kamen die cher Feuerwehr wird zur Rettung eingesetzt. bringen. Wir gingen in den Keller, von dort durch Franzosen über die Wiese und nahmen die gesamte Feu- Es ist gefährlich, in den Gang einzudringen, einen vorbereiteten Durchbruch ins Nachbarhaus erwehr, die an zwei Schadensstellen beim Löschen war, weil Sprenggase den Stollen gefüllt haben. und durch einen weiteren in unser Haus. Viele Häu- gefangen. […] Die gesamte Feuerwehr wurde auf dem Die Gasmasken damals sind eher ungeeignet

30 31 Dreiländermuseum Lörrach II.

AUCH DAS GEHÖRT ZUM

FLUCH UNSERES

NICHTVERGESSENDÜRFENS,

DASS UNS DIE FALSCHEN

ERINNERUNGEN BLEIBEN.

Nikolaus Cybinski

32 33 Dreiländermuseum Lörrach Mein Vater war der Bahnhofsgastwirt Mein Vater war der Bahnhofsgastwirt

„Mein Vater war der Bahnhofsgastwirt” Bei der Hitlerjugend bin ich nicht gewesen, weil Ende 1944 ist es wohl gewesen, als Landrat Pe- ich 1942 eine schwere Blinddarmoperation und ter meinen Vater mit allen anderen älteren Män- Gespräch mit Hans Peter Weniger (Jhg. 1930) am 3. Juni 2014. Darmverschlingung durchgemacht und danach nern und die ganz jungen zum Volkssturm einbe- noch lange Zeit eine Bauchbinde getragen habe. rufen hat. Sie haben sich versammelt, wo heute So habe ich auch im Sport nicht mitmachen dür- die Skulptur „Lörracher Sitzende“ aufgestellt ist. fen. Mutter hat ihn begleitet. Aber als einer, der für die Meine Eltern haben das damals in Lörrach sehr meine Eltern haben mich wegen des Kriegsbeginns Versorgung wichtig ist, hat er nicht gehen müs- angesehene Bahnhof-Hotel betrieben. Mein Vater dort gelassen. Wie alle haben sie einen Angriff von Wie gesagt, meine Eltern sind die Wirtsleute der sen. hat schon vor dem Ersten Weltkrieg im Ausland Frankreich her über den Rhein befürchtet. Der ist Bahnhofsgaststätte gewesen. Sie hat der Brauerei gastronomische Erfahrungen sammeln können, dann nach dem Angriff des Reiches im Mai 1940 er- Reitter aus Lörrach gehört. An manche Ereignisse Gegen Kriegsende haben wir in unserem Garten so auch in England vor dem Ausbruch des Ersten folgt. Haltingen und andere Rheindörfer sind stark kann ich mich recht gut erinnern, so an Veranstal- am Leuselhardt einen Unterstand ausgehoben und Weltkriegs. Das hat ihm über die Kriegsjahre dort zerstört worden. Erst nach dem Waffenstillstand tungen auf dem Bahnhofsplatz. Vom Balkon des mit Balken, Reisig und Grasbüscheln überdeckt. Internierungslager eingebracht. mit Frankreich ist es wieder ruhig gewesen. Viele Hauses hat man gut dorthin sehen können. Da Dort haben wir bei Tieffliegerangriffen Unterschlupf sind damals nach Hal- hat Bürgermeister gesucht, wenn wir Ich bin 1930 gebo- tingen oder Efringen Boos manchmal im Garten gear- ren und dann in die gepilgert, um die Zer- vor NS-Gruppen beitet oder eine si- Hebelschule Lörrach störungen zu sehen. Reden gehalten. cherere Unterkunft eingeschult worden. Ich bin wieder nach gesucht haben als Ich erinnere mich da- Lörrach gekommen. Einmal hat ein unser Bahnhof- ran eher wenig. Aller- anderer NS-Mann Hotel. dings, dass der Haus- Nach der vierten mit meinem Vater meister uns immer Klasse bin ich ins dort gestanden; Ich erinnere angebrüllt hat, wenn Hebel-Gymnasium ge- der NS-Mann sag- mich auch, wie wir nicht richtig „Heil gangen, das ist damals te zu meinem Va- Major Pfeil, der Hitler“ gesagt haben. im heutigen Museum ter, dass der Boos Lörracher Stadt- Und auch an dies: untergebracht gewe- es nicht lassen kommandant, Eines Tages hat der sen. Die Lehrer sind könne. mit anderen zu- Lehrer, es ist wohl ein dort mehrheitlich gut sammen mit dem strenger Nazi gewe- gewesen und nicht so Auch viel Pro- Motorrad über die sen, uns angewiesen, ideologisch. Doch Pro- minenz hat in Wallbrunnstraße den Katechismus und fessor Baumhauer ist unserem Bahnhof- das Weite gesucht das Buch mit den bi- Parteimitglied gewe- Hotel gewohnt. hat. Nach dem blischen Geschichten Bahnhofsplatz während des Kreisparteitags 1939. sen, an seiner Jacke hat Ein Dichtertreffen Giftgas-Übung der Hitlerjugend beim Bahnhof-Hotel im Einzug der franzö- aus der Tasche zu Links das ehemalige Bahnhof-Hotel. das Parteiabzeichen hat stattgefun- Schnee mit kurzen Hosen. sischen Truppen nehmen. Wir haben (StALö Zü 19.67.11; Foto: E. Zürcher) gesteckt. den. Sicher waren (StALö 2.43.140; Foto: E. Zürcher) am 24. April 1945 darin Streichungen Hermann Burte ist das Bahnhof- vornehmen müssen. Mit ihm kam einmal und der Heimat- Hotel zum Sitz Ein Satz ist mir heute noch gegenwärtig: „Denn das ein höherer Beamter vom Kultusministerium in schriftsteller Hermann Eris Busse da. Wie ich heute der Militärregierung umfunktioniert worden. Das Heil kommt von den Juden!“ Karlsruhe in den Unterricht. Er hat uns gefragt, ob weiß, hat Busse viele Aufsätze im „Markgräflerland“ ist Glück für uns gewesen. Vater musste für alle die Deutschen siegen werden. Ein Schulkamerad geschrieben, und Burte hat dort Gedichte veröffent- kochen, und wir hatten zu essen. So habe ich nie An die Zerstörung der Synagoge erinnere ich mich hat kleinlaut geantwortet, er wisse es nicht. Später, licht. Beide sind sicher Nationalsozialisten gewesen. Hunger leiden müssen. deshalb, weil auf der Straße viel Lärm gewesen ist. als Professor Baumhauer mit uns alleine gewesen In der Kriegszeit haben auch Elsässer Lehrer bei uns Den Kriegsbeginn 1939 habe ich am Bodensee in ist, hat er uns eingetrichtert, dass man diese Frage gewohnt und gegessen. Sie haben deutsche Lehrer, Allensbach erlebt. Dort bin ich in Ferien gewesen, mit Zustimmung beantworten müsse. die in den Krieg eingezogen worden sind, ersetzt.

34 35 Dreiländermuseum Lörrach Die Reklameschrift leuchtet die ganze Nacht Die Reklameschrift leuchtet die ganze Nacht

„Die Reklameschrift leuchtet die ganze Nacht” Giebelwand des Hauses direkt hinter der Grenze. er in die Schweiz nicht einreisen. Am 3. Oktober Nichts war verdunkelt wie bei uns. 1953 kam er als Spätheimkehrer erst aus der russi- Gespräch mit Hanspeter Troendle (Jhg. 1935) am 8. Oktober 2014. schen Kriegsgefangenschaft zurück. Als Leiter einer Und noch dies: Die Franzosen rückten in Lörrach Panzerdivision wurde er gefangen und zunächst als ein. Da gab es, auch in der Herrenstraße, einen Vor- beschuldigter Partisan zum Tode verurteilt. Halb fall. Drei Männer waren wohl der Ansicht, dass sie Lörrach, so erinnere ich mich, begrüßte ihn am Im „Wohn- und Geschäftshaus, viergeschossiger, asymmetrischer Baukörper im Jugendstil mit Lörrach, wie von der Parteileitung proklamiert, ver- Bahnhof, als er zurückkam. Hausteinfassade, 1903”, wie in der Denkmalbeschreibung das Haus in der Basler Straße 157, teidigen müssten. Sie schossen auf die einrücken- das „Pape-Haus”, beschrieben wird, wohnt und arbeitet seit 1930 die Familie des Konditor- den Franzosen. Ich erinnere mich, einer wohnte Über seinen Vater weiß Hanspeter Troend- meisters Emil Pape. 1932 heiratet Papes Tochter Betty und eröffnet mit ihrem Mann Stephan eben im Suppenküchenhaus. Von dort schossen sie le sonst nichts. Jedoch gibt der Bericht von Troendle das Geschäft „Woll-Troendle” dort im Erdgeschoss. Die Familie Troendle ist 1930 von auf die Franzosen. Diese holten die Männer und Friedrich Vortisch, sen., (vgl. S. 142 ff.) etwas der Tumringer Straße 188 ins „Pape-Haus” umgezogen. Im 1. Obergeschoss ist damals das „Café Pape” untergebracht. Hanspeter Troendle, Sohn von Betty Troendle-Pape und Stephan Troendle, wohnt heute in der Basler Straße, hinter seinem ehemaligen Geschäft. 1938 erkrankt Hanspeter Tronedle auf- grund einer Infektion (verdorbene Impfung) am linken Bein schwer. Beinahe habe man ihm das Bein abnehmen müssen, erzählt er, sein Vater habe die besten Ärzte aufgesucht, bis einer hat helfen können. Fünf Jahre ist Hanspeter Troendle in einem Sanatorium in der Schweiz ge- wesen. Am 1. August 1944 kommt er wieder nach Lörrach. Seine Erinnerungen beziehen sich also ausschließlich auf das Kriegsende und den Neubeginn nach 1945.

Uns gegenüber in der Herrenstraße stand damals kannen jeden Tag Suppe holen. Es herrschte ja das Hotel „Krone”. Nur noch der Brunnen erinnert ständig Hunger. Die Rationen reichten nie, um heute daran. Kurz vor Kriegsende, als die Granaten satt zu werden. Ich hatte Glück, dass mir in der über den Tüllinger flogen, schlug eine in das Dach Bäckerei Jung durch Wilhelm Jung hin und wie- des Hotels ein. Sie durchschlug das Hoteldach, der ein Brotlaib zugesteckt wurde. drang in das Innere des Hotels und durchbohrte den Nachttisch eines Gastes, der zu diesem Zeit- Obwohl wir immer Angst hatten, spielten wir punkt noch im Bett lag. Kinder dennoch auf der Straße. Einmal entdeck- Blick von der Grenze in Lörrach-Stetten in Richtung Riehen. Die im Text erwähnte Leuchtreklame befand ten wir im Museumsschopf ein Munitionslager. Es sich an einem der ersten Häuser links. (StALö 2.61.77) In das Café Pape war ein deutsches Lazarett ein- war in einem Schuppen hinter der Wand, wo heute quartiert. Zu Sanitätern und Ärzten hatte ich einen die alten Wirtshausschilder im Museumshof hän- guten Kontakt. Sie wollten mich eines Tages mit gen. Eine Handgranate nahmen wir mit und hatten erschossen sie in der Herrenstraße. Die Leichen Auskunft. Stephan Troendle und Max Glünkin dem Auto nach Ötlingen mitnehmen. Mutter er- Glück, dass sie uns bei der Detonation in unserem der drei Männer blieben dort drei Tage liegen. Alle (Ortsgruppenleiter in Lörrach) haben sich gut laubte dies nicht. Am nächsten Tag stand das Auto Haus nicht zerfetzte. hatten Angst, sie zu bergen. Die Tochter des einen gekannt und miteinander agiert. durchsiebt mit Einschusslöchern vor dem Haus. Erschossenen begann später eine Ausbildung in un- Hanspeter Troendle spielt schon seit er den- In ganz besonderer Erinnerung ist mir die hell serem Textilgeschäft. Unser Geschäft war während ken kann, Orgel in den Kirchen in und rund Zwischen der „Krone” und unserem Haus führt erleuchtete Reklamewand am Giebel eines Hauses der Besatzungszeit beschlagnahmt, und dort wurde um Lörrach bei Hochzeiten, Taufen und Got- die Herrenstraße. Wo heute die Geschäfte am unmittelbar hinter der Grenze. Oftmals fuhr ich mit ein Marokkaner-Lokal eingerichtet. tesdiensten, auch bei Beerdigungen. In der Fuße des Hochhauses am Markt stehen, zur Her- meinem Fahrrad zur Grenze. Der breite und hohe Stadtkirche hat er ein festes Deputat. So ist renstraße hin, stand in den1940er Jahren noch Stacheldrahtverhau entlang der Grenze erschreckte Meinen Vater habe ich erst mit 18 Jahren richtig er heute bekannt. Zum Schluss unseres Ge- ein großes Staffelgiebelhaus, breit und behäbig, mich. Umso mehr erschien mir die Welt dahinter, kennen gelernt. Als ich mit drei Jahren ins Sanato- sprächs meint er: „Das ist meine Mission, die Traufseite zur Straße hin. Dort war die Sup- die Schweiz, wie ein Paradies. Die Reklameschrift rium kam, war ich noch zu klein, als ich von dort mein Beitrag zum Frieden in der Welt.” penküche. Wir Kinder konnten uns mit Milch- „Villriger Stumpen“ strahlte im hellen Licht an der zurückkam, war mein Vater im Krieg. Vorher durfte

36 37 Dreiländermuseum Lörrach Ich wünsche Ihnen viel Glück in dem Haus Ich wünsche Ihnen viel Glück in dem Haus

„Ich wünsche Ihnen viel Glück in dem Haus” ses, 550 – 79 Street, Brooklyn. N.Y./ U.S.A. daher volles Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor, dass Auch wird bestätigt, dass die im Kaufvertrag auch Sie den Vertrag heute wie damals anerkennen Gespräche ab 9. November 2014 mit A. Gorsewski-Frei (Jhg. 1936) über ihren Vater Karl Frei, der das vereinbarte Restschuld nun beglichen ist. und an uns keine nachträglichen Forderungen stellen Haus von Dr. Moses, jüdischer Arzt in Lörrach, gekauft hat, samt einem Briefwechsel zwischen Karl Frei werden. und Samuel Moses. Frau Gorsewski-Frei weiß noch Folgendes Wir möchten Sie deshalb bitten, uns in diesem Sin- zu berichten: ne Nachricht zu geben. Von Ihren Lörracher Bekannten werden Sie ja wohl wissen, dass das Haus den Krieg Zwischen meinem Vater und Dr. Moses gibt es überstanden hat. Ich selbst habe einen kleinen Teil dieser Die Tochter des früheren Lörracher Malermeisters Frei treffe ich am 9. November 2014. Unser dann noch 1939 einen Schriftverkehr über die zehn Jahre im Hause verbracht. Kaum war Sommer 39 Gespräch dreht sich um den in den 1930er Jahren in Lörrach lebenden beliebten und heute Modalitäten der Begleichung der Restschuld, auch die Werkstatt unter Dach, als der Krieg ausbrach und noch namentlich bekannten jüdischen Arzt Dr. Samuel Moses. Wir sprechen über seine Aus- wegen angefallener Zinsen. Wie ich dem mir vorlie- ich am ersten Tag fort musste. 1944 kam ich in Frank- wanderung und den Verkauf seines Hauses, damals in der Wilhelmstraße. 6, heute Haagener genden Schriftverkehr entnehme, bestätigt Dr. Mo- reich in amerikanische Gefangenschaft, aus der ich im Straße. Dort beindet sich jetzt das Sparkassenforum. ses am 18. Juli 1939, dass alles in Ordnung sei. Er Februar 46 entlassen wurde. Ich war glücklich, bei mei- Wie alle anderen Juden unterliegt Dr. Moses der antijüdischen Gesetzgebung, die Menschen jü- wünscht uns Glück im Haus und gibt den Auftrag, ner Heimkehr meine Familie, meine Frau, meine beiden discher Abstammung aller ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, diskriminiert und verfolgt. Schon die Nachbarn zu grüßen. Töchter, meine Mutter und Schwester gesund wieder zu ab 1933 beeinträchtigen den Arzt in seiner Berufsausübung Gesetze wie die „Verordnung über sehen. Ich hofe gerne, dass Sie mit Ihrer Familie gesund die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen” vom 22. April 1933. Damit wird Was nun nach dem Krieg auf unsere Familie zu- sind und grüße Sie hochachtungsvoll, Karl Frei. den jüdischen Ärzten die Verdienstgrundlage entzogen, sie können nur noch privat abrechnen. kommt, hat uns allen große Angst gemacht, fürch- Die Tochter Frei erzählt: teten wir doch, das Haus zu verlieren, obwohl ja Am 2. Juli 1948 schreibt Dr. Moses zurück: Dr. Moses vor dem Krieg bestätigt hat, dass alles Mein Vater hatte seine Malerwerkstatt in der Rain- Badewanne, einem Gasofen, verschiedenen rechtens sei. Am 27. Oktober 1947 strebt das Ba- Geehrter Herr Frei! straße 8. Dort und auch in der Teichstraße wohn- Lagerhurden im Keller und den Vorfenstern, dische Landesamt für kontrollierte Vermögen eine In Beantwortung Ihres Schreibens vom 30. Mai ds. J. ten in den 1930er Jahren viele jüdische Menschen. soweit vorhanden, einbegriffen. Die Überga- Restitutionsklage an. Restitutionsklagen haben zum möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich nicht die Absicht Vielleicht erfuhr er von ihnen, dass Dr. Moses sein be des Grundstücks an den Käufer erfolgt am Ziel, eine erneute Prüfung bereits rechtskräftig ab- habe, Ihnen wegen meines früheren Hauses irgendwel- Haus verkaufen musste. Ob meiner Familie so klar 1. September 1938. geschlossener Verfahren zu veranlassen. Dass dies che Schwierigkeiten zu bereiten, es ist erfreulich zu le- war, wie wir es heute wissen, dass Dr. Moses, um bei allen Kaufvorgängen mit jüdischem Besitz so sen, dass Sie den Krieg gut überstanden haben. Meine überleben zu können, verkaufen und auswandern Am Ende des Vertrags ist vermerkt: gemacht worden ist, haben wir nicht gewusst. Nun beiden Söhne waren auch drüben, sie sind z. Z. wieder musste, weiß ich nicht. Der Kaufvertrag ist dann „Der Verkäufer ist ein Jude.” schreibt mein Vater an Dr. Moses, der auch immer hier. Mit besten Wünschen und Grüßen, hochachtungs- zwischen meinem Vater, seiner Schwester Emma, wieder antwortet. voll, S. Moses. die in Hauingen Lehrerin war, einerseits und Dr. An der Liegenschaft ist noch bemerkenswert, Moses andererseits am 19. August 1938 im Amts- dass sie Scheuer und Stallung enthält. Bis in Maler Frei schreibt am 30. Mai 1948 an Dr. Danach Karl Frei an Dr. Moses: gericht Lörrach ausgestellt worden. die 1930er Jahre sind viele Ärzte mit Pferd und Moses: Kutsche zu den Patienten gefahren. Nur weni- Lörrach, 28. August 1948 Das Kaufobjekt wird so beschrieben: ge haben schon über ein Auto verfügt. Scheu- Sehr geehrter Herr Doktor! Sehr geehrter Herr Doktor! Hofreite mit 4 a 13 qm Wilhelmstr 6: Auf er, Stall und Schopf werden vom Käufer als- Im Laufe des Frühjahrs mussten alle jetzigen Be- Ihr Schreiben vom 2. Juli d. J. haben wir erhalten und der Hofreite steht: bald zu einer Werkstatt umgebaut. Zudem fällt sitzer früheren jüdischen Eigentums ihren Besitz danken Ihnen herzlich dafür. Es freut uns, dass Sie uns a. ein zweistöckiges Wohnhaus mit einem die kurze Zeit zwischen Kaufvertrag und Über- anmelden. Auch wir sind dieser Auforderung nach- bald auf unseren Brief eine befriedigende Antwort gege- Balkenkeller und Abtritt, gabe des Grundstücks auf. Dr. Samuel Moses gekommen. Das gibt uns Veranlassung, uns in der ben haben. Den Brief habe ich an zuständiger Stelle zur b. eine Scheuer mit Stallung und Schopf. hat nur noch wenig Zeit auszureisen. Das Geld Hausangelegenheit noch einmal an Sie zu wenden. Einsichtnahme vorgelegt, und es wurde mir gesagt, dass In den Kaufpreis ist der Wert des Zubehörs, braucht er auch zur Zahlung der Reichslucht - Wir können nicht annehmen, dass auch wir unter die- derselbe nicht genügt. Es bedürfe vielmehr ein Schrei- bestehend aus zwei Öfen, darunter ein gro- steuer (seit 1934 Gesetz) und für die Ausreise se Bestimmungen fallen, wir haben ja seinerzeit das ben von Ihnen, das notariell beglaubigt ist und folgende ßer Kachelofen, zwei eingebaute Waschtische in die USA. Dr. Moses reist am 6. August 1938 Haus mit Ihrer vollen Einwilligkeit von Ihnen persön- Punkte enthalten müsse: mit Warmwasserversorgung, einer einge- aus. In einem Schreiben seines Anwalts vom lich rechtsmäßig erworben und sind unseren Verplich- 1. dass Sie das Haus freiwillig und ohne Zwang an bauten Kassette, einem Waschkessel, einer 22. März 1939 steht die Anschrift: Dr. S. Mo- tungen Ihnen gegenüber nachgekommen. Wir haben uns verkauft haben,

38 39 Dreiländermuseum Lörrach Ich wünsche Ihnen viel Glück in dem Haus

2. dass Sie an uns sowie an den Staat keine Forderun- Grundstücks Lgb.Nr.208 d wird hiermit gem. Art.19 der gen mehr stellen. VO Nr. 120 über die Rückerstattung geraubter Vermö- Wir bedauern aufrichtig, Herr Doktor, dass wir uns gensobjekte vom 10. November 1947 (Journal Oiciel in dieser Sache nochmals an Sie wenden und Ihnen Um- 1947 S. 1219 f) gerichtlich bestätigt. Der Erwerber ist stände und Auslagen bereiten müssen. […] Es wurde zur Erstattung von Gewinn nicht verplichtet, da die Er- uns auf dem Amt gesagt, dass wir das Haus verlieren werber als gutgläubig anzusehen sind. würden, wenn Sie uns keine diesbezügliche Bescheini- (Alle Quellen: privat) gung zukommen ließen. Auch wir wünschen Ihnen wei- terhin gute Gesundheit und grüßen Sie und Ihre Familie Die Tochter Karl Freis zum Schluss des Ge- […] sprächs:

Der Anwalt der Familie Frei legt dann am Am 29. März 1950 wird die Sperre und Kontrolle 16. Dezember 1949 die gewünschte Beschei- des Vermögens gegenüber meinem Vater Karl Frei nigung vor: und seiner Schwester aufgehoben und die Restituti- onsklage abgewiesen. Dr. Samuel Moses schickt uns Der von Dr. Samuel Moses, M.D. in Brooklyn 9 N.Y. Weihnachtsgrüße. Beachview 8 – 1861. 550, Seventy-Ninth Street U.S.A. gegenüber Malermeister Karl Frei in Lörrach, vertreten durch Rechtsanwalt Heinrich Schell ausgesprochene Verzicht vom 2. Juli 1948 auf Rückerstattung des im Grundbuch von Lörrach Bd. 14 H.13 eingetragenen

Glückwunschkarte zu Weihnachten von Dr. Samuel Moses. (privat)

40 41 Dreiländermuseum Lörrach III.

DAS EBEN IST FREIHEIT:

NACH KEINER

PFEIFE TANZEN.

Nikolaus Cybinski

42 43 Dreiländermuseum Lörrach Der Angeklagte räumt unumwunden ein, kein Anhänger der Nationalsozialisten zu sein Der Angeklagte räumt unumwunden ein, kein Anhänger der Nationalsozialisten zu sein

Der Angeklagte räumt unumwunden ein, des Briefes wurde von der Geheimen Staatspolizei der Angeklagte ermittelt. […]. kein Anhänger der Nationalsozialisten zu sein (Quelle: privat)

Gespräche mit Ursula Straub (Jhg. 1933) ab 17. Juni 2014. Die Begründung des Feldurteils geht auf den Briefwechsel Tischlers mit weiteren Per- sonen ein, die denselben Tenor aufweisen:

Ursula Straub, geb. Tischler, besuche ich ab 17. Juni 2014 mehrfach. Sie legt mir einen schrift- Am 15.10.1939 wurde der Angeklagte festgenommen. lichen Lebensbericht aus dem Jahre 2013 über sich und ihren Vater, Erich Tischler (1903 – Gleichzeitig nahm die Geheime Feldpolizei eine Durch- 1944), vor. Zudem kann ich verschiedene Dokumente einsehen, die sie im Laufe der Jahre suchung der Wohnung des Angeklagten in Lörrach vor. gesammelt hat, um das Schicksal ihres Vaters nachzuvollziehen. Darunter sind auch Schreiben Es wurden zwei Briefe auf dem Küchenschrank in der ihrer Mutter Rosa Tischler, die sich für ihren Mann eingesetzt hat und nach dem Krieg für seine Wohnung Tischlers gefunden, welche der Angeklagte Rehabilitation kämpft. Aus dem Lebensbericht von Ursula Straub: geschrieben und zur Weiterbeförderung nach Basel be- reitgelegt hatte. Beide Briefe waren nicht frankiert und Wir wohnten ab 1938 im Blauenblick in einem Der Angeklagte [Erich Tischler] räumt unumwun- sollten nach dem Willen des Angeklagten von seiner schönen Holzhaus mit Garten. Damals hatten wir den ein, dass er kein Anhänger der nat.soz. Staatsauf- Ehefrau zur Weiterbeförderung übergeben werden […]. eine BMW 750 mit Seitenwagen, und am Sonntag fassung und Führung sei, sondern der demokratisch Der Angeklagte gibt zu, die soeben genannten Briefe fuhren wir aus, in den Schwarzwald, in die Schweiz, parlamentarischen Idee und paziistischen Idealen geschrieben und zur Beförderung bereitgelegt zu haben. ich im Seitenwagen auf Muttis Schoß. Papi arbeite- anhänge. Als Soldat ist der Angeklagte nicht aufällig Er räumt auch den äußeren, ihm zur Last gelegten Tat- te in der Schweiz, und jeden Morgen, bevor er zur geworden[…]. bestand unumwunden ein. Vor allem aber gesteht der Arbeit ging, kam er in mein Zimmerchen und sagte Bei der Devisenkontrolle in Müllheim/Baden wurde Angeklagte ofen zu, dass er die Absicht gehabt habe, mir Adieu. Eines Morgens war er nicht mehr da. ein Brief von Müllheim mit dem Datum des 28. Sep- vom Militär fortzulaufen, fahnenlüchtig zu werden und Mutti erzählte mir, er habe früh wegfahren müssen. tember1939 erfasst, dessen Umschlag die Adresse‚ in die Schweiz zu gehen […]. Er war mit dem Motorrad eingezogen worden, zu- „Herrn W. Sommer, Baugürtlerei, Frobenstraße 23, Der Angeklagte hat in schnöder Weise sein Volk und erst in Steinen, dann in Müllheim. Manchmal ha- Basel” trug und der mit der Unterschrift „Schubert” sein Vaterland verraten, ein Verrat, der umso schwerer ben wir ihn dort besucht, manchmal kam er heim. versehen war. Der Brieinhalt, der zahlreiche, mittels zu werten ist, als der Angeklagte nicht nur als deutscher […] Nach einem Besuch waren fremde Männer Durchstreichung unleserlich gemachte Stellen enthält, Mann, sondern als Soldat die Treue gebrochen hat. Wä- zu Hause, die Mami mitgenommen und diskutiert lässt die staatsfeindliche Einstellung des Briefschrei- ren seine Briefe seinem Willen entsprechend an die Ad- haben, in welches Kinderheim sie mich stecken bers ohne weiteres erkennen. Er enthält, abgesehen ressaten gelangt, so hätten sie eine schwere Schädigung sollten. Aber bei Tanti, meiner Tagesmutter, wie von abfälligen Äußerungen über die Verplegung, des Wohles und Ansehens des Deutschen Volkes her- man heute sagt – Mami arbeitete als Kontoristen in Unterbringung und Behandlung der Truppe, das Ge- beiführen können. Die Gemeinheit der Gesinnung des Lörrach – war ich gut aufgehoben. Der Bruder der ständnis des Schreibers, dass er gesinnungsmäßig zu Angeklagten ist am eindringlichsten durch die Tatsache Tagesmutter war in der Partei und Bauernführer in den Schweizern gehöre und die Andeutung, dass die bewiesen, dass der Angeklagte jedes Gefühl dafür, der Feld-Urteil gegen Erich Tischler. (privat) Raitbach. Dies geschah, wie ich später in den Akten Berichterstattung der N.S.Presse einseitig und nicht Deutschen Volksgemeinschaft anzugehören, nach sei- lesen konnte, am 15. Oktober 1939, also genau eine objektiv sei. Der Brief schließt mit dem für die Ein- nem eigenen Geständnis verloren hat. […] Woche vor meinem 6. Geburtstag. stellung des Verfassers besonders charakteristischen Als gerechte Sühne für die verwerliche Tat des An- Satz: „Das Regime soll meinetwegen verrecken”. Der geklagten konnte nur eine schwere Zuchthausstrafe in Rosa Tischler, Mutter von Ursula Straub, Was ist geschehen? Brief ist mit der Randbemerkung versehen, dass die Betracht kommen. Das Feldkriegsgericht hat eine sol- stellt auf Anraten des Rechtsanwalts ein Gna- Aus dem Protokoll des Feld-Urteils vom 18. Antwort unter einem fremden Namen erfolgen soll. che von drei Jahren für angemessen erachtet. Mit der dengesuch. Dort ist zu lesen: Januar 1940: Dem Brief lag ein Zettel bei, in welchem ausgeführt Verurteilung zur Zuchthausstrafe ist der Angeklagte ist, die Streichungen seien deshalb vorgenommen, weil wehrunwürdig geworden. Er hat das Recht verwirkt, das Lörrach/Baden, 29. Januar 1940, An die Reichskanz- sie dem Schreiber gefährlich werden und zu seiner Er- Ehrenkleid des Deutschen Soldaten zu tragen. lei des Führers – Gnadenabteilung – Berlin, Wilhelm- mittlung führen könnten. Als Verfasser und Schreiber (Quelle: Feldurteil, privat) platz:

44 45 Dreiländermuseum Lörrach Der Angeklagte räumt unumwunden ein, kein Anhänger der Nationalsozialisten zu sein Der Angeklagte räumt unumwunden ein, kein Anhänger der Nationalsozialisten zu sein

Mein Mann, Erich Tischler, geb. 3.9.1903 in Apol- als Gürtler und Ziseleur hier gemeldete Erich Tischler sich jemand in ein paar Jahren verändert. Nun hatte Nach dem Krieg hat Mutti dann die Urteils-Auf- da/Thüringen, seit dem 1. Oktober 1923 wohnhaft in zu den Agitatoren zu zählen ist, die Unruhen im Jahre ich meinen Papi wieder. hebung des nationalsozialistischen Feldgerichts Lörrach, wurde durch Urteil des Kriegsgerichts, Gericht 1923 in unsere Stadt und in das Wiesental herein ge- beantragt. Mit dem Urteil vom 27. Dezember 1950 des Oberbaustabes 5, Nr. 24430, Freiburg i. Br., i. Str.S. tragen haben. Wenn Tischler des ihm zur Last gelegten Erich Tischler wird erneut eingezogen. Nach wurde das Urteil vom 18. Januar 1940 aufgehoben, gegen Erich Tischler, Soldat der 4. Komp. Bauabtl. 58 Verbrechens der Zersetzung der Wehrkraft nachgewie- Aussagen seiner Tochter kommt er noch ein- weil der „Verurteilte aus Gegnerschaft gegen den wegen Verbrechen nach § 5 Zif.3 der Kriegssonderstraf- sen ist, so soll ihn das ausgesprochene Strafmaß in vol- mal auf Urlaub nach Hause. Bei diesem Ur- Nationalsozialismus gehandelt hat”. Die Kosten des rechtsverordnung, Aktenzeichen I 57/39 am 21. Novem- ler Härte trefen. Der verheerende Ausgang des letzten laub, so erinnert sich Ursula Straub, habe er Verfahrens wurden der Staatskasse angelastet. Als ber 1939 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Seit Ende Krieges hat zur Genüge bewiesen, wohin man kommt zu ihr gesagt, sie müsse jetzt tapfer sein. Nach mir das erzählt wurde, war ich zunächst wenig be- Dezember 1939 beindet er sich im Strafgefangenenla- mit einer Truppe, die innerlich zersetzt und zum Unge- ihrer Erinnerung war es immer am Sonntag, eindruckt, war ich doch erst 17 Jahre alt. Aber Mut- ger VII Esterwegen, Kreis Aschendorf-Hümmling […]. horsam verleitet wird. Ich halte deshalb die Entfernung wenn sich etwas Grundlegendes ereignet hat: ti erklärte, dass wir formell immer noch Angehöri- Mein Mann hat 15 Jahre in der Schweiz gearbeitet, er des Tischler aus dem Kreise der anständig Gesinnten als ge eines Zuchthäuslers seien, was mir in meinem ging morgens früh weg und kam erst abends wieder nach dringend geboten und vermag deshalb dem vorliegenden Schon wieder war es ein Sonntag, ein Mann in späteren Leben – Beruf, Heirat – durchaus schaden Hause. So kam es, dass er einmal den Verhältnissen hier Gnadengesuch nicht beizuplichten. brauner Uniform kam. Dieser Mann erklärte mir, könne. Nun beantragte Mutti auch Haftentschädi- im neuen Deutschland nicht näher kam und zum ande- (Quelle: StALö IX.6) dass mein Vater am 11. Juli 1944 auf dem Feld der gung in ihrem und in meinem Namen als Papas ren doch den ganzen Tag den fremden Einlüssen ausge- Ehre den Heldentod erlitten habe für Führer, Volk Erben. Uns wurde nach langem Hin und Her mit setzt war. Er sieht ein, dass er ein Unrecht begangen hat Trotz des Urteils der Wehrunwürdigkeit wird und Vaterland. Beschluss des Landesamtes für Wiedergutmachung und dafür bestraft werden muss, doch ist die Strafe in Erich Tischler nach einem Teil der Haftverbü- Freiburg vom 14. Oktober 1955 – 16 Jahre nach Anbetracht der Tatsache, dass keiner der Briefe ins Aus- ßung eingezogen. Weiter im Lebensbericht Als wir in der Adventszeit 1944 ein paar Nächte der Verhaftung – eine Haftentschädigungssumme land kam, sondern alle zurückgehalten wurden, somit von Ursula Straub: im Keller geschlafen hatten – vermutlich wegen Flie- zugesprochen. also kein Schaden angerichtet war und ferner angesichts geralarm und Jagdbomberbeschuss – hat Mutti mit der Tatsache, dass mein Mann noch nicht die geringste Das habe ich alles erst nach dem Krieg erfahren. Freunden auf dem Hotzenwald telefoniert. Sie sag- Ich weiß heute nicht, ob es in Muttis Sinne ist, Vorstrafe hat, sehr hart […]. Wenn auch eine Zurück- Meine Eltern haben alles von mir fern gehalten. ten, sie hätten acht Kinder, da wird ein neuntes auch dass ich diesen Bericht abgebe und veröffentlichen versetzung zur Baukompanie wohl kaum in Frage kom- Aber ich weiß noch, wie mich am nächsten Tag die noch satt. So verbrachte ich die letzten Kriegsmonate lasse. Aber eines weiß ich, Papa wäre damit einver- men kann, möchte ich doch bitten, ihm Strafaufschub Metzgersfrau fragte, ob es stimmt, dass meine El- in Ruhe vor Bomben und Beschüssen, hatte ein gutes standen, dass sein und unser Schicksal nicht ganz auf Wohlverhalten zu gewähren. tern im Gefängnis sind. Meine Mami kam nach acht Essen und war in der Familie geborgen. An einem vergessen wird. Denn ich werde jetzt bald 81 Jahre (Quelle: privat) Tagen zurück. Sonntag begleitete ich Mutti wie immer ein Stück, sie alt, und die meisten Zeitzeugen sind wohl nimmer kam jedes Wochenende nach Herrischried, und sie unter den Lebenden. Mögen den folgenden Gene- Ursula Straub führt in ihrem Bericht aus, Auch habe ich mich gewundert, dass mein Papi musste mich mit Gewalt wieder zurückschicken, wie rationen solche schrecklichen Schicksale erspart dass es ihrer Mutter wohl schwer gefallen sei, nie auf Urlaub kam. Ich ging dann in die Schule, wenn ich etwas geahnt hätte. Es war wenige Tage vor bleiben. ein solches Gesuch zu schreiben, einerseits war eine gute Schülerin. In der 4. Klasse sollte ich Kriegsende. Die Franzosen waren da, wir waren wie die Schuld zuzugeben, Gründe zu suchen, wa- zu den Jungmädeln. Aber Mutti hat gesagt, das von der Welt abgeschnitten. Insbesondere von Mutti Im Zusammenhang mit dem Verfahren rum ihr Mann so gehandelt habe und gar Wie- komme nicht in Frage, ich sei viel zu zart und nicht hörten wir nichts, es kam keine Post, kein Telefon zur Aufhebung des Feldurteils und des Haft- dergutmachung durch ihren Mann zu verspre- gesund, und Frau Dr. Schier hat mir ein Attest ge- ging, wir rechneten schon damit, dass Mutti nicht entschädigungsverfahrens zeigt mir Ursula chen, dass er, ihr Mann, bei der Verteidigung schrieben. Eigentlich hätte ich gerne dazu gehört, mehr leben würde. Wir hatten Ausgangsverbot von Straub zwei Schriftstücke. Das erste ist eine des Vaterlandes mithelfen werde. Ihre Mutter aber es gab ein Nein von meiner Mutter. abends 8 Uhr bis morgens 8 Uhr. Da ging die Haus- „Biographye”, ohne Datum und unterschrie- erfährt dann auch, dass das Gnadengesuch tür auf. Da stand Mutti in der Türe. Unbeschreibliche ben von Alfred Göring. Dieser schreibt: zur Stellungnahme dem damaligen Lörracher An einem Sonntag spielte ich vor dem Haus, es Freude. Mutti hatte einem Mädchen, das einen Fran- Bürgermeister Reinhard Boos vorgelegt wor- war wohl 1943. Plötzlich ertönte ein Pfiff, ein frem- zosen zum Freund hatte, ein paar Stücke Stoff ge- Frühzeitig erkannte Erich Tischler die Gefahr des Fa- den ist. Am 20. Mai 1940 gibt Bürgermeister der Soldat kam daher. Mami sauste die Treppe her- schenkt, sie war doch Kontoristen und Sekretärin in schismus und Militarismus. Schon im Jahre 1924 schloss Boos seine Stellungnahme ab: unter, und ich erfuhr, dies sei mein Papi. Das habe der Seidenweberei, und das Mädchen hatte ihr einen er sich der Friedensbewegung an, in der er auch eifriger ich nicht geglaubt, ich rannte ins Wohnzimmer, „Laissez-passer” besorgt, „pour aller chercher son en- Kämpfer gegen den Krieg und jede Gewaltherrschaft Ich habe die obige Angelegenheit einer eingehenden nahm ein Foto von der Wand und habe verglichen. fant malade”. Wir hatten einen langen Spaziergang wurde. Wieder sagte er: „Krieg ist das größte Verbre- Prüfung unterzogen und gelange zu der Aufassung, Meine Eltern hatten Mühe, mir zu erklären, dass gemacht, und nun erfuhr ich all das Schwere, was sie chen”, und diese Worte wurden Erich Tischler später dass der am 3. September 1903 zu Apolda geborene, mit Papa erlebt hatte. zum Verhängnis. In den Jahren 1923/25 trat er der so-

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zialdemokratischen Partei bei, in der er ein treuer und Nazi-Verfolgten, illegal nach der Schweiz zu kommen; „Nun häuften sich die Besuche der Gestapo” stiller Kämpfer war mit einer äußerst gesunden Welt- im Weiterleiten von Nachrichten nach Deutschland und anschauung. Zugleich war Tischler ein eifriger Natur- in der Beschafung von gewünschten Informationen, de- Gespräche mit Gertrud Herbster (Jhg. 1939), Tochter von Paul Herbster., ab 11. Juli. 2014. Sie legt einen freund und Schachspieler im Arbeiterschachclub. Etwa ren politische Auswertung in den Berichten des sozial- Zettelkasten vor, in dem handschriftliche Aufzeichnungen ihres Vaters ungeordnet gesammelt sind. im Jahre 1932, als im Deutschen Reichstag Anleihen demokratischen Parteivorstands in Prag CSR, später in für Panzerkreuzer gezeichnet wurden, vollzog er seinen Paris, erfolgte. Austritt aus der sozialdemokratischen Partei […].In (Quelle: privat)8 den ersten Kriegstagen des Jahres 1939 musste ausge- Gertrud Herbster kann man in Lörrach als Stadtführerin begegnen. Sie informiert ihre Gäste rechnet er, Anhänger der Friedensbewegung, Kriegsgeg- Es folgt eine Aulistung der Ämter, die Ge- über die Textilgeschichte der Stadt Lörrach, an ausgewählten Bauten über das Leben der Ar- ner und Sozialist, die ihm verluchte Uniform anziehen. org Dietrich während dieser Zeit in der inter- beiter um 1900 und auch über das Wirken der Sozialdemokraten im 20. Jahrhundert. Sie ist Schon nach wenigen Wochen Militärzeit erreichte Erich nationalen sozialdemokratischen Partei bis Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Das politische und soziale Denken hat Tischler das Schicksal […]. 1939 ausgeübt hat. 1939 ist er in die USA sie von ihrem Vater Paul Herbster (1906 – 1993) übernommen. (Quelle: privat) ausgewandert. Ursula Straub erwähnt noch, Ich treffe sie im Dreiländermuseum in Lörrach, wo sie immer wieder Aufsicht führt. Auch dort dass sie von ihrer Mutter wisse, dass zu jenen gibt sie gerne Auskunft. Im 2. Obergeschoss führt sie mich in ein verstecktes Kabinett. Wir Rosa Tischler, Erich Tischlers Ehefrau, sucht Personen, die in die Schweiz illegal durch Hil- schlagen den dicken Vorhang beiseite, das Licht geht kurz an, dann wieder aus, nun leuchten auch im Hinblick auf Haftentschädigung nach fe ihres Vaters vor dem Krieg gelangt seien, die Steine in den Vitrinen in vielen Farben. Fast andächtig lüstert sie mir zu: „Die hat mein Erklärungen, die ihrem im Krieg gefallenen auch viele jüdische Menschen gehört hätten. Vater gesammelt!” Mann bescheinigen, dass er sich gegen den Nationalsozialismus gewandt habe. Die vie- Paul Herbster hat sich einen Namen ge- seite von Papierilterschachteln, Kartonstücke len Schreiben machen deutlich, wie viel Mühe macht auf dem Gebiet der Mineralogie. In von Päckchen, die er erhalten hat, Einkaufs- und Ausdauer sie aufwenden musste, um An- jahrzehntelanger Kleinarbeit hat er eine um- listen oder einseitig beschriebene oder ge- erkennung zu inden. Das hat Kraft und Zeit fangreiche Sammlung von Steinen und Mi- druckte Papiere, manchmal gar Fetzen. Es sei gebraucht; ihre frühere Tätigkeit bei einem neralien zusammen- keine Sparsamkeit Anwalt nützt ihr. Ein Stuttgarter Kriminal- getragen und dem gewesen, meint die kommissar kommt ihr endlich zu Hilfe. Von Dreiländermuseum Tochter heute, wenn ihm erfährt sie die Adresse des Georg Diet- geschenkt. Auf zahl- er geschrieben habe, rich, einst als Georg Schubert (s. o.) in Wi- losen Wanderungen musste es unmittel- derstandskreisen der SPD in Lörrach bekannt im Schwarzwald und bar sein, und dann (vgl. Text S. 56 ff.). Dieser „Schubert”, ein in den Alpen hat sich ist das Papier gerade Deckname, dessen sich auch Erich Tischler seine Leidenschaft recht gewesen, auf bedient hat, wird auch im „Feldurteil” gegen ausgeprägt. das man schreiben Tischler erwähnt. Georg Dietrich alias Georg Gertrud Herbster konnte. Die einzel- Schubert schreibt am 22. März 1955 eine lädt mich zu sich nen Themen sind „Eidesstattliche Erklärung” aus Rochester im nach Hause ein. Sie nicht verbunden, Staat New York: holt ein goldfarbenes sie stehen für sich, Kästchen aus dem die dazugehörenden Ich, Georg Philipp Dietrich, erkläre hiermit an Eides- Schrank. Im Käst- Gertrud Herbster beim Sichten der Unterlagen ihres Blätter sind num- statt, dass Herr Tischler von Lörrach, Baden, während chen bewahrt sie Vaters. (Foto: Hj. Noe) meriert, manchmal meines Aufenthaltes in Basel, Schweiz, als ein von der zahllose, von Paul mit Büroklammern schweizerischen Bundesanwaltschaft anerkannter poli- Herbster handge- zusammengehalten. tischer Flüchtling, einer meiner Verbindungsleute nach schriebene Zettel auf, auf denen er aus sei- Die Ereignisse aus den 1930er Jahren, dem dem von den Nazis beherrschten Deutschland war. Herr nem Leben berichtet. Es scheint, dass Herbs- Krieg und der ersten Nachkriegszeit, die Paul Tischler arbeitete während dieser Zeit in Basel. Seine ter fast explosiv geschrieben hat. Wenn das Herbster beschreibt, sind oft kleine Begeben- Tätigkeit in Verbindung mit mir bestand im Helfen von Papier ausgegangen ist, nimmt er die Rück- heiten, die er in den 1950er Jahren notiert.

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Was ihn angetrieben hat, dann erst aufzu- wir würden verfolgt und fuhren so schnell, wie wir konn- Paul Herbster ist Mitbegründer der SAJ, Schubladen wurden auf den Boden ausgeschüttet, Wän- schreiben, kann die Tochter nicht mehr nach- ten, in Richtung Bern. der Sozialistischen Arbeiterjugend (1922). Er de und Fußboden abgeklopft. Die meisten dieser Besu- vollziehen. Die Schrift ist zuweilen gut lesbar, macht eine Gärtnerlehre, wird arbeitslos und che kamen früh um 5 Uhr oder nach 12 Uhr. Meistens manchmal sieht sie hektisch aus, wie wenn Erst vor Zollikofen legten wir eine kurze Rast ein, tritt erst 1931 in die Gießerei Trickes als Tage- kamen 2 - 3 Gestapo-Beamte und 3 - 4 Schutzleute, um der Schreiber eben nur jetzt und sofort schrei- denn vor Einbruch der Dunkelheit wollten wir am Ziel, löhner ein; später wird er dort Gießermeister. alle Ausgänge zu kontrollieren. Auch unsere Sonntags- ben konnte und wollte. Ich darf hineinsehen Kandersteg, sein. Wir hatten eine Strecke von 183 km Herbster wohnt damals in der Hammerstraße, auslüge wurden überwacht. Ich erinnere mich noch an und lese in einem der Schriftstücke: zurückgelegt. In einem Heustadel hinter dem Dorf be- direkt an der Grenze. Das Stadtgebiet dort den 1. Mai 1933, dies sollte der erste Feiertag für die zogen wir Quartier und versteckten unsere Fahrräder mit der Dammstraße ist ein unruhiges Arbei- Arbeiter werden. Mit meinen Kameraden verabredete Die Urlaubspläne waren längst ausgereift, das Ziel unter dem Heu. Am anderen Morgen stampften wir mit terviertel. Paul Herbster ist ein selbstständi- ich, statt an dem Rummel teilzunehmen, nach Mög- war das Gastnertal bei Kandersteg. Täglich wuchs das schweren Traglasten durch den so genannten Klus hin- ger, selbstbewusster Geist. Er lässt sich nicht lichkeit in der Nähe des „Hohen Fels” bei Endenburg Bündel der mitzunehmenden Gegenstände: Zelte, Berg- auf ins herrliche Gastnertal. Hinter dem Weiler Selden gerne bevormunden. Paul Herbster in seinen uns zu trefen. Wir setzten uns am Vorabend unbemerkt steigerausrüstung, Lebensmittel und allerlei Kleinkram. fanden wir einen geeigneten Zeltplatz mit Sicht auf das handschriftlichen Aufzeichnungen: mit dem Fahrrad ab. In der Nacht trafen andere Ka- Dies alles sollte auf Fahrrädern mitgenommen werden. Hockenhorn, den Lötschbergpass und das Mutthorn. meraden ein, weitere am Morgen des 1. Mai. Aber ab Für mich stand noch ein unlösbares Hindernis im Weg: Den Tal-abschluss bildete der Kander-Firn mit seinem Als Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterjugend 5 Uhr morgens hatte die DAF [Deutsche Arbeitsfront] Die Gestapo hatte mir den Reisepass entzogen, und ohne zerklüfteten Abbruch. nahm ich regen Anteil am politischen Geschehen nach alle Ausfallstraßen abgeriegelt. Auch die Brücken über ein solches Dokument war die Ausreise nicht möglich. dem Ersten Weltkrieg. Noch sind mir die Ereignisse vom die Wiese waren gesperrt. Kurz entschlossen durchquer- Unter meinen Papieren fand ich noch eine alte „Grüne Nur allzu schnell verstrich die Zeit, und wir mussten November 1923 in bester Erinnerung. Nach Beruhigung ten meine Kameraden mit dem Fahrrad die Wiese etwa Grenzkarte”, die schon lange abgelaufen war. Zwar lief Abschied nehmen von dem Paradies. Nun begann für der Lage nahm der gesellschaftliche Alltag seinen Fort- in der Höhe der KBC. Im Laufe des Vormittags waren ein Antrag auf einen neuen Pass, aber er wurde schließ- mich eine dramatische Rückkehr in die Heimat. In Kan- gang. Doch bald nahm das Anschwellen der „Braunen dann alle Unentwegten am „Hohen Fels”. Aus Sicher- lich abgelehnt. Jetzt wurde die Situation ernst. Erneut dersteg angekommen, stellten wir fest, dass unsere Fahr- Bataillone” beängstigende Formen an. Die Parolen Hit- heitsgründen kehrten wir erst in der Nacht wieder nach ging ich zum Passamt und legte die abgelaufene Karte räder nicht mehr da waren. Alles Suchen war zunächst lers waren zu verlockend. Ich erinnere mich noch, dass Lörrach zurück. […] zur Verlängerung vor, jedoch ohne Erfolg. Meinen war- erfolglos. Da kam ein Melker daher und gestand uns, Anfang November einer meiner Kameraden ein Tele- tenden Kameraden gab ich den Rat, am Eglisee [Halte- dass er beim Wegräumen des Heus plötzlich ein Fahrrad fon aus München erhielt, worin er aufgefordert wurde, Vorausschauend, was auf uns zukommen würde, mie- stelle der Straßenbahn zwischen Riehen und Basel] auf an der Gabel hatte. Nach einer Stärkung pumpten wir sofort nach München zu kommen. Dabei handelte es tete ich im Hotzenwald zu Weihnachten1932 eine Holz- mich zu warten. Mein ausgeheckter Plan begann an der unsere Fahrräder auf, und es ging talwärts der Heimat sich um den geplanten Hitlerputsch am 9. November hauerhütte, um einen Trefpunkt zu haben im Falle des Hammerstraße Wirklichkeit zu werden. entgegen. Unterwegs begann es heftig zu regnen, so dass 1923. Mit viel Umtrieb und Fackelzügen feierten die Falles. Der Förster kam uns auf die Schliche. Er sagte, wir uns entschlossen, bei Öhningen am Waldrand zu Hitlers in Lörrach den Wahlsieg 1933. Mit einem Ka- dass er schon gesehen habe, dass wir nicht regierungs- Es war Mittagszeit und die Straße menschenleer. Im zelten. Je näher wir zur Grenze kamen, desto gedrückter meraden standen wir auf der Rampe der Eilgüterhalle. freundlich eingestellt seien. Ich wusste, dass er früher Anhänger saß als einziger Fahrgast eine Frau. [Damals wurde die Stimmung. Alles konzentrierte sich auf den Zum Nachdenken war es zu spät für uns. Bald kamen dem Zentrum nahe stand. Unser Vertrag bestand darin, fuhr noch eine Straßenbahn vom Bahnhof Lörrach bis Gedanken, wie ich wohl unbeschadet über die Grenze die Verbote der Vereine und Organisationen: Nun roll- dass wir solange die Hütte als Unterschlupf behalten nach Basel.] Zwei SS-Männer bestiegen den Motor- kommen kann. Aber mein Plan stand fest. An der Weiler te die Verhaftungswelle an. Gewerkschaftsführer und dürften, bis das Hitlerregime zu Ende sei. Dort wurden wagen und kontrollierten die Frau. Ich konnte mich Straße in Riehen trennten wir uns, um uns bei mir zu Anders-Denkende kamen in Schutzhaft. Die meisten wir ständig beobachtet. Die Gestapo wollte wissen, was zwischen Motorwagen und Anhänger festhalten und so Hause zu trefen. So fuhr ich alleine an der Wiese ent- Vereine wurden gleichgeschaltet und ihres Vermögens wir da wohl trieben. Ein Seil war immer ein Beweis da- unbemerkt bis zur Grenze gelangen. Nun galt es noch lang bis zur Grenze am Grenzweg. Dort stand dann der beraubt. Komischerweise blieb der Schwarzwaldverein für, dass wir im Wehratal kletterten. den Schweizer Zöllner zu überlisten. Seine Frage war: Wachtposten, dann das übliche Gerede, woher und wo- unangetastet. Andere Vereine bekamen an Stelle des „Hänn Ihr au en Pass?” Meine ausweichende Antwort: hin. Papiere wollte er sehen, aber ich hatte keine. Zum Vorsitzenden einen „Vereinsführer”. Lagebesprechungen Inzwischen lief der Rummel um die Machtergreifung „I muess en z’erscht sueche!” In der Ferne sah ich ein Glück hatte er kein Telefon, denn ich behauptete, dass mussten unter freiem Himmel im Wald geführt werden. mächtig an. Fast jeden Abend wurde mit Fackelzügen Auto aus Richtung Lörrach kommen. Ich riet dem Zöll- ich vom Weiler Zoll komme und nicht mit dem schweren Die Freunde der Arbeiterjugend trafen sich an einem etwas gefeiert. Die braunen Horden wuchsen an. Nach ner, zuerst das Auto abzufertigen. Während der Auto- Rucksack über den Berg wollte. So ließ er mich gehen. Sonntagmittag zu einem Spaziergang nahe Inzlingen, dem Wahlsieg Hitlers kamen die sog. „Braunen Hem- fahrer das Fenster herunter drehte und der Zöllner sei- Ich wollte eine längere Debatte vermeiden, schwang die Naturfreunde trafen sich illegal im Schweizer Jura. den”, genannt [SA]. Mit ihren brutalen nen Kopf hinein steckte, war für mich die Gelegenheit mich auf mein Fahrrad und fuhr schleunigst nach Hau- Für mich war das Jahr für Jahr die letzte Möglichkeit, in Schlägermethoden begann auch der Kampf gegen alle gekommen, die Flucht in den Urlaub fortzusetzen. Um se. Dort warteten meine Kameraden. die Schweiz zu kommen, denn gleich nach Ostern wurde Anders-Denkenden. So kam es nach einer Sprengung keine Zeit zu verlieren, winkte ich meinen am Eglisee (Quelle: privat) mir die Grenzkarte abgenommen. Nun häuften sich die einer Versammlung der „Eisernen Front” durch die wartenden Kameraden, mir zu folgen. Wir glaubten, nächtlichen Besuche der Gestapo. Immer dasselbe Bild; SA-Horden zu einem Straßenkampf, der sich bis zur

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Belchenstraße hinzog. Obwohl die SA mit dem Dolch Ich wohnte zu der Zeit in der Dorfmitte [Lörrach- ten Drehkondensator. Dabei konnte ich ein einmaliges „Blut und Ehre” ausgestattet war, bediente man sich mit Stetten], in einem alten Haus. Es wurde fast rund um Gespräch empfangen: Der Graf-Zeppelin war im Lan- Knüppeln und Stecken. Die Gendarmerie, die damals die Uhr beobachtet. Der Zufall wollte es, dass mein Ka- deanlug auf den Basler Flugplatz. […] Nun wollte ich zu Pferde war, sollte die Mannen auseinander treiben, merad, der ein Grundstück am Zaun hatte und Dickrü- Amateurfunker werden und habe mich dann beworben. hatte es aber hauptsächlich auf Nazi-Gegner abgesehen. ben anplanzte, bei Einbruch der Dunkelheit ein Paket Aber wegen meiner politischen Unzuverlässigkeit hatte Mit meinen Kameraden lüchteten wir durch die Unter- mit Druckschriften zu mir bringen wollte. Als er eben ich Schwierigkeiten. […] führung bei Suchard. Aber die Pferde waren schneller als das Haus betreten wollte, bemerkte er, dass die Gestapo wir. Roß und Reiter verfolgten uns bis auf die Höhe des im Begrif war, mein Haus zu durchsuchen. In aller Eile Insbesondere die Erläuterungen des Schweizers Jean Hebelparks. […] warf er das Bündel in einen Klappstuhl an der Haus- Rudolf von Salis [Rundfunkkommentator bei Beromüns- wand. Der Klappstuhl klappte zu, und das Bündel war ter]9, am Freitagabend erwartete man in der Grenzre- Gleichschalten, das war doch die Parole. Alles wurde versteckt. Etwa fünf Beamte durchsuchten das Haus, gion. Aber für das Hören der Kommentare des von Sa- gleichgeschaltet, und die sich nicht gleichschalten ließen, klopften die Wände ab und fanden nichts. Gegen Mitter- lis hatten die neuen Gesetze kein Verständnis. Abfällig hat man einfach verboten. Mir ist noch eine andere Art nacht klopfte mein Kamerad an der Tür und erkundigte hatte sich Goebbels über die Schweiz geäußert. Um der in bester Erinnerung: So hat man einfach die Lörracher sich, ob sie etwas gefunden hätten. Welch ein Glück für Versuchung entgegenzuwirken, wurden alle Wohnungen Arbeitermusik in SA-Uniformen gesteckt und schon war ihn und mich, im Falle des Auindens wären wir ins KZ im Grenzraum an ein Netz angeschlossen, mit dem nur die SA-Standartenkapelle geboren. Statt gleichschalten gekommen. […] deutsche Sender empfangen werden konnten. gab es noch andere Methoden: So hat man den Stahl- helm, den Bruder der SA, einfach verboten und das Mit den neuen Gesetzen wurde das Abhören auslän- Es wurden auch entlang der Grenze Störsender in Paul Herbster (links) mit seinem selbst gebauten Vermögen eingezogen. Auf diese Weise wurden alle discher Sender unter Strafe gestellt. Aber gerade in der Betrieb genommen, so eine Anlage zwischen Inzlingen Rundfunk-Empfänger. (privat) Arbeitervereine, Gesangvereine, Samariterbund, die Grenzzone wollte man die ausländischen Sender hören, und Lörrach. Die Mannschaft dieses Senders wohnte im Naturfreunde verboten und ihr Vermögen eingezogen. um sich ein Bild zu machen, wie das Ausland reagierte. Waidhof. Trotzdem ließen wir nicht davon ab. Und es Auch die freie Turnerschaft, SAJ, katholische Jugend, Bei meinen Wanderungen hatte ich stets in einer Fo- kam immer wieder zu Anzeigen und Festnahmen wegen führenden Köpfe der Nationalsozialisten rollen Schalmeienkapelle, Kraftverein „Solidarität” und viele totasche einen Kleinstempfänger dabei. So konnte ich Abhörens ausländischer Sender. Bei Kriegsbeginn spitzte mögen. Eine weitere Notiz von Paul Herbster: andere! Alle übrigen Gruppen wurden umgetauft oder überall das Neueste erfahren. Zu bemerken ist, dass die sich die Lage zu. Die Bürger wurden misstrauisch, sie verboten. In den Betrieben wurden die Betriebsräte ab- Kristallempfänger ohne Batterie funktionierten. Meine nahmen die Wehrmachtsberichte nicht mehr ernst. Nach den Plänen des Militärs wurde Lörrach zur Ver- gesetzt und durch sog. Betriebsobmänner ersetzt. In je- Kameraden waren begeistert von der Möglichkeit, ir- (Quelle: privat) teidigung eingerichtet. Die Hauptverteidigungslinie war dem einzelnen Betrieb wurden Werkscharen gegründet; gendwo im Zelt das kleine Gerät in Betrieb zu nehmen, das Kanalsystem unter der Erde. An wichtigen Straßen- diesen Stoßtrupp hat man nach italienischem Muster um am Weltgeschehen teilzuhaben. Da fällt mir ein, die Über das Ende des Krieges inde ich in dem kreuzungen wurden Panzersperren mit Baumstämmen schwarz gekleidet. […] Heidelbeeren waren reif, und wir schlugen abends das Kästchen von Gertrud Herbster einige Notizen eingerichtet. Die Firma Schumacher in Haltingen lie- Zelt auf dem Wambacher Wasen [am Oberlauf des Stei- ihres Vaters: ferte große Zementrohre mit Schießscharten. Am Fro- Um die Flucht der Hitlergegner zu verhindern, wurde nenbaches] auf. Bei Einbruch der Dunkelheit warf ich scheck [Nähe Bahnhof Stetten] stand so eine Anlage und die Grenze nach der Schweiz mit einem hohen Draht- die Antenne über einen Ast und schaltete ein. Da kam Vertrauliche Besprechung im August 1944 im Bie- an der Mauer der Adolf-Hitler-Schule [heute Fridolin- zaun [ab 1942 bis zu 3 m hoch und 8 m tief] abgesi- plötzlich von der Scheideck ein heftiges Gewitter. Vor nenhaus des Eugen Reinert. Anwesend waren Reinert, schule]. Es gab auch solche, die das Ende nicht erkann- chert und von SA- und SS-Leuten bewacht. Die Grenze lauter Angst warf ich die Antenne wieder ab. Gegen 10 Fritz Keser, Pfarrer Wilkens, um uns über die Lage nach ten, so einige HJ-Jünglinge, die bauten am Froscheck verlief über freies Feld und Wald von Weil am Rhein bis Uhr war der Spuk vorbei. Mit der Taschenlampe suchte der Pleite Hitlers Gedanken zu machen. noch einen Erdbunker mit MG. Trotz meines Einspruchs Grenzach. Vielen gelang die Flucht über oder unter dem ich wieder den Antennendraht, schaltete ein und hör- (Quelle: privat) ließen die Jünglinge nicht davon ab. Zaun durch. Flugblätter und Druckschriften erstellten die te Hitlers Stimme, der die Erschießung von SA-Führer in Basel untergebrachten Emigranten, um die Dageblie- Röhm bekannt gab. Einen Teil dieses Kleinempfängers Das Bienenhaus Reinerts liegt damals am Ich war Angehöriger des letzten Aufgebots. Nachdem benen zu unterstützen. Bündelweise versuchten Kurie- habe ich noch als Erinnerungsstück aufgehoben. […] Hünerberg. Reinert wird im Zusammenhang ich zwei Einberufungen zum Volkssturm zurückgegeben re Druckschriften illegal über die Grenze zu befördern. Mein Interesse richtete sich auch auf den Kurzwellen- mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 hatte, wurde es das dritte Mal ernst. In der Schule in Hiesige Vertrauensleute, welche in der Nähe des Zauns bereich wegen der größeren Reichweite. An Spulen be- (vgl. Text S. 68 ff.) verhaftet. Pfarrer Wilkens Brombach war die Sammelstelle. Wir waren drei uni- Felder hatten, schritten mit Feldgeräten die Felder ab und nötigte ich nur ein paar Windungen. An einem Sonn- aus Efringen ebenso; er hat gegen Hitler ge- formierte Feuerwehrleute. Jeder bekam ein Gewehr brachten die Druckschriften zu Vertrauensleuten, von wo tag baute ich so ein Gerät zusammen. Als Spulenträger predigt, laut gesagt, dass er sich wünsche, und drei Patronen. In einem freigemachten Fabriksaal andere Kuriere die Schriften illegal ins Inland beförderten. nahm ich einen alten Fadensockel und einen abgeänder- dass Deutschland den Krieg verliere und die wurden wir untergebracht. Da ich als Melder eingeteilt

52 53 Dreiländermuseum Lörrach Nun häuften sich die Besuche der Gestapo Nun häuften sich die Besuche der Gestapo

war, hatte ich mein Fahrrad dabei. Wir marschierten Zimmer. Jetzt ging’s wieder ins Quartier, dort bekamen der Naturfreunde als Geschäftsführer beschäftigt. Es geschlossen in die Hauinger Schule. Dort sollten wir wir eine Suppe und ein Stück Brot. Mit einem mir un- umfasste alle Naturfreundegruppen und deren Häuser SA-mäßig eingekleidet werden. Jeder konnte ein Paar bekannten Mann hatte ich den Auftrag, die Eisenbahn- in der französischen Zone. Nach acht Jahren konnte Schuhe aussuchen. Der Spieß führte uns in ein anderes brücke bei Brombach zu schützen. Dort standen wir bis dieses Kapitel abgeschlossen werden. In der Gruppe in Zimmer, wo in einer Ecke ein Haufen SA-Mäntel lagen. zum Einbruch der Dunkelheit. Es kam eine Ablösung. Lörrach übernahm ich die Leitung. Auch wurde ich ins Jeder sollte so einen „Goldfasan-Mantel” anprobieren. Bei mir war ein Mann aus Weil. Mit einem Fahrrad Schöfengericht und in den Bürgerausschuss gewählt. Wir weigerten uns, so ein Kleidungsstück anzuziehen. fuhr er durch den Tunnel nach Weil. Er sollte dort die (Quelle: privat) Langsam schlich sich einer nach dem anderen aus dem Lage erkunden. Etwa um 3 Uhr nachts kam er zurück. Er berichtete, dass die Soldaten vom Westwall lucht- Nach dem stillen und aufmerksamen Lesen artig ihre Stellungen verlassen hätten. Die Marokkaner der handschriftlichen Aufzeichnungen Paul stünden vor Efringen. Während der Spieß schlief, be- Herbsters, dem mit Gertrud Herbster ge- rieten wir, was zu tun sei. Mein Vorschlag war, keine meinsamen Entziffern der handschriftlichen Panikstimmung zu erzeugen und abzuwarten. Keiner Eigenheiten des Vaters, erzählt mir die Toch- wollte von uns in Gefangenschaft. Es kamen auch West- ter noch vom Vater: wallsoldaten in Brombach an und schilderten die Lage. Im Röttler Wald hörten wir Schüsse. Der Wachmann Ich glaube, mein Vater hat mehr als 50 Touren am Eingang weckte den Spieß und sagte in militäri- in die Alpen gemacht und viele Berge über 4000 m scher Haltung: „Feindliche Truppe im Anmarsch!”. Mei- erstiegen. Eben dort hat er seine Steine gefunden ne Kameraden und ich aber entfernten uns. Wir hatten und den Lörracher Verein der Mineralienfreunde drei Gewehre und 9 Patronen. Bei der Brombacher Kir- gegründet. Die Mineralien, die er dem Museum ge- che wichen wir in den Homburger Wald, überquerten schenkt hat und die dort ausgestellt sind, stammen vorsichtig die Wallbrunnstraße und tauchten im Schüt- aus dem Schwarzwald. Vater hat viele Talente ge- zenwald unter. Beim Stettener Friedhof hatte ich ein habt. So wird er auch tätig im „Zentrum für Spielen Bienenhäusle, dort versteckten wir uns. […] und Gestalten”, der Kaltenbachstiftung. Und man- che seiner Interessen habe ich geerbt und bin ihm Der Krieg war zu Ende, wir standen unter Kriegs- gefolgt, so zu den Naturfreunden, in die SPD und recht. Es war eine bewegte Zeit. Aber langsam begann in Betreuungsprogramme für Kinder, auch auf dem das bürgerliche Leben zu wachsen. Nun mussten wir „Kaltenbach-Spielplatz”. uns nach dem Willen der Sieger richten. Nur langsam begann das Leben in den Vereinen und Gruppen. Die Be- triebe standen still, Maschinen wurden demontiert, Fa- briken ausgeräumt.Nach dem Willen der Sieger wurden viele Amtsstellen neu besetzt. Als ehemaliger Gegner des Dritten Reiches wurde ich bei der politischen Abteilung der deutschen Polizei als Sekretär eingesetzt. […] Vom ersten Landrat nach dem Krieg wurde ich zum Ressort „Jugend und Sport” eingesetzt. Gruppen und Vereine mussten politische Fragebogen einreichen und auf eine Wiederzulassung warten. Mehrmals bin ich in meiner Funktion nach Feiburg gefahren. Gleichzeitig wurde ich mit der Aufgabe der Wiedergutmachung betraut, ins- besondere leitete ich diese Verfahren für über 35 Na- Einberufungsbefehl für Paul Herbster. turfreunde in die Wege. Das zuständige Gericht war in (privat) Freiburg. Gleichzeitig war ich mit dem Wiederaufbau

54 55 Dreiländermuseum Lörrach Im „Papageienviertel” von Lörrach Im „Papageienviertel” von Lörrach

Im „Papageienviertel” von Lörrach fred Bosch für dessen Buch „Als die Freiheit stützten sogar 1917 die Fahrt von Lenin nach Russland. unterging” geführt hat. Bei einem späteren In Friedrichshafen waren viele Arbeiter, die organisiert Gespräche mit Vreni Hirt (Jhg. 1935), geb. Huber, über ihren Vater Emil Huber (1908 – 1994), ab 2. Juni Besuch händigt Frau Hirt mir die autorisier- waren. Vor allem die Norddeutschen haben der sozialis- 2014. Auch Kommentare Vreni Hirts anlässlich eines Museumsrundgangs durch die Ausstellung „Lörrach te Abschrift dieses Protokolls aus; darin wird tischen Bewegung Aufschwung vermittelt. Ich bin dann und der Nationalsozialismus“, 2014, Auszüge aus einem Gesprächsprotokoll von Manfred Bosch mit Emil über die Rettung der Traditionsfahne berich- 1927 auf Wanderschaft gegangen. Als organisierter Me- Huber 1982, das Frau Hirt vorlegt, zudem noch andere Dokumente, die Frau Hirt über ihren Vater ge- tet. Emil Huber gibt im Interview mit Manfred tallarbeiter habe ich in der Schweiz eine Mark pro Tag sammelt hat. Bosch zu Protokoll: bekommen, und da konnte man ohne Not leben. Wir waren zu dritt. Über Österreich und Italien und immer Ein Grenzübergang war noch von großer Bedeutung, wieder die Schweiz bin ich nach Lörrach gekommen. wo ich als Spion beteiligt war. Die SAJ [Sozialistische (Quelle: Abschrift des Protokolls, privat) Vreni Hirt ist in Lörrach ein Markenzeichen: Jahrzehnte Stadträtin in Lörrach und Ortschafts- Arbeiter Jugend] hatte eine Bibliothek und eine Fahne. rätin in Lörrach-Hauingen, SPD-Frau seit sie 18 Jahre alt ist, lange Jahre Vorsitzende der Na- Und eine Martha Becker von Rudolstadt war bei uns In dem Gesprächsprotokoll erzählt Emil Hu- turfreunde in Lörrach: Sie mischt sich ein, tritt auf, sagt, was sie denkt, redet alemannisch. Mitglied, die hat beim Gewerkschaftsführer Hinz ge- ber von einer Saalschlacht in der alten Stadt- Das ist ihre Muttersprache. Ich lerne sie kennen in der großen Ausstellung „Lörrach und der wohnt. Die haben wir auserkoren, beides in die Schweiz halle in Lörrach, früher Reithalle. Er berichtet Nationalsozialismus”. An vielen Stationen der Ausstellung beginnt sie spontan zu erzählen, so zu bringen. Die Familie Hinz war noch nicht verheira- auch, dass die Nationalsozialisten eher in den am hier ausgestellten Volksempfänger: tet, aber ein Kind hatten sie, ein Baby, ein paar Monate evangelischen Gebieten Fuß fassen konnten; alt, und einen Kinderwagen. Unter dem Strohsack, da überall, wo es eine große katholische Mehr- Wir wohnten damals im Untereck, in der Nähe genommen, dass auch viel reinpasst. Ins Sattelrohr war die Fahne und die Bibliothek, das Kind oben drauf. heit gegeben habe, seien die Leute konserva- war ein „Konsum”, so hießen damals die Lebens- haben sie das SPD-Material im „Egli” [Tramhalte- Und da konnte man noch in die Schweiz mit deutschem tiver gewesen und seien nicht jeder Änderung mittelgeschäfte, die zur Handelskette der Konsum- stelle Eglisee in Basel] oder in den „Langen Erlen” Pass. Das waren die ersten Tage während der Nazizeit, gefolgt. Er erzählt vom Gewerkschaftshaus genossenschaft gehörten. Da es nicht weit gewesen geschoben, da sind sie wohl unbeobachtet gewesen. aber das Zeug war ja gefährdet. Und die hatten sich (Volkshaus) in Kleinbasel am Claraplatz. Dort ist, hat mich meine Mutter zum Einkaufen ge- Am Abend, wenn es niemand gesehen hat, hat er nicht ausgekannt, weil sie von Rudolstadt war. So hatten habe man viele Kontakte zu Genossen knüp- schickt. Kam doch ein Nachbar, der als SA bekannt die Flugblätter herausgenommen. Er ist auch oft wir ausgemacht, ich gehe immer ein paar Meter voraus. fen können. Da es aber auch dort Spitzel der war, auf mich zu und summte eine Melodie. Es war mit dem Fahrrad nach Freiburg gefahren; wie ich Und das haben wir gemacht und auch ausgemacht, wer NSDAP gegeben hat, sind die Genossen sehr die Erkennungsmelodie der BBC, des englischen heute weiß, immer mit Informationen der Zentral- von der Schweiz kommt. Ich glaube, es war der jetzige vorsichtig, sprechen sich eher nicht an. Auch Senders, der auf Kurzwelle ausstrahlte. Was wusste stelle der Sozialdemokraten in Prag, der SOPADE. Vorsitzende der VPOD, die Gewerkschaft für den öfent- die Schweizer Genossen und Gewerkschafter ich als Kind, dass ich das nicht sagen durfte. Schon Er ist, Gott sei Dank, nicht erwischt worden, denn lichen Dienst in der Schweiz, Miwill, damals ein junger seien auf der Hut und auf Geheimhaltung be- hatte ich meine Eltern verraten, die häufig heimlich das war damals Landesverrat, er wäre wie so vie- Kerl. Der ist an die Schweizer Grenze gekommen, wo dacht gewesen. Emil Huber: diesen Sender hörten. le ins KZ gekommen. Bevor der Grenzzaun an der man nicht aufällt. Die Fahne haben wir später wieder Grenze zwischen Stetten und Inzlingen gebaut wor- geholt. (Vgl. dazu Text S. 60 f. ) Dort habe ich auch Ernst Herzog kennen gelernt, ein Bei einem weiteren Halt beim Rundgang den ist, hat sich mein Vater den Zuckerschmugglern führendes Mitglied der Schweizer Gewerkschaftsbewe- durchs Museum kommen wir zu einem alten angeschlossen. Zucker ist bei uns teuer gewesen, in Nachdem nun Vreni Hirt mir das Gesprächs- gung, später Mitglied des Basler Großrats. Er hat un- Fahrrad, bei dem auch das Bild ihres Vaters der Schweiz aber billig. Die einen haben Zuckersä- protokoll ausgehändigt hat, möchte ich wis- sere Sache unterstützt. Da habe ich auch Georg Diet- Emil Huber hängt. Das Objekt ist nicht das cke auf dem Rücken gehabt und mein Vater Säcke sen, wie der Vater Emil Huber zur SPD ge- rich getrofen, Mitglied des Parteivorstandes der SPD, echte Fahrrad, mit dem Emil Huber in den mit SPD Druckschriften wie etwa den „Vorwärts”. kommen ist und wie sich die Machtübernahme des Zentralvorstandes, damals noch in Berlin. Der hat 1930er Jahren Flugblätter von Riehen nach Wenn Gefahr gewesen ist, entdeckt zu werden, ha- Hitlers in Lörrach und in der SPD ausgewirkt den Spitznamen Schubert gehabt, das ist dann auch Lörrach geschmuggelt hat, nur ein Stellver- ben sich die Männer im Unterholz versteckt oder hat. Dazu kann Vreni Hirt mir keine Auskunft sein Deckname geworden, weil der ausgesehen hat wie treterobjekt, aber Vreni Hirt ist das beim Er- die Säcke abgeworfen. Dass Vater nicht entdeckt geben, aber im Gesprächsprotokoll von Emil der Schubert [vgl. Text S. 44 f.]. Der hat dann zu mir zählen egal: worden ist, ist ein Wunder. Huber steht: gesagt, ich solle nicht mehr ins Gewerkschaftshaus, da würden viele Spitzel verkehren von Lörrach aus. Der Alle 14 Tage, so weiß ich’s von meinem Vater, Auch an der Traditionsfahne der SPD hält Ich war als 14-jähriger Schlosserlehrling in Fried- Georg Schubert, bzw. Georg Dietrich, war dann auch hat er Flugblätter transportiert, im Schlauch und sie inne und berichtet, was es mit ihr auf richshafen im Maybach-Motorenbau und bin dort 1922 Parteivorstand in Prag [SOPADE]. Aber lang ist er das im Sattelrohr. Das Sattelrohr ist 25 mm dick, darin sich hat. Vreni Hirt verweist auf ein Gespräch in die SAJ eingetreten. Friedrichshafen war damals ein nicht geblieben. Er ist emigriert, ich glaube nach Lon- hat er die Blätter versteckt. Man hat dünnes Papier vom 1. Juni 1982, das Emil Huber mit Man- Zentrum der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter unter- don.

56 57 Dreiländermuseum Lörrach Im „Papageienviertel” von Lörrach Im „Papageienviertel” von Lörrach

Ich habe auch immer wieder Flüchtlinge in Basel ge- der Sozialismus, die Gemeinschaft und die Freiheit für wolle. Meine Mutter ist dabei gewesen. Die Briefe den Arm. Er wusste ja nicht, dass das ein deutsches trofen. Die Schweizer sind aber mit ihnen nicht immer alle Menschen. hat er in ihrer Handtasche verstaut. Aber irgend- Mädchen war. Die Zeitungen berichteten darüber wohl umgegangen und haben viele ausgewiesen bzw. (Quelle: privat) wie ist ihm das nicht ganz geheuer gewesen. So hat nicht gerade freundlich. ausgeschaft, wie die Schweizer sagen. Sogar der Ra- er die Briefe unter seine Schildmütze gesteckt. 200 diokommentator von Salis hat in seinem wöchentlichen In dieser ersten Zeitung wird noch eine an- Meter vor dem Gasthaus „Blume“ hat ein Polizist Rundfunkkommentar davon berichtet. Im Übrigen sind dere Gemeinsamkeit der Mitglieder des SAJ beide aufgehalten und durchsucht. Natürlich hat wir, ich meine meine Frau und ich, gut unterrichtet ge- und der SPD sichtbar. Vom Ende einer Sit- der sofort in die Handtasche meiner Mutter ge- wesen, wie es um Deutschland stand, da wir, auch die zung der Naturfreunde berichtet ein neues schaut. Dort hat er aber nur den Einkauf aus dem anderen aus unserer SAJ-Gruppe, den Schweizer Sender Mitglied: Konsum gefunden. Er hat auch beide abgetastet, und BBC abgehört haben; natürlich mussten wir vor- weil er misstrauisch gewesen ist, aber an die Mütze sichtig sein. Der Vorsitzende schloss die Versammlung, doch vor- hat er nicht gedacht. So haben meine Eltern Glück (Quelle: Abschrift des Protokolls, privat) her gab er noch bekannt, dass am Sonntag eine Wan- gehabt. derung den Rhein entlang stattindet nach dem Isteiner In Lörrach gibt es ein Zentrum der Mitglie- Klotz. Ich freute mich auf den Sonntag, wo ich zum Ein Erlebnis aus dem Herbst 1944 ist Vreni der der SAJ und der SPD. Es ist das Papagei- ersten Mal eine Wanderung in freier Natur mitmachen Hirt dann noch eingefallen: enviertel im Untereck. Der Name „Papagei- konnte. enviertel” ergibt sich aus den unterschiedlich (Quelle: privat) Mein Großvater, Ignaz Huber, wohnte in der farbigen Hausfassaden im Wohngebiet. Es ist Schweiz in Grenchen im Kanton Solothurn. An ihn ein Arbeiterviertel. Ecke Untere Hartmatten- Die Lörracher SAJ-Gruppe, wie auch solche schrieb mein Vater als Soldat einen Brief. Er regte straße und Untereckstraße. Heute steht dort Gruppen in anderen Städten, gehören zu den an, ob meine kleine Schwester Ilse, damals drei Jah- noch ein „Kosthaus”; solche sind für die Ar- Naturfreunden, die 1923 die Ortsgruppe Lör- re alt, nicht bei ihnen wohnen könne. Die Familie beiter gebaut worden. Im Viertel wohnen die rach gegründet haben. 1928, also im zeitli- fand das gut und richtig. Ich muss noch dazu sagen, Familie Huber und die Familie Tischler (vgl. chen Umfeld der ersten SAJ-Zeitung, zählen dass meine Großeltern mütterlicherseits damals im Text S. 44 ff.). Die Bewohner kennen sich schon 160 Mitglieder zu den „Naturfreunden”. Zollweg in Stetten wohnten. Ilse und ich waren alle. Die Familie Herbster wohnt in Stetten; in Zu den Mitgliedern gehören damals auch Paul dort. An besagtem Tag stand ein deutscher Zöllner der Wallbrunnstraße, in der „Ufhabi”, sind die Herbster, Emil Huber und Frau, Wilhelm und vor der Türe im Zollweg und teilte meiner Groß- Rotzlers zu Hause (vgl. Text S. 60 ff.). Hans Rotzler und deren Frauen, Robert und mutter und meiner Mutter mit, dass an der Schwei- Die Ortsgruppe der sozialistischen Arbei- Miggi Ortlieb. zer Grenze eine Frau sei, die ein Kind abholen wol- terjugend (SAJ) bringt eine Zeitung heraus. Und nun erlebt der Verein der Naturfreun- le. Das war meine Großmutter aus der Schweiz, die Die erste Ausgabe stammt wohl aus dem Jahr de das gleiche Schicksal wie die SAJ und die keine Vorstellung oder Kenntnis hatte, wie schwer General Guisan und die kleine Ilse Huber in Gren- 1929 oder 1930. Der Herausgeber kann Hans SPD. Nach der Machtübernahme am 30. Ja- das Unterfangen war. Also, es gab erst keine Mög- chen, Schweiz. (privat) Rotzler gewesen sein (vgl. Text S. 60 ff.) In nuar 1933 wird die Organisation verboten, lichkeit. Da ging meine Mutter ohne Scheu zum der ersten Zeitung steht zu den Zielen der Ar- das Vermögen eingezogen, einige Mitglieder Gestapochef Mai in der „Unteren Aichele-Villa” und beiterjugend: kommen in Schutzhaft. In Herrischried hat verlangte umgehend, dass das Mädchen Ausreise- man eine Hütte gemietet, um im Geheimen papiere erhielt. Dass ihr das gelungen ist, wundert Wir werden in Zukunft als geschlossene und diszipli- zusammen zu kommen. mich heute noch. So übergab meine Mutter dem nierte Gruppe auftreten. Weiter imponieren wir unseren Kurz bevor Vreni Hirt die Ausstellung „Lör- Zöllner ihr Kind Ilse, der es am Schweizer Zoll Gegnern, an denen es hier in Lörrach ja nicht fehlt. Wir rach und der Nationalsozialismus” verlässt, zur anderen Großmutter brachte. Ich sehe heute werden von der Jugend, die noch abseits von uns steht, hält sie inne. Spontan, wie sie ist, sagt sie, noch, wie mein Schwesterchen verloren schaute. geachtet und bemerkt. Den Zustrom haben dann wir sie müsse noch etwas erzählen, was sie von Aber diese Geschichte hat noch einen Anhang: Der und nicht die anderen. Der einzige richtige Weg ist der ihrem Vater wisse: Schweizer General Henri Guisan besuchte Gren- Weg zur Arbeiterjugend. Das Ziel der Arbeiterjugend ist chen. Am Straßenrand standen die Einwohner und Einmal hat er viele Briefe versenden müssen. Er begrüßten ihn. Er ging auf die Leute zu, gab da und hat uns erzählt, dass er die Briefe zur Post bringen dort die Hand, unter anderen auch nahm er Ilse auf

58 59 Dreiländermuseum Lörrach Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten

Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten hat aber im Gegensatz zu seinem Schwager Hans von 1933 bis 1936, die mir 18 Monate Gefängnis ein- Glück gehabt, der in Russland 1942 gefallen ist. gebracht hatte, war in Lörrach weniger bekannt. Der Gespräche mit Rudi Ortlieb (Jhg. 1937) über seine Familie und Familie Furrer ab 27. Mai 2014. Rudi Meine Erinnerungen an diese Zeit sind gering, die Einsatz meines Vaters bei der Räumung der Festhalle Ortlieb legt umfangreiche Akten mit Briefen und Dokumenten vor, die er zur Geschichte der SAJ und SPD aber leben wegen der langen Freundschaft mit dem von den Nazis ist meinem Bruder und mir noch in gu- in Lörrach in den 1920er- bzw. 1930er Jahren gesammelt hat. Sohn August Furrers, mit dem meine Familie und ter Erinnerung. An jenem Tag muss es gewesen sein, an ich in regem Austausch und Briefwechsel gestanden dem ich als Schüler an einem Demonstrationszug der sind, immer fort. Rot-Front die Fahne, die Fahne der Republik, getragen habe. Dafür musste sich mein Vater vor dem Landrat In der Kreuzstraße 21 in Lörrach ist sein Friseurgeschäft. Rudi Ortlieb ist weißhaarig, läuft an So werden in den Briefen August Furrers rechtfertigen. Gehhilfen, ist voller Leben und Witz. Seit er denken kann, gehört er zu den Naturfreunden und jun. an Rudi Ortlieb lange Jahre nach dem Sehr viele Erinnerungen werden beim Lesen der ist im wahrsten Sinne des Wortes „Freidenker”, Mitglied der „Freireligiösen Landesgemeinde Krieg einige Ereignisse SPD-Chronik wach. Aber im- Baden”, wie auch seine Eltern. Ein so unabhängiger Geist lässt sich nicht einspannen und nicht bekannt, die interessant mer wieder gehen meine Gedan- einvernehmen. Er ist politisch und historisch wach. Er überhäuft mich mit Aktenordnern, die sind: ken zurück zu Ihren Eltern und überquellen. Bilder, Zeitungsartikel, Jubiläumsschriften, Urkunden hat er zu unterschiedlichen Großeltern, bei denen ich bis zu Zeitpunkten gesammelt, weil ihn die Geschichte seiner Familie, der SPD, der Naturfreunde seit Lieber Herr Ortlieb, 27. April meinem Wegzug im Jahre 1936 langem interessiert und er Interesse daran hat, dass das nicht alles vergessen wird. Er erzählt 1991 Unterkunft gefunden hatte. Ich mir bei meinem Besuch: Sie haben mir eine große hätte keine besseren Freunde Freude gemacht! Herzlichen haben können, die sich hilfsbe- Mein Großvater Wilhelm Rotzler, geb. 1864, Sozialdemokraten im Konzentrationslager Kislau Dank für Ihr Schreiben und das reit und uneigennützig um mich stammt aus Dossenbach. Er kommt mit 14 Jahren inhaftiert worden. Jahrbuch [Es ist das Jahrbuch angenommen haben. Als ich nach Lörrach und arbeitet in der KBC als „Saal- „Unser Lörrach”, 1990], das nach dem Wegzug meiner Fa- bub”, d.h. er musste das Handdruckmodel mit Far- Ich muss jetzt auf meinen Vater, Robert Ortlieb, Sie mir im Gedenken an Ihre milie – mein Vater war bereits be dem Drucker zureichen Er heiratet 1891; vier geb. 1899, zu sprechen kommen. Er hat eine Toch- Eltern und Ihren Onkel Hans im KZ Kislau inhaftiert – zur von sieben Kindern sterben früh, auch seine Frau. ter, Emilie, aus der zweiten Ehe des Wilhelm Rotz- Rotzler gewidmet haben. Über Ableistung meiner Schulzeit und Wilhelm heiratet, wie es üblich ist, gleich wieder, ler geheiratet. Gewissermaßen haben die Ortliebs das Geschehen in Lörrach habe Lehre bei Kilian in Lörrach ver- Luise, geb. Schwarz. Das ist der Zweig der Familie, in die Familie Rotzler eingeheiratet. Mein Vater ist ich mich immer aufgrund der blieb, habe ich bei Ihren Eltern aus dem ich stamme. Großvater Wilhelm ist des- auch kein Freund Adolf Hitlers gewesen. Er hat mir zugegangenen Publikatio- und Großeltern den Familien- halb wichtig für mich, weil er schon 1885 in die sich an der Verteilung von Widerstandsschriften nen der Stadtverwaltung gern August Furrer jun. (privat) anschluss gehabt, der mich das SPD eintritt und für die Sozialdemokraten in den der SOPADE beteiligt. Die SOPADE ist der Vorstand unterrichtet. Von besonderem Geschehen in meiner Familie Bürgerausschuss gewählt wird. der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Interesse ist nun aber für mich vergessen ließ. Ich erinnere mich Prager Exil. Die Schriften hat man in Basel geholt das Jahrbuch mit der Geschichte der Lörracher SPD. noch gut der Ratschläge Ihres Vaters in besonderen Si- Mit der Machtübernahme Adolf Hitlers am 30. und dann gezielt verteilt und weiter transportiert. Da wir mit der Versetzung meines Vaters zur dortigen tuationen. Nochmals herzlichen Dank, lieber Herr Ort- Januar 1933 und dem Verbot der SPD wie auch Kriminalpolizei erst im Jahre 1931 nach Lörrach gezo- lieb. Sie haben mir und meinem Bruder […] eine große der anderen Parteien wird die Zugehörigkeit zur Wie gesagt, August Furrer sen. und mein Vater gen sind, ist mir alles Vorausgegangene nicht bekannt. Freude gemacht. […] SPD gefährlich. Die Sozialdemokraten treffen sich sind befreundet gewesen. Nach dem Berufsverbot Meine Erinnerungen sezten mit diesem Jahr ein, in Ich grüße Sie herzlich, Ihr August Furrer bei ihm zu Hause. Allerdings sind die Sozialisten ist August Furrer fast mittellos. Es gibt zwei Briefe dem meine sehr erfreuliche Schulzeit mit einfach groß- unter sich zerstritten. Aus dieser Zeit, wohl nach aus dieser Zeit. Darin wird berichtet, dass August artigen Lehrern an der Oberrealschule [heute Hans- Liebe Freunde, 26. November 2000 1930, stammt auch die Bekanntschaft der Familie Furrer sen. nach seiner gewaltsamen Versetzung Thoma-Gymnasium] begann, besonders des Lehrers Jetzt weiß ich, wer Vreni Hirt ist! Vielen Dank für die Rotzler-Ortlieb mit dem Kriminalpolizisten August nach Karlsruhe seinen Garten am Tüllinger Berg Crescelius [den die Nazis in den Selbstmord getrieben Aufklärung. Ihren Namen habe ich so oft im Mitteilungs- Furrer, ebenfalls SPD-Mitglied. Bekanntlich hat verkaufen musste. Den Verkauf vertraut er seinem haben]; Erinnerungen auch an das politische Gesche- blatt der Naturfreunde gelesen, in Verbindung mit ihrer dieser eine Saalschlacht in der alten Reithalle, spä- Freund, meinem Vater, an. Ich selbst (Rudi Ortlieb) hen. Ich habe als Jugendlicher bei den „Roten Falken” bewundernswerten Aktivität. Dass es sich nun um Emil ter Stadthalle, mit einem Pistolenschuss beendet. bin 1937 geboren, gewissermaßen wegen der spä- und der SAJ [Sozialistische Arbeiterjugend] in beschei- und Mariele Hubers Tochter handelt, die ihrem Vater im Dafür ist er nach Karlsruhe strafversetzt, aus dem ten Geburt vom Wehrdienst verschont. Nicht so denem Umfang teilgenommen. Meine Tätigkeit inner- Gemeinderat nachgerückt ist, habe ich nicht gewusst. Den Dienst entfernt und 1933 mit anderen Karlsruher mein Vater. Er ist schon 1939 eingezogen worden, halb der illegalen SAP [Sozialistische Arbeiter Partei] Namen Grunkin 10 kenne ich nicht, wie ich mich über-

60 61 Dreiländermuseum Lörrach Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten

haupt an keine jüdische Familie in Lörrach erinnern kann. Bedauerlich ist aber, dass Klärlis Fahnenschmuggel durch ihre Vorsitzende Karl Arzet in d’ Schwyz brocht Auch unsere Lörracher Gründungs- und Traditionsfah- Wer hat sich schon vor 1933 darum gekümmert, wer Jude nirgends erwähnt wird, für ein 15-jähriges Mädchen worden isch. Sufer versteckt im Chinderwage, vo sinere ne der SPD hat ihre Existenz ihm zu verdanken, weil ist. Und die Verfolgungsmaßnahmen der Nazis gegen die doch beachtlich. Könnt Ihr nicht einmal mit Herrn Wal- Frau un ihm gschobe. Uf die gliche Art un Wiis isch au er sie zur Zeit der Machtergreifung in jener legendären Juden haben wahrscheinlich erst nach meiner Flucht aus ter Jung reden, damit er es auch auf irgendeine geeignete dr SPD-Fahne 1933 in d’ Schwyz cho. Dört hän dr Emil Fahrt mit Betli Jakobs Kinderwagen über die Grenze Lörrach eingesetzt. Vielen Namen jüdischer Mitbürger Weise publiziert? […]” Huber un si Frau dr Chinderwage gschobe. Noch dene nach Basel gerettet hat. […]” aus den meisten badischen Städten bin ich während der (Quelle: Alle Briefe, privat) schlimme, dunkle Johr sin beidi Fähne wider heimgholt (Quelle: privat) letzten Jahre meiner dienstlichen Tätigkeit begegnet. Die worde. Stadt Karlsruhe hatte die Betreuung des Friedhofs des Wie man den Aussagen von August Furrer (Quelle: Oberbadisches Volksblatt vom 19./20. März 1994) ehemaligen Konzentrationslagers Gurs übernommen. Ich jun. entnehmen kann, ist es ihm ein Anliegen, hatte die Verwaltung inne und war mehrmals dort. Jedes dass das „Klärli” gewürdigt wird. Dazu erklärt Jahr hat eine Gedenkfeier stattgefunden, bei der ich ehe- Rudi Ortlieb heute: malige Insassen des KZs kennen gelernt habe. Sie haben furchtbare Erlebnisse gehabt in dieser Vorhalle des Todes, Eine Tochter Wilhelm Rotzlers aus erster Ehe wo nahezu 1000 ihr Leben lassen mussten. Die meisten heißt Bertha. Sie ist, wie das damals häufig so ge- sind in die Vernichtungslager des Ostens transportiert wesen ist, bei einer wohlhabenden Adelsfamilie in worden […]. Eine dieser Unglücklichen ist die Tochter der Rittergasse in Basel in Diensten. Diese Familie des sozialdemokratischen Staatsrats Ludwig Marum, der hat auch einen Wohnsitz außerhalb der Stadt, in schon 1934 im KZ Kislau, wo auch mein Vater war, um- Kleinhüningen. Dort lernt Bertha einen südfranzösi- gebracht worden ist […] schen Soldaten kennen, verliebt sich in ihn, hat ein Und schon wieder – oder immer noch – marschieren Verhältnis, wird schwanger. Das ist damals schwer- die Nazis. Nicht die Alten, die man ausgestorben ge- wiegend. Bertha muss zurück nach Lörrach zu Rotz- glaubt hat, sondern junge Verhetzte. Und das ist beson- lers in der Wallbrunnstraße. Sie ist dort mehr oder ders schlimm. So sehe ich gespannt dem Urteil des BVG weniger versteckt worden. Während die Mutter Ber- entgegen, das nach Meinung und auf Antrag von Regie- tha wieder an ihre Stelle nach Riehen zurückkehrt, rung und Parlament die NPD verbieten soll. Hofentlich wächst Klara bei ihren Großeltern Wilhelm und Lu- fällt das Urteil nicht zu demokratisch aus. ise Rotzler und meinen Eltern auf. Sie ist meine Tan- Alles Gute und freundliche Grüße, auch an Klärli und te. Sie selbst hat mir erzählt, dass sie eine Fahne, um Felix, Euer Gustl. den Bauch gebunden, nach Riehen geschmuggelt habe. Welche Fahne das gewesen ist, weiß ich nicht. Lieber Rudi, liebes Vreneli, 26.4. 2005 […] Interessant inde ich die Abhandlung auch Allem Anschein nach muss es verschiedene deshalb, weil ich etliches aus der Familiengeschichte Fahnen gegeben haben; es gibt auch unter- erfahren habe, was mir bisher nicht bekannt war. Au- schiedliche Erzählungen bezüglich des Fah- Traditionsfahne des Allgemeinen Arbeiter-Bundes Lörrach. ßerdem hat sie mich veranlasst, mich einen Tag lang in nenschmuggels. Der ehemalige Ratschreiber (DLM: F 0150) die Geschichte der Lörracher SPD zu vertiefen. Dabei von Lörrach, Walter Jung, schreibt in dieser bin ich auf eine Äußerung von Klärli gestoßen, dass sie Frage Rudi Ortlieb einen Brief am 24. August seinerzeit die Fahne der SPD von Lörrach nach Basel 1994. Er weist zunächst auf einen aleman- Im erwähnten Brief an Rudi Ortlieb vom 24. August Furrer jun. erwähnt in seinem letz- geschmuggelt hat. Es überrascht mich, dass dies in der nischen Artikel im Oberbadischen Volksblatt August 1994 zitiert Jung auch aus der Trauer- ten Brief an Rudi Ortlieb, 2010, Datum fehlt, SPD-Geschichte nicht erwähnt ist. Dort steht nur, dass vom 19./20. März1994 hin, den er als „Müpi” ansprache von Stadtrat Beckert anlässlich der ein Bild, das ihm in Zusammenhang mit der die Fahne 1947 anlässlich einer Veranstaltung der Sozi- geschrieben hat: Beerdigung von Emil Huber, ebenfalls 1994, in Lörracher SPD wichtig ist: aldemokraten zurückgegeben worden ist. Ich habe von Sachen Fahnenrettung: Klärli auch erfahren, dass sie Schwierigkeiten hatte, weil Mit Fähne, wo in unruehige Zytte in Sicherheit brocht […] nachdem ich Euch nun im Besitz des Bildes der man ihre arische Abstammung nicht glauben wollte. worde sin, chönnt mer do ganzi Spalte fülle. E paar Durch aktive Beteiligung am Widerstand brachte er Ödlandkapelle weiß, will ich Euch Näheres dazu schrei- Bispill: Dr Fahne vo dr Freie Turnerschaft, wo 1933 sich und seine Familie in ständige Existenzgefahr […] ben […].

62 63 Dreiländermuseum Lörrach Vom NS-Regime verfolgt: Die Sozialdemokraten

Zur Geschichte des Bildes: Der Maler ist ein sozial- Ödlandkapelle, in deren Nähe ich mit einem Freund demokratischer Politiker, Staatsrat Hermann Stenz, der im Zelt übernachtete, ein Freund, der mit mir vor dem im Frühjahr 1933 mit Innenminister Remmele, mei- Volksgerichtshof stand, doch freigesprochen wurde.[…] nem Vater und anderen führenden Sozialdemokraten Ich wusste, dass ich mit dem Bild Euch eine Freude ma- nach Kislau [Kislau bei Mingolsheim: Schutzhaftlager chen kann. Ich wüsste niemanden, dem ich es lieber zu- für politische Gefangene] transportiert wurde. Ihr kennt kommen ließe […] Betrachtet das Bild, für das meine die traurige Geschichte wahrscheinlich. Stenz hat es in Angehörigen kein Interesse gezeigt haben, noch nicht als Kislau gemalt, und mein Vater hat dazu den Rahmen Abschiedsgruß, denn ich hofe und würde mich freuen, gefertigt. Das Bild ist also eine Gemeinschaftsarbeit. wenn wir noch lange in Kontakt bleiben können. Mein Vater hat Stenz übrigens auch als Gehilfe bei der Mit meinen Eltern wie auch mit der SAJ war ich oft in Stukkateurarbeit im früheren Schlafsaal Kislau bei- Herrischried, und der „Fürst” ist mir bekannt. Wir ha- gestanden. Die Namen sollen irgendwo in der Decke ben oft bei ihm Lebensmittel, vor allem Speck, gekauft, eingekratzt sein. Für mich hat das Bild eine besondere den er im Überluss gehabt haben muss. Man sprach Bedeutung. Nicht zuletzt, weil es mich an Wanderungen davon, dass ihn manchmal die Würmer anknapperten. im Hotzenwald um Herrischried erinnert. Eine mei- Ich freue mich über das Foto und die alten Zeiten. ner letzten Wanderungen von Lörrach aus führte zur Herzliche Grüße, Euer Gustl (Quelle: privat)

Ödlandkapelle, Gemälde von H. Stenz. (privat)

64 65 Dreiländermuseum Lörrach IV.

ER TRAUTE SEINEN AUGEN

NICHT;

EINES MORGENS STAND

SEIN GARTENZWERG IN

SCHWARZER UNIFORM DA.

Nikolaus Cybinski

66 67 Dreiländermuseum Lörrach Aktion Gewitter Aktion Gewitter

„Aktion Gewitter” den vermuteten Unterstützern des Attentats. Lehrling in der Verwaltung der Stadt Lörrach. Die Als August Furrer von Rudi Ortlieb erfährt, damaligen Bewohner der Dammstraße kannte ich Der von Walter Jung (1923 – 2004) benannte Gewährsmann Hasso Hepp (Jhg. 1930) hat dem Autor dass Walter Jung sich der Sache annimmt, natürlich gut, obwohl man sich nur gegrüßt hatte. am 8. Januar 2015 wertvolle Auskünfte gegeben. Sie wurden anhand von Dokumenten im Staatsarchiv freut er sich. Er meint, dass das wohl die letz- Als ich im Juli nach dem Attentat auf Hitler von der Freiburg verifiziert. te Gelegenheit sein werde, alle in diesem Zu- Arbeit nach Hause komme, erfahre ich sofort, wer sammenhang verhafteten Lörracher Personen alles verhaftet worden ist. An den Brief von Wal- zu ermitteln. ter Jung erinnere ich mich noch. Nachdem ich die Walter Jung schreibt am 22. August 2001 Liste vor unserem Treffen nochmals durchgegangen Walter Jung ist in Lörrach Ratschreiber gewesen und ein unermüdlicher Heimatforscher. Sein an Hasso Hepp, den ehemaligen Kranken- bin, muss ich sagen, dass auch Fritz Hühnenberger, umfangreiches privates Archiv wird im Stadtarchiv Lörrach aufbewahrt und ist dort zugänglich. hausverwalter: Ludwig Maier, Franz Pfost und Karl Schwarz ver- Seine Briefe und Texte zur Lörracher Geschichte sind lebendig, als ob sie heute geschrieben haftet worden sind. Das sind alles gute Katholiken worden wären. Als Fachmann für regionale Geschichte hat er zu seinen Lebzeiten allen Inter- Lieber Hasso, gewesen. Warum gerade diese Männer verhaftet essierten gerne Auskunft gegeben. bei unseren Stammtischen und anderen Orten haben worden sind, kann ich nur vermuten: Neben dem wir uns immer wieder über diejenigen Mitbürger unter- Gasthaus „Wiesentäler Hof” in der Dammstraße Zwischen Rudi Ortlieb (vgl. Text S. 60 ff.) berg-Attentat auf am 20. Juli halten, die im August 1944 im Zuge der „Aktion Gewit- wohnte damals ein strenger Nazi. und Walter Jung entsteht im Jahr 2001 ein 1944. Den Auftrag für die Aktion erteilt Hein- ter” (20. Juli 1944) von der Gestapo verhaftet und zum intensiver Schriftverkehr. Ausgangspunkt ist rich Himmler, Reichsführer SS und der Polizei, Teil monatelang im Gefängnis oder im KZ gefangen Die oben genannten Personen stehen nicht wieder August Furrer, der etwas mehr wissen ab 1943 Innenminister, am 14. August 1944. gehalten wurden. Du hast mir einige Namen aus der im Gefangenenbuch des Lörracher Gefängnis- will über die „Aktion Himmler”, auch „Aktion Die umfassende Verhaftungsaktion gilt mehr- Dammstraße genannt, welche Dir aus Deiner Jugend ses, sie sind möglicherweise nach einem Ver- Gewitter” genannt. Es geht um eine reichs- heitlich früheren Mitgliedern der demokrati- noch in Erinnerung waren. In keiner der bisher erschie- hör entlassen worden. Jedoch ist dort Hein- weite Verhaftungswelle nach dem Stauffen- schen Parteien der Weimarer Republik sowie nenen Arbeiten über das Dritte Reich und seine Folgen rich Philipp erwähnt, an den Hasso Hepp sich bei uns in Lörrach (Manfred Bosch, Als die Freiheit auch erinnert. Im Gefangenenbuch des Ge- unterging; Hubert Bernnat, 125 Jahre Arbeiterbewegung; fängnisses Lörrach im Staatsarchiv Freiburg Wolfgang Göckel, Lörrach im Dritten Reich) sind diese kann man ersehen, dass Philipp am 23. Au- Namen präzise genannt. Wir beide, Du und ich, lieber gust verhaftet und am 30. August 1944 wie- Hasso, haben das immer als einen großen Mangel emp- der auf freien Fuß gesetzt worden ist. funden, denn gerade diese Menschen hätten es verdient, (Quelle: Gefangenenbuch, STAF G 723/1) dass sie nicht dem Vergessen anheim fallen. Jetzt leben noch einige Zeitzeugen, die darüber einiges wissen, und Am 4. Oktober 2001 erhält Walter Jung man sollte versuchen, diese Liste mit Akribie gewissen- seine Liste von Hasso Hepp zurück. Er hat haft zu erstellen. Denn nur, was genau ist, hat Bestand damals und auch heute die folgenden Na- vor dem Urteil der Geschichte. Prüfe nun bitte meine vor- men bestätigt. Ich veriiziere sie im Gefan- läuige Zusammenstellung. Ergänze sie, wenn Dir noch genenbuch des Gefängnisses Lörrach. Die etwas einfällt. Danach will ich sie Rudi Ortlieb in der Reihenfolge der Namen entspricht Jungs Kreuzstraße geben, der auf diesem Felde auch viel weiß. Liste. (Quelle: StALö Nl2.01 Jung). 1. Arend Braye, Oberbürgermeister von Im Rahmen meiner Recherchen suche ich Lörrach von 1949 bis 1960. Als Quelle gibt Hasso Hepp auf. Am 8. Januar 2015 bin ich Jung das Stadtarchiv Lörrach an. Am 100. bei ihm und gehe mit ihm Jungs Vorlage Geburtstag von Arend Braye, am 3. Novem- durch. Er erzählt mir dazu: ber 1990, schreibt Jung einen Nachruf und würdigt seine Verdienste als Symboligur des Ich bin 1930 geboren und in der Dammstraße Wiederaufbaus. Dort ist zu lesen: Titelseite des Oberbadischen Volksblatts vom 8. August 1944. (Quelle: privat) in Lörrach aufgewachsen. Mit 14 Jahren werde ich

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Im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am von Niederbronn-les Bains im Unterelsass gfahre. Dört Im Gefangenenbuch des Gefängnisses Lör- geblieben. Er war deshalb von den damaligen Macht- 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und in das Konzentra- hen 15 386 dütschi Gfalleni ihre letschte irdische Ruhe- rach im Staatsarchiv Freiburg kann man er- habern gehasst und wurde überwacht. Seine Verhaf- tionslager Schirmeck im Elsass eingeliefert. platz gfunde. Dr Volksbund deutscher Kriegsgräberfür- sehen, dass Kuhn am 28. Juli verhaftet und tung wurde mir von allen Gefragten bestätigt, und es sorge het de Soldatefriedhof würdig usbaut. Uf große am 26. Dezember 1944 wieder auf freien Fuß besteht nicht der geringste Zweifel, dass sie erfolgt ist. Im Staatsarchiv Freiburg wird eine Akte auf- Staiblöck sin die Näme vo alle dene Ort i’gmeißlet, wo gesetzt worden ist. (Quelle: STAF F 196/1, Nr.3165) bewahrt, die über einen Entschädigungsantrag die junge Mensche gfalle sin. Ai Grab isch dene junge Arend Brayes berichtet. Danach ist Braye am Lörrecher an dem heiße Julitag 1968 bsunders in 6. Emil Weis / Fritz Weis. 9. Adolf Rösch, Bruder von Ernst Rösch. 22. August 1944 ins Lörracher Gefängnis ge- Erinnerig bliibe: ’s Grab vom Grenadier Konrad Deu- Walter Jung schreibt, dass Emil Weis im Walter Jung hat über dessen Verhaftung kei- kommen und in das KZ Natzweiler eingeliefert, fel vo Lörrech, wo am 7. Oktober 1944 in Metz bim e Rahmen dieser Aktion erneut verhaftet wor- ne präzisen Angaben. Das Gefangenenbuch danach nach Dachau überstellt worden. Das Fliegera’grif ums Lebe cho isch. den sei. Er ist aber im Gefangenenbuch nicht weist jedoch aus, dass Adolf Rösch, Gewerk- Gefangenenbuch des Gefängnisses Lörrach im zu inden, dafür ein Fritz Weis, inhaftiert vom schafts- und SPD-Mitglied, am 22. August Staatsarchiv Freiburg bestätigt dies. Warum das so tragisch ist, erklärt Walter Jung: 22. August bis 23. August, dann ins KZ Natz- verhaftet und am 23. August nach Natzwei- Braye ist Mitglied der SPD gewesen, vor 1933 weiler überführt. ler überführt worden ist. Nach dem Krieg wird Mitglied des Gemeinderats in Haltingen und Ge- Um so schwerer hets de junge Mensch trofe, wo si Adolf Rösch Leiter des Arbeitsamtes in Lörrach. schäftsführer der Eisenbahner-Gewerkschaft. Vatter während im letschte Urlaub z’ Lörrech im August 7. Richard Nutzinger, Pfarrer in Hauingen. In der Akte des Staatsarchivs Freiburg ist (Quelle: STAF F 196/1 Nr. 5715) 1944 vo dr Gestapo verhaftet worde’n isch. Dr Amts- Eine Akte im Staatsarchiv Freiburg gibt von seiner Entfernung aus dem beamteten richter Deufel isch als überzügte Katholik un früherer Auskunft, dass Nutzinger vom 15. November Dienst in der Zeit des Dritten Reiches auf- 2. Wilhelm Indlekofer, Gipsermeister in Lör- Zentrumsma uf dr 'Schwarze Liste' gstande. Zämme mit 1944 bis 4. April 1945 in Lörrach einsaß. Als grund der Neuordnung des Beamtenwesens rach. Seine Verhaftung sei stadtbekannt ge- ihm sin no anderi ufrechti Lörrecher Männer nochem Grund werden staatsfeindliche Äußerungen im nationalsozialistischen Staat die Rede. wesen, meint Jung. Im Gefangenenbuch des Attentat vom 20. Juli 1944 in Schutzhaft gno worde. Mr angegeben. Er selbst sagt aus, dass er öf- (Quelle: STAF F 196/1 Nr. 6285) Gefängnisses Lörrach im Staatsarchiv Frei- cha sich denke, was das für e furchtbare Schlag für de fentlich bedauert habe, dass das Attentat auf Im Gefangenenbuch des Gefängnisses Lör- burg kann man ersehen, dass Indlekofer am jung Soldat gsi isch. Uf dr Ruckreis an d’ Front het er si Hitler am 20. Juli 1944 nicht gelungen sei. rach im Staatsarchiv Freiburg kann man erse- 22. August verhaftet und am 23. August 1944 Vatter no im Gfängnis bsueche chönne. Selle Abschied (Quelle: STAF F 196/1 Nr. 340) hen, dass Rösch am 22. August 1944 verhaftet wieder auf freien Fuß gesetzt worden ist. isch e Abschied für immer gsi. und ins KZ Natzweiler überführt worden ist. (Quelle: StALö Nl2.01 Jung) 8. Ernst Rösch. 3. Wilhelm Maurath, Buchhändler, seit 1910 Jung stellt fest, dass er nichts mehr her- 10. Eugen Reinert. in Lörrach; auch hier sagt Jung, dass seine Im Zug nach Karlsruhe, so Walter Jung wei- ausgefunden habe. Rösch ist in Röttelnwei- Walter Jung gibt an, dass Reinert am 23. Verhaftung stadtbekannt gewesen sei. Im ter, sei der Sohn von Kasper Deufel von einer ler 1867 geboren, 1953 in Lörrach gestor- August 1944 ins KZ-Mauthausen gekommen Gefangenenbuch des Gefängnisses Lörrach Nonne beobachtet worden, als er still vor sich ben. Er arbeitet als Schriftsetzer in Basel, und dort am 4. Januar 1945 verstorben sei. im Staatsarchiv Freiburg kann man ersehen, hin weinte. Auf ihre Frage, warum er so be- ist gewerkschaftlich aktiv, Redakteur und Als Quelle nennt er das Gedenkbuch der Stadt dass Maurath am 22. August verhaftet und trübt sei, habe er geantwortet: „Denken Sie, Geschäftsführer der „Arbeiterzeitung” in Lör- Lörrach. Reinert ist Mitglied der kommunisti- am 25. August 1944 wieder auf freien Fuß ge- vor acht Tagen hat man meinen Vater geholt rach. Schon 1893 tritt er in die SPD ein, ist schen Partei gewesen. Eine Bestätigung sei- setzt worden ist. und ins Gefängnis gebracht. Ich weiß nicht, bis 1933 Abgeordneter des Landtags der Re- ner Mitgliedschaft in der KPD und seinen Wi- warum, soeben konnte ich ihn noch spre- publik Baden. Nach der Machtübernahme ist derstand gegen die Nationalsozialisten stellt 4. Dr. Kaspar Deufel, Amtsgerichtsrat: Wal- chen”. Rösch vom 18. März 1933 bis 19. April 1933 die „KPD des Stadt- und Landkreises Lörrach” ter Jung nennt als Quelle das Gedenkbuch über in „Schutzhaft”, danach nochmals vom 27. am 17. September 1946 (vermutlich im Rah- den gefallenen Sohn („Geboren um sterbend Im Gefangenenbuch des Gefängnisses Lör- November 1935 bis 7. Dezember 1935. men eines Wiedergutmachungsverfahrens der zu leben”) und einen eigenen Artikel im Ober- rach im Staatsarchiv Freiburg kann man er- (Quelle: STAF F 196/1 Nr. 3165) Familie) aus. Im Gefangenenbuch des Ge- badischen Volksblatt vom 21. November 1994: sehen, dass Kasper Deufel am 22. August In einer eidesstattlichen Versicherung fängnisses Lörrach im Staatsarchiv Freiburg verhaftet und am 23. August 1944 wieder auf (1951) des langjährigen SPD-Vorsitzenden ist ersichtlich, dass Reinert am 22. August Morn isch Volkstruuertag. Überall in Dütschland freien Fuß gesetzt worden ist. in Lörrach Michael Christl ist zu lesen: 1944 verhaftet und ins KZ Natzweiler über- wird mer sich in Chilche un Gedenkstätte an d’ Opfer Ernst Rösch war als altes Mitglied der SPD und führt worden ist. vo Chrieg un Gewaltherrschaft erinnere. 1968 isch e 5. Friedrich Kuhn, Hauptlehrer (vgl. Text S. aktiver Funktionär stets Gegner des Dritten Reiches Im Staatsarchiv Freiburg beindet sich ein Gruppe vo junge Lörrecher uf dr groß Soldatefriedhof 73 ff.). und ist es auch während der 12jährigen Herrschaft Lebenslauf von Eugen Reinert, den ein Alfred

70 71 Dreiländermuseum Lörrach Aktion Gewitter Er ist verdächtig, den schweizerischen Sender Beromünster gehört zu haben

Göring verfasst hat (kein Datum). Das Schrei- 8. August 1944, dann wird er auf freien Fuß „Er ist verdächtig, den schweizerischen Sender ben trägt den Stempel der „Vereinigung der gesetzt, wie es dort heißt, dann ist er am 23. Verfolgten des Naziregimes, Kreis Lörrach, August 1944 verhaftet und ins KZ-Natzweiler Beromünster gehört zu haben” Baden”. Dort steht: überführt worden. Gespräche mit Herbert Kuhn (Jhg. 1934) am 6. August 2014, auch über seinen Vater Friedrich Kuhn Doch in diesem Jahr erfasste ihn noch einmal das August Furrer hat die ganzen Nachfor- (1895 - 1976). Herbert Kuhn legt auch Quellen vor, die Auskunft über seinen Vater geben. Schicksal und bei der am 23. August 1944 im ganzen schungen ins Rollen gebracht; er schreibt sei- Deutschen Reich durchgeführten Himmleraktion wurde nem Freund Rudi Ortlieb zurück, dass er sich er mit tausenden Nazigegnern inhaftiert. Dieser Ver- freut, dass man sich in Lörrach so viel Mühe haftung folgten schreckliche Tage im KZ Natzweiler gemacht habe, diese Liste aufzustellen. Aller- So habe ich Friedrich Kuhn in den 1960er Jahren kennengelernt: Er ist Schulrat in Lörrach und und kurze Zeit später in Dachau. Hier war er auch nur dings ist die Liste von Walter Jung nicht voll- verbindet sein Hobby mit seinen Dienstaufgaben. Mit einer Lehrergruppe macht er eine Fortbil- kurze Zeit – bald erfolgte der Todesmarsch in die Todes- ständig. Das Gefangenenbuch des Gefängnis- dungsveranstaltung im Freien. Wir alle sind am Hochrhein am Rheinufer in Wyhlen. Nachdem mühle Mauthausen. ses in Lörrach im Staatsarchiv Freiburg nennt wir uns durch Gestrüpp bis nahe an die Uferböschung vorgetastet haben, sehen eher unbe- zwei weitere Personen, die im Rahmen der darfte Teilnehmer Mauerreste. Friedrich Kuhn aber schwärmt von diesem Brückenkopf einer In dieser Akte beindet sich auch eine Ab- „Aktion Himmler” bzw. „Aktion Gewitter” in- Römerbrücke von Augusta Raurica auf der nördlichen Rheinseite. Sechs Türme haben diese schrift des Konzentrationslagers Mauthausen, haftiert worden sind: gesichert, die Reste von dreien kann man noch sehen. Friedrich Kuhn ist in seinem Element. Kommandantur vom 12. Januar 1945. Er ist – Pfarrer Heinz Wilkens, Eimeldingen, vom Er ist so echaufiert, dass er hemdsärmlig im beginnenden Schneegraupel erzählt, während an Fräulein Rosa Reinert in Lörrach gerichtet: 26. Juli 1944 bis 23. November 1944 inhaf- wir Teilnehmer im Anorak fröstelnd zuhören und darauf warten, dass er uns entlässt. Damals tiert; Wilkens kommt am Ende des Dritten hat Friedrich Kuhn mein Interesse zur Heimatgeschichte geweckt. Über seine persönliche Ge- Ihr Vater, Eugen Reinert, geb. 15. August 1892, ist am Reiches mit ehemaligen SPD-Leuten aus Lör- schichte hat er nie geredet. Erst als ich mich mit der Zeit des Dritten Reiches befasse, stoße ich 8. Januar 1945 an akuter Herzschwäche im hiesigen rach zusammen und diskutiert mit ihnen im auf seinen Namen: Friedrich Kuhn ist ein SPD-Mann, seit 1920 und unerschrocken in der nati- Krankenhaus gestorben. Die Leiche wurde am 9. Januar Geheimen über einen Neubeginn nach dem onalsozialistischen Zeit aufgetreten. Ich treffe mich mit seinem Sohn Herbert im August 2014: 1945 im staatlichen Krematorium eingeäschert. Krieg (vgl. Text S. 49 ff.). Gegen die Ausfolgung der Urne bestehen, wenn eine – Hermann Lützelschwab (vgl. Text S. 77 Mein Vater ist Ende der 1920er Jahre Lehrer in sehen. So hat er eine Grenzgängerkarte erhalten, Bescheinigung der örtlichen Friedhofsverwaltung beige- ff.), am 22. August 1944 inhaftiert, Weiter- Nollingen. Schon 1926 erhält er erste Aufträge zur um die Bibliotheken in Basel benutzen zu können. bracht wird, dass für die ordnungsgemäße Beisetzung transport nach Natzweiler. archäologischen Betreuung verschiedener Gemein- Allerdings, so weiß ich heute, hat er die Basel- Sorge getragen wird, keine Bedenken. Eine Sterbeur- Bei allen Verhafteten ist im Gefangenen- den am Hochrhein und auf dem Dinkelberg. Erste Aufenthalte auch genutzt, um die Sache der Sozi- kunde können Sie bei Einsendung der Gebühr von RM buch vermerkt, dass sie von der Gestapo ver- Ausgrabungen macht er dort, so die Fliehburg bei aldemokraten zu unterstützen. Es ist auch in der 0,72 beim Standesamt Mauthausen II (12b) Mauthau- haftet worden sind. Nollingen und den Alamannenfriedhof in Herten. Familie erzählt worden, dass er Schriften der SPD sen/Oberd. anfordern. I.A. gez. Unterschrift, SS Ober- In Nollingen kommt es wegen seiner gegnerischen und solche für die SOPADE transportiert hat. Seine sturmführer. Haltung zur NSDAP zu Auseinandersetzungen Familie bremst ihn manchmal in seinen Aktionen (Quelle: STAF F 196/1 Nr. 4847) mit den Rechten. Nollinger Bürger haben ihn de- aus Angst vor Verhaftung. Dennoch bleibt er bei sei- nunziert; sie meinten, er spreche gerne „Deutsch” nem jüdischen Arzt Dr. Moses in Behandlung, lässt 11. Fritz Schienle. und bringe den Arm nicht hoch. Kuhn wird nach es sich auch nicht nehmen, nach Boykottaufrufen Über Fritz Schienle führt Rudi Ortlieb einen Lörrach strafversetzt. So haben die Parteigenossen gegen jüdische Geschäfte dort zu kaufen, geht de- umfangreichen Briefwechsel mit verschiede- gemeint, könne man auf ihn besser aufpassen. Er monstrativ in die Kirche, verhilft nach Kriegsbeginn nen Personen, kann allerdings nichts heraus- hat dann an der Adolf-Hitler-Schule [heute Frido- Flüchtigen über die Grenze. Ja, er bringt sogar nach bringen. Auf der Liste fügt Walter Jung hand- linschule] unterrichtet. Ja, und seine Leidenschaft 1940 nach seinen Basel-Besuchen Briefe aus dem schriftlich an: „KZ Dachau, evtl. bekomme ich für Ur- und Frühgeschichte hat ihm Freiheiten ver- Internierungslager Gurs von Lörracher Juden an eine Kopie des Entlassungsscheins von dort”. schafft, die damals kaum einem anderen möglich Familien in Lörrach, die sich um die deportierten Im Gefangenenbuch des Gefängnisses Lör- gewesen sind. Seine Forschungen in der Ur- und Menschen Sorgen machen. rach im Staatsarchiv Freiburg kann man er- Frühgeschichte, über Alamannenfriedhöfe und kel- sehen, dass Schienle zweimal in dieser Zeit tische Hügelgräber haben die Partei als nützlich für Ich selbst, Herbert Kuhn, bin 1934 geboren, na- inhaftiert gewesen ist: vom 30. Juli 1943 bis die eigene Ahnen- und Germanenverehrung ange- türlich habe ich an die 1930er Jahre wenig Erinne-

72 73 Dreiländermuseum Lörrach Er ist verdächtig, den schweizerischen Sender Beromünster gehört zu haben Er ist verdächtig, den schweizerischen Sender Beromünster gehört zu haben

rungen. Sie beginnen dann mit der Schulzeit. In die das ausgeplaudert hätte, ist doch Vater schon ein- Hebelschule bin ich eingeschult worden. Wir haben mal deshalb verhaftet worden. damals an der Wiesebrücke Richtung Tüllingen ge- wohnt. Kindern fallen nur außerordentliche Ereig- Wegen Hörens des Schweizer Senders Be- nisse auf, die in Erinnerung bleiben. So erinnere ich romünster erhält Friedrich Kuhn einen Haft- mich genau, als ein Zeppelin über Lörrach hinweg befehl (s. Abb. folgende Seite) geflogen ist, das muss vor dem Krieg gewesen sein. Auch das Eisenbahngeschütz, das im Grütt oder Eine weitere Verhaftung hat mein Vater nach auch außerhalb Brombach gestanden hat, vergesse dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ertragen ich nie. Wenn es geschossen hat, sind häufig die müssen. Nach dem Attentat sind viele SPD-Leute Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Und an den im ganzen Reich verhaftet worden. Die Gestapo Lazarettzug, der bei der Hebelschule zwischen dem hat wohl den Auftrag erhalten, alle gedachten und alten Bahnübergang an der Wallbrunnstraße und tatsächlichen Gegner auszuschalten; dazu haben dem Bahnhof angehalten hat. Es sind die ersten die alten SPD-Männer und -Frauen gehört. Vater Verwundeten, die ich gesehen habe, Soldaten, die ist aufgrund eines Entlassungsscheins – hier ist er in Russland verwundet worden sind. Sie sind durch – am 28. Juli 1944 in Schutzhaft im Gefängnis in die Turmstraße ins Gasthaus „Hirschen” gebracht Lörrach genommen worden. Seine Entlassung ist worden. Im „Hirschen” hat man ein Lazarett ein- auf den 26. Dezember 1944 datiert [vgl. Text S. 68 gerichtet. Vater ist wehruntüchtig geschrieben; im ff.]. Am Kriegsende hat mein Vater einem Freund Ersten Weltkrieg ist er bei Verdun verwundet wor- von mir und mir selbst einen gefährlichen Auftrag den. gegeben: Die Tüllinger Brücke ist wie alle anderen Brücken zum Sprengen vorbereitet worden. Gleich Einmal haben wir einen Ausflug nach Weil am neben der Brücke unten an der Wiese ist das Haus Rhein gemacht. Er hat im Sundgau elsässische Leh- von meinem Freund. Alle haben befürchtet, dass rer für den Dienst im Markgräflerland ausgebildet. die Zerstörung der Brücke das Haus daneben in Elsässische Lehrer sind immer mehr an die Schulen Mitleidenschaft ziehen werde und wir alle, die wir gekommen, weil unsere Lehrer eingezogen worden am Tüllinger gewohnt haben, keinen Zugang zur sind. Die Überquerung des Rheins damals ist für Stadt mehr hätten. So hat mir mein Vater gezeigt, mich ein Abenteuer gewesen, weil ich noch nie eine was ich tun müsse, damit die Sprengung nicht er- schwimmende Brücke, eine Pontonbrücke, betreten folgen kann. Also sind mein Freund und ich unter habe. die Brücke geklettert und haben, als es niemand be- obachten konnte, die Drähte durchtrennt. 11 In der Volksschule habe ich auch einen Lehrer gehabt, der in SA-Uniform im Klassenzimmer ge- Dann ist der Krieg vorbei. Marokkaner sind in wesen ist. Auch er hat über der Tüllinger Brücke der Stadt. Schon lange bin ich Ministrant in der gewohnt; wir haben den gleichen Schulweg gehabt. Bonifatiuskirche. Jetzt nach dem Krieg stehen keine Ich erinnere mich, dass wir beide einmal uns am SA-Leute mehr Spalier, wenn der Pfarrer und die Gewerbekanal unten am „Teichbuckel” getroffen Ministranten aus der Kirche ausziehen, jetzt flattert haben und er mir jungem Viertklässler von der die weiß-gelbe Kirchenfahne am Masten am Fron- Landung der Alliierten in der Normandie erzählt leichnamstag, keine Hakenkreuzfahne mehr. Wir hat. Ich bin ganz still gewesen, denn ich habe es machen wieder eine Fronleichnamsprozession. Es schon gewusst, weil meine Eltern Schweizer Sender geht von der Bonifatiuskirche die Riesstraße herun- gehört haben. Eisern hat gegolten, dass man von zu ter, dann am Spital [heute Kreiskrankenhaus] vor- Hause nichts erzählt. Was wäre passiert, wenn ich bei. Danach ist der erste der vier Altäre, etwa dort, Haftbefehl für Friedrich Kuhn. (privat)

74 75 Dreiländermuseum Lörrach Er ist verdächtig, den schweizerischen Sender Beromünster gehört zu haben Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte

wo heute die Deutsche Bank steht. Da stehen nun sind sehr begehrt. Schwere Klage wird auch geführt, „Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen die Marokkaner mit einem Geißbock am Halfter. dass Posten am Eingang in die „Verbotene Zone” Leu- Sie paradieren und schießen Salut. Ob jetzt Frieden ten, die in die Stadt fuhren, Waren ohne Bezahlung und noch erlebte” wird? Rückwanderern aus ihren Kofern und Schließkörben Gegenstände entwendeten. […] Dass die Beschlag- Gespräche mit Doris Hausherr (Jhg. 1937), Tochter von Hermann Lützelschwab, ab 1. Oktober 2014. Sie Schließlich die Tätigkeit meines Vaters nach nahme zahlreicher Wohnungen in einem Gebiet, in dem legt einen schriftlichen Bericht ihres Vaters von 1954 vor. Der Text wird ergänzt durch eigene Recherchen 1945! Der Name meines Vaters steht auf einer Liste sich zahlreiche Ausgebombte aufhalten, als besonders im Staatsarchiv Freiburg. der französischen Behörden mit 28 anderen Bür- drückend empfunden wird, liegt auf der Hand. […] gern Lörrachs, die evtl. Gemeinderäte werden sol- Die Plünderungen betrefen immer nur einzelne, die len. Er wird schon am 31. August 1945 mit den dann schwer betrofen werden, während andere, oft alte Dienstgeschäften des Kreisschulamts in Lörrach Kämpfer der Nazipartei, ungeschoren bleiben. Zahl- Frau Doris Hausherr, Tochter von Hermann Lützelschwab (1892 – 1975), treffe ich in ihrer und Müllheim betraut. Er hat auf Verlangen der Be- reiche Missgrife bei Verhaftungen sind erfolgt. Sofern Wohnung in der Nordstadt von Lörrach. Sie freut sich, dass ich nach ihrem Vater frage, obwohl satzungsmacht Stimmungsberichte verfasst. Auch etwas geschieht im Kampf gegen die Nazis, ziehen die sie schon das eine oder andere Mal interviewt worden ist. Ich möchte mehr von dem Menschen dabei erweist er sich als streitbarer und unbeque- Franzosen die Nazigegner viel zu wenig heran. Schließ- Hermann Lützelschwab erfahren, der unter den Nationalsozialisten so gelitten hat. Doris Haus- mer Berichterstatter. Aus seinem ersten Bericht über lich ist es in erster Linie Sache der Deutschen, die not- herr meint, dass sie nicht viel wisse, da sie ja erst 1937 geboren sei, aber an seine Verhaftung die Stimmung der deutschen Bevölkerung vom 6. wendige Säuberung auf allen Gebieten durchzuführen. 1944 erinnert sich die damals 7-jährige genau. Und natürlich an viele Begebenheiten mit ihm Juni 1945 möchte ich ein paar Auszüge vorlegen: (Quelle: Bocks, Wolfgang, Bosch, Manfred (Hrsg.), Leben nach Ordre nach dem Krieg. Auf meine Frage, was der Vater vor 1933 gemacht hat, antwortet Frau Haus- = Rheinfelder Geschichtsblätter Nr. 5, Rheinfelden, 1995, S. 17 f.) herr: Als in der 2. Hälfte des Monats April Oberbaden von den französischen Truppen besetzt wurde, nahm die Mein Vater ist am 31. Oktober 1892 in Minseln Mein Vater ist bei der SPD gewesen, wie viele in überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dieses Ereig- geboren. Er hat Schlosser in Todtnau in der Ma- Lörrach, auch sein Freund Tischler (vgl. Text S. 44 nis mit einem Gefühl großer Erleichterung auf. Darü- schinenfabrik Laile gelernt. Nach der Lehre ist er ff.). Vor der Juliwahl 1932 haben sich die Linken er- ber freuten sich die Nazigegner, dass jetzt die Stunde auf die Walz gegangen, wie das damals für Gesellen neut zerstritten, da ist mein Vater in die KPD über- der Befreiung von dem verhassten Joch der Hitlerpar- noch üblich gewesen ist, so am Bodensee und in getreten, ihre radikalen Forderungen haben ihm tei geschlagen habe. Sie erwarteten, dass jetzt wieder der Schweiz und in Schaffhausen.1914 ist er wegen zugesagt. In Lörrach ist er im Gemeinderat und im Recht und Gerechtigkeit in Deutschland einziehen des Kriegsbeginns nach Stuttgart zur Firma Daimler Bürgerausschuss. Und dann kommt die Wahl am werde und dass mit dem Neuaufbau alsbald begonnen gewechselt. Dort ist er wegen Arbeitsmangel 1919 5. März 1933 und das Ermächtigungsgesetz. Mein werde. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass arbeitslos geworden. Im März 1921 kommt er nach Vater hat nie den Mund gehalten. In der Familie ist in den Tagen unmittelbar nach der Besetzung überall Lörrach und arbeitet in der Maschinenfabrik Kern, erzählt worden, dass er öffentlich gesagt habe: „Hit- große Plünderungen erfolgten und dass es zu zahlrei- dann bei Haberbusch als Automechaniker. Er macht ler ist ein Verbrecher, er stürzt die Welt in Unheil”. chen Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen kam. die Fahrprüfung, auch für Lastwagen, besucht die Das hat ihm das Genick gebrochen. Bürgermeister Von Ausschreitungen der letzten Art durch Angehörige Handelsschule. 1926 gründet er in Lörrach ein Au- Boos ist das wohl zugetragen worden. Mein Vater der Besatzungstruppen ist kaum etwas mehr zu hören, totransportgeschäft, zuerst ein Taxiunternehmen wird umgehend verhaftet. ebenso haben die Plünderungen in Lörrach aufgehört. und dann einen Transportbetrieb. Einen Lastwa- […] gen mit Anhänger kauft er, stellt einen Fahrer ein Soweit vorerst die Erzählung von Frau und transportiert mit dem LKW Sand, aber auch Hausherr. 1954 schreibt Hermann Lützel- Anders ist die Lage jedoch draußen auf dem Land. In manchmal Mehl für die Reissmühle in Brombach. schwab selbst einen Bericht über seine Zeit in den kleinen Ortschaften tauchen von Zeit zu Zeit immer Unten am Teichbuckel, rechts der Straße Richtung der Haft und im Konzentrationslager: wieder größere oder kleinere Gruppen von französischen Wiese, ist seine Garage. Nachdem mein Vater nach Soldaten auf, meistens mit Kraftwagen. Sie dringen in seiner ersten Verhaftung wieder heimkam, war sein Am 7. November 1933 morgens um ½ 8 Uhr wurde die Häuser ein, schüchtern mit vorgehaltener Schuss- Transportgeschäft pleite, wie man sagt. Die Lastwa- ich von der damaligen Kriminalpolizei verhaftet mit wafe die Bewohner ein und nehmen, was ihnen gefällt. gen wurden einem Herrn Hupfer in Grenzach vor- noch 7 Kameraden aus Lörrach. Mittags um ½ 12 Uhr Sie haben es dabei vor allem auf Eier, Speck, Hühner übergehend übergeben. Als aber mein Vater ablehn- desselben Tages wurde ich mit den Kameraden mittels und Hasen abgesehen, aber auch Kleider und Wäsche te, in die NSDAP zu gehen, war es endgültig. eines Lastwagens unter polizeilicher Bewachung in das

76 77 Dreiländermuseum Lörrach Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte

Lager Heuberg bei Stetten am Kalten Markt gebracht. hätte. Dann begann die Leibesvisitation vom Kopf bis zu es in die Hosen, und diese hatte ich drei Wochen lang an. gewohnt, die damals Wilhelmstraße hieß. Der Gar- Als wir im Lager ankamen, wurden wir sogleich der SA den Füßen. Ich wurde dabei auf einen Stuhl gestellt, der Einmal musste ich Stacheldraht, der um einen Bau ten ist nicht weit weg, dort, wo heute die Gewerbe- und SS übergeben, und mit diesem Moment waren wir After und das Geschlechtsteil genauestens untersucht, gezogen war, entfernen und aufrollen, was für mich eine schule in Lörrach steht. Oft ist er abends nochmals jeder Willkür ohne jeden gesetzlichen Schutz und der ob nicht irgendwie unter der Haut oder im After sel- Fremdbeschäftigung war. Beim Abnehmen bin ich mit weg gegangen, Mutter hat nicht gewusst, wohin er Bestie der Lagerüberwachungsmannschaft ausgeliefert. ber sich ein Stück Papier befand. […] Ich wurde dann dem Stacheldraht vorsichtig umgegangen, um mich an geht, aber sie hat immer Angst um ihn gehabt. Und Die Polizeimannschaft, die mich überbrachte, durfte auf Bau 23, Stube drei eingewiesen. Mit Türöfnen und dem rostigen Draht nicht zu verletzen. Das hatte dem dann wird er wieder verhaftet. Das ist ganz schnell das Lager nicht betreten. Es war ihnen verboten, irgend- einem Tritt in den Hintern war ich meinem Schicksal SA-Mann, der mich mit einem Karabiner bewachte, gegangen, wir haben nichts machen können. etwas zu besichtigen. Wir wurden wie Wölfe, aus dem am ersten Tag überlassen. 12 nicht gefallen. Als ich den Stacheldraht zwischen den Gehege hervorbrechend, von den Peinigern und Sadisten (Quelle: StALö HA 396a/2) Zacken hielt, drückte der Wachmann mit beiden Hän- Doris Hausherr spricht sehr bewegt weiter: behandelt und am Rande des Lagers abgeholt. Wir wur- den mir die eine Hand zu, so dass mir die Stacheln tief Ein Polizist, der in der Nähe gewohnt habe, den zu unseren Unterkünften gebracht, und hier begann Die nächsten Tage, so schreibt Lützel- in die Hand eindrangen. Ich schrie vor Schmerz auf, die- habe der Mutter mitgeteilt, wann ihr Mann schwab, müssen die Inhaftierten die Stock- ser aber hielt mir den Mund zu und stieß mir noch den aus dem Lörracher Gefängnis abtransportiert werke und die Aborte putzen. Selbst sind Gewehrkolben ins Kreuz mit dem Vermerk, so macht werde. Wenn sie ihren Mann nochmals sehen sie mit kaltem Wasser am Brunnen mit Rei- man Stacheldraht ab. Verbunden durfte die Hand nicht wolle, müsse sie an den Bahnhof gehen. sigbürsten behandelt worden. Die restlichen werden, ich habe sie mit dem eigenen Urin geheilt. […] Kleider werden nass, was niemanden interes- Der Polizist hat uns am Bahnhof in Empfang ge- siert, abtrocknen oder gar wärmen haben sie Am 21. Dezember 1933 wurde ich auf die Dauer von nommen, er hat mich über die Geleise getragen und sich nicht können. Die Haare werden bis auf drei Monaten probeweise beurlaubt. Zu Hause ange- auf den Bahnsteig gelupft. Da habe ich die Augen einen Millimeter abgeschnitten. In den fol- kommen, war ich längere Zeit krank. Bei der Entlassung meines Vaters gesehen, wie er durch die schmalen genden Wochen ist die Gruppe zum Bau eines musste ich vier Reverse [schriftliche Erklärung] unter- Seitenschlitze des Güterwagens geblickt hat. Das Schießplatzes eingeteilt. Waldräumungsar- schreiben: sind richtige Viehtransportwagen gewesen. Ich ver- beiten sind angesagt. Es liegt Schnee und ist 1. eine Loyalitätserklärung, gesse das nie. sehr kalt. Die Kleider, Schuhe werden durch- 2. eine Erklärung, dass ich auf jeden Anspruch nässt; umziehen, trockene Kleider anziehen auf Entschädigung verzichte, Im Bericht Lützelschwabs steht dazu: ist nicht vorgesehen, nirgendwo inden sie 3. dass ich mich keiner gegnerischen Partei Schutz oder gar Wärme. Den Weg vom Lager anschließe, 1944, am 22. August, wurde ich von der SS von mei- zum Arbeitsplatz müssen sie viermal am Tag 4. dass ich keine Aussagen mache über das, ner Arbeitsstelle im „Eisenbau Wyhlen” morgens etwa bewältigen. In den Baracken liegen sie auf was im Lager geschehen ist. um 9 Uhr verhaftet und wurde in das Bezirksgefängnis Gemalte Postkarte der Gemeinde Heuberg in den Stroh. Hermann Lützelschwab weiter: Lörrach eingeliefert. Am 23. August 1944 wurde ich 1930er-Jahren. (privat) Zu Punkt 4 sagte der Kommandant Buck, derjenige, mit noch etwa 40 Kameraden aus dem Bezirk Lörrach Zu diesem hinzu kommt fast stetiger Durchfall auf- der Aussagen mache, werde abgeholt und er werde die nach dem Konzentrationslager Struthof (Niederelsass) grund mangelnder Kost, mangelnder Wärme und man- Berge der Heimat nicht wieder sehen. gebracht. Um etwa 10 Uhr wurden wir mit einer star- ein zweistündiger Empfang. Dieser zeichnete sich durch gelnder Plege. Gleich anfangs dieser drei Wochen hatte ken Bewachungsmannschaft am Bahnhof in Lörrach kaum vorstellbare Drangsalierung und Schikanen aus. ich einen schrecklichen Durchfall, wobei ich genötigt Frau Hausherr erzählt weiter: verladen und kamen nachts etwa um ½ 11 Uhr in dem Wir wurden beispielsweise etwa ein Dutzend Mal zum gewesen wäre, jede Nacht mehrere Male auf den Abort fürchterlichen Lager Struthof an. Hier wurden wir nicht dritten Stock hinauf und wieder herunter gejagt, wobei zu gehen. Allein das war aufgrund der Situation mit Mein Vater hat dort die Füße erfroren, weil er in gelinder als auf dem Heuberg in Empfang genommen. sich die SA auf den Treppen aufgehalten hat, wo sie der Wachmannschaft nicht möglich, weil dieser Austritt Holzschuhen am Eis angefroren ist. Ein Wachmann Wir wurden sogleich der Lagerkommandantur vorge- beim Vorbeigehen uns Tritte und Hiebe versetzt haben, immer mit Peinigungen verbunden war, schon weil der hat ihn vom Eis losgeschlagen und dabei seine Füße führt, und es begann die mir schon bekannte Abilzung ohne sich umzusehen, auf was für einen Körperteil Abort eine Wegstrecke weit weg war, da sich der Abort an getroffen. Er hat immer offene Füße gehabt. Ich der Kleider und des Körpers. Als diese Prozedur fer- dies versetzt wurde. Als weitere Maßnahme war eine einem Anbau befand. Auf dieser Wegstrecke war keiner weiß das so genau, weil ich meinem Vater als klei- tig war, hatte uns der allgewaltige Lagerkommandant Kleideruntersuchung verbunden mit einer Leibesvisita- seines Lebens sicher. Es gab in diesem Fall immer nur nes Mädchen Puder auf die Wunden streuen durf- gefragt, ob wir Hunger hätten und Durst. Dies haben tion. Wir wurden nackt ausgezogen, unsere Kleider auf den Ausweg, möglichst auszuhalten bis zum Wecken. te. Dennoch ist er immer mit seinem Fahrrad zur wir bejaht, daraufhin antworte dieser: „Zum Essen und einem Tisch ausgebreitet. Jede Naht wurde genauestens Und so geschah es mir, dass ich austreten sollte, auch Arbeit in die Firma „Eisenbau-Wyhlen” nach Gren- zum Trinken haben wir nichts, aber da ist der Galgen, untersucht, ob irgendeiner etwas Schriftliches eingenäht darum gebeten habe. Da es mir abgelehnt wurde, ging zach gefahren. Wir haben in der Haagener Straße die Giftkammer und das Krematorium, und wer Lust

78 79 Dreiländermuseum Lörrach Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte

hat, die Freiheit zu erreichen, der kann sich schon mel- Gemüt, dass es unmöglich war, Ruhe zu inden, zumal ich mich zum Arzt begeben. Dieser schrieb mich wegen der schlechten Unterbringung im Lager Rheumatismus den und kann diese durch das Krematorium erreichen”. man noch zusehen musste, wie dieser oder jener Kame- Erschöpfungszustand auf unbestimmte Zeit krank. Ich zugezogen, an dessen Folgen er noch heute leidet. Bedarf Da hatte keiner mehr Hunger oder Durst. rad erhängt wurde. war 12 Wochen arbeitsunfähig, konnte auch nach diesen daher einer Thermalbadekur in Krozingen, ist seit dem (Quelle: StALö HA 396a/2) Mein lieber Kamerad Reinert und ich hatten uns 12 Wochen nur noch leichte Arbeit verrichten. Seither 1. August 1945 beschäftigt beim Arbeitsamt. schon bereits mit der Giftkammer, wo 40 Menschen bin ich nun in ärztlicher Behandlung. (Quelle: STAF F 166/3 Nr. 4788) Lützelschwab berichtet von den schlimmen Platz hatten, abgefunden, da erleuchteten Blitze mit Obige Angaben habe ich vor dem Versorgungsamt Zuständen in den Schlafräumen, dem Was- Kanonendonner die Nacht. Die Front war nunmehr in Freiburg sowie vor Dr. Weisschedel in der chirurgischen Die Verhandlungen ziehen sich hin. Ein ers- sermangel, dem Hunger und der zerlumpten unmittelbare Nähe gerückt, und nun hieß es für uns, auf Klinik gemacht, ohne dass beide dazu Stellung genom- tes Urteil ergeht am 3. Oktober 1955 durch Kleidung, die man nicht hat wechseln kön- schnellstem Wege aufbrechen nach Dachau. men haben in ihren Gutachten. Diese meine Angaben das Landgericht Freiburg. Dort wird die Ent- nen. Er spricht auch davon, dass das Lager können jederzeit von Zeugen bewiesen werden. Bei der schädigungsklage abgewiesen. überbelegt gewesen und die Not dadurch Vom schlimmen Fußmarsch von etwa 2000 Entlassung in Dachau hat mir der SS-Kommandant Als Gründe für die Abweisung der Klage noch größer geworden sei. Er erzählt von den Mann von Struthof zur Bahnstation schreibt erklärt, wenn ich noch einmal geholt werden würde, führt das Gericht aus: Lützelschwab, von der Verladung in einen würde ich, ohne vor ein Gericht gestellt zu werden, leeren Güterzug, vom Kohlestaub, der Zenti- erschossen. Der Kläger ist zwar wegen seiner politischen Über- meter hoch in den Wagen liegt. Darin liegen (Quelle: StALö HA 396a/2) zeugung im Sinne des Entschädigungsgesetzes […] die Männer Mann über Mann, bei der Fahrt verfolgt worden und demgemäß auch aufgrund des wirbelt der Kohlestaub auf und macht das At- Aus den letzten Kriegstagen berichtet die Bad. Landesgesetzes über Entschädigung der Opfer des men fast unmöglich. Der Zug wird bei Karls- Tochter von Hermann Lützelschwab noch, Nationalsozialismus bezüglich seiner Haft als Verfolg- ruhe beschossen, auch bei Ludwigsburg und dass ihr Vater als Volkssturmmann an der ter anerkannt. Lediglich stehen ihm die eingeklagten Stuttgart. Sie kommen in Dachau an; wieder Tumringer Brücke zur Wache eingeteilt gewe- Ansprüche auf Entschädigung für Schäden an Körper Zählappell, wieder Körper- und Kleiderkon- sen sei. Wohlmeinende Verwandte, die auch und Gesundheit nicht zu. Denn diese, von ihm geltend trolle. Schuhe haben sie schon lange nicht Einblick in den Machtapparat in Lörrach ge- gemachten Schäden sind nicht verfolgungsbedingt im mehr, nur Lappen um die Füße. Die Tage und habt haben sollen, haben ihn und seine Frau Sinne von § 15 des Bundesentschädigungsgesetzes zur Nächte sind wie in Struthof: antreten, ge- gewarnt und zum Untertauchen geraten. Da Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen schlagen werden, hungern, arbeiten, sterben, seien sie alle Richtung Stetten gelohen, ha- Verfolgung vom 18. September 1953 anzusehen. ja, viele sterben vor Hunger. Und dann im ben versucht, nicht erkannt zu werden und (Quelle: STAF F 166/3 Nr. 4788) Oktober der Abtransport nach Überlingen am haben bei Bekannten in Stetten Zulucht ge- See. Das Lager ist noch nicht fertig. Hermann sucht. Glück sei es gewesen, dass die Fran- Im Weiteren wird ausgeführt, dass die Lei- Lützelschwab wird nochmals verlegt: zurück zosen gekommen seien. Es war der 24. April den (Arthrosis deformans) schon vor der Haft Eingang Gedenkstätte Lager Struthof. nach Dachau. Er berichtet dann: 1945. bestanden hätten. Auch eine „richtunggeben- (Foto: Hj. Noe) de Verschlimmerung dieses Leidens durch In der dritten Woche des Monats Oktober wurde ich Hermann Lützelschwab strengt nach dem die Haft” sei nicht entstanden. Auch Lützel- nach Dachau zurückbeordert, wo ich dann zur Entlas- Krieg ein Verfahren auf Wiedergutmachung schwabs weitere gesundheitliche Beeinträch- Zählappellen, dass man so lange habe stehen sung kam und somit der Hölle von Dachau als entron- und Entschädigung an. In einem Schreiben tigungen im linken Bein (Krampfadern) sei- müssen, bis alle da gewesen seien. Hermann nen gelte. In Dachau lagen jeweils drei Mann auf einer an das Gesundheitsamt am 2. August 1945 en nicht in der Haft oder sechs Wochen nach Lützelschwab 1954: Breite von 75 cm, zwei Mann in gleicher Richtung, einer wegen gesundheitlicher Betreuung politisch Haftentlassung entstanden. umgekehrt. Als Kopfunterlage benützten wir die Holz- Verfolgter steht: Der grausigste Anblick war von donnerstagnachts schuhe und als Bedeckung Papierfetzen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass beim Kläger bis zum Sonntag, denn in dieser Zeit war das Krema- Ich erreichte am 21. Oktober 1944 meine Wohnung 1933/34 sieben Wochen im Konzentrationslager Heu- keine verfolgungsbedingten Körper- und Gesundheits- torium in Funktion. Die Flammen schlugen vor lauter in Lörrach mit einem Körpergewicht von etwa 100 berg wegen politischer Umtriebe gegen den Hitlerstaat. schäden oder verfolgungsbedingte Verschlimmerung sol- Verbrennen von Menschen bis zu drei Meter hoch über Pfund bei einer Körpergröße von 1,80 m. Ich musste 1944 anlässlich der Sonderaktion wegen des Attentats cher Schäden, die allein oder zusammen von mehr als den Schornstein des Krematoriums. Dieses Nachdenken mich sofort auf der Polizeistelle melden und hatte den auf Hitler ohne Grund ins Konzentrationslager gesteckt. unerheblicher Bedeutung sind, bestehen oder bestanden darüber, was dort geschieht und zu welchem Zeitpunkt Befehl, mich bei meiner Arbeitsstelle ebenfalls zu mel- Erst nach Natzweiler, dann Dachau, später nach Über- haben. das Schicksal einen selber erreicht, ging einem so zu den. Aufgrund meiner schlechten Verfassung musste lingen. Entlassen November 1944. Hatte sich wegen (Quelle: STAF F 166/3 Nr. 4788)

80 81 Dreiländermuseum Lörrach Man war am Abend im Unklaren, ob man den Morgen noch erlebte

Irgendwelchen verfolgungsbedingten Maßnahmen der Verwaltungsbehörden, die sich gegen die Aufnahme einer selbstständigen Berufstätigkeit des Klägers gerich- tet haben, können nicht festgestellt werden. Wenn der Kläger in eine unselbstständige Arbeit erst vermittelt worden ist, nachdem die Parteigenossen untergebracht worden waren, so liegt nach der ständigen Rechtspre- chung des Bundesgerichtshofes keine Verfolgungsmaß- nahme vor. Da gerade im Grenzgebiet von Lörrach die Arbeitslosigkeit sehr hoch war, bestand für den Kläger vor dem Jahre 1937 kaum eine Aussicht auf einen dau- ernden Arbeitsplatz. Es kann somit auch nicht festge- stellt werden, dass er aus Verfolgungsgründen von der Vermittlung in eine unselbstständige Arbeit ausgeschlos- sen worden ist. (Quelle: STAF F 166/3 Nr. 4788)

Hermann Lützelschwab hat für die beiden Haftzeiten (7.11.1933 bis 21.12.1933 und 22.8.1944 bis 18.10.1944) eine einmalige Entschädigung von DM 500.- erhalten, für Der Abtransport von Gefangenen am Bahnhof Lörrach gehört zu den frühesten Kindheitserinnerungen von Verdienstausfall bzw. mangelndes beruli- Volker Glatt (geb. 1940). Nach seiner Erinnerung sah er „eine Zigeunerfamilie”, gefangen gehalten wie in ches Fortkommen bei der Eisenbau Wyhlen einem Käig auf einem Wagen. Die Skizze fertigte Glatt 2013 als Reaktion auf den Besuch der Ausstellung DM 96,38. „Lörrach und der Nationalsozialismus” und übergab sie dem Dreiländermuseum. (DLM: APG 29)

Lützelschwab strengt zudem ein Wiedergut- trieb aus politischen Gründen zum Erliegen gekommen machungsverfahren wegen Beeinträchtigung sei, so mag auch dieser Vorgang dem Kläger zu keiner seines Fuhrunternehmens aufgrund der Ver- Entschädigung verhelfen. Denn vor dem 30. Januar haftung an und letztlich der Stilllegung seines 1933 hatten die Nationalsozialisten in Baden noch kei- Unternehmens Anfang der 1930er Jahre. Es nerlei Einluss auf die Regierungsgewalt […] ergeht dazu ein Urteil vom Landgericht Frei- Der Kläger kann einen Entschädigungsanspruch aber burg, verkündet am 22. August 1960. Die auch nicht daraus herleiten, dass ihm durch die Verhaf- Klage wird abgewiesen. Lützelschwab klagt tung die Wiederaufnahme seines zum völligen Erliegen auch ein, dass er aufgrund seiner politischen gekommenen Betriebs nicht gelungen sei. Denn durch Gesinnung keine Erwerbstätigkeit mehr habe die verfolgungsbedingte Unmöglichkeit, eine selbstän- aufnehmen können, nachdem sein Fuhrbe- dige Arbeitstätigkeit aufzunehmen, gibt das Gesetz kei- trieb still stand. Dazu in der Begründung des nen Entschädigungsanspruch. […] Gerichts: Ein Entschädigungsanspruch nach dem Bundesent- schädigungsgesetz wäre danach selbst nicht gegeben, Wenn der Kläger jetzt behauptet, er sei schon im Jahre wenn man dem Kläger nach seiner Entlassung aus 1932 aus politischen Gründen verfolgt worden, um dem Konzentrationslager Heuberg die Aufnahme einer dadurch den Anschein zu erwecken, dass sein Fuhrbe- selbstständigen Erwerbstätigkeit untersagt hätte. […]

82 83 Dreiländermuseum Lörrach V.

JEDER MEINT,

DASS SEINE WIRKLICHKEIT

DIE RICHTIGE

WIRKLICHKEIT IST.

Hilde Domin

84 85 Dreiländermuseum Lörrach Auch Fotografien sind Zeitzeugnisse Auch Fotografien sind Zeitzeugnisse

Auch Fotografien sind Zeitzeugnisse: 09 Sogenannte „Kükengruppe” der Frauen- terhalb des alten Schützenhauses. (Zü. 19.80.2) schaft in der Nationalsozialistischen Volks- 26 NS-Amtssträger am Marktplatz vor dem Bilder aus dem Nachlass von Eugen Zürcher wohlfahrt (NSV) bei einem Auslug auf das Hotel Binoth (Heute Dreikönig). (Zü. 6.361.13) Röttler Schloss 1939. (Zü. 19.78.3) 27 Realschülerinnen verpacken sogenannte 10 Jugendliche beim Zeigen des Hitlergru- „Liebesgaben”, die als Feldpostpakete an die ßes, der verplichtenden Grußform nach der Lörracher Soldaten verschickt wurden. (Zü. 19.61.4) Eugen Zürcher (1897 – 1984) war seit 1926 Lehrer in Lörrach und 1959 bis 1964 Schulleiter Machtübernahme 1933. (Zü. 19.74.3) 28 Straßensammlung für das Winterhilfs- der Albert-Schweitzer-Schule. Er hat Zeit seines Lebens als Amateur sehr professionell fotogra- 11 Kinder beim Zeigen des Hitlergrußes. Das werk (WHW), das Sach- und Geldspenden für iert. (Beitrag von Andreas Lauble) Bild erweckt den Eindruck für den Fotografen Bedürftige sammelte. (Zü. 19.76.1) gestellt worden zu sein. (Zü. 22.1) 29 Menschenansammlung auf dem Bahn- Als Fotograf hat er in den 1930er Jahren bringt immer seinen eigenen Erfahrungs- und 12 Ein Junge in Haagen, der an der Deichsel hofsvorplatz um eine zur Schau gestellte Lichtbildervorträge gehalten, Postkarten ver- Wissensschatz mit. Je nach Bildunterschrift eines Holzleiterwagens hoch geklettert ist, Bombenattrappe. (Zü. 1.36.3) öffentlicht und war als Bildreporter für den kann ein Bild höchst unterschiedliche Aussa- um dort wohl nach Aufforderung des Fotogra- 30 Aufmarsch von Fahnenträgern am „Alemannen” tätig. Seine damaligen Motive gen vermitteln. Auch Bilder sprechen eben fens den Hitlergruß zu zeigen. (Zü. 19.52.9) Marktplatz. Die Zuschauer zeigen den Hitler- zeigen neben dem Stadtbild öf- nicht für sich, sie sind stets auf 13 Hetzplakat zur 5. Straßensammlung des Win- gruß. (Zü. 6.362.6) fentliche Ereignisse wie Aufmär- ihren historischen Kontext und terhilfswerks 1939 am Marktplatz. (Zü. 19.65.12) 31 Verkleidete Kindergartenkinder bei ei- sche, politische Kundgebungen, die Absicht des Fotografen zu 14 Hakenkreuzbelaggung an der Kreishypo- ner Aufführung vermutlich im Kindergarten in Feste und Feiern. Fotos von Kin- befragen. thekenbank Ecke Palm-/Turmstraße. (Zü. 20.46.3) der Spitalstraße. Möglicherweise handelt es dern und Jugendlichen lassen In enger Zusammenarbeit mit 15 Feierlichkeiten zum Geburtstag Adolf Hit- sich bei der fotograierten Szene um eine Ad- deren Faszination für die allge- Karlfrieder Vortisch wurden für lers auf dem Schulhof in Tüllingen. (Zü. 19.60.6) vents- oder Weihnachtsfeier. (Zü. 19.68.13) genwärtigen öffentlichen Insze- die folgende Bildserie 39 Fotos 16 Schaufenster des Lebensmittelgeschäftes 32 Innenaufnahme des Kindergartens der nierungen erahnen. aus der Zeit des Nationalsozia- Carl Maier in der Wallbrunnstraße 7 anlässlich Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) Fotos sind historische Quel- lismus in Lörrach ausgewählt. der Volksabstimmung am 10. April 1938 über in Tumringen. Statt einem Kreuz war ein Hit- len, die zeitgleich im Moment Diese stammen alle aus dem den bereits vollzogenen „Anschluss” Öster- lerbild aufgehängt. (Zü. 20.37.1) eines Ereignisses entstanden Nachlass von Eugen Zürcher im reichs an das Deutsche Reich. (Zü. 19.64.1) 33 Schüler tragen im Hof der Hebelschule sind und nur einen Ausschnitt Stadtarchiv und sollen einen vi- 17 Blick von der Turmstraße zum Kaufhaus Säcke mit Heilkräutern, die zur Arzneimittel- aus der Wirklichkeit abbilden. Eugen Zürcher. suellen Eindruck jener Zeit ver- Vortisch (heute Müllermarkt) 1938. (Zü. 19.56.20) herstellung gesammelt wurden. (Zü. 17.19.21) Im Gegensatz zu Tagebüchern, (StALö Zü 20.14.2) mitteln. Soweit dieser bekannt 18 Trauerzug anlässlich der Beerdigung von Al- 34 Kundgebung zu Adolf Hitlers Geburtstag Berichten und Erinnerungen, die ist, wird der historische Kontext bert Schmidt, Kreisobmann und Abgeordneter im Schulhof der Hebelschule. (Zü. 19.67.10) nachträglich und aus einer bereits gedanklichin der Bildunterschrift beschrieben.13 der NSDAP im Badischen Landtag. (Zü. 6.360.28) 35 Musikzug des Deutschen Jungvolkes geordneten oder interpretierten Rückschau 19 Aufmarsch am Robert Wagner-Platz (Neu- (DV). Umgangssprachlich wurden diese Jun- entstanden sind, zeigen sie ein zeitgleiches01 Kletternde Jungen bei einem Fest in der er Marktplatz), bei einem Besuch von Gaulei- gen „Pimpfe” genannt. (Zü. 14.1.6) Abbild der damaligen Realität. Damit sind sieHomburg-Siedlung 1943. (Zü. 17.4.1) ter Robert Wagner in Lörrach. (Zü. 19.67.4) 36 Vertreterinnen des Bunds Deutscher zwar authentische Zeitzeugnisse, die aber02 Spielende Mädchen auf dem Pausenhof 20 Vertreter der „Marine Hitlerjugend” Lör- Mädchen (BDM) beim Marktplatz. (Zü. 6.359.5) eben nur eine kurze Momentaufnahme bieten.der Hebelschule 1943. (Zü. 11.743.5) rach beim Kreisparteitag 1939. (Zü. 19.56.14) 37 Vertreter der Hitlerjugend (HJ) am Auch Fotos sind subjektive Quellen, da sie nur03 - 05 Sportfest auf dem ehemaligen „Rot- 21 Kreisparteitag 1939. (Zü. 19.56.15) Marktplatz. (Zü. 6.359.4) den Ausschnitt abbilden, den der Fotograf- beWeiß-Sportplatz” in der Brombacher Straße. 22 Vertreter des Reichsarbeitsdienstes beim 38 Musikzug des Deutschen Jungvolkes absichtigt ausgewählt hat, sie zeigen nur den(Zü. 17.1.7) Kreisparteitag 1939. (Zü. 19.56.26) (DV) beim Kreisparteitag 1939. (Zü. 19.56.25) Moment, in dem der Auslöser betätigt wurde.06 Ein Fest der Verwundeten-Betreuung 1942 23 Massenkundgebung auf dem Robert-Wag- 39 Zwei Mädchen, die von der Nationalsozi- Alles was außerhalb des gewählten Bildaus- in der Homburg-Siedlung. (Zü. 17.14.7) ner-Platz (Neuer Marktplatz) während des alistischen Volkswohlfahrt (NSV)mit der „Kin- schnittes zusätzlich passierte, alles was kurz07 Speerwerfer beim Bannsportfest, das 1939 Kreisparteitags 1939. (Zü. 19.62.1) derlandverschickung” zur Erholung auf das vor oder nach der Aufnahme des Fotos- gein Lörrach stattfand. (Zü. 19.58.10) 24 Vermutlich eine Ehrenwache am Grab von Land geschickt wurden. Auf der Karte, die sie schah, bleibt für den Betrachter im Dunkeln.08 Junge Frau während des Kreisparteitages Albert Leo Schlageter in Schönau. (Zü. 6.360.5) um den Hals tragen, ist u.a. das Reiseziel ver- Wer heute ein historisches Foto betrachtet,1939 in Lörrach. (Zü. 19.56.1) 25 Feierlichkeiten am 1. Mai 1939 direkt un- merkt. (Zü. 20.46.8)

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WARUM SPRECHEN WIR

VON UNTATEN,

ABER NICHT

VON UNTÄTERN?

Nikolaus Cybinski

102 103 Dreiländermuseum Lörrach Sie gaben ihr einen Tritt in den Hintern Sie gaben ihr einen Tritt in den Hintern

„Sie gaben ihr einen Tritt in den Hintern” handelt sich um die erste Massendeportation von Juden deutscher Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich. Baden ist der erste „judenfreie” Gau. Deportiert werden so genannte Gespräch mit Micky Mischée (Jhg. 1935) am 8. Oktober 2014 über die Deportation der Juden. Frau Mischée „Volljuden”, also Jüdinnen und Juden, die nach der Regelung der Nürnberger Gesetze keine gehört zu den jüngsten befragten Zeitzeugen. Sie ist eben 5 Jahre alt, als sie das Ereignis beobachtet, an das arischen Vorfahren haben. Die Opfer werden von Polizisten erst kurz vor der Abholung benach- sie sich, wie sie sagt, ein Leben lang erinnert. Ich selbst kenne Micky Mischée als Mutter eines Schülers seit richtigt. Sie haben nur wenig Zeit, um maximal 50 Kilogramm Gepäck pro Person zusammen Ende der 1960er Jahre. Und viele Lörracher kennen sie als Kioskbetreiberin im Hallenbad. zu packen – darunter eine Wolldecke, Verplegung für mehrere Tage und 100 Reichsmark in bar. Die Juden werden versammelt, registriert und durchsucht – in Lörrach geschieht dies in der Alten Handelsschule (heute Hochhaus am Marktplatz) am damaligen Robert-Wagner-Platz. Mindestens 52 Personen werden aus Lörrach mit Lastwagen nach Freiburg gebracht. Hier müs- Durch Anordnung der Gauleiter Badens (Robert Wagner) und der Saarpfalz (Josef Bürckel) sen sie in einen Zug steigen, der sie nach Südfrankreich transportiert. werden am 22. Oktober 1940 insgesamt etwa 6 550 Juden aus Baden, dem Saarland und der Pfalz ins unbesetzte Frankreich abgeschoben und in Gurs in einem Internierungslager unter- Den Tag der Abholung beobachtet Micky Alle Besucher der Ausstellung sind zutiefst gebracht. Gurs ist ein Lager, das im Spanischen Bürgerkrieg belegt worden ist. Bei der Aktion Mischée als Kind. Sie ist 1940 fünf Jahre alt beeindruckt: und wohnt in der Wilhelmstraße (heute Haa- gener Straße) in Lörrach im elterlichen Haus. Ich weiß es noch wie heute. Leonie sollte nach Ihre Mutter hat im jüdischen Kaufhaus Sally Fräulein Schwab sehen, die ich als Kind natürlich Knopf (heute Stadtbibliothek) gearbeitet, das nicht gekannt habe. Da kamen Lastwagen, ich glau- ab 1937 nach der Arisierung Kaufhaus Rich- be drei, offene Lastwagen auf den Marktplatz. In ter heißt. Von ihrer Arbeit her kennt die Mut- Gruppen kamen die Menschen aus der Alten Han- ter meiner Gesprächspartnerin viele jüdische delsschule. Auch eine Frau! Sie hatte ein Bastkörb- Menschen in Lörrach. Im Kaufhaus ist ein chen bei sich, oben drauf lag ein Brot. Beim Gang Fräulein Schwab – damals hat man zu einer zum Lastwagen fiel ihr das Brot auf den Boden, unverheirateten Frau Fräulein gesagt – ihre ein SS-Mann oder wer auch immer in der Uniform Lehrmeisterin gewesen. Die Mutter von Micky steckte, trat ihr in den Hintern. Ich war geschockt. Mischée weiß, dass Fräulein Schwab Jüdin ist; Dieses Bild habe ich noch immer im Kopf. sie will gerne wissen, ob ihre Lehrmeisterin auch abgeholt worden ist. Deshalb schickt sie Und heute ergänzt sie: ihre ältere Tochter Leonie, damals zwölf Jah- re alt, auf den Markplatz, um nachzuschauen. Warum haben die Nazis die Juden so behandelt? Leonie kennt Fräulein Schwab. Leonie nimmt Das ist doch schrecklich! ihre kleine Schwester Micky an der Hand, die beiden Kinder gehen von der Wilhelmstraße Micky Mischée hat nur gute Erinnerungen zum Marktplatz. an Juden, besonders an die Familie des jü- Micky Mischée hat mir das erstmals vermit- dischen Arztes Dr. Moses (vgl. S. 38). Sie telt, als sie an einer Führung in der Ausstellung wohnt in der Nähe der Arztfamilie. Die Mutter „Lörrach im Nationalsozialismus” teilgenom- des Arztes Dr. Moses hat ihre Familie oft mit men hat. Im Anblick der Bilder von der Depor- frischen Matzen versorgt. Fräulein Schwab tation der Juden bricht es aus ihr heraus: haben die beiden Mädchen beim Abtransport der jüdischen Menschen auf dem Marktplatz Da war ich als Kind! Sie haben der Frau einen nicht gesehen. Die Zeitzeugin weiß nicht, was Tritt in den Hintern gegeben! aus ihr geworden ist. Lukrezia Seiler hat in ihrem Buch „Was Micky Mischée ist eine sehr impulsive Frau wird aus uns noch werden?” die Zeitzeugin Deportation der Lörracher Juden am 22. Oktober 1940. (StALö 2.29.7.) und spricht laut über ihr damaliges Erlebnis. Anneliese Eichhorn im Jahre 2000 zum Ab-

104 105 Dreiländermuseum Lörrach Sie gaben ihr einen Tritt in den Hintern Die Nazicamorra des Dorfes war versammelt

transport der jüdischen Mitbürger befragt. wagen steigen, wurden richtig hinauf gestoßen. Auch „Die Nazicamorra des Dorfes war versammelt” Dort zitiert sie Anneliese Eichhorn: Nachbarn von uns, Familie Joseph von der Schützen- straße, wurden aufgeladen. Ich hätte weinen können, Ein Brombacher (Jhg. 1931) schreibt für seine Enkel am 11. Dezember 2010 einen Bericht: Ich war damals 19 Jahre alt und arbeitete bei der als die Lastwagen abfuhren. Das hat einen doch sehr Deutschen Bank. An jenem Morgen stand ich, zusam- bewegt, diese armen alten Leute – die hatten doch da men mit einem Arbeitskollegen, am Fenster auf der ihre Heimat und mussten weg von allem. Aber wir durf- Rückseite des Hauses, von wo wir direkt auf den Markt- ten unser Bedauern oder unser Mitleid mit den Juden 1. September 1939 in Brombach, noch 10 Tage, oberen Grenze zur Wehrtauglichkeit war und auch platz [damals Robert-Wagner-Platz] schauen konnten. nicht einmal zeigen, konnten uns nur mit den Augen ein bis ich meinen 8. Geburtstag erreicht habe. Ich er- als Lehrer zur vaterländischen Erziehung der Kin- Es war ein trüber Spätherbsttag, neblig und grau, relativ Zeichen geben, denn wir hatten einen Obernazi im Büro. innere mich noch genau an diesen Tag. Beim Bäcker der gebraucht wurde. Als Bub war man doch eher früh am Vormittag. Da sahen wir, wie die Juden auf die (Quelle: Seiler, Lukrezia, Was wird aus uns noch werden?, Zürich war ich, beim „Bösch-Begg”, und habe für 2 Pf. fünf gespannt, was jetzt passieren würde, denn die Trag- Lastwagen geladen wurden, die da unten standen. Es 2000, S. 46.) Himbeerguzzis gekauft. Da sagte eine Frau neben weite eines Krieges war einem kaum bewusst oder waren zwei oder drei Lastwagen. Das waren arme, alte mir, die ein Brot kaufte. „’s isch Chrieg!”. Entsetztes gar begreiflich. Leute, zwischen 60 und 80 Jahren, kaum jüngere Män- Lukrezia Seiler hat über das Schicksal der Schweigen, keine Begeisterung, wie man das vom ner und Frauen. Sie hatten ganz wenig Gepäck bei sich, jüdischen Familie Grunkin geschrieben. Mit- Ausbruch des Ersten Weltkriegs gekannt hatte, das Die nächsten Monate geschah mal gar nichts, au- nur das, was sie tragen konnten. Sie mussten in Last- telpunkt ist der Briefwechsel von Josef und steckte der älteren Frau wohl noch in den Knochen: ßer dass am Bahnhof in Haagen ein riesengroßes Marie Grunkin aus dem Lager in Gurs mit „Nai, nit scho wiider!” war der allgemeine Tenor. Eisenbahngeschütz aufgestellt wurde, das jeden Tag der Schwester Rosa, die in Riehen bei ihrem Auch meine Eltern waren betroffen, zumal mein ungefähr zehn Granaten mit einem ohrenbetäuben- Mann, einem Schweizer Lehrer, lebt. Im Brief Vater den Einberufungsbefehl erhalten hatte, aber den Lärm ins 80 km entfernte Belfort mit seiner Marie Grunkins vom 8. November 1940 steht: nur für vier Wochen, weil er mit 44 Jahren an der Festung schoss. Ob sie dort angekommen sind, ist

Wir sind in einem Barackenlager in Südfrankreich, liegen auf Stroh und bekommen zwei Mal am Tage eine Wassersuppe mit trockenem Brot. Ich kann Dir leider diese Zustände von hier nicht schildern, denn sie sind geradezu verheerend. Du kannst es Dir nicht den- ken, wie es hier zugeht, es sind grauenhafte Zustände. (Quelle: Seiler, Lukrezia, Was wird aus uns noch werden?, Zürich 2000, S. 68)

Die jüdischen Menschen werden 1942 nach Auschwitz verfrachtet und dort oder in an- deren Konzentrationslagern ermordet. Eine Stele in der Teichstraße zwischen der Syn- agogengasse (Nähe der alten Synagoge, zerstört am 10. November 1938) und dem Standort der neuen Synagoge in der Rain- straße erinnert an die Deportation der jüdi- schen Menschen aus Lörrach und Umgebung am 22. Oktober 1940. – Auch der Name „Ber- ta Schwab” steht auf der Stele in der Teich- straße.

Stele zum Gedenken an die Deportation der Lörra- cher Juden in der Teichstraße. (Foto: W. Lutz) Das Eisenbahngeschütz beim Bahnhof Haagen. (Archiv Schaum, Steinen)

106 107 Dreiländermuseum Lörrach Die Nazicamorra des Dorfes war versammelt Die Nazicamorra des Dorfes war versammelt

aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich, weil da- takt. Ausgewählte Sänger kamen in den Fanfaren- Kriegsgefangene, hauptsächlich Polen, wenig Anblick des aufgehängten Stanislaus Zasada abge- mals die Zielgenauigkeit nicht besonders war. Aber zug, die anderen, so wie ich, trommelten auf klei- Franzosen, aber auch russische, arbeiteten als schreckt werden. für uns Kinder – Mädchen ausgeschlossen („des nen und großen Trommeln. Die Anlässe unseres Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft und in den isch nüt für diä”) – war es ein Spass, die Ohren zu- Auftritts waren NS-Feierlichkeiten wie der 1. Mai, Fabriken Brombachs. Das waren junge Männer wie Nach 1943 begannen die Bombenangriffe, es halten zu müssen und die Sprüche zu hören: „Jetzt Führers Geburtstag, Helden-Gedenktag oder Partei- überall auf der Welt, und wir Kinder kamen mit stand sogar in der Zeitung: „München bombardiert”. kriegt dr Franzma wieder eins uf d’ Biere”. versammlungen in der Turnhalle der Volksschule. ihnen gut aus. An den Tag der Hinrichtung eines Wir hörten die Flugzeuge; nachts spürten wir eine Dort hielt der Bürgermeister und Ortsgruppenleiter jungen polnischen Zwangsarbeiters in Brombach große Hilflosigkeit und auch Angst. Die Katastro- Die militärische Situation änderte sich dann al- Josef Schmidtberger große Reden, die immer gleich erinnere ich mich gut. Ich schloss mit dem polni- phe der Bombardierung und Zerstörung Freiburgs lerdings schlagartig mit Beginn des Frankreich- begannen: „Liebe Volksgenossen und Volksgenos- schen Blondschopf, Stanislaus, genannt Stannis, 1944 ließ sich nicht verheimlichen. Ich sah das feldzugs. Vorausgegangen war diesem der Besuch sinnen!” Einmal hat sich der Bürgermeister ver- Freundschaft. Im Herbst 1941 wurde er denun- brennende Freiburg von Denzlingen aus: glutroter Adolf Hitlers am Westwall, als er den Isteiner Klotz sprochen, und wir Jungen lachten lauthals los; das ziert, er habe ein Verhält- Schein am Nachthim- 1939 aufsuchte. An diesem Tag war unser Dorf wie mussten wir büßen, einen Bürgermeister lacht man nis zu einer deutschen mel bis zum Morgen. Im ausgestorben, alles strömte nach Istein. Auch die nicht aus. Wir mussten auf dem ungepflasterten Kriegsfrau, d.h., dass Herbst 1944 hatte die Frauen eilten dorthin, um dem Führer einen Blu- Schulhof 100 m auf dem Bauch robben. Ein Anlass deren Mann als Soldat französische Armee nach menstrauß auszuhändigen. Jedenfalls kamen ab zum Feiern war auch die Verleihung des Mutter- im Krieg war. Das war der Invasion der Alliier- Mai 1940 große Truppenkontingente, hauptsäch- kreuzes. Jede Frau, die mehr als drei Kinder hatte, strengstens verboten. Ob ten in der Normandie lich Artillerie-Geschütze von Pferden gezogen, nach wurde ausgezeichnet. Die einzige, die das ablehnte, es stimmte, kam nicht das Elsass zurück er- Brombach. Das hatte Einquartierungen zur Folge: war Frau Betting, unsere Nachbarin, die Ehefrau heraus, eher ja, denn er obert. Es setzte Artille- Einquartierungen von Soldaten in fast allen Fami- eines ehemaligen Kommunisten. Sie ließ es zurück- war ein gut aussehender riebeschuss auf Lörrach lien, für die Bauern zusätzlich das Einstellen von bringen und ausrichten: „Saisch ’s im Sepp, er soll junger Mann. Jedenfalls und Umgebung ein. Der Pferden und die Beschlagnahmung ihrer eigenen. sich dä Schissdräck sälber an dr Arsch hänge!” wurde er verhaftet, vor Schulbesuch war nur Wir Buben durften auf den Zugpferden reiten und ein Kriegsgericht gestellt noch sporadisch. die Geschütze bestaunen. Nach dem Waffenstill- Die nächsten Jahre blieben für unser grenznahes und wegen Rassenschan- stand mit Frankreich wurden die Soldaten nach Gebiet relativ ruhig. Hitler hatte 1941 Russland an- de zum Tode durch den Meine Mutter, andere Frankreich verlegt. gegriffen. Ich war inzwischen von der Volksschule Strang verurteilt. Zur öf- Erwachsene, vornehm- auf das Hebel-Gymnasium in Lörrach gewechselt. fentlichen Hinrichtung lich Frauen, wurden 1941 wurde ich in die Hitlerjugend aufgenom- Der fünf Kilometer lange Schulweg von Brombach in einem Steinbruch mit Lastwagen zum men, genauer zu den Pimpfen, das waren die 10- bis nach Lörrach, praktisch autofrei, gehörte uns Schü- nahe Brombach wurde Schanzen an den Rhein 14-jährigen. Die Uniform war braun mit schwarzen lern mit unseren Velos, im Winter bei Glatteis auch die gesamte Nazicamor- gebracht. Die Graben- Schulterklappen, die kurze Hose auch schwarz. Wir mal mit Schlittschuhen. Im „Schiff”, so hieß das ra des Dorfes aufgebo- wände wurden mit sog. hatten theoretischen Unterricht über die Vorzüge Gymnasium, mussten wir nach dem Absingen mi- ten, die mit ansah, wie Gedenkstein für Stanislaus Zasada beim Rathaus Faschinen, das sind Rei- des nationalsozialistischen Führerstaates, aber vor litärischer Lieder auf einer großen Landkarte den der junge Mann qualvoll Brombach. (Foto: Hj. Noe) sigbündel, ausgekleidet. allem viel Sport, Leichtathletik und Geräteturnen. Frontverlauf in Russland mit Bindfaden und Steck- erstickte. Ich machte mir Auch wir Hitlerjungen Besonders beliebt waren die Geländespiele, Kampf- nadeln abstecken, aber nur, solange die Wehrmacht spätestens zu diesem wurden eingesetzt, ich spiele mit Angriff und Verteidigung. Der Jungzug vorwärts marschierte. Beim Rückzug nach dem Jah- Zeitpunkt meine Gedan- war mittlerweile fast 14 aus Haagen musste die Röttler Burg verteidigen, der reswechsel 1942/43 gab man diese Unterrichtsar- ken, ob wir wirklich in einem Idealstaat lebten, wie Jahre alt. „Hüt hän mr wieder Faschine gschla”, Jungzug aus Brombach sollte sie erobern. Die Haa- beit auf. uns das unaufhörlich eingeredet wurde. Über diese erzählten wir. Alle Arbeiten im Freien waren nicht gener waren in einer komfortablen Lage, weil sie die Liebesbeziehung schrieb Rolf Hochhuth 1978 den ungefährlich, weil Jagdbomber (Jabos) das Mark- Zugänge mit Zweigen und Brettern verrammelten, Mein Vater als Volksschullehrer ist nach dem Roman „Eine Liebe in Deutschland”. Heute weiß gräflerland und das Wiesental überflogen. Sie wa- während wir Brombacher den steilen Berg hinauf Waffenstillstand mit Frankreich ins Elsass versetzt ich auch, dass die Gestapo angeordnet hatte, dass ren eine Dauerbedrohung, und in Brombach und stürmen mussten. Und dann nicht zu vergessen: worden; im Gegenzug kamen elsässische Lehrer an alle Polen im Mittleren Wiesental am 16. Oktober Lörrach dröhnten fast täglich die Sirenen. Einmal Gesungen wurde viel, unablässig, und kräftig, mehr unsere Schule. Mit ihnen kamen wir gut aus, sie wa- 1941, dem Tag der Hinrichtung von Stanislaus beobachtete ich, wie ein Jagdbomber über Brom- geschrieen als gesungen, natürlich Kampf- und ren aber politisch sehr zurückhaltend, alemannisch Zasada, um 7.45 Uhr in Brombach vor dem Rathaus bach eine Bombe löste und ein Haus in den Hugen- Kriegslieder: Die ganze Horde brüllte im Marsch- konnten sie auch nicht. sein mussten. Die Zwangsarbeiter sollten von dem matten traf. Es gab Tote. Von Weihnachten 1944 bis

108 109 Dreiländermuseum Lörrach Die Nazicamorra des Dorfes war versammelt Ich beschloss, den Hitlergruß nicht mitzumachen

Mitte April 1945 schickten mich meine Eltern zu Butter, Käse, Milch zugeteilt. Die Milch war zwar „Ich beschloss, den Hitlergruß nicht mitzumachen” meiner Tante nach Vorarlberg, weil sie der Meinung ohne Rahm. Fleisch gab es manchmal zusätzlich waren, ich sei dort sicherer aufgehoben. Tatsächlich von Hausschlachtungen. Aber ab Mitte / Ende 1944 Lebenserinnerungen von Anna Turpin-Denz, Mitglied der Glaubensgemeinschaft Jehovas Zeugen in „Der wurde dann Brombach im Februar 1945 bombar- mussten wir Heilkräuter sammeln, Spitzwegerich, Wachturm” 2004. diert. Salbei und was sonst noch wächst für die Heilmit- telherstellung. Auch Pilze wurden gesammelt. Aber Mit einem der letzten Züge fuhr ich dann zurück nach dem Krieg wurde es schlimm. Man nannte das in Begleitung einer gebrechlichen Frau, auf die ich später „Die schlechte Zeit”. Man war auf die Erträge Anna Denz, geb. 25. März 1923 in Lörrach, ist die Tochter von Oskar und Anna Maria Denz. aufpassen sollte. Wir brauchten drei Tage, denn der des eigenen Gartens angewiesen. Mein Vater und Ihre Eltern gehören wie etwa 40 andere Lörracher zu der Gemeinde der „Ernsten Bibelforscher/ Zug fuhr nur nachts wegen der ständigen Fliegeran- ich machten Hamsterfahrten zu unseren bäuerli- Jehovas Zeugen”. Schon bald nach der Machtübernahme Adolf Hitlers wird ihr bewusst, was griffe. Frühmorgens in Immendingen war es dann chen Verwandten nach Denzlingen, wo ich schon das für sie bedeutet. Jahre nach ihrer geglückten Flucht über die Schweiz in die USA berichtet soweit, der Zug wurde beschossen. Die alte Frau einmal war. Im Sommer klauten wir Buben auf den sie: und ich versuchten uns durch einen Vorgarten in Feldern vor allem Obst, auch Kartoffeln, Weißrü- ein Haus zu retten. Gott sei Dank haben wir beide ben, Maiskolben. Manches wurde ungekocht geges- In Deutschland ging damals alles drunter und kümmertes Gesicht. „Das gefällt mir nicht”, sagte er, das überlebt. Am nächsten Morgen erreichten wir sen, um mindestens zeitweise das Gefühl zu haben, drüber, und zwischen verschiedenen politischen „Heil bedeutet Rettung. Wenn wir Heil Hitler sagen, dann das Wiesental. Die Volksschule neben unse- satt zu sein. Der Bammert rückte uns auf den Pelz. Parteien kam es auf den Straßen zu gewalttätigen würde das heißen, dass wir ihm Rettung zuschrei- rem Haus war zu einem Lazarett umfunktioniert. Ähren lesen war obligatorisch, auch Bucheckern Auseinandersetzungen. Einmal wachte ich nachts ben statt Jehova. Ich denke nicht, dass das richtig Dort starb einer meiner Kumpel, etwas älter als ich. sammeln für Öl. auf, weil ich aus dem Nach- ist, aber du musst selbst Er war von den Splittern einer Granate getroffen barhaus Schreie hörte. entscheiden, was du tust”. worden, als er mit anderen Volkssturmleuten auf Abschließend möchte ich sagen, dass ich das viele Zwei Jungen hatten ihren dem Weg zur Lucke war, um die Franzosen aufzu- Jahre nach dem Krieg aufgeschrieben habe, um den Bruder mit einer Heugabel Ich beschloss, beim Hit- halten. Der Krieg war für uns in Brombach am 24. Nachgeborenen zu erzählen, was geschehen ist. Wir getötet, weil sie gegen sei- lergruß nicht mitzuma- April zu Ende. hörten davon nichts in der Schule in den Jahren ne politischen Ansichten chen. Meine Schulkame- nach dem Krieg. Unserer Familie ging es relativ gut, waren. Auch den Juden be- raden behandelten mich Jedoch noch nicht ganz! Die ersten Franzosen, wir hatten keine Toten zu beklagen, nur einen Cou- gegnete man immer feind- deshalb wie eine Aussätzi- es waren keine „echten Franzosen”, drangen in die sin, der freiwillig zur Waffen-SS gegangen ist und licher. Ein Mädchen in der ge. Einige Jungen verprü- Wohnungen ein und klauten, was sie mitnehmen heute als vermisst gilt. Vielleicht trägt dieser Bericht Schule musste allein in der gelten mich sogar, wenn konnten. Einer kam zu uns mit einer Maschinen- dazu bei, nachdenklich zu werden und sich vorzu- Ecke stehen, einfach nur, die Lehrer nicht zuschau- pistole und wollte wohl das Radio haben. Meine nehmen, Krieg und Unrechtregime zu verhindern. weil sie Jüdin war. Sie tat ten. Irgendwann ließen sie Mutter erklärte ihm, dass das nur ein minderwerti- (Quelle: Tagebuch privat) mir so leid. Damals ahnte mich in Ruhe, aber sogar ger Volksempfänger sei. Offenbar verärgerte sie ihn, ich noch nicht, dass ich meine Freundinnen sagten denn er schoss in das Gerät. Die Marokkaner, von bald selbst zu spüren be- mir, ihr Vater hätte ihnen denen man gräulichste Dinge vorhersagte, waren kommen würde, wie es ist, verboten, mit mir zu spie- eher freundlich. Sie verteilten Schokolade und wa- geächtet zu werden. len. Es sei zu gefährlich. ren besonders den jungen Brombacherinnen zuge- Zwei Monate nach der tan. Wenn Kinder aus so einer Begegnung entstan- Am 30. Januar 1933 Machtübernahme erklär- den, sah man es ihnen an, und sie hatten es nicht wurde Adolf Hitler deut- Anna Denz im Alter von 13 Jahren. ten die Nationalsozialisten, leicht. Brombacher Altnazis sagten laut: „Des isch scher Reichskanzler. Aus (privat) Jehovas Zeugen seien eine wiider eins vonere Marokkanerhure!” zwei Häuserblocks sahen Gefahr für den Staat, und wir zu, wie die Nationalso- sie wurden verboten. Die Zum Essen hatten wir während des Kriegs genug, zialisten über dem Rathaus triumphierend die Ha- SA schloss das Büro in Magdeburg. Die Zusammen- zumindest die Grundnahrungsmittel, die ja nach kenkreuzfahne hissten. In der Schule brachte uns künfte wurden ebenfalls verboten. Aber weil wir Kriegsbeginn rationiert worden sind. Jeder Einwoh- unser begeisterter Lehrer den Hitlergruß bei. Ich nahe an der Grenze wohnten, besorgte uns Vati Ge- ner bekam pro Tag eine bestimmte Menge an Brot, erzählte es Vati am Nachmittag. Er machte ein be- nehmigungen, nach Basel hinüber zu gehen, wo wir

110 111 Dreiländermuseum Lörrach Ich beschloss, den Hitlergruß nicht mitzumachen Ich beschloss, den Hitlergruß nicht mitzumachen

sonntags die Zusammenkünfte besuchten. Nach der führte er uns mit vorgehaltener Waffe zu den bereit- ten Stelle im Wald zu treffen. Tränenüberströmt traf men im April 1940 in die Konzentrationslager Schließung des Büros in Magdeburg kam ein Mitar- stehenden Polizeiautos. Als wir losfuhren, drückte ich Heinrich Reiff. Ich war todunglücklich bei dem Mauthausen und Ravensbrück und werden beiter namens Julius Riffel in seine Heimatstadt Lör- Vati meine Hand und flüsterte: „Verrat nur ja nie- Gedanken, meine Eltern zurück zu lassen. Alles dort 1942 umgebracht. rach. Er organisierte den Schmuggel der verbotenen manden!”. In Lörrach angekommen, führten sie war so schnell gegangen. Nach einigen angsterfüll- (Quelle: „Der Wachtturm“ vom 1. Dezember 2004, S. 24 ff.) Schriften aus Basel nach Lörrach und weiter. Vati meinen Vati ab. Ich sah zu, wie hinter ihm die Ge- ten Momenten mischten wir uns unter eine Gruppe meinte, er sei auch dabei. Julius Riffel erklärte, dass fängnistür ins Schloss fiel. Das war das letzte Mal, Spaziergänger und passierten sicher die Schweizer das extrem gefährlich sei und man könne jederzeit dass ich ihn gesehen habe. Grenze […]. verhaftet werden. Vier Stunden lang wurde ich von den Gestapo- Das zentraleuropäische Büro in Bern nimmt Mutter häkelte eine Tasche, die in etwa die Grö- leuten verhört. Sie wollten, dass ich ihnen die Na- sich Anna Denz an. Sie lebt einige Zeit im ße eines „Wachtturms” hatte. Sie steckte die Litera- men und Adressen anderer Zeugen verriet. Als ich Landgut Chanélaz bei Neuenburg. Nach ver- tur in eine Öffnung an der einen Seite der Tasche mich weigerte, wurde einer der Beamten wütend schiedenen Stationen im Exil lernt sie ihren und häkelte sie wieder zu. Außerdem nähte sie in und drohte mir: „Wir haben noch andere Mittel, späteren Mann L. Turpin kennen und zieht in Vaters Kleidung Geheimtaschen und fertigte zwei dich zum Sprechen zu bringen!” Aber ich habe kein die USA. Anna Denz stirbt am 30. März 2013. Strumpfhaltergürtel an, in denen sie und ich un- Sterbenswörtchen verraten. Dann brachten sie Mut- auffällig kleine Publikationen zum Bibelstudium ti und mich wieder nach Hause und durchsuchten Die Eheleute Oskar und Anna Maria Denz, verstecken konnten. Jedes Mal, wenn es uns ge- zum ersten Mal unsere Wohnung. Sie nahmen mei- die Eltern von Anna, wohnen in den 1930er lang, unsere heimlichen Schätze sicher nach Hause ne Mutter wieder in Gewahrsam und gaben mich Jahren im Kreisverwaltungsgebäude in Lör- zu bringen, atmeten wir erleichtert auf. Wir ver- in die Obhut meiner Tante, wohl ohne zu ahnen, rach, Luisenstr. 35, in einer Dachzimmer- steckten die Literatur auf dem Dachboden. Anfangs dass auch sie eine Zeugin war. Ich durfte zwar wei- wohnung. Sie sind seit 1931 Mitglieder der schöpften die Nationalsozialisten keinen Verdacht. ter zur Arbeit gehen, aber vor unserem Haus saßen Gemeinschaft „Ernste Bibelforscher” bzw. „Je- Sie verhörten uns nicht und durchsuchten auch vier Gestapoleute im Auto und überwachten jeden hovas Zeugen”. Die Familie ist in Lörrach in- nicht unsere Wohnung. […] In den Jahren 1936 Schritt, den ich tat. Und auf dem Gehweg patrouil- tegriert. Gemeinsame Wanderungen mit den und 1937 kam es zu Massenverhaftungen, und die lierte dazu noch ein Polizist. Naturfreunden in den Schwarzwald werden Gestapo warf Hunderte von Zeugen in Gefängnisse unternommen. Sie erleben, wie die Mitglieder und Konzentrationslager. […] Ein paar Tage später ging ich mittags aus dem ihrer Gemeinschaft ab 1933 ausgegrenzt und Haus, als eine junge Zeugin mit dem Fahrrad auf ihre Schriften verboten werden. Oskar und Mit 14 ging ich von der Schule ab und arbeitete mich zugefahren kam und mir unbemerkt einen Maria Denz nehmen an Veranstaltungen ihrer als Lehrling in einem Eisenwarengeschäft. Unsere Zettel zusteckte. Auf dem Zettel stand, ich sollte um Gemeinschaft in Basel teil und unterstützen Ausflüge als Kuriere unternahmen wir meistens am 12 Uhr zum Haus ihrer Eltern kommen. Aber ich die Verbreitung der verbotenen Schriften der Samstagnachmittag oder am Sonntag, wenn Vati wurde ja die ganze Zeit von Gestapoleuten über- Zeugen Jehovas. nicht arbeiten musste. In der Regel zogen wir alle wacht. Wie sollte ich da zu ihren Eltern gehen? Mei- zwei Wochen los. Wir sahen wie eine ganz normale ne Tante kam kurz nach 12 Uhr. Sie las den Zettel So ist nicht verwunderlich, dass auf einem Familie aus, die einen Wochenendausflug macht. und meinte, wir sollten tun, was darauf stand und der Wege über die Schweizer Grenze die Ehe- Die Grenzposten hielten uns immer noch nicht an zu dem angegebenen Haus gehen. Sie vermutete leute und ihre Tochter Anna am 2. Februar – bis zu diesem Tag im Februar 1938. Ich werde wohl, dass unsere Glaubensbrüder mit mir etwas 1938 an der Wiese am gesperrten Grenz- nie den Gesichtsausdruck meines Vaters vergessen, vorhatten, mich in die Schweiz zu bringen. Dass übergang zwischen Riehen und Stetten ver- als wir an der Abholstelle in der Nähe von Basel das unbeschadet geklappt hat, kann ich nur als haftet werden. Das Sondergericht Mannheim ankamen und die Berge von Literatur sahen, die Zeichen Jehovas verstehen. Als wir dort ankamen, fällt schon am 6. Mai das Urteil: zweijährige da auf uns wartete. Eine andere Kurierfamilie war stellte mich die Familie einem mir unbekannten Gefängnisstrafe. In der Urteilsbegründung verhaftet worden, deshalb hatten wir mehr Bücher Mann vor, es war Heinrich Reiff. Er sagte mir, er steht, dass beide unbelehrbare und engstirni- mitzunehmen. An der Grenze schaute uns ein Zoll- sei froh, dass ich schnell gekommen sei, und er sei ge Personen seien, die ihre Verfehlungen kei- beamter misstrauisch an und ließ uns durchsuchen. hier, mich in die Schweiz zu bringen. Er gab mir neswegs bereuen. Für Oskar und Anna Maria Nachdem man die Bücher bei uns gefunden hatte, eine halbe Stunde Zeit, um ihn an einer bestimm- Denz endet die Verfolgung nicht. Sie kom-

112 113 Dreiländermuseum Lörrach Der vergessene Weltmeister: Albert Richter Der vergessene Weltmeister: Albert Richter

Der vergessene Weltmeister: Albert Richter

Walter Jung (1923 – 2004) kümmert sich als Heimathistoriker um Anfragen im Hinblick auf Lörracher Stadtgeschichte, auch um solche, die von auswärts an ihn gestellt werden. In seinem persönlichen Archiv, das im Stadtarchiv Lörrachs aufbewahrt wird, befinden sich Ergebnisse seiner Recherchen, die im Zusam- menhang dieser Dokumentation von Interesse und Wert sind. Aus seinen Unterlagen wird die Geschichte des vergessenen Weltmeisters wieder in Erinnerung gebracht.

Die etwas älteren Lörracher kennen den das „Oberbadische Volksblatt”, hat am 4. Januar 1940 „Müpi us dr Haagemer Strooß”, Walter Jung,über den Freitod des jungen Mannes berichtet, ohne den Ratschreiber, Lörracher Chronist und Heimat- Namen zu nennen. forscher. In der Samstagsausgabe des dama- ligen „Oberbadischen Volkblatts” (heute: „Die Ich zitiere aus der Zeitung: Oberbadische”) hat er in Muttersprache, also in Alemannisch, Kommentare zu aktuellen Freiwillig den Tod gesucht. Wie wir gestern meldeten, und historischen Themen geschrieben. Sein nahm sich ein in den 20er Jahren stehender Mann durch umfangreiches Archiv berichtet von zentralen Erhängen das Leben. Wie wir hierzu noch erfahren Jubiläen der Vereine, von Bürgern der Stadt haben, handelt es sich um einen auswärts wohnenden damals und heute, von historischen Ereignis- Mann, der wegen des Verdachts schwerer Vergehen gegen sen. Im Lörracher Jahrbuch „Unser Lörrach” die Devisenbestimmungen an der Grenze festgenommen (1970 bis 1994) sind viele Artikel von ihm zur und in das hiesige Amtsgefängnis in Untersuchungshaft Stadt- und Zeitgeschichte zu inden. verbracht wurde. Um der zu erwartenden gerechten Sühne für das Verbrechen an der Volksgemeinschaft Alle, die Fragen zur Lörracher Geschichte zu entgehen, verübte dann der Devisenschmuggler im gehabt haben, haben sich an ihn gewandt, Gefängnis Selbstmord. nicht nur Lörracher, wie das nachstehende Ereignis aus Lörrach zu Kriegsbeginn 1939 Wer ist dieser Radrennfahrer Albert Rich- zeigt. Jung wird mit dem Schicksal des Rad- ter? Das erfährt Ratschreiber Jung von Re- rennfahrers Albert Richter 1998 konfrontiert, nate Franz. Albert Richter wird 1932 mit 19 als die freie Journalistin Renate Franz über Jahren Fliegerweltmeister, eine Disziplin im Albert Richter wird als Sieger geehrt. Er zeigt keinen Hitlergruß. das Schicksal des Radrennfahrers für eine Radsport. Er wird aufgrund seiner Erfolge mit (Foto aus: Renate Franz, Der vergessene Weltmeister, Köln, 1998) Biograie recherchiert. Sie möchte Unterlagen dem Rennrad, auch in Frankreich, zu einem einsehen. Da er selbst keine Dokumente dazu umjubelten Star. Zu einer ersten Konfronta- hat, schreibt Walter Jung an das Staatsarchiv tion mit dem nationalsozialistischen Regime Durch die Anfrage eines Lörrachers […] ist wendet er sich auch an die Staatsanwalt- Freiburg: kommt es schon 1934 in Leipzig. Richter ver- bekannt geworden, dass in der ehemaligen DDR schaft in Lörrach, ist aber erfolglos. Die Ak- weigert den Hitlergruß. Obwohl der politische über den Tod Richters eine andere Version im ten seien der französischen Besatzungsmacht Am 2. Januar 1940 ist der Radrennfahrer Albert Druck auf ihn wächst, bleibt er bei seiner Hal- Umlauf sei. Er soll nicht durch eigene Hand umge- übergeben worden. Richter, geb. am 14. Oktober 1912 in Köln-Ehrenfeld, tung. Letztmalig startet er beim Großen Preis kommen, sondern von der Gestapo ermordet wor- im Amtsgerichtsgefängnis in Lörrach verstorben. Sein von Berlin 1939. den sein. Nun begegnen sich die Autorin der Biograie Tod wurde unter der Nr. 20/1940 im Sterberegister des des Radrennfahrers und der Heimatforscher Standesamtes Lörrach beurkundet. Als Todesursache Jung nun in seinem Schreiben an das Verantwortungsvoll und wissbegierig, wie im Stadtarchiv Lörrach im Januar 1998. Per wurde „Erhängen” angegeben. Die Lörracher Zeitung, Staatsarchiv 1998 weiter: der ehemalige Ratschreiber gewesen ist, Fax haben sie sich verabredet. Walter Jung

114 115 Dreiländermuseum Lörrach Der vergessene Weltmeister: Albert Richter Täglich sah man neue Gesichter, alte verschwanden

berichtet noch in seinen Unterlagen, dass er Leiche im Totenkeller lag. Seiner Mutter berichtete er, „Täglich sah man neue Gesichter, alte verschwanden” der Autorin Franz alle Fragen beantwort habe, sie sei in einer Blutlache gelegen. Der Rücken des Rockes soweit er das konnte. Er schreibt: war an einigen Stellen durchlöchert. Josef Richter wurde Der Gewerbeschullehrer Ludwig Keller (Jhg. 1889) schreibt über seine Gestapo-Inhaftierung von September sofort wieder aus dem Raum gedrängt. Erst nach län- 1943 bis Januar 1944 am 16. Juni 1945 einen Bericht. Er ist wohl aus persönlichen Gründen als Erinne- Ich konnte etliche Falschmeldungen klären z.B. St. gerem Hin und Her händigte man ihm die Leiche in rung für die Familie entstanden. Diese persönlichen Aufzeichnungen wurden 1983 dem Stadtarchiv Lörrach Elisabethenstift. Danach haben wir eine Rundfahrt einem verschlossenen Sarg aus mit der Aulage, diesen übergeben. gemacht zu den Stätten der Tragödie: Gefängnis, Jus- in keinem Fall zu öfnen. Er hat den Sarg dennoch geöf- tizverwaltung, Untere Aichele Villa, wo sie Aufnahmen net und seine Befürchtungen bestätigt bekommen. Der gemacht hat vom ehemaligen Gestapositz. Abschließend Totengräber erklärte, die Leiche habe keine Strangulie- habe ich ihr den Lindenplatz gezeigt und von dort das rungsmerkmale, wohl aber eine Schusswunde im Genick Ludwig Keller wird nach 1945 Direktor der gewerblichen und kaufmännischen Berufsschule Dreiländereck. Ich versprach noch, mit dem Leichenbe- aufgewiesen. in Lörrach. Keller ist in Basel geboren. Da sein Vater bei der Bahn gearbeitet hat, kommt die statter Roser zu sprechen, ob er noch Aufzeichnungen Familie schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Weil. 1946 ist Ludwig Keller Gründungsmitglied habe. Der aber erklärt wenig später, dass der Großvater, Am 10. Februar 2000 steht dann in der „Ba- der Weiler CDU. Die „Tschamber-Chronik”, eine Stadtgeschichte Weils von 1928, hat er über- der das Unternehmen in den 1930er Jahren geführt hat, dischen Zeitung”: arbeitet und so die Geschichte der Stadt Weil am Rhein neu gefasst. Ludwig Keller stirbt 1961. keine Aufzeichnungen hinterlassen habe. Nach ihm wird in Weil am Rhein eine Straße benannt. Aus Ludwig Kellers Bericht: Am Abend des 9. Februar stellt die Autorin Franz Jung spricht nun von einer Tragödie, die sich das Buch „Der vergessene Weltmeister” vor. Es ist die Es war am 24. September 1943. Ich hatte an gegen Lörrach, wo wir zu meiner Bestürzung vor ereignet habe. Renate Franz hat ihm wohl bei Idee entstanden, beim Radkriterium des Radsportver- diesem Tag aushilfsweisen Unterricht an der ge- dem Gefängnis anhielten. Der Beamte stieg aus und der Begegnung Zeitungsartikel übergeben. In eins ein Jugendrennen nach dem vergessenen Weltmeis- werblichen Berufsschule in Schopfheim zu geben, klingelte. Auch ich verließ den Wagen und sagte: der „Süddeutschen Zeitung” vom 12./13. De- ter zu benennen. Es ist dann entschieden worden, das weil eine Lehrerin dieser Schule versetzt worden „Sie wollten mich doch zu einem Verhör bringen, zember 1998 hat Walter Jung lesen können: Jugendrennen der 15- und 16-jährigen beim Radkrite- war. Ich übernahm die Klasse am 17. September was soll das?” – „Gehen Sie nur einmal hinein”, er- rium am 8. Juli in der Innenstadt soll „Albert-Richter- 1943. Der Unterricht am 24. September mochte widerte er. Kurz vor Weihnachten traf die Gestapo ihn [Walter Gedächtnisrennen” heißen. etwa eine Stunde gedauert haben, als an die Tür Richter] persönlich an. Sie spielte ihren vermeintlich (Quelle: StALö Nl2.01 Jung) des Schulzimmers geklopft wurde. Auf mein „He- Inzwischen war das Tor geöffnet, ein Gefängnis- letzten Trumpf aus, sein Verhältnis zu Ernst Berliner, rein!” schaute eine Frau ins Zimmer und bat mich wärter trat heraus. Ich wurde aufgefordert, ihm zu seinem jüdischen Trainer, der nach London emigriert herauszukommen, da mich jemand sprechen wolle. folgen, während der Gestapo-Mann draußen blieb. war. [...] Richter beschloss, in die Schweiz zu gehen. Draußen stand ein Mann von etwa 30 Jahren, groß, Ich trat nun durch das Tor, das hinter mir wieder Mit einem Kofer, seinem Rennrad und einem Paar breitschultrig und barhäuptig. Er trug lange Stie- geschlossen wurde. Durch einen kleinen Hof, der Skier bestieg er am Morgen des 31. Dezember 1939 fel und hatte eine Aktentasche in der Hand. „Heil rechts von einer hohen Mauer, links von einem den D-Zug in Richtung Basel. 12 700 RM, in einem Hitler”, grüßte ich ihn und fragte nach seinem Be- kleinen einstöckigen Gebäude begrenzt ist und sich Reifen eingenäht, hatte er dabei. Die waren für den gehr. „Kommen Sie einmal mit nach Lörrach zu der nach hinten in einen Garten erweitert, gingen wir jüdischen Textilhändler und Geschäftsführer der Köl- Geheimen Staatspolizei zu einem Verhör”, herrsch- zum turmähnlichen Eingang des Gefängnisses und ner Sportstätten GmbH, Alfred Schweizer, der ihm das te er mich an. Auf meine Frage, was denn los sei, traten durch eine schmale Pforte in das Gebäude Geld anvertraut hatte. Am Zollübergang Weil am Rhein antwortete er nur, das würde ich schon erfahren. ein. wurde Richter eingehend überprüft, bis man schließlich Dann fuhr er mich an: „Warum tragen Sie das Par- seine Rennreifen aufschnitt und darin fand, was man teiabzeichen nicht?” Da ich nicht in der Partei sei, Im Gang des Erdgeschosses musste ich zunächst ofenbar erwartet hatte. Denn obwohl man auch seine erwiderte ich. warten. Ein Stehpult stand an der Mauer, auf dem mitreisenden Rennfahrerkollegen streng kontrollierte, ein Wärter schrieb. Mein Begleiter legte einen Zettel ihre Reifen wurden nicht aufgeschnitten. Gegen 18.30 Nachdem ich den Schulleiter verständigt und auf das Pult. Als die beiden sich kurz darauf ent- Uhr wurde Richter in das Gerichtsgefängnis von Lör- meine Aktentasche geholt hatte, folgte ich dem Be- fernten, konnte ich etwas näher treten und den rach gebracht und in eine Einzelzelle gesperrt. Am 2. amten der Gestapo. Er führte mich auf den weni- Zettel lesen. Es war mein Haftbefehl, der von der Januar war er tot. Seinem Bruder Josef, der sofort nach ge Schritte entfernten Rathausplatz, wo sein Auto Staatsleitstelle Karlsruhe ausgestellt war und auf Lörrach gekommen war, sagte man, Albert habe sich in wartete. Er hieß mich einsteigen, und in rascher Schutzhaft lautete. Nach kurzem Warten nahm man der Zelle erhängt. Josef fuhr ins Krankenhaus, wo die Fahrt ging es durch den sonnigen Herbstmorgen mir Aktentasche, Geld, Taschenschere, Bleistift usw.

116 117 Dreiländermuseum Lörrach Täglich sah man neue Gesichter, alte verschwanden Täglich sah man neue Gesichter, alte verschwanden

ab. Dann musste ich einem zweiten Wärter folgen. sen, meist Landarbeiter, die sich irgendetwas hatten Anzeige gelangt sind”. Er las mir aus den vielen In der folgenden Zeit kann Frau Keller ihren Er führte mich zwei Treppen hoch, öffnete eine der zuschulden kommen lassen, junge Leute, die durch Blättern vor. Mann öfter besuchen, er darf alle 14 Tage ei- vielen Türen, die sich längs der Seite des Ganges be- raschen Grenzübertritt sich ihrer Wehrpflicht zu nen Brief an die Familie schreiben. Das Spre- fanden und ließ mich eintreten. Dröhnend fiel die entziehen suchten. Daneben ältere und jüngere gut Ludwig Keller werden Äußerungen aus dem chen über einen Anwalt wurde verboten. Lud- Tür hinter mir zu. Schlüssel klirrten, ich war Gefan- gekleidete Männer – politische Gefangene in gro- Unterricht vorgehalten, die als defaitistisch wig Keller verrichtet leichte Arbeit; er faltet gener. Ein Blick auf die Uhr, die man mir gelassen ßer Zahl. Täglich sah man neue Gesichter, alte ver- und wehrkraftzersetzend gelten. So soll er Briefpapier, legt es zusammen und bündelt es hatte, zeigte 10.20 Uhr vormittags. schwanden. Auf diesen Spaziergängen lernte man vor den Schülern gesagt haben, dass Göring zu 25 Stück. Die Verlegung in eine Gemein- sich auch kennen. Passte der Wärter nicht gut auf, gemeint habe, er wolle Meier heißen, wenn schaftszelle lehnt er ab. Keller darf schließ- Wenn ich mir heute rückblickend die Wirkung so konnte man mal mit diesem oder jenem ein paar je ein feindliches Flugzeug über Deutschland lich in der Bibliothekszelle arbeiten, d.h. Ge- der geschilderten Vorgänge auf mich vergegenwär- Worte wechseln. So erfuhr ich das Schicksal meiner liegen würde, dass Schweizer Rekruten bes- fangenen Bücher ausleihen. Er selbst kann tige, so kann ich nur einen Ausdruck für meinen Leidensgefährten: Bernhard, der mit mir in dersel- ser ausgebildet seien als deutsche und dass ebenfalls Bücher lesen, allerdings bemängelt damaligen seelischen Zustand finden: Ich war nie- ben Straße wohnt, Blechner Rupp, Pfarrer Scheyst Schweizer Stacheldraht besser sei als der er insgeheim, dass viel Soldatisches und Na- dergeschmettert. Warum sperrt man mich ein? Ich aus Kandern, Bürgermeister Walz aus Rheinfelden, rostige deutsche Drahtverhau. tionalistisches vorhanden sei. Ludwig Keller: wanderte nun in der kleinen Zelle auf und ab: Sie- den ich seit 1910 kannte, da ich dort Lehrer war. ben Schritte hin, sieben Schritte zurück. […] Von Ich traf Kunzelmann, meinen Kollegen von Wehr, Der Verhaftete nimmt zu den Vorwürfen So verstrichen mir die Tage unter Gebet, Arbeit der nahen Hebelschule ertönte das Läutezeichen später Bruger, ein Elsässer, der in Weil vorüberge- Stellung und meint, dass die Aussagen so und Lektüre. Besonders schwer waren die Monate zum Beginn des Unterrichts; die Stimmen lärmen- hend Schule hielt. Eine halbe Stunde dauerte der oder so ähnlich wohl gefallen, aber aus dem November und Dezember. […] Woche um Woche der Kinder drangen zu mir herauf. Ich konnte ge- Spaziergang, dann ging es wieder hinauf in die Zusammenhang gerissen seien. Sein Ver- verging, ohne dass ich erfuhr, wie es um meine Sa- nau feststellen: Jetzt beginnt der Unterricht, jetzt ist Zelle. Natürlich waren meine Gedanken in diesen dacht geht dahin, dass ihn die Schüler oder che stand. Ich erfuhr nur, dass meine Akten nach Pause, jetzt ist die Schule aus. Es wurde Abend. ersten Stunden meiner Gefangenschaft daheim bei deren Eltern angezeigt hätten. Ludwig Keller Berlin geschickt worden seien. Kurz vor Weihnach- meinen Lieben, bei Frau und Kindern. […] Meine darf keine Besuche erhalten, seine Frau fährt ten hatte auch mein Anwalt noch keine Akten ein- Gegen 6 Uhr abends betrat ein Wärter die Zelle Frau wusste lange nicht, wo ich abgeblieben war. auf Anraten eines Anwalts nach Karlsruhe, sehen können. Am Sonntag, dem 10. Januar erhielt und schloss das Bett auf, das tagsüber an der Wand Auf die Frage nach meinem Verbleib, sagte man ihr: um sich für ihren Mann einzusetzen. Weiter ich endlich die Anklageschrift. Die Anklage lautete befestigt ist, damit es nicht benützt werden kann. „Der ist im Gefängnis, der bleibt vorerst einmal da, im Bericht Kellers: auf Vergehen gegen das Heimtückegesetz. Die Ver- Es besteht aus einem Rost aus breiten Stahlfedern, damit er nicht weiter wühlen kann”. […] handlung sollte am 20. Januar vor dem Sonderge- auf dem eine Matratze und ein Kopfkeil liegen, bei- Es war ein erschütterndes Wiedersehen, als mei- richt beim Landgericht Freiburg stattfinden, das zu de mit Seegras gepolstert, darüber ein Leintuch und Am Samstag, dem 25. September wurde ich ge- ne Frau mich erstmals besuchte. Ahnungslos führte diesem Zweck in Lörrach tagen würde. zwei Decken. Mit Eintritt der Dunkelheit musste gen Mittag aus der Zelle geholt. Der Beamte, der mich ein Wärter in eines der kleinen Verhörzimmer verdunkelt werden, und es war stockfinster in der mich abgeholt hatte, führte mich in ein kleines – und ich stand meiner Frau gegenüber. Zunächst Die Anklageschrift wirkte auf mich wie ein Keu- Zelle, wenn um 19.30 Uhr das Licht von außen ab- Zimmer, richtete Schreibmaschine und Papier, bot konnten wir vor innerer Bewegung nicht sprechen. lenschlag, einfach niederschmetternd. Verdrehun- gestellt wurde. […] Um 7 Uhr morgens gab es einen mir einen Stuhl an und begann das Verhör. Ich Unsere Kraft reichte nicht aus, unseren Schmerz nie- gen, giftige Verleumdungen, Niederträchtigkeiten Becher mit schwarzem Kaffee und die Tagesration war ruhig und gefasst, war ich mir doch keiner derzuhalten. Aber der Gefängnisverwalter, der zuge- – kein guter Faden wurde an mir gelassen. Die Be- Brot. Gegen 8 Uhr wurde die Tür wieder geöffnet, Schuld bewusst. Zunächst wurden meine Perso- gen war, denn ohne Aufsicht durfte natürlich nicht schuldigungen enthielten sechs Punkte. Zu meinem und die Stimme des Wärters ertönte im Gang und nalien aufgenommen. In breiter Ausführlichkeit gesprochen werden, mahnte uns, die kostbaren 10 Erstaunen waren es aber zum Teil Dinge, die man befahl zum Hofgang. Der tägliche Spaziergang im wurde nach Abstammung, Bildungsgang und Fa- Minuten nicht verstreichen zu lassen. Nach vier Wo- mir im mündlichen Verhör gar nicht vorgeworfen Hof war anfänglich für mich eine seelische Qual. milienverhältnissen gefragt. Als ich mein Monats- chen im Gefängnis teilte mir der Amtsgerichtsdirek- hatte. Ihr Inhalt war meist ausgesprochen defaitis- In 20 Abteilungen musste man im Viereck mit je einkommen angab, fuhr mich der Beamte bissig tor B. mit, dass die Schutzhaft vorbei sei und ich in tischer Natur. Hätte ich diese Dinge geäußert, dann drei bis vier Schritten Abstand herumgehen. Im an: „Und da machen Sie noch abträgliche Bemer- Gerichtshaft genommen werde. Er las mir dieselben müssten Verurteilung und schwere Strafe folgen. äußeren Viereck gingen die jüngeren Gefangenen, kungen gegen den Staat”. Nach Erledigung der Anklagepunkte vor wie seinerzeit der Gestapobe- Die Anklageschrift fasste zusammen: „Er hat also im inneren Viereck die älteren, die etwas langsa- Personalfrage hieß mich der Beamte weiter vom amte. Die Anklage lautete auf Vergehen gegen das böswillige, gehässige, hetzerische und von niedri- mer marschierten. Was für Gestalten sah man da! Tisch wegzusetzen. Er nahm dann einige Blätter Heimtückegesetz. Ich würde vor das Sondergericht ger Gesinnung zeugende Äußerungen über leiten- Heruntergekommene Landstreicher, unrasiert, mit aus seiner Aktentasche und sagte: „Jetzt sollen Sie kommen und ich solle mir einen Anwalt nehmen. de Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP, schief getretenen Schuhen und zerrissenen Klei- erfahren, um was es sich handelt. Sie haben in deren Anordnungen und Einrichtungen gemacht, dern, Elsässer, Franzosen, Polen, Italiener und Rus- der Schule gewisse Äußerungen gemacht, die zur die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur po-

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litischen Führung zu untergraben”. Die Schilderung alle mit dem Hitlergruß; als Angeklagter darf che gekommen. Tatsächlich ist Ludwig Keller Hoffmann La Roche in Grenzach. Am 21. Mai meiner persönlichen Verhältnisse enthält zunächst Keller das nicht. Der Beginn ist formell: Be- in Gesprächen im Lehrerzimmer für die Situ- 1945 wird Keller auf die Militärkommandantur die Darstellung meines Bildungsganges und der be- lehrungen, Einvernahme des Angeklagten, ation der Schweiz eingetreten, auch sind le- in Lörrach gerufen und zum Direktor der ge- ruflichen Tätigkeit. Hier, aber nur hier, wurde die Werde- und Bildungsgang. Der Staatsanwalt gale Übertritte in die Schweiz aktenkundig werblichen und kaufmännischen Berufsschu- Wahrheit gesagt: Meine Leistungen in fachlicher wendet sich an den Richter: „Fragen Sie ein- und dass er ließend französisch spreche. Das len in Lörrach bestellt. Hinsicht werden als sehr gut bezeichnet. Dann aber mal, warum er nicht in der Partei ist?” Keller wird ihm zur Last gelegt. Der Staatsanwalt (Quelle: StALö HA 396a/5) folgen die Schläge hageldick. antwortet: hält schließlich sein Plädoyer und beantragt ein Jahr Gefängnis. Er führt aus, dass Keller Von den zuständigen Dienststellen und Von 1928 bis 1933 habe ich als Mitglied des Bür- seine Aufgabe verfehlt hätte, durch den Un- der Partei (Bürgermeister und Ortsgruppen- gerausschusses die Sache des Zentrums öffentlich terricht den Glauben der Schüler an Deutsch- leiter) wird der Beschuldigte als verbissener vertreten. Ich fand es nun nicht gerade charakter- land zu stärken. Ludwig Keller: und hinterlistiger Gegner des nationalsozi- voll, sofort die Partei zu wechseln; ich stellte mich alistischen Staates bezeichnet, fanatischer aber auf den Boden des neuen Staates und nahm Die Rede des Verteidigers war kurz und klug. Er Zentrumsmann, der keine Veranstaltungen sogar im Herbst das arbeitsreiche Amt eines Orts- beantragte Freispruch. Ich schloss mich seinen Aus- der Partei besuche und seine Freizeit zur För- gruppenleiters des Reichsluftschutzbundes an und führungen an. Das Gericht zog sich zur Beratung zu- derung kirchlicher Vereine verwende. Seine organisierte in mehr als 20 Ortschaften den Luft- rück. Es war fünf Minuten vor 12 Uhr. Mein Anwalt Kinder würden von ihm durchaus einseitig im schutz. Als ich dann 1935 die Uniform verliehen erwirkte mir jetzt vom Staatsanwalt die Erlaubnis, Sinne der katholischen Kirche erzogen, wenn bekommen sollte, entdeckte man meine frühere Zu- mit meiner Frau und Tochter zu reden. Wir bega- sie auch formell der HJ angehörten. Sämtli- gehörigkeit zur Zentrumspartei und legte mir den ben uns in ein anderes Zimmer, wo wir in Anwesen- che gehörten Zeugen weisen darauf hin, dass Rücktritt von dem Amt eines Ortsgruppenleiters heit eines Gerichtsdieners uns unterhalten konnten. der Beschuldigte stets für die Interessen und des RLB (Reichsluftschutzbund) nahe. Sie werden Nach einer Viertelstunde gingen wir wieder in den Anschauungen der Schweiz, auch wo diese in begreifen, dass ich mir eine zweite Abfuhr ersparen Saal zurück. 12.20 Uhr betrat auch der Gerichtshof unmittelbarem Gegensatz zu den Interessen wollte und daher keinen Antrag auf Aufnahme in den Saal. Alle Anwesenden erhoben sich. Der Vor- seines Vaterlandes stünden, eintrete. Der Be- die Partei stellte. sitzende verkündete das Urteil: „Der Angeklagte Dr. schuldigte wird demgemäß als politisch unzu- Keller wird von der erhobenen Anklage freigespro- verlässig angesehen. Der Staatsanwalt liest nun die Anklage- chen. Die Kosten übernimmt das Reich!” Ludwig Keller muss nun auch noch erle- schrift vor. Punkt für Punkt der Anklage wer- ben, dass sein bisheriger Anwalt wegen eines den behandelt, Ludwig Keller nimmt dazu In der Urteilsbegründung führte der Vorsitzende Militärprozesses in Antwerpen nicht am Pro- Stellung. Zeugen werden vernommen, so aus: Der Beweis, dass ich absichtlich in gehässi- zesstag zur Verfügung steht und ein anderer der stellvertretende Direktor der Schopfhei- ger Weise Kritik geübt habe, sei nicht erbracht. Er Anwalt ihn vertreten wird. Es ist ein Dr. Hack mer Schule und viele Schüler. Manche kön- macht mir aber zum Vorwurf, dass ich nicht genü- aus Müllheim, der aber nach Aussage Ludwig nen sich nicht mehr erinnern, manche mei- gend Rücksicht auf die Auffassungskraft der Schü- Kellers sich gut in seinen Fall eingelesen hat nen, dass sie das oder jenes so nicht gesagt ler genommen habe und mich zu sehr vom Objek- und ihn aufmuntert: „Wenn Sie gesagt haben, hätten, zwei Schülerinnen entlasten ihn. Am tiven hätte leiten lassen. Nicht kühle Darlegung des wir verlieren den Krieg, dann werden Sie ver- Ende der Zeugenaussage ist nicht klar, was Kriegsgeschehens sei meine Aufgabe gewesen, son- urteilt, alles andere ist Dreck!” der Angeklagte Ludwig Keller nun gesagt dern die Schüler zu begeistern. Und das hätte ich Die Verhandlung ist am 20. Januar 1944. habe, was nicht. Zum Schluss wird der zuerst nicht vermocht. Vor dem Verhandlungssaal stehen Schü- verhörende Gestapobeamte gehört. Auf die ler, die als Zeugen geladen sind. Sie grüßen Äußerung des Vorsitzenden, man könne den Keller wird nach einiger Zeit nach Karlsru- verlegen, andere schauen weg. Es kommen Eindruck gewinnen, er habe die Zeugenaus- he versetzt, weil er an der Schweizer Grenze Freunde der Familie aus Weil und Lörrach, sagen der Schüler beeinlusst, sagt er, dass nicht mehr als tragbar gilt. In Karlsruhe sind seine Frau und Tochter Eva sind da, aber auch sich die Schüler nicht auszudrücken gewusst dann ab September alle Schulen geschlos- Neugierige. Die Verhandlung beginnt um 8.30 hätten und er nachhelfen musste. Auch das sen; die Schüler werden zu Schanzarbeiten Uhr. Als das Gericht den Saal betritt, grüßen Verhältnis Kellers zur Schweiz ist zur Spra- gebraucht. Er selbst erlebt einen Einsatz bei

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Im Gewann „Zehn Juchert” erschossen worden war. Welcher der drei Polen dort erschossen tieren sein mussten. Es war zu dieser Tageszeit schon worden war, hat er nicht festgestellt. dunkel. Die Lichter aus der Schweiz in nächster Nähe Gespräch mit Erika und Hans Brogle (Jhg. 1943), ab 27. Oktober 2014. Beide haben sich in der Vergan- brannten schon. Ich nahm an, dass die Polen den bei genheit intensiv mit dem Vorfall der Ermordung von Zwangsarbeitern am Kriegsende in Stetten beschäf- Diese Aussage deckt sich ferner mit einer Brogle beschäftigten Polen besuchen wollten. Kurz bevor tigt und eine umfangreiche Sammlung von Quellen und Texten angelegt, die sie mich einsehen lassen. Niederschrift von Stadtarchivar Hoog am 7. wir in das Haus hineingingen, drohte einer der Polen mir Hans Brogle berichtet anschaulich und ausführlich; es ist ihm anzumerken, dass die Sache ihm am Herzen Juli 1988: mit der Faust. Da ich den Auftrag des Landratsamtes liegt. Ferner habe ich noch im Staatsarchiv zusätzlich recherchiert. hatte, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, rief ich meinen Auf Veranlassung des Angehörigen der Gestapo- Vorgesetzten, den damaligen Ortsgruppenleiter Kraft in dienststelle Lörrach Trops sind am 22.4.1945 drei Lörrach an und meldete ihm dieses Vorkommnis. polnische Zivilarbeiter, die bei Landwirten in Stetten Am 24. Juli 2014 stellt die Gemeinedrätin Erika Brogle einen Antrag, dass für den am 24. Ap- arbeiteten und wohnten, im Gewann „Zehn Juchert” in Im gleichen Verfahren sagt 1949 Hans Kraft ril 1945 ermordeten so genannten polnischen Zivilarbeiter (Zwangsarbeiter) Leo Kakala eine Stetten (östlich der verlängerten Riehenstraße an der aus: Gedenkstätte in Form einer Bronzeplatte auf dem Lörracher Friedhof eingerichtet werde. Leo Landesgrenze) erschossen worden. Deren Leichen wur- Kakala ist etwa ab 1942 Zivilarbeiter beim Großvater ihres Mannes, Markus Brogle, Landwirt den nach Einmarsch der Franzosen im Panzergraben in Stetten. Außer Leo Kakala sind drei weitere polnische Zwangsarbeiter am 22. und 24. April an der Landesgrenze aufgefunden. Es handelt sich um 1945 umgebracht worden. Frau Brogle führt in ihrem Antrag aus: „Während drei polnischen Michael Ignaz Fidor, Stefan Bronyel, Josef Kulicki. Trops Kriegsgefangenen auf dem Lörracher Hauptfriedhof in Form von Gedenkplatten ein bleibendes wurde nach dem Krieg von einem französischen Gericht Andenken gesetzt wurde, fehlt eine entsprechende für Leo Kakala bis heute.” (Quelle: privat) in Rastatt für die Tat, die er aus eigenem Antrieb be- gangen haben soll, bestraft. Ein weiterer polnischer Zi- Hans Brogle und Erika Brogle treffe ich am 27. Oktober 2014. Wir sprechen über den gesamten vilarbeiter, in Stetten beschäftigt und wohnhaft, ist am Vorfall, die Ermordung von vier polnischen Zwangsarbeitern in den letzten beiden Kriegstagen 23.4.1945 von zwei Gestapobeamten im Hause Brogle in Lörrach. abgeholt worden. Sein Tod wurde am 17. Mai 1945 vom Standesamt Lörrach beurkundet. Todeszeitpunkt ist der Mein Großvater hatte hier in der Mühlestraße, Hans Brogle erzählt mir nun von der Ermor- 24.4.1945, nachts 1.30 Uhr. Seine Leiche wurde auf ab 1935 Wilhelm-Gustloff-Straße (heute Carl-Ma- dung der Polen zwischen dem 22. und 24. dem Grundstück Adolf-Hitler-Straße 120 [heute Basler ria-von-Weber-Straße), in Stetten eine Landwirt- April 1945. Seine Aussagen treffen sich mit Straße] aufgefunden. schaft. Da sein Sohn, eben mein Vater, eingezogen den Aussagen des Großvaters, die dieser am (Quelle: privat) war, wurde ihm ein Zwangsarbeiter zugeteilt: Leo 8. März 1949 vor Gericht als Zeuge tätigt. Kakala. Großvater und meine Mutter Lina kamen Nun stellt sich die Frage, warum am 22. mit Leo gut aus. Leo kam wohl auch aus der Land- Mein Großvater war am Abend des 22. April nicht April 1944 abends um 22 Uhr die polnischen wirtschaft; Großvater hat ihn geschätzt, besonders zu Hause. Er hat sich im Nachbarhaus Kropf bei der Zwangsarbeiter verhaftet und gar hingerich- auch deshalb, weil er gut mit dem Ross umgehen Familie Schweizer aufgehalten. Die Schwester meiner tet worden sind. Dazu erfährt man Hinweise und besonders gerade Furchen in den Acker zie- Mutter, die bei uns in der Landwirtschaft mitgehol- aus einem Säuberungsverfahren gegen ehe- hen konnte. Auch war er geschickt im Reparieren fen hat, hat ihn gegen 10 Uhr abends rufen lassen. Er malige Lörracher Gestapobeamte, Amtsge- von landwirtschaftlichen Geräten. Das war wichtig, solle kommen, die Kriminalpolizei sei da. Da sei er richt Rastatt am 1. Juli 1949. Einer der Tatbe- weil man ja im Krieg nichts mehr bekommen hat. sofort gekommen. Tatsächlich waren in seinem Haus teiligten, sagt aus: Leo hat oben im ersten Stock des Hofes gewohnt, fünf Gestapobeamte12 aus Stetten und Lörrach, die im Zimmer meiner älteren Brüder Max und Rudolf. drei Polen von anderen Stettener Bauern aufgegrif- Ich war Ende des Krieges Zellenleiter in Lörrach- Über die Anordnung, dass Zwangsarbeiter nicht im fen hatten. Sie wollten auch Leo abholen. Dazu gin- Stetten. Ich machte am Abend des 22. April einen Spa- Hause schlafen und sie auch nicht am Tisch mit der gen sie hoch ins Zimmer von Leo, der aber nicht da ziergang durch Stetten und sah auf der Straße 3 ange- Familie essen dürfen, hatten sich Großvater und war. Kurz nach Eintreffen meines Großvaters trugen trunkene Polen, die sich gegenseitig gestoßen hatten, in meine Mutter hinweggesetzt. zwei Polen einen anderen von oben herab. Großvater Richtung des Hauses des Bauern Brogle gehen. Es war hat erst später erfahren, dass der Pole oben in Leos damals die Bestimmung, dass die als Arbeiter eingesetz- Markus Brogle und Familie vor ihrem Haus in Stet- Zimmer vor den Augen meiner Brüder erschossen ten Polen bei Einbruch der Dunkelheit in ihren Quar- ten in den 1930er Jahren. (privat)

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Ich war zur damaligen Zeit Ortsgruppenleiter in Lör- Polen beschäftigt worden sind, nach Kriegs- schwer verletzt worden, kommt ins Lazarett 1961 wird das Verfahren eingestellt, weil der rach-Stetten. Am Sonntag, dem 22. April 1945, kurz ende Angst vor Übergriffen wegen schlechter und ins Gefängnis in Lörrach, danach in In- Beschuldigte der Tat nicht überführt werden nach 10 Uhr rief mich mein Zellenleiter aus Stetten an Behandlung der Zivilarbeiter/Zwangsarbeiter ternierungslager in Freiburg-Betzenhausen könne. Ein mögliches Strafmaß würde auch und berichtete mir, dass die dort bei Bauern arbeitenden gehabt haben soll. und Wittlich (Rheinland-Pfalz). Im o.g. Ver- kaum die schon verbüßte Strafe (1945 – 1956 Polen Krawall machten und dass er befürchtete, dass Die Aussagen vor dem Untersuchungsaus- fahren des französischen Militärgerichts in in französischer Haft) übersteigen. sie Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung begehen schuss 1949 lassen den Schluss zu, dass die Rastatt wird Hans Trops zum Tode verurteilt, (Quellen: STAF F 22/61, Nr.350 / STAF F 177/1, Nr. 21 / STAF würden. Ich rief die Gestapo in Lörrach an und meldete Erschießung der drei Polen im Brogle-Haus jedoch ebenfalls von einem französischen Mi- 177/1, Nr. 22) dies. Trops [und andere] kamen zum Bahnhof Stetten und am Panzergraben an der Grenze vor litärgericht in Rastatt am 10. Januar 1950 zu und gingen dann zum Bauern Brogle. allem jenem unterstellt wird, der sich nicht lebenslänglicher Haft begnadigt. Hans Trops Neben den Gedenkplatten der anderen er- (Quelle: STAF D 180/2, Nr. 226305) mehr wehren kann, denn er hat Selbstmord wird am 7. März 1956 begnadigt und aus mordeten Polen auf dem Hauptfriedhof wird begangen. In seinem Abschiedsbrief am 26. französischer Haft entlassen. Er wohnt da- im Spätjahr 2015 auch für Leo Kakala nach- Im gleichen Verfahren sagt Hans Tops aus: April 1945 schreibt er: nach in Lörrach. träglich eine Gedenkplatte angebracht. Parallel zu dem Verfahren vor den franzö- Ich war zur damaligen Zeit Kriminalsekretär beim Ich selbst sterbe freiwillig, um der Mordfeme zu entge- sischen Militärgerichten wird vor der Spruch- Grenzpolizeikommissariat in Lörrach. Es war am 22. hen. Ich bin kein Mörder an anderen gewesen. Ich sterbe kammer in Freiburg im politischen Säu- April 1945 um 22.30 Uhr, als mich der Ortsgruppen- so, weil ich kein Verräter an meiner früheren dienstli- berungsverfahren am 13. Dezember 1950 leiter von Lörrach-Stetten Kraft und den Gestapohilfs- chen Tätigkeit werden will. Einen Verräter habe ich nie verhandelt. Die Spruchkammer stellt fest, beamten auf dem Grenzpolizeikommissariat Lörrach geliebt. dass Hans Trops, geb. am 6.4.1904 in Schwö- anrief und meldete, dass einige Polen beim Einmarsch (Quelle: STAF D 189/2 Nr. 226305) nau (heute Amtsbezirk Kaliningrad), nicht er- der französischen Truppen vorhätten, die Gehöfte der heblich belastet sei. Es wird ihm vorgeworfen, Bauern anzustecken, die Bauern selbst vor die Plüge zu Von den fünf Gestapobeamten14, die an der dass er eine Spionin in den letzten Kriegs- spannen und Ähnliches. […] Wir gingen dann zu fünft Ermordung der polnischen Gastarbeiter betei- tagen bei einem Fluchtversuch erschossen zu dem Bauern Brogle, um nach den dort beindlichen ligt gewesen sind, hat einer Selbstmord be- habe. Auch wegen dieser Tat sei Trops von Polen zu sehen […] in den oberen Stock. gangen, einer ist wegen aktiven Widerstands einem französischen Militärgericht zum Tode (Quelle: STAF D 180/2, Nr. 226305) gegen die einrückenden französischen Sol- (siehe oben 17.11.1949) verurteilt worden. daten erschossen worden, gegen zwei Täter, Von der Ermordung der polnischen Zwangs- Hans Brogle im Gespräch mit mir: Hans Kraft und Hans Trops, wird vor einem arbeiter steht im Spruchkammerverfahren französischen Militärgericht in Rastatt am 17. nichts, nur das Wort „auch” macht stutzig. Einer der drei Polen wird dann oben im Zimmer November 1949 ein Verfahren wegen Kriegs- Eine abschließende Bescheinigung aus dem erschossen. Den Toten haben sie in ein Leiterwä- verbrechen eröffnet, vom fünften Beteiligten Jahr 1958 nennt Hans Trops „nicht mehr be- gelchen gelegt, die beiden anderen Polen und fünf gibt es in den Archiven keine Dokumente. lastet”. Beamte sind Richtung Grenze aufgebrochen. Der Der Ortsgruppenleiter von Lörrach-Stetten, Zwei Jahre nach der Entlassung aus franzö- Tote wird in den Panzergraben geworfen, die bei- Hans Kraft, wird im Verfahren vor einem fran- sischer Haft strengt 1958 die Staatsanwalt- den anderen werden ebenfalls erschossen und in zösischen Militärgericht zu 20 Jahren Gefäng- schaft Lörrach einen Prozess wegen Verdachts den Graben geworfen. Dort werden sie verscharrt. nis verurteilt. Da er Widerspruch gegen das auf Mord gegen Trops an. Er soll am 23. April Urteil einlegt, ist davon auszugehen, dass die 1945 das Dienstmädchen Helene Margarita Interessant ist die Eskalation der angeb- Strafe nicht vollumfänglich umgesetzt worden Chrètien, Schweizer Staatsbürgerin, aus der lichen Taten der polnischen Zivilarbeiter ist. Vom Revisionsprozess gegen Kraft liegen Untersuchungshaft in Lörrach abgeholt und in (Zwangsarbeiter) in den oben stehenden drei keine Akten in Freiburg, jedoch vermutlich im einer Unterführung beim Bahnhof erschossen Aussagen: Störung der Ruhe durch betrunke- Archiv der französischen Besatzungsverwal- haben. Einen Fluchtversuch der Frau soll es ne Polen – Krawall und Ausschreitungen – An- tung in La Courneuve bei Paris. nach Zeugenaussagen nicht gegeben haben, zünden der Häuser / Misshandlung der Bau- Der Hauptangeklagte ist Hans Trops. Auch wie Trops behauptet hat. Auch Beihilfe zum ern. Heute wird berichtet, dass eben der eine er ist beim Einmarsch der französischen Sol- Mord an den polnischen Zwangsarbeitern oder andere Stettener Bauer, bei denen die daten wegen Widerstands durch Schüsse wirft die Anklageschrift vor. Am 30. August

124 125 Dreiländermuseum Lörrach VII.

ICH SEHE, WIE DIE

WELT

ALLMÄHLICH IN EINE

WILDNIS

VERWANDELT WIRD.

Anne Frank, Tagebucheintrag 14. Juli 1944

126 127 Dreiländermuseum Lörrach Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird

„Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird” Mutter wurde dann bedrängt, dass sie sich von Von Berlin aus wird er ins Zuchthaus Lud- Vater scheiden lassen sollte. Es hieß auch, wir seien wigsburg verlegt. Otto Stockmar wird dann Gespräch mit Ilse Stockmar (Jhg. 1930) am 9. März 2015 über ihren Vater Otto Stockmar, dazu Doku- in Gefahr und stünden auf einer schwarzen Liste von Ludwigsburg am 10. Februar 1942 mit mente, Auszüge aus Briefen, die Ilse Stockmar und ihre Tochter Silvia in den letzten Jahrzehnten gesam- der SS. Wie gesagt, Mutter litt richtig unter Angst dem Gefangenenwagen durch die Gestapo in melt haben. Auch sie nimmt starken Anteil am Schicksal ihres Großvaters und ist beim Gespräch ebenfalls und reichte dann auch die Scheidung ein. In die- das Konzentrationslager Flossenbürg über- anwesend. sen Zusammenhang muss man auch Briefe stellen, führt, obwohl er seine Strafe verbüßt hat. die Vater an Mutter bzw. Mutter an Vater ins bzw. Das Konzentrationslager Flossenbürg wird aus dem Gefängnis geschrieben hatten. Sie mach- 1938 auf Anordnung des „Reichsführers ten sich mehr oder weniger Vorwürfe, was sie sich SS” in Flossenbürg, Landkreis Neustadt, in Mit wenigen Dokumenten ist in der Ausstellung „Lörrach im Nationalsozialismus” das Schicksal angetan hätten. der Oberpfalz an der bayerisch-böhmischen von Otto Stockmar präsentiert worden. Auf Veranlassung des Dreiländermuseums liegen diese Grenze errichtet. Die Lage ist abseits von Ver- persönlichen Dokumente in einer Vitrine als stumme Zeugen, dem Menschen Otto Stockmar Otto Stockmar schreibt aus dem Zuchthaus kehrsstraßen und somit für die Isolierung von eine Stimme zu geben, da auch nach ca. 75 Jahren sein Schicksal nicht völlig aufgeklärt ist. Ludwigsburg am 28. Februar 1936 an Frau Gefangenen geeignet, auch weil dort die Ge- Darunter beindet sich auch ein Anhängekreuz eines Rosenkranzes. Nachdem Otto Stockmar im und Kinder: fangenen im Granitwerk unentdeckt Zwangs- Konzentrationslager Flossenbürg ermordet wurde, schickte der Lagerkommandant „sämtliche arbeit leisten können. Außer politisch und Effekten und Papiere”, darunter das Anhängerkreuz, am 24.4.1942 von Flossenbürg an die Ge- Deine lieben Briefe habe ich erhalten. Du darfst mir rassistisch Verfolgten werden in Flossenbürg stapo in Karlsruhe. Diese leitete es an seine Frau Helene Stockmar weiter. jede Woche schreiben oder alle zehn Tage, ich möchte nach der nationalsozialistischen Begriflichkeit Die Familie Otto Stockmars wohnt 1936 in der Palmstraße in Lörrach. Bis dahin hat sie schon sie auch beantworten, muss es aber kurz machen, da „kriminelle” und als „asozial” geltende Perso- eine kleine Odyssee hinter sich. Ilse Stockmar erzählt am 9.3. 2015: der Platz nicht reicht. […] Ich wäre ja so glücklich, nen, unter ihnen auch Dietrich Bonhoeffer, Euch alle bald wieder sehen zu dürfen, je eher, je lie- inhaftiert. Im KZ Flossenbürg sind bis 1945 Das Elternhaus meines Vaters befand sich in der Wir waren noch nicht lange in Lörrach, da wurde ber, denn ich weiß nicht, ob ich eines Tages versetzt rund 100 000 Gefangene registriert worden, Belchenstraße in Lörrach. Es steht heute noch. Nach Vater verhaftet [1936]. Ich als Kind, gerade sechs werde und dann ist der Weg zu weit. […] Glaube mir, darunter auch Frauen. Viele sind dort wegen seiner Heirat entzweite sich die Familie. Meine Mut- Jahre alt, wusste nicht, was vor sich ging. Und mei- dass ich mehr leide als Du denkst, wenn ich einmal mit der unmenschlichen Bedingungen, auch an ter war evangelisch, mein Großvater katholisch Das ne Mutter, sie hieß Helene, war zutiefst verängstigt. Dir gesprochen habe, wirst Du alles begreifen und nicht Seuchen wie Typhus, ums Leben gekommen. war damals nicht so einfach, die Familie machte Jedenfalls hatte man ihr, so viel ich weiß, auch nicht mehr so sprechen. Ich habe meinem Führer die Treue Aus dem Zuchthaus in Ludwigsburg, 25. Mai meinen Eltern das Leben schwer. Wir hatten außer gesagt, warum ihr Mann verhaftet worden war. Alles nicht gebrochen und habe das auch vor Gericht gesagt. 1941, schreibt Otto Stockmar an seinen Bru- mit einer Schwester meines Vaters mit niemandem ist auch heute noch so unklar. Ein Kriminalpolizist Habe noch Geduld bis Du kommst, und ich werde Dir der Ernst, dass er starke Verdauungsprobleme mehr Kontakt. Jedenfalls zogen meine Eltern dort namens Wendle verhaftete ihn. Nun könnte man alles sagen. (…) Was man über mich spricht, ist aus habe und in ärztlicher Behandlung sei. Er ver- weg und wohnten eine zeitlang in Friedlingen. Vater denken, dass zwischen ihm und meiner Mutter gro- der Luft gegrifen. Liebe Frau und Kinder, habt Mut, sucht eine Strafunterbrechung zu erreichen. war Elektriker von Beruf. In Friedlingen machte er ßer Ärger, Misstrauen und Ablehnung bestand, aber Gottvertrauen und die Hofnung, dass alles wieder gut Er will auch, wie er schreibt, alles wieder gut einen kleinen Betrieb auf, der aber dann 1932 ein- Wendle, wie ich weiß, kümmerte sich immer um wird. Du wirst Dein Los auch tragen mit den vielen machen, was er gefehlt habe, und bittet den ging; damals waren viele arbeitslos und hatten kein uns. Weil er uns beistand, kam auch er in Gefahr Müttern und Frauen, deren Männer auch hier sind. Bruder um einen Besuch. Dann kommt er zu Geld für Besonderheiten. Übrigens war Vater ein und wurde zur Strafe als Polizist in ein KZ versetzt. Nur Gott allein weiß es, warum er uns diese Prüfung einer anderen Sache: Er hat eine Fenster- großer Tüftler. Er erfand immer etwas, so den Win- geschickt hat. […] scheibenschutzsicherung erfunden: Eine ein- ker am Auto. Früher war ja an jedem Auto so ein Aus den Jahren 1945 und 1946 fanden wir, also fache Vorrichtung soll bei plötzlichem starkem Zeiger, mit dem der Fahrer die Änderung der Fahrt- meine Tochter Silvia und ich, Briefe in den Unterla- Otto Stockmar ist vom 18. Januar bis 3. Luftdruck und Erschütterung das Zerspringen richtung anzeigte. Blinklichter hat es damals keine gen meiner Eltern, in der Wendle sehr mitfühlende März 1936 wegen Landesverrat in Polizeihaft. der Scheiben verhindern. Seine Erindung gegeben. Auch eine Vorrichtung zum Schutz von Briefe über das Schicksal Vaters an Mutter geschrie- In der nationalsozialistischen Terminologie ist scheint ihm Mut zu machen, die Haft zu er- Fensterscheiben bei plötzlichem starkem Luftdruck ben hatte. Man konnte sich das gar nicht vorstellen, das „Schutzhaft”. Dann beginnt die Untersu- tragen, aber auch Mut, wegen Anerkennung (s.u.) erfand er. Aber da meine Eltern arm waren, da es ja Wendle war, der Vater verhaftet hatte. Ir- chungshaft in Lörrach bis zum 31. März 1936. seiner Erindung Erleichterung zu erlangen. hatte Vater kein Patent anmelden können. Von Weil gendwer hat Vater angezeigt, wir wissen heute noch Er wird nun nach Berlin ins Gefängnis über- zog dann meine Familie in die Palmstraße nach Lör- nicht, wer das war, und wir wissen den Grund auch führt, wo der Prozess stattindet. rach. Vater arbeitete bei der Post, ob als Briefträger, nicht. als Postfahrer oder als Elektriker, weiß ich nicht.

128 129 Dreiländermuseum Lörrach Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird

Am 22. April 1942 erlässt der SS-Standort- Schutzhaftlagerführer des K. L. Flossenbürg anerkann- ist schwer krank dorthin gekommen. Eine sammeln Briefe, Akten, suchen Auskünfte bei arzt K. L. Flossenbürg, (Obersturmbannfüh- te Schutzhäftling Nr. 1028-Stockmar, Otto, geb. am 4. weitere Infektion bei diesen Verhältnissen ist den verschiedenen Archiven in der Bundesre- rer) eine ärztliche Bescheinigung. Darin steht: August 1903 in Lörrach i. B., an Herzschwäche bei dop- denkbar, jedoch ist die angezeigte Todesursa- publik, beim Internationalen Suchdienst des pelter Pneumonie. che, Herzschwäche und Lungenentzündung, Roten Kreuzes, schreiben an die Gedenkstät- Am 22. April 1942 um 6.50 Uhr verstarb der die übliche Diagnose der Lagerleitungen und te in Flossenbürg, sind im diplomatischen Ar- Häftl.-Krankenbau des K. L. Flossenbürg der vom 1. Die Leitung des Konzentrationslagers Flos- Lagerärzte, wenn ein Inhaftierter getötet chiv in Paris La Courneuve gewesen, wo auch senbürg schreibt am 5. Mai 1942 an Helen worden ist. Dazu passt auch die schnelle Ein- die Dokumente aus der französischen Besat- Stockmar: äscherung des Leichnams, um jegliche Nach- zungszeit aufbewahrt werden. prüfung unmöglich zu machen. So tragen sie umfangreiche Materialien und Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 26.4.1942 teile Der katholische Hausgeistliche am Zucht- Dokumente zusammen, die ein wenig, je- ich Ihnen über das Ableben Ihres Gatten folgendes mit: haus Ludwigsburg schreibt Helen Stockmar doch keine abschließende Auskunft über das Am 9. April 1942 wurde Ihr Gatte mit allen An- am 22. Dezember 1942: Schicksal Otto Stockmars geben. Ilse Stock- zeichen einer doppeltseitigen Lungenentzündung ins mar und ihre Tochter übergeben diese Samm- Häftl.-Krankenhaus aufgenommen und sofort der Zum Ableben Ihres Mannes Otto St. spreche ich Ihnen lung dem Dreiländermuseum in Lörrach, wo intensiven ärztlichen Behandlung zugeführt. Trotz mein herzliches Beileid aus. Vom raschen Tod wusste sie aufbewahrt wird. Nach langem Zögern ha- aller sofort ergrifenen therapeutischen Maßnah- ich noch nichts. Ihr Mann war aber hier schon immer ben sie sich anlässlich der Ausstellung „Lör- men gingen die hohen Temperaturen nicht zurück. kränklich und lange Zeit im Spital. Er hatte ein chroni- rach und der Nationalsozialismus” einen Ruck Der Kreislauf wurde täglich schwächer. Am 21. Ap- sches Darmleiden, wurde auch von einem Spezialarzt gegeben, um, wie die Frauen sagen, dem ril setzte ein rapider Kräfteverfall ein, von dem sich untersucht und im Krankenhaus operiert. Als er hier Vater bzw. Großvater „wieder ein Gesicht zu der Patient trotz Verabreichung reichlicher Herzmittel entlassen wurde, habe ich für mich gedacht, dass er wohl geben”. nicht mehr erholte. Am 22. April um 6.50 Uhr ver- nicht mehr lange leben kann. […] Ihr Mann hat sehr Im Zuge der Nachforschungen werden den starb Ihr Gatte an den Folgen einer Herzschwäche bei an Heimweh gelitten. Bleiben Sie stark und tapfer. Ich Nachkommen nachstehende Schriftstücke be- doppelseitiger Lungenentzündung. Er ist in Ruhe und wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest. kannt. Diese Originale übergibt die Familie Frieden gestorben. Irgendwelche Wünsche hat er vor 2013 dem Dreiländermuseum Lörrach. dem Ableben dem Arzt- und Krankenplegepersonal Der Pfarrer ist mitfühlend. Er spricht der nicht mehr geäußert. Die Einäscherung erfolgte am Frau Otto Stockmars sein Beileid aus. Es geht 1. Auskunft aus dem Strafregister der 23. April im Krematorium Flossenbürg. Eine Beer- aus dem Brief nicht hervor, ob der Pfarrer Staatsanwaltschaft zu Freiburg: digung ist hier nicht möglich, weil ein Friedhof nicht gewusst hat, dass Stockmar nach der Ver- Stockmar, Otto, geb. 4.8.03, verh., Elektriker, Lörrach, vorhanden ist. Auch konnte eine Besichtigung der büßung der Zuchthausstrafe ins Konzentrati- Palmstr 4, 7 J 12/36 am 20.11.36 durch den 3.Senat des Leiche infolge Infektionsgefahr nicht erfolgen. Nach onslager „entlassen” worden ist. Wegen des Volksgerichtshofes Berlin wegen Landesverrat, §§ 92 II, Beibringung einer Beisetzungsbescheinigung der zu- Gesundheitszustandes des Häftlings ahnt er, 90a, 32.93.93a RStGB.n.F. zu 6 Jahren Zuchthaus, 6 ständigen Friedhofsverwaltung kann die Urne mit „dass er wohl nicht mehr lange leben” kann. Jahren Ehrverlust. Polizeiaufsicht und Einziehung von den Aschenresten kostenlos an die Friedhofsverwal- Allerdings hat die Todesursache, die der Arzt 540.- RM Strafe verbüßt am 20.1.42. Lt. Mitteilung tung übersandt werden. des Konzentrationslagers vermerkt, nichts des Bad. Justizministeriums (französ. Besatz.Gebiet) Sämtliche Efekten und Papiere wurden am mit Otto Stockmars Magen- und Darmerkran- – Straftilgungskommission – in Freiburg vom 19.9.46 24.4.1942 an die Geheime Staatspolizei Karlsru- kung zu tun. wurde die Tilgung vorstehender Strafe gemäß der all- he zur Weiterleitung an Sie zum Versand gebracht. Helen Stockmar, die Ehefrau, Ilse Stock- gemeinen Anordnung der Militärregierung in Baden Die Inv.Vers.-Karte beindet sich augenblicklich bei mar, die Tochter und deren Tochter Silvia, (franz. Zone) vom 31.10.1945 Nr. 7310/726/45 Just/JA der Landesversicherungsanstalt zum Umtausch und Enkelin von Otto Stockmar, geben nach dem angeordnet, da die Verurteilung wegen einer politischen muss nach Rücksendung nachgereicht werden. Krieg bis in die 2010er Jahre keine Ruhe, das Straftat erfolgte. Schicksal des Mannes, Vaters und Großvaters Die Abschrift ist für die Richtigkeit am Otto Stockmar ist also nur vom 10.2.1942 zu ergründen, ggf. eine Wiedergutmachung 12.1.1950 unterschrieben und gestempelt. Urteil des Reichsgerichts gegen Otto Stockmar. bis zu seinem Tod am 26.4. 1942 im Konzen- bzw. eine Entschädigung zu erhalten, sie wol- (STAL E 356 aV Bü 1427) trationslager Flossenbürg gewesen. Stockmar len vornehmlich wissen, was passiert ist. Sie

130 131 Dreiländermuseum Lörrach Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird

2. Der Direktor der Gefängnisse Karlsruhe verurteilt. Nach Verbüßung der gerichtlich festgelegten von Otto Stockmar, wegen Waisenrente und und der Tochter Ilse Stockmar vom 17.8. stellt der Dienststelle für die Vermögenskont- Strafe sollte er im Januar 1942 entlassen werden. Dies Haftentschädigung: 1964. Wegen rechtswidriger Inhaftierung des rolle und Wiedergutmachung beim Finanzamt war aber nicht der Fall. Er wurde meines Wissens sei- Vaters wird eine einmalige Abindung von DM Lörrach am 21.1.1950 eine Haftbescheini- nerzeit in ein Konzentrationslager eingewiesen und ver- Der Antrag der Friseuse Ilse Stockmar vom 15.6.1950 300.-, für Verdienstausfall zusätzlich DM 48.- gung aus, auch mit dem Hinweis, dass Otto starb in demselben an angeblicher Lungenentzündung auf Waisenrente und Haftentschädigung wird dem gezahlt. Ilse Stockmar muss in diesem Ver- Stockmar in das Konzentrationslager Flossen- im April 1942. Grunde nach abgelehnt. Begründung: Der Vater der gleich erklären, dass ihre Ansprüche in vollem bürg überführt worden ist. Bis zum heutigen Tag, d.h. seit dem Tode meines Antragstellerin wurde am 20.11.1936 vom Volksge- Umfang abgegolten sind. Mannes, habe ich in keiner Form irgendeine Unterstüt- richtshof wegen Landesverrat zu 6 Jahren Zuchthaus Auf einem Beiblatt in den Unterlagen indet 3. Beschluss des Amtsgerichts Berlin- zung nach Art einer Rente erhalten. Auf gewissen Druck verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe wurde er weiter sich vielleicht eine Spur, was zur Verhaftung Tiergarten, Amtsgerichtdirektor Kogge, am der seinerzeitigen Kreisleitung [NSDAP] Lörrach habe im Konzentrationslager Flossenbürg in Haft gehalten. Otto Stockmars 1936 geführt hat. Allerdings 2. März 1950: Das Urteil des 3. Senats des ich mich im Jahre 1938 scheiden lassen. Dort verstarb er am 22.4.1942. […] trägt dieses Blatt kein Datum, keinen Hin- Volksgerichtshofes Berlin vom 20. November Der Antrag ist nicht begründet. Ihm könnte nur dann weis, wer es ausgefertigt hat. Es scheint die 1936 wird aufgehoben. Gründe: Das Urteil Zwei Jahre nach ihrem Gesuch erhält die entsprochen werden, wenn der Vater der Antragstellerin, kopierte Rückseite eines Vorgangs zu sein. beruht auf politischen Gründen. Ehefrau Stockmars eine Antwort: falls er noch lebte, als Geschädigter im Sinne von § 1 des Auf der Kopie steht: Badischen Landesgesetzes über die Entschädigung der 4. Todeserklärung der Internationalen Feststellungsbescheid des Landesamtes für Wieder- Opfer des Nationalsozialismus vom 10.1. 1950 (EG) Stockmar hat im Dienste einer auswärtigen Spionage- Flüchtlingsorganisation, Internationaler Such- gutmachung am 13. Juni 1953 an die geschiedene Frau Wiedergutmachungsansprüche geltend machen könnte. Zentrale Landesverrat begangen. Der Ausschluss wur- dienst vom 10. August 1948: Helene Stockmar, geb. Meister, wohnhaft in Lörrach: […] de verfügt am 3.8.36 durch die SA-Brigade 54 und hat In den Akten des Konzentrationslagers Flossenbürg Die Antragstellerin ist nicht Verfolgte im Sinne des § 1 Dass der Anlass zu der Verurteilung des Vaters der Rechtskraft erlangt am 13.8.36. […] ist erwähnt, dass Stockmar, Otto, geb. am 4. Au- Abs. 1 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten Antragstellerin und zu seiner Unterbringung in einem gust 1903 […], am 22. April 1942 im Konzentrations- des Nationalsozialismus […] Konzentrationslager eine politische Haltung in diesem Die Verfügung ist unterschrieben im Un- lager Flossenbürg verstorben ist. […] Er wurde am 16. Nach § 1 des angeführten Gesetzes können als Ver- Sinne war [§ 1 des Badischen Landesgesetzes s.o.], ist tersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Die SA Februar 1942 in das K.Z. Flossenbürg aus politischen folgte des Nationalsozialismus nur diejenigen Versicher- nicht anzunehmen. Nach früheren Angaben seiner Ehe- Brigade 54 hat ihren Sitz in Süddeutschland Gründen eingeliefert. ten anerkannt werden, die unter dem nationalsozialis- frau wurde er verurteilt, weil er Spionage zu Gunsten gehabt. tischen Regime wegen ihrer politischen Haltung, ihrer Frankreichs betrieben hatte. Aus der Tatsache, dass der Etwas mehr Licht in die Strafsache Otto Otto Stockmar ist in einer Nachkriegsauf- Religion, ihrer Weltanschauung oder ihrer Rasse in Haft Volksgerichtshof in seinem Urteil der Freiheitsstrafe auf Stockmars kommt durch die Abschrift seiner stellung der 3. U.S. Army über die Daten des genommen wurden. […] Auf den Beschluss wurde Bezug Einziehung „des für die Tat empfangenen Entgelts in Stellungnahme vom 23. September 1936 im KZ-Flossenbürg wie folgt aufgeführt: genommen. Es war darin festgestellt, dass Otto Stock- Höhe von 540,- RM” erkannte, muss geschlossen wer- Hinblick auf die Anschuldigungen, die gegen Stockmar, Otto, Nr. 1028, p [politischer Häftling], mar nicht wegen seiner gegen den Nationalsozialismus den, dass der Vater der Antragstellerin sich für die Preis- ihn vorgebracht werden. Sie ist im Gefängnis geb. 4.8.03, 16.2.42 registriert, 22.4.42 T [verstorben]. als solchen gerichteten, politischen Haltung oder Welt- gabe von Staatsgeheimnissen bezahlen ließ. […] Hinzu in Berlin entstanden und wird im Staatsar- anschauung benachteiligt worden ist. Abgesehen davon kommt, dass der Verstorbene nach den eigenen Angaben chiv Ludwigsburg aufbewahrt (STAL E 356 aV Helen Stockmar schreibt am 30.1.1951 an ist die Antragstellerin als geschiedene Ehefrau des Otto der Antragstellerin der SA und NSDAP angehörte. […] Bü 1427). Danach sind gleichzeitig die Brü- das Badische Ministerium der Finanzen bzgl. Stockmar nicht aktiv zur Antragstellung legitimiert. der Otto und Hermann Stockmar angeklagt. Wiedergutmachung [Baden-Württemberg ist Tatsache ist, dass das Amtsgericht Berlin- Hermann Stockmar ist bei der Handelsmarine erst 1952 gegründet worden]. Sie versucht, Nun wird ihr die Scheidung zum Vorwurf ge- Tiergarten, Amtsgerichtdirektor Kogge, am und hat nach Flensburg geheiratet. Die Brü- eine Versorgungsrente für sich und ihre Kin- macht, zu der sie die Machthaber getrieben 2. März 1950 feststellt, dass das Urteil des der haben kaum Kontakt; so ist es seltsam, der zu erlangen und bittet um Prüfung und haben. 3. Senats des Volksgerichtshofes Berlin vom dass sie sich Mitte der 1930er Jahre in St. baldige Entscheidung, da sie sich in einer Die Tochter Ilse stellt einen Antrag auf Wai- 20. November 1936 aufgehoben wird, da es Louis, Elsass, treffen. Notlage sehe: senrente im Zuge einer Wiedergutmachung. auf politischen Gründen beruht (s.o.). Was Otto Stockmar erklärt in der Stellungnah- Das Badische Ministerium der Finanzen, stimmt nun? me, dass er nach der Aufgabe seines Ge- Mein Mann, Otto Stockmar, geb. 4.8.1903, wurde im Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung Mutter und Tochter geben noch nicht auf: In schäftes in Weil und der Anstellung bei der Jahre 1936 von der Gestapo Lörrach wegen angeblichen erlässt einen Beschluss am 21. Februar 1951 den Unterlagen der Familie Stockmar beindet Post arbeitslos und krank gewesen und so in Landesverrats festgenommen und durch das Reichs- in der Angelegenheit Ilse Stockmar, Tochter sich eine erste Mehrfertigung eines Vergleichs wirtschaftliche Not geraten sei. Er hat sich gericht in Berlin seinerzeit zu sechs Jahren Zuchthaus zwischen der Bundesrepublik Deutschland Geld geliehen und Aushilfsarbeiten von Auto-

132 133 Dreiländermuseum Lörrach Ich habe gedacht, dass er nicht mehr lange leben wird Eines Morgens stand eine Leiter am Grenzzaun

waschen bis zu elektrischen Installationen bei „Eines Morgens stand eine Leiter am Grenzzaun” einem Wenger, wohnhaft in St-Louis, getätigt. Er und Bruder Hermann, der als Zeitungsbe- Auszug aus dem Tagebuch des 16-jährigen Volkssturmmannes Hanspeter Scherr (1928 – 1983), Ende richterstatter nach Aussage von Wenger auf- 1944 bis Kriegsende 1945. getreten sei, scheinen jenem Wenger Bilder und Nachrichten aus Tageszeitungen geliefert zu haben. Bruder Hermann hat wohl Geld dafür bekommen, während Otto behauptet, Hanspeter Scherr wird am 1. September 1944 dienstverplichtet. Er gehört zum Volkssturm. dass das Geld, das er erhalten habe, Lohn Dessen Aufgabe ist vornehmlich das Schanzen und Sichern der Ortschaften in unmittelbarer bzw. Kredit gewesen sei. Otto gibt in der Heimatgegend. Der junge Mann schreibt ein Tagebuch über seine Zeit am Ende des Krieges Stellungnahme auch an, dass er nicht wis- und wählt als Überschrift „Fahrt ins Blaue”. Seine Tochter, wohnhaft in Lörrach-Brombach, se, was sein Bruder mit Wenger zu schaffen übergibt mir das Tagebuch ihres Vaters, als sie von dem Projekt „Zeitzeugenbefragung” er- gehabt hätte, da sie Französisch gesprochen fährt. Aus diesem Tagebuch hier einige Auszüge, die Lörrach betreffen. Der zweite Teil des hätten, was er nicht könne. In der Stellung- Tagebuchs geht auf die Zeit beim Reichsarbeitsdienst in Regensburg ein. nahme wird deutlich, dass Otto Stockmar möglicherweise in eine Sache verwickelt wor- den ist, die er nicht überblickt hat. Er wird auch mit einer Behauptung konfrontiert, dass er als Postangestellter über den Aufbau der Funk- und Empfangsanlagen Bescheid wisse und darüber Auskunft gegeben hätte, was er bestreitet. Zum Verhör nimmt Otto Stockmar in seiner Stellungnahme, die recht wirr erscheint, auch Bezug. Ein Herr Kiefer habe ihn verhört; die- ser würde darauf dringen, dass seine Aussa- gen mit jenen des Bruders, der eben gleich- zeitig angeklagt ist, übereinstimmen. Zudem habe er ihm Aussagen unterstellt, an die er sich nicht erinnere. Kiefer habe ihm viele Aus- sagen im Verhör vorgesprochen, die er nun widerruft. „Die ganze Anklageschrift stützt sich nur auf das Protokoll von Herrn Kiefer, worin mein wahrer Sachverhalt entstellt ist”, schreibt Otto Stockmar. Ilse Stockmar, heute 85 Jahre alt, hat keine Kenntnis darüber, dass ihr Vater mit Frank- reich bzw. dem nahen Elsass damals in Kon- takt gewesen ist. Sie kennt den Namen Wen- ger nicht. (Alle Quellen: DLM: APS 91) Stacheldrahtzaun an der Grenze zwischen Lörrach-Stetten und Riehen/Schweiz, errichtet vom Reichsar- beitsdienst ab 1942. (Archiv Vetter, Dokumentationsstelle Riehen, Schweiz)

134 135 Dreiländermuseum Lörrach Eines Morgens stand eine Leiter am Grenzzaun Eines Morgens stand eine Leiter am Grenzzaun

Wie alle seine Kameraden aus Lörrach, zum Umgang mit der Panzerfaust. In der Fir- vom Koch zugesteckt. Wenn ich gerade Wache hatte, Einmal redete mich einer an, und wir sprachen über be- Steinen und der Umgebung fahren sie Rich- ma Großmann (Brombach) ist ein Massen- ging ich fast jeden Abend in eine Wirtschaft, öfters in langlose Dinge. Und so, wenn wir uns trafen, erzählten tung Belfort zum Schanzen. Bei Müllheim quartier eingerichtet. den „Markgräler Hof”, weil ich dort mit Carola telefo- wir uns manchmal. Ich erwähnte, dass ich früher schon überquert der voll beladene Personenzug den nieren konnte. Einmal hatte ich sie eingeladen zu kom- ein paar Mal in Basel war, im Theater, im Zoo, und dass Rhein. Es können nicht alle auf den Bänken Der Tagebuchschreiber ist ab 1. Januar men und holte sie am Bahnhof ab. Ich zeigte ihr Lör- ich einmal den Clown Grock gesehen habe. Als ich ihn sitzen. Das Stehen ist ungewohnt, der erste 1945 beim Volkssturm in Lörrach. Er notiert: rach, wie Lörrach als Frontstadt aussah, von unzähligen fragte, wer den Krieg gewinnen würde, wollte er es aber Hunger kommt auf. Immer wieder muss der Beim Volkssturm in Lörrach waren wir zuerst im Straßensperren entstellt. Ich führte sie am Arm, und so nicht wissen. Dann wollte ich wissen, ob der Volkssturm Zug halten, es gibt Tiefliegerangriffe. Mili- Hotel „Hirschen” untergebracht. Wir, das sind Vati als kamen wir langsam zu unseren Stellungen an der Gren- als reguläre Truppe anerkannt würde. Er meinte, ja, tärzüge kommen entgegen oder überholen Zugführer, die Gruppenführer und ich als Melder, sind ze. Von einer kleinen Bodenerhebung aus betrachteten denn die Schweiz habe ja schon seit Kriegsbeginn etwas den Personenzug, der dann auf einem Ab- in einem Zimmer mit Wanzen. Die Zug- und Grup- wir das Lichtermeer von Basel, denn obwohl es verboten Ähnliches. Er wollte noch wissen, wie alt ich sei, und ich stellgleis hält. Beim Blick aus dem Zug sehen penführer waren in einem Ausbildungskurs in Stetten war, Zivilpersonen in die Stellung zu bringen, hatte uns gab noch zwei Jahre dazu und sagte: achtzehn! Einige die jungen Männer Bombentrichter, zerstörte in der Adolf-Hitler-Schule [heute Fridolin-Schule]. Die Tage später hatten wir wieder zur gleichen Zeit Wache, Häuser, zerstörte Gleisanlagen, umgestürz- Gemeinen bauten einen halben Tag Straßensperren, die aber Vati, dem ich vom Zöllner erzählt hatte, hatte mir te Autos. Sie haben alle Angst: vor dem andere Hälfte des Tages hatten wir Felddienstübungen, verboten, diesen wieder anzusprechen, weil der Regi- Ungewissen, vor den Angriffen, vor Partisa- Schießen usw. […] mentskommandeur unterwegs war. Ich blieb also an nen und Terroristen, wie ihnen gesagt wird. meinem Platz, und bald kam ein Schwarm Oiziere. Ich Und es ist schlechtes Wetter, kalt, nass. Die Am 11. Januar kamen wir von Lörrach weg und machte zackig Meldung. Die Oiziere wunderten sich Schanzarbeit in den nächsten Tagen ist hart: nach Stetten in die Zollhäuser. Das ging so. Eines Ta- über mein Alter. Eine Straße in einen Panzergraben verwan- ges mussten alle Zugführer, Kompanieführer usw. zu deln, wie der Berichterstatter sich ausdrückt, einer Besprechung im Kreisstab. Dazu musste jeder ei- Einmal stand eines Morgens eine Leiter am Stachel- ist mühsam. Die Front vor Belfort ist 140 km nen Melder mitbringen. Vati hatte mich mitgenommen. draht an der Grenze, und Spuren im Schnee verrieten, entfernt. Allerdings rückt die Front unauf- Bei der Besprechung wurden wir in die verschiedenen dass zwei ihre Freiheit in der Schweiz gesucht hatten. haltsam näher, die zum Schanzen Verplich- Abschnitte am Grenzzaun eingeteilt. Unser Zug bekam Bald kam die Meldung, dass nachts zwei Gastarbeiter teten werden mit Bussen zurück verfrachtet, den Abschnitt von der Gießerei Trickes bis zur „Eiser- entlohen seien. Wir konnten den Stab dann damit be- müssen da und dort arbeiten, übernachten nen Hand”. Wir zogen dann in die Zollhäuser um. Im ruhigen, dass sie schon drüben seien. in leer stehenden Häusern, haben ständig „Hirschen” holten wir unsere Fallen und stellten sie in Hunger. Mitten in diesem Chaos entdeckt die ausgeräumten Wohnungen der Zollhäuser, immer Als ich wieder einmal Posten stand, winkte mir mein der Schreiber ein Harmonium, spielt ein paar drei solcher Betten übereinander. In unsere Stube wa- Bekannter, der Zöllner, von drüben zu und erzählte mir, Takte, indet auf einem Dachboden einen el - ren meine Alterskameraden und Vati. Wir mussten viel dass der Grock zurzeit in Basel ein Gastspiel gäbe. […] sässischen Gedichtband, schreibt sich das Posten stehen, nachts sogar Doppelposten, so dass wir Hanspeter Scherr (links) mit seinem Vater. Und dann kam der Schlag, dass unsere schöne Kame- eine oder andere Gedicht auf, dann wieder tagsüber zwei Stunden Wache und 8 Stunden frei hat- (privat) radschaft, die sich gebildet hatte, jäh auseinander ge- Laufgräben ausheben, Panzersperren errich- ten. Tagsüber mussten wir in der Freizeit Schützengrä- rissen wurde. Etwa die Hälfte der Kompanie wurde zur ten. Einige Kameraden werden krank, haben ben bauen. Dies machte ziemlich Mühe, denn unter dem Ablösung in die Bunker am Rhein geschickt, die ande- hohes Fieber. Am 24. September 1944 ist Schnee war der Boden hart gefroren. Unsere Kompanie der Posten passieren lassen. Als Zeit war zum Zug, gin- ren, wie ich, wurden zum RAD [Reichsarbeitsdienst] Zahltag. Die Gruppe ist mittlerweile in Hir- war sehr weit auseinander gezogen. Trotzdem musste gen wir wieder zurück zum Bahnhof in Lörrach – und nach Regensburg abberufen. singen im Sundgau. Dann sitzen sie im Zug. Vati jeden Tag einmal zum Nachbarzug. Diese lebten in sahen den Zug abfahren. Der Nächste ging erst kurz vor (Quelle: privat) Es geht heim. Ein paar Tage Ruhe, Erholung Laubhütten an der „Eisernen Hand”. Mitternacht. Wir setzten uns in den Wartesaal. Die Zeit sind ihnen gegönnt. verging nur allzu schnelle, dann kam der Zug, und Ca- Bei einem dieser Kontrollgänge begleite ich Vati. Der rola fuhr nach Hause, nach Fahrnau. Mitte November werden die jungen und al- Kompaniegefechtsstand war in der Gießerei Trickes, die ten Volkssturmmänner auf dem Robert-Wag- Küche in Stetten in einem Gasthaus und der übrige Tross Manchmal, wenn ich allein Posten stand und nie- ner-Platz in Lörrach (heute Neuer Marktplatz) im „Grünen Baum”. In den Zollhäusern hätten wir gut mand in der Nähe war, ging ich ganz nahe an den Sta- vereidigt. Die weitere Schulung ist dann in das Kriegsende erwarten können. Besonders mir geiel cheldraht, der die Grenze bildete, und wartete, bis der Brombach: Ausbildung zum Scharfschützen, es, denn ich war der Jüngste. Manche Wurst wurde mir Schweizer Zöllner auf seinem Kontrollgang vorüberkam.

136 137 Dreiländermuseum Lörrach Die schönsten Jugendjahre wurden vertan Die schönsten Jugendjahre wurden vertan

„Die schönsten Jugendjahre wurden vertan” lich den ganzen Morgen auf dem hart gefrorenen Boden Hans Staub erhält etwa im November 1944 Hinlegen üben. Oft sind wir solange gelegen, bis der Bo- die Mitteilung, dass verwundete Soldaten in Der Brombacher Hans Staub (Jhg. 1924) hat in den 1950er Jahren einen Erlebnisbericht, wie er seine den aufgetaut und wir patschnass waren. Das kannst Heimatlazarette überführt werden können. Er Aufzeichnungen nennt, vom Krieg für seine Nachkommen geschrieben. Daraus einige Auszüge, darunter Du Dir vielleicht vorstellen, dreckig waren wir natürlich stellt einen Antrag und hält später fest: auch Briefe an seine Verlobte. auch. Aber das kann einen Seemann nicht erschüttern, solange ich noch „zwäg” bin, ist alles egal. Da ich gehfähig und nicht mehr auf andere angewie- sen war, wurde dem Antrag entsprochen, und ich bekam Brief an Freundin Annemarie am 19. De- Ende November den Marschbefehl und die Kranken- Hans Staub lerne ich zuerst durch seine gen: „Heilig Vaterland in Gefahren, deine Söhne sich zember 1943: hauspapiere in einem verschlossenen Umschlag. Also Schrift „Soldat im 2. Weltkrieg” kennen, und um dich scharen!” oder „Nichts kann uns rauben Lie- begab ich mich in Ansbach auf den Zug. Ich weiß heu- das vor einiger Zeit. Er will seinen Söhnen be und Glauben zu unserem Land”. Die meisten waren In der Nähe von Monte Cassino: Gestern Abend habe te nicht mehr, auf welcher Strecke ich fuhr, jedenfalls mitteilen, wie er seine Jugendzeit verbracht doch begeistert von dem, was die HJ bot: Heimabende, ich zum ersten Mal den Soldatensender aus Rom ge- über Ulm bis nach Immendingen. Dort war zunächst hat. Dabei denkt er auch an die toten Kame- Geländespiele, Sport, Schießübungen mit dem Klein- hört und zwar durchs Telefon. Einfach prima! Bis 23 Schluss, weil eine Eisenbahnbrücke auf der Strecke raden. Sein Bericht soll die junge Generation kalibergewehr. Jetzt galt es also, sich für das Vaterland Uhr bin ich am Kopfhörer gesessen. Mit dem Stück nach Waldshut durch Bomben zerstört oder zumindest zum Nachdenken anregen, wie er im Vorwort einzusetzen, um die Schande, die uns der Versailler Ver- „Heimat, deine Sterne” war Schluss. Sonst alles neue beschädigt war. Im Soldatenheim, einer Baracke, konn- schreibt. Persönlich habe ich ihn am 12. No- trag auferlegt, zu tilgen. So wurde es uns jedenfalls bei- und alte Schlager, Tango usw. Solche Sachen kann man te ich übernachten. Dort brodelten Gerüchte. Es hieß, vember 2014 in einem Seniorenheim in Lör- gebracht. Dass unsere idealistische und vaterländische hier oben in der Einsamkeit brauchen, sonst verblödet Lörrach brennt, und es könne niemand dort mit der rach kennengelernt. Er ist 90 Jahre alt, sitzt Einstellung seinerzeit missbraucht worden ist, haben wir man noch. Vielleicht kannst Du den Sender in Eurem Bahn über Wehr ins Wiesental. In Schopfheim war alles im Rollstuhl und erzählt sehr präsent, dass nicht erkannt. Wie wurden doch damals die Phrasen ge- Radio auch empfangen, abends nach den Nachrichten, ruhig, von einem brennenden Lörrach sah ich, Gott sei er seinen Bericht nur für die Familie und gute droschen, so z.B. Josef Goebbels am 30. Januar 1933, 20 Uhr Rom. Nun ist es noch fünf Tage bis Weihnach- Dank, nichts. Wann ich nach Lörrach kam, ob es Tag Freunde geschrieben habe. Etwa 20 Mal habe dem Tag der Machtergreifung. Für mich war es auf je- ten. Wir sollen auch ein Weihnachtsbäumchen von der oder Nacht war, weiß ich heute nicht mehr. Auf jeden er den Bericht kopiert und geheftet. An eine den Fall zunächst ein großes Abenteuer. Kompanie bekommen. Hier bei uns wachsen keine. Fall war es ruhig, und ich war zuhause und überraschte Ausgabe bin ich über Umwege gelangt, aber Ich traf pünktlich, zusammen mit meinem Schulka- Vor unserem Stacheldraht sind einige Tannen, aber da meine Mutter. Sie wusste zwar, dass ich eine Verlegung er erlaubt mir, Teile aus seinem Bericht zu meraden Christian Gassert, am Kasernentor ein und kommen wir nicht mehr hin. Diese holt der Tommy. Er nach Lörrach beantragt hatte, aber den Tag der Ankunft veröffentlichen. wurde von der Wache empfangen und in die Kantine feiert auch Weihnachten. Wache werde ich natürlich konnte ich ihr nicht mitteilen. So war ich also wieder zu- weitergeleitet, wo die Neueinberufenen, alle vom Jahr- schieben, aber nur vier Stunden. Das ist Ehrensache. hause und hörte drüben am Rhein den Gefechtslärm, da Hans Staub schreibt von der Einberufung gang 1924, also gerade 18 Jahre alt, sich versammel- Was bringt uns das Jahr 1944, bestimmt den erhoften Teile der 1. französischen Armee südlich um die Vogesen am 8. Dezember 1942, über seine Kriegsein- ten. Viele waren aus dem Badischen, besonders aus dem Endsieg. bis ins Oberelsass, durchgebrochen waren. sätze in Nordfrankreich, am Ligurischen Meer, Markgräler Land. Herzlich begrüßte ich natürlich Annemarie, die noch in den Abruzzen, auf dem Berg Monte Cas- Brief an die Freundin Annemarie am 15. die Oberschule [Hans Thoma-Gymnasium} besuchte, sino, den Rückzug und dann die Gefangen- Brief an die Freundin Annemarie vom 24. August 1944 nach einer schlimmen Verwun- so dass wir uns jeden Tag trafen. Am Tag der Ankunft nahme am 3. Mai 1945. Nach sechs Jahren Dezember 1942: dung: in Lörrach meldete ich mich im „Hirschen”, der in ein kehrt er am 23. September 1948 nach Hause Lazarett verwandelt worden war und ín welchem sich in Brombach zurück. Er erinnert sich: Nach meiner Berechnung muss heute Heiliger Abend Endlich bin ich im Reich gelandet und zwar in Ans- die Verwaltung der Lörracher Lazarette befand, um die sein, eine traurige Sache – für uns wenigstens. Uns, bach/Bayern. Wir waren mit dem Lazarettzug zwei Krankenhauspapiere abzugeben. […] Da die Front bis Einberufung zur Wehrmacht am 8. Dezember 1942. schreibe ich, weil jeder meiner Kameraden den gleichen Tage unterwegs und kamen über den Brenner. Wir liegen an den Rhein rückte, kam die Anordnung, dass die Lör- Endlich habe ich den Gestellungsbefehl erhalten. Ich blöden Kopf hindrückt. Nicht weil wir gesofen haben, zu dritt auf einem Zimmer. Das Lazarett liegt weit au- racher Lazarette íns Hinterland verlegt werden, was für wurde also zur Wehrmacht einberufen und musste mich nein, nämlich heute morgen und schon die ganze Woche ßerhalb der Stadt. An das Klima hier muss ich mich erst mich bedeutete, wieder von zu Hause weg zu müssen. spätestens 18.00 Uhr in der Artilleriekaserne Nord in wurden wir so geschlifen, dass uns alle Knochen weh- gewöhnen. Ich habe heut Morgen regelrecht gefroren, als Colmar/Elsass bei der I.G. Ers. Kompanie 78, Infante- tun. Das ist alles zum Wohle des Soldaten! So ein Weih- wir ausgeladen wurden. Zurzeit habe ich noch Atembe- Hans Staub erlebt die letzten Kriegswirren riegeschütz melden. Wir wurden ja in der Hitler-Jugend nachten habe ich mir nie erträumt. Zwei meiner Stu- schwerden, und die Wunde an der Hüfte ist auch noch im Allgäu und in Vorarlberg. Am 3. Mai kommt (HJ), wo ich es zum Hauptscharführer gebracht habe, benkameraden sind schon krank. Einer davon hat eine ofen. Aufstehen kann ich noch nicht, aber ich glaube, es er in französische Gefangenschaft. Er kommt zum Einsatz für das Dritte Reich erzogen und haben schwere Lungenentzündung. Es ist ein Wunder, dass es dauert nicht mehr lange. in ein Kriegsgefangenenlager in Colmar-Lo- dies kritiklos hingenommen. Wir haben doch gesun- mich noch nicht gepackt hat. Gestern mussten wir näm- gelbach und bemerkt, dass seine Kriegszeit

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dort angefangen hat und jetzt wohl dort en- fanatischer SS-Mann und höchster Führer der Lör- Erhalten der Lebensmittelmarken ab. In Tuttlingen er- det. Er freut sich, dass er über der Rheinebe- racher SS, sagte zu mir: „Heute hängen wir einen ledigten sich die Formalitäten ohne Schwierigkeiten. Ich ne zuweilen den Belchen sehen kann, was für Polen in Brombach auf, kommst du mit?” Ich lehnte musste aber trotzdem dort in der Rot-Kreuz-Baracke ihn schon heimatlich wirkt, aber auch Heim- ab, weil ich nicht Zeuge einer solchen Tat werden übernachten. weh erzeugt. wollte. Für mich hatte die Ablehnung keine Folgen. Ich war noch keine Woche zu Hause, als ich vom Entnaziizierungsausschuss, der damals im ehemaligen Brief an Freundin Annemarie vom 29. Juli Brief an Freundin Annemarie vom 5. De- Gasthaus „Sonne” am alten Marktplatz in Lörrach re- 1945: zember 1947: sidierte, eine Vorladung bekam. Ich war ja ein kleiner HJ-Führer und denen ofenbar irgendwie verdächtig, Endlich kann ich Dir auch mal einige Zeilen schrei- Vor einem Jahr habe ich gehoft, dieses Weihnachten weshalb ich Rede und Antwort stehen musste, was mir ben. Ich bin ja schon ein Viertel Jahr in der Gefangen- zu Hause zu sein und nun hofe ich dasselbe wieder. Ge- gewaltig gestunken hat. Vom französischen Komman- schaft und wie lange werde ich noch hier sein? An eine rade betrachte ich den Haagener Briefstempel mit dem danten werde ich mit Handschlag begrüßt, von den Entlassung denke ich vorerst noch nicht. Ich hofe, dass Röttler Schloss, und da kommt mir ein schöner Nach- Deutschen werde ich gewissermaßen verhört. Ich habe 3 Du noch gesund bist, was ich von mir auch sagen kann. mittag bei meinem Heimaturlaub im Februar 1945 in ½ Jahre Wiedergutmachung in Frankreich geleistet, was Man hat ja so viele Fragen. Zu Deinem Geburtstag den Sinn. sollte nun diese Schikane. Ich iel sowieso unter die Ju- konnte ich leider nicht schreiben. gendamnesie, eine entsprechende Bescheinigung bekam Überraschend erhält Hans Staub als Frei- ich danach. Die Gefangenschaft ist wie überall geprägt arbeiter in Frankreich doch noch Urlaub und durch harte Arbeit und zuweilen durch Schika- ist über Weihnachten 1947/48 einen Mo- Hans Staub beendet seine Aufzeichnungen nen der Sieger. Staub sieht aber auch zerstörte nat in Urlaub. Wie die anderen Freiarbeiter mit einem Schlusswort: Dörfer im Elsass, was in ihm wieder Verständ- geht er zurück ins Elsass, weil er den Vertrag nis auslöst für die Behandlung als Gefange- nicht brechen und daher keine Nachteile ha- Im Rückblick kann ich sagen, das wir jungen Soldaten, ner. Er lernt Panzer und anderes Kriegsgerät ben will. Seinen letzten Brief als Freiarbeiter seinerzeit in der HJ zum Staat und zur Gemeinschaft er- bei der elsässischen Firma Rohr, einer Altwa- schreibt Hans Staub an die Freundin am 19. zogen, von der Idee durchdrungen und zu heldenhaftem rengroßhandlung, zerlegen. Trotz allem geht September 1948. Er hat schon alle seine Sa- Kampf bereit waren, überzeugt von der guten Sache. es ihm nicht schlecht. Eines Tages werden er chen gepackt. Das letzte Kapitel seines Erleb- Treue, Glaube, Ehrlichkeit und Tapferkeit beseelten un- und andere deutsche Kriegsgefangene vor die nisberichtes überschreibt er mit dem Wort: sere Gesinnung, so taten wir unsere Plicht. Wir waren Wahl gestellt, im Gefangenenlager zu blei- „Heimkehr”: stolz, Soldat zu sein und das Vaterland zu verteidigen. ben oder als Freiarbeiter sich zu verplichten. Das waren meine Gedanken vor der Einberufung und Staub entscheidet sich für das letztere, weil Nach fast sechs Jahren in der Fremde bin ich endlich auch nachher noch. Ich habe auf jeden Fall das Vater- ihm eine Entlassung in Aussicht gestellt wird am 23. September 1948 wieder zu Hause. Es lagen hin- land nicht verraten und schämte mich nicht, Deutscher und er etwas Geld verdient. Zudem kann er ter mir Rekrutenzeit, Fronteinsatz, Lazarett, Gefangen- zu sein. Was hinter den Kulissen geschah, wussten wir den Stacheldraht um ein Lager hinter sich las- schaft und Freiarbeit vom 19. bis zum 24. Lebensjahr. nicht – es war allerdings beschämend und nicht im Sin- sen. In einem Eintrag im Januar 1947 kommt Eine Zeit, in der wohl ein Mensch geformt wird. Nicht ne der meisten deutschen Soldaten. er unvermittelt auf ein Ereignis in Brombach daran zu denken, dass zum größten Teil schöne Jugend- (Quelle: privat) aus dem Jahre 1941 zu sprechen: jahre vertan und geopfert wurden. Andererseits war es eine harte und gute Zeit der Persönlichkeitsentwicklung Erschüttert bin ich heute noch über das Schicksal und der Reifung. Ich war also zu Hause, konnte Anne- eines jungen Polen in Brombach, der ein Verhält- marie in die Arme nehmen und einen neuen Lebensab- nis mit einer Deutschen hatte und deshalb erhängt schnitt beginnen. […] Um in der Heimat wieder existent wurde. Die beiden wurden von einer Nachbarin zu sein, musste ich nach Tuttlingen fahren, dem großen verraten, ein Drecksstück. Ich war seinerzeit noch Entlassungslager, was ich nach zweitägigem Daheimsein nicht Soldat und arbeitete beim städtischen Wohl- tat. Denn ohne Entlassungspapiere ging das Leben in fahrtsamt Lörrach. Mein direkter Vorgesetzter, ein geordneten Bahnen nicht weiter. Davon hing auch das

140 141 Dreiländermuseum Lörrach Erinnerungen wie „zufällige Lichter“ Erinnerungen wie „zufällige Lichter“

Erinnerungen wie „zufällige Lichter” Warum sollte man nicht wissen, welches Bild da innerungen aufzuschreiben, von denen er sa- zu uns kam? Weil alles, was sich im abgeschlosse- gen kann, dass die Dinge so gewesen sind: Gespräche mit Friedrich Vortisch (Jhg. 1934) ab 10. April 2014 über seine Familie. Er übergibt mir Briefe nen Familienkreis abspielte oder gesprochen wurde, seines Vaters, die Tagebücher seiner Mutter und Großmutter. Briefe und Tagebücher sind mit konkreten niemanden etwas anging. Das wäre lebensgefährlich Im Sommer 1939 besuchte meine Mutter mit ih- Daten versehen und zeitnah zu den geschilderten Ereignissen entstanden. Die Erinnerungen Friedrich gewesen. Außerdem erklärte mein Vater, dieses Bild ren drei Kindern ihre Eltern in Esslingen. Als am Vortischs aus seiner Kinderzeit, in den Gesprächen nach dem 10. April vorgetragen, hat er dann selbst hätte eigentlich die Stadt Lörrach erhalten sollen. 1. September 1939 der Krieg begann, blieben wir nochmals schriftlich bearbeitet und mir zum Veröffentlichen ausgehändigt. Da diese seine Erinnerungen Es sei bei uns, weil es den Nazis nicht in die Hände erstmal alle dort, weil Lörrach als gefährdet galt, auf einzelne Situationen zurückgehen, nennt er sie im Gespräch „zufällige Lichter“. fallen sollte. Das Bild war also ein Symbol: als Erin- unser Vater eingezogen wurde und alle drei Kinder nerung an die Freiheit, an den Aufstand, an die Un- nacheinander die Masern hatten.16 Danach Rück- botmäßigkeit der Vorfahren, als geheimer, beinahe kehr nach Lörrach. Der Bruder meiner Mutter war verbotener Besitz. entsprechend der Familientradition Berufssoldat Er informiert sich, mischt sich ein, stammt aus einer angesehenen bürgerlichen Familie in Lör- bei der Luftwaffe. rach. Noch immer und nach zahlreichen, wenig gelungenen Umbauten heißt das Haus seiner Familie gegenüber dem Dreikönigseck in Lörrach bei alten Lörrachern „Kaufhaus Vortisch”. Friedrich Vortisch ist wie sein Vater Jurist, aber auch leidenschaftlich an Geschichte interes- siert. Er hat mehrfach zu historischen Themen Beiträge verfasst. Friedrich Vortisch treffe ich erstmals im Sitzungsraum des Dreiländermuseums. Vor kurzem hat er das Bild von Friedrich Kaiser „Der Einzug der Freischaren in Lörrach” dem Museum als Dauerleihgabe überlassen. Es hängt in der Abteilung zur Revolution 1848/49. Am 150. Jah- restag des Ausbruchs der Revolution hat er in der Stadtkirche in Lörrach 1998 eine Rede zum Thema „Revolution 1848” gehalten15:

Meine Geschichte der Revolution von 1848/49 ters. Das Bild wurde unter Beteiligung der ganzen beginnt im Jahre 1942. Damals starb Emil Pflüger, Familie aufgehängt. der Sohn des legendären Markus Pflüger, und er hinterließ meinem Vater Friedrich Vortisch das Bild Die Stationen des Bildweges damals sind „Der Einzug der Freischaren in Lörrach” von Fried- bezeichnend für die Stadt Lörrach im Dritten rich Kaiser. Davon wusste der Achtjährige noch Reich. Der Platz, den die Vortischs queren, nichts. Eines schönen Tages jedoch hatte ich mit heißt nach dem Gauleiter des Südgaus Robert meinem Vater in die Adolf-Hitler-Str. 163 zum Haus Wagner. Er ist 1939 Schauplatz des Kreispar- Brief des neunjährigen Friedrich Vortisch an seinen Das ehemalige Union-Kino in der Turmstraße beim Asal zu gehen, um dieses Bild abzuholen. Wir läute- teitags der NSDAP, Aufmarschplatz der Par- Vater. (privat) Bahnhof. (StALö 2.43.22; Foto: E. Zürcher) ten, es wurde uns geöffnet, eine goldene Uhr unter tei und ihrer Organisationen und auch jener einem glänzenden Glassturz ist mir in Erinnerung Platz, auf dem 1940 die Lörracher Juden vor und dann standen wir in der musealen Wohnung aller Augen abtransportiert worden sind. Das Unser erstes Gespräch hat den Rahmen Eines Morgens, etwa drei Wochen nach Kriegs- vor dem Bild, das Respekt einflößend an der Wand Vortischhaus steht in der Adolf-Hitler-Straße, gesteckt für seine erinnerten Ereignisse, die beginn, erschienen baumlange Luftwaffenoffiziere hing und nun abgenommen wurde. Es wurde eine die bald nach der Machtübernahme so von Briefe des Vaters an den Onkel in Südamerika und haben meiner Großmutter mitgeteilt, das ihr Decke darüber gebreitet, „weil das keiner zu sehen der Grenze in Riehen bis nach Tumringen ge- vor dem Krieg, die Tagebücher der Mutter und Sohn Este Maximilian gefallen sei. Da ich nicht ins braucht”. Wir verabschiedeten uns, mein Vater er- nannt wird. In der Adolf-Hitler-Straße steht Großmutter über die letzten Kriegstage. Besuchszimmer konnte, habe ich mich im Zimmer griff den Rahmen vorn, ich fasste hinten an, und auch die Stadtkirche. Vortisch hat für seine daneben hinter eine Glastüre gestellt – aus Neugier. wir gingen andächtig und mit äußerster Vorsicht Rede, in der es um Freiheit, Republik und De- Er erzählt, dass er immer wieder einmal Meine Großmutter schrie auf wie ein Tier und warf die Treppe hinunter und trugen das Bild über den mokratie der 1848er Jahre geht, einen guten interviewt worden sei. Aber ein Interview sich in einen Sessel, sie war völlig außer sich und Robert-Wagner-Platz [heute: Neuer Marktplatz] bis Ort gewählt. Er fährt fort: streift oft nur die Themen, es ist meistens ein konnte sich nicht beruhigen. Das ganze Haus war zur Adolf-Hitler-Straße 175 [heute: Tumringer Str.], Gespräch, in das andere Themen einließen. wie gelähmt, bald danach starb auch mein Großva- dort zwei Treppen hinauf bis ins Büro meines Va- Deshalb habe er sich entschieden, seine Er- ter. Es ist wohl eine meiner frühesten Erinnerun-

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gen. Es war ein einziger Schrecken, ich war noch Am 20. Juli 1944 waren meine Mutter und wir keine fünf Jahre alt. Meine Großmutter in einem Kinder in Schlechtbach im Gasthaus „Auerhahn“, solchen Zustand der Verstörung und Fassungslo- das zum Refugium für Regimegegner geworden sigkeit zu erleben, hat mich zutiefst beeindruckt. war. Die Berichte über das Attentat hatten alle in Hochspannung versetzt, besonders solange noch Am 2. Februar 1942 wollte meine Großmutter unklar war, ob das Attentat gelungen war. Mich als Perglas [Geburtsname der Großmutter] das Kino 10-jährigen Buben hat aber besonders die Reaktion besuchen und lud mich ein mitzugehen. Wie wir der Großmutter Perglas in Lörrach erschüttert. Sie zum Union-Kino am Lörracher Bahnhof kamen, geriet abermals völlig außer Fassung und brach zu- stand eine dichte Menge davor. Der Platz war nur sammen, als mitgeteilt wurde, dass Feldmarschall schwach beleuchtet, ein Mann verkündete, dass die von Witzleben am Fleischerhaken aufgehängt wor- heutige Vorstellung ausfalle, weil Stalingrad gefal- den war. Er gehörte wohl zum Umkreis der Solda- len sei. Man solle jetzt nach Hause gehen. Es ging tenfamilie Perglas, aus der meine Mutter stammte. aber niemand, vielmehr wurde die Menge größer Auch dass die alten Herren Maurath und Leible und dichter. Nach kurzer Zeit wurde die Aufforde- kurz danach in Haft kamen, erinnere ich mich. Die rung wiederholt, es bewegte sich nichts, auch eine Empörung über dieses willkürliche Vorgehen blieb dritte Aufforderung brachte nichts. Dann fing die mit ihrem Namen verbunden. (vgl. Text S. 68 ff.) Menge an zu murren, es ertönten Schreie, und es wurde langsam unheimlich. Ein letzter verzweifel- Mein Vater lehnte es ab, ein Radio anzuschaffen, ter Appell blieb erfolglos, als meine Großmutter weil er befürchtete, dann leicht wegen Abhörens sagte, wir sollten gehen, bevor noch etwas passie- ausländischer Sender beschuldigt zu werden. Als ren würde. Stalingrad war auch dem 8-Jährigen unsere Tante starb, erbten wir 1942 einen Volks- ein Begriff, der Vater des besten Freundes war dort empfänger. Er wurde mit Vorsicht benutzt. Dienst- vermisst. Das Datum der Kapitulation war mir na- boten sollen gefragt worden sein, ob die Herr- türlich nicht bekannt. schaften öfters „Ländler“ hörten. Das war eine Art Schweizer Volksmusik. Mein Schulfreund Hanspe- Ende 1943 erschien bei uns der mir bekannte ter Mayer, mit dem ich viel politisierte – der Va- Herr Hoff, der in unserem Büro gearbeitet hat- ter war in Stalingrad vermisst – hörte von seinem te, im schwarzen Anzug und kreidebleich. Mei- Großvater, der Arbeiter bei der Suchard war, regel- ne Mutter führte ihn ins Wohnzimmer. Er nahm mäßig, was Radio Beromünster gemeldet habe. Of- Platz, und auch ich setzte mich in einen Sessel. fenbar schöpften meine Eltern aus derselben Quel- Herr Hoff teilte meiner Mutter mit, dass seine Frau le. Das gaben sie nie zu. Ich aber wusste, dass sie in verstorben sei. Auf Nachfrage ergab sich sozusa- Gefahr waren, aber sie wussten nicht, dass ich das gen wortlos und nicht ausgesprochen, dass Frau wusste. Darüber wurde geschwiegen, und ich fühlte Hoff keines natürlichen Todes gestorben, sondern Verantwortung für meine Eltern. umgebracht worden war. Frau Hoff war Jüdin. Die Situation war für mich als 9-Jährigen immer un- Schon als kleiner Bub wurde ich zum „Keller- erträglicher und grausiger. Aber ich konnte nicht meister“ ernannt und durfte vom zweiten Oberge- entfliehen. Der Besucher verabschiedete sich, schoss des Kaufhauses Vortisch durch vier geschlos- und ich erfuhr im Klartext, was geschehen war. sene Türen mit einem riesigen Schlüsselbund in Die Szene ist mir in schrecklicher Erinnerung ge- den Keller steigen, sobald eine Flasche Wein oder blieben, die Konfrontation mit einer gewaltsamen Ähnliches geholt werden sollte. Als mein Vater im Tötung durch die Obrigkeit war für mich zutiefst Jahre 1944 einmal auf Urlaub war, meldete ich, dass Aufmarsch in der Stadtmitte, links das Kaufhaus Vortisch, rechts das Gasthaus Hirschen (heute Karstadt). erschreckend. noch eine Flasche Sekt da sei. Darauf meinte mei- (StALö Zü 19.56.29; Foto: E. Zürcher)

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ne um ein Jahr ältere Schwester Annemarie, ob wir Brief vom 21. V. 1933: cher Juden, vor dem nationalsozialistischen Rechts- Sonntagsbrief an Vati schreiben wir an Großmama, die trinken würden, wenn Hitler gestorben sei. Mit Die Onkel Reinhards und Hermanns schwimmen fest wahrerbund anhängig habe. […] und ich gebe ihr noch an, wo sie Verschiedenes verste- großem Ernst erklärte mein Vater, dass man nicht mit im allgemeinen Strom. Dass schwarz-weiß-rot ge- cken soll. In die heimelige Wirtstube kommt ein Jun- auf den Tod eines Menschen trinke, auch wenn er laggt wird, kann man sich ja noch gefallen lassen. Aber Brief vom 28. VIII. 39: ge aus Lörrach, der nach Gersbach ins Wehrertüch- Adolf Hitler sei. Diese Zurechtweisung und Grenz- letzthin hat Onkel Hermann in einem Augenblick, wo Heute, 15 Uhr, Telefongespräch mit Büro, Wehrmel- tigungslager den Befehl überbringt, dass die Kinder ziehung war so ernst und beeindruckend, dass ich beide Eltern und ich fort waren, eine Hakenkreuzfah- deamt lässt sagen, ich soll sofort kommen. […] Im Lau- heim dürfen. Endlich einmal eine vernünftige Maß- sie bewahrt habe. ne herausgehängt. Die Vorrichtung für die Fahnen war fe des Vormittags Wehrmeldeamt, Frühnachmittag Ein- nahme. Dieser Junge hat uns Briefe für die Großmut- in unserem Stockwerk des großen Hauses. Die Fahne kleidung, dann zur Truppe. Es laufen hier die wildesten ter mitgenommen. Friedrich Vortisch veröffentlicht in der Zeit- konnte man dann natürlich, ohne Aufsehen zu erregen, Gerüchte, auf Hitler sei ein Attentat verübt worden, 40 schrift „Badische Heimat”17 Briefe seines Va- nicht mehr einziehen. Der neuste Sport ist die Gleich- Personen seien erschossen worden. […] Falls wir uns Dienstag, den 24. April 1945: ters Friedrich Vortisch (1899 – 1991) aus den schaltung der Kirche. Das Alte Testament und der Apo- nicht mehr sehen, liebe Brüder, sage ich Euch ein herz- Als ich gestern Nachmittag gehört hatte, dass es in Jahren 1933 – 1940 an dessen Bruder Hanns, stel Paulus sollen gestrichen werden, was mit dem Juden liches Lebewohl und wünsche Euch recht viel Glück auf Fahrnau und Schopfheim Schuhe geben würde, hat es der 1923 nach Argentinien ausgewandert ist. Christus geschieht, ist noch nicht ganz heraus. Vielleicht Eurem ferneren Lebensweg. Mein heißer Wunsch ist, mich mächtig gelockt, noch einmal hinunter zu fahren. Vater Friedrich Vortisch hegt so großes Miss- wird er durch Hitler ersetzt. Beim Beten in der Kirche dass wir uns alle gesund und glücklich wieder sehen. Mit Frau Geist und einem Nefen von ihr bin ich nach trauen dem nationalsozialistischen Staat ge- wird man dann wahrscheinlich die Hand zum römi- (Briefe: StALö Nl 2.08 Vortisch) Fahrnau geradelt, gleich nach dem Essen ging es los. genüber, dass er die Briefe ausschließlich in schen Gruß erheben müssen. […] Schuhe gab es keine mehr, dafür erwischten wir etwas der Schweiz, vornehmlich in Basel, verfasst Die Familie Vortisch ist am Kriegsende in Stof. Die Rückfahrt machten wir über Hausen und die und dort auch zur Post bringt. Er ist auch sehr Brief vom 26. XI. 38: Schlechtbach, Ortsteil von Gersbach, im Gast- Schweigmatt. Wir waren noch zwischen Hausen und vorsichtig, welche Anlagen, wie etwa Schwei- In Lörrach konnten sie die Synagoge nicht anzünden, haus „Auerhahn”. Die Wirtsfamilie heißt Geist, Raitbach, als die Leute hinter uns hereilten und sagten, zer Zeitungsberichte, er den Briefen beifügt. weil sie mitten in den Häusern steht, und nicht spren- Vater Hermann Geist ist aus politischen Grün- Panzer kämen über den Maienberg [Höhe zwischen Er beginnt seine Briefe häuig mit dem Zusatz gen, weil ein hoher Mast mit elektrischen Leitungen den inhaftiert. Die Vortischs haben sich nach Wieslet und Hausen] nach Hausen. Bald darauf pif „aus der freien Schweiz”. Im September 1933 drauf steht. Es wurde deswegen nur kaputt geschlagen, dem Evakuierungsbefehl Ende 1944 dorthin es auch schon tüchtig auf die Bahnlinie und die Straße schreibt er gar, er sei dem Zuchthaus entron- was möglich war. Die Kolonne stand unter Führung zurückgezogen. Lörrach ist als so genannte im Wiesental. Wir konnten dann beobachten, wie die nen für wenige, schöne Tage in Engelberg. von St. Troendle [Inhaber des Geschäftes Woll-Troend- Frontstadt in die Maßnahmen der Rückfüh- Panzer bei Hausen über den Berg kamen. Die Situa- Seine Briefe enden 1940, als er eingezogen le, vgl. Text S. 36 f.) und Karl Glünkin. Und hier das rung, nationalsozialistischer Fachausdruck für tion war nicht gerade heimelig, da wir nicht wussten, und der Umweg über die Schweiz verunmög- zur Tragödie gehörende Satyrspiel: Die zwei stellten Evakuierung, einbezogen worden. Frau Ethel wohin sie fahren würden.“ licht worden ist. Hier Auszüge aus einigen eine ernsthafte Untersuchung darüber an, wo denn das Vortisch, Ehefrau von Friedrich Vortisch sen., Briefen: goldene Kalb hingekommen sei, das in jeder Synagoge beschließt, über die anstehenden Kriegswo- Mittwoch, den 25. April 1945: sein müsse. chen vom 22. April 1945 Tagebuch zu schrei- Die lüchtigen Parteileute könnten uns gefährlich Brief vom 22. III. 33: Dass alle männlichen Juden über 60 Jahre verhaf- ben. Sie schreibt jeden Tag über das Alltägli- werden, wer weiß, ob sie nicht Werwölfe spielen woll- Im Übrigen beschränken sich die Handlungen der tet und in Dachau sind, wo es ihnen übrigens erträg- che. Hier ein paar Auszüge: ten. Die vier Personen haben unmittelbar neben ihrem Regierung auf die Machtergreifung durch die National- lich gehen solle, werdet Ihr wissen, d. h. Dachau ist Hamsterlager mit Vorräten geschlafen. Sie gehörten sozialisten. Den Deutschnationalen und dem Stahlhelm für Süddeutschland, Weimar für Mitteldeutschland, Die Postverbindung mit meinem Mann ist endgültig zum Volkssturm. Im Laufe des Tages kommen noch- ist es schon wind und weh dabei. In vielen badischen Oranienburg und Buchenwald für Norddeutschland abgebrochen. Die militärische Lage spitzt sich zu. Es mals Parteileute auf der Flucht hier durch. Der Nefe Städten wurden viele Bürgermeister und Gemeinderäte zuständig. Der alte Moritz Bloch feierte am 9.XI. ge- geht mit Riesenschritten der Entscheidung entgegen. von Frau Geist hat heraus bekommen, dass die Leute, abgesetzt; hier in Lörrach ist es noch merkwürdig ru- rade die Goldene, sein im Ausland wohnhafter Sohn Hier wird das Leben interessanter und unruhiger. Damit auch die Frauen, Wafen mit sich führen. hig, nur dass der Schritt der braunen Bataillone auch die grüne Hochzeit in Lörrach. Beide wurden von der Friedrich aus dieser Zeit Kunde erhält, will ich mit mei- hier die Straßen erschüttert und die Weltgeschichte zu Festtafel weg verhaftet; der Alte versuchte noch ver- nen Kindern täglich Aufzeichnungen machen. Der Gestapo-Chef von Lörrach, Hahn, hat erschüttern glaubt. […] Soeben wird im Reichstag über geblich sich zu erhängen. Natürlich haben mich die mit seinem Team eine Hütte am Waldrand ein Ermächtigungsgesetz verhandelt, das Hitler alle beiden Frauen direkt, teils indirekt um Rat gefragt, Sonntag, den 22. April 1945: bei Schlechtbach bezogen. Die Hütte ist wohl Macht in die Hand gibt und nicht nur den Reichstag, wie die Freilassung der Männer erwirkt, wie ihre Beim Erwachen sehen wir zu unserem Bedauern, für die Flucht mit Vorräten bestückt worden. sondern auch den Reichsrat, Reichswirtschaftsrat, das Auswanderung ermöglicht werden kann. Dabei muss dass das Wetter umgeschlagen hat. Es schneit erheb- Französische Soldaten haben nach ihrer An- Volk selbst und den Reichspräsidenten für die nächsten ich außerordentlich vorsichtig sein, weil ich z. Z. drei lich, der Schnee bleibt aber nicht liegen. Wir sitzen kunft in Schlechtbach die Hütte mit Geschüt- fünf Jahre völlig entmachtet. Schweinereien, davon eine wegen Vertretung zahlrei- wohl den Tag über in der geheizten Stube. Statt dem zen zerstört. Die Hahn-Gruppe hatte sie

146 147 Dreiländermuseum Lörrach Erinnerungen wie „zufällige Lichter“ Erinnerungen wie „zufällige Lichter“

jedoch längst schon verlassen. Die Schlecht- französischen Posten kontrolliert worden. […] Mama dere Lebensmittel sorgen. Brot gab es keines mehr, aber ßen, die Schlösser sind kaputt und die Schlüssel verlo- bacher haben dabei die Häuser verlassen ist seit zwei Wochen in unserer Wohnung. Sie hat die meine Butter habe ich noch bekommen, von Fleisch nur ren. Ich schlief nur etwa zwei Stunden und war schon müssen, weil Übergriffe aus dem Hinterhalt Tage des Einmarsches ganz gut überlebt. Wir haben noch Hackleisch und ein Stück Blutwurst. Nun muss ich um 7 Uhr angezogen und wollte mir gleich Kafee ko- befürchtet worden sind. schon sehr viel Glück gehabt, dass wir an materiellem mir eben damit durch die Woche hindurch helfen. chen. Erste Überraschung: Kein Wasser! Ich lief gleich, Schaden in diesem Krieg wenig opfern mussten. Mama Gestern, am Montagnachmittag gegen 5 Uhr, ging ich holte mir eine Kanne und Eimer, um am Hirschenbrun- Sonntag, den 6. Mai 1945: wollte wissen, wann wir wieder nach Hause kommen nochmals aus und verließ gerade den Laden von Herrn nen Wasser zu holen. Die Haustüre geht nicht auf, auch Der heutige Tag war wieder einmal sehr bewegt. werden. Sie war sehr enttäuscht, als ich sagte, dass wir Maier am Markt, als eine wilde Fliegerjagd begann, die da ist das Schloss kaputt. Ich laufe zu Reinhards, um Schon früh vor 6 Uhr brausten in den verschiedens- noch einige Zeit in Schlechtbach bleiben wollten. schossen wie verrückt und rasten über die Stadt. Ich saß den Torschlüssel zu holen, ihr Mädchen geht auch gleich ten Fahrzeugen die Franzosen durch oder sie kehrten bei Maiers im Keller mit vielen anderen fast eine Stunde mit, und wir sind bald an der Reihe am Brunnen. Schon bei uns ein. Eine Säuberungsaktion wird durchgeführt. Donnerstag, den 10. Mai 1945: und sauste dann in einer Pause heim. Die Flieger logen um 9 Uhr fangen die Soldaten an zu klingeln und wollen Herr Geist muss mit nach Gersbach fahren, die Nazi- Heute ist der Geburtstag von J.P. Hebel. Ob es wohl im ganz tief. Wir hörten, dass unser Haus getrofen war. mit plündernden Frauen herein. Wir lassen es unbeant- Vögel werden dort geholt. Bei einem unverbesserlichen nächsten Jahr gestattet wird, diesen Tag in alt gewohnter Als sie vorüber waren, rannten wir los und besahen uns wortet. Um 10 Uhr kracht es, die Scheibe geht in Trüm- Nazi inden die Franzosen Bilder von Parteiversamm- Weise zu feiern? Denn viel Freiheit werden sie uns nicht den Schaden von außen. An der Liftwand war ein Stück mer, etwa 30 Frauen und einige Soldaten rennen in das lungen und ähnlichem. Nazi-Gelichter ist von den lassen. Auch Tante Grete hat heute Geburtstag, ob sie weg, bei Jaudas [benachbartes Uhrengeschäft] an unse- Geschäft der Onkels. Franzosen mitgenommen worden. Sie sitzen in Last- am Leben geblieben ist und wie es ihrem Mann geht? rer hohen Hauswand waren 20 Einschläge. Inzwischen autos. Die Häuser werden auf Wafen und Soldaten Freiburg wurde kurz vor der Besetzung erheblich aus der kamen schon die Autos von Tumringen her, und nun Samstag, 28. April 1945, dritter und vierter Tag der untersucht. […] Ich wollte mir die Gelegenheit nicht Luft und durch Artilleriebeschuss zerstört [27. Novem- dauerte das schon den ganzen Nachmittag seit 2 Uhr. Besetzung: Der dritte und vierte Tag brachten noch viel entgehen lassen und bat einen Franzosen, nach Fried- ber 1944], weil sich SS dort festgesetzt hatte. Wir haben Es kamen auch zwei Panzer und rüttelten ordentlich Unruhe, hauptsächlich aber war die 3. Nacht schreck- rich zu forschen. Ich weiß ja nicht, ob Friedrich noch das von einem tunesischen Soldaten hier gehört. an unserem Haus. Viele fahren zur Grenze, staubige, lich unruhig, und es stellte sich am Morgen heraus, dass lebt. Wenn er sich für dieses Regime geopfert hätte, (Quelle: Tagebuch, privat) dreckige, voll beladene Wagen, alles ist in großer Un- schon ein Teil der Truppen weiter gekommen war. Am wäre es für mich entsetzlich gewesen. Ich habe es nach ordnung. Ich halte die Läden geschlossen und spicke nur zweiten Tag mussten alle Straßensperren entfernt wer- reilicher Überlegung gemacht, den Franzosen die An- Das Tagebuch von Ethel Vortisch endet am durch. Ein Auto kam vom Bahnhof her mit einer weißen den, und Männlein und Weiblein mussten antreten und gaben zu geben, wo mein Friedrich sein könnte. 19. Mai 1945. Sie entschließt sich, vorerst in Fahne; diese wurde von den Franzosen entgegen genom- bis Abend musste alles ausgebessert sein. Man sah viele Schlechtbach zu bleiben, die Versorgungsla- men, damit war die Stadt dem Feind übergeben. Es ist Gesichter, die früher vergnügter in die Welt geschaut ha- Montag, den 7. Mai 1945: ge ist dort besser. Im Juni 1945 kommt Vater ein großer Lärm in den Straßen. Die Franzosen richten ben. Auch an diesem Tag kamen immer noch Soldaten Durchs Radio erfahren wir, dass Deutschland be- Friedrich Vortisch nach Hause. sich im „Hirschen” ein. und wollten in die Wohnung. Inzwischen war überall dingungslos kapituliert hat. Endlich hört das sinnlose Endlich ist aber doch der Abend herein gebrochen, die angeschlagen worden, dass Plündern bei Todesstrafe Sterben auf. Aber es war wohl nötig, dass der Krieg Auch die Großmutter von Friedrich Vortisch, Soldaten mit ihren Maschinengewehren sind abgezogen, nunmehr verboten sei. Am Tage zuvor war auch das bis zum bittren Ende dauern musste, sonst wäre es Minna Vortisch-Großmann, schreibt einen Be- der Unteroizier sagte, wir sollten das Haus schließen. Schuhhaus Unmuth ausgeraubt worden. Ich habe jetzt für viele nicht klar geworden, was uns diese Partei be- richt an „meine lieben Großkinder”. Sie be- Ich habe noch in die Turmstraße geschaut und sah, dass zu meinem Schutz die Schweizer Fahne an die Korri- schert hat. Wir sind alle wie erlöst, dass alles vorüber ginnt am 24. April 1945 und endet am 29. Schwald [Schuhgeschäft] ganz ausgeplündert worden dortüre gehängt, weil ich geborene Schweizerin bin. Das ist. Wenn wir die Übergangszeit überwunden haben, April 1945: ist, fast jeder brachte eine Schuhschachtel oder Stiefel. macht viel aus. Meine Karte habe ich darüber geheftet. dann kann es wieder bergauf gehen. Unsere Französin „Kaisers Kafeegeschäft” wurde wohl auch ausgeplün- Ob es erlaubt ist, weiß ich nicht, aber der Krieg erlaubt [das ist eine Zwangsarbeiterin gewesen, die zugewie- Dienstag, 24. April 1945, Kriegsende in Lörrach: dert, sie liefen aus und ein. Die einzige Erleichterung manches in diesen Tagen. […] Ob Herr Geist wieder zu sen worden ist.] möchte wegen Papieren für die Heim- Heute sind die Franzosen bei uns eingezogen. Und ist, dass die Flieger abgezogen sind und es nicht mehr Hause ist? reise nach Lörrach gehen. Mich interessiert es, wie es nun will ich Euch der Reihe nach erzählen, was wir in schießt. (Quelle: Bericht, privat) daheim aussieht, und so entschließe ich mich, mit der den letzten Tagen erlebt haben. Am Samstag kam die Französin per Rad nach Hause zu fahren. Nachricht, dass die Amerikaner schon in Müllheim ein- ziehen, und da ich noch bei Tante Lissy wohnte, war das Mittwoch, 25. April 1945, zweiter Tag der Besetzung: Dienstag, den 8. Mai 1945: für mich das Signal, dass ich nun in die Wohnung heim Was gestern am ersten Tag noch Aufregung war, ist heu- Nachdem die Französin eine Genehmigung für die müsse. Wir hatten schon den ganzen Tag Alarm. Am te bittere Wirklichkeit. Schon heute in der Nacht glaubte Reise nach Lörrach besorgt hatte, sind wir gestern um Montag schoss es und krachte es auf alle Arten, trotz- ich Geräusche an der Haustüre zu hören, dabei schlafe 7 Uhr von hier weg. Es ist schönes Wetter, nur etwas dem rannten alle Leute wie besessen von Geschäft zu ich ganz allein in der großen Wohnung und konnte we- kühl. Wir sind in Steinen an der Brücke von einem Geschäft. Jeder wollte einkaufen und für Brot und an- der die Korridortüre, noch meine Zimmertüre abschlie-

148 149 Dreiländermuseum Lörrach Ramadan am Kriegsende in Lörrach Ramadan am Kriegsende in Lörrach

Ramadan am Kriegsende in Lörrach Beigeordneter sowie als Kirchengemeinderat hatte er was tatsächliche Erinnerungen, was bloße Erzählungen einen entsprechend großen Freundes- und Bekannten- sind. Unbestechliche Hilfestellung gibt mir heute noch Gespräche mit Peter Jensch (Jhg. 1938) ab 13. Juni 2014 über einen Beitrag seines Bruders Joachim Jensch kreis. Bei uns ging alles ein und aus: Fabrikanten, Ju- der Pultkalender meines Großvaters aus jenen Jahren. (1940 – 2013) in „Badische Zeitung“, 17. Mai 2005. Der Beitrag gehört zu einer Serie zum Thema „60 risten, Gymnasiallehrer, Beamte und Künstler. Zu den Akribisch genau hat er seinerzeit alles meist kommen- Jahre Kriegsende“. Peter Jensch liest den Text seines Bruders erstmals, geht den Textauszug, den ich vor- vielfach regelmäßigen Besuchern, die zum Mittag- oder tarlos notiert. Jeder Tag begann mit dem Eintrag des gelegt habe, mit mir durch und autorisiert meine Vorlage. Abendessen oder „zu einem Glas Wein bis halb 1 Uhr” Wetters, dann folgten die genauen Zeiten von Voralarm blieben, gehörten u.a. auch der Bildhauer Max Laeu- und Alarm und dann die alltäglichen Dinge, von Auf- ger und die Künstlerbrüder Adolf Strübe und Hermann tragsanfragen im Betrieb über Krankmeldungen, ärger- Burte. Für mich war dies das normale Leben. lichen Volkssturmeinzügen von Betriebsangehörigen bis Die Lörracher kennen Peter Jensch. Frühmorgens geht er schon durch die Stadt, ernst und Mein Vater war ein in Sestri Levante [an der itali- hin zu geograisch genau notierten Abendspaziergängen aufrecht, er scheint immer in Gedanken zu sein. Wenn man ihn grüßt, glaubt man zuweilen, enischen Riviera] geborener Sohn des Grand Hotel- und privaten Besuchen „zum Tee” oder „zu einem Glas ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Sehr freundlich und zugewandt grüßt er zurück, und die Besitzers Jensch mit italienischem Pass. Den behielt er Wein”. anfängliche Scheu ihn zu stören ist weg. Am politischen Geschehen der Stadt ist Peter Jensch, auch nach der Heirat, und selbst meine Mutter nahm Jurist, seit Jahrzehnten beteiligt. So zurückhaltend wie er manchmal erscheint, so einsatzbe- die italienische Staatsbürgerschaft an. In Zeiten der Aus dem Pultkalender des Großvaters Fritz reit ist er für Angelegenheiten, die er für richtig hält und denen er sich verplichtet fühlt. deutsch-italienischen Allianz ein vielleicht besonders Kern: zu würdigender Akt. Jedenfalls, auch wir Kinder waren somit selbstverständlich Italiener – übrigens bis 1962. 1969 wird Peter Jensch Mitglied der FDP. zweiter Beigeordneter der Stadt Lörrach, also Mein Bruder ließ sich während seines Studiums bereits Samstag, 24. Februar 1945 – schön 0 Grad – 8.30 Der Rechtsanwalt ist ab 1980 fast 20 Jahre Stellvertreter des NS-Bürgermeisters Rein- 1961 einbürgern. In meinen Ausweispapieren standen Voralarm, 9.30 Alarm, 9.45 Voralarm, 15.00 Alarm, lang Stadtrat und während dreier Wahlperio- hard Boos. Joachim Jensch hat in der Badi- als Vornamen Giovanni Gioacchino. 15.15 Voralarm, 17.00 Alarm, 17.10 Voralarm. 4 Flie- den auch Mitglied des Kreistags. Ich begegne schen Zeitung einen umfangreichen Beitrag Nach der Heirat 1937 trat mein Vater als kaufmän- ger werfen Bomben in Richtung Gysinplatz (Daur-Hütte Peter Jensch im Dreiländermuseum bei Füh- zur Serie „60 Jahre nach Kriegsende” am 17. nischer Leiter in den Betrieb seines Schwiegervaters ein. auf dem Tüllinger Berg), jedenfalls wollten sie Batterien rungen oder Vorträgen. Dort kommen wir ins Mai 2005 veröffentlicht und dazu den Pultka- Lediglich mein Vater musste am Ende des Krieges in angreifen. Um 15.00 brausen 26 Maschinen über uns Gespräch. lender des Großvaters ausgewertet. Aus dem den Volkssturm. Er verbrachte dabei die meiste Zeit mit weg, vermutlich haben sie in der Schopfheimer Gegend Im Stadtmodell von Lörrach 1880, in der Beitrag von Joachim Jensch: Schanzarbeiten im Rheinvorland und am Isteiner Klotz Bomben geworfen. – Nein, in Brombach, sie galten der Wirtschaftsabteilung des Museums aufge- wie übrigens viele Bewohner der Lörracher Umgebung – Firma Ate; man spricht von 25 Toten. Von heute ab stellt, ist die Schlosserei Kern unter vielen Meine Kindheit verbrachte ich wohlbehütet in einer auch meine Tanten und oftmals an Wochenenden ganze schließt der Betrieb an Samstagen um 12.00, damit die Textilfabriken einzigartig. Die Fabrikanten bürgerlichen Großfamilie. Mein Großvater, Fritz Kern Betriebsbelegschaften. Leute warmes Essen bekommen. brauchen für ihre Textilmaschinen einen tüch- (1886-1973), war Fabrikant und betrieb mit etwa 80 Am Tag nach dem 8. Mai 1945, an dem mein Groß- tigen Schlosser. Die Firma, 1842 gegründet, Arbeitern und Angestellten eine Werkzeugmaschinenfa- vater lakonisch und ohne Kommentar in seinen Pultka- Weiter in den Erinnerungen von Joachim ab 1930 spezialisiert auf den Bau von Dreh- brik. Meine Großmutter, Ruth Kern, geb. Reinau (1892- lender „Les autres célèbrent” und daneben „Victory day” Jensch: bänken und Drehmaschinen, beindet sich in 1989) hatte sich bei Hans Huber in Basel als Pianistin eingetragen hatte, am Tag danach also feierte ich mei- den 1930er Jahren in der Höhe der Pforte der ausbilden lassen. Ihre Profession opferte sie jedoch in nen 5. Geburtstag. Wer dachte an diesem 9. Mai 1945 Für ein Kind waren es die kleinen visuellen Wahr- KBC (heute südlich des Meeraner Platzes). den Jahren nach der Heirat 1913 mehr und mehr dem wohl an den 140. Todestag von Friedrich von Schiller nehmungen, die haften blieben. Zum Beispiel: Wenn Fritz Kern ist damals Inhaber der Maschinen- folgenden Kindersegen. und noch einen Tag später, am 10. Mai 1945, an den Belaggung angeordnet war, wurde die Hakenkreuzfah- fabrik Kern. Mein Großvater war privat ein Schöngeist und ver- 185. Geburtstag von Johann Peter Hebel? Ich war zu ne durch unser Kinderzimmer, das zur Straße hin lag, Peter und Joachim Jenschs Vater Hans wirklichte sich hinter dem Fabrikareal zu unser aller klein, um an beide zu denken, da ich sie schlicht noch getragen und in die Dreieckvorrichtung an der Haus- Jensch (1904 - 1969), verheiratet mit Vreni Freude und Genuss sein persönliches Arkadien: Großer gar nicht kannte. wand eingesteckt. Das empfand ich immer als schöne Kern (1915- 1990), also Schwiegersohn von Garten mit Obst, Gemüse, Blumen, einer Rosenzucht Im Alter von 5 Jahren hat sich beim Kind eine Beob- Abwechslung. Ebenso schön fand ich es aber später dann Fritz Kern, wird kaufmännischer Leiter in der mit Gewächshaus, großem parkähnlichem Baumbe- achtungsgabe entwickelt, welche später als erinnerungs- auch, als erstmals die badische Fahne eingesteckt wur- Maschinenfabrik. Im Zuge der Gleichschal- stand und einem 20 x 10 Meter großen Schwimm- würdig herangezogen werden kann. So reichen meine de. Rein aus ästhetischen Gründen fand ich die badische tung des Lörracher Stadtrats 1933 wird Fritz bad mit Rutschbahn und Badehäuschen [heute an der ersten Erinnerungen auch etwa in jenes Alter zurück, in Fahne aber schöner, weil ich rot und gelb als leuchtender Kern als bisheriges Mitglied der Deutschna- Marie-Curie-Straße]. Er führte ein sehr geselliges und die Zeit um das Kriegsende im Jahre 1945. Vieles ver- und heimeliger empfand. tionalen Partei zunächst Stadtrat und dann großzügiges Haus. Als Mitglied des Stadtrates und 2. mischt sich später jedoch und nährt die Ungewissheit,

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Regelrecht spannend und lustig zugleich fand ich die der der Volkssturmeinheit, der mein Vater angehörte, germeister ein. Die schriftlichen Aufzeichnungen meines war Verdunkelung angewiesen worden. Das heißt, die häuige Flucht in den Luftschutzkeller bei Sirenenalarm. sich über den Schwarzwald aus Freiburg abzusetzen. Großvaters decken sich jedoch nicht mit meinen Erinne- Fensterläden mussten geschlossen bleiben. Plötzlich Ein bei uns internierter Pole, hoch gewachsen, blond, […] Am nächsten Tag, dem 22. April, wanderten sie rungen. Doch etwas für uns Kinder Erregendes geschah hörten wir ein dumpfes Trommeln, das immer näher schnappte mich immer als ersten unter den Arm und zu Fuß über den Schauinsland, Halde, Notschrei nach trotzdem. Aus den Aufzeichnungen meines Großvaters kam. Wir spickten durch die Fensterritzen und sahen stürmte mit mir, begleitet von meinen Jubelschreien, in Muggenbrunn, von wo mein Vater im Gasthaus „Grüner im Pultordner, nachdem er die ersten Verhandlungen am ein gewaltiges Spektakel: An der Spitze des Zuges trot- den Keller hinunter. In den letzten Monaten vor Kriegs- Baum” bei uns zu Hause anrief. Abends erreichten sie 24. April beschrieben hatte: tete ein festlich geschmückter Hammel mit einem ori- ende, als die Sirenen immer häuiger aufheulten, ent- noch das letzte „Todtnauerli” nach Zell (die mittlerweile entalischen Teppich auf dem Rücken. Dann folgten die schlossen sich meine Eltern, uns Buben ins Souterrain eingestellte Bahn zwischen Todtnau und Zell). Von Zell „Als ich abends nach Hause kam, wimmelte das zu verlegen, in ein Zimmer, das meist zum Wäschetrock- marschierten sie dann nachts der Wiese entlang nach Haus vor Einquartierung. Ruth muss auf dem kleinen nen und Bügeln verwendet wurde. Von hier aus war es Lörrach, wo sie zur Geisterstunde eintrafen. Herd und später auf dem Feuerherd kochen. 28 Mann nur ein Sprung über den Flur zur Kellertüre. und 3 Oiziere sind da und logieren (auf dem großen Am 23. April notierte mein Großvater weiter: Speicher) über dem Büro. Im technischen Büro wird ein Ostermontag, 2. April 1945: Taufe meiner Schwester „Um 17 Uhr mit Burte, Peter und Joachim an den Hilfslazarett eingerichtet.” Monika. Aus Sicherheitsgründen wollte meine Mutter Zoll. Auf dem Heimweg am Stettener Bahnhof erschie- mit dem Kleinkind nicht auf die Straße und in die Kirche. nen 8 Tielieger, die während 30 Minuten auf die Stadt An diese Einquartierung erinnere ich mich noch ganz Also vereinbarte man eine Haustaufe. Um 11 Uhr kam mit Bordwafen schossen und einen Güterzug in Brand genau. Es waren alles Marokkaner, die ein großes Herz Dekan Hans Katz mit dem Kirchendiener Dürrmeier steckten. Wir saßen bei Zimmermeister Storz im Luft- für uns Kinder hatten, vor allem für unsere zwei Monate und taufte in unserem Wohnzimmer die Kleine. Zuvor schutzkeller. Nachher mit Hans 1 Glas Wein getrun- alte Schwester, die bei schönem Wetter im Hof in ihrem hatte meine Mutter Anweisungen erhalten, was sie zur ken.” Stubenwagen immer leicht lächelnd dahin schlummerte. Taufe alles zu richten hatte. Auch das Taufwasser. Und Wir wurden mit Bonbons und Schokolade gefüttert. Sie als erstes, was der Kirchendiener, ein altes buckliges Am Tag darauf, am 24. April, einem Dienstag, wurde spielten mit uns auf dem Hinterhof und einer fuhr un- Männlein, prüfte, war die Temperatur des Taufwassers. Lörrach von den Franzosen, der Division d’lnfanterie ter tosendem Gelächter aller im Hinterhof mit meinem Er steckte die Hand ins Wasser und meinte: „Es dürfte coloniale und einer Kampftruppe der französischen Dreirad eine Ehrenrunde. Ich beobachtete diese Szene ein bisschen wärmer sein”. Aus unserem Blumengarten Panzerdivision, eingenommen. mit eher gemischten Gefühlen und war letztlich gottfroh, hatte mein Großvater die ersten beiden Maréchal-Niel- mein geliebtes Rädli wieder heil in Empfang nehmen zu Rosen geschnitten, die einen betörenden Duft im Zim- Aus den Aufzeichnungen meines Großvaters: dürfen. mer verbreiteten. Den Schmuck vollkommen machten „Morgens 5 1/2 Uhr starke Sprengung. Zwischen 7 noch einige herrlich blühenden Forsythienzweige. und 8 starke Sprengung im Munitionslager Haagen. Ab Die Anwesenheit der Marokkaner wurde unser tägli- 1/2 11 Uhr Bordwafen- und Artilleriebeschuss bis 12 ches Leben. Gegenüber im Aichele-Park, in der unteren Am Ende des Krieges, im April 1945, wurde die Volks- Uhr. Ab 13 Uhr hört man Panzer fahren.” Aichele-Villa, befand sich das Gouvernement militaire sturmeinheit meines Vaters in die Freiburger Gegend und einer der dort beschäftigten Oiziere, auch Ma- verlegt. Eintrag meines Großvaters im Pultkalender: Kurz nach 14 Uhr wurde mein Großvater als 2. Bei- rokkaner, zog mit seiner ganzen Familie bei uns ein. geordneter des Lörracher Gemeinderates von den Fran- Wir mussten uns häuslich noch mehr einschränken. „22. April 1945: Nachmittags 2 Uhr kommt ein Te- zosen aufs Rathaus bestellt, um als Bevollmächtigter der Der Sohn des Oiziers, etwas älter als ich, bewohnte lefon aus Muggenbrunn von Hans, dass er dort zu Fuß Stadt die Übergabeverhandlungen zu führen. Der Bür- unser Kinderzimmer, und als die Familie später nach von Freiburg her angelangt sei. Welche Freude. germeister, Reinhard Boos, lag unter Bewachung im La- der unmittelbaren Besatzerzeit wieder auszog, waren zarett. Diese Verhandlungen dauerten bis zum 2. Mai. alle Wände des Kinderzimmers mit Tinte bespritzt. Ich 23. April 1945: Hans ist nachts um 1 Uhr eingetrof- Es handelte sich vor allem um Energie- und Versor- heulte vor Wut. fen. Er war sehr mitgenommen.” gungsfragen, um Einquartierungen und damit verbun- dene Bereitstellungen von Hallen, Schulen, Verplegung Richtig aufregend wurde es dann am Samstag, 8. Sep- Später erzählte er uns die ganze Geschichte seiner und Heizmaterial sowie um die Beamtenentlohnung. tember 1945, an den ich mich noch genau erinnere. Die „Flucht”. Nachdem sie festgestellt hatten, dass sie gegen Marokkaner feierten Ramadan. Dazu hatten sie Tage die französischen Besatzer keine Chance haben würden, Am 2. Mai wurde mein Großvater abgelöst. Die zuvor bereits zwei große Lehmherde in unserem Garten Eine Seite aus dem Pultkalender von Fritz Kern. beschlossen die wenigen noch verbliebenen Mitglie- Franzosen setzten an diesem Tag Josef Pfefer als Bür- hinter dem Fabrikgelände aufgebaut. An diesem Abend (privat)

152 153 Dreiländermuseum Lörrach Ramadan am Kriegsende in Lörrach Rettung des Gaswerks Lörrach

Trommler und dann die Fackelträger. Alle marschierten Ab Juli 1945 bis Mai 1946 wurde die Fabrik demon- Rettung des Gaswerks Lörrach in extrem langsamem Schritt. Gespenstisch! Es war je- tiert. […] Alle paar Wochen erschienen französische Of- doch nur eine kurze Wegstrecke. Vom Gouvernement iziere und beschlagnahmten wahllos Maschinen. Letzte Nach einem Aufruf des Stadtarchivs 1981, Berichte zum Kriegsende in Lörrach einzusenden, hat Julius militaire zogen sie ein kurzes Stück Basler Straße hin- Beschlagnahmungen von Maschinen geschahen sogar Welte den folgenden Beitrag verfasst: auf, bogen oberhalb unseres Hauses in die Fabrikstraße noch bis 1947. Mein Großvater war oft der Verzweif- ein, um auf der Straße zwischen der KBC und unserer lung nahe. Einerseits kamen die Belegschaftsmitglieder Fabrik auf das Gelände unseres Gartens zu gelangen. wieder aus der Gefangenschaft oder der Verhaftung und wollten arbeiten, Aufträge kamen auch wieder herein, Am 24. April 1945 wurde das Gaswerk Lörrach Gang zu setzen, aber die Sprengung blieb aus. Die Am Sonntag, 9. September, schrieb mein Großvater in andererseits fehlte es uns an Maschinen. wegen Fliegerangriff außer Betrieb gesetzt. Die meis- Brücke blieb für uns Lörracher erhalten. den Pultkalender: (Quelle: Pultkalender von Fritz Kern, privat) ten Lörracher haben das nicht einmal zur Kenntnis „Ab 10 Uhr regnerisch. – 8 Uhr Kirche, Dekan Katz, genommen. Wir Mitarbeiter des Gaswerks wurden Im Werk ging alles seinen gewohnten Gang. Auf Römer 7,23. – Ab 10 Uhr Hammelbraterei im Garten.” aufgefordert, mit einem Koffer Wäsche und Kleider der Schicht waren der Obmann, ein Deutscher, zwei ins Gaswerk zu kommen. Französische Truppen Polen, ein Grieche und ein Italiener. Gewissenhaft Von weitem, erinnere ich mich, konnte man den für hatten am 23. April schon Weil und Binzen einge- kamen fast alle Werksangehörigen zur Arbeit, so- uns ungewöhnlichen Duft riechen, den Rauch aufsteigen nommen. Es war uns allen klar, dass das Werk nicht gar die Frauen. Um 9 Uhr gab es Fliegeralarm. Alle sehen und dumpfe Trommeln hören. mehr lange in Betrieb sein konnte, weil der Feuer- wurden in den Luftschutzraum befohlen. Kaum schein beim Laden der Öfen kilometerweit sichtbar hatte ich als Letzter den Keller betreten, als auch die war. Am Morgen des 24. April wurden wir unsanft Flieger mit ihren Bordwaffen auf den prallgefüllten geweckt: Die Eisenbahnbrücke in Stetten war ge- Gasbehälter schossen. 99 Einschüsse wurden später sprengt worden. Am 24. April wurde die übliche gezählt. Da kam die Meldung, dass der Gaskessel Arbeit früh morgens erledigt. Hinten am Gleis der brennt. Als Maschinist musste ich den Betrieb still Industriebahn legten ein paar Leute Kabel zur Wie- legen, denn alle Maschinen waren noch in Betrieb. sebrücke an der Teichstraße, um diese zu sprengen. Im Laufschritt erreichten ich und Meister Hartwig Ich fragte den Unteroffizier nach seinem Vorhaben. den Maschinisten-Bunker, der uns etwas Sicherheit Er pfiff mich an, dass mich das gar nichts anginge. bot. Auch die Panzer von der Lucke schossen auf Es kam zu einem Wortwechsel, der Unteroffizier das Werk. Glücklicherweise hielt die große Eiche drohte, mich zu erschießen, falls ich ihn hindern an der Wiesebrücke die Granaten dort ab. Der Gas- wollte an der Sprengung. Ein Volksturmmann, der behälter sank immer tiefer; wenn er leer geworden Wache an der Brücke hatte, setzte sich für mich ein. wäre, hätte es unweigerlich eine Gasrohrexplo- Wir versuchten dem Unteroffizier klar zu machen, sion gegeben, die vielen den Tod gebracht hätte. was bei der Sprengung der Brücke passieren könn- Es gelang uns, trotz der ständigen Einschläge alle te. Während des Wortwechsels kamen noch andere Maschinen abzustellen und sämtliche Schieber zu Volkssturmmänner hinzu, alles Lörracher, die sich schließen. Glück hatten wir auch mit dem Wetter, in die Diskussion einschalteten. Diese Gelegen- die Sonne schien von heiterem Himmel und das heit benutzte ich, ging hinter das Stallgebäude des Gas blieb wie eine Wolke über dem Werk stehen. Schlachthofs und durchschnitt die gelegten Kabel Der Panzerbeschuss hörte auf, man hörte nur noch mit einer Kombizange; dann stellte ich mich wieder das Zischen der großen Stichflammen aus dem zu den diskutierenden Volkssturmmännern. Jener Gasbehälter. Glück war auch, dass die großen Teer- Unteroffizier fuchtelte jedoch mit einer MP und behälter oben unter dem Dach des Turmgebäudes gab den Befehl, den Platz zu räumen. Er nahm den nicht getroffen wurden, denn sie waren randvoll. Umzug der französischen Besatzungstruppen: Ma- Sprengapparat, stellte ihn zwischen die Gleise beim rokkaner zum Ende des Ramadan. Im Hintergrund Stallgebäude; da bemerkte er, dass ich gegen das Sofort gingen wir unter Leitung von Direktor der Schlagbaum an der Grenze zur Schweiz. Turmgebäude Zeichen gab und dort etliche Leute Ludwig an das Löschen der Stichflammen am Gas- (StALö 2.65.216) auf der Lauer lagen. Er versuchte den Apparat in behälter und zwar mit Holzzapfen und langen Lat-

154 155 Dreiländermuseum Lörrach Rettung des Gaswerks Lörrach Der letzte Kriegstag in Lörrach aus der Sicht eines Volkssturmmannes

ten, welche wir vorne mit Lehmklumpen belegten Der letzte Kriegstag in Lörrach aus der Sicht eines und auf die offenen Stellen drückten. So erstickten die Flammen. An der Aktion beteiligten sich auch Volkssturmmannes Otto Maier, Adolf Österle und zwei polnische Ar- beiter. Wir hatten großes Glück, nicht einmal die Diesen Beitrag hat Martin Kaltenbach (Jhg. 1928) auf meine Anfrage 2014 erstellt. Leute des Wohnblocks der Tuchfabrik hatten eine Ahnung von der Gefahr, sonst hätte es in den voll- besetzten Luftschutzkellern eine Panik gegeben. Dann kam die Ungewissheit, was dieser Tag noch Im April 1945 wurde ich nach Entlassung aus der Gruppe erinnern, die gemeinsam losgezogen wäre. bringen würde. vormilitärischen Ausbildung zum Volkssturm ein- Möglichweise hatten sich einige Kameraden bereits (Quelle: StALö HA 396a/1) gezogen. Unsere Kompanie bestand überwiegend am Vorabend aus dem Staub gemacht. Ich mar- aus 16-jährigen Jugendlichen, die aus verschie- schierte jedenfalls allein über das Wiesengelände densten Gründen nicht zum Militärdienst einge- in Richtung Lörrach, um dort die Maschinenfabrik zogen waren. Einige waren als Flakhelfer entlassen Kaltenbach zu erreichen. Es war mir klar, dass die worden, andere waren noch nicht eingezogen wor- Gefahr bestand, jederzeit von einem fanatischen den. In meinem Fall hatte ich zwar nach dem 16. Nationalsozialisten gefasst zu werden. Im Gespräch Geburtstag im September den Stellungsbefehl er- mit Gleichgesinnten hatten wir uns vorgenommen, halten, war aber zunächst zum Schanzen, d. h. zum in keinem Fall einem solchen Befehl zu gehorchen. Ausheben eines Panzergrabens, in die französischen Wir trugen zu diesem Zweck unter der Uniform Vogesen abkommandiert worden. eine Pistole mit uns und waren entschlossen, uns notfalls zur Wehr zu setzen. Die Gruppe bestand aus etwa 30 bis 40 Jugend- lichen, kommandiert von einem Leutnant des Hee- Ich hatte Glück, auf dem Weg niemandem zu be- res. Einquartiert waren wir in einem Saal in Haagen, gegnen, konnte aber den ganzen Hang des Tüllinger wo wir alle gemeinsam auf dem Boden schliefen. Berges überblicken. Oben stand ein abgeschossener Als Uniform trugen wir gescheckte Tarnanzüge. Panzer. Über den Hang liefen die französischen Dies veranlasste die Großmutter meiner Verwand- Soldaten völlig ungeschützt. Ich dachte mit Schre- ten in Haagen, die ich gelegentlich besuchen durfte, cken daran, was für ein Blutbad der Einsatz unserer mich als „Zundel” zu bezeichnen. Die Uniform er- Waffen hätte anrichten können. Ich gelangte un- innerte sie an ein Faschingkostüm. Die Bewaffnung behelligt in das Gelände der Maschinenfabrik Kal- der einzelnen Männer bestand aus einem Gewehr. tenbach. Meine Waffen warf ich in den Löschteich. In meinem Fall war es ein russisches Beutegewehr Den Krieg hatte ich mit viel Glück überstanden. mit gebogenem Magazin, eine Kalaschnikow. (Quelle: privat)

Die Ausbildung erfolgte an Schnellfeuerwaffen vom Kaliber 2 cm. Von der Begegnung mit Tiefflie- gern, die damals häufig vorkamen, kannten wir den Beschuss mit diesen Waffen recht gut. An dem Tag, dem 24. April 1945, als die französischen Truppen nach Lörrach vorstießen, erhielten wir glücklicher- weise keine Befehle, um unsere Waffen einzusetzen. Vielmehr waren unsere Ausbilder von der Bildflä- che verschwunden, und wir konnten versuchen, nach Hause zu kommen. Ich kann mich an keine

156 157 Dreiländermuseum Lörrach Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben

„Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben”

Verfasserin ist Ingeborg Jeblick (Jhg. 1927), die in der Zeit der Abfassung des Tagesbuchs in Lörrach ge- wohnt hat, damals gerade 17 Jahre alt. Das Tagebuch befindet sich seit kurzer Zeit im Stadtarchiv.

Manchmal gibt es wirklich Zufälle. Gleichzeitig mit dem Auftrag, Zeitzeugen zur NS-Zeit in Lör- rach zu befragen, trifft im Staatsarchiv Lörrach ein Tagebuch ein. Die Stadt Mönchengladbach überlässt dem Stadtarchiv die Unterlagen einer dort mittlerweile verstorbenen Frau, die die Kriegszeit in Lörrach erlebt hat. Es ist auch nicht bekannt, wie das Tagebuch dort ins Archiv gekommen ist. Schon beim ersten Blick in das Tagebuch erweist es sich als historisches Juwel. Die Tagebuchschreiberin, Ingeborg Jeblick, beginnt am 19. September 1944 mit den Aufzeich- nungen und beendet sie am 16. April 1946:

Am 20. Juni 1927 wurde ich in Lörrach-Stetten, 19. September 1944: Ich weiß nicht, wieso ich Kreuzstr. 113 geboren. Nachdem ich zwei Jahre alt eigentlich gerade heute dieses Tagebuch beginne, war, zogen wir in die Rainstraße 20. aber es drängt mich, all das, was in mir vorgeht, niederzuschreiben, damit ich es später wieder lesen Wir, wie Ingeborg Jeblick schreibt, sind ihre kann. Dies hier soll ein Spiegelbild meines Wesens, Mutter Frieda Jeblick, 1902 in Lörrach gebo- Treibens, Denkens und Fühlens sein. ren, und Vater Philipp Jeblick, der als Spinner arbeitet. Die Familie zieht 1938 in die Gra- Tatsächlich brechen neben dem sachlichen benstraße 18. Dort wohnen sie auch während Erzählen und Berichten vom Tagwerk im- des Krieges. mer wieder die Stimmungen hervor, die ei- nen Teenager ausmachen: Gefühle der Freu- Wir leben in der schönen Friedsamkeit unse- de und Hoffnung, tiefe Niedergeschlagenheit rer Familie. Im Sommer 1939 unternehmen Papa, über die Ereignisse, die über sie hereinbre- Mama und ich eine Reise in die Pfalz zu meiner chen, die große Not um den Vater, die Unver- Großmutter. In meiner kindlichen Freude nehme ständlichkeit des Krieges und Lebensangst. ich alles auf, was vor meine staunenden Kinderau- gen tritt. Heute ist der erste Tag, dass ich in der Rüstung arbeite. Es ist eine eintönige, geisttötende Arbeit, Mit dem Frieden bleibt es nicht lange. Inge- aber das Muss zwingt mich dazu. Um ¾ 6 Uhr dre- borg Jeblick ist 12 Jahre alt, als ihr Vater 1940 he ich mich verschlafen im Bett rum und krabble als Zollschutzbeamter nach Frankreich in den dann unwillig hinaus. Während Mama Milch und Krieg muss. Zu ihrer Konirmation 1942 hat Brot richtet, ziehe ich mich langsam an, fahre mit der Vater Urlaub. Sie schreibt rührende Briefe dem Waschlappen über die verschlafenen Augen, an ihren Vater und aus dem Tagebuch spricht setze mich an den Tisch, schlinge die Marmela- noch heute die Freude, wenn sie einen Brief denbrote hinunter und gehe zum Bahnhof. Wohl, von ihrem geliebten Vater erhält. es gehen noch viele Mädels, die ich leidlich kenne, auf den gleichen Zug und zur gleichen Arbeitsstätte. Brief von Ingeborg Jeblick an ihren Vater (StALö Nl2. 10 Jeblick)

158 159 Dreiländermuseum Lörrach Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben

Der Zug kommt ziemlich planmäßig, und die kurze so arg schwer zumute. Ich meine, ich müsste laut im Ausweis steht amtlich: Nichtheranziehung. Ei- entgegen, ich beachte ihn nicht, er ist schon beinahe Fahrt von 3 km geht schnell vorbei. hinaus schreien vor seelischem Schmerz. Das große nes Teils freue ich mich, in dieser schwersten Zeit vorüber, als er mich grüßt. Ich weiß nicht, wer er Elend und Leid des Kriegs und die Ungewissheit bei Mama bleiben zu können, aber andererseits ist ist, kam von hinten, und ich habe seinen Gruß nicht Vermutlich arbeitet Ingeborg Jeblick in der um den lieben Papa und sein Fortsein, da steigt in es nicht recht, dass ich untauglich sein soll. einmal erwidert. Ich bin ein Holzbock. Eisengießerei am Bahnhof Haagen, die dort mir weher Schmerz auf. Was habe ich denn von ab 1921 ansässig gewesen ist. Dort muss sie meiner Jugendzeit, das frage ich mich, wie schön 24. Oktober 1944: Um ½ 8 Uhr geht’s dann ab Heute geht mir die Arbeit besser aus den Händen Kleinteile stanzen oder verpacken. Was das könnte es sein, wenn Friede wäre und alles geregelt. nach Binzen, und bald kann man uns mit dem als gestern, ich bringe beim Stanzen das Schächtel- für Teile gewesen sind, beschreibt sie nicht, Aber dann beiße ich wieder auf die Zähne, um die Handwagen die Lucke hinauf stampfen sehen. Ich chen ziemlich schnell voll. Als wir dann nach Feier- auch heute weiß man in Haagen nichts über Tränen zurückzuhalten und denke, dass das mein habe heute Nacht vom lieben, guten Papa geträumt, abend in die Nacht hinaus traten, da ist es ganz hell, die Tätigkeiten der Fabrik im Krieg. Die Gie- Schicksal ist, was mir auferlegt wurde. Da wirst du und deshalb kann ich dauernd nur an ihn denken. fast wie am Tage. Der Mond leuchtet herrlich und ßerei ist wenige Jahre nach dem Krieg ein- vielleicht reif, um das Schöne des Lebens zu begrei- Am liebsten würde ich laut heulen, aber Mama ist die Natur ist wie verzaubert. Auf der Wiese glitzert gegangen. Die junge Frau fährt oft mit dem fen. bei mir, ich muss ihr eine Stütze sein, ich muss sie es wie Gold, einfach wunderschön, wie in einem Fahrrad oder läuft durch die Haagener Wiese aufmuntern. Da darf ich so nicht kommen. Mama Farbfilm. Es tut mir gut, in den Himmel zu schau- (heute Grütt) nach Hause. 18. Oktober 1944: Als Mama auf dem Rathaus und ich kommen an den Gräben vorbei, welche en, ich kann mich direkt laben. ist, die Seifenkarten zu holen, klingelt es, und die Frauen und Mädchen ausheben. Auch Mama war ja Da etliche Züge ausfallen, muss ich nach Hause Briefträgerin kommt. Sie hat ganz viel für Mama einmal einen Tag beim Schanzen, und da weiß sie, Im November ist im Tagebuch zu lesen, dass laufen. Die anderen trotteln mir viel zu langsam und für mich. Für Mama einen Einschreibebrief, für wie es da zugeht. In Binzen arbeiten die Arbeiter Weil am Rhein beschossen (20. November heimwärts, da schlage ich einen anderen Weg ein, mich einen Einschreibebrief und zwei andere Brie- und Arbeiterinnen der Lörracher Tuchfabrik. Mama 1944), Karlsruhe bombardiert worden ist und ich laufe der Wiese entlang. Ich finde es herrlich, fe. Als ich auf den Absender meines Einschreibe- kennt sie, und fast mit jeder redet sie ein paar Wor- dass es schon schneit. Abends erstellen Mut- trotz des Regens, wieder mit meinen Gedanken briefs sehe, entdeckte ich, dass er vom R.A.D.-Amt te. Bei Frau Meier in Binzen angekommen, gibt sie ter und Tochter die erforderliche Liste „Mein ganz allein zu sein und meinen Weg zu ziehen, aber [Reichsarbeitsdienstamt] ist. Ich laufe in die Küche ihr ein Paar schöne Halbschuhe von Oma. Frau Hab und Gut”. Beide Frauen denken daran, freudigen Herzens zu gehen. und reiße den Briefumschlag auf und glaube be- Meier ist froh darüber, sie haben gerade Birnen auf zu Verwandten nach Waldshut zu ziehen, um stimmt, dass ich in den nächsten Tagen fort muss. dem Leiterwagen, da nehmen wir einen Sack Birnen aus der Gefahrenzone wegzukommen. Dieser 24. September 1944 (Sonntag): Nach dem Mit- Als ich die Zeilen lese, bin ich überrascht: Untaug- und 80 Pfund Kartoffeln, Kohl, Rotkraut und zwei Plan zerschlägt sich jedoch. Später inden die tagessen höre ich ein wenig Radio und dabei ist mir lich! Ich glaube, nicht richtig lesen zu können, aber Eier. Schwer beladen geht es auf den Heimweg. Un- beiden in Lörrach-Stetten einen Unterschlupf. terwegs kam noch ein Soldat, der auf einen Gefan- genen aufpassen muss. Die Lucke schinden wir den 4. Dezember 1944: Als ich heute früh ins Werk Wagen hinauf, runter geht es besser, bald sind wir komme, spricht man allgemein davon, dass wir daheim. heute zum letzten Male hier arbeiten müssten. Und tatsächlich, es wird nur noch bis 9 Uhr gestanzt, 29. Oktober 1944: Ich bin heute wieder in einer dann muss alles helfen packen. Der Meister lässt entsetzlichen Stimmung. Am liebsten würde ich noch ein Geschwätz ab und sagt, dass alle, die auf weinen. Es gehen verschiedene Gedanken in mir den Zug angewiesen sind, nicht mehr kommen herum. Wird es wieder einmal schön werden? Ich bräuchten, nur nächste Woche am Dienstag oder muss an meine Zukunft denken, werde ich heiraten, Mittwoch den Lohn holen. Kinder bekommen? Nein, nein, nie sage ich mir, und doch frage ich mich, was ich will. Ich weiß es nicht. 5. Dezember 1944: Es ist Voralarm, man hört Flie- Nur der Mann, der mich verehrt, ganz großmütig ger, sie gehen nieder, und es kracht. Ich springe auf, verehrt, der soll es wert sein. Gibt es überhaupt schreie, werfe mein Strickzeug in die Tasche und einen solchen Mann? Ich will keinen, der mich ir- will losrennen, den Mantel auf dem Arm. Als ich gendwie beim Kennenlernen anschaut, einen, der die Tür ins Treppenhaus öffnen will, kracht es wie- mich zuerst grüßt und erst später mit mir redet. So der, noch fester, dann renne ich unsagbar schnell laufe ich weiter, auf den Boden hinschauend, und in den Keller, Mama hinter mir her. Kaum sind wir Die Wiese oberhalb der Tumringer Brücke. (StALö Zü 11.743.13; Foto: E. Zürcher) habe feuchte Augen. Ein junger Mann kommt mir drunten, klirrt es. Es hatte Ziegel aufs Glasdach ge-

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worfen, ich hatte geglaubt, das ganze Treppenhaus auf dem vier Lichter brennen und denken an Oma wir fröhlich beisammen saßen, und nun so einsam sei zusammengestürzt. Im Glasdach ist nur ein klei- [mütterlicherseits] und Papa. Im Stillen bete ich fest und verlassen in einer solch schweren, grauenvollen nes Loch und drei Ziegel sind herunter geflogen. für einen baldigen Frieden, und ich glaube, auch Zeit. Hitler spricht im Radio, er sagt uns aber nicht Auf der Straße kann ich zunächst nichts entdecken, Mama betet inbrünstig. Mama und mir rollen Trä- viel, eben was wir schon wissen, dass wir bis zum nur kaputte Ziegel. Wir gehen wieder rauf, nach- nen über die Wangen, wenn wir an unsere Lieben letzten Blutstropfen kämpfen müssen, dass es keine dem Vorentwarnung ist, und erholen uns von die- denken. Wo wird Papa sein, wie geht es ihm? Wohl Kapitulation gibt. Nachdem er geendet hat, legen wir sem großen Schreck. Sie sagen uns, in der Stadt sei denkt auch er an uns daheim, auch wird er sich uns auch zur Ruhe. es ganz furchtbar, wir gehen einmal nachschauen. Kummer und Sorgen um uns machen. Hoffentlich Auf der Straße vor der Hebelschule ist eine Bombe wird es einmal wieder so schön, wie es gewesen ist. Die beiden Frauen ziehen nach Stetten um. runter, das hohe Regulierungsgestell für Züge hängt Um 9 Uhr spricht Dr. Goebbels im Rundfunk zum Soldaten in Gebirgsjägeruniform helfen ein auf der einen Seite runter. In der Hebelschule hat Deutschen Volk. Er spricht nur vom Vergangenen, Stück des Weges. Die junge Frau meint, das es sämtliche Fensterscheiben kaputt geschlagen. nur einmal sagt er, dass unsere Feinde in den nächs- seien Soldaten gewesen, die wissen, was sich Dann gehen wir auf den Werderplatz hinter dem ten Tagen unsere Kraft zu spüren bekommen. Zum gehört. Auch das Radio nehmen sie mit, allein Bahnhof, dort hat auch eine Bombe eingeschlagen Schluss aber müssen Mama und ich einander ent- in der neuen Behausung funktioniert es nicht, und drei Häuser sehr stark beschädigt, sowie in der setzt ansehen. Goebbels hat ein anthroposophisches weil „ein Stück Erde” fehlt. Immer wieder er- ganzen Umgebung die Fenster zerschlagen. Danach Wort gestohlen. Er sagte: „Die Toten sind größere wähnt sie Fliegerangriffe, manchmal gehen gehen wir zur Milchzentrale. Dort hat es vom Haus Heere, als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere” 18 sie nicht einmal mehr in den Keller. Ingeborg gegenüber die Hälfte weggerissen. Es hat auch die Eigentlich wollten wir das noch nachlesen, aber wir Jeblick hält Besuche bei Bekannten fest; von Wasserleitung getroffen. Da musste das Wasser aus sind so müde, dass wir gleich zu Bett gehen. kleineren Einkäufen, auch vom Besorgen von dem Bombentrichter herausgepumpt werden. Kartoffeln und Äpfeln, von Holz und Briketts, Der Tagebuchschreiberin sind die 12 Näch- von Tischspielen wie etwa Rommé schreibt Ingeborg berichtet über die Dezembertage te zwischen Weihnachten und dem 6. Januar sie. Am 10. Februar 1945 notiert sie neben von Artilleriefeuer, vom Überleben und Hams- hinsichtlich der Träume wichtig. Es gilt weit- dem Tagebucheintrag: „Beschuss von Lör- tern, vom Fieber, von bekannten Frauen, de- hin die Legende, dass die Träume in diesen rach. In der Kirchstraße sind Granaten einge- ren Männer in Gefangenschaft geraten sind, Nächten auf Ereignisse in den 12 Monaten schlagen.” Dann kommt das Wort: von der eigenen Ungewissheit, nichts vom des neuen Jahres hinweisen, gewissermaßen Vater zu hören oder zu lesen. Sie schreibt ein Orakel seien. Sie schreibt auf, was sie ge- „UNTERBRECHUNG” auch auf, dass der 16-jährige Sohn Glünkins, träumt hat, schreibt auch am 26. Dezember, des Ortsgruppenleiters, durch Feindeinwir- sie hätte gerne geträumt, aber sie habe nur 20. Januar 1946: Sehr lange, 11 Monate nun sind kung ums Leben gekommen sei. Beide Bei- wenig geschlafen. es schon her, dass ich dieses Buch beiseite gelegt ne und Arme habe es ihm weggerissen. Und habe. Viel, ja sehr viel habe ich in diesen Monaten dann kommt Heiligabend: 31. Dezember 1944: Der letzte Tag im Jahre 1944! erlebt und durchkämpft. Lange habe ich es nicht Wenn ich zurückblicke, sehe ich nichts Schönes, alles gekonnt, lange habe ich mich innerlich geweigert, 24. Dezember 1944: Heiligabend ist heute, aber Kummer, Sorgen, Angst, einfach ein furchtbares Jahr. in dieses Buch zu schreiben. Heute Abend aber füh- Zerstörtes Wohnhaus Baumgartnerstraße 19, das es sieht dieses Jahr anders aus in mir als an allen bis Ich verspreche mir vom kommenden vorerst nichts le ich mich getrieben, meine Erlebnisse wieder zu am 5. Dezember 1944 von einer Fliegerbombe ge- jetzt erlebten Weihnachten: still, öd und leer ist es. Besseres, ich will mich keiner Illusion hingeben und Papier zu bringen. troffen wird. (StALö 2.61.254) Die Sirene tönt alle fünf Minuten, und man weiß bin nachher enttäuscht über die rauen Tatsachen, die nicht, wann man von Fliegern, Bomben oder Gra- sich mir entgegenstellen. Um nicht zu grübeln, stri- Der 17. Februar 1945 war der letzte Tag meines Steinklotz, der auf uns geworfen wird und uns er- naten überrascht wird. Mama sagt, sie habe Angst. cke ich ein Paar Handschuhe, die ich gestern begon- Berichtes. Die Front kommt immer näher, ein Ge- drücken will. Auch der Bruder von Frau Stöhr ist Vor dem Mittagessen flicht Mama noch von den nen habe. Um 19 Uhr trinken wir Rotwein und essen rücht löst das andere ab, aber bei Frau Stöhr [Ver- mit ihm gefallen. Dies ist nach einem Bericht von gestern geholten Tannenzweigen ein Kränzlein. Am Kuchen. Es wird mir sogar ein wenig schlecht davon. mieterin in Stetten] fühlen wir uns geborgen. einem Kameraden Mitte bis Ende August 1944 ge- Nachmittag ist fast dauernd Fliegeralarm. Überra- Mama will ins Bett gehen, aber ich halte sie davon schehen, sie seien von Partisanen und Tieffliegern schend macht Mama das Zimmerchen gemütlich, ab. Als wir dann um Mitternacht uns alles Gute wün- Die Nachricht vom Tode meines so lieben Papas angegriffen worden. Es dauert eine geraume Zeit, wir sitzen am Abend um unseren Adventskranz, schen, muss ich an all die früheren Jahre denken, wo ist hart, furchtbar schwer, wie ein großer, mächtiger bis wir den psychischen Schmerz so weit überwun-

162 163 Dreiländermuseum Lörrach Es drängt mich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben Bis zum bitteren Ende

den haben, dass wir sagen können: Papa weilt nun he. Die zerstörte Stadt Freiburg belastet sie. Bis zum bitteren Ende in der geistigen Welt, und wir wollen uns anstren- Später im Jahr geht sie ins Schwimmbad und gen, um ihm so gut als irgend möglich zu helfen. versucht, wieder zu schwimmen. Gespräche mit Gerhard Moehring (Jhg. 1921) ab 3. Juni 2014; er erzählt mir anhand seines persönlichen Albums seine Geschichte in Lörrach bis zum Kriegsbeginn. Weiter ergänzen Akten, die ich einsehen kann, Am 24. April 1945 wird Lörrach von französi- Und so endet das Tagebuch: das Lebensbild Moehrings bis zum Ende der Kriegsgefangenenschaft 1955. schen Kampftruppen eingenommen. Die letzten Tage vor dem 24. April sind noch aufregend. Tief- Nun muss ich noch nachtragen, dass am 16. flieger kommen, schießen mit Bordkanonen, in den April 1946 der Arbeiter Adolf Butsch, Lörrach- Straßen hastet die Bevölkerung umher. Kleider wer- Stetten, Am Bahndamm 5, ein Kriegskamerad von Er sitzt an der Tischgruppe in der Empfangshalle des Dreiländermuseums, er ist immer da, den mit Kleidermarken abgeholt, die ausgegeben Papa, auf dem Amtsgericht in Lörrach die eides- wenn das Museum offen hat. Dort liest Gerhard Moehring z. Z. „Das Buch Hitler”, Bastei-Lübbe werden. Frau Stöhr und ich haben dann gegen 4 stattliche Erklärung abgab, dass Papa gefallen ist. Verlag, hrsg. von Eberle/Uhl. Als er mich bemerkt, zeigt er auf Bilder des persönlichen Ad- Uhr ein Leintuch an eine Stange gebunden, da hö- jutanten Hitlers Otto Günsche und des Kammerdieners Heinz Linge, die mit ihm im gleichen ren wir schon die Panzer rollen. Am 28. April zie- Die Nachforschungen über Ingeborg Je- Lager in russischer Gefangenschaft gewesen sind. Das Buch beruht auf den Geheimdossiers hen wir wieder in unsere Wohnung in der Graben- blick, die das Stadtarchiv Lörrach nach Ein- des NKWD für Josef Stalin. Wenn er nicht mit Lesen beschäftigt ist, transkribiert er Briefe oder straße, bevor sie von den Franzosen beschlagnahmt gang des Tagebuchs unternommen hat, ha- Dokumente, die in Deutscher Schrift geschrieben sind und im Museumsarchiv aufbewahrt wer- wird. Nun beginnen die neuen großen Nahrungs- ben ergeben: den, in lateinische Schrift. Dabei ist er mit 94 Jahren äußerst erfolgreich und schnell, braucht sorgen. Ingeborg Jeblick hat 1952 Georg Micha- nur manchmal eine Lupe, wenn die Schriftzeichen in den Briefen oder Dokumenten zu unle- el Hagmann, geb. in Reinach/Kanton Basel- serlich sind Die Tagebuchschreiberin erzählt von Hams- Landschaft, geheiratet. Aus der Ehe sind Das Museum ist sein Leben. Gerhard Moehring wird 1961 ehrenamtlicher Kustos des Heimat- terfahrten nach Fischingen, Egringen und Bin- keine Kinder hervorgegangen. Frau Jeblick museums in Lörrach, das 1978 Museum am Burghof heißt und in das alte Hebel-Gymnasium zen. Sie meint, dass das Betteln nicht leicht -Hagmann ist als Sekretärin beschäftigt ge- in der Basler Straße umzieht. 1985 geht er als Lehrer, sein Beruf, in Pension. Auf meine Frage, sei. Am 17. Januar 1946 erhält Ingeborg Je- wesen, Herr Hagmann als Flugzeugführer. Die ob er mir von der Zeit des Nationalsozialismus und seiner Gefangenschaft erzählt, ist er sofort blick eine Aushilfsstelle im Landratsamt. Sie beiden Eheleute haben sich wohl in Lörrach bereit, lädt mich zu sich nach Hause ein und öffnet seine privaten Alben. Wie es eben ein guter gibt sich viel Mühe, alles richtig zu machen. kennengelernt, wohin Herr Hagmann 1948 Museumsfachmann macht, hat er nicht nur Bilder ins Album geklebt, sondern umfangreiche, Vom 9. Februar 1946 an geht sie in die Tanz- von Kempten/Allgäu in die Tumringer Str. 175 mit Schreibmaschine geschriebene Begleittexte nach 1955 dazu geheftet. Beim Durchblättern schule, was ihr gut gefällt. Nun kommt ein gezogen ist. Die Tagebuchschreiberin ist 1979 des Albums erläutert er: überraschender Eintrag im Tagebuch: in Mönchengladbach verstorben, ihr Ehemann dort 2001. Im Tagebuch lebt sie weiter. 1931 trat ich in die „Deutsche Jugend“ [Jugend- erhielten wir einen neuen Direktor, Wilhelm Arm- Bei Herrn Hartwig haben wir nun auch einen (Quelle: StA Lö Nl2.10 Jeblick) bewegung in der Weimarer Republik], eine Nach- bruster von Konstanz; er trug ein Parteiabzeichen. Gruppenabend festgelegt, da wir einmal in der Wo- folgeorganisation des Wandervogels, für den sich Der Wunsch meines Vaters auf die Direktorenstelle che zusammen kommen und geistige Nahrung in meine Eltern begeisterten, ein. Während eines war damit vorbei. Er gehörte zu den Freimaurern, uns einfließen lassen. Anthroposophie wird gerade Zeltlagers am Belchen/Hohkelch wurde ich bei La- die von der Partei verboten worden waren. Im Kol- in dieser schweren Zeit zum unbedingten Lebens- gerfeuer und Liedern feierlich aufgenommen und legium gab es zunehmend eine Spaltung von partei- bedürfnis. erhielt das „Schiffchen“ als Kopfbedeckung. Neben begeisterten Lehrern, die auch in SA-Uniform zum Wanderungen im Markgräflerland übten wir das Unterricht kamen, und deutlichen Gegnern der An einem Sprachgestaltungskurs nimmt sie Flaggenalphabet und verständigten uns so u. a. zwi- NSDAP. 1934 verloren wir auch unsere beiden jü- teil, den eine Lehrerin einer Waldorfschule an- schen Hünerberg und Tüllinger Berg. 1934 wurde dischen Klassenkameraden Moses und Erreich. Ihre bietet. Jetzt wird deutlich, warum Ingeborg Je- der Wandervogel vom Jungvolk bzw. der Hitlerju- Familien hielten dem zunehmenden Druck nicht blick an Weihnachten 1944 das von Goebbels gend im Zuge der Gleichschaltung übernommen. mehr stand und wanderten aus. verwendete Zitat anthroposophisch einordnet. Am 26. Juni feiert sie ihren 19. Geburtstag. 1934 war ich in der Quarta im Hebel-Gymnasi- Druck lag auch auf den Familien durch das stän- Sie macht einen Auslug nach Freiburg und -tä um. Bis zu dieser Klasse trugen wir noch Klassen- dige Hissen von Fahnen. Wer nicht geflaggt hatte, tigt ein paar kleine Einkäufe, z.B. Strohschu- mützen. Mit diesem Standesbewusstsein räumte die war sofort verdächtig, dem System seine Sympathie NSDAP auf. Sie wurden abgeschafft. Im selben Jahr zu verweigern. Da die Fahnen stets auf unserem

164 165 Dreiländermuseum Lörrach Bis zum bitteren Ende Bis zum bitteren Ende

Balkon aufgehängt wurden, d.h. für alle Bewohner densee und zurück. In Friedrichshafen besuchten des Hauses, war Vater immer im Konflikt mit sich wir die Zeppelin-Luftschiffhalle, wo gerade LZ 127– selbst und den Leuten des Hauses. Als Kompromiss Hindenburg gebaut wurde. Auch LZ Graf-Zeppelin wurde anfangs dann die schwarz-weiß-rote Fahne ist in der Halle, dessen Gondel wir besichtigten. aufgezogen, also die Fahne des Kaiserreiches. Bald verdrängte die Hakenkreuzfahne mehr und mehr die In Lörrach wurde die Wiedereinführung der schwarz-weiß-rote Fahne, um sich nicht Unannehm- Wehrpflicht 1935 deutlich. Für einige Monate lichkeiten auszusetzen. So nähte Mutter schweren [nach der Rheinlandbesetzung] war Lörrach Garni- Herzens wenigstens ein Hakenkreuz darauf. sonsstadt. Für die Bevölkerung waren die Parade- märsche in den Straßen eine ganz neue Erfahrung. 1934, in den Sommerferien, machte ich mit einer Die ersten Soldaten kamen auf dem Güterbahnhof Jungvolkgruppe unter Führung von Lehrer Haas an und marschierten durch die Stadt. Sie wurden in eine erste große Radtour von Lörrach bis zum Bo- Privatquartieren untergebracht.

Hitler in Istein, 1939. (privat)

hat, weil die darauf abgebildeten Ereignisse Mein täglicher Schulweg vom Hebel-Gymnasium in seiner Jugend eine wichtige Rolle gespielt durch die Stadtmitte in die Tumringer Straße (da- haben. Das eine zeigt Reichsjugendführer mals Adolf Hitler-Straße) führte mich auch am Tag Baldur von Schirach, Bürgermeister Boos und des 10. November 1938 am Marktplatz und der Gebietsjugendführer Kemper, die am 6. Juli Teichstraße vorbei. So konnte es nicht ausbleiben, 1937 vor angetretenen Jugendlichen auf dem dass ich die Vorgänge um die Synagoge wahrnahm. Werderplatz hinterm Bahnhof vorbei mar- Dort waren viele Leute, vor allem SA-Männer, ge- schieren. Moehring sagt dazu: genwärtig, es gab recht viel Umtriebe und Lärm. Später erfuhr ich, dass die Synagoge zerstört wor- Bei diesem Appell stand ich irgendwo in der hin- den war. teren Reihe. Im Übrigen blieben mir Märsche der HJ und öffentliche Demonstrationen erspart, da ich In der Ausstellung „Lörrach und der Nati- zur Motor-HJ gehörte, die einen eigenen Dienstbe- onalsozialismus” im Dreiländermuseum sind trieb durchführte. Das andere Bild zeigt Hitler im zwei Bilder ausgestellt gewesen, auf die Ger- offenen Wagen am Isteiner Klotz, den er zum zwei- Soldaten in Marschformation beim Marktplatz. (StALö Zü 19.56.28; Foto E. Zürcher) hard Moehring immer wieder hingewiesen ten Mal am 19. Mai 1939 besucht hat. Die Besich-

166 167 Dreiländermuseum Lörrach Bis zum bitteren Ende Bis zum bitteren Ende

tigung wird propagandistisch stark inszeniert. Die „Der deutsche Südwesten von 1790 bis heu- Wald beschäftigt und fand dort auf meinem eigensten genen, eine Theatergruppe führt das Stück Befestigungen am Isteiner Klotz gehören zum West- te” Moehrings Schicksal in der Gefangen- Gebiet Abwechslung und Erholung, die mit einer schö- auch auf. wall. Als es sich in Lörrach herumsprach, dass Hit- schaft nach 1945 beschrieben: nen, stillen Weihnachtsfeier dort abschloss. Meine Ge- Die Rotkreuzpostkarten zeigen, dass sich ler den seit 1938 im Bau befindlichen Westwall am danken sind oft bei Euch. die Haftbedingungen nach 1950 allmählich Isteiner Klotz besichtigen würde, fuhr auch ich mit Auf dem Rückzug wurde Gerhard Moehring von so- Wo Ihr wohl alle sein mögt? Hab’ Mut, Vertrauen und verbesserten. Auch wird der beginnende dem Fahrrad dorthin, um den mir aus dem Radio wjetischen Truppen gefangen genommen. Mit einer Zuversicht. Gott behüte Dich und alle Lieben bis zu ei- wirtschaftliche Aufschwung in Westdeutsch- so vertrauten Reichskanzler anzusehen. Da wir in Rotkreuzpostkarte vom 10. Januar 1946 gab er seiner nem frohen Wiedersehen. Sei selbst recht herzlich ge- land deutlich. In den letzten Jahren erhalten der Familie kein Radio hatten, war ich oft bei Groß- Mutter Marie Moehring das erste Lebenszeichen seit grüßt und grüße mir auch Trudel, Hilde und Hannelore, die Kriegsgefangenen zahlreiche Pakete aus mutter, der ich die neue Technik bedienen musste, Kriegsende. Die Karten, die Gerhard Moehring zwi- Onkel Albert und alle anderen von Deinem Manni. der Heimat. Ein Gefangener aus Konstanz da sie kaum mehr lesen konnte. schen 1946 und 1955 aus unterschiedlichen Lagern in (DLM APM 5a) lässt sich eine Querlöte von seiner Familie der Sowjetunion schrieb, geben trotz der Zensur Einblick schicken und schenkt sie Gerhard Moehring. Über die Ereignisse in Lörrach kann Gerhard in die Situation der Kriegsgefangenen und in die sich Gerhard Moehring, seit 1974 in Hauingen Dieser spielt damit von 1953 bis 1955 im La- Moehring wenig mehr berichten. 1939 endet wandelnde Welt in der Heimat. In seiner ersten Karte wohnend, hat für verschiedene Anlässe in gerorchester. Zum Repertoire gehört Beetho- seine Schulzeit mit dem Abitur am Hebel- berichtet Gerhard Moehring, dass er bei Waldarbeiten den letzten Jahren aus seiner Gefangenschaft vens 5. Sinfonie und die „Unvollendete” von Gymnasium. Er will Forstwirtschaft studieren, und zudem beim Aufbau und den Aufräumungsarbeiten berichtet, so auch in der Hauinger Chronik 19. Franz Schubert. da sein Patenonkel in Donaueschingen Förs- in ehemaligen Kampfgebieten eingesetzt werde. Nur ver- Aus seinen schriftlichen Aufzeichnungen, die er Im Oktober 1955 werden Gerhard Moehring ter ist. Es sind nur drei Kurzsemester, die er schlüsselt konnte er später mitteilen, dass er ab Herbst mir aushändigt, folgende und seine Kameraden auf studieren kann, bis der Zweite Weltkrieg vom 1947 anderthalb Jahre lang in einem Kohleschacht im Zusammenfassung: einer zehntägigen Reise Deutschen Reich ausgelöst wird. Er ist Anwär- Donez-Gebiet arbeiten musste (Geologiestudien). Die mit dem Güterzug vom ter für den höheren Forstdienst, der die Ofi - Hofnung, schon 1948 nach Deutschland zurückzukeh- Der Alltag in den Ural in das Heimkehrer- zierslaufbahn als Voraussetzung vorsieht. Am ren, zerschlug sich. 1949 wurde Gerhard Moehring im Kriegsgefangenenlagern lager nach Friedland 28. März 1940 wird er in München zur Wehr- Zuge der Massenprozesse gegen Kriegsgefangene als ist von harter körper- transportiert. Aus Herle- macht eingezogen. Nun bestimmt der Krieg Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. licher Arbeit geprägt. shausen sendet Gerhard sein Leben. Sein Kriegseinsatz enthält viele Die nächsten fünf Jahre verbrachte er in verschiedenen Umso wichtiger er- Moehring am 16. Okto- Orte des Kriegsgeschehens in Süd- und Ost- Lagern im Ural, wo er als Maurer und Zimmermann scheint es den Gefan- ber 1955 ein Telegramm europa, vor allem in der Sowjetunion, Lett- und in der Rüstungsindustrie arbeitete. genen, sich geistig zu nach Lörrach: „Bin da, land, Weißrussland und in der Ukraine. Er wird Im Herbst 1955 konnten die letzten deutschen beschäftigen, um bei Querlöte von Gerhard Moehring. Mutti, erwarte mich bitte Oberleutnant und Kompaniechef und sieben- Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurückkehren. Bun- der monotonen Arbeit (DLM H 0972) daheim!” mal verwundet. Am Kriegsende kommt er in deskanzler Adenauer hatte in Verhandlungen mit der nicht abzustumpfen. In sowjetische Gefangenschaft. In der Ausstel- sowjetischen Partei- und Regierungsspitze in Moskau mehreren Rotkreuzpost- Im November 1949 ist lung „Lörrach und der Nationalsozialismus” die Entlassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen karten betont Gerhard Moehring, welche Be- also Gerhard Moehring in Minsk (heute Weiß- hört Gerhard Moehring oft bei den Führun- erreicht. deutung Literatur, Musik und geistige Zer- russland) als „Kriegsverbrecher” zu 25 Jahren gen zu; es wird über Verbrechen gegen die (Quelle: Der deutsche Südwesten von 1790 bis heute, hg. v. Haus der streuung für ihn haben. Im Lager bildet sich Arbeitslager verurteilt worden. Im Mai 1950 Menschlichkeit berichtet. Er ist ganz still; ein- Geschichte Baden Württemberg, Stuttgart 2002, S. 222.f.) ein kleiner Gesprächskreis aus Gefangenen, steht in der ofiziellen sowjetischen Presse, mal sagte er zu mir nach einer Führung, dass die sich zu gemeinsamer Lektüre und Dis- dass es in der Sowjetunion keine Kriegsge- dazu auch das Schicksal der Soldaten gehöre, Hier der Text der Postkarte vom 10. Januar kussion treffen. Dabei wird auch über die fangenen mehr gebe, sondern nur Kriegsver- über die man aber eher nicht sprechen würde. 1946: Tragödie „Faust” von Johann Wolfgang von brecher. Ziel dieser Aussage ist es gewesen, Er ist bis 1955 in sowjetischer Gefangenschaft Goethe gesprochen. Von diesem Werk be- die für die Sowjetunion leidige Frage nach und gehört zu jenen Heimkehrern, die der ers- Liebe Mutti, seit dem 8. Mai 1945 beinde ich mich sitzt Gerhard Moehring eine kleinformatige Kriegsgefangenen abzuschmettern. 1997, te Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, in russischer Kriegsgefangenschaft. Es geht mir gut, was Ausgabe, die den ersten und zweiten Teil des nach 48 Jahren, kann Gerhard Moehring den Konrad Adenauer, nach seiner Reise nach ich von Dir, Trudel, Hilde und allen Lieben hofe. Ich Dramas enthält. Auf einer der ersten Seiten Text seines Urteils lesen. Gegen die Beschul- Moskau im September 1955 frei bekommt. verbringe meine Tage mal hier, mal dort bei allerlei Auf- beindet sich der Stempel der Bibliothek ei- digungen schreibt er eine eidesstattliche Im Haus der Geschichte in Stuttgart wird bau- und Aufräumungsarbeiten in ehemaligen Kampf- nes Gefangenenlagers. „Faust” ist nicht nur Erklärung und betreibt dann seine Rehabili- in dem Buch zur dortigen Dauerausstellung gebieten. Den vergangenen Herbst war ich 4 Monate im Thema der Diskussionen der Kriegsgefan- tierung. Die Sachlage: Während die in Russ-

168 169 Dreiländermuseum Lörrach Bis zum bitteren Ende

land verurteilten Kriegsgefangenen später Bedarf sieht. Er ist jener ehrenamtliche Mit- pauschal rehabilitiert werden, weigert sich arbeiter dort, der die meiste Zeit für die Be- Weißrussland (Minsk) bis heute einen solchen lange des Museums einbringt, ohne Ansehen Schritt zu vollziehen. seiner Person, ohne im Mittelpunkt zu stehen. Gerhard Moehring schreibt an viele Dienst- Das ist bewundernswert. stellen der Bundesrepublik, die mit solchen Fragen befasst sind, so an das Auswärtige Amt, an den Petitionsausschuss des Deut- schen Bundestages, an den Bundespräsiden- ten. Er möchte, dass das Fehlurteil aus den Akten entfernt wird, bevor es in den Akten „ein Eigenleben beginnt”, wie er sagt. Er macht dies in seinem Namen, aber auch zum Schutz seiner Kinder und Enkelkinder. Auf viele Schreiben erhält er keine Antwort, man- che Adressaten halten sich für nicht zustän- dig. In einem Antwortschreiben des Auswärti- gen Amtes vom 23. September 2008 kann er dann lesen:

Im Auftrag des Bundespräsidialamtes beziehe ich mich auf Ihr Schreiben vom 21. August an den Herrn Bundespräsidenten. Sie verweisen dort auf Ihre Anliegen einer Rehabilitierung durch die Behörden der Republik Belarus [Weißrussland] von den Ihnen in einem Urteil des sowjetischen Militärgerichts aus dem Jahre 1949 gemachten Vorwürfen. Bereits 1997 hatte das belarus- sische Außenministerium in einer Verbalnote erklärt, dass eine Berücksichtigung Ihres Falles unter dem Reha- bilitierungsgesetz nicht infrage käme. Das Auswärtige Amt sieht gegenwärtig keine Möglichkeit, die belarussi- schen Behörden zu einer Änderung ihrer Einschätzung zu bewegen. (Quelle: privat)

Es fällt Gerhard Moehring nicht leicht, mit diesem Urteil in seinem Leben umzugehen. So versteht man gut, dass er darauf auf- merksam macht, dass auch das Schicksal von deutschen Soldaten thematisiert werden soll- te. Nach wie vor geht er seinen Tätigkeiten im Museum aus eigenem Antrieb nach, er bringt sich ein, wo er sich einbringen kann und er

170 171 Dreiländermuseum Lörrach Zusätzliche Literatur zu Lörrach im Nationalsozialismus Anmerkungen

Literatur zu Lörrach im Nationalsozialismus Anmerkungen

Hubert Bernnat, 125 Jahre Arbeiterbewegung 1) Robert, Neisen, Zwischen Fanatismus von Entnaziizierungsverfahren wurden sol- im Dreiländereck, Lörrach 1993. und Distanz. Lörrach und der Nationalsozia- che entlastende Erklärungen nach 1945 ab- lismus, hg. v. Stadtarchiv Lörrach, Bötzingen gegeben. Manfred Bosch, Als die Freiheit unterging, 2013. Eine Dokumentation über Verweigerung, Wi- 6) Der Begriff „Kristallnacht” oder „Reichs- derstand und Verfolgung im Drittn Reich in 2) Markus Moehring, Andreas Lauble kristallnacht” ist eine nachträgliche Wort- Südbaden, Konstanz 1985. (Hrsg.), Lörrach und der Nationalsozialismus schöpfung, evtl. in Berlin entstanden. = Lörracher Hefte Nr. 19, Bötzingen 2013. Wolfgang Göckel, Lörrach im Dritten Reich, 7) Walter Jung, Ratschreiber und Chronist Lörrach 1984. 3) Im Auftrag des Gemeinderates der Stadt (vgl. Text über „Aktion Gewitter”, S. 68 ff.) Lörrach erforschte der Historiker Robert Nei- nennt in seiner Liste nicht die gleichen Na- Philipp Hieber, 50 Jahre Hans Thoma Gymna- sen die Zeit des Nationalsozialismus in Lör- men (außer Indlekofer und Maurath) und die sium, Lörrach 1962. rach. Ein Schwerpunkt seiner Untersuchung wenigsten waren Handwerker. Zudem sind war die Rolle des damaligen Bürgermeisters die meisten Personen, die auf Walter Jungs Markus Moehring, Ein Weg in den Zweiten Reinhard Boos. Für seine wissenschaftliche Liste stehen, nicht sofort wieder freigekom- Weltkrieg, in: Unser Lörrach Bd. 20, 1989, S. Studie wertete Neisen alle zur Verfügung men, sondern mindestens bis Dezember 1944 7 - 66. stehenden Schriftquellen bis 1945 systema- in Haft gewesen oder gar ins KZ Natzweiler tisch aus. Zusammenfassend kommt er zum überführt worden. Markus Moering, Andreas Lauble (Hrsg.), Lör- Schluss: „Sicher hat es auch in Lörrach noch rach und der Nationalsozialismus = Lörracher aggressivere, gehässigere, nihilistischere Na- 8) Solche Erklärungen wurden im Rahmen Hefte Nr. 19, Bötzingen 2013. tionalsozialisten gegeben als Boos. (…) Und von Wiedergutmachungsverfahren abgege- sicherlich brach bei Boos auch Menschlichkeit ben. Robert Neisen, Zwischen Fanatismus und Di- durch, wenn er etwa einige Kommunisten stanz. Lörrach und der Nationalsozialismus, und Sozialdemokraten vor der Verhaftung be- 9) Der Historiker der ETH Zürich war der hg. v. Stadtarchiv Lörrach, Bötzingen 2013. wahrte oder seine ehemalige Schulkameradin Autor der Radiosendung „Weltchronik”. Er Ida Backhaus schützte. In der überwiegenden kommentierte ab 1940 den Verlauf des Zwei- Hansjörg Noe, Hingeschaut – Steinen im Na- Zahl der Fälle aber zeigte sich Boos als un- ten Weltkriegs. Im kollektiven Gedächtnis der tionalsozialismus, Lörrach 2014. beugsamer Ideologe, der gegenüber den tat- Zeitzeugen im Sendegebiet von Radio Bero- sächlichen oder vermeintlichen Feinden des münster, Schweiz, gilt er wohl „als Bollwerk Lukretia Seiler, Was wird aus uns noch wer- Nationalsozialismus wenig Gnade kannte (…). gegen Hitler-Deutschland”. Neuere histori- den?, Briefe der Lörracher Geschwister Grun- Robert Neisen S. 245. sche Forschung indet diese Bezeichnung für kin aus dem Lager Gurs 1940 – 1942, Zürich von Salis nicht ganz zutreffend. 2000. 4) Der Leiter des Stadtarchivs weist darauf hin, dass H.P. Roth seit der Übernahme der 10) Die Grunkins sind eine jüdische Familie Lukretia Seiler, Fast täglich kamen Flüchtlin- Leitung des Stadtarchivs 2009 durch ihn kei- in Lörrach. Vater Grunkin stirbt 1934, Rosa, ge, Riehen und Bettingen – zwei Grenzdörfer ne Einsicht in Dokumente beantragt und das die älteste Tochter, heiratet in den 1930er 1933 bis 1948, Basel 2013. Stadtarchiv nicht besucht hat. Jahren einen Lehrer in Riehen, Mutter Grun- kin sowie die Kinder Marie und Josef werden 5) Kopien dieser beiden Erklärungen sind 1940 mit der Deportation der badischen Juden im Privatbesitz von Herrn Roth. Im Rahmen nach Gurs transportiert. Die Mutter wird auf

172 173 Dreiländermuseum Lörrach Anmerkungen Archivsignaturen

Veranlassung der Tochter Rosa aus Gurs ent- 15) Diese Rede ist veröffentlicht: Markus Archivsignaturen lassen und kann zu ihr nach Riehen kommen. Moehring u.a. (Hrsg.), Lörracher Heft Nr. 3, Josef und Marie werden 1942 nach Auschwitz Lörrach 1990, S. 6. gebracht, wo Marie schon kurz nach ihrer An- kunft ermordet wird. Josef wird nach Buchen- 16) Lörrach gehört 1939 zur „Roten Zone”, DLM = Dreiländermuseum Lörrach wald verlegt, kommt dort ums Leben oder auf dem gefährdetsten Bereich wegen der Nähe StALö: Stadtarchiv Lörrach einem der Todesmärsche im April 1945 nach zu Frankreich ab Kriegsbeginn 1939 bis zum STAF = Staatsarchiv Freiburg Dachau. Westfeldzug ab 10. Mai 1940. STAL = Staatsarchiv Ludwigsburg

11) Vgl. Text über die Rettung des Gas- 17) Badische Heimat, Nr. 4, 2002, S. 670 werks S. 153: Hier steht eine andere Version – 692. zur Rettung der Brücke. 18) Das Zitat ist dem „Chor der Toten” von 12) Das Lager Heuberg ist 1910 als Aus- Conrad Ferdinand Meyer entnommen. bildungslager badischer Truppen eingerichtet worden. Im Dritten Reich ist es SA-Ausbil- 19) Gerhard Moehring, Der Zweite Welt- dungsstätte, Konzentrationslager, Reichsar- krieg 1939 - 1945, in Ders. u.a., Hauingen, beitsdienstlager, Strafdivision der SS gewe- Ein Dorfbuch, Lörrach 2002, S. 200 - 210. sen.

13) Karlfrieder Vortisch hat in höchst dan- kenswerter Weise den Nachlass Eugen Zür- chers im Stadtarchiv Lörrach durchgesehen, geordnet und diese Dokumente für die Öffent- lichkeit zugänglich gemacht: rund 36.000 Ne- gative, zumeist in Kleinbildstreifen, und 3.500 Papierbilder, dazu mehrere Kartons Schriftgut, darunter Briefe an die Ehefrau. Im vorliegen- den Buch ist eine Auswahl von Fotograien mit Motiven aus der Zeit des Nationalsozialismus getroffen worden. Im Lörracher Jahrbuch 2015 dokumentiert Karlfrieder Vortisch das Werk Eugen Zürchers ausführlicher und präsentiert eine Auswahl seiner Fotograien aus dem Lör- racher Alltagsleben.

14) Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber der polnischen Zwangsarbeiter und die Na- men der beteiligten Kriminalbeamten bzw. Gestapo-Mitarbeiter sind in den Akten im Staatsarchiv Freiburg aufgeführt.

174 175 Dreiländermuseum Lörrach LÖRRACHER HEFTE – ROTE SCHRIFTENREIHE DES DREILÄNDERMUSEUMS LÖRRACH Bisher erschienen (bis Heft 15 unter dem Namen Museum am Burghof):

Heft 1: Zwischen zwei Welten – Türkisches Leben in Lörrach Heft 2: Berühmte Expressionisten – Werke aus der Sammlung des Museums am Burghof (1997) Heft 3: Lörrach 1848/49 – Essays, Biographien, Dokumente, Projekte (1998) Heft 5: Halt! Landesgrenze Schmuggel und Grenzentwicklung im Dreiländereck (2000) Heft 6: Gedruckte Träume – 250 Jahre KBC Lörrach (2003) Heft 7: Jüdisches Leben in Lörrach / Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft (2007) Heft 8: Stetten und seine Geschichte – Aufsätze und Forschungsbeiräge (2008) Heft 9: entartet – zerstört – rekonstruiert – Die Sammlung „Cohen-Umbach-Vogts” (2008) Heft 10: Der Oberrhein um 1900 / Le Rhin supérieur vers 1900 (2009) Heft 11: Johann Peter Hebel. Bewegter Geist, bewegtes Leben (2010) Heft 12: August Babberger. Der badische Expressionist (2010) Heft 13: Max Laeuger. Die Sammlung in Lörrach (2011) Heft 14: Gottfreid Legler. Ein Künstlerleben (2011) Heft 15: Kaltenbach. Aus Lörrach in die Welt (2012) Heft 17: Dreiländer-Rezepte / Recettes des Trois Pays (2013) Heft 18: Nationalsozialismus in Lörrach (2013) Heft 19: Paradiesische Pflanzen im Judentum, Christentum und Islam (2013) Heft 20: Der Erste Weltkrieg am Oberrhein / La Grande Guerre dans le Rhin supérieur (2014) Heft 21: Vom Wybertli zur elmex. Wybert und GABA in Lörrach 1921 – 2015 (2015) Heft 22: „Nun kann ich darüber sprechen...” Zeitzeugen, Tagebücher und autobiografische Dokumente zum Nationalsozialismus in Lörrach (2015)

LÖRRACHER HEFTE – GELBE SCHRIFTENREIHE DER STADT LÖRRACH Bisher erschienen: Heft 4: Burghof Lörrach. Das Haus – Das Programm – Die Vorgeschichte (1999)

LÖRRACHER HEFTE – BLAUE SCHRIFTENREIHE DES STADTARCHIVS LÖRRACH Bisher erschienen: Heft 16: Friß‘n wäg dr Schnägg – Fastnacht in Lörrach (2013) Heft 18: siehe oben (Rote Schriftenreihe, Kooperationsprojekt) Heft 22: siehe oben (Rote Schriftenreihe (Kooperationsprojekt)

176 Dreiländermuseum LörrachDreiländermuseum Lörrach